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German Pages 485 Year 2014
Geist – Kirche – Recht Festschrift für Libero Gerosa zur Vollendung des 65. Lebensjahres
Herausgegeben von Ludger Müller Wilhelm Rees
Duncker & Humblot · Berlin
MÜLLER/REES (Hrsg.)
Geist – Kirche – Recht
Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz herausgegeben von Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz und Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Band 62 MÜLLER/REES (Hrsg.)
Geist – Kirche – Recht
Geist – Kirche – Recht Festschrift für Libero Gerosa zur Vollendung des 65. Lebensjahres
Herausgegeben von Ludger Müller Wilhelm Rees
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-14393-1 (Print) ISBN 978-3-428-54393-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84393-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Libero Gerosa, der im Frühjahr des Jahres 2014 sein 65. Lebensjahr vollendet hat, soll mit dieser Festschrift geehrt werden als ein Wissenschaftler und Priester, dessen Leben der Kirche in der Spannung zwischen dem Heiligen Geist und dem Kirchenrecht gewidmet ist. Am 2. März 1949 in Stabio im Tessin geboren, studierte er Philosophie und Theologie an der Universität in Freiburg/Uechtland und wurde im Jahr 1974 zum Priester der Diözese Lugano geweiht. Nachdem er am Kanonistischen Institut München (u. a. bei Klaus Mörsdorf) Kanonisches Recht studiert und eine Zeit der Forschung verbracht hatte, promovierte er im Jahr 1984 unter der Leitung von Eugenio Corecco, dem späteren Bischof von Lugano, an der Universität Freiburg/Uechtland zum Doktor der Theologie. Im Jahr 1988 habilitierte er sich an der Katholischen Universität Eichstätt (bei Peter Krämer) und erwarb den akademischen Grad eines habilitierten Doktors der Theologie. Sein akademischer Weg führte ihn zunächst im Jahr 1990 nach Paderborn, wo er Ordinarius für Kirchenrecht an der kirchlichen Theologischen Fakultät und von 1997 bis 1999 auch deren Rektor war. Im Jahr 2000 kehrte er in sein Heimatbistum zurück als ordentlicher Professor für Kirchenrecht an der Facoltà di Teologia di Lugano, wo er bereits als Prorektor, dann von 2000 bis 2008 als Rektor die Übersiedelung dieser kirchlichen Hochschule von den Räumlichkeiten in der Via Nassa auf den Campus der Università della Svizzera Italiana – unter Beibehaltung der organisatorischen Autonomie der Theologischen Fakultät – leitete. In Lugano gründete er im Jahr 2002 das Internationale Institut für Kanonisches Recht und vergleichendes Recht der Religionen (Istituto Internazionale di Diritto canonico e Diritto comparato delle religioni – DiReCom), welches die Möglichkeit einer vertieften Qualifikation im Kirchenrecht und im vergleichenden Religionsrecht bietet. Im selben Jahr 2002 unterzeichnete er gemeinsam mit dem Vorstand des Instituts für Kanonisches Recht (heute: Institut für Kirchenrecht) der Universität Wien ein Kooperationsabkommen zwischen den Instituten von Lugano und von Wien, aufgrund dessen es in der Folgezeit zu einer regen gemeinsamen Tätigkeit bei der Verwirklichung gemeinsamer Forschungsprojekte, der Veranstaltung von Fachtagungen und der Herausgabe wissenschaftlicher Publikationen, aber auch zu einem Austausch von Lehrenden kam.
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Vorwort
Im Jahr 2001 wurde Libero Gerosa von Papst Johannes Paul II. zum Konsultor des Päpstlichen Rates für die Laien, und im Jahr 2003 zum Konsultor der Kongregation für den Klerus ernannt. Diese beiden wichtigen gesamtkirchlichen Funktionen hat er bis heute inne. Am 16. Januar 2008 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Päpstlichen Ehrenkaplan ernannt. Auch für die Schweizer Bischofskonferenz übernahm er wichtige Aufgaben: Von 2002 bis 2008 war er Vizepräsident der Theologischen Kommission und seit 2009 leitet er die Fachkommission „Kirche und Staat“ der Schweizer Bischofskonferenz. Ein besonderes Anliegen und eine besondere Begabung von Libero Gerosa liegt wohl in der Funktion als Mittler zwischen der deutsch- und der italienischsprachigen Kirchenrechtswissenschaft – bei einem Schweizer, dessen Heimatland ja drei bzw., wenn man das Rätoromanische mitzählt, vier Amtssprachen kennt, sicher nicht verwunderlich. So sind sowohl Gerosas Doktorarbeit über die Exkommunikation als auch seine Habilitationsschrift „Charisma und Recht“ sowohl auf italienisch als auch auf deutsch veröffentlicht worden. Ebenso sind viele andere seiner Veröffentlichungen nicht nur auf italienisch, sondern auch auf deutsch, manche auch auf französisch, sein in der Reihe AMATECA erschienenes Lehrbuch „Kirchenrecht“ sogar in elf Sprachen publiziert worden. Schon mit seiner Dissertation über das Wesen der Exkommunikation wandte sich Gerosa dem Programm einer „Theologie des Kirchenrechts“ zu, also dem Bemühen um eine konsequent theologische Interpretation des Kirchenrechts und der kirchlichen Rechtsnormen – ein Thema, das sich später in verschiedenen Artikeln wie auch in dem auf deutsch, italienisch und französisch veröffentlichten Band „Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche. Zukunftsperspektiven für die katholische Kanonistik“ niederschlug. Die Fragen des kirchlichen Sanktionsrechts, zu dem er eine ganze Fülle von Beiträgen geliefert hat, interessierten ihn also vor allem in dieser rechtstheologischen Perspektive. Mit seiner Habilitationsschrift kam ein völlig neues Themengebiet hinzu: Die Beziehung zwischen dem Kirchenrecht und dem Charisma, insbesondere im Blick auf die in den letzten Jahrzehnten an vielen Orten aufgebrochenen neuen kirchlichen Bewegungen, die sich einer Klassifizierung in die Kategorien des kanonischen Vereinigungsrechts entziehen. Diese und ähnliche Wirklichkeiten verfolgte er mit wachem kanonistischem Sinn, bis hin zur kirchenrechtlichen Anerkennung des Neokatechumenalen Weges und dem Erlaß seiner Statuten im Jahr 2002, woran er als Konsultor des Päpstlichen Rates für die Laien einen sicher nicht geringen Anteil hatte. Als akademischem Lehrer war und ist Gerosa stets auch an der Vermittlung kirchenrechtlicher Kenntnisse und Kompetenzen gelegen. Mehrmals veröffentlichte er aus diesem Anliegen sehr unterschiedlich angelegte Bücher für die
Vorwort
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Hand der Studierenden, so in der von ihm mitherausgegebenen Reihe „AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie“ sein Lehrbuch „Das Recht der Kirche“, dem wenige Jahre später die knappe Einführung in das Kirchenrecht „Diritto canonico: fonti e metodo“ folgte, in deutscher Fassung erschienen unter dem Titel „Kirchenrecht“ in der von ihm und Michael Kunzler herausgegebenen Reihe „Theologie betreiben – Glaube ins Gespräch bringen. Die Fächer der katholischen Theologie stellen sich vor“. In nochmals anderer Art und Weise präsentierte Gerosa das Kirchenrecht in dem 2012 veröffentlichten zweibändigen Werk, das er gemeinsam mit seinen Schülern Stefano Violi und Andrea Stabellini verfaßt hatte: „Introduzione al Diritto Canonico“. Das besondere Anliegen Gerosas wird in diesem Werk schon dadurch deutlich, daß er den ersten Band der Theologie des kirchlichen Rechts widmete und diesem einen zweiten, nur wenig umfangreicheren Band „Istituzioni generali“ an die Seite stellte: Die Kirchenrechtstheologie erscheint so als gleichberechtigt und ebenso wichtig wie die Darstellung der Institutionen des Kanonischen Rechts. Schon zur Zeit seiner Habilitation hatte sich Libero Gerosa mit dem schweizerischen Staatskirchenrecht befaßt; dieses Interesse am weltlichen Religionsrecht äußerte sich auch in einigen Tagungen, die unter seiner Leitung oder zumindest Mitverantwortung vom Istituto DiReCom veranstaltet wurden. Vor allem in den letzten Jahren kam außerdem die Leitung der Fachkommission „Kirche und Staat“ der Schweizer Bischofskonferenz hinzu, die ihn dazu veranlaßte, sich eindringlich mit dem Verhältnis von Kirche und Staat zu befassen. Schon dieser kurze Überblick zeigt die Spannbreite des wissenschaftlichen Interesses von Libero Gerosa, dem es jedoch stets darum ging, als Kirchenrechtler im Dienst an der Sendung der Kirche zu stehen und andere dazu zu befähigen, ebenfalls diesen Dienst zu leisten. Libero Gerosa wird seine wissenschaftliche Tätigkeit sicher noch nicht so bald beenden. Selbst die Tätigkeit als Professor an der Theologischen Fakultät Lugano und als Direktor seines Instituts für Kanonisches Recht und vergleichendes Recht der Religionen übt er weiterhin aus und wer ihn kennt, kann sich auch nicht vorstellen, daß er jemals untätig ist. Für alle wichtigen Aufgaben, denen er sich künftig widmen wird, sei ihm die notwendige Kraft und Gottes Segen gewünscht. Zugleich soll diese bescheidene Festschrift ein Zeichen des Dankes, der Anerkennung und – sofern notwendig – der Ermutigung sein. Gedankt sei an dieser Stelle vor allem den Autoren, die sich bereiterklärt haben, ein Ergebnis aus ihrer Forschungstätigkeit für die Veröffentlichung zu Ehren von Libero Gerosa zur Verfügung zu stellen, aber auch dem Erzbischof von Wien, Seiner Eminenz Christoph Kardinal Schönborn, für sein Grußwort. Zu
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Vorwort
danken ist sodann den folgenden Institutionen, welche das Erscheinen dieses Bandes durch großzügige Beträge gefördert haben, nämlich der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, dem Erzbistum Paderborn und der Erzdiözese Wien. Bedankt seien schließlich die Mitarbeiter des Instituts für Kirchenrecht der Universität Wien, in erster Linie Frau Susanne Waglechner und Herr Dr. Klaus Zeller, welche die schwierige Aufgabe der Redaktion und der Erstellung der Druckvorlage in gewohnter Zuverlässigkeit erledigt haben. Wien und Innsbruck, am 2. März 2014 Ludger Müller und Wilhelm Rees
Grußwort des Erzbischofs von Wien
Wien, im November 2013
Verehrter Herr Professor Gerosa! Lieber Don Libero! Es freut mich von Herzen, dass Dir die Kollegen zu Deinem 65. Geburtstag eine Festschrift bereitet haben. Diese Aufmerksamkeit hast Du wahrlich verdient. Es ist nicht meine Aufgabe, in diesem Rahmen Dein Lebenswerk, das hoffentlich noch bei weitem nicht abgeschlossen ist, zu würdigen. Erlaube mir einfach, dieser Festschrift ein Wort der Freundschaft und der Dankbarkeit voranzustellen. Seit den Jahren in Fribourg, in denen ich, viel zu jung, Professor für Dogmatik wurde, und Du als Student und Assistent gewirkt hast, ist unsere Freundschaft gewachsen und hat sich in den Jahren bewährt. Du gingst nach Deutschland, um Deine kanonistische Ausbildung zu vervollständigen, wurdest Professor in Paderborn, bist schon bald durch gewichtige Publikationen hervorgetreten, bis unser gemeinsamer verehrter Freund Don Eugenio, Bischof Corecco, Dich nach Lugano holte, um mit ihm zusammen die Theologische Akademie und dann schon bald die Theologische Fakultät aufzubauen. Bischof Corecco hatte auch gehofft, mich für eine Tätigkeit in Lugano gewinnen zu können. Gerne hätte ich zugestimmt, hätte nicht mein Orden andere Pläne mit mir gehabt, die dann noch einmal durch Papst Johannes Paul II. durchkreuzt wurden, als er mich als Weihbischof nach Wien sandte. Aber das gemeinsame Projekt Lugano, an dem wir von früh an mit Bischof Corecco zusammen geplant und gewirkt haben, ist dann für Dich zum prägenden Rahmen geworden, der freilich von Dir noch mehr geprägt wurde, als er Dich geprägt hat. Das große Anliegen von Bischof Corecco war eine internationale akademische Einrichtung mit solidem katholischem Fundament. Begonnen hatte die Idee in den Fribourger Jahren mit dem Projekt eines Europa-Seminars in Lugano, das Seminaristen aus ganz Europa sammeln sollte, um sie im Geist des Konzils, der großen
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Grußwort des Erzbischofs von Wien
christlichen Tradition, im Geist von Hans Urs von Balthasar und Joseph Ratzinger auszubilden. Balthasar unterstützte das Projekt massiv. Kardinal Ratzingerhat ihm großes Wohlwollen entgegengebracht. Als dann Professor Corecco Bischof von Lugano wurde, bekam das Projekt eine ganz neue Dimension. Mit unermüdlicher und unerschöpflicher Energie ging Bischof Eugenio daran, die Theologische Akademie in Lugano aufzubauen. Bald fanden sich Unterstützer, Sponsoren, Bischöfe und Kardinäle, die das Projekt guthießen und unterstützten. Schon nach wenigen Jahren konnte aus der Akademie eine Theologische Fakultät werden und in diesem Prozess durftest Du, lieber Don Libero, eine nicht zu übersehende Rolle spielen. Es gelang Dir, nicht nur im Kirchenrecht, sondern auch in der Philosophie und natürlich in der Theologie der Akademie und dann der Fakultät, jene Qualitätssicherung zu ermöglichen, die den Ruf der Fakultät dauerhaft bestätigen sollte. Es war noch Bischof Eugenio, gemeinsam mit dem heutigen Kardinal Angelo Scola und mir, aber auch mit dem unermüdlichen Professor Michael Kunzler, mit Professor Guy Bedouelle und natürlich mit dem entscheidenden und leidenschaftlichen Engagement von Jaca Book in Mailand, das große Projekt AMATECA auf die Beine zu stellen, eine in mehreren Sprachen erscheinende Serie von katholischen theologischen Handbüchern, die so etwas wie einen Standard gläubiger, kirchentreuer und konzilsgeprägter Theologie anbieten sollte. Die letzten Jahre, da mich das bischöfliche Amt in Wien mehr und mehr festhielt, sind unsere Kontakte rarer geworden. Das ständige Band, das uns immer wieder zusammenbrachte, war die Fortführung und schließlich, so hoffen wir, die Beendigung dieses großen verlegerischen Projektes. Du hast hier die Hauptlast der Arbeit getragen mit unermüdlicher Geduld, mit großer Umsicht und auch mit finanziellem Geschick. Dafür gilt Dir unser aller Dank, um den es Dir nie gegangen ist, weil Du immer voll für die Sache selbst engagiert warst. Gestatte mir ein letztes Wort des Dankes. Im Lauf der Jahre hat es manche schmerzliche Momente gegeben, allen voran der viel zu frühe Tod unseres gemeinsamen Freundes Bischof Eugenio Corecco. Deine so maßgebliche Tätigkeit für die Akademie und dann die Fakultät, ist nicht immer auf Dankbarkeit gestoßen. Manche schwere Stunden waren damit für Dich verbunden. Aber sie haben eines in Dir gefördert, was mich immer wieder mit Dankbarkeit erfüllt hat: die Schwierigkeiten haben Dich nicht bitter gemacht, sie haben Dich in die Tiefe geführt. In aller Stille, ohne viel Aufsehen davon zu machen, hast Du Dein geistliches Leben vertieft, deine geistlichen Kontakte gepflegt und uns manche kostbare Perle aus Deinem geistlichen Leben geschenkt. Du bist zu einem der führenden Kirchenrechtler unserer Zeit herangewachsen, hast eine beachtliche Liste an Publikationen zu verzeichnen, doch das, was Dich im Inners-
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ten hält und trägt, ist diese geistliche Verwurzelung, dieses Leben aus der Kontemplation, aus der geistlichen Freundschaft, aus der Liebe zum Herrn. Dafür darf ich Dir vor allem danken, in alter Freundschaft und in eben dieser geistlichen Verbundenheit. Dein
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis I. Grundfragen von Kirche und Kirchenrecht Kurt Kardinal Koch Gehorsam als gereinigte Freiheit. Reflexionen uber die christliche Spiritualität des Gehorsams ...................................................................................................
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Reinhard Kardinal Marx Die Leitungsaufgabe des Bischofs. Anmerkungen und Perspektiven .................
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Klaus Zeller Rechtsförmlichkeiten bei der kirchlichen Gesetzgebung, insbesondere bei der Ausfertigung teilkirchlicher Gesetze ..................................................................
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II. Geschichte von Recht und Kirchenrecht Gabriela Eisenring Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im klassischen römischen Recht und ihre Entwicklungstendenzen im spätklassischen und justinianischen Recht .......
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Georg May Exklaustration und Säkularisation zweier Nonnen in der Erzdiözese Mainz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ............................................................. 117 Martin Grichting Katholische Kirchengemeinden in Italien? Reflex einer mitteleuropäischen Bewegung im 19. Jahrhundert ............................................................................ 151 Stephan Haering Ein Votum Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen. Anmerkungen zu einem Gutachten für Julius Kardinal Döpfner aus dem Jahre 1962 ................ 167
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Inhaltsverzeichnis III. Die Grundvollzuge der Kirche und ihre rechtliche Ordnung
Christoph Ohly Communitas Christiana oder Ecclesia Dei. Kanonistische Anmerkungen zu einer Änderung im Taufritus ............................................................................... 209 Reinhild Ahlers Die Sonntagspflicht in moderner Zeit ................................................................. 227 Dominik Burghardt Überlegungen zum Glauben der Ehegatten als Konstitutivum des Ehesakramentes ................................................................................................................ 239
IV. Kirchliches Sanktions- und Verfahrensrecht Michael Werneke Bischöfliche Leitungsgewalt und kanonisches Strafverfahren. Ein Beitrag zur Einordnung des c. 1722 CIC/1983 im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker ....................................................................................... 251 Ludger Muller Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes der Lateinischen Kirche .......................................................... 267 Alfred E. Hierold Recursus ab abusu. Plädoyer fur eine Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche ...................................................................................................................... 285 Wilhelm Rees „Geh zu Jesus, er vergibt Dir.“ – Zur Frage theologischer und kirchenrechtlicher Neuansätze im Fall von „Scheitern“ in der römisch-katholischen Kirche ........... 295
Inhaltsverzeichnis
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V. Vergleichendes Religionsrecht und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat Hanns Engelhardt „Supremus inter Pares“. Der Primat in der Kirche von England und in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft ................................................................ 329 Martin Ötker und Stephan Leimgruber Christlich-islamische Ehen – Ja oder Nein? ....................................................... 367 Claudius Luterbacher-Maineri Libertas Ecclesiae und libertas episcopi – Kirchenfinanzierung in der Deutschschweiz aus kirchenrechtlicher Sicht .................................................................. 391 Arnd Uhle Das Verhältnis von Kirche und Staat im Spiegel des vergleichenden Religionsrechts .................................................................................................................. 411 Markus Walser „Entflechtung“ von Kirche und Staat im Furstentum Liechtenstein ................... 451
VI. Anhang Bibliographie .......................................................................................................... 467 Autorenverzeichnis ................................................................................................. 481
I. Grundfragen von Kirche und Kirchenrecht
Gehorsam als gereinigte Freiheit Reflexionen über die christliche Spiritualität des Gehorsams Gehorsam als gereinigte Freiheit Von Kurt Kardinal Koch Kurt Kardinal Koch Das Recht der Kirche findet seine Legitimität in drei Prinzipien, genauerhin darin, dass es sich erstens auf die kirchliche Gemeinschaft bezieht und jene grundlegenden Elemente ansichtig macht, die sie als von Jesus Christus begründete Heilsgemeinschaft konstituieren, dass es zweitens das Recht auf Religionsfreiheit verwirklicht, und dass es drittens sowohl einer integralen Vermittlung der Glaubenswahrheiten verpflichtet ist als auch einer lebendigen und freien Zustimmung zu ihnen dient. Wenn man mit Libero Gerosa in diesen drei Kriterien die entscheidenden „Legitimationsprinzipien eines kirchlichen Rechts“ wahrnimmt1, erweist es sich als evident, dass der freie Gehorsam des Glaubens die Grundvoraussetzung für Legitimität und Wirksamkeit des Rechtes in der Kirche ist. Denn der freie Glaubensakt des Getauften ist so wesentlich ein Akt des Gehorsams gegenüber der in Jesus Christus geoffenbarten Wahrheit Gottes, dass sich das Wesen des Christseins in der Kirche Jesu Christi als „Lie be zum Herrn im Glaubensgehorsam“ bezeichnen lässt 2. Der freie Gehorsam des Glaubens als Grundvoraussetzung für Legitimität und Fruchtbarkeit des kirchlichen Rechts versteht sich freilich in der heutigen Zeit selbst in der Kirche weithin nicht mehr von selbst. Von daher gilt es, im Sinne einer kanonistischen Selbstvergewisserung elementar und somit mit einer anthropologischtheologischen Rückbesinnung auf das Wesen des Gehorsams in der Glaubensgemeinschaft der Kirche anzusetzen. Der folgende Versuch sei Libero Gerosa in Dankbarkeit für seinen Einsatz für eine glaubwürdige Theorie und Praxis des Kirchenrechts im Dienste der kirchlichen Pastoral3 zu seinem 65. Geburtstag herzlich zugeeignet.
1 Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (AMATECA Lehrbücher zur katholischen Theologie XII), Paderborn 1995, S. 45–50. 2 Libero Gerosa, Charisma und Recht. Kirchenrechtliche Überlegungen zum „Urcharisma“ der neuen Vereinigungsformen in der Kirche, Einsiedeln 1989, S. 198. 3
Vgl. Libero Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral, Eichstätt / Wien 1991.
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Kurt Kardinal Koch
I. Freiheit und Bindung im Leben der Menschen Wie sich ein Mensch oder eine ganze Generation selbst verstehen, dürfte am besten daran abzulesen sein, welche Leitwörter jeweils im Vordergrund stehen. In der heutigen Zeit ist sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche keineswegs das Wort Gehorsam, sondern das Wort Selbstverwirklichung das entscheidende und elektrisierende Leitwort. Zwischen beiden scheint zudem ein abgrundtiefer Gegensatz zu klaffen. Während die Selbstverwirklichung um das eigene Ich kreist und im Bannkreis des Individualistischen zu verharren droht, ist Gehorsam immer auf ein Gegenüber bezogen und setzt ein Sein in Beziehung voraus. Dem Gegensatzpaar von Selbstverwirklichung und Gehorsam liegt deshalb ein weiteres und noch elementareres Wortpaar zugrunde, nämlich dasjenige von Freiheit und Bindung. Dieser Spannung in der menschlichen Existenz muss in einem ersten Schritt nachgegangen werden, da sich letztlich nur von ihr her auch ein Zugang zur Spannung zwischen Selbstverwirklichung und Gehorsam anbahnen lässt. 1. Freiheitssehnsucht und Solidaritätsmangel Was das Wortpaar Freiheit und Bindung im Leben der Menschen heute betrifft, haben kulturdiagnostische Studien das Ergebnis zutage gefördert, dass der heutige Mensch einen sehr hohen Anspruch auf Eigenmächtigkeit und Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung erhebt.4 „Vive le moi“ – „Es lebe das eigene Ich“: An dieser Kurzformel könnte man das dominierende Lebensgefühl des heutigen Menschen am adäquatesten festmachen. Diese Lebensbestimmung fordert freilich auch ihren Preis, und zwar einen ungewöhnlich hohen. An erster Stelle muss die Vereinzelung der Menschen in der heutigen Gesellschaft benannt werden, die mit dem festgestellten Freiheitsstreben einher geht. Der einzelne Mensch ist völlig auf sich selbst zurückgeworfen. Dies zeigt sich vor allem in der Vervielfältigung von zwischenmenschlichen Kontakten bei gleichzeitiger Abnahme ihrer personalen Intensität. Immer mehr scheinen die Menschen heute ihr Leben nach jener Maxime zu gestalten, die Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie, zugeschrieben wird: „Ich tue, was ich tue, und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben. Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach meinen zu leben. Und wenn wir uns zufällig finden – wunder bar. Wenn nicht, kann man auch nichts machen.“ Gemäss dieser Lebensmaxime liegt es völlig im Belieben des einzelnen Menschen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen Nähe und Distanz selbst zu definieren. 4 Vgl. Paul. M. Zulehner u. a., Vom Untertan zum Freiheitskünstler. Eine Kulturdiagnose anhand der Untersuchungen „Religion im Leben der Österreicher 1970–1990“ – „Europäische Wertestudie – Österreichteil 1990“, Wien 1991.
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Dass in einem solchen Lebenskontext Begriff und Realität von Bindung und erst recht von Treue keinen grossen Stellenwert mehr haben, dürfte von selbst evident sein, weil die Menschen sowohl beziehungssüchtig wie beziehungsflüchtig geworden sind. Dies ist bereits daran zu erkennen, dass es weithin unüblich geworden ist, vom eigenen Lebenspartner zu sprechen. Man redet vielmehr vom LAP, dem so genannten Lebensabschnittspartner. Von daher stellt sich die sehr ernste Frage, welches Modell von Menschsein in der heutigen Gesellschaft prägend zu werden beginnt oder es schon längst geworden ist: Ist es derjenige Mensch, der das einmal zu einem konkreten Menschen gesprochene Ja durchträgt und mit ihm gemeinsam in die Zukunft geht, oder ist es der Playboy, der von einer flüchtigen Begegnung in die nächste flüchtet und dabei gar keine Zeit hat, einem konkreten und einmaligen Du wirklich zu begegnen? Dem heute weitverbreiteten Vagabundentum der freien Liebe korrespondiert die generelle Tatsache, dass es im durchschnittlichen Bewusstsein von vielen Menschen heute fragwürdig geworden ist, endgültige Entscheidungen zu fällen. Das Eingehen von endgültigen Lebensentscheidungen steht dem ganzen modernen Lebensgefühl und seiner wissenschaftlichen Verfestigung vielmehr entgegen: Die Geschichtswissenschaften zeigen den immerwährenden Wandel alles Menschlichen auf und stossen damit die Idee des Bleibenden um. Psychologie und Soziologie raten uns Menschen, vom Endgültigen abzusehen und das menschliche Leben als einen fliessenden Strom des Werdens und der sich einander ablösenden Entscheidungen wahrzunehmen. Und die Evolutionslehre löst die Stabilität der Welt in sich überholende Entwicklungen auf und sieht auch im Menschsein bloss noch eine Etappe in der Geschichte des Werdens. Trotz dieser starken Tendenzen wäre es eingleisig, das Kernproblem des heutigen Menschen bereits in seinem Streben nach Freiheit und in seiner Sehnsucht nach Selbstverwirklichung festmachen zu wollen. Das tiefer liegende Problem besteht vielmehr darin, dass der Anspruch des heutigen Menschen auf freiheitliche Selbstbestimmung zumeist nicht mit einem Zuwachs an zwischenmenschlicher Solidarität einhergeht, etwa in dem Sinn, dass sich individuelle Freiheit und gegenseitige Bindung verschwistern würden. Der heute weitverbreitete Individualismus korreliert vielmehr mit Desolidarisierung und mit einem katastrophalen Mangel an belastbarer Solidarität. Die moderne Freiheit ist der grossen Gefahr ausgesetzt, unsolidarisch gelebt zu werden. Für die Lebensart des modernen Menschen scheint – mit dem Züricher Paardynamiker Jürg Willi gesprochen – die „unbezogene Selbstverwirklichung“ charakteristisch. 5 Da sich die Menschen heute weitgehend am individuellen Nutzen oder an der 5
Jürg Willi, Was hält Paare zusammen? Der Prozess des Zusammenlebens in psychoökologischer Sicht, Reinbek bei Hamburg 1991.
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Bedeutung ihres Handelns für die eigene Selbstverwirklichung orientieren, reden amerikanische Soziologen wie beispielsweise Robert N. Bellah sogar von einem „expressiven Individualismus“ und einem „utilitaristischen Individualismus“ als den dominierenden Einstellungen vornehmlich derjenigen Menschen, die heute zu den jüngeren Generationen gehören.6 Das eigentliche Kernproblem des Menschen in der heutigen Gesellschaft besteht folglich darin, dass sein Freiheitsanspruch im Kontext mangelnder Solidarität aufkommt und nicht selten darin umkommt und dass sich die hoch eingeschätzte Freiheit des einzelnen Menschen nicht mehr mit solidarischer Gerechtigkeit verschwistern will. In dieser Lebensperspektive aber bleiben Freiheit und Bindung und erst recht Selbstverwirklichung und Gehorsam unüberwindbare Gegensätze. Von daher stellt sich die bedrängende Frage, ob es im heutigen Lebensgefühl und Selbstverständnis des Menschen wirklich keine Brücke mehr gibt, die zwischen Freiheit und Bindung, Selbstverwirklichung und Gehorsam zu verbinden vermöchte. 2. Bindung als Treuegestalt der Freiheit Eine solche Brücke zeigt sich, wenn wir dem Wort und der Wirklichkeit der viel besprochenen und in Anspruch genommenen Selbstverwirklichung nachdenken und dabei das Augenmerk auf die grundlegend zirkuläre Struktur des der Selbstverwirklichung zugrunde liegenden Selbstbewusstseins des Menschen richten. Diese zirkuläre Struktur kommt ans Tageslicht, sobald wir die elementarste sprachliche Äusserung des menschlichen Selbstbewusstseins genauer analysieren: „Ich bin mir meiner selbst bewusst.“ In diesem auf den ersten Blick einfachen, tiefer gesehen aber inhaltsschweren Satz spricht der Mensch in einer doppelten Weise von sich selbst: Auf der einen Seite bezeichnet er sich als ein Ich, das sich in seinem Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst ist; und auf der anderen Seite redet er von sich als einem Selbst, dessen sich das Ich in seinem Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst ist. Von daher stellt sich die existenziell wichtige Frage, ob das Ich, das sich in seinem Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst ist, mit dem Selbst, dessen sich das Ich in seinem Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst ist, identisch ist oder nicht. Könnte man diese Frage im positiven Sinn beantworten, dann hätten wir zweifellos einen Heiligen, jedenfalls einen in sich völlig abgerundeten Menschen vor uns. Die meisten Menschen werden aber wohl die grundlegende Spannung zwischen
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Robert N. Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987.
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Ich und Selbst in sich erfahren und mit Sören Kierkegaard antworten wollen und müssen: „Traurig grüsst der, der ich bin, den, der ich sein sollte.“ Damit ist offensichtlich, dass der Mensch sich in zweifacher Weise prädizieren muss, nämlich auf der einen Seite als Ich und damit als vorfindbares Individuum und auf der anderen Seite als Selbst, das gerade nicht im Vorhandenen aufgeht und auf die personale Tiefendimension des Menschen hinweist. Von daher ist es notwendig, zwischen dem empirischen Ich des Menschen und seiner Person zu unterscheiden. Denn ein konkret existierendes Ich ist der Mensch immer schon, Person hingegen wird er immer noch und immer gereifter, wiewohl er es freilich immer auch schon ist. Die Person eines Menschen bezieht sich somit auf das die Gegenwart übersteigende Geheimnis der auf dem Weg zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen Totalität der Lebensgeschichte eines Menschen. Person bedeutet in diesem elementaren Sinn weder das Ich noch das Selbst für sich allein, sondern gerade die Gegenwart des Selbst im historischen Augenblick des Ich. Person wird ein Mensch dadurch, dass sein eigentliches Selbst in seinem empirischen Ich in Erscheinung tritt als die eigentliche Bestimmung dieses Ich und dass diese wahre Bestimmung in der Gegenwart des Ich durchtönt, personiert. Oder in der präzisen Formulierung des evangelischen Theologen Wolfhart Pannenberg: „Person ist das Ich als ‚Antlitz‘, durch das hindurch sich das Geheimnis der noch unabgeschlossenen Geschichte eines Individuums auf dem Weg zu sich selbst, zu seiner Bestimmung, bekundet.“ 7 Die kurze Analyse der zirkulären Struktur des menschlichen Selbstbewusstseins bringt es an den Tag, dass viele Menschen heute zwar von Selbst-Verwirklichung reden, im Grunde aber Ich-Verwirklichung meinen und sie auch praktizieren. Solche Ich-Verwirklichung besteht darin, dass der Mensch völlig um sich selbst kreist, während sich wahre Selbst-Verwirklichung immer dialogisch vollzieht, weil kein Mensch solipsistisch zur Person heranreift, sondern Person immer nur in der Begegnung mit anderen Personen wird. Wenn deshalb der Mensch zu sich selbst nie allein, sondern immer nur in der Begegnung mit anderen Menschen findet und seine eigentliche Bestimmung in der Verwirklichung seines Selbst liegt, dann ist dem Menschen gerade auf dem Weg zu seiner Menschwerdung das eine Notwendige zugemutet, das Papst Benedikt XVI. in einer sehr frühen Publikation „die kopernikanische Wende des eigenen Lebens“ genannt hat. Wie wir trotz naturwissenschaftlicher Aufklärung dem Augenschein nach immer noch meinen, dass die Sonne auf- und untergeht und sich um die Erde dreht, so leben wir auch in einem viel tieferen Sinn existenziell vor Kopernikus, wenn wir illusionär meinen, das eigene Ich für den Mittel7
Wolfhart Pannenberg, Person und Subjekt, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Göttingen 1980, S. 80–95, hier 92.
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punkt halten zu sollen und zu dürfen, um den herum sich die Menschen und die ganze Welt zu drehen haben. Demgegenüber ist uns zugemutet, die kopernikanische Wende auch im eigenen Leben zu vollziehen, indem wir uns selbst nicht als Weltmittelpunkt betrachten, um den sich die anderen zu drehen haben, dass wir vielmehr mit vollem Ernst bejahen, „daß wir eins von vielen Geschöpfen Gottes sind, die gemeinsam sich um Gott als die Mitte bewegen“ 8. Wer sich der ganzen Tragweite der zugemuteten kopernikanischen Wende aussetzt, wird von selbst zur Einsicht kommen, dass Freiheit und Bindung im Leben des Menschen keine Gegensätze sein können, dass sie sich vielmehr wechselseitig fordern und fördern. Wenn der Mensch von Haus aus ein Wesen der Beziehung ist, dann vermag nur derjenige frei zu werden und frei zu sein, der in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen auch treu sein kann. Und nur derjenige vermag auch wirklich treu zu sein, der selbst frei ist. Die Treue ist der Preis, den die Freiheit kostet; die Freiheit ist aber auch der Preis, den die Treue gewinnt. Dieses anthropologische Konzept einer treuen Freiheit und einer freien Treue erhält seine ganze Evidenz freilich erst im Licht des christlichen Glaubens an den Dreieinen Gott, dessen Namen allesamt Beziehungsnahmen sind: Vater und Sohn und Heiliger Geist von beiden und aufeinander hin. Der in der Bibel offenbare Gott ist keine Monade, die in sich selbst verschlossen wäre, und schon gar nicht ein einsamer Egoist im Himmel. Der Dreifaltige Gott ist vielmehr Leben, das sich mitteilen will. Er ist so sehr Gemeinschaft in der Beziehungseinheit der Liebe, dass er nicht nur Beziehungen hat, sondern in sich selbst Beziehung ist. Wenn Gott selbst aber ein Wesen von Bindung und Beziehung ist, so hat dies elementare Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen. Denn der Mensch, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, spiegelt die Seinsweise Gottes wider und ist berufen, als ein Wesen zu leben, das in Beziehung zu andern steht und sich in Begegnung und Dialog verwirklicht. II. Gehorsam als Disponibilität zum Hören Wenn Gott selbst dialogische Einheit und der Mensch als Ebenbild Gottes ebenfalls ein Wesen der Beziehung ist, dann kann das Letzte des Wirklichkeitsverständnisses überhaupt im Licht des christlichen Glaubens nicht die Substanz, sondern nur die Beziehung von Personen sein, so dass das Sein des Menschen im Kern Stehen in Beziehung zu Dem ist, der selbst als dreifaltiger Gott in sich Beziehung ist; und dann können auch Selbstverwirklichung und Gehorsam keine Gegensätze mehr sein. Es erschliesst sich von daher vielmehr ein Zugang zum Gehorsam als einem auch grundlegenden anthropologischen Phäno8
Joseph Ratzinger, Vom Sinn des Christseins. Drei Predigten, München 1966, S. 58.
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men. Dieser Zugang wird bereits durch die Sprache eröffnet, insofern im Wort „gehorchen“ das Wort „horchen“ als Intensivform des Hörens enthalten ist. Da Gehorsam als Disponibilität zum Hören und in diesem Sinn als Gehörsamkeit zu verstehen ist und Hören in sich ein dialogischer Vorgang ist, ist letztlich jener Mensch als gehorsam zu qualifizieren, der nicht in sich verschlossen bleibt, sondern ein hörend-aufmerksamer Mensch ist. 1. Gewissensruf zum Seinsgehorsam Von daher stellt sich die weitere Frage ein, auf wen der Mensch hören und wem er gehorsam sein soll. Für den Christen versteht es sich von selbst, dass er in erster Linie auf Gott hört. Da der Christ Gott als Schöpfer der Welt und auch und erst recht als seinen Schöpfer erkennt und anerkennt, ist er auch überzeugt, dass Gott auch durch seine Schöpfung spricht und dass vor allem in seinem eigenen Sein eine Botschaft und der Anruf zu einem Sollen liegen, auf die er hören und denen er gehorchen soll. Wenn nämlich das menschliche Sein selbst einen moralischen Charakter hat, der in einem elementaren Zusammenklang zwischen dem menschlichen Sein und der Botschaft der Natur begründet ist, dann lehrt uns die Schöpfung selbst, wie wir in rechter Weise Mensch werden und Mensch sein können. Und der christliche Glaube ist eine grosse Hilfe, die Natur überhaupt und die Natur des Menschen im Besonderen als Schöpfung Gottes zu erkennen, der gegenüber wir zum Gehorsam berufen und verpflichtet sind. Der erste Gehorsam, der vom Christen erwartet wird, kann man deshalb als Seinsgehorsam bezeichnen. Zu solchem Seinsgehorsam werden wir vor allem im Gewissen gerufen. Aus dem Seinsgehorsam folgt deshalb von selbst der Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen, den man als Gewissensgehorsam bezeichnen kann. Wie dieses Wort bereits anzeigt, kann es keinen Gegensatz zwischen Gehorsam und Gewissen geben, wie er heute freilich oft vertreten wird, indem die subjektive Berufung auf das eigene Gewissen des einzelnen Menschen zum letzten Massstab des menschlichen Urteilens und Handelns hochstilisiert wird, gegen den angeblich keine objektive Instanz mehr angerufen werden kann. Im Sog einer solchen radikalen Subjektivierung gilt das Gewissen dann als „eine Art Apotheose der Subjektivität“, gleichsam als „rocher de bronce“, an dem sich auch alle anderen Instanzen brechen9. Dieses heute weitverbreitete Missverständnis des Gewissens birgt die grosse Gefahr in sich, dass das mit der subjektiven Gewissheit 9 Joseph Kardinal Ratzinger, Der Auftrag des Bischofs und des Theologen angesichts der Probleme der Moral in unserer Zeit, in: IkaZ Communio 13 (1984), S. 524–538, hier 527.
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des einzelnen Menschen identifizierte Gewissen kaum mehr von dessen persönlichen Meinungen unterschieden werden kann und der einzelne von den herrschenden Meinungen noch vermehrt abhängig wird, so dass die Reduktion des Gewissens des Menschen auf seine blosse Subjektivität ihn gerade nicht befreit, sondern versklavt. Darin muss man zweifellos die tiefste Dekadenz der heute inflationär gewordenen Berufung auf das Gewissen erblicken, die den Zweck der Abwehr jeden Gehorsams verfolgt, der als heteronome Zumutung an den Menschen diskriminiert wird. Damit werden aber die eigentliche Tiefe des menschlichen Gewissens, nämlich seine Transparenz für das Göttliche, und folglich die eigentliche Grösse und Würde des Menschen, verraten. Der Tiefensicht des menschlichen Gewissens und der Zusammengehörigkeit von Seins- und Gewissensgehorsam wird man allerdings nur ansichtig, wenn man die beiden wesentlichen Ebenen des Gewissensbegriffs berücksichtigt, die die christliche Tradition mit den Begriffen anamnesis und conscientia zum Ausdruck gebracht hat: Conscientia meint den Gewissensakt auf der Ebene des konkreten Urteilens. Demgegenüber bezeichnet Anamnesis die ontologische Schicht des Gewissensphänomens im Sinne der Ur-Erinnerung des Menschen an das Gute und Wahre, wie es Augustinus mit den Worten zum Ausdruck gebracht hat „Wir können nicht urteilend sagen, dass das eine besser sei als das andere, wenn uns nicht ein Grundverständnis des Guten eingeprägt wäre.“10 Den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ebenen kann man sich wohl am besten mit dem Begriff des irrenden Gewissens verdeutlichen. Dass der Mensch auch dem irrenden Gewissen Gehorsam schuldet, ist einerseits auf der Ebene des Gewissensurteils im Sinne der conscientia in der Tat ein unerlässliches Postulat, weil es nie Schuld sein kann, wenn ein Mensch seiner – selbst auch irrigen – Überzeugung folgt; er muss es vielmehr. Dass auch das irrende Gewissen den Menschen verpflichtet, trifft andererseits aber in keiner Weise auf der ontologischen Ebene der anamnesis zu. Hier muss vielmehr von Schuld gesprochen werden, die genauerhin darin besteht, dass man deshalb zu verkehrten und irrigen Überzeugungen gekommen ist, weil man die anamnesis, die Ur-Erinnerung an das Gute und Wahre, in sich zum Verstummen gebracht hat. Die eigentliche Schuld liegt dann nicht im jeweiligen Gewissensurteil, sondern in der „Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Inneren“ 11. Hier scheint denn auch der Grund auf, dass so genannte Überzeugungstäter wie beispiels10 11
Augustinus, De trinitate VIII 3, 4.
Joseph Kardinal Ratzinger, Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen. Gewissen und Wahrheit, in: ders., Wahrheit, Werte, Macht. Pluralistische Gesellschaft im Kreuzverhör, Frankfurt a. M. 1999, S. 25–62, hier 58.
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weise Hitler und Stalin schuldig geworden sind, selbst wenn sie sich auf ihr – freilich irriges – Gewissen berufen haben. Der Begriff des irrenden Gewissens kann insofern die Notwendigkeit verdeutlichen, die beiden Ebenen des Gewissensbegriffs zusammen zu sehen. Dann geht es im Gewissensakt der conscientia um die Anwendung der Ur-Erinnerung an das Gute und Wahre im Sinne der anamnesis in den einzelnen Lebenssituationen des Menschen. Immer dann hingegen, wenn die ontologische Ebene der anamnesis, also der sich vernehmbar machenden und gebieterischen Stimme des Wahren und Guten im Menschen ausgeblendet wird, bleibt vom Gewissen nur noch der Gewissensakt, das Gewissen als Geschehen im Vollzug, das die anamnesis nicht mehr wirken und das Gewissen mit der subjektiven Gewissheit des einzelnen Menschen gleichsetzen lässt. In dieser dem modernen Denken entsprechenden Reduktion des Gewissens auf den Bereich der Subjektivität, in den auch Religion und Moral verbannt werden, liegt der Tiefpunkt der kulturellen Krise in der heutigen Zeit. Für die Bewältigung dieser Krise kann es deshalb nur ein Heilmittel geben, wenn, wie Papst Benedikt XVI. hellsichtig hervorgehoben hat, „das Gewissen wiederentdeckt wird als Ort des Hörens auf die Wahrheit und das Gute, als Ort der Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen – welche die Kraft gegen jede Diktatur ist“ 12. Damit wird nochmals die enge Zusammengehörigkeit von Seins- und Gewissensgehorsam sichtbar. 2. Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes Nicht nur dem Buch der Natur und des Seins gegenüber weiss sich der Christ zum Gehorsam verpflichtet, sondern auch und erst recht dem Buch der Heiligen Schrift, genauerhin Gott, der sich in Jesus Christus offenbart und in der Heiligen Schrift bezeugt. Wie Gottes Sprache in seiner Schöpfung vernehmbar macht, dass die grundlegenden Anforderungen des menschlichen Seins an sein Sollen vom Menschen nicht er-funden sind, sondern von ihm nur ge-funden werden können, so kann der Mensch auch das Wort Gottes nur kennen, weil es ihm, und zwar im wörtlichen Sinn, zugesprochen worden ist und er es deshalb nur in Gehorsam entgegennehmen kann.
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Benedetto XVI, La coscienza chiave di volta per la costruzione del bene comune. L’incontro con i rappresentanti della società civile in Zagabria il 4 guigno 2011, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, VII, 1 2011, Città del Vaticano 2012, S. 767–770. Zur grundlegenden Bedeutung der Gewissensthematik im Denken von Benedikt XVI. vgl. Joseph Ratzinger / Benedetto XVI, L’elogio della coscienza. La verità interroga il cuore, Siena 2009.
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Diese Feststellung ist für das christliche Gehorsamsverständnis von grundlegender Bedeutung und macht auf jene Eigenschaft und Eigenheit aufmerksam, die den Christen auszeichnet und ihn sogar, wie unwahrscheinlich dies zunächst klingen mag, von jedem denkenden Menschen unterscheidet. Es charakterisiert den denkenden Menschen, dass bei ihm der Gedanke dem Wort vorausgeht. Denn Menschen, bei denen das Wort dem Denken vorausgeht und die sich selbst zuerst reden gehört haben müssen, damit sie überhaupt wissen, was sie denken sollen, pflegen wir mit Recht nicht als besonders intelligent oder gar weise zu beurteilen. Beim Christen verhält es sich aber ganz anders, womit ihm keineswegs das solide Denken abgesprochen werden soll. Doch beim Christen geht das Wort nun einmal prinzipiell und immer seinem Denken voraus. Dabei handelt es sich freilich nicht um sein eigenes Wort, sondern um das Wort Gottes, das auf den Christen zu kommt und das er zunächst in Gehorsam empfangen und annehmen muss. Wenn man sich die Tragweite dieses fundamentalen Vorgangs vor Augen führt, wird auch einsehbar, dass die erste Antwort auf das Wort Gottes und insofern die elementarste Geste des Gehorsams im Gebet besteht, in dem der Christ sein eigenes Leben in den Willen Gottes einfaltet, um ihn für sich und die ganze Welt auszufalten. Beten im christlichen Geist bedeutet, sich in den Willen Gottes zu versenken und von Gott zu erbitten, was sein Wille ist. Das grundlegendste Gebet im Sinne des dem Wort Gottes geschuldeten Gehorsams ist deshalb in der Bitte des Herrengebetes formuliert: „Dein Wille geschehe!“ Das Herrengebet lehrt uns in der Tat, das Gebet als elementarsten Akt des Gehorsams in dem Sinne zu verstehen und zu vollziehen, dass das Gebet nicht einfach die eigenen egoistischen Wünsche in den Vordergrund drängt, sondern wirklich nach dem Willen Gottes fragt. Allem christlichen Beten muss es um die Einordnung unserer menschlichen Wünsche und Bestrebungen in die Ziele Gottes mit seiner Welt, in seinen universalen Heilswillen, gehen. 3. Gehorsames Mitglauben mit der Kirche Im Gebet, vor allem in seiner Urgestalt des Herrengebetes, wird noch eine weitere Seite des christlichen Gehorsams sichtbar. Jesus lädt uns ein, im Beten in seine Sohnesbeziehung zu seinem Vater einzutreten und „Vater unser“ zu sagen. Den Sachverhalt, dass wir im Gebet Jesu Gott als unseren Vater ansprechen, hat der reformierte Theologe Jan M. Lochman sehr schön dahingehend gedeutet, dass dieses „kleine Wort ‚unser‘“, das „‚Wir‘ des Herrengebetes“, gerade „in seiner exklusiven Begründung ein ungemein inklusives Wort“ ist 13. 13
Jan M. Lochman, Unser Vater. Auslegung des Vaterunsers, Gütersloh 1988, S. 29.
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Denn wer in das Beten Jesu eintritt, tritt zugleich in die grosse Familie derer ein, die als Gemeinschaft der Betenden Jesus nachfolgt und nach Gottes Willen sucht. Da die Kirche somit als Gemeinschaft derjenigen Menschen in Erscheinung tritt, die sich entschieden haben, nach Gottes Willen zu suchen und zu le ben, und die sich deshalb bewusst sind, dass sie Gottes Willen nicht einfach in einer individualistischen splendid isolation finden können, sondern nur im „Wir“ der Glaubensgemeinschaft der Kirche, tritt auch die elementarste Form des kirchlichen Gehorsams vor Augen, die Papst Benedikt XVI. mit den einfachen Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Wir verkündigen sein Wort recht nur in der Gemeinschaft seines Leibes. Unser Gehorsam ist Mitglauben mit der Kirche, Mitdenken und Mitsprechen mit der Kirche, Dienen mit ihr.“14 Mit diesem Verständnis des kirchlichen Gehorsams erschliesst sich auch die eigentliche Sendung der Prophetie in der Kirche im biblischen Sinn. Auf diesen Zusammenhang muss in der heutigen Situation der Kirche vor allem deshalb hingewiesen werden, weil es im öffentlichen Bewusstsein sowohl in der Gesellschaft wie in der Kirche üblich geworden ist, das Prophetentum als Gegenpol oder gar als Gegensatz zum kirchlichen Gehorsam zu verstehen und in Anspruch zu nehmen. Daran ist zweifellos richtig, dass es bereits im Alten Testament neben dem Tempel und seinem amtlichen Priestertum von Anfang an auch die Propheten gegeben hat, und zwar vor allem deshalb, weil Gott sich neben den Institutionen des Kultes und des Gesetzes das Wort des Propheten als sein eigenes freies Wort vorbehalten hat, und die Propheten sich verpflichtet gesehen haben, gegen ein immer wieder bedrohlich nahes Missverständnis und den Missbrauch des Wortes Gottes den Anspruch des lebendigen Gottes in Erinnerung zu rufen. Man würde aber dem alttestamentlichen Propheten nicht gerecht, würde man in ihm einfach eine Gegeninstanz zum Gehorsam in der Glaubensgemeinschaft des Volkes Gottes erblicken. Diese Unmöglichkeit leuchtet freilich nur ein, wenn wir uns den grundlegenden Unterschied vor Augen führen, der zwischen der biblischen Gestalt und dem heute gängigen Bild des Propheten besteht. Wer in die heutige kirchliche Landschaft hineinblickt, kann unschwer die Feststellung treffen, dass heute nicht wenige Christen sich selbst einen prophetischen Auftrag in der Kirche geben, auch wenn die inhaltliche Füllung dieses Wortes nicht selten einen recht diffusen Eindruck hinterlässt. In diesem Sinn hat beispielsweise der grosse fran zösische Theologe Henri de Lubac die harte, aber keineswegs falsche Diagnose gestellt, dass es üblich geworden sei, „jede Anklage, jede Aufhetzung und jede 14 Benedetto XVI, Il sacerdote: uomo in piedi, dritto, vigilante. Concelebrazione della Santa Messa Crismale in Roma il 20 marzo, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, IV, 1 2008, Città del Vaticano 2009, S. 442–446.
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verfehlte Aktion“ für prophetisch zu erklären, „selbst wenn es nur zu deutlich ist, dass sie aus Unwissenheit, Voreingenommenheit, Konzession an die Tagesmeinung oder ganz einfach aus menschlicher Schwachheit stammt und dass sie alle Zeichen eines denkbar faulen Prophetentums aufweist“ 15. Die biblischen Propheten zeichnen sich demgegenüber gerade dadurch aus, dass sie einen prophetischen Auftrag keineswegs selbst gesucht haben, sondern vor ihm zurückgeschreckt sind, weil sie um das Schicksal wussten, das ihnen bevorstehen wird. In der Heiligen Schrift wird dies in einer äusserst drastischen Weise über den Propheten Jona berichtet, der nicht nach Ninive gehen will, wohin ihn Gott mit einer klaren Botschaft beruft, sondern den Weg nach Tarschisch wählt, um, wie es im biblischen Text heisst, „weit weg vom Herrn“ zu sein (Jona 1, 3). Denn Jona hat nicht einfach vor der Stadt Ninive Angst, sondern viel elementarer, weil er ahnt, dass er sich blamieren, ja Gott selbst ihn dadurch bloss stellen wird, dass er am angedrohten Gericht nicht festhalten, sondern sich als gnädiger und barmherziger Gott erweisen wird. Das biblische Buch erzählt denn auch davon, dass Gott den widerspenstigen Jona regelrecht drängen muss, um dem Willen Gottes für sein universales Erbarmen zu dienen. In der Heiligen Schrift erklärt sich nie ein Mensch selbst zum Propheten, oder er wird sogleich als Falschprophet denunziert. Ein wahrer Prophet ist von Gott berufen, und Gott muss ihm die Annahme seines Auftrags gleichsam abringen. Damit dürfte deutlich sein, dass gerade der Prophet der Prototyp des gehorsamen Menschen ist. Er ist es vor allem deshalb, weil ihn der Herr „Aug in Aug berufen“ hat, wie dies das alttestamentliche Buch Deuteronium von Mose sagt und ihn deshalb als Propheten bezeichnet (34, 10). Ein Prophet ist demnach ein Mensch, der mit Gott so vertrauten Umgang hat und mit Gott wie ein Freund mit einem Freund spricht und nur aus dieser intimen Begegnung mit Gott heraus dann auch in seine Zeit hinein zu sprechen vermag. Der Prophet ist ein frommer Mensch, der sich von Gott berufen weiss und der, weil er berufen ist, nicht aus seinem Eigenen heraus redet, sondern sich Gott so sehr öffnet, dass er selbst durch sein Wort zu den Menschen sprechen und in eine ganz konkrete Situation hinein seinen Willen verkünden kann. Der Prophet steht gehorsam ganz im Dienst des Wortes Gottes, das ihm aufgetragen ist. 4. Gehorsam des kirchlichen Amtes Wenn wahre Prophetie aus der intimen Freundschaft mit Gott entsteht und im aufmerksamen Hören auf sein Wort in den verschiedenen geschichtlichen 15
Henri de Lubac, Krise zum Heil. Eine Stellungnahme zur nachkonziliaren Traditionsvergessenheit, Rieden/Allgäu 2002, S. 39.
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und gegenwärtigen Gegebenheiten besteht, dann wird noch deutlicher sichtbar, was kirchlicher Gehorsam bedeutet. Er bezieht sich in erster Linie auf das Wort Gottes und damit auf eine Wirklichkeit, die aus einer langen Geschichte auf uns heute zukommt, er vollzieht sich als Hören, genauerhin in der Aktualisierung und Aneignung des überkommenen Glaubens an das Wort Gottes, und er verwirklicht sich in der Kirche und damit in der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens. Die Glaubensgemeinschaft der Kirche ist freilich immer wieder darauf angewiesen, durch konkrete Glaubenszeugen repräsentiert zu werden. Denn Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes und konkrete Zeugenschaft für dieses Wort Gottes gehören unlösbar zusammen: Auf der einen Seite lebt das Wort Gottes in der Gestalt des persönlich verantwortlichen und gehorsamen Zeugen; und auf der anderen Seite lebt der Zeuge, um wirklich gehorsamer Zeuge des Wortes Gottes sein zu können, von diesem Wort her und auf dieses Wort hin. Denn das Zeugnis kann es nur als persönlich verantwortetes geben, und deshalb ist das Zeugnis an die Person gebunden, wie auch das „Wir“ der Kirche mit dem Namen desjenigen begonnen hat, der in Cäsarea Philippi „namentlich und als Person das Christusbekenntnis vorgetragen hat: ‚Du bist der Sohn des lebendigen Gottes‘ (Mt 16, 16).“16 Auf dem Grund dieser martyrologischen Struktur des christlichen Glaubens hat diese bereits früh in der Geschichte der Kirche eine besonders qualifizierte Gestalt im Zeugendienst des kirchlichen Lehramtes gefunden, das den Glauben der Kirche treu zu bewahren und zu bezeugen hat. Die besondere Verantwortung des Lehramtes hat Papst Benedikt XVI. nach seiner Wahl gerade dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er kein Regierungsprogramm im üblichen Sinn vorgelegt, sondern unmissverständlich erklärt hat: „Das eigentliche Regierungsprogramm aber ist, nicht meinen Willen zu tun, nicht meine Ideen durchzusetzen, sondern gemeinsam mit der ganzen Kirche auf Wort und Wille des Herrn zu lauschen und mich von ihm führen zu lassen, damit er selbst die Kirche führe in dieser Stunde unserer Geschichte.“17 Die Hauptaufgabe des Lehramtes des Papstes besteht folglich darin, die ganze Kirche und zunächst sich selbst immer wieder zum Gehorsam gegenüber 16 Joseph Ratzinger, Der Primat des Papstes und die Einheit des Gottesvolkes, in: ders. (Hrsg.), Dienst an der Einheit. Zum Wesen und Auftrag des Petrusamts, Düsseldorf 1978, S. 165–179, hier 170–171. 17 Benedetto XVI, Un servizio alla goia di Dio che vuol fare il suo ingresso nel mondo. Omelia durante la solenne concelebrazione eucaristica per l’assunzione del ministero petrino il 24 aprile 2005, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, I 2005, Città del Vaticano 2006, S. 20–26, hier 22.
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dem Wort Gottes zu verpflichten, und zwar entgegen allen Versuchungen zur Anpassung an den Zeitgeist und zur Verwässerung des Wortes Gottes. Hier liegt es begründet, dass der Papst per definitionem kein absoluter Herrscher sein kann, der sich nur nach seinen eigenen Ideen und Vorstellungen richten würde. Sein Dienst in der Kirche muss vielmehr Gehorsam gegenüber dem Evangelium garantieren. Damit wird nicht nur deutlich, dass es ein wichtiges Erkennungszeichen des kirchlichen Gehorsams ist, dass man in der Kirche nur solchen Personen gegenüber gehorsam sein kann, die selbst gehorsam sein müssen, gehorsam nämlich gegenüber dem Wort Gottes und seiner Tradition in der Kirche. Zugleich wird damit unübersehbar deutlich, dass der Papst wie jeder kirchliche Amtsträger, der die Kirche zum Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes verpflichten muss, selbst der exemplarisch Gehorsame und in diesem grundlegenden Sinn der vorbildlich Prophetische sein muss. III. Selbstverwirklichung durch Gehorsam Im biblischen Sinn des Prophetischen ist gerade der kirchliche Amtsträger berufen, sich als Repräsentant Jesu Christi zu erweisen, der nicht zufälligerweise sein Kommen in die Welt mit den Worten deuten konnte, er sei nicht gekom men, „um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (5, 17). Jesus Christus tritt damit als der wahre und endgültige Prophet vor unsere Augen, wie Papst Benedikt XVI. in seinem Buch über Jesus von Nazareth präzis herausgearbeitet hat: „In Jesus ist die Verheißung des neuen Propheten erfüllt. Bei ihm ist nun vollends verwirklicht, was von Mose nur gebrochen galt: Er lebt vor dem Angesicht Gottes, nicht nur als Freund, sondern als Sohn; er lebt in innerster Einheit mit dem Vater.“18 1. Gehorsame Freiheit Jesu Christi Wenn das Wesen des Propheten darin besteht, dass er sich in der persönlichen Berührung mit dem lebendigen Gott verpflichtet weiss, in Gehorsam ihm gegenüber die Wahrheit, die Gott selbst ist, zu verkünden, und zwar in einer Art und Weise, dass sie auch das Leben der Menschen zu erhellen vermag, dann ist Jesus nicht nur der endgültige Prophet, sondern auch der vollendet Gehorsame, und zwar so sehr, dass der Gehorsam, wie Romano Guardini betont hat, den „Kern seines Wesens“ bildet19. Indem Guardini diese Wesensbestimmung Jesu dahingehend zugespitzt hat, dass sein ganzes Dasein „Übersetzung der Macht 18 Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Brsg. 2007, S. 31. 19
Romano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, Würzburg 1952, S. 38.
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in die Demut“, genauerhin „in den Gehorsam gegen den Willen des Vaters“ 20, ist, hat er damit sensibel verdeutlicht, dass der Gehorsam Jesu nirgendwo so deutlich an den Tag kommt wie in seinem Umgang mit der Macht, mit der sich auch Jesus auseinandersetzen musste, wie vor allem der biblische Bericht von der dritten Versuchung zeigt: Der Teufel führt Jesus auf einen Berg, er zeigt ihm alle Reiche der Erde und verspricht ihm, alles zu geben, wenn er sich vor ihm niederwirft und ihn anbetet. Er versucht Jesus, er solle sich alle Macht der Welt aneignen, um gewaltsam sein eigenes Reich durchsetzen zu können, statt in gehorsamer Erwartung das Reich Gottes anbrechen zu lassen. Jesus jedoch verweigert sich dem verführerischen Griff nach der Macht über die Reiche dieser Welt. Er baut vielmehr auf die scheinbare Ohn-Macht Gottes in dieser Welt, die sich in seinen Augen freilich als die grösste Macht der Welt erweisen wird, nämlich als Macht der grenzenlosen Liebe. Jesus macht sich stark für den Vorrang Gottes und seiner Anbetung: „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen.“ Denn Jesus weiss, dass überall dort, wo Gott der ihm geschuldete Gehorsam zuteil wird, die grösste Freiheit aufleuchtet, die sich überhaupt denken lässt. Wenn wir bedenken, welch grundlegender Antrieb im menschlichen Leben der Trieb nach Macht und in diesem Sinne auch nach Selbstverwirklichung ist und wie schnell dieser Antrieb in die Versuchung führt, die Macht allein für sich und seine eigenen Zwecke zu gebrauchen, dann wird auch verstehbar, dass Jesus gerade in seinem Gehorsam durch Machtverzicht als der vollendet freie Mensch vor unsere Augen tritt. Wie wir im anthropologischen Bereich gesehen haben, dass sich Freiheit und Bindung nicht ausschliessen, sondern sich gegenseitig fordern und fördern, so zeigt sich auch und erst recht im Leben Jesu, dass sein Gehorsam Gott und seinem Willen gegenüber ihm absolute Freiheit geschenkt hat, wie sie grösser gar nicht mehr gedacht werden kann. Dass in der Existenz Jesu Christi Selbstverwirklichung und Bindung, Freiheit und Gehorsam in einer vollendeten Synthese zusammen bestehen, hat vor allem der grosse Theologe Maximus Confessor im siebten Jahrhundert dargetan, indem er die vollkommene Vereinigung zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Christus in der lebendigen und personalen Synthese von zwei Freiheiten gesehen und mit den Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Die menschliche Natur des Sohnes kannte und bekundete in sich – nicht von sich aus, sondern aufgrund ihrer Vereinigung mit dem Wort – alles, was Gott zukommt.“21 Mit dieser Sicht ist Maximus Confessor zum exzellenten Interpreten 20
Ebd., S. 38.
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Maximus Confessor, qu. Dub. Q. I. 67.
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des Dritten Konzils von Konstantinopel in den Jahren 680 bis 681 geworden, das die chalkedonensische Aussage, dass Christus eine Person in zwei Naturen ist, auf ihre existenziellen und personalen Dimensionen hin vertieft hat. 22 Indem es der Frage nachgegangen ist, wie in Christus zwei Willen miteinander leben und wirken können, hat es gelehrt, dass in Jesus Christus nicht zwei voneinander getrennte Willenskräfte nebeneinander bestehen, sondern dass die beiden Willen wirklich geeint sind, nämlich im Ja-Wort des menschlichen Willens Jesu zum göttlichen Willen des Logos. Weil die beiden Willen ontologisch zwar zwei selbständige Wirklichkeiten bleiben und doch ein einziger Wille sind, bekennt das Dritte Konzil von Konstantinopel eindeutig einen freien menschlichen Willen in Jesus Christus, freilich gerade nicht in Entgegensetzung zum göttlichen Willen, sondern in höchster Zustimmung und Einheit mit ihm, so dass man von einer „Synthese der Freiheiten“ sprechen kann, „aus der eine nicht naturale, aber personale Einheit entsteht“23. Mit dieser Synthese, die in der „Einheit in der Weise der Kommunion“, genauerhin in der „Einheit, die die Liebe schafft und ist“, besteht24, kann sie keine Minderung des Menschseins Jesu bedeuten, sondern wird die Einheit des Menschseins und seine Freiheit vielmehr zur Vollendung gebracht. Diese Synthese kann in Jesus „keinerlei Amputation und Reduktion des Menschseins“ einschliessen. Denn wenn Gott sich seinem Geschöpf Mensch verbindet, „so verletzt und verringert er es nicht: er bringt es erst zu seiner vollen Ganzheit“25. Die personale Synthese der Freiheiten in der Existenz Jesu Christi kommt zweifellos am deutlichsten und zugleich am dramatischsten in der Stunde von Gethsemani in seinem Gebet zum Ausdruck: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mk 14, 36). In diesem Gebet erfüllt Jesus nicht seinen Willen, sondern den Willen des Vaters; er vollzieht dies aber als Mensch, der in allem auf den Willen des Vaters hört. In der Stunde von Gethsemani begegnen sich auf 22 Vgl. Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners, Freiburg i. Br. 1941. Vgl. auch Kurt Koch, In Liebe erlöste Freiheit. Besinnung auf das anthropologische Geheimnis des Christusglaubens, in: G. Augustin u. a. (Hrsg.), Christus – Gottes schöpferisches Wort. Festschrift für Christoph Kardinal Schönborn, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 371–402. 23
Joseph Kardinal Ratzinger, Jesus Christus heute, in: ders., Ein neues Lied für den Herrn. Christusglaube und Liturgie in der Gegenwart, Freiburg i. Brsg. 1995, S. 15–45, hier 22. 24
Michael Schneider, Einführung in die Theologie Joseph Ratzingers, Köln 2008, S. 121. 25
Joseph Kardinal Ratzinger, Schauen auf den Durchbohrten. Versuche zu einer spirituellen Christologie, Einsiedeln 1984, S. 34.
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der einen Seite die völlige Unterordnung des Sohnes unter den Auftrag und den Willen des Vaters und auf der anderen Seite die absolute Freiheit der Liebe des Sohnes, der sogar das eigene Leben hinzugeben bereit ist. Der vordergründige Widerspruch zwischen Unterordnung und Freiheit löst sich nur von der vollkommenen Gemeinschaft zwischen Sohn und Vater her auf, die sich im Gebet ereignet. Der Gebetsdialog Jesu mit seinem Vater erweist sich so sehr als die eigentliche Mitte der Existenz Jesu, dass man nur von ihm her die innere Ganzheit und Einheit der Gestalt Jesu verstehen kann. Diese besteht darin, dass in Gethsemani Jesus gerade in seinem Sohnesgehorsam gegen den Vater der vollendet freie Mensch ist, genauerhin „die lebendige und persönliche Synthese der vollkommenen Freiheit im völligen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes“26. 2. Mariens Gehorsam als Urbild des kirchlichen Gehorsams Die Verbundenheit Jesu mit seinem Vater und der Gehorsam gegenüber seinem Willen stellen sich als die höchste Gestalt von menschlicher Freiheit und Selbstverwirklichung heraus. Die neue christologische Existenzweise der gehorsamen Freiheit ist freilich keine exklusive, sondern versteht sich als inklusive, in die deshalb auch die Jünger und Jüngerinnen Jesu einbezogen werden sollen. Dies gilt in allererster Linie von Maria, der Mutter Jesu, im Blick auf sie der christliche Glaube sogar eine tiefe innere Einheit zwischen Jesus und ihr bekennt: Wie Christus bei seinem Eintritt in die Welt gesprochen hat: „Ja, ich kom me, um deinen Willen, Gott, zu tun“ (Hebr 10, 7), so hat Maria als Antwort auf den Anruf des Engels Gabriel ihren eigenen Willen in Freiheit in den Willen Gottes hinein gebeugt: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort“ (Lk 1, 38). Auch wenn das Ja des Sohnes und das Ja Marias zunächst als zwei verschiedene Ja erscheinen, werden sie dennoch zu einem einzigen Ja verbunden, damit das Wort in Maria Fleisch werden kann: „In Wirklichkeit ist das Jawort Marias der vollkommene Widerschein des Jaworts Christi selbst.“ 27 In dieser Grundhaltung der demütigen Grossherzigkeit, den Willen Gottes in Freiheit anzunehmen, ihm zu vertrauen und ihm alles zu überlassen, hat Maria im Grunde die dritte Bitte des Herrengebetes vorweggenommen: „Dein Wille 26 Benedetto XVI, „La fede in Cristo ci dona il compimento dell’antropologia“. Ai membri della Pontificia Commissione Biblica in occasione della sessione plenaria il 27 aprile 2006, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, II, 1 2006, Città del Vaticano 2007, S. 506–509. 27 Benedetto XVI, L’annunciazione: L’incontro di due „Si“. La preghiera mariana il 25 marzo 2007, in: Insegnamenti di Benedetto XVI, III, 1 2007, Città del Vaticano 2008, S. 567–571.
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geschehe.“ Maria erscheint in der Heiligen Schrift vor allem beim Evangelisten Lukas als jener Mensch, der das Wort Gottes ganz in sich aufgenommen hat und für den Willen Gottes ganz Ohr gewesen ist. So heisst es bei der Verkündigung der Geburt Jesu, dass Maria über den Gruss des Engels erschrak und „überlegte, was dieser Gruss zu bedeuten habe“ (Lk 1, 29). Das Wort, das der Evangelist hier für „überlegen“ verwendet, verweist in der griechischen Sprache auf das Wort „Dialog“. Damit kommt zum Ausdruck, dass Maria mit dem Willen Gottes, der ihr entgegen kommt, in persönliche und intime Zwiesprache eintritt, einen stillen Dialog mit ihm führt und seinen tieferen Sinn ergründet. Ähnlich verhält sich Maria in der Weihnachtsgeschichte nach der Anbetung des Kindes in der Krippe durch die Hirten: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2, 19). Maria übersetzt das Weihnachtsereignis in das Wort und vertieft sich in das Wort, so dass es im Erdreich ihres Herzens Same werden kann. Ein weiteres Mal ruft Lukas dieses Bildwort in Erinnerung bei der Szene des zwölfjährigen Jesus im Tempel: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen“ (Lk 2, 50). Ihre ganze Brisanz erhält diese Bemerkung freilich erst vom voraufgehenden Satz her: „Sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte.“ Lukas will damit zum Ausdruck bringen, dass Gottes Wille selbst für den glaubenden und deshalb für Gott geöffneten Menschen nicht immer sofort verständlich ist. Es braucht deshalb Geduld und Demut, mit der Maria das zunächst Unverstandene in ihr Herz hineinnimmt und es wirken lässt, um es innerlich verarbeiten zu können. Diese drei Szenen zeigen Maria als die ganz Gehorsame dem Wort und Willen Gottes gegenüber. In Maria leuchtet die personifizierte Entsprechung zwischen dem göttlichen Wort und der menschlich-geschöpflichen Antwort auf. In dieser reinen Entsprechung spiegelt das Jawort Marias das Wort der Liebe Gottes ungetrübt, in „unbefleckter Empfängnis“, wider. In ihrem gläubigen Gegenüber zum Willen Gottes erscheint sie als „Darstellung der zur Antwort gerufenen Schöpfung, der Freiheit des Geschöpfs, die sich in der Liebe nicht auflöst, sondern vollendet“28. Darin ist Maria Urbild und Urgestalt der Kirche oder noch adäquater: „Kirche im Ursprung“29. Die Kirche und die Christen leben deshalb umso mehr im Gehorsam als gereinigter Freiheit, desto marianischer sie werden und sind. Denn in Maria ist jener demütige und zugleich grossmütige Gehorsam des Glaubens sichtbar geworden, in dem sich die höchste Gestalt menschlicher Freiheit zeigt und ereignet. 28
Joseph Cardinal Ratzinger, Erwägungen zur Stellung von Mariologie und Marienfrömmigkeit im Ganzen von Glaube und Theologie, in: ders. / Hans Urs von Balthasar, Maria – Kirche im Ursprung, Einsiedeln 1997, S. 14–30, hier 25. 29
Ratzinger / von Balthasar, Maria – Kirche im Ursprung (Anm. 28).
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Zum Leben eines marianisch gereinigten Gehorsams sind vor allem Christen und Christinnen berufen, die sich mit ihren Ordensgelübden die Lebensweise Jesu auch existenziell angeeignet haben und so eine lebendige Form der Verkündigung des christlichen Evangeliums darstellen 30, wie es sehr schön im Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ heisst: „Das Leben in der Nachfolge des keuschen, armen und gehorsamen Christus ist daher eine ‚lebendige Exegese des Wortes Gottes‘.“31 Ordenschristen und Ordenschristinnen leben aber letztlich nur in zugespitzter und prophetischer Weise, was die Berufung aller Christen ausmacht, nämlich ihr menschliches Streben nach Selbstverwirklichung im Sinne der Eigenmächtigkeit im Glauben befreien und reinigen zu lassen und in gehorsamer Freiheit wie in freiem Gehorsam zu leben, die uns in vollendeter Gestalt in Christus begegnen, der uns eine neue Freiheit gezeigt und gebracht hat, die gerade nicht die Freiheit des Bindungslosen, sondern die Freiheit dessen ist, „der eins ist mit dem Willen des Vaters und der den Menschen zu der Freiheit des inneren Einsseins mit Gott verhilft“32. Solche gereinigte Freiheit, die uns in gespiegelter Weise in erster Linie in Maria begegnet, ist der tiefste Gehalt der den Menschen bewegenden Suche nach seiner Selbstverwirklichung, die diesen Namen wirklich verdient und die in der heutigen Welt zu bezeugen Berufung und Verantwortung der Christen ausmacht. Und sie erweist sich auch als Grundvoraussetzung dafür, dass das Recht in der Kirche seinen undelegierbaren Dienst zum Wohl der Glaubensgemeinschaft erfüllen kann.
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Vgl. Kurt Koch, Autoritarismus: Konkurrenz zur menschlichen Autonomie? Freiheit und Bindung im kirchlichen Leben der Gegenwart, in: ders., Verbindliches Christsein – verbindender Glaube. Spannungen und Herausforderungen eines zeitgemässen Christentums, Freiburg / Schweiz 1995, S. 115–178, bes. 151–174. 31 32
Benedikt XVI., Verbum Domini, Nr. 83.
Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Prolog: Die Kindheitsgeschichten, Freiburg i. Brsg. 2012, S. 129.
Die Leitungsaufgabe des Bischofs1 Die Leitungsaufgabe des Bischofs Anmerkungen und Perspektiven Von Reinhard Kardinal Marx Reinhard Kardinal Marx I. Persönliche Vorbemerkungen Zur „Leitungsaufgabe des Bischofs“ habe ich 2011 auf Einladung der „Kongregation für die Bischöfe“ in Rom einen Vortrag vor neu ernannten Bischöfen gehalten, dessen Überlegungen diesem Beitrag zugrunde liegen. Es geht nicht um eine Theologie des Bischofsamtes, die umfassender sein müsste als dies in einem Vortrag oder Beitrag möglich ist, wenngleich meine Überlegungen auf diesem theologischen Fundament beruhen. Ausgehend von der Frage, worin die Leitungsaufgabe des Bischofs besteht, will ich versuchen, einige Schlaglichter auf die gegenwärtigen Herausforderungen der Kirche zu werfen. Kirche und Bischofsamt sind nicht identisch, aber das Bischofsamt kann nicht ohne die Kirche gedacht werden und umgekehrt hat alles, was über das Bischofsamt zu sagen ist, auch Bedeutung für das Verständnis der Kirche. Das ist keine klar zu begrenzende und einfache Aufgabe, und ich bin mir der Desiderate dieses Beitrags durchaus bewusst. Über die „Leitungsaufgabe des Bischofs“ Aussagen zu treffen, ist auch deshalb für mich eine Herausforderung, da mir selbstredend die eigene Praxis vor Augen steht, an der ich mich in allen Aussagen messen lassen muss. Doch ebenso sehe ich, dass diese persönliche Erfahrung vielleicht auch hilfreich sein kann, weil sie allgemeine Aussagen konkretisiert und somit zum weiterführenden Gespräch animieren kann. Deswegen beginne ich mit einigen persönlichen Vorbemerkungen. Meine Bischofsweihe liegt nun schon fast 18 Jahre zurück. Ich war 1996 Direktor des „Sozialinstitutes Kommende“ in Dortmund, einer Einrichtung des Erzbistums Paderborn mit der Aufgabe, sich besonders um die Themen der Katholischen Soziallehre zu kümmern. Dadurch war ich in vielen außerkirchlichen Kontakten engagiert: zu den Betrieben, den Gewerkschaften, 1 Dieser Beitrag, den ich Libero Gerosa zueignen möchte, basiert auf einem Vortrag, den ich auf Einladung der Kongregation für die Bischöfe im September 2011 in Rom gehalten habe.
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den Unternehmern, den politischen Parteien, den wissenschaftlichen Instituten und sozialen Organisationen. Zudem war ich auch noch Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät in Paderborn, und wurde dann von Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof ernannt. Als Bischofsvikar für Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur hatte ich zwar einen eigenen Aufgabenbereich, doch keine Letztverantwortung für die Leitung einer Diözese. Aber durch die ständige Zusammenarbeit mit meinem Erzbischof und den anderen Weihbischöfen konnte ich einen guten Einblick bekommen in die Herausforderungen, die sich einem Ordinarius stellen. Nach gut fünf Jahren wurde ich dann zum Bischof von Trier berufen und musste dort in einer mir völlig unbekannten Diözese zum ersten Mal die Verantwortung als Diözesanbischof übernehmen. Und schließlich durfte und musste ich nach gut fünf Jahren wieder einen Wechsel vornehmen, in eine ganz andere Gegend Deutschlands, nach Bayern, nach München und Freising. Eine Aufgabe, die natürlich noch einmal herausfordernder ist im Blick auf die Leitungsverantwortung des Bischofs, denn Bayern hat eine eigene Bischofskonferenz und München ist für die Katholische Kirche in Deutschland traditionell von besonderer Bedeutung. Eines ist mir jedenfalls durch diese Wanderung deutlich geworden: Gerade als Bischof braucht man eine gewisse Zeit der Einarbeitung, eine intensive Phase des Kennenlernens, um seine Aufgabe gut wahrnehmen zu können. Man braucht im engeren Umfeld Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen man vertrauen kann. Und es ist wichtig, auf einem intensiven Gesprächsweg das Vertrauen der Gläubigen, der Priester und aller Mitarbeiter zu finden, denn sonst kann man als Bischof sein Leitungsamt nicht gut wahrnehmen. Ich glaube nicht, dass dieser Weg im Erzbistum München und Freising schon abgeschlossen ist. Denn die Kirche in Deutschland steht nach wie vor in einer Zeit großer Umbrüche und so ist es nicht verwunderlich, dass es auch intensive Diskussionen über den Weg der Kirche in die Zukunft gibt, und das wird wohl auch in den nächsten Jahren nicht anders werden. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Bischöfe, das Volk Gottes zusammenzuführen, zu leiten und ihm zu helfen, aus der Kraft des Glaubens zu leben. Gerade Papst Franziskus möchte, dass die Bischöfe einerseits vorangehen „bis an die Peripherie“, andererseits verbunden bleiben mit der „Herde“ und sie im Glauben stärken. II. Leiten heißt Lernen Bei einer Predigt zu einer Bischofsweihe habe ich einmal gesagt, dass das Bischofsamt eine „strukturelle Überforderung“ sei. Es ist ja tatsächlich nicht so einfach vergleichbar mit politischen oder anderen Leitungsämtern, weil es im Bischofsamt nicht einfach darum geht, ein unternehmerisches, wirtschaftliches
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oder politisches Ziel zu erreichen, das man messbar in Wahlerfolgen und Bilanzen überprüfen könnte, sondern um ein Handeln „an Christi statt“, wie es der Hl. Paulus formuliert. Und doch sollten wir uns davor hüten, die bischöfliche Leitungsverantwortung so exklusiv zu verstehen, dass sie gar nicht mehr vergleichbar ist mit dem, was Leitung auch in anderen Bereichen bedeutet. Es geht also durchaus um eine Analogie im Sinne der „similitudo … maior dissimilitudo“. Und deshalb gilt auch für das bischöfliche Leitungsamt, dass man Leitung in gewisser Weise lernen kann und lernen muss. Alleine dazu müsste ein eigener Beitrag verfasst werden und ich kann das an dieser Stelle nicht erschöpfend darstellen. Es gibt eine Vielzahl kirchlicher Hinweise und Anmerkungen zum Leitungsamt des Bischofs. Die großen Dokumente, die zur Verfügung stehen, setze ich als wichtigen Bezugspunkt voraus und muss diese hier nicht eigens erläutern: Christus Dominus (Dekret des II. Vatikanischen Konzils über die Hirtenaufgabe der Bischöfe), Apostolos Suos (Motu Proprio von Johannes Paul II. über die theologische und rechtliche Struktur der Bischofskonferenzen), Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum Successores“. Was ich also im Folgenden anbiete, ist der Versuch aus einer theologisch reflektierten, persönlichen Erfahrung heraus darzulegen, wo die aktuellen Herausforderungen für die Leitungsaufgabe des Bischofs liegen. III. Leiten im Auftrag Wenn wir als Bischöfe über unsere Leitungsaufgabe nachdenken, müssen wir auf das Beispiel Jesu schauen. Als Nachfolger der Apostel sollen wir an „seiner statt“ das Volk Gottes leiten und ihm helfen, den Weg zum ewigen Heil zu finden. Und darüber hinaus sollen wir in seinem Auftrag das Evangelium verkünden „bis an die Grenzen der Erde“. In der Theologie wird das entfaltet als Teilhabe am Priester-, Königs-, und Prophetenamt Christi, die in der Taufe allen geschenkt wird, und den Priestern und Bischöfen in einer besonderen Weise im Blick auf die Leitung, auf das „agere in persona Christi capitis“. Und als weiteres Kriterium für die Aufgabe als Apostel und Apostelnachfolger kommt hinzu, Zeuge der Auferstehung, Zeuge des Reiches Gottes zu sein, das in Tod und Auferstehung Jesu Wirklichkeit geworden ist. Die Leitungsaufgabe des Bischofs im Geist Jesu ist also bezogen auf das dreifache Amt Christi und darauf, Zeuge der Auferstehung zu sein. Oder anders formuliert: Wenn der Bischof seine Leitungsaufgabe wahrnimmt, tut er es als Priester, König, Prophet und Zeuge. In all diesen Dimensionen muss auch die Leitungsaufgabe des Bischofs erkennbar werden.
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Das heißt zunächst einmal: Ein Bischof übt sein Amt und seinen Auftrag nicht im eigenen Namen aus, sondern im Auftrag eines Anderen. Wir sind Gesandte und stehen nicht für uns selber da. Zur Leitungsspiritualität des Bischofs gehört deshalb der Gehorsam, wie Jesus ihn gelebt hat. Deswegen kann die bischöfliche Autorität nur in Liebe ausgeübt werden, sie ist ja Autorität im Namen dessen, der sich „für uns hingegeben hat“. Das muss in der Art und Weise des Leitungsdienstes deutlich werden. Leitungsaufgabe im Geiste Jesu bedeutet dann auch, das Ganze im Blick zu behalten. Das Ziel ist ja das Reich Gottes, die Darstellung der „nova creatura“, der neuen Schöpfung, die in Christus Wirklichkeit geworden ist. Es geht ja nicht um die Selbsterhaltung der Kirche, sondern darum, dass die Kirche ihre Sendung erfüllt, der ganzen Welt das Heil zu bezeugen und dazu einzuladen. Wenn sie ihre Sendung lebt, wird sie auch vom Herrn getragen. Und im Geiste Jesu ist die Leitungsaufgabe des Bischofs bezogen auf die Berufung aller. Denn das ganze Volk Gottes ist Werkzeug des Heils für die Welt und so ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Brüder und Schwestern ihre Berufung als Getaufte und Gefirmte leben und so an der „neuen Schöpfung“ mitwirken. Die Leitungsaufgabe des Bischofs zielt genau darauf ab, alles zu tun und das kirchliche Leben darauf auszurichten, damit alle ihre Berufung finden, ihr treu bleiben und so dem Reich Gottes dienen. IV. Erprobung Wie wird nun das Leitungsamt des Bischofs konkret gestaltet? Welche Punkte gilt es zu bedenken, wenn wir die Alltagswirklichkeit des bischöflichen Leitungsamtes betrachten, sozusagen von der theologischen Höhe in die Praxis hineingehen und auch konkret lernen, zu leiten und der Kirche Gottes vorzustehen? Denn selbstverständlich ist die Bischofsweihe ein Gnadengeschenk und mit dem Amt wird auch die Gnade hinzugefügt es auszuüben, aber das heißt nicht, dass damit alle Kompetenzen und Fähigkeiten zur Leitung schon gegeben seien, dass man also nichts mehr lernen müsse und der Heilige Geist schon alles richten werde. Und deshalb noch eine theologische Anmerkung: Die Kirche hat eine chalcedonensische Struktur, wie es das Zweite Vatikanische Konzil sagt (vgl. Lumen Gentium 8). Im Blick auf die Kirche handelt es sich im theologischen Sinn um eine Analogie zur Inkarnation, eben um die Erkenntnis, dass die Kirche so ähnlich wie im Geheimnis der Menschwerdung sowohl Leib Christi wie auch menschliche Gemeinschaft ist, sichtbare Organisation und Werkzeug des Heiligen Geistes, Geheimnis und Societas. Und weil das so ist, gelten in ihr auch (in
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analoger Weise) die Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens, wie sie etwa die Katholische Soziallehre verkündet. Deshalb kann die Kirche in ihrer sozialen Ausgestaltung und in ihrer Organisation auch einen Weg des Lernens gehen und der geschichtlichen Veränderung, ohne dass die Grundstruktur, die ihr von Christus her eingestiftet ist, verloren gehen würde. Es gilt – mit einem Wort von Walter Kardinal Kasper: Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter der Kirche nicht auf. In der sichtbaren menschlichen Organisation des Volkes Gottes zeigt sich das Wirken des Heiligen Geistes, der dieses sichtbare geistliche Gemeinwesen zum Leib Christi gemacht hat. Dazu wäre vieles zu diskutieren und zu ergänzen, aber für unsere Fragestellung mag diese kurze Anmerkung genügen, um deutlich zu unterstreichen, dass auch die Leitungsaufgabe des Bischofs sich daran messen lassen kann und messen lassen muss, wie vernünftigerweise in einer Gemeinschaft Leitung effizient und zielorientiert ausgeübt werden sollte. Für einen Bischof ist es deshalb wichtig, Erkenntnisse der Vernunft im Blick auf Leitung aufzunehmen und anzuwenden. Die großen Prinzipien der Katholischen Solziallehre im Blick auf Organisationen und auf das weltliche Gemeinwesen gelten analog auch für die Kirche. So gibt es Techniken des Leitens, die man erlernen kann, wie etwa die Fähigkeit, Gruppen zielorientiert zu führen und Organisationen entsprechend aufzubauen. Man sollte keine Angst davor haben, sich die Erfahrungen aus anderen Bereichen zunutze zu machen und selber an entsprechenden Weiterbildungen teilzunehmen, ebenso wie es unhinterfragt möglich ist, Experten für Organisationsentwicklung und Management beratend einzubeziehen. Natürlich sind die Ziele des kirchlichen Weges vorgegeben durch die Heilige Schrift und die Lehre der Kirche, aber sie müssen doch je neu formuliert werden in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, sie müssen konkret bezogen werden auf die Pastoral in einer immer neuen Situation. Nur einfach zu wiederholen, was immer schon einmal gesagt wurde, reicht nicht aus, sondern es geht darum, deutlich zu machen, wie diese Ziele je neu erreicht werden können. Das setzt dann auch Motivation frei, die ja – so sagt uns die Motivationsforschung – nicht primär von außen kommen kann, sondern aus der inneren Bereitschaft von Menschen, sich mit gemeinsamen Zielen zu identifizieren und entsprechend zu handeln. Das entspricht durchaus dem, was wir aus unserer eigenen christlichen Spiritualität kennen. So ist es eine besondere Aufgabe des Bischofs, Rahmenbedingungen zu ermöglichen, damit die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zielorientiert und motiviert arbeiten können. Dabei ist auch wichtig, dass Ziele gemeinsam formuliert werden im Rahmen dessen, was vom Evangelium und vom Glauben der Kirche vorgegeben wird.
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Eine entscheidende Leitungsaufgabe ist auch die Delegation, was nicht bedeutet, Arbeit auf andere abzuschieben, sondern andere an der eigenen Aufgabe zu beteiligen mit einer ihnen zugewiesenen klaren Verantwortung. Daraus ergibt sich, dass auch nach einer Delegation das Interesse an der Arbeit der anderen erkennbar bleibt. In der Wirtschaft nennt man das Qualitätssicherung oder Controlling. In unserer Tradition kennen wir das Instrument der Visitation, das in einer erneuerten Weise konsequent angewandt werden muss. Dabei geht es nicht um Kontrolle mit einer Hermeneutik des Misstrauens, sondern um Ermutigung und gemeinsame Bekräftigung der Ziele, die uns verbinden. Dass erreichte Ziele und Ergebnisse festgehalten und gesichert werden – und darin auch das Lob zum Ausdruck kommt –, gehört zu den wichtigen Aufgaben der Leitung. Die Kirche ist beides: geheimnisvoller Leib Christi und menschliche Organisation (ungetrennt und unvermischt), und deshalb gelten in gewisser Weise auch die Prinzipien der Soziallehre der Kirche für ihren eigenen Bereich, so die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der Personalität. Ein Bischof kann sein Leitungsamt nur wahrnehmen, wenn das „Gemeinwesen Kirche“, das sichtbar ist „wie die Republik Venedig“, so hat es der Hl. Robert Bellarmin formuliert, in einer gewissen Vielfalt und je eigenen Verantwortung lebt, wie es ja auch das Zweite Vatikanische Konzil in Lumen Gentium dargestellt hat. Die Pfarreien, Dekanate, Ordensgemeinschaften, Bewegungen und Bildungseinrichtungen haben ihre je eigene Verantwortung, sind aber doch bezogen auf die Aufsicht durch den Bischof, weil sonst die Gemeinsamkeit des Ganzen gefährdet sein könnte. Und das Prinzip der Personalität entspricht dem, was ich von der Berufung aller gesagt habe: Leitung bedeutet nicht, von oben her zu bestimmen, was andere zu tun haben, sondern mit dafür zu sorgen, dass alle ihre je eigene Berufung annehmen und leben im Kontext des Ganzen. Ein entscheidendes Leitungsinstrument für den Bischof ist die bischöfliche Verwaltung, das Ordinariat. Bei aller Letztverantwortung des Bischofs ist es doch wichtig, gerade in größeren Bistümern wie es in Deutschland der Fall ist, einen Führungsstil zu pflegen, der viele mit einbezieht, und in einer kooperativen Weise zu arbeiten. In der Führungstheorie heißt es, dass jemand eigentlich nur zehn Personen in engerer Weise führen kann. Es gibt demnach keinen anderen Weg als über Delegation und Kooperation die Verantwortung in guter Weise aufzuteilen, wie es ja schon im Buch Exodus Mose praktiziert, weil er merkt, dass das Volk zu groß für ihn ist und die Verantwortung von ihm allein nicht getragen werden kann (vgl. Ex 18). Verwaltung ist nichts, was grundsätzlich und vor aller Erfahrung mit negativen Vorzeichen zu besetzen ist. Eine gute Bürokratie ist etwas Positives und die Kirche hat in ihrer Geschichte oft eine Vorreiterrolle darin erkennen lassen.
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Verwaltung und Bürokratie im guten Sinne meint: transparente Verfahren, Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, eindeutige Aktenführung und Verlässlichkeit. Die Kirche ist schließlich auch eine Rechtsgemeinschaft und nicht eine feudale, auf Freundschaften und Beziehungen beruhende Gruppierung. Eine gute Verwaltung zwingt auch in einem geistlichen Sinne zur Disziplin und Konsequenz. V. Personalverantwortung Ganz entscheidend für das Leitungsamt des Bischofs ist die Kooperation mit den Priestern, die Gemeinschaft des Bischofs mit dem Presbyterium. Im geistlichen und theologischen Sinn soll der Bischof Vater und Bruder der Priester sein, und deswegen kommt es darauf an, immer wieder das Miteinander zu suchen, um sich der gemeinsamen Ziele je neu zu vergewissern. Deshalb ist es für den Bischof unerlässlich, den Priestern zu vermitteln, dass er zu ihnen steht und mit ihnen verbunden ist, so wie das auch umgekehrt erforderlich ist. Wie sollte sonst das Leben in einer Diözese nach den Zielen, die vom Bischof verantwortet werden, gelebt werden? Das ist ein manchmal schwieriger, immer herausfordernder, aber notwendiger Weg, der auch Zeit zum Gespräch erfordert. Dazu gehört zudem eine gute Personalauswahl, Personalführung und Personalentwicklung. Hier muss der Bischof einen Schwerpunkt setzen und priesterliche Mitarbeiter, etwa den Generalvikar, sowie weitere Personalverantwortliche finden, die ihn in dieser zentralen Aufgabe unterstützen. Die Diskussionen der vergangenen Jahre, insbesondere die Erkenntnis von Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter, haben verdeutlicht, dass zur Personalführung auch das verlässliche Achten auf eine gute Disziplin gehört. Disziplin meint nicht die Unterordnung unter eine hierarchisch strukturierte Herrschaft, sondern eine im geistlichen Sinne konsequente Ausrichtung an den Eckpunkten des priesterlichen Lebens. Aber auch die Einführung von Instrumenten der Mitarbeiterführung und eine Disziplinarordnung sind erforderlich. In anderen Arbeitsbereichen der Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass Mitarbeitergespräche geführt und protokolliert werden und auch Bewertungen der Arbeit vorgenommen werden. Es ist wichtig, die Qualität der eigenen Arbeit verbessern zu können und dazu werden auch Instrumente der Mitarbeiterführung und Personalentwicklung eingesetzt. Die beständige Sorge um die Erneuerung der Zusammenarbeit von Bischof und Presbyterium gehört zu den großen Herausforderungen der Leitungsaufgabe des Bischofs. Sicherlich reicht es nicht aus, ermunternde Worte zu sagen und einzuladen zum freundlichen Miteinander. Ich meine schon, dass wir durchaus
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etwas lernen können von manchen Managementtheorien. Noch einmal: In der Vergangenheit war die Kirche häufig Vorreiterin in Bürokratie, Verwaltung, Personalführung und -entwicklung. Heute muss sie sich in diesen Bereichen von Neuem auf den Stand bringen und in einer theologisch und geistlich verantwortlichen Art und Weise die Qualität ihrer Arbeit erhöhen, um ihrem Auftrag in einer welt- und menschenzugewandten Weise gerecht werden zu können. VI. Mitverantwortung fordern und fördern Um das Leitungsamt gut auszuüben, wird ein Bischof sich auch der Mitverantwortung der Getauften und Gefirmten vergewissern, sie fördern und fordern. Um den Glauben in rechter Weise zu verkünden und die Ziele der Kirche zu erreichen, gilt es eben auch, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in Gaudium et Spes gesagt hat, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu interpretieren. (vgl. Gaudium et Spes 4) Deswegen ist die Kirche immer zugleich lehrende und lernende Kirche. Und von daher ergibt sich die Notwendigkeit, die Erfahrungen und das Leben der Getauften und Gefirmten mit einzubeziehen. Auch das mindert in keiner Weise die Letztverantwortung des Bischofs, aber es hilft, den bischöflichen Dienst wirksam auszuüben. Von daher sieht das Kirchenrecht auch Synoden bzw. synodale Elemente vor, Pastoralräte und weitere vielfältige Orte der Mitverantwortung. Für die Zukunft der Kirche ist es von großer Bedeutung, diese Mitverantwortung der Getauften und Gefirmten auch sichtbar zu machen und sie einzubeziehen. Erst recht gilt das für die vielen Bereiche, in denen einem Bischof selbst Kompetenzen fehlen. Der Bischof kann in vielen Aufgabenfeldern, etwa in der Verkündigung der Soziallehre der Kirche, nur dann seinen Aufgaben nachkommen, wenn er den Sachverstand der Gläubigen mit einbezieht und ernst nimmt. Wenn ein Bischof sich in guter Weise beraten lässt, schmälert das nicht seine Autorität, sondern stärkt sie. VII. Priester, König, Prophet und Zeuge sein Bischof zu sein, bedeutet – wie schon zuvor benannt – Priester, König, Prophet und Zeuge zu sein. In all diesen Elementen des bischöflichen Dienstes ist auch die Leitungsaufgabe präsent, von der nicht dispensiert werden kann: Im priesterlichen Dienst vollzieht der Bischof in der Feier der Sakramente sein Leitungsamt. Im königlichen Amt ist seine Aufgabe insbesondere der Dienst an der Einheit des Volkes Gottes. Das prophetische Amt bezieht sich auf die visionäre Kraft des Evangeliums, das nicht nur einfach Bestätigung von gegebenen Verhältnissen, sondern Aufruf zur Umkehr und zur Erneuerung ist. Als Zeuge der Auferstehung erinnert der Bischof an die Grundlagen des Glaubens und
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vollzieht eben darin seine Leitungsaufgabe. Die Leitungsaufgabe des Bischofs ist also eine Perspektive, die durch all seine Tätigkeiten und Einzelaufgaben hindurch erkennbar ist. Mir erscheint in unserer Gegenwart vielleicht doch der Dienst an der Einheit des Volkes Gottes als besondere Herausforderung. In einer Zeit der Kontroversen und der Polarisierung, die auch die Gesellschaft durchziehen, ist auch die Kirche manchmal in der Gefahr, in einzelne Gruppen und verschiedene Richtungen auseinander zu fallen. Hier muss daran erinnert werden, dass die Einheit mit dem Papst und dem Bischof zur Grundsubstanz des katholischen Glaubens gehört. Das erfordert aber auch vom Bischof, den Dienst der Einheit als Leitungsaufgabe so wahrzunehmen, dass Weite und Vielfalt im Leben der Kirche möglich sind. Er muss darauf achten, dass die Kirche im Glauben zusammen bleibt, aber ebenso auch darauf, dass die Vielfalt der Berufungen und Lebensweisen, die im Rahmen des Katholischen möglich sind, sich nicht gegenseitig behindern, sondern bereichern. Diese Aufgabe empfinde ich persönlich als eine besonders wichtige und herausfordernde. Und in einer besonderen Weise gilt das für den Petrusdienst mit der Sorge um die universale Einheit der Kirche. Den Heiligen Vater dabei zu beraten in der Gruppe der acht Kardinäle empfinde ich als eine besondere Herausforderung.
Rechtsförmlichkeiten bei der kirchlichen Gesetzgebung, insbesondere bei der Ausfertigung teilkirchlicher Gesetze Rechtsförmlichkeiten bei der kirchlichen Gesetzgebung Von Klaus Zeller Klaus Zeller Mit der Neukodifikation des kanonischen Rechts 1983 kam es zu „einer Aufwertung der teilkirchlichen Gesetzgebung“ 1. Als ein Instrument der komplementären Rechtsetzung2 dient sie aufgrund des Subsidiaritätsprinzips der örtlichen Ausgestaltung des universalen kodikarischen Rechts. Bei genauerer Durchsicht der dort zur Gesetzgebung überhaupt vorfindlichen einschlägigen Regelungen ergibt sich jedoch die im folgenden zu erörternde Frage, ob einzelne Aspekte, insbesondere, was die technische Gesetzesausfertigung 3 anbelangt, im Codex Iuris Canonici möglicherweise nicht oder nicht explizit genug geregelt worden sind.
1
Hubert Socha, Promulgationsweisen und Inkrafttreten, in: MKCIC 8, Rn. 12 (Stand: Februar 2012); vgl. Georg May, Verschiedene Arten des Partikularrechts, in: Schriften zum Kirchenrecht. Ausgewählte Aufsätze. Von Georg May, hrsg. von Anna Egler u. Wilhelm Rees (= KStuT 47), Berlin 2003, S. 187–200, hier 187. 2 Vgl. Heribert Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen des Diözesanbischofs nach dem CIC von 1983, in: AfkKR 152 (1983), S. 62–75, hier 63; Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (= AMATECA 12), Paderborn 1995, S. 108; Joseph Listl, Art. Diözesanrecht, in: Lexikon des Kirchenrechts (LexKR), Freiburg i. Brsg. 2004, Sp. 197; Giovanni Battista Card. Re, Legge universale e produzione normativa a livello di Chiesa particolare, di Conferenze episcopali e di Concili particolari, in: Ponti ficio Consiglio per i testi legislativi (Hrsg.), La legge canonica nella vita della Chiesa. Indagine e prospettive nel segno del recente magisterio pontificio. Atti del convegno di studio tenutosi nel XXV anniversario della promulgazione del Codice di Diritto Ca nonico, Città del Vaticano 2008, S. 85–101, hier 87: Re spricht vom „rapporto di complementarietà tra il diritto universale e quello particolare …“ 3 Es scheint, daß sich zuletzt Heinrich Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber. Technik und Form ihrer Gesetzgebung, München 1954, auf der Grundlage des Codex Iuris Canonici von 1917 mit dieser Thematik ausführlich beschäftigt und „eine zusammenhängende Darstellung des kirchlichen Gesetzgebungsvorganges“ (Vorwort, S. III) vorgelegt hat.
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I. Gesetz und Gesetzgeber im geltenden kanonischen Recht „Lex instituitur cum promulgatur.“ – „Ein Gesetz tritt ins Dasein, indem es promulgiert wird.“4 Die aus can. 8 § 1 CIC/1917 in den geltenden Codex Iuris Canonici übernommene prägnante Formulierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich hieraus ein nicht unerheblicher Interpretationsbedarf in bezug auf den Gesetzesbegriff ergibt. 5 Rechtssprachlich fällt die Verwendung des Wortes „lex“ auf, wiewohl „canon“ der „ursprünglichste Fachausdruck für das kirchliche Gesetz“6 ist. Aufgrund der in den ersten drei Jahrhunderten auszumachenden Variabilität des Begriffsinhalts, besagt „κανών“ jedoch noch „nicht oder nicht notwendigerweise [eine] schriftliche Anordnung oder gesatztes Recht.“7 „Lex“ hingegen war die Bezeichnung für das römische [Kaiser-]Ge-
4
C. 7 CIC/1983. Ähnlich c. 1488 CCEO: Leges instituuntur promulgatione. Vgl. zur sprachlichen Fassung im Zuge der Codex-Reform: Socha, Gesetzesverkündung (Anm. 1), 7, Rn. 9, Rn. 1; Synopse zur Genese von c. 7, in: Incrementa in Progressu 1983 Codicis Iuris Canonici, hrsg. von E. N. Peters, Montréal 2005, S. 5; zu den Ursprüngen dieses Satzes bei Gratian (D 4 c. 3: „Leges instituuntur, cum promulgantur …“), Ludger Müller, Kirchenrecht als kommunikative Ordnung, in: AfkKR 172 (2003), S. 353–379, hier 371 f. Diese grundlegende Bestimmung zur kirchlichen Gesetzgebung trifft gleichfalls auch auf die nach c. 29 CIC „im eigentlichen Sinn“ als Gesetze klassifizierten sog. Allgemeinen Dekrete bzw. Generaldekrete sowie für Statuten (c. 94 § 3 CIC) und authentische Gesetzesinterpretationen (c. 16 § 2 CIC) zu. 5 Vgl. Winfried Aymans, Lex Canonica. Erwägungen zum kanonischen Gesetzesbegriff, in: AfkKR 153 (1984), S. 337–353; Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici [KanR], Bd. I, Paderborn u. a. 1991, S. 142–159, hier 142 f. 6
Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici (unveränd. Nachdruck), Paderborn 1967, S. 54. Vgl. auch Lothar Wächter, Art. Kanon, in: LexKR 2004, Sp. 447; Markus Graulich, Unterwegs zur einer Theologie des Kirchenrechts. Die Grundlegung des Rechts bei Gottlieb Söhngen (1892–1971) und die Konzepte der neueren Kirchenrechtswissenschaft (= KRStKR 6), Paderborn u. a. 2006, S. 357. Hinzuweisen ist ferner beispielsweise auf die griechische Bezeichnung „kano,nej evkklhsiastikoi. tw/n a`gi,wn avposto,lwn“ für eine der frühen Kirchenordnungen, vgl. hierzu Bruno Steimer, Art. Apostolische Kirchenordnung, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg u. a. ³2002, S. 53 f.; Karl Suso Frank, Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche, Paderborn u. a. ³2002, S. 419; Johannes Mühlsteiger, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung (= KStuT 50), Berlin 2006, bes. S. 183–192 zur Begriffsentwicklung der Bezeichnung „κανών“. 7
Mühlsteiger, Kirchenordnungen, ebd., S. 187.
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setz.8 Hierauf beruht auch die Unterscheidung zwischen Kanonistik und Legistik bzw. zwischen den jeweiligen Vertretern des gelehrten Juristenstandes, den Kanonisten und den Legisten.9 Zunächst ist also nach der Bedeutung und Verwendung von „lex“ in der geltenden Kirchenrechtsordnung zu fragen.10 Klaus Mörsdorf ist aufgrund seiner rechtssprachlichen Analyse des Codex Iuris Canonici von 1917 zu dem Ergebnis gelangt, daß „lex … der heutige Fachausdruck für das kirchliche Gesetz“ ist.11 Ein Blick auf die bei Xaverius Ochoa aufgelisteten Lokutionen und Fundstellen zu „Lex, legis“12 läßt erkennen, daß sich hieran auch im Sprachgebrauch des Codex Iuris Canonici von 1983 nichts geändert hat. Nicht zuletzt sei bemerkt, daß auch die Apostolische Konstitution, mit der Papst Johannes Paul II. den Codex Iuris Canonici 1983 promulgiert hat, mit den Worten „Sacrae disciplinae leges“13 beginnt. Mit „canon“14 werden die einzelnen abstrakten Rechtssätze der beiden kirchlichen Gesetzbücher CIC und CCEO, analog der Paragraphen- bzw. Artikelgliederung15 weltlicher Gesetzeswerke, bezeichnet. Die „lex“ 8 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 6), S. 54; vgl. Hermann Heumann / Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des Römischen Rechts, 11. Aufl., Graz 1971, S. 311 f.; Wolfgang Waldstein / Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch, 10. Aufl., München 2005, S. 237, Rn. 2; Max Kaser / Rolf Knütel, Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch, 20. Aufl., München 2014, S. 29, Rn. 25; Gottfried Schiemann, Art. Lex, leges, in: Der neue Pauly, Bd. 7, Suttgart / Weimar 1999, Sp. 113–118, hier 115; Friedrich Merzbacher, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von römischem und kanonischem Recht, in: Diaconia et Ius. FG für Heinrich Flatten zum 65. Geburtstag, hrsg. von H. Heinemann, H. Herrmann, P. Mikat, München u. a. 1973, S. 303–314, hier 304 f. u. 313. 9
Vgl. Herbert Kalb, Art. Legist, in: LexKR (2004), Sp. 629; Hans-Jürgen Becker, Art. Legistik, in: LKStKR II (2002), S. 705–708; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. unveränd. Nachdr. d. 2. Aufl. 1967), Göttingen 1996, S. 118 f.; Thomas Olechowski, Rechtsgeschichte. Eine Einführung in die historischen Grundfragen des Rechts, Wien ³2010, S. 130–132. 10 Zur Begriffsentwicklung vgl. Péter Erdő, Quid significat „lex“ in iure canonico antiquitatis (saecula III–VII), in: Periodica RMCL 76 (1987), S. 381–412. 11
Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 6), S. 57.
12
Vgl. Xaverius Ochoa, Index Verborum ac locutionum Codicis Iuris Canonici, Città del Vaticano ²1984, S. 258–261. 13
AAS 75 (1983) Pars II, S. VII.
14
Vgl. Ochoa, Index (Anm. 12), S. 60 f.
15
Vgl. Heike Simon / Gisela Funk-Baker, Einführung in die deutsche Rechtssprache, München u. a. 1999, S. 20; Heinrich de Wall / Stefan Muckel, Kirchenrecht. Ein Studienbuch, München ²2010, S. 150, Rn. 11.
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als Gesetz im formellen Sinne ist folglich im „canon“ kodifiziert. In den einzelnen Rechtssätzen, in denen das Wort „canon / canones“ vorkommt, wird es in der Regel für Verweise16 innerhalb des kirchlichen Gesetzbuches verwendet. Außer den „canones“ gibt es zahlreiche weitere universal- und insbesondere teilkirchliche Rechtsvorschriften, die es mit einem Fachbegriff zu fassen gilt. „Lex“ dürfte in c. 7 CIC folglich als Oberbegriff zu verstehen sein, mit dem alle durch rechtserzeugende Akte geschaffenen abstrakten Rechtssätze sämtlicher kirchlicher Gesetzgeber erfaßt werden. Möglicherweise darf so auch die „lex“ bei Gratian verstanden werden, die dieser als „constitutio scripta“ 17 definierte. 1. Gesetzesbegriff Von seiner Funktion her ist das Gesetz „das zentrale Mittel zur Leitung der Universalkirche, der Teilkirchen und deren Untergliederungen und der teilkirchlichen Verbände.“18 Das herauszuarbeiten, was ein Gesetz zum Gesetz macht, hat der universalkirchliche Gesetzgeber der kanonistischen Wissenschaft überlassen.19 Der mit dieser Festschrift zu ehrende Jubilar hat es ausdrücklich bedauert, „daß weder der CIC noch der CCEO eine offizielle Definition des kanonischen Gesetzes bieten.“ 20 Libero Gerosa hat sich im Nachgang und in Weiterführung von Eugenio Coreccos Gedanken zur „Ordinatio fidei“ 21 ausführlich damit beschäftigt, wie der Begriff des Gesetzes im kanonischen Recht unter theologischen Prämissen rechtstheoretisch erfaßt werden kann. 22 16 Vgl. Winfried Aymans, Das gesetzestechnische Mittel des Verweises, in: ders., Beiträge zum Verfassungsrecht der Kirche (= KStuT 39), Amsterdam 1991, S. 3–34. 17
D 1 c. 3. Ausgabe Corpus Juris Canonici von Emil Friedberg, Leipzig 1879, I, Sp. 1.
18
Joseph Listl, Die Rechtsnormen, in: HdbkathKR², Regensburg 1999, S. 103.
19 Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 142; Listl, Die Rechtsnormen (Anm. 18), S. 103 m. Fußn. 7. 20
Gerosa, Das Recht der Kirche (Anm. 2), S. 105.
21
Eugenio Corecco, »Ordinatio rationis« oder »ordinatio fidei«? Anmerkungen zur Definition des kanonischen Rechts, in: ders., Ordinatio fidei. Schriften zum kanonischen Recht, hrsg. von Libero Gerosa u. Ludger Müller, Paderborn u. a. 1994, S. 17–35. 22 Libero Gerosa, »Lex canonica« als »ordinatio fidei«. Einleitende Erwägungen zum Schlüsselbegriff der kanonischen Lehre von Eugenio Corecco, in: Ordinatio fidei (Anm. 21), S. IX–XXIII, hier XIX–XXII; ders., Das Recht der Kirche (Anm. 2), S. 100–106; ders., Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche. Zukunftsperspektiven für die katholische Kanonistik (Kirchenrechtliche Bibliothek 2), Münster 1999, S. 38–48; ders. con la collaborazione di Stefano Violi, Introduzione al diritto canonico. Vol. I. Teologia del diritto ecclesiale, Città del Vaticano 2012, S. 186–197 u.
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Der Hauptgedanke, der dabei zum Tragen kommt, ist, daß das kanonische Gesetz, die „lex canonica“, nicht mehr als Anordnung der Vernunft, d. h. als „ordinatio rationis“ verstanden werden kann, sondern als Anordnung, die sich aus dem Glauben der Kirche ergibt, und welche folglich als „ordinatio fidei“ zu bestimmen ist.23 Nach Papst Benedikt XVI. besteht ein enges Band zwischen kanonischem Gesetz und dem Leben der Kirche nach dem Willen Jesu Christi. 24 Deshalb soll das kanonische Gesetz nur das regeln, was im Rahmen seines göttlichen „Sendungsauftrages … für die Kirche wesentlich“ ist. 25 Wenn also dieser Glaube die Erkenntnisquelle des Kirchenrechts schlechthin ist, muß dieses stets theologisch richtiges Recht sein. Daraus ergibt sich das Erfordernis, „daß Begründung, Verständnis und juristische Ausgestaltung kirchlicher Rechtsinstitute“, wie sie schließlich in kirchlichen Gesetzen schriftlich niedergelegt sind, „sich nicht einfach aus der Ähnlichkeit zu Instituten des weltlichen Rechts ergeben, sondern konsequent“ theologischen Vorgaben entsprechen müssen.26 Im Ergebnis schließt sich Libero Gerosa der von Winfried Aymans vorgelegten Definition an, wonach das als „ordinatio fidei“ zu verstehende „kanonische Gesetz … eine mit den Mitteln der Vernunft gestaltete, auf die Förderung des Lebens der Communio ausgerichtete allgemeine rechtsverbindliche Glaubensweisung [ist], die von der zuständigen kirchlichen Autorität für einen bestimmten [passiv gesetzesfähigen] Personenkreis erlassen und gehörig promulgiert ist.“27 In der Form des so definierten kanonischen Gesetzes ergehen „alle bedeutsamen Anordnungen, die das Leben der Kirche im äußeren und inneren Rechtsbereich regeln“28. Hierbei handelt es sich um gesatztes Recht („ius scriptum“).29 ders. con la collaborazione di Andrea Stabellini, Introduzione al diritto canonico. Vol. II. Istituzioni generali, Città del Vaticano 2012, S. 63–69. 23 Gerosa, Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche (Anm. 22), S. 39 u. 42 f. 24
Discorso di Sua Santità Benedetto XVI, in: Pontificio Consiglio per i testi legislativi (Hrsg.), La legge canonica nella vita della Chiesa (Anm. 2), S. 13: „… lo stretto legame che c’è tra la legge canonica e la vita della Chiesa secondo il volere die Gesù Cristo.“ 25
So Socha, Kirchliche Gesetze (Anm. 1), Einführung vor 7, Rn. 9 (Stand: Februar 2012). 26
Ludger Müller, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= Kirchenrechtliche Bibliothek 15), Wien / Berlin 2011, S. 7. 27 Gerosa, Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche (Anm. 22), S. 47 f. unter Verweis auf Aymans / Mörsdorf, KanR I (Anm. 5), S. 159. 28 29
Listl, Die Rechtsnormen (Anm. 18), S. 102–118, hier 103.
Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I (Anm. 5), S. 39; Socha, Kirchliche Gesetze (Anm. 1) Einführung vor 7, Rn. 1.
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2. Gesetzgebungsautorität Wer unter der zuständigen kirchlichen Gesetzgebungsautorität („auctoritas legislativa“30) zu verstehen ist, ist im kirchlichen Gesetzbuch klar festgelegt. Die kirchliche Gesetzgebungsautorität beruht auf theologischen Vorgaben, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“31 über die Kirche formuliert hat. Sie kommt als „rechtlich höchster Ausdruck der apostolischen Gewalt … prinzipiell nur denen zu, die als Nachfolger der Apostel der Gesamtkirche oder den Teilkirchen … als Hirten vorstehen“ sowie mitunter den aus diesen konstituierten bischöflichen Kollegialorganen.32 Außer dem im Papst als Träger der Primatialgewalt verkörperten universalen kirchlichen Gesetzgeber (c. 331 CIC) kommt diese Autorität auch dem mit dem Papst verbundenen Bischofskollegium (cc. 336 u. 337 CIC) zu.33 Unbeschadet des primatial bedingten Eingriffsrechtes des Papstes, auch partikulare Gesetze für einzelne Teilkirchen erlassen zu können, 34 sind es auf teilkirchlicher Ebene die Diözesanbischöfe, die als alleinige eigenberechtigte Gesetzgeber in ihren Jurisdiktionsbereichen auftreten können, zumal die bischöfliche Gesetzgebungsbefugnis nicht gültig delegiert (cc. 135 § 2 i. V. m. 381 § 1, 391 und 466 CIC) werden kann, sofern „nicht im Recht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen ist.“35 Der letztgenannte c. 466 CIC enthält eine Spezialnorm, nach welcher der Diözesanbischof der einzige Gesetzgeber in einer Diözesansynode ist, ohne dessen Unterschrift allfällige Erklärungen oder Dekrete rechtlich unwirksam sind.36 Bei diesen Bestimmungen handelt es sich nicht um pragmatische Setzun30
Hans Heimerl / Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien / New York 1983, S. 19. 31
Vgl. II. Vat., LG 18 i. V. m. 27.
32
Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 152.
33
Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 39 u. 153.
34
Vgl. cc. 331 u. 333 § 1 CIC. Zum Papst als Partikulargesetzgeber vgl. Socha, Promulgationsweisen und Inkrafttreten (Anm. 1) 8, Rn. 2 a) mit Verweis auf cc. 6 § 1 n. 3 und insbesondere 87 § 1 CIC; Péter Erdő, Neue Entwicklungen im ungarischen Partikularkirchenrecht, in: AfkKR 162 (1993), S. 451–468, hier 451. 35 Vgl. hierzu Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 343; Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 63. Zu den aufgrund von c. 428 CIC (im Zusammenhang m. cc. 414 u. 427 § 1 CIC) eingeschränkten Gesetzgebungsbefugnissen eines Diözesanadministrators vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 363; Winfried Aymans, Oberhirtliche Gewalt, in: AfkKR 157 (1988), S. 3–38, hier 31. 36
Vgl. hierzu beispielsweise die bischöfliche Inkraftsetzung der „Dokumente der Diözesansynode Augsburg 1990“ vom 2. Februar 1991 mit Unterschrift und Siegel des Bi-
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gen, vielmehr wurzelt die Gesetzgebungsbefugnis des Diözesanbischofs in der theologisch begründeten bischöflichen Leitungsgewalt, aufgrund derer die Bischöfe unter anderem auch „das heilige Recht und vor dem Herrn die Pflicht haben, Gesetze für ihre Untergebenen zu erlassen“. 37 Gleiches gilt für die im Recht einem Diözesanbischof gleichgestellten Vorsteher teilkirchlicher Ersatzformen gemäß cc. 381 § 2 i. V. m. 368 CIC, wie z. B. von Gebietsprälaturen, Gebietsabteien, Apostolischen Vikariaten, Apostolischen Präfekturen sowie von Apostolischen Administrationen.38 Darüber hinaus können nach Maßgabe des Rechts Partikularkonzilien, sei es ein Plenar- oder ein Provinzialkonzil (c. 445 CIC), sowie die Bischofskonferenz (c. 455 CIC) gesetzgebend tätig werden. 39 Je nachdem, ob das übergeordnete Recht des Codex Iuris Canonici die unterhalb der höchsten kirchlichen Autorität (Papst und Bischofskollegium) auszuübende teilkirchliche Gesetzgebung in bestimmten Bereichen einschränkt oder nicht, kann zwischen gebundener oder freier Erzeugung von Partikularrecht unterschieden werden.40 II. Gesetzgebung nach dem Codex Iuris Canonici Im allgemeinen kann auch für das Verständnis der kirchlichen Gesetzgebung gelten, daß diese als eine „bewußte Neuschaffung … abstrakt-genereller Rechtsnormen durch einseitiges Gebot eines hierzu legitimierten Hoheitsträgers“ zu charakterisieren ist, wie es beispielsweise Bernd Mertens in bezug auf die staatliche Gesetzgebung41 formuliert hat. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Definitionsgrundlage, welche den kirchenrechtlichen Gesetzesbeschofs von Augsburg, Josef Stimpfle, in: Diözesansynode Augsburg 1990. Die Seelsorge in der Pfarrgemeinde, Augsburg 1991 (= zugl. ABl. 101 [1991] Erg.-bd.), S. 22 und Präambel S. 20: „Der Diözesanbischof bürgt persönlich für sämtliche Aussagen der Synode, die seine Unterschrift tragen, seien es Empfehlungen und Anordnungen … Daher stehen ihm das Recht und die Pflicht zu, den Beschlüssen der Synode vor der Veröffentlichung formal und inhaltlich jene Fassung zu geben, für die er die uneingeschränkte Verantwortung übernehmen kann. Er hat die Ergebnisse der Beratungen, bevor er sie zu Beschlüssen erheben kann, unter dem Aspekt zu werten, ob sie mit Lehre und Ordnung der Kirche in vollem Einklang stehen und jeden Anlaß zu Mißverständnissen vermeiden. Der gesamte Synoden text ist darüber hinaus in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Recht zu interpretieren.“ 37
II. Vat., LG 27.
38
Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 39 u. 154.
39
Vgl. Aymans / Mörsdorf, ebd., S. 39 u. 154 f.; zur Frage einer Gesetzgebungsgewalt in klerikalen Ordensverbänden und Personalprälaturen, ebd., S. 155 f. 40
Vgl. May, Verschiedene Arten des Partikularrechts (Anm. 1) S. 187.
41
Bernd Mertens, Art. Gesetzgebung, in: HRG², Bd. II (2012), S. 302–315, hier 302.
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griff nach seinen inneren (inhaltlichen) und äußeren (formalen) Merkmalen bestimmt, sowie der Skizzierung der Gesetzgebungsorgane, soll nun versucht werden, eine Antwort auf die praxisbezogene Frage zu entwerfen, ob und welche formalen Anforderungen sich hieraus für den effektiven Erlaß kirchlicher Gesetze ergeben. Es geht näherhin darum, herauszuarbeiten, welche allfälligen Rechtsförmlichkeiten („sollemnia iuris“), insbesondere bei der partikularkirchlichen Gesetzgebung bis zur Promulgation nach dem kirchlichen Gesetzbuch vorgesehen sind. Eine grundlegende Bestimmung für die Gesetzgebung in der Kirche findet sich in c. 135 § 2 CIC, wonach „die gesetzgebende Gewalt“ von den hierzu ermächtigten oben genannten Organen „auf die im Recht vorgeschriebene Weise auszuüben“ ist. Aufgrund dieses Kanons ist insbesondere zu beachten, daß Gesetze und allgemeine Dekrete, die von Gesetzgebern unterhalb der höchsten kirchlichen Autoriät erlassen werden, mit den gesamtkirchlichen Gesetzen nicht kollidieren.42 C. 135 § 2 CIC bedeutet also für den teilkirchlichen Gesetzgeber insofern eine Schranke „von materiell-rechtlicher Qualität, als sie die Nichtigkeit seiner Rechtssetzung festlegt.“ 43 Nach dieser allgemeinen Bestimmung über die Rechtskonformität der (teil-)kirchlichen Gesetzgebung kann es um die Einhaltung verschiedener Vorschriften gehen, wie z. B. um die Berücksichtigung allfälliger Mitwirkungsrechte oder die Bindung an bestimmte Rechtsförmlichkeiten. Schließlich ist festzuhalten, daß die Akte kirchlicher Gesetzgebung ebenso wie die Akte der Verwaltung und der Rechtsprechung nach c. 124 § 1 CIC als Rechtsakte44 zu qualifizieren sind. Hiernach ist zur Gültigkeit einer Rechtshandlung („actus iuridicus“) erforderlich, daß sie von einer rechtlich dazu befähigten Person („a persona habili“)45 vorgenommen wurde und bei der Handlung gegeben ist, was diese wesentlich ausmacht und was an Rechtsförmlichkeiten und Erfordernissen vom Recht zur Gültigkeit der Handlung verlangt ist. Erläßt ein kirchlicher Gesetzgeber einen bestimmten Rechtssatz, der mit der ordentlichen Promulgation ins Dasein tritt, so sind offenkundig alle drei Kriterien des c. 124 § 1 CIC gegeben. 42 Vgl. auch Art. 158 PastBon; Helmuth Pree, Die Ausübung der Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR², S. 156–175, hier 170. 43 Michael Werneke, Ius universale – Ius particulare. Zum Verhältnis von Universalund Partikularrecht in der Rechtsordnung der lateinischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung des Vermögensrechts, Paderborn 1998, S. 108. 44 Vgl. Georg May / Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 151. 45
Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 286.
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Die Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Rechtserzeugung ergibt sich stets aus einem als solchen erkannten Regelungsbedarf. Mangels einschlägiger Vorschriften dürfte sich aus der Natur der Sache zunächst ergeben, daß sich der Werdegang eines kirchlichen Gesetzes bzw. die Gesetzgebung im wesentlichen in drei Stufen vollzieht: 1. Entwurf und Festlegung des Gesetzesinhaltes, 2. Gesetzesausfertigung und 3. Gesetzesverkündung.46 Diese Stufen lassen sich jedenfalls aufgrund der Gesetzesmaterialien für die Entstehung des Codex Iuris Canonici wie auch des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium bis hin zum päpstlichen Promulgationsbefehl nachzeichnen. 1. Konzipierung und Festlegung eines kirchlichen Gesetzes Für die Genese bzw. das gültige Zustandekommen von Gesetzen gleichkommenden allgemeinen Dekreten der Bischofskonferenz enthält c. 455 § 2 CIC nähere Vorgaben bezüglich der stimmberechtigen Mitglieder und der Stimmenmehrheit und außerdem gilt, daß diese – wie auch nach c. 446 CIC die Dekrete eines Provinzialkonzils – bevor sie promulgiert werden dürfen, dem Apostoli-
46 Vgl. Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 6), S. 4 u. 17; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 157; Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 34; Stephan Haering, Zur Promulgation von Gesetzen der Bischofskonferenz, in: Pax et Iustitia, FS Alfred Kostelecky, hrsg. von Hans Walther Kaluza u. a., Berlin 1990, S. 321; Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (= UTB 1395), Heidelberg ²1993, S. 7; Lothar Wächter, Art. Gesetzgebung. II. Kath., in: LKStKR II (2002), S. 123; manche Autoren legen eine andere Unterscheidung vor in bis zu fünf Stufen: Myriam Wijlens, Gesetzgebung für das Volk Gottes. Vollmacht und Auftrag des Diözesanbischofs, in: Ilona Riedel-Spangenberger (Hrsg.), Rechtskultur in der Diözese. Grundlagen und Perspektiven (= QD 219), Freiburg i. Brsg. 2006, S. 251–258, hier 257; Socha, Gesetzesverkündung (Anm. 1) 7, Rn. 2, der mit „a) Die Gesetzesinitiative“ und „e) Die Gesetzesverpflichtung“ zwei weitere Stufen hinzunimmt; Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber (Anm. 3), S. 46 f., der vier Stadien unterscheidet: 1. Gesetzesinitiative, 2. Festsetzung des Gesetzesinhalts, 3. Erteilung des Gesetzesbefehls [d. h. Ausfertigung], 4. Promulgation. Nach de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 15), S. 149, Fn. 436, „durchläuft jedes kanonische Gesetz in der Praxis vor der eigentlichen Promulgation üblicherweise zwei Stufen: Zuerst legt der Gesetzgeber den Inhalt des Gesetzes fest. Anschließend fertigt er das Gesetz aus. Allerdings entfalten diese beiden Phasen der Gesetzgebung nach außen hin keine verbindlichen Rechtswirkungen“. Gerhard Neudecker, Ius sequitur vitam – Der Dienst der Kirchengerichte an der Lebendigkeit des Rechts. Zugleich ein Bei trag zur Vergleichung des kanonischen und staatlichen Rechtssystems (= Tübinger Kir chenrechtliche Studien 13), Berlin 2013, S. 37–46, unterscheidet aufgrund der Codexre vision von 1983 die drei folgenden Stufen: 1. Die Gesetzesinitiative, 2. Festlegung des Gesetzesinhalts, 3. Gesetzessanktion und Promulgation.
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schen Stuhl zur Überprüfung („recognitio“) vorzulegen sind47. Demgegenüber ist die Gesetzgebung des Diözesanbischofs nicht näher geregelt. Es gibt hierfür also nicht wie in staatlichen Rechtsordnungen ein verfassungsrechtlich vorgeschriebenes Gesetzgebungsverfahren48 mit entsprechenden Initiativ- und Mitwirkungsrechten. Rüdiger Althaus hat deshalb das Desiderat formuliert, daß außer Regelungen zur Gesetzgebung, welche „allein auf die autoritative Anordnung [sc. die Promulgation] als formales Kriterium abstellen“, auch „Bestimmungen hinsichtlich eines Gesetzgebungsverfahrens in der Kirche … angemessen wären“.49 Bezüglich der ersten Stufe der inhaltlich-normativen Konzipierung eines kirchlichen Gesetzes fehlt es jedoch nicht an entsprechenden Vorschlägen seitens der kanonistischen Wissenschaft, welche im wesentlichen auf die prozedurale, eine die Normadressaten einbeziehende Vorgehensweise bei der Gesetzgebung abheben.50 Insbesondere wurde dort herausgearbeitet, welche Faktoren beachtet werden sollten, damit ein kirchliches Gesetz die sog. „receptio legis“ bei den Rechtsunterworfenen 51 findet. Gleich im Jahr des Inkrafttretens des revidierten Codex Iuris Canonici hat Heribert Schmitz die Ansicht vertreten, daß „Rechtsetzung und Rechtswerdung in der Kirche keine rein einseitigen Vorgänge, sondern … ein kommuniales Geschehen“ seien. 52 Weil nicht zuletzt aufgrund der cc. 11 und 212 § 1 CIC die Gläubigen auch zum Gesetzesge47
Vgl. auch Art. 157 PastBon. Zur Gesetzgebung durch Plenar- und Provinzialkonzilien sowie der Bischofskonferenz vgl. Joseph Listl, Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbkathKR², S. 396–415; Heinz Maritz, Die Kirchenprovinz. Provinzialkonzil und Metropolit, in: HdbkathKR², S. 415–419, hier 416 f. 48 Vgl. de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 15), S. 149, Rn. 4; Helmuth Pree, Bemerkungen zum Normenbegriff des CIC/1983, in: ÖAKR 35 (1985), S. 45 f. Zum Verfahren der staatlichen Gesetzgebung vgl. Christian Starck, Art. Gesetzgebung, in: StL7, Bd. 2 (1986), Sp. 1003–1011, hier bes. 1006–1008; Winfried Kluth / Günter Krings (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, Heidelberg 2013. 49
Rüdiger Althaus, Die Rezeption des Codex Iuris Canonici von 1983 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Voten der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (= Paderborner theologische Studien 28), Paderborn 2000, S. 63. 50 Z. B. Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 62; Althaus, Die Rezeption (Anm. 49), S. 62–65; Müller, Kirchenrecht als kommunikative Ordnung (Anm. 4); Wijlens, Gesetzgebung für das Volk Gottes (Anm. 46), S. 251–258; Socha, Gesetzesverkündung (Anm. 1) 7, Rn. 2. 51
Vgl. cc. 11–13 CIC. Zur „receptio legis“ vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 207.
52
Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 62.
Rechtsförmlichkeiten bei der kirchlichen Gesetzgebung
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horsam verpflichtet sind53, stehen kirchliche Gesetze unter der Anforderung, daß „ihre Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit“ den Normadressaten einsichtig zu vermitteln sind.54 Das bedeutet insbesondere, die Begründungszusammenhänge einer Rechtsvorschrift mit dem Glauben und der Sendung der Kirche deutlich zu machen. Diesen Weg hat beispielhaft Papst Benedikt XVI. bei der mit seinem Motu Proprio „Summorum Pontificum“55 vom 7. Juli 2007 erfolgten Gesetzgebung beschritten. Hierbei hat der Papst neben einem Begleitbrief 56 an die Bischöfe einleitende Begründungen vorgelegt, welche „zur Rezeption der päpstlichen Normen in der kirchlichen Gemeinschaft beitragen“ sollen. 57 Außer den bereits umrissenen knappen Vorschriften, die sich im Codex Iuris Canonici zum Vorgang der Gesetzgebung finden, sind den teilkirchlichen Gesetzgebern von der Kongregation für die Bischöfe mittlerweile genauere „Kriterien für die Ausübung der gesetzgebenden Vollmacht“ an die Hand gegeben worden. Diese Vorgaben sind unter der Nummer 67 Bestandteil des unter dem Titel „Apostolorum Successores“ herausgegebenen Direktoriums für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 200458. Hinsichtlich seiner rechtlichen Verbindlichkeit handelt es sich um ein sog. Allgemeines Ausführungsdekret, d. h. eine Ausführungsverordnung gemäß c. 31 § 1 CIC mit der Bezeichnung 53
Vgl Heinrich J. F. Reinhardt, Gehorsamspflicht …, in: MKCIC 212, Rn. 1 b (Stand: Oktober 1987). 54 Müller, Kirchenrecht als kommunikative Ordnung (Anm. 4), S. 379; vgl. ähnlich Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 33. 55
AAS 99 (2007), S. 777–781.
56
AAS 99 (2007), S. 795–799.
57
Gero P. Weishaupt, Päpstliche Weichenstellungen. Das Motu Proprio Summorum Pontificum Papst Benedikts XVI. und der Begleitbrief an die Bischöfe. Ein kirchenrechtlicher Kommentar und Überlegungen zu einer „Reform der Reform“, Bonn 2010, S. 20. Vgl. auch Weishaupt, Die Instruktion „Universae Ecclesiae“. Ein kirchenrechtlicher Kommentar, [Kreuzlingen] 2013. 58
Papst Johannes Paul II. hat dieses Direktorium approbiert und dessen Veröffentlichung („pubblicazione“) angeordnet. Versehen mit Ort, Kongregationsbezeichnung und Datum ist es vom Präfekten, Kardinal Re, und dem Sekretär, Monterisi, unterzeichnet. Italienischer Originaltext: Congregazione per i Vescovi, Direttorio per il ministero pastorale dei Vescovi, „Apostolorum successores“, Città del Vaticano 2004 (siehe auch www.vatican.va). Deutsche Fassung: Kongregation für die Bischöfe. Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= VApSt 173), Bonn, 2006, Nr. 67, S. 100–102 [DirApSucc]; Heribert Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe. Übersetzung und Kommentar (= KRStKR 4), Paderborn 2006: zu Genese und Rechtscharakter dieses Direktoriums, Vorwort, S. [17] f.
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„Direktorium“ (c. 33 § 1 CIC)59, „durch welche[s] die Art und Weise der Gesetzesanwendung genauer bestimmt oder die Befolgung der Gesetze eingeschärft wird …“ Somit sind die tautologisch als „einige grundlegende Prinzipien“ bezeichneten Vorschriften unter Nummer 67 DirApSucc von den Diözesanbischöfen „bei der Ausübung der gesetzgebenden Vollmacht“ zu beachten. Dabei gilt ganz allgemein, von der bischöflichen Gesetzgebungsgewalt nur sehr zurückhaltend Gebrauch zu machen, so daß „die Gesetze stets einer wirklichen pastoralen Notwendigkeit entsprechen.“60 Auf diese Weise steht die Gesetzgebung im Dienst am Volk Gottes.61 Die oben skizzierte, in der kirchlichen Rechtswissenschaft überwiegend favorisierte Ansicht, daß die kirchliche Gesetzgebung im Zeichen der „communio“ kein einseitiges Geschehen sein dürfe, 62 kann sich durch die folgende ausdrückliche Vorgabe des Direktoriums für den Hirtendienst der Bischöfe (Nr. 67 a) bestätigt sehen, wonach der Diözesanbischof unbeschadet seiner ihm ausschließlich zukommenden gesetzgebenden Vollmacht, „den Rat und die Zusammenarbeit mit den diözesanen Organen und Räten“ suchen soll, „bevor er Gesetze oder allgemeine Anweisungen für die Diözese erlässt.“ Die Diözesansynode wird dort, die cc. 460 und 466 CIC dahin präzisierend, als „das hervorragende Mittel“ charakterisiert, „dem Bischof Hilfe zu leisten bei der Festlegung der kanonischen Ordnung der diözesanen Kirche.“ Wiewohl der Diözesanbischof von seiner ihm zukommenden eigenberechtigten Gesetzgebungsbefugnis immer aufgrund seines freien Entschlusses Gebrauch machen kann, sollte er dabei aber nach diesen Vorgaben der Bischofskongregation nicht im Alleingang vorgehen. Wie sich ein solcher Weg der bischöflichen Gesetzgebung konkret gestalten kann, hat Myriam Wijlens anhand eines Beispiels anschaulich gemacht.63 Auf der Linie einer auf partizipatorischen Konsultationen de lege ferenda beruhenden Normsetzung liegt auch die Weisung in Nr. 67 d DirApSucc, 59 Vgl. Lothar Wächter, Art. Direktorium, in: LKStKR I (²2000), S. 456 f.; ders., Art. Directorium, in: LexKR, Sp. 202; Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 58), S. [17]. 60
Nr. 67 b DirApSucc.
61
Vgl. Wijlens, Gesetzgebung für das Volk Gottes (Anm. 46), S. 258–268, bes. 264–
267. 62 So z. B. auch Gerosa, Das Recht der Kirche (Anm. 2), S. 108 f.; Müller, Kirchenrecht als kommunikative Ordnung (Anm. 4), S. 375 f.; Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 33; Pree, Bemerkungen zum Normenbegriff des CIC/1983 (Anm. 48), S. 30; Velasio De Paolis / Andrea D’Auria, Le Norme Generali. Commento al Codice di Diritto Canonico. Libro Primo, Città del Vaticano 2008, S. 100 f. 63
Vgl. Wijlens, Gesetzgebung für das Volk Gottes (Anm. 46), S. 252–255.
Rechtsförmlichkeiten bei der kirchlichen Gesetzgebung
61
daß „die genaue Information über die Situation der Diözese und die Lebensumstände der Gläubigen als vorgängige Bedingung [gilt], um einen Bereich des diözesanen Lebens angemessen regeln zu können, weil dieser Zusammenhang einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Denk- und Handlungsweise der Gläubigen hat.“ Sowohl „diese Bedingung“ als auch die Einbeziehung der einschlägigen diözesanen Beratungsorgane können mit Heribert Hallermann „aber nur im Sinne einer dringenden Empfehlung, nicht aber als Rechtsbedingung mit Wirkungen für die Erlaubtheit oder Gültigkeit des betreffenden Gesetzes verstanden werden.“64 2. Die Gesetzesausfertigung Bei dem hier zu erörternden Thema steht die formale Gesetzesausfertigung im Zentrum der Betrachtung. In dieser zweiten Stufe des Gesetzgebungsvorganges geht es vor allem auch darum, die Authentizität eines kirchlichen Gesetzes zu gewährleisten, so daß zweifelsfrei für die Normadressaten erkennbar ist, von welcher gesetzgebenden Autorität ein kirchliches Gesetz erlassen worden ist.65 Wie die der Gesetzesverkündung (Promulgation) vorausgehende legislatorische Konzipierung und insbesondere die formgerechte Ausfertigung eines Gesetzes zu erfolgen hat, ist in den universalkirchlichen Gesetzbüchern CIC und CCEO nicht näher geregelt.66 Die hiermit verbundenen spezifischen Erfordernisse sind mangels einschlägiger Vorschriften anderweitig zu erschließen. a) Schriftlichkeitsprinzip Während für die beiden anderen Ausübungsbereiche oberhirtlicher Leitungsgewalt, nämlich in Verwaltung und Rechtsprechung ausdrücklich das Schriftlichkeitsprinzip gilt67, findet sich für die der Rechtsanwendung vorausliegende kirchliche Gesetzgebung keine entsprechende Vorschrift im Codex Iuris Canonici. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß sich die Schriftlichkeit, wie 64
Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 58), S. 96.
65
„Authentisch ist ein Gesetz, das von der gesetzgebenden Autorität erlassen oder approbiert wurde.“ Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 20; vgl. Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 64. 66
Ähnlich Wächter, Art. Gesetzgebung (Anm. 46), S. 123; ders., Art. Promulgation, in: LKStKR III (2004), S. 304; Richard Puza, Art. Gesetzgebungsverfahren. II. Kath., in: LKStKR II (2002), S. 124. 67
Vgl. Cc. 37, 51 i. V. m. 54 § 2, 59 § 1, 474 und 1472 § 1 CIC sowie Art. 88 Dignitas Connubii.
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Heinrich Eisenhofer dargelegt hat, nicht zwingend, d. h. im Sinne eines wesentlichen Erfordernisses aus dem Gesetzesbegriff ableiten läßt 68, wie dies bei der unabdingbaren Gesetzesverkündung der Fall ist. Wie selbstverständlich wird das Schriftlichkeitskeitsprinzip für kirchliche Gesetze aber in c. 17 CIC vorausgesetzt, wonach diese „gemäß der im Text und im Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung“ zu verstehen sind. Die Interpretation komplexer Vorschriften ist auch nur unter der Bedingung denkbar, daß allen Rechtsanwendern derselbe sicher feststehende Wortlaut vorliegt. Hinzuzunehmen ist hier auch die Bestimmung des Päpstlichen Staatssekretariats vom 28. Januar 1983, daß der lateinische Text die einzig verbindliche bzw. authentische Fassung des Codex Iuris Canonici ist.69 Des weiteren liegt nach c. 466 CIC das Schriftlichkeitserfordernis zugrunde für die durch den Diözesanbischof erfolgende Gesetzgebung zur Umsetzung von Erklärungen und Dekreten einer Diözesansynode, indem im Zuge ihrer Inkraftsetzung die Unterschrift des Diözesanbischofs unabdingbar verlangt ist. Daß aber auch alle anderen kirchlichen Gesetzgebungsakte schriftlich niederzulegen sind, läßt sich insbesondere mit der kanonischen Tradition begründen. Bei Gratian findet sich ganz zu Anfang seiner berühmten „Concordia Discordantium Canonum“ auf die Frage, was ein Gesetz sei („Quid sit lex“), die prägnante Antwort, „lex est constitutio scripta“ (D I c. 3). Ansonsten könnte sinnvollerweise auch nicht von „Gesetzestexten“ 70 die Rede sein. Eine von der Schriftlichkeit losgelöste Gesetzgebung in Form der mündlichen Promulgation, wie es sie im „angelsächsischen England“ gegeben hat, wo „Schriftlichkeit und Gesetzgebung nicht zusammengehörten“, konnte also „in der Kirche als dem Hort der Schriftlichkeit“71 nicht zweckdienlich sein. Vielmehr entwickelte sich das Gesetz in der Kirche seit dem dritten Jahrhundert „zum grundlegenden 68
Vgl. Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber (Anm. 3), S. 70.
69
Vgl. Secretaria Status, Normae De Latino textu Codicis Iuris Canonici tuendo eodemque alias in linguas convertendo, in: Communicationes 15 (1983), S. 41: „… 1) Publicam vim et efficacitatem Codicis Iuris Canonici habet textus unus Latinus …“ 70
So z. B. in der Bezeichnung „Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte“. Vgl. z. B. Überschrift vor Art. 154 PastBon; Annuario Pontificio 2012, S. 1233 f. u. „note storiche“, S. 1841. 71
Hanna Vollrath, Gesetzgebung und Schriftlichkeit. Das Beispiel der angelsächsischen Gesetze, in: HJ 99 (1979), S. 28–54, hier 52 u. 54; Peter Landau, Die Kirche als Vermittlerin schriftlichen Rechts, in: Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. von G. Dilcher u. E.-M. Distler, Berlin 2006, S. 219–229.
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Bauelement der Rechtsordnung, zum Prototyp der geschriebenen Rechtsordnung …“72 Daß kirchliche Gesetze grundsätzlich schriftlich auszufertigen sind, ergibt sich ferner implizit aus der in c. 8 i. V. m. c. 7 CIC statuierten Promulgationspflicht derselben in den dafür vorgesehenen amtlichen Publikationsorganen73. Selbst wenn ein Gesetz z. B. fallweise einmal mündlich verkündet werden sollte, ist dies ohne einen zuvor schriftlich ausgefertigten Gesetzestext schwer vorstellbar. Schließlich wird das Schriftlichkeitsgebot auch in den im „Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe“ enthaltenen Vorgaben für die Abfassung von Partikulargesetzen vorausgesetzt, wenn es dort heißt, daß „die Gesetzestexte und die kanonischen Texte mit Genauigkeit und technisch-juridischer Strenge abgefasst“ sein sollen.74 Hierbei soll sich der Diözesanbischof „des Sachverstandes von Fachleuten für das kanonische Recht bedienen, die in einer Teilkirche niemals fehlen dürfen.“75 b) Rechtsförmlichkeiten bei der Gesetzesausfertigung Im Gegensatz zur Ausfertigung von rechtserheblichen Schriftstücken in Verwaltung und Rechtsprechung, für welche genau geregelt ist, von wem sie zu unterzeichnen und gegebenenfalls mit besonderen Echtheitsmerkmalen zu authentifizieren sind, ist dem kirchlichen Gesetzbuch nicht zu entnehmen, ob ein zu promulgierender Gesetzestext vom Gesetzgeber unterschrieben werden muß. Hier scheint eine Gesetzeslücke vorzuliegen. Ein Anhaltspunkt zur Behebung dieser planwidrigen Unvollkommenheit bietet sich in dem schon erwähnten c. 466 CIC, wonach die von einer Diözesansynode vorbereiteten schriftlichen Erklärungen und Dekrete vom Diözesanbischof als dem alleinigen Gesetzgeber der Diözesansynode persönlich unterschrieben werden müssen, wenn sie aufgrund seiner Autorität und Anordnung zur Veröffentlichung Rechtswirksamkeit erlangen sollen.76 Die bischöfliche Unterschrift ist hier also eine Gültigkeitsbedingung im Sinne des c. 124 i. V. m. c. 135 § 2 CIC. Allein der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff „legislator“ läßt eindeutig erkennen, daß es 72
Socha, Kirchliche Gesetze (Anm. 1), Einführung vor 7/1, Rn. 2; vgl. Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber (Anm. 3), S. 70 f. 73
Vgl. so auch Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber, ebd., S. 71.
74
Nr. 67 d DirApSucc (Anm. 58). Hallermann, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 58), S. 95. Zu den Minimalanforderungen an eine kanonische Rechtsnorm vgl. Pree, Bemerkungen zum Normenbegriff des CIC/1983 (Anm. 48), S. 33. 75 DirApSucc, ebd. Vgl. in diesem Sinne auch May / Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode (Anm. 44), S. 32 f. 76
Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 371.
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sich hierbei um bischöfliche Gesetzgebungsakte77 handelt. Aufgrund der „Gleichheit des … Tatbestandes … ist grundsätzlich die gleiche Rechtsfolge anzunehmen.“78 Deshalb läßt sich im Analogieschluß 79 aus c. 466 CIC auch für alle anderen durch den Diözesanbischof zu erlassenden Gesetze herleiten, daß diese von ihm unterschrieben werden müssen. Im übrigen scheint die Gesetzgebung auch nur so denkbar, daß der auf ein genau bestimmtes Datum erfolgenden Promulgation eine schriftlich ausgefertigte und vom Gesetzgeber unterschriebene Gesetzesurkunde zugrundeliegt.80 So entspricht es jedenfalls den Gepflogenheiten kirchlicher Gesetzgeber. Mit der Erteilung des Gesetzesbefehls (Gesetzessanktion81) durch die Unterschrift des Gesetzgebers entfaltet der Gesetzestext aber noch keine Rechtswirksamkeit, sondern gemäß c. 7 i. V. m. c. 8 CIC erst nach Ablauf des mit der amtlichen Verkündung (Promulgation) festgelegten Zeitraumes einer Gesetzesschwebe („vacatio legis“).82 Ausweislich der in der Regel als Promulgationsorgane dienenden teilkirchlichen Amtsblätter ist aber festzustellen, daß solche Gesetzgebungsakte, die dort mitunter als Faksimile abgedruckt sind, außer der Unterschrift des gesetzgebenden Diözesanbischofs teils mit dessen persönlichem Siegel versehen sind, teils auch nicht. Ebenso verhält es sich mit einer eventuellen notariellen Gegenzeichnung.83 Deshalb soll im folgenden erörtert werden, ob die in Verwaltung und 77 So bspw. auch Barbara Ann Cusack, The Diocesan Synod (cc. 460–468), in: New Commentary on the Code of Canon Law, New York, N. Y. / Mahwah, N. J. 2000, S. 621. 78
May / Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode (Anm. 44), S. 238.
79
Gemäß c. 19 CIC; vgl. May / Egler, ebd., S. 237 f.
80 Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I (1991), S. 157; Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 34; Wächter, Art. Gesetzgebung (Anm. 46), S. 123; Jürgen Cleve, E-Mail in der kirchlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit? Ein Diskussionsbeitrag, in: DPM 8 (2001), S. 248; Wijlens, Gesetzgebung für das Volk Gottes (Anm. 46), S. 251–258, hier 257; Socha, Gesetzesverkündung (Anm. 1), 7, Rn. 2 c. 81
Von „legem sancire“ – einem Gesetz Gültigkeit verleihen: Carl Meissner / Christina Meckelnborg, Lateinische Phraseologie, Darmstadt ²2006, S. 170. 82 Vgl. May / Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode (Anm. 44), S. 156; de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 15), S. 150, Rn. 8. 83 Vgl. z. B. die Gesetzgebung des Erzbischofs von Paderborn: Nr. 96. Siegelordnung v. 1. 7. 2006 (ABl. 149 [2006], S. 93–95); Nr. 9. Gesetz zur Änderung der Siegelordnung vom 28. 12. 2007 (ABl. 151 [2008], S. 10); Diözesangesetz des Erzbistums München u. Freising v. 24. 5. 2004 zur künftigen Organisation der Dekanate in der Seelsorgsregion München (ABl. 2004, S. 202–207), abgedr. in: AfkKR 173 (2004), S. 195–202; Richtlinien der Bistümer Lausanne, Genf u. Freiburg zum Austritt aus der röm.-katholischen Kirche im Kanton Freiburg vom 1. 7. 2004 (SKZ 172 [2004], S. 538–540), abgedr. in: AfkKR 173 (2004), S. 545–552, gez. v. Diözesanbischof mit Gegenzeichnung des Kanzlers.
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Rechtsprechung einschlägigen Gestaltungs- bzw. Authentifizierungsvorschriften für kuriale Schriftstücke auch auf die schriftliche Ausfertigung von kirchlichen Gesetzen möglicherweise analog anzuwenden sind. Von der rechtlichen Vorgabe des c. 469 CIC ausgehend, erfolgt das an das Schriftlichkeitsprinzip84 gebundene Rechtshandeln der bischöflichen Kurie und ihrer Organe stets in Stellvertretung des Diözesanbischofs. Insofern sind die „acta curiae“ synonym auch als bischöfliche Schriftstücke zu bezeichnen. Die Schriftstücke der Kurie, „die ihrer Natur nach rechtliche Wirkung haben“, müssen nach den Vorgaben des c. 474 CIC ausgefertigt und notariell authentifiziert werden. Dadurch soll im Sinne der Rechtssicherheit für die Adressaten zweifelsfrei erkennbar sein, von welchem Ordinarius ein hoheitliches Schriftstück ausgegangen ist. Der Diözesanbischof kann sich aber jederzeit einen administrativ oder gerichtlich zu regelnden Sachverhalt persönlich ausnehmen. 85 Manche Angelegenheiten sind ihm ohnedies von Rechts wegen vorbehalten. Auch in diesem Fall darf kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Urheberschaft des Ordinarius bestehen. Deshalb unterliegen auch die durch den Diözesanbischof persönlich ergehenden Dekrete ohne weiteres den Vorschriften des c. 474 CIC. Beispielsweise sei hier der Erlaß eines bischöflichen Dekrets für die Zulassung eines Anwaltes am kirchlichen Gericht angeführt, das vom Diözesanbischof in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr unterzeichnet, gesiegelt und notariell gegengezeichnet wird. Wenn also diese Authentizität der Urheberschaft explizit schon für rechtserhebliche Schriftstücke der Verwaltung und Rechtsprechung zwingend vorgeschrieben ist, so muß erst recht die Authentizität bzw. Echtheit von kirchlichen Gesetzen86 zuverlässig gewährleistet sein, welche die Grundlage allen kirchlichen Rechtshandelns bilden. Die Normadressaten müssen sicher sein können, wer der rechtmäßige Urheber eines Gesetzes ist. Diesem Erfordernis ist bis zu einem gewissen Grade durch die Promulgation in einem amtlichen Publikationsorgan Rechnung getragen. Schließlich ist aber zu beachten, daß die notarielle Gegenzeichnung nicht gültigkeitsrelevant ist.87 Zur Gültigkeit ist in c. 474 CIC nur die Unterschrift des 84
Siehe Anm. 67.
85
Vgl. cc. 381 § 1, 391 § 2 und 1419 § 1 CIC.
86
Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 30), S. 20.
87
Vgl. Markus Walser, Die Rechtshandlung im Kanonischen Recht. Ihre Gültigkeit und Ungültigkeit gemäß dem Codex Iuris Canonici, Göttingen 1994, S. 122; Thomas A. Amann, Der Verwaltungsakt für Einzelfälle. Eine Untersuchung aufgrund des Codex Iuris Canonici (= MThSt III/54), St. Ottilien 1997, S. 37; Heribert Schmitz, Genese von c. 474 CIC. Über die Unterzeichungspflichtigkeit von rechtsverbindlichen Akten der Diözesanku-
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Ordinarius verlangt, von dem das Schriftstück ausgeht. Aufgrund dieser Rechtslage kann die notarielle Gegenzeichnung einer Gesetzesurkunde nicht als zwingende bzw. gültigkeitsrelevante Rechtsförmlichkeit bei der kirchlichen Gesetzgebung angesehen werden. Die Gegenzeichnung durch den Kanzler der Kurie oder einen anderen kurialen Notar dürfte dennoch deswegen sinnvoll sein, damit die schriftlich ausgefertigte Gesetzesurkunde dadurch gemäß c. 483 § 1 CIC „öffentlichen Glauben genießt“ und zu einer öffentlichen kirchlichen Urkunde im Sinne des c. 1540 § 1 CIC wird, die den Diözesanbischof dann beweisfest als Urheber eines diözesanen Gesetzes ausweist. Neben der Unterschrift des Gesetzgebers ist die Promulgation die wichtigste Rechtsförmlichkeit beim Erlaß von kirchlichen Gesetzen. 3. Die Promulgation In den Blick kommt hier schließlich der unabdingbare gesetzgeberische Akt der Promulgation88, der den in einem Gesetz verbindlich festgelegten Willen im Sinne einer authentischen Anordnung89 des Gesetzgebers autoritativ kundmacht90 und damit dessen Geltung rechtswirksam werden läßt. „Ein nicht öffentlich bekanntgemachtes Gesetz ist ohne Rechtskraft“91, weshalb es „ein geheimes Gesetz … nicht geben [kann].“92 Folglich ist „die Promulgation … für das Gesetz konstitutiv“.93 Der von dem Verb promulgare, einer „Verquickung rie, in: ders., Kirchenrechtliche Gutachten und Stellungnahmen. Zum 75. Geburtstag des Verfassers, hrsg. von Stephan Haering (= SICA 7), Metten 2004, S. 663–665, hier 664. 88
Vgl. Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 6), S. 74 f.; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 157; May / Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode (Anm. 44), S. 156 f. Letztere machen ebd. darauf aufmerksam, daß „der Vorgang der Promulgation“ auch mit Wendungen, wie „publici iuris facere“, „foras dare“, „in vulgus omittere“ oder „vulgari“ umschrieben sein kann. 89 Vgl. Luigi Chiappetta, Il Codice di diritto canonico. Commento giuridico-pastorale, Bologna ³2011, Vol. I, S. 17. 90 Vgl. Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 64. 91
„Lex non promulgata non est rata.“ Karl Bayer, Nota bene! Das lateinische Zitatenlexikon, München / Zürich ²1994, S. 223, Nr. 1058. 92
Cleve, E-Mail in der kirchlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit? (Anm. 80), S. 247. 93 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 15), S. 150, Rn. 8. Vgl. auch Bayer, Nota bene! (Anm. 91), S. 223, Nr. 1058; Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 72007, L 37: „Lex non obligat nisi promulgata“.
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von legem provulgare mit legem promere“, gebildete Fachbegriff der promulgatio bezeichnete schon im klassischen Latein den Vorgang der öffentlichen Bekanntmachung eines Gesetzes(-vorschlages).94 Aufgrund der Promulgation sollte jedenfalls kein Zweifel mehr aufkommen können, daß es sich bei dem darin kundgemachten Text um die Inkraftsetzung einer gesetzlichen Bestimmung handelt.95 Das setzt voraus, daß der Vorgang einer Promulgation eindeutig als solcher erkennbar sein muß. Unverzichtbar ist auch, daß die passiv gesetzesfähigen Normadressaten feststehen, wenn mit der Promulgation „die erforderliche Verbindung … zwischen dem Gesetzgeber und dem Personenkreis“ geschaffen werden soll, „der unmittelbar von dem Gesetz betroffen ist“ 96. Wie diese Promulgation zu erfolgen hat, ist für universalkirchliche Gesetze in c. 8 § 1 CIC grundsätzlich so geregelt, daß diese „durch Veröffentlichung im offiziellen Publikationsorgan Acta Apostolicae Sedis“ geschieht. Die Promulgationsweise teilkirchlicher Gesetze überläßt c. 8 § 2 CIC den teilkirchlichen Gesetzgebern. 97 In der Regel werden Partikulargesetze in den Amtsblättern dieser Gesetzgebungsautoritäten verkündet.98 Damit ist gewährleistet, daß die Gesetzestexte in den Amtsblättern der Bistümer99 allgemein zugänglich sind100. Auch die Bischofskonferenzen sind, soweit sie als Gesetzgebungsorgane tätig werden, nach c. 455 § 3 CIC ausdrücklich gehalten, einen Promulgationsmodus festzulegen. 101 Diesem Erfordernis sind die Bischofskonferenzen des deutschen Sprachraumes 94
Georges, Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 14. Aufl., Hannover 1976, Sp. 1994; vgl. Meissner / Meckelnborg, Lateinische Phraseologie (Anm. 81), S. 169; Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 6), S. 74 f.; Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München / Kempten [1927], S. 285 f. 95
Socha, Kirchliche Gesetze (Anm. 1), Einleitung vor 7, Rn. 13, sieht „infolge des Feh lens eines formellen Gesetzesbegriffes“ das Erfordernis, „in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine gesetzliche Bestimmung vorliegt“. Zur „Prüfung des Vorliegens von Rechtnormen“ vgl. May / Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode (Anm. 44), S. 152–162. 96
Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 157.
97
Vgl. c. 446 CIC (Partikularkonzilien), c. 455 § 3 CIC (Bischofskonferenz).
98 Vgl. Schmitz, Gesetzgebungsbefugnis und Gesetzgebungskompetenzen (Anm. 2), S. 64; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 159. 99
„Vollständige Titel der Amtsblätter der deutschen Bistümer“ auf der von Ulrich Rhode betriebenen Homepage: www.kirchenrecht-online.de/kanon/abl.html (aufgerufen: 20. 11. 2013); vgl. auch Lothar Wächter, Art. Amtsblatt, in: LKStKR I (2000), S. 83 f.; ders., Art. Amtsblatt, in: LexKR (2004), Sp. 39 f. 100 Vgl. Cleve, E-Mail in der kirchlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit? (Anm. 80), S. 247. 101
Gleiches gilt nach c. 446 CIC für Partikularkonzilien.
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auf unterschiedliche Weise nachgekommen.102 Im Gebiet der Deutschen Bischofskonferenz werden die Allgemeinen Dekrete, als die sog. „Partikularnormen“ 103 in den Amtsblättern der einzelnen Bistümer veröffentlicht. 104 Die Schweizer Bischofskonferenz promulgiert ihre „Partikularnormen“ auf der Grundlage eines Dekretes vom 3. Juli 1985 „durch gleichzeitige Veröffentlichung in den drei kirchlichen Amtsblättern“ – entsprechend den drei Landessprachen – in der „Schweizerischen Kirchenzeitung SKZ“, in „Evangile et Mission“ und im „Il Monitore ecclesiastico della diocesi di Lugano“.105 Ein eigenes Amtsblatt, in dem ihre „Dekrete“ promulgiert werden, gibt aber nur die Österreichische Bischofskonferenz mit Beginn ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit seit 1984 heraus. 106 III. Zusammenfassung Der Codex Iuris Canonici enthält zwar in den cc. 7 bis 22 CIC etliche Bestimmungen über die kirchlichen Gesetze („de legibus ecclesiasticis“), wobei aber die Regelungen zur Gesetzgebung an sich ziemlich knapp ausgefallen sind. Einschlägig sind hier nur die cc. 7 und 8 CIC, in denen die Promulgation als condicio sine qua non für das Inkrafttreten kirchlicher Gesetze statuiert ist. 102
Vgl. Haering, Zur Promulgation von Gesetzen der Bischofskonferenz (Anm. 46), S. 317–335; Hugo Schwendenwein, Die Katholische Kirche. Aufbau und rechtliche Organisation (= BzMK 37), Essen 2003, S. 307; Socha, Promulgationsweisen und Inkrafttreten (Anm. 1) 8, Rn. 14. 103
Zur Problematik dieser Bezeichnung vgl. Heribert Schmitz, „Partikularnormen“ der Deutschen Bischofskonferenz. Ein vom Apostolischen Stuhl beanstandeter Begriff, in: ders., Studien zur kirchlichen Rechtskultur (= FzK 34), Würzburg 2005, S. 57–71. 104
Vgl. Heribert Schmitz / Franz Kalde, Partikularnormen der Deutschen Bischofskonferenz. Text und Kommentar (= SICA 5), Metten 1996, S. 3; dies., Partikularnormen der deutschsprachigen Bischofskonferenzen (= SICA 2), Metten 1990, S. 5; Reinhard Wenner, Beschlüsse der Deutschen Bischofskonferenz. Partikularnormen und weitere Gesetze sowie Richtlinien, Statuten, Geschäftsordnungen, Verträge, Stellungnahmen, zusammengestellt, bearbeitet und hrsg. von R. Wenner, St. Augustin 1999 ff. (Loseblattsammlung – Stand: 5. Erg.-Lfg. Okt. 2012), Vorwort S. III f. 105
Zu diesem „aus kanonistischer Sicht nicht voll zufriedenstellende[n] Promulgationsverfahren“, Haering, Zur Promulgation von Gesetzen der Bischofskonferenz (Anm. 46), S. 330–332. 106
Dekret über die Herausgabe des Amtsblattes der Österreichischen Bischofskonferenz vom 20. Dezember 1983, unterzeichnet und gesiegelt vom damaligen Vorsitzenden der ÖBK, Franz Kardinal König sowie gegengezeichnet vom Sekretär der ÖBK, Dr. Alfred Kostelecky. Vgl. Haering, Zur Promulgation von Gesetzen der Bischofskonferenz (Anm. 46), S. 317–335, hier 329 f.; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 158.
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Demzufolge ist die Promulgation die einzige explizite Erzeugungsbedingung bzw. Rechtsförmlichkeit für das Inkrafttreten kirchlicher Gesetze. Aus c. 466 CIC läßt sich i. V. m. c. 19 CIC überdies universalrechtlich begründen, daß bischöfliche Gesetze vom Diözesanbischof unterschrieben werden müssen. Im Analogieschluß ist deshalb für die Allgemeindekrete bzw. Gesetze der Bischofskonferenz zu postulieren, daß diese von ihrem Vorsitzenden bzw. Präsidenten zu unterzeichnen sind.107 Implizit lassen sich aus der Natur der Sache jedoch noch weitere formelle Erfordernisse für die Gesetzesausfertigung erschließen. So ist davon auszugehen, daß ebenso wie die kirchlichen Verwaltungs- und Rechtsprechungsakte auch die Gesetzgebungsakte, nicht zuletzt aufgrund von c. 466 und c. 17 CIC auf dem Schriftlichkeitsprinzip beruhen. Insofern ist – im Sinne einer bezüglich der Formalia auf eine gewisse Einheitlichkeit bedachten Gesetzgebung – dafür zu plädieren, daß die vom Gesetzgeber zu unterzeichnenden (teil-)kirchlichen Gesetze außerdem wie alle rechtserheblichen Schriftstücke („quae effectum iuridicum habere nata sunt“) in Verwaltung und Rechtsprechung gemäß c. 474 CIC auch notariell gegengezeichnet und zusätzlich mit dem persönlichen Amtssiegel des Diözesanbischofs authentifiziert werden, wiewohl letzteres universalrechtlich nicht vorgeschrieben ist. Die hier dargestellten Formerfordernisse bei der (teil-)kirchlichen Gesetzgebung gehören zwar nicht wie die Promulgation an sich zu den äußeren Definitionsmerkmalen des kirchlichen Gesetzes, sie sind aber dazu geeignet, die Promulgation eines solchen rechtstechnisch auf den Weg zu bringen und so zu flankieren, daß eine „lex canonica“ formaljuristisch einwandfrei ins Dasein treten kann.
107 Vgl. hierzu die Inkraftsetzung von Dekreten der Österreichischen Bischofskonferenz durch die Unterschrift des Vorsitzenden und die Gegenzeichnung durch den Sekretär der ÖBK, in: ABl. ÖBK Nr. 1 (1984), S. 11; Wenner, Beschlüsse (Anm. 104), S. III f.
II. Geschichte von Recht und Kirchenrecht
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im klassischen römischen Recht und ihre Entwicklungstendenzen im spätklassischen und justinianischen Recht Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht Von Gabriela Eisenring Gabriela Eisenring I. Einleitung: Rechtscharakter der römischen Ehe Die Frage des rechtlichen Charakters der Ehe wurde in den modernen römischrechtlichen Lehrbüchern für die klassische Zeit immer wieder mit der Begründung verneint, die Beziehung zwischen Eherecht und Religion im alten Rom sei locker gewesen1. Dabei wird betont, dass in der Zeit vorstaatlicher Ordnung das Recht nur die Beziehung zwischen den Hausverbänden und dem Einzelnen regelte. Das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder untereinander blieb dagegen von der rechtlichen Reglementierung frei 2. Sakrale Bräuche, Überlieferung und Sitte seien zum Zuge gekommen und die Ehe sei wesentlich Sache der Sitte, nicht des Rechts gewesen. Auch in Rom hätte sich das Recht von den persönlichen Beziehungen der Eheleute ferngehalten. Das Recht nehme die Eheschliessung und Ehescheidung als gegeben an, wenn der juristische Mindestinhalt verwirklicht sei3. Alles weitere überlasse das Recht einem rechtlich unerheblichen Brauchtum. Wo die Sitte Lücken aufwies, da sei das Recht eingetreten. Durch die römische Jurisprudenz sei dann allmählich das Recht in diese Ordnung der Ehe gekommen. Die Ehe gehöre bei den Römern vor allem der Sitte und nicht so sehr dem Recht an 4. Dieser ausserjuristische Charakter wird in den heutigen Lehrbüchern immer wieder als unbestrittene Tatsache ausgegeben.
1
Vgl. H. Honsell, in: ders. / Th. Mayer-Maly / W. Selb, Römisches Recht, Berlin / Heidelberg 1987, S. 385 f. 2 Vgl. W. Müller-Freienfels, Ehe und Recht, Tübingen 1962, S. 4 ff.; M. Kaser, Römisches Privatrecht, München 1992, S. 68 ff. 3 Vgl. M. Kaser, Das römische Privatrecht 1. Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, 2. Aufl., München 1971 (zit.: RPR I), S. 311. 4
So ebd. (Anm. 3).
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Diese Auffassung muss neu überprüft werden: die Rechtsquellen bestätigen nicht, dass das Wesen der Ehe nur eine verwirklichte soziale Tatsache ist 5. Ausserdem deutet die Rechtsregelung der Ehe auf einen klaren Rechtscharakter hin: Es gibt zwar in den uns bekannten römischrechtlichen Quellen keinen eigentlich systematischen Teil über die Ehe, aber dennoch viele Stellen über die Ehe und ihre Rechtswirkungen. Aus der klassischen Zeit sind uns vor allem die Gaius-Institutionen6, viele Digestenstellen7, die uns durch den Corpus iuris civilis bekannt sind: Während das Verlöbnis in den Digesten 18 Stellen 8 aufweist, behandeln 68 Stellen die Entstehung, Begriff und vor allem die Ehehindernisse 9. Im Vergleich zu anderen Stellen handelt es sich eher um viele. Gleichzeitig ist eine ausgeprägte Regelung bezüglich der Mitgift ersichtlich, welche die Ehe als Rechtsinstitut begleitet: 85 Stellen behandeln die Mitgift 10. Die Eheverträge werden wiederum in 32 Stellen behandelt11. Die durch Mitgift erhaltenen Grundstücke werden in 18 Stellen erwähnt12. Über Schenkungen zwischen Ehegatten sind 67 Stellen vorhanden13, hingegen wird die Scheidung nur in 11 Stellen 14 behandelt. In D. 25, 1 ff. werden dann noch andere Rechtsfragen bezüglich der Ehe erwähnt und der Konkubinat wird hier nur in fünf Stellen behandelt 15. Neben diesen Texten gibt es noch weitere Rechtsstellen, die in Beziehung zu anderen Instituten des Privat rechts stehen. Mehr als um eine systematische Erarbeitung handelt es sich um eine Gruppierung von praktischen Fällen der Juristen für Rechtsprobleme, die sich bezüglich der Ehe stellen, die uns einiges über ihren Charakter aussagen. Auch aus der nachklassischen und vorjustinianischen Zeit kennt man direkt oder indirekt mehrere Stellen, die die Ehe behandeln. Die Collatio enthält in zwei Titeln (IV: de adulteriis; VI: de incestis nuptiis) Fragmente von Juristen und kaiserlichen Konstitutionen16. Es scheint, dass auch der Codex Hermogenianus und der Codex Gregorianus einige Konstitutionen über die Ehe enthal5
Vgl. Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, Wien / Köln / Weimar 2002.
6
Besonders I, 58 ff. und 108–115 b.
7
D. 23, 1–25, 7.
8
D. 23, 1,1–18.
9
D. 23, 1, 1–68.
10
D. 23,3, 1–85.
11
D. 23,4, 1–32.
12
D. 23,5, 1–18.
13
D. 24, 1, 1–67.
14
D. 24, 2, 1–11.
15
Der Konkubinat wird aber an anderen Stellen öfters erwähnt.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
75
ten hätten, die uns aber nicht erhalten geblieben sind. Von der Collatio erfährt man, dass ein Titel des Buches V des Codex Gregorianus eine Rubrik de nuptiis gehabt hätte17. In der Lex Romana Burgundiorum behandeln einige Titel eherechtliche Themen oder solche, die mit diesen in einem Zusammenhang stehen (XVI. De mulieribus ad secundas aut tertias nuptias transeuntibus;XXI. De divortiis; XXII. De donationibus; XXV de adulteriis; XXVII de puellis vel mulieris desponsatis und XXXVII de nuptiis legitimis sive de naturalibus filiis). Das wichtigste uns bekannte Material aus der vorjustinianischen Zeit ist im Codex Theodosianus erhalten geblieben. Er enthält neben weiteren Stellen, die im Codex verstreut sind, vor allem im Buch III mehrere Titel, die das Thema der Ehe behandeln18. Der Codex gibt aber nur Konstitutionen von christlichen Kaisern wieder und beginnt mit den Konstitutionen von Konstantin. Diese Texte sagen vieles über die Zeit aus, in welcher die Kaiser schon christlich waren. Es beginnen sich nun interessante Veränderungen abzuzeichnen. Neben diesen vorjustinianischen Stellen ist für die Spätzeit die justinianische Kompilation interessant. In der justinianischen Zeit werden in den Institutionen Justinians unter dem Titel De nuptiis einige Aspekte der Ehe geregelt 19, d. h. es erfolgt eine kurze Begriffsbestimmung der Voraussetzungen, damit eine Verbindung als iustae nuptiae bewertet werden kann. Anschließend folgt eine lange Aufzählung von Verbindungen, die nicht als solche eingeordnet werden können20. Auch hier sieht man, wie wichtig die Frage der Festlegung der Ehe als iu16
Fontes iuris Romani anteiustiniani, 2. Aufl., I: Leges (ed. S. Riccobono, 1941, Ndr. 1968), II. Autores (ed. I. Baviera und I. Furlani, Ndr. 1964), III: Negotia (ed. V. Arangio-Ruiz, Neuaufl. mit Appendix 1968) (zit. FIRA II), S. 552–561. Siehe auch E. Volterra, Matrimonio (diritto romano), in: Scritti giuridici III, S. 227. 17
FIRA I (Anm. 16), S. 558 und 560.
18
Im Konkreten sind es die folgenden Titel: 5. de sponsalibus et ante nuptias donationibus; 6. si provinciae rector vel ad eum pertinentes sponsalia dederint; 7. de nubtiis; 8. de secundis nubtiis; 9. si secundo nubserit mulier, cui maritus usufructum reliquerit; 10. si nubtiae ex rescripto petantur; 11. si quaecumque praeditus potestate nubtias petat invitae; 12. de incestis nubtiis; 14. de nubtiis gentilium; 16. de repudiis. 19 20
Inst. 1, 10 (pr – 13).
Vgl. Volterra, Matrimonio (Anm. 16), in: S. 228, der zu diesen Stellen bemerkt, dass die Institutionen der Ordnung derer von Gaius’ folgen, indem sie mehrere Stellen verändern und gewisse Institutionen aus der Zeit Gaius weglassen, wie z. B. die conventium in manum und das mancipium. Der Titel de nuptiis folgt auf den kurzen Titel über die de patria potestate und nach dem Titel über die Ehe folgt der de adoptione. Es fehlt aber gegenüber den Digesten und dem Codex ein Titel de divortiis oder de repudiis.
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stae nuptiae auch in dieser Zeit bleibt, ja sogar noch verstärkt wird, was auf eine gesteigerte Rechtsauffassung seitens der positiven Rechtsregeln schliessen lässt. Der Codex andererseits enthält 27 Titel, welche die Ehe regeln 21. Diese Stellen enthalten nicht nur Konstitutionen der christlichen Kaiser, sondern auch viele von Kaisern vor der Zeit Konstantins, aber mit einer mehr nachklassischen Ausrichtung. Das Buch folgt dem Buch III des Codex Theodosianus nur zum Teil und hat auch einen anderen Inhalt 22. Die oben genannten 27 Titel handeln vom Verlöbnis und der Ehe. Auf diese Titel folgen noch 48 Titel, welche die tutela und cura regeln23. Man weiss nicht genau, warum im Gegensatz zum Codex Theodosianus in diesen Texten soviele Stellen von heidnischen Kaisern eingegliedert worden sind. Neben diesen beiden Teilen wird die Ehe auch in anderen Texten der Quellen der nachklassischen und justinianischen Zeit geregelt. Hier sollen nur einige besonders wichtige Stellen aus den Novellen genannt werden. Besonders interessant ist die Nov. 22, die als ein wirklicher Ehekodex verstanden werden kann24. Auch andere Stellen der Novellen behandeln die Ehe als Materie25. II. Die Frage der Rechtsnatur der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Allgemeinen Sobald in einer Rechtsordnung die Ehe anerkannt wird, müssen auch gewisse Voraussetzungen und Ehehindernisse geregelt werden. In diesem Sinne finden wir im römischen Recht Bestimmungen über Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse26. Einen bezeichnenden Text über die Ehevoraussetzungen finden wir in den Tituli ex corpore Ulpiani 5, 2: Iustum matrimonium est, si inter eos qui nuptias contrahunt conubium sit, et tamen masculus pubes quam femina potens sit, et utrique consentiant, si sui iuris sunt, aut etiam parentes eorum, si in potestate sunt.27 21
C. 5, 1–27.
22
Voltera, Matrimonio (Anm. 16), S. 228, FN 6.
23
Vgl. C V, 28–75.
24
Ebd. (Anm. 23), S. 228.
25
Vgl. Nov.; 12; 18; 74; 78; 89; 117; 123; cap. 30; 127; 134; 140; 143; 150; 154.
26
Besonders viele Bestimmungen in den D. 23, 2 ff.
27
Nach Meinung von Max Kaser gliedert aber dieser Text die Ehevoraussetzungen nicht wirklich in relative (conubium) und in absolute (Mündigkeit, Konsens). Die Aufzählung sei ausserdem unvollständig vgl. RPR I (Anm. 3), S. 314 Zu den Tituli ex corpore Ulpia ni und der Frage, wer ihr Autor sei vgl. E. Schönbauer, Tituli ex corpore Ulpiani in neuer
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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Eine rechtmässige Ehe ist vorhanden, wenn zwischen denen die heiraten ein conubium besteht, der Mann mündig und die Frau fähig ist und dass beide einwilligen, wenn sie sui iuris sind, oder auch ihre Eltern, wenn sie sich in deren Gewalt befinden.
Hier werden, wie Robleda28 richtig feststellt, wesentliche positivrechtliche Voraussetzungen aufgezählt. Das Wesentliche ist der Ehewille; dazu kommt das genügende Alter, dessen genaue Festsetzung positivrechtlich ist. Auch muss es sich um einen Mann und eine Frau handeln. Dies ist auch eine wesentliche Voraussetzung, damit überhaupt der Ehewille eine Ehe entstehen lassen kann. Nicht nur in dem zitierten Text findet man Aussagen über die Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse. Auch die Institutionen des Gaius I, 58 ff legen gewisse Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse fest. Vor allem aber werden die Eheerfordernisse in D. 23, 2, 1 ff unter dem Titel De ritu nuptiae behandelt. Diese Voraussetzungen sollen nun aufgezeigt werden. Die Bestimmungen, mit denen die Römer die positiven und negativen Voraussetzungen der Ehe regeln, sagen uns viel über das Eheverständnis der Römer aus 29. Dabei muss bemerkt werden, dass den Römern der damaligen Zeit eine begriffliche oder systematische Unterscheidung zwischen Ehevoraussetzungen und Ehehindernissen (positiven und negativen) unbekannt war30. Der Begriff impedimentum oder impedire war den Römern zwar nicht unbekannt31; er bezeichnete gewisse Tatsachen oder Situationen, die eine Ehe verbieten. Diese Terminologie war aber eher aussergewöhnlich. Das römische Recht kannte noch keine Theorie der Ehehindernisse. Dies sollte erst das Werk der Kanonisten des 13. Jahrhunderts werden 32. Eine Gruppierung der Eheerfordernisse haben die Römer nicht versucht. Aus Gründen der Verständlichkeit wird im Folgenden doch zwischen Ehevoraussetzungen und EhehinAnalyse, in: Studi in onore di Pietro de Francisci, III, Milano 1956, S. 303–334 und besonders 303 ff. Siehe auch G. G. Archi, Il problema delle fonti nel IV e V secolo, in: Studi in onore di Giuseppe Grosso, IV, Torino 1971, S. 3–93; besonders S. 23 ff. 28 Vgl. O. Robleda, El matrimonio en derecho romano. Esencia, requisitos de validez, efecto, disolubilidad, Roma 1970, S. 144. 29
Über diese Regeln im Allgemeinen vgl. W. Kunkel, Matrimonium, in: RE 14, 2262 ff.; Percy Ellwood Corbett, The Roman law of Marriage, Oxford 1930, S. 24 ff.; Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 145 ff. 30
Vgl. Volterra, Studi Scherillo II, Mailand, 1972, S. 443.
31
Vgl. Gai. Inst. 1, 61; D. 23, 2, 17 pr. (Gai. 11 ad ed. provinc.); und auch D. 23, 2, 55, 1 (Gai 11 ad ed. provinc.); D. 23, 2, 60, 4 (Paul. lib. sing. ad orat. divi Antonini et Commodi); D. 24, 1, 3, 1 (Ulp. 32 ad Sab.); Inst. Iust. 1, 10, 3. 32 Jean Gaudemet, L’Église dans l’empire romain (IVe–Ve siècles) (Histoire du Droit et des Instituions de l’Église en Occident), Paris 1958 (avec mise à jour Sirey 1989), S. 524. Vgl. auch R. Domingo, La legislación matrimonial de Constantin, Pamplona 1989, S. 33.
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dernissen unterschieden. Das Fehlen einiger Ehevoraussetzungen und das Bestehen gewisser Ehehindernisse können zur Nichtexistenz der Ehe führen. Ihr Vorhandensein bezeugt jedoch, dass die Ehe ein Rechtsverhältnis sein muss. Die positiven und negativen Voraussetzungen einer gültigen Ehe werden im nachklassischen und justinianischen Recht weiterentwickelt. Die Veränderung des gesellschaftlichen Eheverständnisses der damaligen Zeit schlägt sich langsam auch in der konkreten Rechtsregelung nieder. Wie Kaser bemerkt, ist diese rechtliche Regelung Ausdruck der veränderten Zeitumstände, besonders der christlichen Struktur der Ehe33. Dieser Aussage ist beizustimmen, aber inwieweit das christliche Eheverständnis bezüglich der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse einen Einfluss ausgeübt hat, wird an den konkreten Texten noch geprüft werden müssen. Die Frühkirche der apostolischen Zeit kennt noch kein System der Regelung der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse. Auf diesem Gebiet hält sich die Kirche an das jeweilige staatliche Recht, d. h. in unserem Fall an das römische. Es gibt aber schon einige Verbote, vor allem bezüglich der Verwandtschaft und der Schwägerschaft. Die Kirche hat aber dennoch noch keine vollständige Regelung bezüglich der Ehehindernisse34. Im 2. und 3. Jahrhundert anerkennt die Kirche grundsätzlich die Bestimmungen über die römischrechtlichen Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse. Sie unterwirft sich dem staatlichen Recht, solange dessen Regelung nicht dem christlichen Eheverständnis widerspricht. Auch im 4. und 5. Jahrhundert äussert sich die Kirche grundsätzlich nicht über die römischrechtlichen Eheverbote, denn diese widersprechen mit einigen Ausnahmen nicht dem christlichen Eheverständnis. Sie anerkennt grundsätzlich die römischrechtlichen, aber formuliert dazu noch neue Verbote. Hier beginnt sich der die Geschichte für die nächsten Jahrhunderte prägende Dualismus von Kirche und Staat langsam herauszubilden: Die Kirche sieht in der Ehe einen doppelten Aspekt, d. h. einerseits eine Institution, die der Staat regeln muss, andererseits muss die Ehe auch wegen ihres religiösen Aspekts in einigen Punkten durch die Kirche geregelt werden. Die Kirche beginnt nun, gewisse Eheverbote zu entwickeln, die später im kanonischen Recht ihren Niederschlag in den Ehe-
33 34
Kaser, RPR II (Anm. 3), S. 162.
J. J. Dauvillier, Les temps apostoliques, 1er siècles (Histoire du Droit et des Institutions de l’Église en Occident, Tome II. Hrsg. Gabriel Le Bras), Paris 1970, S. 367 ff.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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hindernissen finden35. Diese Entwicklung wird nun anhand der einzelnen Ehehindernisse aufgezeigt werden. Die römischen Juristen kennen auch nicht die in der Kanonistik später entwickelte Unterscheidung der trennenden oder bloß verbietenden Ehehindernisse, lateinisch impedimenta dirimentia oder impedientia, die das Kirchenrecht bis zum Codex von 1983 noch aufrechterhalten hat. Die trennenden Ehehindernisse untersagen nicht nur die Eheschließung, sondern verhinderten das gültige Zustandekommen der Ehe. Die bloß verbietenden Ehehindernisse sehen zwar auch ein Verbot der Eheschließung vor, die Ehe ist aber trotz dieser Ehehindernisse gültig, wenn auch untersagt. Aus diesem Grund wäre es zutreffender, nicht von Ehehindernissen, sondern von Eheverboten zu sprechen 36. Dem ist beizupflichten. Trotzdem wird in dieser Arbeit der Begriff Ehehindernis wegen seiner allgemeinen Verständlichkeit gebraucht und nicht im genau technischen Sinn des Kirchenrechts. Die Entwicklung des Begriffs des Ehehindernisses im kanonischen Recht hat mit der Anerkennung der Ehefreiheit zu tun. Alle können grundsätzlich heiraten, wenn nicht ein Ehehindernis dagegensteht. Im klassischen römischen Recht ist dies nun aber gerade nicht so: Nicht alle haben das Recht zur Heirat, nur die, die das conubium haben. Gleichzeitig hat die Begriffsbildung des Ehehindernisses auch mit der immer stärkeren Anerkennung der Unauflösbarkeit der Ehe zu tun. Die Ehehindernisse gewinnen vor allem in einem Ehesystem Gewicht, in welchem die Ehe nicht leicht geschieden werden kann. III. Die Ehevoraussetzungen Im klassischen Recht sind uns aus den Rechtsquellen folgende Ehevoraussetzungen bekannt: das conubium, die Ehemündigkeit (pubertas), geistige Gesundheit, der Ehewille und die Zustimmung des Gewalthabers. Das positive Recht regelt somit ganz genau, wann eine Ehe überhaupt möglich ist. Falls Eheerfordernisse fehlen, hat dies im römischen Recht ganz konkrete Rechtsfol35
So z. B. sahen gewisse Konzilien des 4. Jahrhunderts schon Strafen bei bestimmten Tatbeständen vor. Das Konzil von Elvira sieht in den cann. 15–17 den Ausschluss von der Kommunion für diese Personen vor, die eine Ehe mit Häretikern eingehen. Auch wird diese Strafe für die Eltern der betreffenden Person in can. 16 vorgesehen (PL 84, 303–304). Auch das Konzil von Arles (PL 84, 291–292) und das Konzil von Ancyra (PL 84, 108) sehen schon gewisse Strafen vor, diese haben aber nicht die Ungültigkeit der Ehe zur Folge, sondern deren Übertretung bringt kirchenrechtliche Sanktionen mit sich. Siehe auch can. 9 des Konzils von Elvira (PL 84, 303). 36
Ebd. (Anm. 35).
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gen. Dies zeigt, dass es sich nicht einfach um sittliche Normen handelt, obschon oft der Inhalt eines Eheerfordernisses vom Naturrecht her gefordert wird. 1. Das conubium Das conubium ist eine besondere Erscheinungsform des römischen Rechts. Die Ehevoraussetzung des conubium ist für die klassische Zeit typisch gewesen37: es ist die rechtliche Fähigkeit, die eine Person hatte um zu heiraten. Sie ist vom ius civile festgelegt und gründete auf einem Menschenbild, das einer Klassengesellschaft entspricht. Fehlt das conubium, so kann in der klassischen Zeit keine Ehe entstehen. Dies zeigt die schon erwähnte Stelle aus den Tituli ex corpore Ulpiani38 5, 2–5: 2. Iustum matrimonium est, si inter eos qui nuptias contrahunt conubium sit, et tam masculus pubes quam femina potens sit, et utrique consentiant, si sui iuris sunt, aut etiam parentes eorum, si in potestate sunt. 3. Conubium est uxoris iure ducendae facultas. 4. Conubium habent cives Romani cum civibus Romanis: cum Latinis autem et peregrinis ita, si concessum sit. 5. Cum servis nullum est conubium. 2. Eine rechtmässige Ehe ist vorhanden, wenn zwischen denen die heiraten ein conubium, besteht, der Mann mündig und die Frau fähig ist, und dass beide einwilligen, wenn sie sui iuris sind, oder auch ihre Eltern, wenn sie sich in deren Gewalt befin den. 3. Das conubium ist die Fähigkeit, eine Frau rechtmässig zu heiraten. 4. Das conubium haben römische Bürger mit römischen Bürgern: auch mit den Latinern und Peregrinen, wenn es ihnen verliehen worden ist. 5. Mit den Sklaven gibt es kein conubium.
Das conubium ist somit in der Klassik eine Ehevoraussetzung für ein matrimonium iustum39. Nur der, der das conubium besitzt, kann eine gültige Ehe eingehen. Es geht um die positivrechtliche Ehefähigkeit, die man mit dem conubium erhält. 37
E. Volterra, La nozione di conubium: Studi in memoria. di Emilio Albertario, II, Mailand, 1953, S. 349 ff. 38
Die auch genannten regulae Ulpiani sind anscheinend Ende des 3. Jahrhunderts oder anfangs des 4. Jahrhunderts, vor allen aus Schriften des Gaius, aber auch Ulpians und Modestinus entstanden. Erhalten davon ist eine Epitome, wohl aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts, in einer Handschrift der vatikanischen Bibliothek (G. Dulckeit / F. Schwarz / W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, München 1995, S. 294.) 39 Das matrimonium iustum ist die nach ius civile geschlossene Ehe. Diese setzt voraus, dass die Ehegatten römische Bürger sind oder dass wenigstens der Mann civis Romanus ist und mit der Frau das conubium hat. Andere Ehe sind keine römischen, können aber gemäss peregrinischem Recht gültig sein (vgl. Gai. Inst. I, 92; D. 50, 1, 37, 2).
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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Im nachklassischen und justinianischen Recht findet eine Begriffsänderung des conubium statt, die bis zur Abschaffung dieser Ehevoraussetzung führt: Wie wir aufgezeigt haben, ist die Ehevoraussetzung des conubium für die klassische Zeit typisch40. Diese Ehevoraussetzung verliert nun einerseits mit der Ausbreitung der civitas Romana immer mehr ihre Bedeutung41. Der Begriff wird langsam in den Texten nicht mehr genannt42. In diesem Sinn ist der folgende Text der Institutionen Justinians interessant: Iustas autem nuptias inter se cives Romani contrahunt, qui secundum praecepta legum coeunt, masculi quidem puberes, feminae autem viripotentes, sive patres familias sint sive filii familias, dum tamen filii familias et consensum habeant parentum, quorum in potestate sunt. (Inst. 1, 10 pr). Eine rechtmäßige Ehe schließen römische Bürger untereinander, die sich im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften verbinden, die männlichen aber, wenn sie mannbar sind, seien die Beteiligten Hausväter, seien sie Hauskinder; als Hauskinder jedoch nur, wenn sie auch die Zustimmung ihrer Väter haben, in deren Gewalt sie stehen.
In den Institutionen wird die Stelle aus Gai. I, 59 gebracht, aber die Worte nec inter eas conubium est werden weggelassen. In diesem Text wird im Gegensatz zur Stelle ex titulo Ulp. 5, 2 nicht mehr vom conubium gesprochen. Es wird nur von der Einhaltung des Gesetzes gesprochen 43. Das conubium hat seinen Sinngehalt gewechselt. Die Kompilatoren brauchen diesen Begriff mit einigen wenigen Ausnahmen nicht mehr44. Für die klassischen Juristen war das conubium eine Ehevoraussetzung45. Das Wort wird weiter gebraucht, aber wird im Plural genannt und mit der Ehe gleichgesetzt.46 In den Texten wird nun unter conubium die Ehe als solche verstanden 47 und nicht mehr das klassische conubium. Konstantin bestätigt das alte Verbot 48. In 40
Vgl. E. Volterra, La nozione di conubium (Anm. 37), S. 349 ff.
41
Kaser, RPR II (Anm. 3), S. 164.
42
Gian Gualberto Archi, L’epitome Gai, Mailand 1937, S. 142 ff; Volterra, La nozione di conubium, (Anm. 37), S. 368 ff.; siehe auch Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 176 ff. zu diesem Thema. 43
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 169.
44
Vgl. C. 5, 5, 1, in welchen der Begriff noch weiter steht. Vgl. auch dazu CTh. 12, 1, 6 pr.; C. 5, 5, 3 pr (319). 45
Vgl. Gai. Inst. I, 57 und Tit. Ulp. 3, 5, 4.
46
Vgl. C. 5, 5, 8 [a. 475]; C. 5, 4, 28 pr. und 1–2: [a. 531 vel 532].
47
Vgl. auch C. 5, 27, 11 pr (a. 530). und Nov. 22, 4.
48
CTh 4, 6, 3. Vgl. auch C. 5, 27, 1 pr (336).
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einer Konstitution von Diokletian wird der Begriff inlicita conubia gebraucht49. Die Ehe zwischen cives und peregrini konnte es in dieser Zeit nicht mehr geben, da zur Zeit Justinians alle Untertanen des Reiches cives romani waren50. Der CTh 3, 7, 3 spricht von personae pares honestate . In C. 5, 27, 11 pr wird der alte Ausdruck cum qua poterat habere conubium gebraucht, um den neuen Begriff zu beschreiben, in welchem das klassische Ehehindernis nicht mehr besteht 51. Diese Entwicklung lässt sich aber nicht nur aus der Annahme der civitas aller erklären, sondern auch durch eine langsame Entwicklung des Menschenbildes, das doch auch vom christlichen Menschenbild beeinflusst werden musste. Die Frage des Klassenunterschieds bezüglich der Ehe ist schon für die Frühkirche ein Problem. Denn auch die Sklaven können nach christlichem Eheverständnis eine gültige Ehe schließen, obschon das römische Recht dies nicht zulässt. So ist in diesem Sinn eine Entscheidung des Papstes Calixtus (217 –222) interessant, der die Schranken der römischen Gesetzgebung zu durchbrechen versucht hat, indem er den freien und vornehmen Frauen die Ehe mit einem Sklaven oder Freigelassenen erlaubt, d. h. solche Ehen im Gegensatz zum römischen Recht als gültig erachtet52. Hippolyt macht dazu seine berechtigten Vorbehalte, dass der Staat solche Ehen nicht als gültig anerkenne und somit die bürgerlichen Nachteile der Illegitimität solcher Kinder und des Rang- und des Vermögensverlustes unbeachtet blieben. Dennoch scheint es, dass das Vorgehen des Papstes einer Notwendigkeit entsprochen hat: Er gestaltet die bestehenden Konkubinate oder das contubernium, die im römischen klassischen Recht außerhalb des Rechtes gestanden haben, zu gültigen Ehen und beseitigte somit die Nachteile der Gefahr der Perversion, die den gemischten Ehen drohten. Zudem musste die Kirche ja versuchen, die Unterschiede zwischen Sklaven und Freien zu tilgen, was ihr in dieser Zeit und auch bis zur justinianischen Gesetzgebung noch nicht richtig gelang. Während also Hippolyt die eherechtliche Materie weiterhin nach dem römischen Recht geordnet wissen will, trifft hingegen Papst Calixtus eine Neuordnung bezüglich der Möglichkeit von Ehen, die das römische Recht nicht zulässt53. Bezüglich dieses Entscheides gab es viele mög49
Coll. 6, 4, 2.
50
Vgl. auch CTh 9, 7, 2, 1; C. 9, 9, 29 pr (326); CTh 12, 1, 6; C. 5, 5, 3 (319); CTh 4, 12, 12; C. 5, 4, 28 pr (531 oder 532); C. 5, 27, 11 (530). 51
Vgl. Volterra, Matrimonio (Anm. 16), S. 232 FN. 19.
52
Vgl. dazu W. M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts I: Das Recht des ersten christlichen Jahrhunderts, Wien / München 1960, S. 89 ff. 53
Zu dieser Frage vgl. Jean Gaudemet, La décision de Callixte en matière de mariage, in: Misc, S. 104–115.
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lichen Interpretationen54. Er erhebt so auch indirekt einen Anspruch auf die Jurisdiktion der Kirche bezüglich der Ehe, da er das Eherecht aus der Wurzel des Taufsakraments entwickelt. Das Verbot der klandestinischen Ehen und damit ein eigenes Eherecht wird aber erst auf dem IV. Laterankonzil 1215 ausgesprochen. Auch der Konkubinat muss als Problem für die neuen Christen gelöst werden. Für die Taufkandidaten, die schon in solch einem Verhältnis leben, anerkennt die Kirche ein solches Verhältnis, wenn dieses nicht den christlichen Prinzipien widerspricht. Die Traditio Apostolica scheint die Tradition der Kirche im 3. Jahrhundert widerzuspiegeln: Sie ordnet einem Mann an, der eine Konkubine hat, diese zu lassen und nach dem Gesetz zu heiraten 55. Dies scheint für den Fall zu sein, wo eine gültige Ehe nicht möglich ist. Wenn eine solche möglich wäre, dann muss ein solcher vor der Annahme der Taufe seine Situation regeln. Eine Sklavin hingegen, die Konkubine ist, wird zur Taufe zugelassen, wenn sie ihre Kinder aufgezogen und nur einen Mann gehabt hat 56. Man verlangt nichts von ihr, da sie selber ihre Situation ja nicht ändern kann. In die sem Fall anerkennt die Kirche ein Konkubinat, verlangt aber von der Frau Treue zum Vater ihrer Kinder, Respekt vor dem Leben und keine anderen Beziehungen zu haben. Es werden somit Wesensmerkmale der Ehe verlangt. Obschon Calixtus diese Entscheidung getroffen hat, folgt die Kirche bis zum 5. Jahrhundert weiter dem zivilen Recht. Eigentlich hängt somit immer noch der Schutz solcher Ehen in der Praxis vom guten Willen des Herrn ab. Bezüglich des contubernium kann die Kirche in dieser Zeit noch nicht sehr viel gegenüber der staatlichen Rechtsordnung erreichen. Die Verbindung von zwei Sklaven hängt nur vom Recht ihres Herrn ab. Wenn sie beide den gleichen Herrn haben, kann das gemeinsame Leben einigermaßen garantiert werden. Mit Konstantin scheint sich die Auffassung in der Gesetzgebung zu ändern. Es wird die Notwendigkeit betont, die Beständigkeit dieser Vereinigung zu schützen (cfr. C. 3, 38, 11 (Imp. Constantinus A. Gerulo ; a. 334)57. Die aus dieser Verbindung geborenen Kinder werden zu Sklaven des Herrn ihrer Eltern. Schwieriger war das Problem, wenn es verschiedene Herren gab. Die Kirche setzt sich für eine Vereinbarung ein. Aber es gibt noch keine rechtli54
Vgl. ebd. (Anm. 53), S. 333–337, in welchen er die verschiedenen Interpretationen bzgl. des Entscheides von Calixtus aufzeigt und wie unterschiedlich diese sein können. 55 Traditio Apostolica 16 in: Hippolyte de Rome, La tradition apostolique d’après les anciennes versions (sources chretiènnes) Nr. 11 bis; introduction, traduction et notes par Bernard Botte, 2. ed., Paris 1968. 56
Traditio Apostolica (Anm. 55), 16.
57
In diesem Sinn wird auch in CTh.2, 25, 1.
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che Anerkennung solcher Verbindungen zwischen Sklaven vor dem zivilen Recht. Hier scheint ein gewisser Einfluss des christlichen Denkens seine Wirkung gehabt zu haben58. Die Gesetzgebung ändert sich stark. Sie hat ihren Grund vor allem in einer veränderten Auffassung des Menschenbildes. Das Problem des Rechtsstatus des Sklaven ist aber noch nicht gelöst und die Kirche kann ihren Einfluss in diesem Bereich nicht so stark geltend machen. 2. Die Ehemündigkeit aufgrund der pubertas und die geistige Gesundheit Die erlangte Ehemündigkeit ist eine weitere Voraussetzung für die Eheschliessung in der klassischen Zeit. Dies ist logisch, denn für jede Ehe ist als erstes die physische Möglichkeit erforderlich, die sich auf den Gegenstand und das Ziel der Ehe bezieht. Diese wird mit der pubertas erreicht. Das Alter der Frau ist schon im klassischen Recht klar. Bei Vollendung des 12. Lebensjahres kann die Frau heiraten59. Wer das Alter nicht erreicht hat, darf nicht heiraten. Wenn die junge Frau schon im Haus des Mannes ist, kann dennoch keine gültige Ehe entstehen, da ihr noch diese physische Fähigkeit für die Ehe fehlt. Die mit einem Unmündigen geschlossene Ehe wird mit der pubertas gültig60. Bei den Jungen ist es die Mündigkeit, die aber in der klassischen Zeit nicht sehr klar ist, es gibt den bekannten Schulenstreit zwischen den Prokulianern und den Sabinianern. In der justinianischen Zeit hat sich dann die Altersgrenze von 14 Jahren durchgesetzt. Die Festsetzung der Mündigkeit für die Eheschliessung deutet auf den Rechtscharakter der Ehe hin. Mit der Mündigkeit ist im römischen Recht die Erlangung der Handlungsfähigkeit gegeben. Handlungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, durch eigenes Handeln rechtliche Wirkungen auszulösen. Dazu braucht es eine gehobene Altersreife und Fehlen von Eigenschaften, die seiner Eignung im Wege stehen. Die Person kann nun Rechte und Pflichten mit ihren Handlungen begründen. Die pubertas tritt mit der Geschlechtsreife ein. Diese ist natürlich für die Eheschliessung von enormer Bedeutung und bringt die Mündigkeit mit sich, was ein Rechtsbegriff ist. 58
Ch. Munier, L’Église dans l’Empire romain (IIe–IIIe siècles). Église et cité (Histoire du Droit et des Institutions de l’Église en Occident, Tome II, Volume III [Hrsg: Gabriel Le Bras (†) et Jean Gaudemet]), Paris 1979, S. 30. Dieser Meinung ist auch Gaudemet, L’Église (Anm. 32), S. 529. 59
D. 23, 2, 4 (Pomp. 3 ad Sab.). Vgl. auch D. 23, 1, 9 (Ulp. 3 5 ad ed.); D. 24, 1, 32, 27 (Ulp. 33 ad Sab.) und D. 42, 5, 17, 1 (Ulp. 63 ad ed.). Auch Gai. Inst. I, 196 und später Inst. I, 22 pr. 60
Vgl. D. 23, 2, 4 (3 ad Sab.); D. 48, 5, 14, 8 ff und D. 24, 1, 32, 27 (Mod. 7 reg.).
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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Die Ehe ist ein Rechtsverhältnis für deren Eingehung es eben auch diese Handlungsfähigkeit braucht. Man sieht, dass auch die Ehe von handlungsfähigen Personen geschlossen werden musste in Übereinstimmung mit der allgemeinen Mündigkeit, was auf den Rechtscharakter der Ehe deutet. Mit der Ehemündigkeit braucht es auch die geistige Gesundheit61. Ein Geisteskranker kann keine gültige Ehe eingehen. Es ist Bedingung der natürlichen Ehefähigkeit, dass man eine gewisse Zurechnungsfähigkeit für das Eingehen der Ehe braucht. Auf diese wird bei der Nichtexistenz der Ehe noch etwas näher eingegangen werden. In der spätklassischen und justinianischen Zeit bleiben die Ehemündigkeit aufgrund der pubertas und die geistige Gesundheit als Ehevoraussetzungen erhalten. Für das Eingehen einer gültigen Ehe braucht es ein Mindestalter und eine natürliche Zeugungsfähigkeit, die grundsätzlich mit einem gewissen Alter angenommen wird. Für den Eintritt der pubertas bleibt für Mädchen das vollendete 12. Altersjahr62. Justinian legt endgültig fest, dass für Knaben im Westen wie im Osten das vollendete 14. Lebensjahr massgebend ist (cfr, C. 5, 60, 3 (Imp. Iustinianus A. Menae pp; a. 529) und Inst. I, 22 pr.). Die Prüfung des körperlichen Reifezustandes wird nun endgültig als anstössig beseitigt 63. Bis dahin ist es ab und zu noch möglich gewesen, dass dieser neben der Altersstufe beachtet worden ist 64. Nun scheint dies durch Verstärkung der moralischen Grundprinzipien nicht mehr gerechtfertigt. Bezüglich der Ehemündigkeit hat sich somit nicht vieles geändert. Es wird nur eine Festlegung des Alters der Knaben festgelegt, die aufgrund von moralischen Überzeugungen gerechtfertigt wird65. Die Kirche übernimmt diese Ehevoraussetzung auch vom römischen Recht, da dieses Prinzip nicht dem christlichen Eheverständnis widersprach. Ein Geisteskranker kann weiterhin keine gültige Ehe eingehen. Es ist Bedingung der natürlichen Ehefähigkeit, dass man eine gewisse Zurechnungsfähigkeit für das Eingehen einer Ehe braucht. Es wird somit bezüglich des klassi61 Tituli ex corpore Ulpiani, 5, 2; Inst. I, 1 pr; Robleda, El matrimonio (29), S. 100 ff. und 145 ff. 62
Vgl. D. 28, 1, 5 (Ulp. 6 ad Sab.).
63
Siehe zu diesem Thema A. B. Schwarz, Die justinianische Reform des Pubertätsbeginns und die Beilegung justinianischer Kontroversen, in: SZ 69 (1952), S. 345 ff. 64 Dazu siehe auch D. 28, 1, 5 (Ulp. 6 ad Sab.); CTh 4, 8, 6, 3 (323) mit IT; und CTh. 2, 17, 1, 1 (324) mit IT; auch IT 4, 3, 1; 4, 14, 1. 65
Vgl. auch C. 5, 4, 24 (530).
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schen Rechts nichts geändert. Weiterhin ist der gesunde Geisteszustand eine Voraussetzung, um eine gültige Ehe zu schließen. Die Ehe eines Geisteskranken ist nicht gültig. 3. Die Frage der Impotenz Mit der Ehefähigkeit ist auch die Frage der natürlichen Geschlechtsreife verbunden. Es ist nicht klar, ob im klassischen Recht ein solches Ehehindernis der Impotenz vorhanden ist. Für das klassische Recht ist diese Frage somit umstritten66. Das römische Recht unterscheidet zwischen castrati und spadoni 67. Auch andere Texte machen diese Unterscheidung68. Biondi vertritt, dass die Impotenz in der klassischen römischen Zeit nicht ein Ehehindernis gewesen sei, weder für die spadones noch für die castrati69. Es scheint ihm nicht logisch, eine Nichtigkeit zu erklären, wenn man doch in dieser Zeit ganz frei scheiden konnte. Er beruft sich auf einen Text in D. 28, 2, 6 pr und 1 (Ulp. 3 ad Sab.). Nach Biondi war somit die Impotenz bei den Römern ein Scheidungsgrund, nicht ein Ehehindernis, das die Ehe ungültig machte. Er beruft sich auf D. 24, 1, 60, 1 (Herm. 2 ep.) und D. 24, 1, 61 (Gai. II ed. prov.)70 dafür, dass die Kastrierten nicht heiraten konnten, die spadoni hingegen schon. Die spadoni waren jene, qui generare non possunt, aber auf natürliche Weise. Die castrati hingegen waren jene, die künstlich so geworden sind71. Es scheint, dass der Unterschied in der Tatsache gemacht wird, dass die Sicherheit über die Unmöglichkeit der Zeugungsfähigkeit bei den 66 Einige Romanisten vertreten, dass dieses Ehehindernis erst in der justinianischen Zeit entstanden ist und dass die Texte, die sich in der Kompilation darauf beziehen, interpoliert seien. Dies vertreten P. Bonfante, Corso di diritto romano I: Diritto di famiglia, Roma 1925, S. 266 ff.; B. Biondi, Il diritto romano cristiano, Bd. III, Milano 1954, S. 93 (zit. DRC III) und Volterra, Il matrimonio (Anm. 16), S. 187. Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 151 vertritt hingegen die gegensätzliche Meinung. 67
Vgl. Ulpian in D. 23, 3, 39, 1 (33 ad ed.).
68
So z. B. D. 40, 2, 14, 1 (Marcian. 4 reg.).
69
Biondi, DRC III (Anm. 56), S. 93.
70
D. 24, 1, 60, 1 (Herm. 2 epit.): Divortii causa donationes inter virum et uxorem concessae sunt: saepe enim evenit, uti popter sacerdotium vel etiam sterilitatem. (Schenkungen um der Scheidung willen sind zwischen einem Mann und seiner Ehefrau gestattet: denn es geschieht oft, sei es wegen Priestertums oder auch wegen Unfruchtbarkeit.) D. 24, 1, 61 (Gai. 2 ed. prov.): vel senectutem aut valetudinem aut militiam satis commode retineri matrimonium non possit (oder dass wegen hohen Alters, oder Krankheit, oder Kriegsdienstes die Ehe nicht vorteilhaft aufrechterhalten werden kann). 71
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 150. Vgl. auch D. 40, 2, 14, 1 (Marcian. 4 reg.); Inst. 1, 11, 9; D. 50, 16, 128 und Gai.Inst. I, 103.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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castrati absolut ist72. Die Kastration, von der Ulpian in D. 23, 3, 39, 1 spricht 73, haben mit dem Wesen der römischen Ehe und dem Eheverständnis zu tun. Die Ehe kann nicht geschlossen werden, da die Finalität der Kindererzeugung in diesem Fall nicht möglich ist. Der actus generandi kann nicht vollzogen werden. Man muss diese Zeugungsunfähigkeit vom spado unterscheiden. So bejahen Ulpian in D. 23, 3, 39; 28, 2, 6 pr und Marcian in D. 40, 2, 14 die Ehe des spado, aber nicht die des castratus. Nach Meinung Kasers74 scheint die Frage jedoch kontrovers zu sein. Dem ist wohl beizustimmen. Der Impotente kann sich noch weiterentwickeln, der Kastrat hingegen nicht mehr. In der justinianischen Zeit wird die Impotenz ein Grund für die Scheidung sein75. Die Frist wird später noch auf drei Jahre ausgedehnt 76. Biondi vertritt, dass das römische Recht dieses Ehehindernis nicht gekannt hat 77. Nach seiner Auffassung entsteht dieses Ehehindernis erst im Christentum, da die Zeugung das erste Ziel der Ehe ist78. In den Nov. 22, 6 wird die Frage der Impotenz geregelt. Gemäss dem Text kann aber auch hier noch nicht von einem Nichtigkeitsgrund gesprochen werden. Der Text besagt Folgendes: Aus einer gerechten Ursache wird die Ehe getrennt, wenn ein Ehemann seiner Frau beizuwohnen und ihr die eheliche Pflicht zu leisten nicht vermag. Ist vom Zeitpunkt des Eingehens der Ehe an ein zweijähriger Zeitraum verflossen, ohne dass er gezeigt hat, dass er in der Tat ein Mann sei, so ist, wie wir bereits in einem anderen Gesetz verordnet haben, der Frau und deren Anverwandten vergönnt, auch wider den Willen des Mannes die Ehe zu trennen. In diesem Fall erhält die Frau die bestellte dos zurück, der Mann muss sie ihr herausgeben, und dieser behält die donatio propter nuptias oder ante nuptias, indem auch er einigen Verlust an seinem Vermögen nicht erleiden soll. Nur insofern ändern wir dieses frühere Gesetz einigermaßen ab, als wir die von der Zeit der Eingehung der Ehe an zu rechnende Frist von zwei Jahren auf drei Jahre ausgedehnt wissen wollen. Wir haben nämlich seit dem Erscheinen jenes Gesetzes
72
Robleda, El matrimonio, ebd., S. 150.
73
Vgl. Kontroversen über diese Frage, in: Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 149 ff.
74
Vgl. Kaser, RPR I (Anm. 3), S. 314.
75
Vgl. C. 5, 17, 10 (Imp. Iustinianus A. Menae pp.; a. 528).
76
Vgl. Nov. 22, c. 6.
77
Vgl. DRC III (Anm. 56), S. 93, FN 1.
78
Vgl. ebd. (Anm. 56) und C. 5, 1, 5, 3 (472) Hier geht es um die Möglichkeit der Auflösung des Verlöbnisses aufgrund der Zeugungsunfähigkeit.
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die Erfahrung gemacht, dass Männer, welche länger, als zwei Jahre impotent gewesen waren, nachmals zum Kinderzeugen fähig geworden sind. 4. Die Einwilligung des Gewalthabers Bei den Ehevoraussetzungen muss noch die Zustimmung des Gewalthabers genannt werden. Diese wird an der Paulus-Stelle D. 23, 2, 2 (Paul. 35 ad ed.) klar betont: Nuptiae consistere non possunt nisi consentiant omnes, id est qui coeunt quorumque in potestate sunt. (Eine Heirat kann nicht bestehen, wenn nicht alle einwilligen, d. h., die, die sich vereinigen und die, unter deren Gewalt sie stehen.
Eine andere Stelle zeigt uns dies noch viel klarer: Eorum qui in potestate patris sunt sine voluntate eius matrimonia iure non contrahuntur, sed contracta non solvuntur: contemplatio enim publicae utilitatis privatorum commodis praefertur (Sent. Paul, 2, 19, 2). Die Ehe derjenigen, die unter der Hausgewalt des Vaters stehen, entsteht von Rechtes wegen ohne die Einwilligung des Vaters nicht, aber wenn sie schon geschlossen ist, wird sie nicht mehr aufgehoben. Die Sicht des öffentlichen Nutzens wird dem Wohl der Privaten vorgezogen.
Aus diesem Text ist ersichtlich, dass diejenigen, die unter Hausgewalt stehen, die Erlaubnis des Gewalthabers brauchen. Sie müssen aber auch selber ihren Ehewillen abgeben, so auch die Tochter, die unter der patria potestas steht79. Diese Gewalt wird bei schon verheirateten Kindern nicht mehr eine Ehe rückgängig machen können. Es handelt sich um eine Ehevoraussetzung, dessen Fehlen die Ehe nicht ungültig macht. Mit dem Erfordernis des Ehewillens ist vereinbar, dass der pater familias den Sohn zur Heirat zwingt 80. Nach der lex Iulia de maritandis ordinibus kann der Vater gezwungen werden, seinem Kind die Ehe zu gestatten81. Ausnahmsweise wird sogar auf die Zustimmung ganz verzichtet82. 79
Dies wurde von Solazzi in: SD 5 (1939), S. 471 ff. bestritten: Er behauptete, dass der pater familias die eigene Tochter ohne ihre Einwilligung verheiraten darf, ja sogar gegen ihre Einwilligung. Diese Theorie scheint falsch zu sein und kann von den Rechts quellen nicht bestätigt werden. Dazu E. Volterra, in: RIDA I (1948), S. 213 ff. und besonders Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 106 ff. 80
D. 23, 2, 21 u. 22 (Terent. Clem. 3 ad leg. Iul. et Pap.); siehe auch C. 5, 4, 12 u. 14.
81
Vgl. D. 23, 2, 19 (Marcian. 16 inst.).
82
Dies ist der Fall, wenn Kriegsgefangenschaft des pater familias vorliegt. Siehe D. 23, 2, 9, 1–11 und D. 49, 15, 12, 3. Zur Geisteskrankeit des pater familias vgl. Inst. I, 10 pr und C. 5, 4, 25.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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Der Ehewille ist aber das absolut notwendige und einzige konstitutive Element der Ehe. Er ist die Ursache der Entstehung der Ehe. Es gibt viele Stellen, die das bestätigen. Auch Kaser83 betont diesen Ehewillen, aber er behauptet, dass dazu das Zusammenleben auch ein konstitutives Element der Ehe sei. All diese genau festgelegten Ehevoraussetzungen deuten auf einen klaren Rechtscharakter der Ehe hin. In der klassischen Zeit war für die Eingehung der Ehe die Zustimmung des Gewalthabers notwendig84. Bezüglich der personae alieni iuris kann Folgendes bemerkt werden: Die allgemeine Regel war, dass es sowohl in der klassischen Zeit wie auch in der nachklassischen Zeit die Einwilligung des Vaters gebraucht hat85. Dies galt auch für die zweite Ehe86. Robleda sieht im Grund dieser Einwilligung die potestas des Vaters, d. h. seine Entscheidungsfähigkeit, ob ein neues Mitglied in seine Familie eintreten kann, und weniger den Schutz der Kinder vor falschen Entscheidungen87. Neben dem Konsens der Brautleute selbst wird die Zustimmung des Gewalthabers verlangt. Es tritt nun die Veränderung ein, dass das Fehlen der Zustimmung des Gewalthabers die Ehe nach westlicher Handhabung nicht mehr ungültig macht88. Die Zustimmung der Partner ist immer noch wesentlich, dies zeigt sich an folgender Tatsache: Wird aufgrund einer nur vorgespiegelten Zustimmung der Braut eine kaiserliche Dispens erwirkt, ist die Ehe nichtig, und der Täter wird bestraft89. Bezüglich der personae sui iuris brauchte es weder in der klassischen noch nachklassischen Zeit die Einwilligung des Vaters. Auch der emanzipierte Unmündige kann schon in der klassischen Zeit ohne Einwilligung des Vaters heiraten90. Schwieriger lag die Frage bei der Tochter. Ist die Braut noch nicht 25 Jahre alt, bedarf es, auch wenn sie emanzipiert ist, der Zustimmung ihres Va-
83
Kaser, RPR I (Anm. 3), S. 314.
84
Die genaue Rechtsregelung vgl. in: Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 155–168.
85
D. 23, 2, 2 (Paul. 35 ad ed.); Ulp. 16, 2; Inst. I, 10 pr.
86
D. 23, 2, 18 (Iul. 16 digest.).
87
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 157.
88
Vgl. Sent. Paul. 2, 19, 19, 2 mit IP 2, 20, 2.
89
Vgl. CTh 3, 10, 1 (409); C. 5, 8, 1 (a. 409).
90
D. 23, 2, 25 (Mod. 2 reg.).
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ters91 oder, wenn er verstorben ist, der der Verwandten (propinqui); sind sie sich uneinig, gibt bei Stimmengleichheit die Mutter den Ausschlag92. Die Kirche anerkennt grundsätzlich die Vorschriften des staatlichen Rechts, obschon sie sich gegen den Ehezwang der Volksrechte stellt. Basilius der Große (330–379) hält die Ehe ohne väterliche Einwilligung für ungültig, ein Grundsatz, der von Leo dem Großen (440 –461) bestätigt wird93. Die erste irische Synode (450–456) des Hl. Patrick bestätigt in can. 27 die väterliche Gewalt, verlangt jedoch, dass die Tochter der vom Vater gewollten Ehe zustimme (voluntas virginis). Die Patristik aber gibt der Einwilligung der Eltern einen neuen Inhalt, den das klassische römische Recht nicht gekannt hat.. Es handelt sich nicht mehr um eine reine Gewalt des pater familias, sondern vielmehr um den Schutz der zukünftigen Ehepartner vor gefährlichen Unterfangen. Biondi vertritt auch, dass sich der Inhalt der patria potestas in dieser Zeit stark geändert habe. Die Aufgabe des pater familias wird nun mehr eine schützende Aufgabe bezüglich seiner Kinder. Es wird in der justinianischen Zeit eine Tendenz sichtbar, der Einwilligung des pater familias ihren absoluten und autoritären Charakter wegzunehmen94. Somit wird die Einwilligung des Gewalthabers aufgrund der patria potestas geschwächt und die Aufmerksamkeit wird auf die unmündigen Kinder gelegt, vor allem auf die Töchter. Hier sollen einige Beispiele aufgezeigt werden: Die noch nicht 25 Jahre alte Witwe kann nicht ohne Einwilligung des Vaters heiraten 95. Das Prinzip wird verallgemeinert: Die unmündige Tochter sui iuris braucht die Einwilligung des Vaters, oder wenn diese fehlt, die der Mutter96 und weiterer Verwandter97. Wenn dies nicht eingehalten wird98, ist die Ehe zwar nicht nichtig, aber der das Gebot 91 C 3, 7, 1 pr (371); C. 5, 4, 18 pr.; Zur Wiederverheiratung der Witwe siehe auch C. 5, 4, 20 pr. (409). Siehe zu diesem Thema vor allem J. U. Krause, Witwen und Waisen im römischen Reich, I, Stuttgart 1994, S. 74 ff. 92 CTh 3, 7, 1, 1; C. 5, 4, 18, 1 mit IT; C. eodem 20 pr. / I cit; Nov. 22, 19 (536); Vgl. Merêa, Le mariage „sine consensu parentum“ dans le droit romain vulgaire occidental, in: RIDA 5 (1950), S. 203–217. 93
Plöchl, Geschichte I (Anm. 52), S. 228.
94
DRC III (Anm. 56), S. 98.
95
C. 5, 4, 18 (371). Siehe auch CTh. 3, 7, 1.
96
Augustinus, Ep. 255 in: CSEL. 57, 602.
97 In diesem Sinne drückt sich Ambrosius, De virginibus, I, 9, 56 und 10, 58 (PL 16, 204 und 205); De virginitate, 5, 25 (PL 16, 272) aus. 98
Vgl. C. 5, 7, 1 siehe auch CTh. 3, 11, 1.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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verletzt hat, bekommt eine Strafe. Siehe auch C. 3, 10, 1, wo voluntas patrum genannt wird. Justinian verlangt die Einwilligung für Kinder, die in potestate sind oder auch schon emanzipiert sind, in Nov. 22, 19. Er stellte vor allem die Bestimmung auf, dass Kinder zum Nachteil ihrer Eltern keine Ehe auflösen können. IV. Die Ehehindernisse Es gibt schon im römischen klassischen Recht genau festgelegte Ehehindernisse. Ehehindernisse sind Umstände, die dem Zustandekommen einer gültigen Ehe entgegenstehen. Bei diesen Ehehindernissen darf man aber nicht wie Huber annehmen, dass es sich in der Klassik um ein impedimentum im technischen Sinn handelt99. Die Frage des Wesens des impedimentum ist in der Doktrin umstritten. Huber vertritt, dass es sich um ein technisches impedimentum handelt, das nur ein Umstand ist, der vom positiven Recht zur Gültigkeit der Ehe verlangt wird. Es berühre nicht die Ursache (Konsens) der Ehe, sondern den Effekt des Konsenses. Der Konsens sei gesetzt, aber er könne wegen des entgegenstehenden Hindernisses nicht seine Wirksamkeit entfalten. Entfalle er oder werde davon dispensiert, dann würde die Ehe ohne erneute Konsensabgabe gültig, was ohne Existenz des Konsenses nicht möglich wäre. Es scheint hingegen, dass die römischen Juristen das impedimentum nicht in diesem technischen Sinne kannten. Es stellt sich die Frage, ob man diesen Unterschied zwischen Inexistenz der Ehe (wegen mangelnden Konsenses) und Nichtigkeit überhaupt machen soll. Es scheint, dass der Begriff impedimentum sich technisch erst in der spätklassischen Zeit entwickelt hat, obschon vorher einige Umstände bereits da waren. Die Nichtigkeit im römischen Recht ist zwar bekannt, aber eine genaue technische Begriffsdefinition fehlt. Bezüglich der Ehe kennt man den Begriff impedimentum100 und auch das Verb impedire101, aber es handelt sich nicht um den technischen Sinn, den es erst nach dem klassischen kanonischen Recht erworben hat. Tatsache ist aber, dass das römische klassische Recht gewisse Ehehindernisse gekannt hat. Ob man schon sagen kann, dass es relative und absolute Ehehindernisse gibt, ist in der Lehre diskutiert worden. Klar ist, dass die Festlegung 99 J. Huber, Der Ehekonsens im römischen Recht, Rom 1977, S. 77 f. Dies wird auch zu Recht von Th. Mayer-Maly, in: AfkKR 147 (1978), S. 617–619 kritisiert. 100 101
Gai. Inst. I, 61; D. 24, 1, 3, 1 (Ulp. 32 ad Sab.).
D. 23, 2, 17 pr (Gai. 11 ad ed. prov.) und Gai. I, 55; D. 23, 2, 60, 4 (Paul. lib. sing. ad orationem divi Antonini et Commodi); Sent. Paul. 2, 19, 4 und Inst. Iust. I, 10, 3.
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von Ehehindernissen auf den Rechtscharakter deutet, sowohl vom Wesen her gegeben als auch positivrechtlich festgelegt. Im spätklassischen und justinianischem Recht wird dann eine Erschwerung der schon bestehenden Ehehindernisse der klassischen Zeit ersichtlich. 1. Die Frage, ob das Eheband schon ein Ehehindernis darstellt Die Ehe der Römer ist in der klassischen Zeit klar monogam. Das zeigt Gaius in den Institutionen I, 63, in welchen dies folgendermassen ausgedrückt wird: Item amitam et marterteram uxorem ducere non licet. Item eam quae mihi quondam socrus aut nurus aut privigna aut noverca fuit. Ideo autem diximus „quondam“, quia si adhuc constant eae nuptiae, per quas talis adfinitas quaesita est, alia ratione mihi nupta esse non potest, quia neque eadem duobus nupta esse potest, neque idem duas uxores habere102. Ebenso ist es nicht erlaubt, die Tante väterlicherseits oder die Schwester der Mutter zu heiraten; auch nicht eine Frau, die einmal meine Schwiegermutter, Schwiegertochter, Stieftochter oder Stiefmutter war. Ich habe aber „einmal“ gesagt, denn wenn die Ehe noch besteht, durch die ein solches Verwandtschaftsverhältnis zustande gekommen ist, kann sie aus einem anderen Grund nicht meine Frau sein, nämlich weil eine Frau nicht zwei Männer oder ein Mann zwei Frauen haben kann.
Die Ehe des schon Verheirateten ist somit nichtig, ihre Eingehung macht aber nur infam, nicht strafbar. Die Bigamie ist in der klassischen Zeit noch kein Straftatbestand, da die zweite Ehe die erste durch die Aufgabe des Konsenses beendet. Aus diesem Grund wird in der Lehre oft vertreten, dass das Eheband in der klassischen Zeit noch kein Ehehindernis darstellt. Die Freiheit der Scheidung ist in der klassischen Zeit gegeben, somit wird eine Ehe aufgelöst, wenn der Ehewille nicht mehr vorhanden ist. Volterra vertritt, dass das Ehehindernis erst in der nachklassischen Zeit entstanden ist 103; Robleda hingegen spricht sich für das Bestehen dieses Ehehindernisses in der klassischen Zeit aus 104. Wie dem auch sei: klar ist, dass das monogamische Prinzip schon in der klassischen Zeit bezüglich der Ehe herrscht. In der spätklassischen und justinianischen Zeit wird das Eheband zum Ehehindernis: In der spätklassischen Zeit findet man in den Rechtsquellen das Ehehindernis des schon bestehenden Ehebandes in einigen Texten. Im ersten Text spricht man von dem Ehehindernis der Schwägerschaft, um dann aber konkret 102
Gai. Inst. I, 63.
103
Istituzioni di diritto privato, Roma 1961, S. 660.
104
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 180.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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zu sagen, dass eine bestehende Ehe es unmöglich macht, eine weitere einzugehen. In Inst. 1, 10, 6 wird Folgendes ausgesagt: Ut ecce privignam aut nurum uxorem ducere non licet, quia utraque filiae loco sunt. quod scilicet ita accipi debeat, si fuit nurus aut privigna: nam si adhuc nurus est, id est si adhuc nupta est filio tuo, alia ratione uxorem eam ducere non possis, quia eadem duobus nupta esse non potest: item si adhuc privigna tua est, id est si mater eius tibi nupta est, ideo eam uxorem ducere non poteris, quia duas uxores eodem tempore habere non licet. Zum Beispiel ist es nicht erlaubt, eine Stieftochter oder eine Schwiegertochter zur Frau zu nehmen, da beide die Stellung einer Tochter haben. Dies gilt natürlich nur dann, wenn sie Schwiegertochter oder Stieftochter gewesen ist. Denn wenn sie noch Schwiegertochter ist, das heißt, wenn sie noch mit deinem Sohn verheiratet ist, dann könntest du sie schon aus einem anderen Grunde nicht zur Frau nehmen, weil dieselbe Frau nicht mit zwei Männern verheiratet sein kann. Und auch wenn sie noch deine Stieftochter ist, das heißt, wenn ihre Mutter noch mit dir verheiratet ist, kannst du sie deshalb nicht zur Frau nehmen, weil man nicht zwei Ehefrauen zur gleichen Zeit haben darf105.
Robleda vertritt, dass dieses Ehehindernis schon in der klassischen Zeit bestanden hätte, was die Institutionen des Gaius in I, 63 bestätigen. Gaius hätte nichts anderes als Justinian gesagt106. Schon damals galt klar das monogamische Prinzip107. Hingegen vertritt Volterra, dass das Ehehindernis erst nachklassisch
105
Vgl. auch Inst 1, 10, 7. Auch in Texten aus dem Codex gibt es klare Stellen dazu; vgl. C. 5, 5, 2 (Impp. Diocletianus et Maximianus AA. Sebastianae; a. 285]: Neminem, qui sub dicione sit Romani nominis, binas uxores habere posse vulgo patet, cum et in edicto praetoris huiusmodi viri infamia notati sint. quam rem competens iudex inultam esse non patietur. Dass niemand, der unter römischer Herrschaft lebt, zwei Frauen zur gleichen Zeit ha ben kann, ist allgemein bekannt: da auch in dem Edikt des Prätors dergleichen Männer mit der Infamie bezeichnet sind. Eine solche Handlung darf der Richter nicht ungestraft dulden. Vgl. auch: C. 1, 9, 7. 106 Ebd. (Anm. 105). 107
Über das Prinzip der Monogamie in Rom vgl. F. Schupfer, La famiglia secondo il diritto romano, I, Padova 1876, S. 59 ff.; vgl. Volterra, Una misteriosa legge attribuita a Valentiniano I, in: Studi in onore di V. Arangio Ruiz, III, Neapel, 1953, S. 139 ff. Es hätte ein Gesetz von Valentianus I. gegeben. Volterra bejaht es, andere verneinen es. Es scheint eher unwahrscheinlich, dass es solch ein Gesetz gegeben hätte.
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entstanden ist, da es sich nun um einen Initialkonsens handelt 108. Auch D’Avack vertritt diese Theorie109. Wer somit gültig verheiratet ist, kann keine zweite Ehe eingehen. Dieses Prinzip wird nun schärfer geregelt. Dies ist vor allem gegenüber solchen Untertanen notwendig, deren Religion die Polygamie zulässt. Es geht zum Beispiel gegen die Juden, die eben nach dem Mosaischen Recht mildere Bestimmungen bezüglich der Möglichkeit der Vielehe und Scheidbarkeit der Ehe als das römische Recht hatten. Man sieht, dass die Lossagung des Ehekonsenses der ersten Ehe nicht mehr genügt. Es begründet die bestehende Ehe für die zweite einen selbständigen Nichtigkeitsgrund. Die Nichtigkeit ist in den Quellen nur indirekt zu finden, sie folgt aus dem monogamischen Prinzip, behauptet Volterra110. Dieses Ehehindernis zeigt klar, wie sich der Rechtscharakter der Ehe verfestigt. Die Eheschließung bewirkt ein Eheband, das zum Hindernis für eine weitere Ehe wird. Die römischen Juristen erwähnten nicht oft das Eheband, das die beiden Ehepartner verbunden hat111. Sie sahen zwar die Ehe als eine Gemeinschaft an, aber diese konnte wegen der leichten Scheidbarkeit von kürzerer Dauer sein. Die Kirchenväter hingegen erwähnen das Eheband sehr oft in ihren Texten. Erstens, da das christliche Eheverständnis die Ehe als unauflösbar verteidigt und somit das Eheband viel stärker ist als das nach der römischen Auffassung der Ehe. Die Bindung wird als positiv bewertet 112. Es wird auch immer wieder
108
Vgl. Volterra, Istituzioni (Anm. 103), S. 660: „Questo impedimento vale solo per il diritto postclassico, ove, dato il nuovo concetto del matrimonio basato su di un consenso iniziale, sarebbe stato impossibile formare una seconda unione coniugale senza aver previamente sciolto la prima. Nel diritto classico ove il matrimonio dipendeva dalla persistenza della volontà effettiva dei coniugi, tale situazione non poteva di fatto verifi carsi, avrebbe significato necessariamente la cessazione dell’affectio nella prima unione coniugale, e quindi avrebbe avuto come consequenze lo scioglimento di questa.“ 109
Vgl. in: Il „ligamen sei vinculum prioris matrimonii“ nelle fonti e nella dottrina classica della Chiesa: Studi in memoria di S. Zanobini, IV, Mailand 1965, S. 194. 110
Volterra, Studi in memoria di Umberto Ratti, S. 431 ff.
111
Gaudemet, L’Église (Anm. 32), S. 551.
112
Ambrosius, De Virginitate, 6, 33 (PL 16, 274); De viduis, I, 11 (PL 16, 254–255) und Exhortatio virginitatis, 4, 21 (PL 16, 342); Exameron V, 7, 18 (CSEL 32, 1, 153).
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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betont, dass man dieses Band nicht lösen kann 113. Auch ist dieses Band gegenseitig, Mann und Frau sind daran gebunden114. 2. Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft Die Blutsverwandtschaft ist schon dem klassischen Recht als Ehehindernis bekannt. Dieses wurde nicht so sehr auf das Gesetz gestützt, sondern auf die Gewohnheiten und die guten Sitten. So ist folgender Text in D. 23, 2, 39, 1 (Paul. 6 ad Plaut) interessant: Si quis ex his, quas moribus prohibemur uxores ducere, duxerit, incestum dicitur committere. Wenn jemand eine von den Frauen geheiratet haben wird, die wir zu Ehefrauen zu nehmen, durch die Sitte abgehalten werden, so sagt man, dass er eine Blutschande begehe.
Auch D. 23, 2, 8: (Pomp. 5 ad Sab.) bestätigt dies: Libertinus libertinam matrem aut sororem uxorem ducere non potest, quia hoc ius moribus, non legibus introductum est. Ein Freigelassener kann seine freigelassene Mutter oder Schwester nicht als Ehefrau heimführen, weil dieses Recht durch die Sitte, nicht durch die Gesetze eingeführt worden ist.
Die Blutsverwandtschaft wurde auch bei sporadischen Kontakten, Konkubinat und Beziehungen unter Sklaven berücksichtigt115. Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft galt in der klassischen Zeit in gerader Linie unbeschränkt, in der Seitenlinie vorklassisch bis zum 6. Grad, klassisch bis zum 3. Grad. Theodosius hat es wieder etwas ausgeweitet, nämlich bis zum 4. Grad. Dieses Ehehindernis hat den Sinn, Geschlechtsverkehr wegen incestum zu verbieten. Die Verwandtenehe wird in Coll. 6, 4, 2 (Gregorianus libro quinto sub titulo de nuptiis) beschrieben. Seit der klassischen Zeit ist jede Ehe in gerader Linie nicht möglich. Dies bleibt auch klar für die justinianische Zeit. So heißt es in den Institutionen I, 10, 1 folgendermaßen: Ergo non omnes nobis uxores ducere licet: nam quarundam nuptiis abstinendum est. inter eas enim personas, quae parentum liberorumve locum inter se optinent, nuptiae 113
Hieronymus, Comm. in Evangelium Matthei III, c. 19 (PL 26, 140).
114
Hieronymus, Comm. in Epistolam ad Ephesios, III, 5 (PL 26, 552).
115
D. 25, 7, 1, 3 (Ulp. 2 ad Leg. Iul. et Pap.) und D. 23, 2, 14, 2–3 (Paul. 35 ad ed.).
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Gabriela Eisenring contrahi non possunt, veluti inter patrem et filiam vel avum et neptem vel matrem et filium vel aviam et nepotem e usque ad infinitum: et si tales personae inter se coierint, nefarias atque incestas nuptias contraxisse dicuntur. Wir dürfen nun aber nicht jede Frau zur Ehefrau nehmen. Denn der Ehe mit einigen Frauen müssen wir uns enthalten. Es kann nämlich zwischen den Personen, die untereinander die Stellung von Eltern und Kindern haben, keine Ehe geschlossen werden, zum Beispiel zwischen Vater und Tochter oder Großvater und Enkelin oder Mutter und Sohn oder Großmutter und Enkel und endlos weiter. Und wenn solche Personen sich miteinander verbinden, so sagt man, dass sie eine frevelhafte und blutschänderische Ehe eingegangen sind.
Das Gleiche wird auch in C. 5, 4, 17 (Impp. Diocletianus et Maximianus AA. et CC.; 295) ausgedrückt: Nemini liceat contrahere matrimonium cum filia nepte pronepte, itemque matre avia proavia et ex latere amita ac matertera, sorore sororis filia et ex ea nepte, praeterea fratris filia et ex ea nepte, itemque ex adfinibus privigna noverca nuru socru ceterisque, quae iure antiquo prohibentur: a quibus cunctos volumus abstinere. Niemandem soll es erlaubt sein, eine Ehe einzugehen mit seiner Tochter, Enkelin oder Urenkelin, desgleichen mit seiner Mutter, Großmutter oder Urgroßmutter und in der Seitenlinie mit seinem Vater oder seiner Mutter Schwester, seiner Schwester, der Tochter seiner Schwester und der von dieser geborenen Enkelin (seiner Schwester), ferner mit der Tochter seines Bruders und der von dieser geborenen Enkelin (seines Bruders); desgleichen von den Verschwägerten und den übrigen, die nach dem alten Recht verboten sind: von all diesen wollen wir uns enthalten.
Aus diesem Text wird ersichtlich, dass das Ehehindernis in der Seitenlinie nun bis zum dritten Grad vorgeschrieben war. Man zählte in der klassischen Zeit die Grade aufgrund der Zahl der Generationen 116. Zwischen Geschwistern galt es auf der Seitenlinie im zweiten Grad, es gab in der Seitenlinie keinen ersten Grad117. Onkel und Nichte waren im dritten Grad der Seitenlinie verwandt. Hingegen gab es kein Ehehindernis zwischen den Kindern von zwei Geschwistern, dies wäre schon der 4. Grad in der Seitenlinie gewesen118. Diese Regelung ist aber nicht sehr klar. Es gibt andere Texte, die etwas Gegensätzliches zu sagen scheinen; Paulus Sent. 2, 19, 3 etwas anderes: Inter parentes et liberos iure civili matrimonia contrahi non possunt: nec filiam sororis aut neptem uxorem ducere possumus: proneptem aetatis ratio prohibet. 116
Vgl. D. 38, 10, 1, 1(Gai. 8 ad ed. Prov.).
117
Vgl Gai. 1, 3, 6 in fine.
118
Dies beschreibt schon Gaius in Inst.1, 61–63 und auch Ex tituli Ulp. 5, 6.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
97
Zwischen Eltern und Kindern kann gemäß zivilem Recht die Ehe nicht geschlossen werden; wir können weder die Tochter der Schwester noch den Neffen heiraten: die Vernunft verbietet wegen des Alters auch die Urenkel 119.
Hier gibt es einen Widerspruch, da der Onkel mit der Nichte im 4. Grad verwandt wäre. Robleda vermutet, dass diese Texte nicht sehr glaubwürdig sind, d. h. dass eine Ehe wirklich nur bis zum dritten Grad in der klassischen Zeit verboten war120. Gegenüber dem klassischen Recht gibt es somit in diesem Bereich im nachklassischen Recht keine großen Änderungen. In der geraden Linie gibt es gar keine Änderung, wie der Text der Institutionen Justinians klar bezeugt. Man musste in der Seitenlinie die Bestimmung des SC Claudianum abschaffen, der auch die Ehe im 3. Grad der Seitenlinie erlaubte. Dieses hatte der Kaiser Claudius im Jahr 49 eingeführt, damit er selber Agrippina, die Tochter seines Bruders Germanicus heiraten konnte121. Das SC wurde in der nachklassischen Zeit durch Konstantin im Jahr 342 in CTh 3, 12, 1 abgeschafft. Die entsprechende Stelle ist im Codex von Justinian nicht wiedergegeben. In der Lehre ist man sich nicht einig, ob diese Änderung aufgrund christlichen Einflusses oder aufgrund anderer Gründe erfolgt ist122. Während der nachklassischen Zeit wird das Ehehindernis zwischen Cousin und Cousine auf den 4. Grad durch Theodosius ausgeweitet 123. Arcadius hob dieses Gesetz für den Osten wieder auf, während es im Westen bis Justinian bleibt, aber man kann von diesem Ehehindernis mit Leichtigkeit durch Reskript des Kaisers dispensiert werden124. Justinian kehrt dann wieder zur klassischen Disziplin zurück, was in C. 5, 4, 19 (Impp. Arcadius et Honorius AA. Eutychiano pp.; a. 405) gezeigt wird: Celebrandis inter consobrinos matrimoniis licentia huius legis salubritate indulta est, ut revocata prisci iuris auctoritate restinctisque calumniarum fomentis matrimonium inter consobrinos habeatur legitimum, sive ex duobus fratribus sive ex duabus sororibus, sive ex fratre et sorore nati sunt, et ex eo matrimonio editi legitimi et suis patribus successores habeantur. 119
Vgl. auch D. 23, 2, 39 (Paul 6 ad Plaut.).
120
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 182 ff.
121
Vgl. Vgl. Tacitus, Ann. 12, 5–7; Ulp. 5, 6 und Gai. Inst. I, 62.
122
Vgl. auch diesbezüglich CTh 3, 12, 3 (396) wurde auch in C. 5, 5, 6 (396) wiederge geben.; C. 5,5, 9 (476–484); C. 5, 8, 2 (381). Vgl. auch C. 5, 4, 17 (295) und I, 1, 10, 3. 123 124
Vgl. CTh. 3, 10, 1 und auch Gai. Epitome 1, 4, 6.
Vgl. P. Bonfante, Corso I (Anm. 56), S. 276; Jean Gaudemet, Droit privé romain, Montchrestien 1998, S. 191.
98
Gabriela Eisenring Zur Vollziehung von Ehen zwischen Geschwisterkindern ist durch gegenwärtiges heilsames Gesetz die Erlaubnis bewilligt dergestalt, dass unter Wiederherstellung des Ansehens des alten Rechts und Unterdrückung hinterlistiger Anklagen eine Ehe zwischen Geschwisterkindern für rechtmäßig zu erachten ist, es mögen dieselben von zwei Brüdern, oder von zwei Schwestern, oder von einem Bruder und einer Schwes ter entsprossen sein. Die aus einer solchen Ehe Geborenen sollen als rechtmäßige Kinder und Erben ihrer Väter erachtet werden.
Etwas Ähnliches sagt auch Justinian in den Institutionen 1, 10, 4: Duorum autem fratrum vel sororum liberi vel fratris et sororis iungi possunt. Aber die Kinder zweier Brüder oder die zweier Schwestern oder von Bruder und Schwester können sich ehelich verbinden.
Die Kirche übernimmt die Regelung des römischen Rechts ohne Probleme. Auch in der Frühkirche ist dieses Prinzip sehr klar. Schon der Leviticus 18, 9, 12 und 13 hat gewisse Verbote bezüglich der Verwandtschaft gehabt. Es gibt einen klaren Einfluss des hebräischen Rechts125. In der direkten Linie ist die Ehe verboten und in der Seitenlinie bis zur Schwester, sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits. Diese Bestimmungen finden auf alle Christen Anwendung, auch auf jene, die vom Heidentum gekommen sind. Dies wird in der Apostelgeschichte erwähnt126. Es ist ja gerade in den anderen Bereichen der griechischen, ägyptischen und asiatischen Welt nicht so; dort ist das Eheverbot wegen Blutsverwandtschaft sehr eingeschränkt. Somit kann die Urkirche gerade das Prinzip der Exogamie durch das römische Recht durchsetzen 127. Gerade das römische, klassische und dann das nachklassische und justinianische Recht hatten das Eheverbot der Blutsverwandtschaft in der direkten Linie bis zu den Cousinen. Es handelt sich somit um eine Regelung, die in der geraden Linie auf dem Naturrecht beruht und in der Seitenlinie auch bis zu einem gewissen Grad. Wir beobachten also, dass eine gewisse Erweiterung bezüglich des Eheverbotes der Blutsverwandtschaft eintritt und dass nicht von einem großen Einfluss des römischen Rechts gesprochen werden kann. Die Kirche hat die Bestimmung des römischen Rechts übernommen. In Bezug auf Onkel und Nichte 2. Grades ist der Fall sehr klar, es wird auch in den Institutionen Justinians gesagt (Inst. I, 10, 3):
125
Munier, L’Église (Anm. 58), S. 24.
126
Apg 15, 20, 29.
127
Dauvillier, Les temps apostoliques (Anm. 34), S. 369.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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Fratris vel sororis filiam uxorem ducere non licet. Sed nec neptem fratris vel sororis ducere quis potest, quamvis quarto gradu sint: cuius enim filiam uxorem ducere non licet, eius neque neptem permittitur. Die Tochter des Bruders oder der Schwester darf man nicht zur Frau nehmen. Aber man kann auch nicht die Enkelin seines Bruders oder seiner Schwester zur Frau nehmen, obwohl sie nur im vierten Grad verwandt sind. Wessen Tochter man nämlich nicht zur Frau nehmen darf, dessen Enkelin darf man auch nicht heiraten 128.
Es gibt noch einen anderen interessanten Text in C. 5, 4, 4 (Imp. Alexander A. Perpetuo; a. 228) bezüglich eines gewissen Ehehindernisses, das irgendwie dem im Kirchenrecht anerkannten der publica honestitas ähnlich ist: Liberi concubinas parentum suorum uxores ducere non possunt, quia minus religiosam et probabilem rem facere videntur. qui si contra hoc fecerint, crimen stupri committunt. Kinder können die Konkubinen ihrer Väter nicht heiraten, da sie sich dadurch zwei felsohne einer gottlosen und missfälligen Handlung schuldig machen. Wer gegen diese Vorschrift handelt, verübt das Verbrechen der Unzucht.
Dieser Text zeigt bis zu einem gewissen Grad, dass das angesprochene Verbot mit der Blutsverwandtschaft zu tun hat und ein Schutz vor Inzest war. Dies trifft aber nur zu, wenn es sich um die natürliche Mutter oder sonst um eine Verwandte handelt. Die Kirche übernimmt das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft ohne Probleme, da sie dieses für ihre Gläubigen auch schon kannte 129. Auf diesem Gebiet hatte das hebräische Recht einen Einfluss auf die frühe Kirche ausgeübt. Das Eheverbot wegen der Blutsverwandtschaft war für alle Gläubigen ein Gebot. Auch im 4. und 5. Jahrhundert äußert sich die Kirche nicht besonders darüber. Das römischrechtliche Eheverbot widersprach nicht der christlichen Moral 130. Biondi vertritt, dass die Ausweitung des Ehehindernisses durch den Einfluss der kirchlichen Ordnung erfolgt sei131, denn diese sei strenger als die römischrechtliche und auch die mosaische Gesetzgebung gewesen. Man hat aber darüber keine sicheren Belege.
128
Vgl. auch dazu andere Texte in diese Richtung: C. 5, 4, 17 (295); Paul. Sent. 2, 19, 3; Coll. 6, 4, 5. 129
Vgl. zu dieser Frage Munier, L’Église (Anm. 58), S. 24–25 für das 2. und 3. Jahrhundert. 130
Gaudemet, L’Église (Anm. 32), S. 524 ff.
131
DRC III (Anm. 56), S. 94 f.
100
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3. Weitere Ehehindernisse Ein anderes Ehehindernis ist die Schwägerschaft (adfinitas). Es handelt sich um das durch die Eheschliessung begründete, verwandtschaftsähnliche Verhältnis des einen Ehegatten zu einem Verwandten des anderen. Zuerst nur in gerader Linie, d. h. zwischen Stiefeltern und Stiefkindern, Schwiegereltern und Schwiegerkindern132 geltend, wurde die Verwandtschaft später in der nachklassischen Zeit bis zum 2. Grad der Seitenlinie ausgedehnt. Die Schwägerschaft ist seit dem klassischen Recht ein Ehehindernis, wie schon gezeigt worden ist. Dieses war aber nur in gerader Linie vorhanden 133. Dieses Eheverbot kommt schon in Gai. I, 58 –63 vor. Dort ist das Verbot in direkter Linie auf Schwiegermutter, Schwiegertochter, Stiefmutter und Stieftochter beschränkt. Die Kirche übernimmt dieses Eheverbot bis zu einem gewissen Grad. Die Konzile von Spanien und in den Provinzen Asiens anerkennen und regeln dieses Ehehindernis. Das Konzil von Elvira spricht die Exkommunikation von fünf Jahren für den Witwer aus, der die Schwester seiner verstorbenen Frau heiratet134. Die Verbindung mit der Stieftochter wird als incestum qualifiziert und mit einer Lebensexkommunikation bestraft135. Das Konzil von Neocäsarea legt im can. 2 136 fest, dass eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes einen seiner Brüder heiratet, für das ganze Leben exkommuniziert wird, und ebenso ihr zweiter Mann. Die Veränderung im nachklassischen Recht erfolgt in der Erweiterung auf die Seitenlinie im 2. Grad, d. h. zwischen Ehepartnern und den Geschwistern des anderen Ehepartners. So legten Konstantius und Konstantin Folgendes in CTH 3, 12, 2 (355) fest: IMPP. CONSTANT(IUS) ET CONSTANS AA. ET IULIANUS C. AD. VOLUSIANUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Etsi licitum veteres crediderunt nuptiis fratris solutis ducere fratris uxorem, licitum etiam post mortem mulieris aut divortium contrahere cum eiusdem sorore coniugium, abstineant huiusmodi nuptiis universi nec aestiment posse legitimos liberos ex hoc consortio procreari: nam spurios esse convenit qui nascentur. DAT. PRID. KAL. MAI. ROM(A) ARBITIONE ET LOLLIANE CONSS.
132
Gai. Inst. I, 63; D. 23, 2, 14, 4 (Paul. 35 ad ed.); D. 12, 7, 5, 1.
133
Vgl. D. 38, 10, 4, 4 und 8; Fr. Vat. 302.
134
C. 61.
135
C. 66.
136
Bruns, I, 71.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
101
Und wenn die Alten geglaubt hätten, dass man die Frau des Bruders zur Frau nehmen könnte, auch wenn es erlaubt war, nach dem Tod der Frau oder nach Scheidung eine Ehe mit ihrer Schwester einzugehen, sollen sie sich nun dieser Ehe allgemein enthal ten und sie können auch nicht glauben, dass sie eheliche Kinder aus dieser Verbindung erzeugen können: aus dieser entstehen spurii.
Die Interpretatio erkärt es dann auch folgendermaßen: Fratris uxorem ducendi vel uni viri duas sorores habendi penitus licentia denegatur; nam ex tali coniugio procreati filii legitimi non habentur. Es wird nicht erlaubt, die Frau des Bruders zu heiraten, und auch dem Mann ist es nicht erlaubt, zwei Schwestern zu heiraten; denn die aus solch einer Vereinigung gezeugten Kinder sind nicht eheliche Kinder.
Dieser Text zeigt eine Veränderung auf. Seine Bestimmung wird von anderen Kaisern übernommen bis einschließlich Justinian137. Was auch neu zu sein scheint, ist, dass die Schwägerschaft ebenfalls aufgrund des Verlöbnisses, des contubernium und des Konkubinats entsteht138. Somit ist nun nicht nur die Ehe ein gültiger Grund zur Entstehung der Schwägerschaft. Die Schwägerschaft war als Ehehindernis schon in der klassischen Zeit vorhanden, wie dies bereits oben gezeigt worden ist 139. Robleda vertritt, dass zur Zeit von Cicero solch eine Verbindung zwar moralisch verurteilt, aber nicht aufgrund einer rechtlichen Norm verboten wurde 140. Die erste Rechtsnorm bezüglich dieser Frage würde sich auf die Zeiten von Augustus beziehen. In diesem Sinn heißt es in D. 23, 2, 14, 4 (Paul. 35 ad ed.): … item eius matrem, quam sponsam habui, non posse me uxorem ducere Augustus interpretatus est: fuisse enim eam socrum. Desgleichen hat Augustus erklärt, dass ich die Mutter derjenigen, welche ich zur Verlobten gehabt habe, nicht heiraten könne, sie wäre nämlich meine Schwiegermutter geworden141.
137 CTh 3, 12, 3; C. 5, 5, 6 (396); C. 5, 5, 4 (415); C. 5, 5, 5 (393); C. 5, 5, 8 (475) und C. 5, 5, 9 (476–484). 138
Vgl. I. 1, 10, 9; D. 23, 2, 14, 4;(Paul 35 ad ed.); D. 23, 2, 12, 1 –2 (Ulp. 26 ad Sab.); D. 23, 2, 14, 2–3 (Paul. 35 ad ed.). 139
Vgl. D. 38, 10, 4, 3. Vgl. auch D. 38, 10, 4, 8.
140
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 189.
141
Vgl. auch D. 12, 7, 5 (Pap. 11 quaest.), wo gesagt wird, dass die Strafe, d. h. das Verbot oder das Ehehindernis iuris gentium war.
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In der klassischen Zeit gab es aber dieses Ehehindernis nur in der geraden Linie, d. h. zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter oder Schwiegermutter und Schwiegersohn; zwischen Stiefmutter und Stiefsohn oder Stiefvater und Stieftochter142. Einige Autoren behaupten, dass dieses Ehehindernis in der klassischen Zeit ad infinitum galt. Diese Frage wurde in der Lehre diskutiert. Neu wird in der nachklassischen Zeit, dass dieses Ehehindernis nun auch auf die Seitenlinie ausgedehnt wird, d. h. 2. Grades, was bedeutet zwischen Ehepartner und dessen Geschwistern. Diese rechtliche Regelung wird auch in den späteren Rechtsquellen anderer Kaiser bis zu Justinian weitergeführt 143. Aus dieser Entwicklung wird ersichtlich, dass das Ehehindernis der Schwägerschaft in der nachklassischen und justinianischen Zeit erweitert worden ist. Die Eheschließung wird somit in diesem Punkt etwas erschwert. Biondi vertritt, dass diese Erweiterung des Ehehindernisses der Schwägerschaft vom Einfluss des Christentums geprägt war144. Auch der Leviticus formuliert Eheverbote bezüglich der Schwägerschaft. Diese wurden auch wiederum wie die Blutsverwandtschaft allen Gläubigen auferlegt. Dieses Verbot galt für die Schwiegermutter, die Schwiegertochter und die Kinder der Frau, die man geheiratet hat, für die Schwägerin, solange sie lebte145. Diese Bestimmung hatte bei den Christen einen großen Einfluss. Sie erstreckte sich auch auf die Seitenlinie. Auch hier übernimmt die Kirche ein Eheverbot des klassischen römischen Rechts. Die Kirche übernimmt somit diese Ehevoraussetzung. Die Ausweitung auf die Nebenseite scheint unter dem Einfluss der Kirche stattgefunden zu haben 146. Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft wird auch verschärft. Auch die Adoption ist nach positivem Recht wie die Blutsverwandtschaft ein Ehehindernis. Bei der Seitenverwandtschaft hört das Hindernis mit dem Ende des Adoptionsverhältnisses auf. Ausserdem begründet die Eheschliessung verwandtschaftsähnliche Verhältnisse des einen Ehegatten zu den Verwandten des anderen. Zuerst nur in gerader Linie, in der nachklassischen Zeit bis zum 2. Grad der Seitenlinie. Die Adoption hat somit eine rechtlich bedeutsame Wir-
142
Gai. Inst. 1, 63.
143
Vgl. C. 5, 5, 5 (393); C. 5, 5, 9 (475).
144
DRC III (Anm. 56), S. 95.
145
Leviticus 18, 6–18; 20, 11, 14, 17, 19–21.
146
Munier, l’Église (Anm. 58), S. 25.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
103
kung auch im Eherecht. Somit bestand dieses Ehehindernis schon in der klassischen Zeit147. Die Adoption bleibt auch in der nachklassischen und justinianischen Zeit weiter ein Ehehindernis. So heißt es in Inst. I, 10, 1 folgendermaßen: et haec adeo ita sunt, ut, quamvis per adoptionem parentum liberorumve loco sibi esse coeperint, non possint inter se matrimonio iungi in tantum, ut etiam dissoluta adoptione idem iuris maneat: itaque eam, quae tibi per adoptionem filia aut neptis esse coeperit, non poteris uxorem ducere, quamvis eam emancipaveris. Und das geht so weit, dass sie sich selbst dann nicht miteinander ehelich verbinden können, wenn sie die Stellung von Eltern und Kindern durch Adoption erlangt haben, und dies sogar mit der Konsequenz, dass das auch bei Auflösung der Adoption rechtens bleibt. Deshalb kannst du die, die durch Adoption deine Tochter oder Enkelin geworden ist, nicht zur Frau nehmen, auch wenn du sie aus der Gewalt entlassen hast.
Das Ehehindernis bleibt auch bestehen, wenn eine emancipatio stattgefunden hat148. Auch die Schwägerschaft begründet das Ehehindernis der Adoption. Wird aber die Person emanzipiert, fällt das Ehehindernis im Gegenteil zur normalen Adoption wieder weg. Das römische Recht kennt auch noch das Ehehindernis zwischen Vormund und Mündel. Ein SC unter Marc Aurel und Commodus (175 –180) verbietet diese Ehe149. Auch verbieten kaiserliche Mandate den Provinzialbeamten und -offizieren die Ehe mit Angehörigen derselben Provinz 150. Diese Verbote dauern solange, wie die Funktion anhält. Die Ehe ist nichtig, aber mit der Zeit mildern die Juristen dieses Verbot. Beide Verbote haben vor allem den Zweck, die Entscheidungsfreiheit der Frau zu wahren. Umstritten ist das Verbot der Eheschliessung für die Soldaten, zur Wahrung der Disziplin für die Dauer der Dienstzeit 151. Es wird diskutiert, ob dieses Ehehindernis überhaupt vorhanden war. Aus dem Dargelegten sieht man, dass diese Mängel und Hindernisse bewirken, dass die Ehe als nicht bestehend angesehen wird152. 147
Siehe Gai. Inst. I, 59.
148
Vgl. D. 23, 2, 17 pr (Gai. 11 ad. ed. provin.).
149
D. 23, 2, 59 (Paul.lib. sing. de adsignatione libertorum); 23, 2, 60 pr (Paul. lib. sing. ad orationem divi Antonini et Commodi; 23, 2, 66 (Paul. 2 sent.). 150 D. 23, 2, 63 (Papinian. 1 definitionem); 23, 2, 38 pr (Paul. 2 sententiarum); 23, 2, 65 (Paul. 7 resp.); D. 24, 1, 3, 1 (Ulp. 32 ad Sab.) und D. 23, 2, 57 (Marcian. 2 inst.) und C. 5, 4, 6. 151
Siehe Anmerkungen bei Kaser, RPR I (Anm. 3), S. 317.
152
Vgl. D. 24, 1, 3, 1 (Ulp. 32 ad Sab.).
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V. Die Eheverbote Nun kennt das römische Recht noch gewisse Eheverbote, die hier in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden sollen. Diese lassen die Ehe unter bestimmten Voraussetzungen als unerlaubt, aber nicht als ungültig erscheinen. Die Rechtsordnung missbilligt nur unter bestimmten Voraussetzungen das Eingehen einer Ehe, ohne jedoch damit ihre Wirksamkeit zu berühren. 1. Die Trauerzeit der Witwe Als erstes soll die sogenannte Wartezeit oder auch Trauerzeit der Witwe erwähnt werden, die sich in der klassischen Zeit auf zehn Monate Zeit belief. Wenn diese nicht eingehalten worden ist, dann gibt es eine Sanktion, die zwar nicht die Gültigkeit der Ehe betrifft, aber rechtliche Nachteile mit sich bringt. Die Sanktion ist die Infamie 153. Die Stelle D. 3, 2, 1 deutet darauf hin, dass die Ehe eine Rechtsdimension hat und nicht einfach eine verwirklichte Lebensgemeinschaft ist. Die Witwe muss trauern, sogar die Witwe, wie wir früher gesehen haben, die noch nicht mit ihrem Mann zusammengelebt hatte154. Es handelt sich aber hier nicht um eine nur sittliche Pflicht, wie Kaser dargelegt hat: Er sagt, dass die alten Trauervorschriften nur eine sittliche Pflicht begründen155. Mayer-Maly vertritt hingegen, dass die zehnmonatige Trauerpflicht nicht auf dem zunächst unverbindlichen Gebot der mores beruht, sondern auf einer Ordnung, deren Verletzung nefas war156. Somit gehört das Trauergebot zunächst ins fas und ist somit von Anfang an Teil einer Rechtsordnung. Richtig ist, wie freilich Mayer-Maly vertritt, dass es später nicht zu einer Rezeption des Trauergebots aus dem fas ins ius kam, dass es vielmehr nach dem Zurücktreten des fas in der Tat die mores waren, gegen die eine vorzeitige Eheschliessung verstiess157. Die Verpflichtung entstand somit aus dem fas, wurde dann den mo153
Vgl. D. 3, 2, 1 (Iul. 1 ad ed.).
154
Vgl. die schon früher genannte und übersetzte Stelle in D. 23, 2,6 (Ulp. 35 ad Sab.): Denique Cinna scribit: eum, qui absentem accepit uxorem, deinde rediens a cena iuxta Tiberim perisset, ab uxore lugendum responsum est. Zur Problematik der Trauerzeit im Allgemeinen siehe die wertvollen Beiträge von Th. Mayer-Maly, vidua, in: RE VIII/A 2, Sp. 2098–2107; M. Humbert, Le remariage à Rome. Étude d’historique juridique et social, Mailand 1972, S. 113 und passim; Krause, Witwen und Waisen I (Anm. 91), S. 102 ff. 155
Kaser, RPR I (Anm. 3), S. 271.
156
Vgl. Th. Mayer-Maly, vidua, in RE VIII/A 2, Sp. 2099–2100.
157
Ebd. Vgl. auch Humbert, Le remariage (Anm. 154), S. 113 und passim.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
105
res zugerechnet und im 2. Jahrhundert n. Chr. vom Recht der Kaiserkonstitutionen übernommen. Im 4. Jahrhundert fanden tiefgreifende Reformen durch den Einfluss des Christentums statt. Eine Rechtspflicht zur Trauer beim Witwer ist hingegen zu verneinen. In diesem Sinn heisst es in D. 3, 2, 9 pr (Paul. 5 ad ed.): Uxores viri lugere non compellitur. (Für den Ehemann besteht kein Zwang, seine Frau[-en] zu betrauern.) Andere interessante Eheverbote finden wir in der lex Iulia de maritandis ordinibus und in der lex Papia Poppaea, in welchen genau bestimmt wird, mit welchen Personen die Ehe nicht erlaubt ist. Jedermann wurde die Ehe mit Dirnen, Kupplerinnen, Schauspielerinnen und anderen anrüchigen Frauen verboten. Den Senatoren war sogar die Ehe mit einer Freigelassenen untersagt. Mit einem SC von Mark Aurel aber werden diese anfänglichen Eheverbote in Ehehindernisse umgewandelt, solche Ehen sind dann nichtig. So heisst es in Paulus D. 23, 2, 16 pr (Paul. 35 ad ed.): Oratione divi Marci cavetur, ut, si senatoris filia libertino nupsisset, nec nuptiae essent: quam et senatus consultum secutum est. Durch eine Rede des höchstseligen Marcus wird verordnet, dass, wenn die Tochter eines Senators einen Freigelassenen geheiratet hätte, keine wahre Ehe vorhanden wäre, und auf diese Rede ist auch ein Senatsbeschluss erfolgt.
Dazu kommen die Ehegebote von Augustus, die eine gesetzliche Verpflichtung aufstellen, eine Ehe in einem bestimmten Alter einzugehen: für Männer zwischen 25 und 60, für Frauen zwischen 20 und 50. Man konnte von diesem Gesetz nur befreit werden, wenn drei oder vier Kinder da waren. Wenn diese Ehegebote nicht eingehalten wurden, gab es Sanktionen. So waren die sogenannten caelibes erbrechtlich erwerbsunfähig, die Kinderlosen (orbi) konnten nur die Hälfte des ihnen letztwillig Zukommenden erwerben etc. caducam, an verheiratete Erben mit wenigstens einem Kind, sonst aerarium (fiscus)158. Diese Eheverbote beziehen sich zwar nicht auf die Ungültigkeit der Ehe, doch sie zeigen immer mehr eine Verrechtlichung in der Ehegesetzgebung und ein grösseres öffentliches Interesse. Augustus sah den fortschreitenden Familienzerfall und er wollte ihm mit Gesetzen entgegentreten. Die beiden Hauptgesetze sind die lex Iulia de maritandis ordinibus (über die Verheiratung der Bürgerstände), die Augustus kraft seiner tribunizischen Gewalt einbrachte, und die konsularische lex Papia Poppaea von 9 n. Chr. Als drittes Gesetz tritt die lex Iulia de adulteriis von 18 v. Chr. hinzu, die vor allem Strafvorschriften gegen Unzucht (stuprum) und Ehebruch (adulterium) aufstellte. Die Ehe wird somit 158
Vgl. die Kritik Tertullians in: Apologeticum 4, 8 (PL 1, 8).
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auch von diesen Gesetzen geregelt und wird zu einer für die römische Gesellschaft immer wichtigeren Institution. Eine immer stärkere Verrechtlichung tritt ein. Ausserdem hat die lex Iulia noch mit anderen Einzelmassnahmen die Eheschliessung begünstigt, aber auch manchmal erschwert. Die Ehe wird somit staatspolitisch wichtig. 2. Die Frage der Existenz des Militärdienstes als Ehehindernis – das Verbot der sogenannten Soldatenehe In der früheren romanistischen Lehre wurde vertreten, dass der Militärdienst auch ein Ehehindernis darstellte159. Die modernere Forschung hat gezeigt, dass die römischen Soldaten vor dem Militärdienst heiraten konnten, oder sogar während des Dienstes, nur nicht Frauen aus der Provinz, in welcher sie den Dienst leisteten. In diesem Sinn verneint Orestano mit Recht die Existenz dieses Ehehindernisses160. Auch Robleda vertritt die gleiche Auffassung wie Orestano161. Es sollen hier noch zwei Texte aus der klassischen Zeit genannt werden, die Anlass zur Diskussion gaben: D. 23, 2, 35 (Papin. 6 resp.): Filius familias miles matrimonium sine patris voluntate non contrahit. (Ein Haussohn, der Soldat ist, kann ohne den Willen seines Vaters eine Ehe nicht eingehen.)
Papinians Gedanke war, dass nicht einmal der Militärdienst die Abhängigkeit von der voluntas patris beseitigt. Man sieht, wie wichtig der Wille des pater familias war. D. 23, 2, 65 pr. (Paul. 7 resp.): Eos, qui in patria sua militant, non videri contra mandata ex eadem provincia uxorem ducere ... Die, welche in ihrem Vaterland Kriegsdienst tun, scheinen nicht gegen kaiserliche Mandate zu handeln, wenn sie aus derselben Provinz eine Frau nehmen, und dies ist auch in einigen Mandaten enthalten. 159
Th. Mommsen, Corpus inscriptionum latinarum, III, S. 905 f. Vgl. auch K. J. Marquardt, De l’organisation militaire (Manuel des antiquités romaines, XI). Paris 1981, S. 306 ff; P. M. Meyer, Der röm. Konkubinat nach den Rechtsquellen und den Inschriften, Leipzig, 1895, S. 93 ff. 160 R. Orestano, La struttura del matrimonio romano dal diritto classico al diritto giustinianeo, in: BIDR 47 (1940), S. 244. Andere frühere Autoren vertraten hingegen das Gegenteil. Vgl. L. Mitteis, Römisches Privatrecht I, S. 131 Fn 19; E. Rabel, Grundzüge des römischen Privatrechts, in: Holtzendorff / Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft I, 7. Aufl. 1915, 399–558; 2. (unveränd.) Aufl., Darmstadt 1955, S. 417; Di Marzo, Istituzioni di diritto romano, Milano 1939, S. 170. 161
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 199.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
107
Sehr umstritten sind somit Grundlage, Datierung, Inhalt und Reichweite der Maßnahmen, die den Soldaten zur Wahrung der Disziplin für die Dauer der Dienstzeit den Ehestand verbieten. In der nachklassischen und justinianischen Zeit scheint ein solches Ehehindernis aber nicht mehr bestanden zu haben 162. Das Verbot der Soldatenehe gehört somit längst der Vergangenheit an163. Dieses Ehehindernis bezieht sich aber auch auf Soldaten, Magistrate und andere Funktionäre, die ihren Dienst in einer Provinz ablegen sollen. Sie können keine von dort gebürtige oder dort wohnende Frau heiraten. Sie können somit Frauen aus Rom oder anderen Provinzen heiraten, nur nicht aus derselben Provinz, in der sie ihren Dienst leisten müssen. Dieses Ehehindernis bestand schon in der klassischen Zeit164. Wenn hingegen er doch eine Ehe eingehen würde, wird diese bei Hinwegfallen des Amtes sofort gültig. Dieses Ehehindernis betrifft nicht nur die konkreten Personen, sondern auch die Kinder des Funktionärs, nur die Jungen, nicht die Mädchen165. Das Eheverbot für Provinzialbeamte und Provinzialoffiziere besteht auch in der nachklassischen und justinianischen Zeit weiter. Der CTh 3, 11, 1 (380) bestimmt, dass der, der eine öffentliche Stellung hat, diese nicht benutzen darf, um eine Ehe mit einer Untergebenen herbeizuführen. Er wird dafür bestraft. 3. Das Eheverbot aufgrund einer tutela Dieses Ehehindernis wird aus einigen Texten abgeleitet. Es bestehen in der klassischen Zeit ein Eheverbot zwischen dem Mündel und dem Tutor. 166 Andererseits gilt das Verbot auch für die Kinder oder Enkel des Tutors, nicht aber zwischen dem Mündel und dem Sohn des Tutors 167. Auch die Adoptierten betraf es, solange sie unter der Hausgewalt waren168.
162 Vgl. Kaser, RPR, I (Anm. 3), S. 317 und die dort angegebene Literatur für die klassische Zeit. 163
Nov. 22, 14 (536) und Nov. 74, 4, 3 (538).
164
D. 23, 2, 38 pr. (Paul. 2 sententiarum): und D. 24, 1, 3, 1(Ulp. 32 ad Sab.).
165
D. 23, 2, 57 (Marcian. 2 inst.) und D. 23, 2, 38, 2 (Pap. 2 sent.).
166
Vgl. D. 23, 2, 64, 1 (Paul. Callist. 2 quaest.); 25, 2, 7 pr. (Ulp. 36 ad Sab.).
167 Vgl. C. 5, 6, 1 (215); D. 23, 2, 64, 2 (Callist. 2 quaest.) und auch D. 23, 2, 59 (Paul. libro singulari de adsignatione libertorum). 168
D. 23, 2, 67, 3 (Tryphon. 9 disput).
108
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Das Eheverbot zwischen Vormund und Mündel wird mit der schon in der Spätklassik eingesetzten Angleichung des Curators an den Tutor auf den Curator erweitert. Vgl. C. 5, 6, 1 (Impp. Severus et Antoninus AA. Mario: a. 215): Senatus consulti auctoritatem, quo inter pupillam et tutoris filium conubium saluberrime sublatum est, circumveniri rusticitatis et imperitiae velamentis non oportet. Die Wirksamkeit des Senatsbeschlusses, wodurch die Ehe zwischen einer Pflegebefohlenen und dem Sohn ihres Vormundes heilsamer Weise abgeschafft ist, darf nicht unter dem Vorwande der Einfalt und Unwissenheit umgangen werden.
Auch drückt sich C. 5, 6, 7 (Impp. Diocletianus et Maximianus AA. et CC. Paregorio) darüber folgendermassen aus: Si tutor vel curator pupillam vel adultam quondam suam sibi vel filio suo nullo divino impetrato beneficio in matrimonio collocaverit, manet infamia contra eum velut confessum de tutela, quia huiusmodi coniunctione fraudem administrationis tegere laboravit, et dos data per condictionem repeti potest. Wenn ein Vormund oder Curator ohne erlangte allerhöchste Erlaubnis seine vormalige Pflegebefohlene mit sich oder seinem Sohn verheiratet hat, so soll gegen ihn die Infamie eintreten, so als ob er in die Führung der Vormundschaft sich einer Untreue schuldig gemacht und geständig, weil er durch eine Verbindung dieser Art seine betrügerische Verwaltung zu bedecken sich bemüht hat; auch kann die ihm gegebene Mitgift mittels einer condictio zurückgefordert werden.
4. Adulterium In der augusteischen Gesetzgebung gibt es ein Verbot der Ehe zwischen Freigeborenen und Frauen, die in adulterio deprehensas ertappt worden sind169. Es handelt sich um ein relatives Verbot. Später wird durch die lex Iulia de adulteriis des Jahres 18 v. Chr. das Verbot absolut wirksam, d. h. gegenüber allen möglichen zukünftigen Ehepartnern. Dies galt also auch für die Ehebrecherin deprehensa in adulterio sic iudicio publico. Das Eheverbot bleibt und entwickelt sich als Ehehindernis in der nachklassischen und justinianischen Zeit weiter. So heisst es in C. 9, 9, 9 (Imp. Alexander A. Proculo; a. 224): Castitati temporum meorum convenit lege Iulia de pudicitia damnatam in poenis legitimis perseverare. qui autem adulterii damnatam, si quocumque modo poenam capitalem evaserit, sciens duxit uxorem vel reduxit, eadem lege ex causa lenocinii pu nietur. 169
Vgl. auch D. 13, 2 und 23, 2, 44, 8 bezüglich dieses Themas.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
109
Es entspricht der Zucht und Sitte meiner Zeit, die nach dem julischen Gesetz über die Keuschheit Verurteilten in der gesetzmäßigen Strafe zu lassen. Wer aber eine wegen Ehebruchs Verurteilte, wenn sie auf irgendeine Weise der Kapitalstrafe entgangen, wissentlich zur Frau genommen oder wiederaufgenommen hat, der soll nach demsel ben Gesetze wegen Kuppelei bestraft werden.
Justinian legte schliesslich fest, dass das Eheverbot zwischen der Ehebrecherin (damnata) und dem Komplizen gilt 170. In der Kirche ist dann mit der Zeit ein Ehehindernis des crimen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem römischen Ehehindernis hat171, entstanden. In der nachklassischen und justinianischen Zeit erfolgt die Abschaffung der Eheverbote des Augustus. Wie schon gezeigt worden ist, bezweckte die Gesetzgebung des Augustus, Männer und Frauen in einem gewissen Alter zur Ehe zu verpflichten und die Ehelosigkeit zu erschweren. Dies widersprach der christlichen Auffassung des Zölibats, das bei vielen Christen einen wichtigen Rang einnahm. Auch war bei den Christen eher eine Tendenz ersichtlich, die sich gegen die zweiten Ehen aussprach. Es ist somit nicht erstaunlich, dass die meisten dieser Gesetze im 6. Jahrhundert nicht mehr in Kraft waren. Einige, weil sie nicht mehr im Gebrauch waren, andere weil sie direkt oder indirekt abgeschafft wurden. Konstantin schafft in CTh. 8, 16, 1 am 31. 1. 320 die Folgen der orbi ab und erklärt die Ehefreiheit der Witwe. Sie kann eine zweite Ehe abschliessen. Es wird aber nicht die Erbunmöglichkeit der Ehepartner ohne Kinder abgeschafft. Dies geschieht erst unter Kaiser Theodosius II in CTh 8, 17, 2 (410): IMPP. HONORIUS ET THEODOSIUS AA. ISIDORO P(RAEFECTO) U(RBI). In perpetuum hac lege decernimus inter virum et uxorem rationem cessare ex lege Papia decimarum et, quamvis non interveniant liberi, ex suis quoque eos solidum capere testamentis, nisi forte lex alia minuerit derelicta. Tantum igitur post haec maritus vel uxor sibi invicem derelinquant, quantum superstes amor exegerit. DAT. PRID. NON. SEPT. VARANE V. C. CONS. Wir verordnen, dass zwischen Mann und Frau die rechtliche Bestimmung des Zehnten aus dem Julisch-Papischen Gesetz wegfallen soll, und wenn auch keine Kinder vorhanden sind, sie doch auch aus ihren Testamenten gegenseitig das ganze Vermögen sollen erwerben können, ausgenommen, wenn ein anderes Gesetz das, was ihnen hinterlassen worden, vermindert hat. Mann und Frau mögen einander daher fernerhin soviel hinterlassen, wie die Liebe zum Überlebenden gebietet.
170 171
Dies legt er in Nov. 134 c. 12 (556 n. Chr.) fest.
Vgl. zu dieser Frage eines möglichen Einflusses Th. Mayer-Maly, Impedimentum criminis und römisches Recht, in: SZ kan. Abt. 42 (1956), S. 382–388.
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Arcadius, Honorius und Theodosius legen dann fest, dass das ius liberorum jedem zugestanden werden könne, der darum bittet. Dies wird in CTh. 8, 17, 1 (396); C. 8, 58, 1 (Impp. Honorius et Theodosius AA. Isidoro pu.; a. 410) festgelegt. Es wird hier die Stelle aus dem Codex zitiert: Nemo post haec a nobis ius liberorum petat, quod simul hac lege omnibus concedimus. Es soll niemand uns fernhin um das Kinderrecht bitten, indem wir es durch gegenwärtiges Gesetz allen auf einmal verleihen.
Honorius und Theodosius schaffen dann auch die Beschränkungen bezüglich des gegenseitigen Erbrechts der Ehegatten in CTh. 8, 17, 2 (396); C. 8, 57, 2 (410) ab. Justinian legt fest, dass Schauspielerinnen, die ihren Beruf aufgegeben haben, durch kaiserliches Verfahren rehabilitiert werden können (C. 5, 4, 23). Er verändert somit die frühere Gesetzgebung172. In einem Verhältnis steht auch die Frage der zweiten Ehen in dieser Zeit. Mit der Abschaffung der augusteischen Gesetzgebung geht die Gesetzgebung auch einen anderen Weg. Ohne die zweite Ehe für nichtig zu erklären, versucht man, die zweite Ehe zu verhindern oder sie zu erschweren. So im Falle der Frau als Ehebrecherin oder des Ehepartners, der dem anderen eine iusta causa zur Scheidung gegeben hat etc. Es gibt aber noch die Ausnahme der Nov. 6 von Maioran, die fünf Jahre in Kraft blieb. Diese tendierte dazu, dass die Witwe sich wieder verheiraten sollte. Aus all dem wird der Einfluss der Kirche in dieser Frage ersichtlich. Das Thema der zweiten Ehen war in der frühen christlichen Kirche sehr umstritten. Es gab viele gegensätzliche Meinungen darüber. VI. Entstehung neuer Ehehindernisse in der nachklassischen und justinianischen Zeit An diesem Ort sollen nun Ehehindernisse genannt werden, die vor allem durch den Einfluss der Kirche neu eingeführt werden und die auf einen gewissen christlichen Einfluss hinweisen. Sie werden verstärkt, was auf eine Betonung des Willensmoments schliessen lässt und auch eine gewisse Erschwerung der Eheschliessung darstellt.
172
C. 1, 4, 33 (534) und C. 5, 4, 29.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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1. Entführung Er ist ein Ehehindernis, das nicht vor der nach klassischen Zeit eingeführt worden ist. Die Entführung war früher ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe bestraft wurde, aber es war kein Ehehindernis. Man konnte sich gerade von der Todesstrafe befreien, wenn der Mann die Frau mit Einwilligung ihres Vaters und seines Vaters heiratete. Die Entführung konnte sogar Zeichen der Rechtmäßigkeit der Ehe sein173. Man weiss nicht genau, wann dieses Ehehindernis eingeführt worden ist. Einige behaupten, dass es mit einer Konstitution Konstantins eingeführt worden sei174, andere vertreten, dass dieses Ehehimdernis erst in der Zeit Justinians entstanden ist175. 2. Colonatus als neues Ehehindernis Dieses Ehehindernis existiert erst in der justinianischen Zeit. Davon berichtet uns der Text von Nov. 22 c. 17 praef. (536), der folgenden Inhalt enthält: Ein Höriger darf weder ohne Wissen, noch mit Wissen, noch mit Einwilligung seines Herrn eine Freie heiraten. Handelt ein Höriger dagegen, so ist es dem Herrn desselben gestattet, denselben entweder selbst, oder durch den Bezirksrichter mässig züchtigen zu lassen und von der Frau, mit welcher er sich unerlaubterweise verbunden hat, wegzunehmen, so dass die Ehe nichtig ist und von einer dos oder donatio propter nuptias gar nicht, sondern einzig von Bestrafung der unerlaubten Handlung die Rede sein kann. Es handelt sich somit um ein Eheverbot zwischen einer freien Frau und einem fremden colonatus. Robleda vertritt die Meinung, dass dieses Verbot nicht für eine freie Frau und einen eigenen Kolonen gilt, auch nicht zwischen einer Kolonin und einem freien Mann176. Es handelt sich aber um eine Hypothese. Wenn es 173
R. Köstler, Raub und Kaufehe bei den Römern, in: ZS 65 (1947), S. 43–68.
174
CTh. 9, 24, 1 pr. (320). Dazu F. H. Vering, Geschichte und Pandekten des römischen und heutigen gemeinen Privatrechts, 4. Aufl. Mainz 1875; Bonfante, Corso I (Anm. 56), S. 279; Accarias, Precis, I, S. 178; Volterra, Istituzioni (Anm. 108), S. 661; Biondi, DRC III, (Anm. 56), S. 93. 175
S. Perozzi, Istituzioni di diritto romano, I, 2. Aufl. (Florenz 1928, Neudr. 1949), S. 344; V. Arangio Ruiz, Istituzioni di diritto romano, 14. Aufl. (Neudr. 1983), Neapel, 1960, S. 422; Kaser, RPR I (Anm. 3), S. 115. Vgl. C. 9, 13, 1, 2 (533); Nov. 143 praef. und 143, 1 (563) und Nov. 150. 176
Robleda, El matrimonio (Anm. 28), S. 212.
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sich um einen Sklaven handelt, dann ist es anders. Diese konnten keine Ehe ein gehen und falls sie es tun würden, hätte diese keine rechtliche Wirkung. 3. Ehehindernis zwischen Juden und Christen Dieses Ehehindernis ist klar religiös motiviert177. Es gründet sich auf eine Konstitution von Konstantin aus dem Jahr 339 nach Christus 178. Es handelt sich um ein Hindernis für einen Juden mit einer Christin, nicht umgekehrt 179. Das Ehehindernis wird weiter ausgedehnt180. Die gegen dieses Ehehindernis verstossen, sind Ehebrecher. Es handelt sich um eine Strafvorschrift. Konstantin legt die Todesstrafe fest. Die 2. Konstitution spricht auch indirekt von der poena capitalis181. Auch die justinianische Zeit kennt dieses Ehehindernis. Die Strafen sind nun aber verschieden. In diesem Sinn legt Nov. 134, c. 10 die Strafen fest. Dieses Eheverbot ist aber am Anfang der Urkirche nicht so klar gewesen. Die Frage der Religionsverschiedenheit im Allgemeinen stellt sich auch in der Urkirche. Paulus erwähnt dieses Problem in seinen Schriften. Die Juden kannten Eheverbote aufgrund der Religion182. Die christliche Kirche hingegen hat nicht eine solche rigorose Haltung vertreten. In den ersten Zeiten wird doch immer wieder vertreten, dass der nichtchristliche Teil sich in einer christlichen Ehe heiligen könne183. Aber man riet den Witwen an, doch, wenn möglich, einen Christen zu heiraten184. Wenn aber der Glaube in Gefahr geriet, hat Paulus sogar eine Scheidung erlaubt, das sogenannte privilegium Paulinum. Er rät dennoch davon ab, aber stellt kein absolutes Eheverbot auf 185. Wie ersichtlich, wird in den ersten zwei Jahrhunderten noch kein Verbot aufgestellt. Auch das Neue Testament stellt eigentlich kein Verbot auf. Schon die Kirchenväter des 3. Jahrhunderts sehen aber die Problematik dieser Verbindungen. Der heidnische Teil hat nicht immer für die religiösen Über177
Vgl. Robleda, El matrimonio, ebd., S. 212; Biondi, DRC III (Anm. 56), S. 181.
178
CTh 16, 8, 6.
179
Biondi, DRC III (Anm. 56), S. 181.
180
CTh 3, 7, 2 (388).
181
In diesem Sinne ist C. 9,9,29 (a. 326) interessant.
182
Malachias 2, 11; Esdras 9; Buch der Weisheit 3, 13–14.
183
Vgl. 1 Kor 7, 12–16.
184
Vgl. 1 Kor 7, 3, 39.
185
Vgl. 1 Kor 7, 12–16 und 2. Kor 6, 14 und 17.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
113
zeugungen des christlichen Teils Verständnis, es kann die Gefahr der Idolatrie geben etc. Mit der Zeit wird immer mehr von diesen Beziehungen abgeraten 186. Auch die Konzile dieser Zeit nehmen eine ähnliche Haltung ein. Das Konzil von Elvira verurteilt Verbindungen von Christen und Heiden, aber noch stärker verurteilt sie die Verbindung zwischen Juden und Christen 187. Die Eltern, die ihre Töchter heidnischen Priestern geben, werden auf Lebenszeit exkommuniziert, denn diese Haltung bedeutet Apostasie 188. Es wird ersichtlich, wie die Haltung der Kirche in dieser Zeit war: gegenüber den Heiden herrschte eine gewisse Toleranz, gegenüber Juden und Häretikern gab es strenge Verbote, da diese religiösen Haltungen miteinander nicht vereinbar waren189. Im 4. und 5. Jahrhundert werden die Ehen zwischen Christen und Heiden immer häufiger. Die häufigen Konzilsentscheide über diese Fragen zeigen, dass solche Ehen doch sehr oft in dieser Zeit vorgekommen sind. Ambrosius warnt vor den Ehen mit Juden, Heiden oder Häretikern 190. Aber die Ehe mit Nichtchristen als solches ist nicht absolut verboten. Augustinus selber weist darauf hin, dass über diese Angelegenheit kein Verbot herrscht und er verbietet auch nichts 191. Die Konzile bestätigen diese Aussagen. Anfangs des 4. Jahrhunderts bis Mitte des 5. Jahrhunderts herrscht Einigkeit: Die Häufigkeit dieser Ehen wird bestätigt, sie werden verboten. Man auferlegt kirchliche Bussen, den Ehepartnern selber oder auch für die Eltern, die ihre Kinder Ungläubigen zur Heirat geben192. Diese Auffassungen finden in den Gesetzen des römischen Reiches ihren Ausdruck. Hier ist aber erstaunlich festzustellen, dass diese Gesetzgebung viel strenger als die kirchliche ist. Konstantin droht mit der Todesstrafe für den Ju186
Tertullian, Ad uxorem II, 3–6 (PL 2, 1290–1299); De corona 13 (PL 2, 95–97); Adv. Marc. 5, 7 (PL 2, 485–488); Cyprianus, De lapsis 6 (PL 4, 482–485). 187
Vgl. Konzil von Elvira c. 15 (PL 84, 303) und Konzil von Arles c. 11 (PL 84, 106).
188
Vgl. Konzil von Elvira c. 16 (PL 84, 304).
189
Konzil von Elvira c. 17 (PL 84, 304).
190
Expositio evangelii Lucae VIII, 8 (CSEL 32, 4, 395); Ep. 19, 2; 7; 34 (PL 16, 982 und ff.). 191
De fide et operibus 21, 37 (CSEL. 41, 82) und Ep. 255 (CSEL. 57, 602); de adult. coniug. II, 21, 26 und 25, 31 (CSEL. 41, 373 und 378). 192
Vgl. Konzil von Elvira c. 15–17; von Arles c. 11 (Bruns II, 4; 108); von Hippo 393 c. 12 und von Karthago 397 c. 12, wieder aufgenommen vom Konzil von Karthago 419 im Codex eccl. afr. c. 21; Konzil von Kalzedonien 451 c. 14; Laodizea c. 10 und 31 (Bruns I, 137); 125; 163; 29; 74; 77). Bezüglich der gemischten Ehen im Konzil von Elvira vgl. auch P. Lombardia, in: L’Anuario de Historia del derecho español, 24 (1954), S. 543–558.
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den, der eine Christin heiratet193. Theodosius bestraft die Ehe zwischen Christen und Juden als adulterium194. Leo sieht einen gerechten Grund für die Auflösung der Verlobung in der Tatsache, dass der zukünftige Partner ein Häretiker ist195. Man sieht, dass im römischen Recht nur die Ehe zwischen Christen und Juden oder evt. Häretikern verboten wurde, nie aber die mit Heiden. Es kann bezüglich der Juden gesagt werden, dass eine gewisse Einflussnahme der Kirche da war, aber dass bezüglich der Juden das nachklassische und justinianische Recht noch viel weiter als die Kirche gegangen ist. 4. Das Entstehen der cognatio spiritualis Es scheint, dass die geistige Verwandtschaft mit der Zeit langsam zu einem Hindernis für die Eheschliessung geworden ist. Hier ist der christliche Einfluss ganz klar ersichtlich. Vor Justinian bezeugen keine Texte dieses Hindernis 196. Erst in der justinianischen Gesetzgebung findet man den Text C. 5, 4, 26, 2 (Imp. Iustinianus A. Iuliano pp.; a. 530), der folgendermassen lautet: Ea videlicet persona omnimodo ad nuptias venire prohibenda, quam aliquis, sive alumna sit sive non, a sacrosancto suscepit baptismate, cum nihil alius sic inducere potest paternam adfectionem et iustam nuptiarum prohibitionem, quam huiusmodi nexus, per quem deo mediante animae eorum copulatae sunt. Diejenige Person aber, welche jemand, sie mag von ihm grossgezogen sein oder nicht aus der Hl. Taufe gehoben hat, darf von demselben nicht geheiratet werden, da nichts in dem Grad väterliche Zuneigung entstehen lassen und ein Eheverbot rechtfertigen kann, als eine solche Vereinigung, durch welche unter Gottes Vermittlung ihre Seelen verbunden worden sind.
Dieses Prinzip scheint vom Konzil von Nizäa zu kommen, in welchem c. 21 diese Regelung so festlegt. Es ist hier erstaunlich, dass dieser religiöse Inhalt in einem staatlichen Gesetz aufgenommen wird. Man vermutet, dass Justinian diese Bestimmung zwar das erste Mal in diesem Gesetz aufnimmt, dass dieses Verbot aber schon früher im Gebrauch war.
193
CTh. 16, 8, 6 (a. 339).
194
CTh. 3, 7, 2–9, 7, 5; C. 1, 9, 6 (388).
195
C. 1, 4, 16 (a. 472).
196
Bezüglich dieser Frage siehe E. de León, La „cognatio spiritualis“ según Graciano, Milano 1996, S. 16–21.
Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im Römischen Recht
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5. Heilige Weihen und Keuschheitsgelübde Es entstehen nun strengere Strafen für Personen, die die Ehe mit Personen, die das Gelübde der Keuschheit abgelegt haben, eingehen. Dies gilt für die Ehen mit Witwen oder Jungfrauen197. Auch verbietet Justinian übereinstimmend mit den heiligen Canones die Ehe mit dem, der bereits zum Priester, Diakon oder Subdiakon geweiht worden ist198. Die von ihm vor der Weihe geschlossene Ehe bleibt jedoch bestehen199. Wer nach der Weihe heiratet, verliert die geistlichen Funktionen200. Die Bischofseinsetzung verlangt Ehe- und Kinderlosigkeit201. Das Verbot der Ehe muss im Zusammenhang mit dem Zölibat gesehen werden. Hier gibt es verschiedene Tendenzen. Im Westen ist man strenger als im Osten. In CTh. 16, 2, 44 wird das Bestehen einer Ehe vor der Priesterweihe betrachtet. Justinian verbietet, dass jemand mit Kindern geweiht werden könnte, da er ansonsten in einem Zwiespalt zwischen der Liebe zu den Kindern und seiner pastoralen Aufgabe sei. Dies wird in C. 1, 3, 41, pr. - 4 (a. 528) wiedergegeben. Er fährt fort, dass die sacri canones nicht weniger Gültigkeit haben sollen als die Gesetze. Dieses Ehehindernis ist klar von der kirchlichen Ordnung beeinflusst worden. Es ist nicht sehr erstaunlich, dass solche Bestimmungen in der staatlichen Gesetzgebung zu finden sind. Dies deutet wiederum darauf hin, dass Kirche und Staat noch nicht zwei klar von einander getrennte Rechtsordnungen haben, da das kirchliche Recht in dieser Zeit noch in Entwicklung war, was schon gezeigt worden ist. VII. Ergebnisse Aus den Texten wird ersichtlich, dass es im römischen klassischen Recht genau festgelegte Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse gibt. Dies deutet darauf hin, dass die römische Ehe schon in der klassischen Zeit etwas Rechtliches war, zu deren Eingehung festgelegte Eheerfordernisse gefordert wurden, die Rechtsfolgen mit sich brachten. Die Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse der nachklassischen und justinianischen Zeit entwickeln sich in Richtung einer 197
Vgl. CTh 9, 25, 2 (364 Ost) und auch C. 1, 3, 5 (360); Nov. 6, 6.
198
C. 1, 3, 44 (530); Nov. 5, 8 (535); 22, 42 (536).
199
CTh. 16, 2, 44 (420); C. 1, 3, 19 (420); Nov. 6, 5 (353). Siehe dazu auch Biondi, DRC I, (Anm. 56), S. 420 ff.; Gaudemet, L’Église (Anm. 32), S. 157 ff. 200
C. 1, 3, 44, 1 (530); Nov. 6, 5 (535); Nov. 123, 15 pr. (546).
201
C. 1, 3, 47 (531); Nov. 6, 1, 3 (535); 123, 1 pr. (546); 137, 2 (565).
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Erweiterung, d. h. die Anforderungen werden verschärft. Viele römische Ehehindernisse der klassischen Zeit übernimmt die Kirche ohne Probleme, da die Frühkirche der apostolischen Zeit noch kein System der Regelung der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse kannte. Auf diesem Gebiet hält sich die Kirche an das jeweilige staatliche Recht, d. h. das römische Recht. Andere fallen langsam weg, so z. B. das conubium, da dieses mit dem veränderten Menschenbild und mit der Entwicklung der politischen Lage nicht mehr vereinbar ist. Neben der Übernahme der klassischen Ehehindernissse treten einige, durch das christliche Eheverständnis geprägte, neue Ehehindernisse hinzu. Die relativ vielen Ehehindernisse lassen auf eine öffentlichrechtliche Auffassung der Ehe schliessen: Man sorgt sich um die Ehe als schützenswertes Institut und legt das Gewicht auf die Festlegung vieler Ehehindernisse und somit auf das Anfangsmoment der Ehe. Im geltenden kanonischen Eherecht kennen wir noch einige dieser Ehehindernisse: die Ehemündigkeit, die Impotenz, das bestehende Eheband, die Religionsverschiedenheit, die Verwandtschaft (Blutsverwandtschaft, Schwägerschaft, öffentliche Ehrbarkeit, gesetzliche Verwandtschaft. Die Heiligen Weihen, das öffentliche Gelübde, die Entführung, wurden aber erst im justinianischen Recht als Ehehindernisse festgelegt. Die konkrete Rechtsregelung der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse im klassischen und nachklassischen und justinianischen Recht zeigt, wie es in dieser Zeit einen wechselseitigen Einfluss zwischen Christentum und römischen Recht gegeben hat. Nicht nur das Christentum hat einen Einfluss auf die justinianische Gesetzgebung gehabt, sondern auch die Kirche hat viel vom klassischen römischen Recht in ihr eigenes Rechtssystem aufgenommen hat, was während vieler Jahrhunderten zu einer fruchtbaren Entwicklung in der europäischen Rechtskultur geführt hatte. Diese Wechselbeziehung kann uns auch in der modernen Zeit einige interessante Anregungen aufzeigen, auch heute das kanonische Recht nicht isoliert zu studieren, sondern in ihrem Dialog und Vergleich mit dem säkularen Recht.
Exklaustration und Säkularisation zweier Nonnen in der Erzdiözese Mainz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert Von Georg May I. Einleitung1 Georg May Das Kloster Gottesthal lag im Pfingstbachtal in der Nähe der Gemeinde Oestrich im Rheingau2. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts sind sichere Nachrichten überliefert, daß sich dort ein Konvent von Zisterzienserinnen befand. Der Rheingau besaß drei Frauenklöster, die der Zisterzienserobservanz angehörten, Tiefenthal3, Gottesthal und Marienhausen (Aulhausen)4. Die Gründung Gottesthal erlebte ihr Auf und Ab wie alle Klöster, teils wegen der politischen Verhält1
Der Beitrag beruht auf Akten der beiden Dom- und Diözesanarchive Mainz und Limburg sowie des hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden. Für Mitarbeit in den beiden Archiven zu Limburg und Wiesbaden habe ich Frau Dr. Anna Egler zu danken. 2
Handbuch des Bistums Limburg, Limburg 1956, S. 106 f.; Georg Wilhelm Sante (Hrsg.), Hessen (= Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, 4. Bd.), 2. Aufl., Stuttgart 1967, S. 178 f.; Yvonne Monsees, Das Zisterzienserinnenkloster Gottesthal im Rheingau. Geschichte, Verfassung, Besitz (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau XLII), Wiesbaden 1986, zitiert: Monsees, Gottesthal; dies., Zisterzienserinnenklöster unter geistlicher Leitung Eberbachs, in: Forschung und Forum. Kloster Eberbach Heft 3, 1989, S. 3–17; dies., Gottesthal, in: Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen 1, bearb. von Friedhelm Jürgensmeier und Regina Elisabeth Schwerdtfeger (= Germania Benedictina, Bd. IV / 1: Hessen und Thüringen), St. Ottilien 2011, S. 839–872. 3
Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 102 f.; Sante, Hessen (Anm. 2), S. 432; Werner Kunkel, Besitz- und Sozialgeschichte des Zisterzienserinnenklosters Tiefenthal im Rheingau. Phil. Diss. Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1980; Yvonne Monsees, Tiefenthal, in: Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen, bearb. von Friedhelm Jürgensmeier und Regina Elisabeth Schwerdtfeger (= Germania Benedictina IV / 2: Hessen und Thüringen), St. Ottilien 2011, S. 1522–1555. 4 Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 294 f.; Sante, Hessen (Anm. 2), S. 322; Michael Oberweis, Aulhausen / Marienhausen, in: Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen IV / 1 (Anm. 2), S. 164–192.
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nisse, teils wegen innerer Konflikte. Der Konvent war nicht reich und litt häufig unter Schulden5. Bis ins 18. Jahrhundert hinein half die Abtei Eberbach ihm wiederholt finanziell auf die Beine. Der Konvent zählte im 18. Jahrhundert zwischen 20 und 25 Nonnen, Novizinnen und Laienschwestern, verringerte sich aber von 1760 bis 1810 von 17 auf 11 Schwestern, deren Durchschnittsalter (1811) etwa 52 Jahre betrug6. Für die Aufnahme in das Kloster wurde eine Mitgift, gewöhnlich ca. 1000 Gulden, gefordert, die nur von wirtschaftlich gut gestellten Familien erbracht werden konnte7. Es wurden aber auch Frauen aufgenommen, die wenig oder gar nichts mitbrachten8. An Nachwuchs fehlte es dem Konvent nicht. Noch 1791 und 1792 wurden je zwei Novizinnen aufgenommen9. Nonnen im strengen Sinne waren nur die Chorschwestern. Die Laienschwestern waren für die körperlichen Arbeiten bestimmt10. Dazu traten weltliche Arbeitskräfte11. Durch die Profeß wird die Novizin zur Religiosen und erwirbt die Rechte ihres Verbandes 12. Ebenso treffen sie die Pflichten, also die Elemente monastischen Lebens, wie sie in der Regel des hl. Benedikt niedergelegt sind13. Für den Zweck dieses Beitrags ist vor allem auf die Verbindlichkeit, die Klausur einzuhalten 14, hinzuweisen. Die Klausur besagt, daß die Nonnen den umfriedeten Bereich des Klosters außer in Notfällen nicht verlassen und daß andere Personen ihn nicht betreten dürfen. Aus dem vortridentinischen Recht sei an erster Stelle die Konstitution „Periculoso“ des Papstes Bonifaz VIII. erwähnt15. Ordensleute, die das Kloster verlassen und das klösterliche Gewand ablegen, verfallen der Exkommunikation16. Wer das Klo5
Von 1768–1788 beliefen sich die Schulden auf 9710 Gulden (Monsees, Gottesthal [Anm. 2], S. 122). 6
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 41.
7
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 39.
8
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 93.
9
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1.
10
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 103–111.
11
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 111–117.
12
Moniales, in: F. Lucii Ferraris Prompta Bibliotheca V, Paris 1854, S. 955–1126.
13
Monsees, Gottesthal (Anm 2), S. 101–103.
14
Clausura, in: F. Lucii Ferraris Prompta Bibliotheca II, Paris 1852, S. 559–562; Lehmkuhl, Clausur, in: KL III, 2. Aufl., 1884, S. 443–447; J. Pejska, Klausur, in: LThK VI, 1934, Sp. 13–15; Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 98–101. 15
VI 3,16,1.
16
VI 3,24,24.
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ster verläßt, ist gehalten, zurückzukehren17. Das Konzil von Trient forderte die Klausur der Nonnen in Sess. 25 de reg. et mon. cap. 5 ein 18. Papst Pius V. (1566–1572) setzte die große Exkommunikation, die von selbst eintritt und die dem Papst zur Losspechung vorbehalten ist, auf jedes unbefugte Verlassen des Klosters19. An der Spitze des Konvents stand die Äbtissin 20. Für die hier in Frage stehende Zeit sind zwei Klostervorsteherinnen bezeugt. Maria Francha Müller war Äbtissin von 1758 bis 1786. Sie starb am 14. Januar 1786. Die Wahl der neuen Vorsteherin fand nach einer überlangen Vakanz am 7. August 1787 statt. Die anwesenden zwölf Nonnen wählten Maria Francha Dietz. Sie leitete den Konvent von 1787 bis 1810, besaß aber wenig Autorität21. Der Äbtissin stand die Priorin zur Seite. Sie war zu ihrem Teil für die Disziplin im Konvent verantwortlich und sollte durch ihr eigenes Leben als Vorbild für die Nonnen wirken22. Das Kloster hatte – vornehmlich für die rechtlichen und wirtschaftlichen Kontakte zur Außenwelt – einen Geistlichen, Propst genannt, im 17. und 18. Jahrhundert zumeist einen Mönch aus der Abtei Eberbach 23. Der Propst war in erster Linie Wirtschaftsverwalter. Er konnte aber auch gleichzeitig Beichtvater des Konvents sein. 1784 bis 1788 war Wilhelm Dorn Propst und Beichtvater, anschließend Carolus Rödinger, von 1794 bis 1800 Ferdinand Mayer, von 1800 bis 1811 Augustin Jung24. Der Geistliche Rat im Mainzer Erzbischöflichen Ordinariat (= Generalvikariat, Vikariat) Johann Friedrich Koch25, der 1788 aus ge17
C. 20 q.3 cc.2 und 3; X 3,31, 24.
18
Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hrsg. von Joseph Alberigo, Joseph A. Dossetti, Perikles-P. Joannou, Claudius Leonardi, Paulus Prodi unter Beratung von Hubert Jedin, 3. Aufl., Bologna 1973, S. 777 f. 19
Pius V., Konstitution „Decori“ vom 1. Februar 1570 (Codicis Iuris Canonici Fontes, hrsg. von Pietro Gasparri I, Rom 1947, S. 237–239 Nr. 133). 20
Viktor J. Dammertz, Abt, Äbtissin, in: LThK I, 3. Aufl., 1993, Sp. 96–99; Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 63–72. 21
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 45.
22
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 72–74.
23
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 88.
24
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 88.
25
Georg May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verwaltung in der Erzdiözese Mainz vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Reichskirche, 2 Bde. (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 111), Mainz 2004, S. 390, 392.
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Georg May
gebenem Anlaß mit einer Stellungnahme zum Amt des Propstes befaßt wurde, sprach sich dafür aus, den Posten abzuschaffen. Seine Funktionen im wirtschaftlichen und seelsorglichen Bereich könnten von Äbtissin und Konvent bzw. von einem Pfarrer mit Kaplan übernommen werden 26. Hintergrund dieses Rates war der Fall des Eberbacher Konventualen Wilhelm, der wegen Unregelmäßigkeiten abberufen werden mußte. Über ihn erging am 25. Oktober 1784 ein hartes Urteil27. Das Kloster war dem Aufsichts- und Visitationsrecht des Abtes des Zisterzienserklosters Eberbach28 unterstellt, der in den hier zur Sprache gebrachten Mainzer Archivalien regelmäßig als „der Prälat von Erbach“ (sic) bezeichnet wird. Eberbach liegt jedoch nicht in der Gemarkung Erbach, sondern Hattenheim29. Das Kloster Gottesthal war dem (männlichen) Zisterzienserorden nicht inkorporiert, sondern lediglich kommittiert. Der Abt von Eberbach wachte über die Einhaltung der klösterlichen Disziplin und schlichtete Streitigkeiten, er wirkte bei der Wirtschaftsverwaltung mit und schaltete sich bei der Abwicklung erheblicher Rechtsgeschäfte ein, er hörte die Rechnungen ab und kam dem Kloster in Notfällen zu Hilfe. Durch regelmäßige Visitation sollte er für den guten Zustand des Klosters besorgt sein 30. Der Abt von Eberbach hatte auch den Vorsitz bei der Wahl der Äbtissin und nahm ihre Benediktion vor. Er kümmerte sich um die Anzahl der Konventsmitglieder, damit einerseits die Aufgaben des Klosters erfüllt werden konnten, anderseits die wirtschaftliche Unabhängigkeit gesichert war. Kloster Gottesthal unterstand dem Erzbischof von Mainz. Dieser besaß als Ordinarius loci gewichtige Befugnisse in Temporalibus und in Spiritualibus31. Von (völliger) Exemtion des Klosters kann keine Rede sein. Aus den Einzelheiten dieses Beitrags wird erhellen, zu welcher Ingerenz in das Leben des Klosters Gottesthal das Mainzer Vikariat bzw. der Erzbischof und Kurfürst sich für befugt hielt. Die wichtigsten beanspruchten Rechte waren die folgen26
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 90.
27
DA Mainz 1/072, S. 1536–1538.
28
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 118–124; Sante, Hessen (Anm. 2), S. 97 f.; Peter Engels / Hartmut Heinemann / Hilmar Tilgner, Eberbach, in: Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen, bearb. von Friedhelm Jürgensmeier und Regina Elisabeth Schwerdtfeger (= Germania Benedictina, Bd. IV/1), St. Ottilien 2011, S. 383–572. 29 Johannes Zaun, Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau und seiner vierundzwanzig Pfarreien, Wiesbaden 1879, S. 167; Hattenheim, in: Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 98 f., 100 f. 30
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 122 f.
31
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 124–129.
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den. Der Mainzer Erzbischof nahm bei der Wahl der Äbtissin die Festsetzung des Termins, den Vorsitz beim Wahlvorgang (gewöhnlich durch zwei Kommissare) und die Bestätigung der neugewählten Oberin in Anspruch. Der Eberbacher Abt war bei dem Wahlvorgang leitend zugegen 32. Das Kloster hatte jedes Jahr das Synodaticum zu entrichten 33, also jene Abgabe, die als Anerkennung seiner Diözesangewalt galt34. Ebenso mußte es seinen Beitrag zum Subsidium charitativum leisten35, also die Abgabe, die Bischöfe rechtmäßig bei Notlagen einforderten36. Die aufgeklärte Klosterpolitik der letzten Mainzer Kurfürsten sah den Klöstern scharf auf die Finger 37. Im Jahre 1784 wurden in der Mainzer Staatsregierung und im Generalvikariat Überlegungen angestellt, künftig in Frauenklöstern lediglich befristete einfache Gelübde ablegen zu lassen und keine dauernden ewigen38. Die Zulassung von je zwei Novizinnen 1791 und 1792 wurde an die Bedingung geknüpft, daß sie nach Beendigung des Noviziates nur Vota simplicia, und zwar auf je zwei Jahre, ablegen dürfen 39. Im Vorfeld der geplanten Diözesansynode wurde der Gedanke ausgeführt, Frauenklöster in Damenstifte40 (ohne Gelübde) umzuwandeln41. Der Erzbischof von Mainz wird in den Akten des Generalvikariats regelmäßig als Kurfürst angeführt. Seine Beziehungen zu Gottesthal liefen über diese Behörde, gewöhnlich als Vikariat bezeichnet, wobei er sich aber stets die letzte Entscheidung vorbehielt.
32
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 70.
33
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1: hier: für 1785, eingefordert am 24. April 1786. Vgl. May, Die Organisation (Anm. 25 ), S. 470–474. 34 Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des Katholischen Kirchenrechts, 2 Bde, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, I, S. 444; II, S. 445. 35
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1 (25. Mai 1772).
36
Sägmüller, Lehrbuch (Anm. 34), I, S. 444; II, S. 446; May, Die Organisation (Anm. 25), S. 1253 (Reg.). 37 Aloys Friesenhagen, Mainzer Klosterpolitik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Klosterverordnung von 1771 und der Überlegungen im Vorfeld der geplanten Synode. Kath.-Theol. Diss. Mainz, Mainz 1979. 38
Friesenhagen, Mainzer Klosterpolitik (Anm. 37), S. 412–437.
39
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1.
40
Barbara Henze, Damenstifte, in: LThK II, 3. Aufl., 1994, Sp. 1387.
41
Friesenhagen, Mainzer Klosterpolitik (Anm. 37), S. 472–475.
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II. Luidgardis Jung 1. Im Kloster Die erste der beiden hier zu behandelnden Gottesthaler Klosterfrauen war Clara Luidgardis Jung42. Die Klosterfrau wird im Protokoll des Generalvikariates bald als Liudgard, bald als Luidgard bezeichnet. Beide Schreibweisen gehen auf ein und dieselbe Person. Der Name stammt von einer heiligen Benediktinerin bzw. Zisterzienserin, die von 1182 bis 1246 lebte. Ihr Fest ist am 16. Juni 43. Sie stammte aus Rüdesheim44. Die Familie dürfte angesehen und relativ wohlhabend gewesen sein. Aus einer Aufstellung vom 12. Juli 1773 ergibt sich, daß die Luidgardis 1767 pro dote 1000 Gulden in das Kloster eingebracht hatte 45. Der „Fall“ begann damit, daß der „Prälat von Erbach“, also der Abt des Klosters Eberbach, dem Erzbischöflichen Vikariat berichtete, die Luidgardis Jung habe sich von Gottesthal entfernt und in das Kloster Marienhausen begeben, wo sie eine leibliche Schwester hatte. Die Entweichung sei zur Zeit in publico nicht bekannt. Auch sei sie bereits wieder unter Begleitung von zwei Klosterfrauen aus Marienhausen in ihr Profeßhaus nach Gottesthal zurückgebracht worden 46. Das Vikariat beauftragte den Definitor und Pfarrer Ludwig Angelus Porta 47 in Hallgarten, sich in das Kloster Gottesthal zu begeben und dort die Luidgardis Jung nach den Beweggründen ihres Entweichens zu befragen und den Bericht einzusenden. Gleichzeitig sollte er der Äbtissin befehlen, auf die Nonne „eine besondere Wachsamkeit“ zu verwenden und einer „ferneren etwa bedenklicheren Entweichung“ vorzubeugen48. Das Vikariat änderte kurz darauf seine Meinung und gab den erwähnten Auftrag dem Pfarrer Johannes Heinrich Jost 49 zu Mittelheim, der jede Woche eine heilige Messe in dem Kloster zu lesen hatte, „um das Aufsehen dadurch noch mehr zu vermeiden“50. In dem von Jost am 19. März 1779 verfaßten Protokoll sind die Fragen des Pfarrers und die Antworten 42
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 83.
43
K. Bihlmeyer, Luitgard, in: LThK VI, 1934, Sp. 707 f.
44
Das umfangreichste Material über die Luidgardis Jung befindet sich im DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3. 45
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1.
46
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
47
Zaun, Beiträge (Anm. 29), S. 207.
48
DA Mainz 1/067 S. 295–296 (11. März 1779).
49
Zaun, Beiträge (Anm. 29), S. 199; Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 134.
50
DA Mainz 1/067 S. 302 (15. März 1779).
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der Luidgardis verzeichnet. So erklärte sie, sie habe danach verlangt, ihre Schwester Maria Magdalena in Marienhausen zu besuchen, was ihr aber die Äbtissin bisher immer abgeschlagen habe. Sie habe auch nicht mit Vorbedacht gehandelt, sondern aus plötzlicher Entschließung51. Am 26. März 1779 lag das Protokoll dem Vikariat vor. Es beschloß, die Äbtissin zu befragen, wie sie die Jung wegen ihrer unerlaubten Entfernung bestraft habe 52. Am 12. April 1779 war dem Vikariat der Bericht der Äbtissin vom 10. April 1779 zugegangen. Sie teilte mit, daß die Jung „ihren Fehler wahrhaft bereut“ und daß sie diese deswegen „mit keiner besonderen Strafe“ belegt habe, sondern nur „mit gewöhnlicher und regularischer buß und correction“53. Die Angelegenheit war inzwischen (durch das Protokoll des Generalvikariats) dem Mainzer Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal (1719–1802)54 vor Augen gekommen. Er griff die Sache auf, und zwar auf seine Art. Der Fiscalis minor Franz Josef Hirn 55 hatte sich auf Befehl des Erzbischofs in das Kloster Gottesthal zu begeben, wo die Konventualin Luidgardis angeblich „allerhand Unruhen“ verursache und „die unleidentlichsten Ungebühren von Tag zu Tag“ begehe, sie zu vernehmen und der Anzeige auf den Grund zu gehen 56. In einem umfangreichen Schreiben, das am 27. August 1779 dem Vikariat vorlag, gab die Äbtissin eine Darstellung des Verhaltens der Luidgardis. Sie habe „dem äußerlichen Schein nach“ ihren Fehltritt durch die vorgeschriebenen geistlichen Übungen erkannt und bereut und sowohl bei ihr, der Äbtissin, und den Mitschwestern „depreciret“, weswegen sie ihr keine besondere Strafe zudiktiert habe. Doch ihre Buße sei „nur eine Verstellung“ gewesen; „ihre heimliche Hoffart, ihre Hartnäckigkeit, ja ihre größte Bosheit“ habe sie nicht länger verbergen können. „Ihre unartige und widerspenstige Aufführung“ habe ihre Reue „verdächtig“ gemacht, bis sie diesen Verdacht selbst bestätigt habe. Am 22. Juni übersandte sie durch die Klosterbotin ihrem Bruder ein Präsent samt einem Schreiben, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Sie, die Äbtissin, habe ihr beides abgenommen und zurückgegeben. Die Luidgardis war davon völlig ungerührt. Zwei Tage darauf, am 24. Juni, dem Beicht- und Kommuniontag des Klosters, wo es 51
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
52
DA Mainz 1/067 S. 345 (26. März 1779).
53
DA Mainz 1/067 S. 373; DA Limburg Abt.110 Nr. A/3.
54
Friedhelm Jürgensmeier, Das Bistum Mainz. Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 2. Bd.), Frankfurt a. M. 1988, S. 249–255. 55
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 550 f.
56
DA Mainz 1/067 S. 796 (26. August 1779).
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Georg May
üblich ist, daß in dem Kapitelhaus eine jede Jungfrau die andere um Verzeihung bittet, sei sie vor der öffentlichen allgemeinen „Abbittung“ aus dem Kapitelhause gelaufen und habe weder gebeichtet noch kommuniziert. Sie, die Äbtissin, habe sie „aus Gehorsam“ in den Chor berufen, um wenigstens Gebete zu verrichten oder eine nützliche Betrachtung anzustellen. Die Luidgardis verweigerte den Gehorsam. Am 25. Juni habe sie sich entschlossen, der Luidgardis eine „regularische Buße“ aufzuerlegen. Durch die Priorin habe sie ihr sagen lassen, sie solle während des Mittagessens bei Wasser und Brot auf dem Boden sitzen. Die Luidgardis verließ schon, als ihr Name genannt wurde, das Kapitelhaus und hörte die Korrektion nicht einmal an. In ihrer Wut sei sie „wie unsin nig“ auf den Chor gestürmt und in die Konventsstube, habe ihre geistlichen Bücher und ihr Tischzeug geholt und beteuert, daß sie von nun an weder im Chor noch am gemeinsamen Konventstisch und nicht einmal an der Konventsmesse teilnehmen wolle, „bis ihre Sache von höherer Obrigkeit würde ausgemacht sein“. Der Eberbacher Abt habe wiederholt durch den Pater Lector und den Pater Propst sich bemüht, „diese tolle Non“ zur Erkenntnis ihres Fehlers zu bringen, „aber alle umsonst“. „Sie wurde von Tag zu Tag halsstarriger.“ Sie besuche den Chor und den Konventstisch nicht mehr und drohe der Äbtissin und ihren Mitschwestern „mit den schimpflichsten Ausdrücken“. Die Luidgardis begehrte das gleiche Essen wie die übrigen Schwestern. Sie habe es ihr abgeschlagen, weil sie sich vom gemeinsamen Konventstisch und vom Chor, „welcher unsere einzige Berufsbeschäftigung wäre, wodurch wir unsere Kost verdienen“, abgesondert habe. Brot und Wasser erhalte sie täglich. Wenn sie damit nicht zufrieden sei, solle sie ihre verdiente Buße tun, und danach werde sie wie alle Jungfrauen gehalten werden. Am 21. Juli erklärte sie der Priorin vor dem Mittagessen, sie wolle heute in den Konvent gehen, um die ihr am 25. Juni auferlegte Buße zu verrichten. Falls eine Schwester sie auslachen würde, wisse sie, was sie zu tun habe. Sie erfüllte ihre Buße. Die Mitschwestern seien aber aus Mitleid mehr zum Weinen als zum Lachen gestimmt gewesen, und das nicht wegen der bezeigten Reue, sondern „wegen der mit den unartigsten Mienen und in vollem Zorn verrichteten Buße“ und auch wegen des elenden Zustandes, in den sie ihre Hartnäckigkeit versetzt hatte. Nach verrichteter Buße war sie „grob und bissig gegen jedermann“, sie beichtete nicht, sie ging nach Belieben in den Chor und blieb ihm „nach Gefallen“ fern. Als die Äbtissin sie in das Kapitelhaus rufen ließ, gab sie Beschimpfungen von sich und weigerte sich zu erscheinen. Da sie fluchtverdächtig sei, habe sie, die Äbtissin, zwei Jungfrauen bestellt, die sie „auf alle ihre Schritt und Tritt“ beobachten 57. Am 13. September 1779 gab der Fiskal Hirn dem Vikariat einen Bericht über seine Mission in Got57
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
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testhal58. Das Vikariat stimmte ihm zu. Am 4. Oktober 1779 teilte der Fiskal mit, er habe die diesfalls geschehenen Anzeigen mitsamt der Rechtfertigung wegen den Visitationscharten59 dem Kurfürsten unmittelbar zugehen lassen60. Dieser war damit nicht zufrieden. Er forderte den Fiskal auf, ihm mitzuteilen, worin die ihm „sonst gemachten Anzeigen“ bestehen, wodurch die Äbtissin „ein übeles Beispiel“ gebe und in welchen Punkten die Disziplin „hauptsächlich“ außer acht gelassen werde (21. September 1779) 61. Die Äbtissin von Gottesthal zeigte erneut „das bisherige subordinationswidrige und ausschweifende Betragen“ der Clara Luidgardis Jung an und bat um Abhilfe durch einen erzbischöflichen Kommissar62. Am 18. November 1779 lag dem Vikariat die Verfügung des Kurfürsten vor, wonach die vorgeschlagene Bestrafung nunmehr wider die Jung verhängt werden könne. Der Fiskal Hirn und der Assessor Koch hatten sie ihr, verbunden mit einer scharfen Ermahnung und Verwarnung, anzukündigen. Der Kurfürst stellte eine „weitere pastorale Verfügung“ für Gottesthal in Aussicht. Das Vikariat gab den beiden genannten Personen den Befehl, die Verfügung des Kurfürsten auszuführen63. Die Luidgardis Jung wurde streng bestraft. Ihr wurde für zwei Jahre das aktive und passive Stimmrecht im Kapitel entzogen. Während dieser Zeit sollte sie die letzte im Chor und am Tisch sein, den Novizen gleichgestellt und des schwarzen Schleiers beraubt. Aller Zutritt von Freunden und Vertrauten und der Briefverkehr sowie das Zuschicken von Geschenken sollten ihr für zwei Jahre versagt sein. Mobiliar und Kleidungsstücke, durch die sie von den übrigen „bißhero distinguiret war“, die aber gegen die Ordensstatuten verstießen, waren ihr wegzunehmen. Sie hatte eine Zelle zu beziehen, deren Aussicht in den Hof geht. Bei Ankündigung dieser Strafe hatte sie gleich dreitägige Exerzitien zu machen, während derer sie allen übrigen geistlichen Übungen des Konvents beiwohnen sollte. Nach Beendigung derselben hatte sie im Kapitelhause jede ihrer Mitschwestern sowie die Laienschwestern um Verzeihung für das durch ihren Hochmut und ihren Ungehorsam gegebene Ärgernis zu bitten. Immer nach drei Monaten hatte sie die Exerzitien und das Abbitten zwei Jahre hindurch zu wiederholen. Die Äbtissin hatte auf die Verrichtung der Buße und das Betragen der Klosterfrau ein waches Auge zu haben und alle halben Jahre über sie zu berichten. Der Priorin des Klosters wurde 58
DA Mainz 1/067 S. 832; DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
59
In der Charta Visitationis war niedergelegt, was die Visitatoren zu beanstanden gefunden und was sie zur Korrektur auferlegt hatten. 60
DA Mainz 1/067 S. 938.
61
DA Mainz 1/067 S. 869 (27. September 1779); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
62
DA Mainz 1/067 S. 1015 (8. November 1779); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
63
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
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befohlen, der Luidgardis wöchentlich zwei Kapitel der Ordensregel vorzulesen und auszulegen, wie sie es mit den Novizinnen zu tun pflege 64. Die Strafe war offensichtlich zuviel für die Jung. Am 29. November 1779 berichteten der Fiskal Hirn und der Assessor Koch über den Vollzug ihres Auftrags und übergaben dem Vikariat ein Schreiben der Äbtissin, wonach die Jung am 28. November 1779 erneut aus dem Kloster entwichen war. Das Vikariat überstellte die Sache dem Kurfürsten65. Doch schon am 1. Dezember kehrte die Nonne in das Kloster zurück. „Anstatt reumüthig zu seyn“, ließ sie nach dem Bericht der Äbtissin „nichts als Stolz und Unbiegsamkeit“ verspüren. Nach dem Urteil der Äbtissin schienen die bisher angewandten Mittel „fruchtlos gewesen zu seyn“66. Der Kurfürst gab am 6. März 1780 der Äbtissin von Gottesthal den Befehl, die Jung „einsweilen (sic) einzusperren“67. Sie sollte dann in das Mainzer Weißfrauenkloster68 versetzt werden. Dort sollte ihr 14 Tage lang ein von ihr selbst zu wählender Pater spiritualis „die Schuldigkeit ihres Standes“ sowie das „Verbrechen“ ihres Austritts und die darauf stehenden Strafen begreiflich machen und sie ad cautelam von der etwa zugezogenen Exkommunikation 69 absolvieren. Im übrigen sollte sie den anderen Klosterfrauen in allem gleich gehalten werden. Bei Erfolglosigkeit dieser gelinden Maßnahmen würden strengere Strafen „nötigen Falls Leibsstrafen“ gegen sie ergriffen werden 70. Doch der Versuch schlug fehl, wie das Vikariat an die Äbtissin zu Gottesthal schrieb. Die Luidgardis nahm die geistlichen Zusprüche der beiden geistlichen Väter, die in ihr Kloster geschickt wurden, nicht an, sondern gab durch ihre Hartnäckigkeit Zeichen einer „tief eingewurzelten Verstockung“. Man habe nach ihrer ersten Flucht glimpflich mit ihr verfahren wollen, wenn sie ihren Fehler erkennen und bereuen würde. Doch am Tage nach der ihr bekannt gemachten „väterlichen Bestrafung“ habe sie abermals die Flucht ergriffen und beharre bis jetzt in „ih64
DA Mainz 1/067 S. 1053–1054 (18. November 1779); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3. 65
DA Mainz 1/067 S. 1112 (29. November 1779); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
66
DA Mainz 1/067 S. 1121–1122 (6. Dezember 1779).
67
DA Mainz 1/068 S. 202 (6. März 1780).
68
Handbuch der Diözese Mainz, Mainz 1931, S. 29; Ludwig Falck, Die Freie Stadt in ihrer Blütezeit 1244–1328, in: Mainz. Die Geschichte der Stadt, hrsg. von Franz Du mont / Ferdinand / Scherf / Friedrich Schütz, Mainz 1998, S. 143–170, hier 151. 69
Das unerlaubte Verlassen des Klosters ohne die Absicht, sich vom klösterlichen Stand zu trennen, begründet das Vergehen der Klosterflucht. Die Ordensperson zieht sich, wenn sie das Ordensgewand ablegt, die Exkommunikation zu (VI 3, 24, 2). 70
DA Mainz 1/068 S. 297 (10. April 1780).
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rem Ungehorsam und unbußfertigen Eigensinn“. Deswegen, so bestimmte das Vikariat, solle sie bis zu ihrer Besserung eingesperrt werden. Außer je einer Suppe mittags und abends solle ihr nichts als Wasser und Brot gereicht werden. Die Äbtissin und die Priorin sollten sie zuweilen besuchen, „um ihre Gesinnungen zu vernehmen“. Alle Monate sei ein Bericht über ihr Verhalten einzuschicken. Wenn sie Zeichen wahrer Reue gebe, könne sie aus ihrem Verwahrungsort herausgelassen werden. Nachdem sie ad cautelam von der Exkommunikation, in die sie wegen ihrer zweiten Flucht gefallen sei, losgesprochen worden sei, solle sie wieder zu den gemeinsamen Andachtsübungen und zu dem gemeinsamen Tisch zugelassen werden. Im übrigen aber solle sie nach der am 27. November 1779 bekanntgemachten Bestrafung bis auf weiteres behandelt werden. Die von der Äbtissin und einigen Konventualinnen bei der Kundmachung des kurfürstlichen Auftrags wegen der zu haltenden geistlichen Exerzitien „öffentlich gezeigte Unart“ werde nicht ungeahndet bleiben. Ihnen und etwaigen Anstiftern werde „die verdiente Bestrafung“ zukommen 71. Anscheinend geschah jetzt gar nichts; die Luidgardis blieb in Gottesthal. Am 14. Juni 1780 schrieb die Äbtissin dem Vikariat über die Nonne: „Sie bleibt alles Zuredens unerachtet bei ihrer alten Leier; sie wäre keine Nonne mehr, somit entschlägt sie sich nicht allein aller Obliegenheit einer geistlichen Person, als Brevierbeten, geistliche Bücher lesen, den Ordenshabit tragen, sondern auch aller jener guten Werke und Verbindlichkeiten eines Christen, ohne vielleicht nur einmal an Gott zu gedenken“ 72. Die Luidgardis flüchtete jetzt in die Krankheit; sie bedurfte ärztlicher Behandlung. Am 19. Juni 1780 hielt das Vikariat erneut dafür, die Luidgardis für einige Zeit in das Weißfrauenkloster zu Mainz verbringen zu lassen, jetzt aus dem Grunde, weil die Besuche des Arztes und der Gebrauch der Arzneien dort „füglicher, sicherer und mit geringen Kosten“ geschehen könnten“73. Das Vikariat schickte einen Arzt nach Gottesthal, der die Schwester untersuchen und über das Ergebnis berichten sollte 74. Der nach Gottesthal entsandte Arzt Delveaux konstatierte ein melancholisch-cholerisches Temperament, Neigung zur Verstopfung der Milz mit den daraus entstehenden Übeln: anfänglich Widerspenstigkeit und Steifsinn, danach Unfriede mit sich selbst und allem Gebotenen, weiter Hintansetzung alles, was Stand und Ehrbarkeit erfordern, endlich wahnsinnige Verzweiflung und Raserei 75. Im Zu71
DA Mainz 1/068 S. 339–340 (27. April 1780). DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3. 73 DA Mainz 1/068 S. 487–488 (19. Juni 1780). 74 DA Mainz 1/068 S. 502–503 (26. Juni 1780); HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1; DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3 (Bericht des Arztes vom 11. Juli 1780). 75 DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3 (11. Juli 1780). 72
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sammenhang mit der Untersuchung erklärte die Luidgardis, sie sei auf das Zureden zweier Kapuziner und das Schmeicheln der Äbtissin Klosterfrau geworden76. Das Vikariat setzte noch auf schonenden Umgang mit der Nonne. Am 17. August 1780 gab es der Äbtissin genaue Anweisungen, wie sie die Luidgardis zu behandeln habe. Jede Woche solle eine andere Schwester ihr das Essen bringen. Der Schwester sei verboten, ein einziges Wort mit ihr von ihren Fehlern oder ihrem gegenwärtigen Befinden zu sprechen. Auf etwaige „Ausfälle, sie mögen bös oder gut seyn“, dürfe sie keine Antwort geben. Die Priorin solle ihr mittags und abends eine gewisse Zahl zu spinnen auferlegen oder ihr zu nähen oder zu stricken geben. Weder am Morgen noch am Abend solle ihr etwas zu essen gereicht werden, bis sie die vorgeschriebene Arbeit verrichtet habe. Es solle ihr auch nichts weiter zu essen gereicht werden, bis sie die ihr vorgestellte Portion Wasser oder den ihr vorgeschriebenen „Decocti“77 ausgetrunken habe78. Die Luidgardis änderte sich nicht. Am 19. Juni 1981 berichtete die Äbtissin dem Vikariat, daß sie „noch immer hartnäckig“ sei79. Am 8. Dezember 1783 gab das Vikariat der Äbtissin die Erlaubnis, der Luidgardis zu gestatten, in Begleitung einer anderen Konventualin „auf einige Tage“ zu ihrem kranken Vater nach Rüdesheim zu verreisen80. Die Unregelmäßigkeiten im Kloster Gottesthal riefen die Frage wach, in welchem Gesamtzustand sich der Konvent befinde und ob die Äbtissin ihrem Amt gewachsen sei. Der Kurfürst ordnete eine Visitation an. Der Geistliche Rat Koch berichtete über deren Ergebnis. Das Vikariat kam einmütig zu dem Beschluß, die Äbtissin Maria Francha Müller 81 solle von der Administration des Klosters sowohl in Spiritualibus als auch in Temporalibus „ein für allemal“ entsetzt werden. Es solle eine Administratrix cum plena potestate 82 et cum iure succedendi, um das Amt der Äbtissin in Spiritualibus et Temporalibus zu versehen, angestellt werden. Vorher aber sei ein Gutachten zu erstellen, ob die Administratrix sola autoritate Archiepiscopali zu ernennen oder ob dem Konvent eine 76
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
77
Darunter ist das Medikament zu verstehen (von decoquo, decoqui, decoctum abko chen, zubereiten). 78
DA Mainz 1/068 S. 660–661 (17. August 1780).
79
DA Mainz 1/069 S. 672 (19. Juni 1781).
80
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1.
81
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 68 f.
82
Das kanonische Recht kennt die Übung, bei Vakanz eines kirchlichen Amtes für eine Übergangszeit einen Verwalter bzw. eine Verwalterin zu bestellen, der bzw. die dem Amt in vollem Umfang interimistisch vorsteht.
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zu wählen oder zu postulieren die Erlaubnis zu geben oder ob es rätlich sei, jetzt schon die Verfügung zu treffen, wodurch nach Maßgabe des bereits erstatteten Referats, daß künftig in den Nonnenklöstern keine Vota Sollemnia mehr abgelegt werden sollen, „jetzt gleich der Grundstein zur Verwandlung dieses Klosters in ein Frauenstift gelegt werde“83. Damit waren zwei wesentliche Gegenstände der Klosterpolitik des Erzbischofs Erthal angerührt. Einmal seine Abneigung gegen feierliche Gelübde, zum anderen seine Idee der Umwandlung von Klöstern in Damenstifte. Am 1. Februar 1785 wurde mit der Verlesung des Referats über die Gottesthaler Visitation im Vikariat fortgefahren. Die Priorin solle abgesetzt und zum Halten von 14tägigen Exerzitien verpflichtet werden. Dem Geistlichen Rat Anton Franz Schmelzer84 wurde aufgetragen, sich „unter der Hand“ über das Damenstift im Capitolium zu Köln 85 kundig zu machen. Die Luidgardis könne „einsweilen“ in ein Mainzer Nonnenkloster versetzt werden. Die Äbtissin Francha sei „nebst dem Wasser und Brod“ über den anderen Tag „einzusperren“ und nach gemachten Exerzitien in ein anderes Kloster zu versetzen86. Auch am 15. Februar 1785 war die Verlesung des Referats über die Gottesthaler Visitation Gegenstand der Vikariatssitzung. Der Pfarrer Jost war immer noch der Vertrauensmann des Vikariats. Ihm wurde aufgetragen, sich darüber auszusprechen, wie dem Kloster in geistlichen und zeitlichen Dingen „am besten vorgestanden werden könne“87. Schon am 3. März 1785 lag sein „Gutachten“ dem Vikariat vor88. Am 17. März 1785 gab das Ordinariat dem Beichtvater des Klosters Gottesthal den Befehl, die bisher übliche „Publication der Ordens-Excommunication pro Dominica Palmarum“ ab sofort für alle Zukunft zu unterlassen89. Am 5. Juli 1785 befahl das Vikariat dem Prälaten von Eberbach, den Pater Peter aus Gottesthal abzuberufen und an seiner Stelle einen Pater hinzusenden, der sowohl dem gewöhnlichen Gottesdienst als auch dem „inneren Hauswesen“ und der „Landökonomie“ vorzustehen vermöge und auch alle Einnahmen und Ausgaben zu besorgen habe. Die Priorin Maria Bernarda Sigmann solle er absetzen und eine geeignete Konventualin „einsweilen“ als Priorin vorstellen, der die Leitung der Klosterdisziplin zustehe. Die Äbtissin 83
DA Mainz 1/073 S. 174–176 (31. Januar 1785).
84
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 390–392.
85
Hugo Rahtgens, Die Kirche S. Maria im Kapitol zu Köln, Düsseldorf 1913, S. 189– 196; J. Greven, Köln, in: LThK VI, 1934, Sp. 80–93, hier Sp. 88. 86
DA Mainz 1/073 S.185–186.
87
DA Mainz 1/073 S. 241–243.
88
DA Mainz 1/073 S. 328.
89
DA Mainz 1/073 S. 412.
130
Georg May
habe weder in Disciplinaribus noch in Oeconomicis etwas zu befehlen; alles Speisen in der Abtei mittags und abends sei ihr untersagt 90. Das Vikariat war davon überzeugt, daß sowohl die Äbtissin als auch die Priorin nicht mehr imstande waren, ihrem jeweiligen Amt in geordneter Weise vorzustehen. Die Luidgardis kränkelte weiter. Ihre Mutter, Frau Anna Maria Jung, bat, ihrer kranken Tochter zu erlauben, daß sie zu ihr kommen dürfe, um ihre Krankheit heilen zu lassen91. Die Sache wurde dem Kurfürsten vorgetragen. Er ließ am 17. Mai 1786 durch den Weihbischof Valentin Heimes (1741 –1806)92 die Weisung ergehen, da zur Zeit Gottesthal keine Äbtissin habe, solle der Prälat zu Eberbach entscheiden, ob das Gesuch genehmigt werden könne 93. Jetzt schaltete sich auch noch der Bruder der Luidgardis ein. Johannes Jung in Rüdesheim übersandte dem Vikariat namens seiner Schwester Luidgardis eine Bittschrift nebst einem ärztlichen Attest, damit ihr erlaubt werde, vier Wochen lang außerhalb des Klosters und in Gesellschaft ihrer Schwester Magdalena, Professin in Marienhausen, eine Kur zu machen94. Die Angelegenheit wurde dem Kurfürsten vorgetragen. Er verlangte Auskunft darüber, wo die Kur gehalten werden sollte95. Es war Rüdesheim96, also der Wohnort der Familie Jung. Der Kurfürst entschied: Die Erlaubnis kann ihr gegeben werden. Sie war ihr durch den Prälaten in Eberbach zugehen zu lassen97. Am 16. Januar 1786 teilte Pater Guido, Expositus in Gottesthal, dem Vikariat den Tod der Äbtissin mit98. Die Luidgardis Jung machte bald wieder von sich reden. Sie richtete zwei unverschämte Schreiben an den Propst und den Beichtvater des Klosters Gottesthal. Der Erzbischof beauftragte daraufhin am 20. Juni 1787 den Landdechanten Johannes Anton Bernhard Sambuga99 in Hattenheim, sich nach Gottesthal zu begeben und der Luidgardis im Beisein des Beichtvaters zu bedeuten, daß sie, wenn sie noch einmal eine „Unanständigkeit“ gegen ihre Vorgesetzten innerhalb und außerhalb des Klosters begehe und sich ihnen ungehorsam bezei90
DA Mainz 1/073 S. 946–947.
91
DA Mainz 1/074 S. 557 (15. Mai 1786).
92
A. Brück, Heimes, in: LThK V, 2. Aufl., 1960, Sp. 172 f.
93
DA Mainz 1/074 S. 587–588 (18. Mai 1786).
94
DA Mainz 1/074 S. 880 (17. August 1786); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
95
DA Mainz 1/074 S. 952 (11. September 1786).
96
DA Mainz 1/074 S. 977 (14. September 1786).
97
DA Mainz 1/074 S. 978–979 (15. September 1786).
98
DA Mainz 1/074 S. 65.
99
Zaun, Beiträge (Anm. 29), S. 163.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
131
ge sowie ihre Ordens- und Konventsobliegenheiten außer acht lasse, auf der Stelle eingesperrt und vom Umgang mit den anderen Konventualinnen gänzlich abgesondert werden solle. Wenn sie begründete Klagen gegen den Prälaten zu Erbach, die Priorin oder den Beichtvater habe, so solle sie diese schriftlich dem Plenum Vicariatus vortragen und dessen Entschließung ruhig abwarten 100. Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal war durch die Unregelmäßigkeiten im Gottesthaler Konvent alarmiert worden und hatte jetzt ein scharfes Auge auf ihn. Man befand sich im Vorfeld der Äbtissinwahl. Der Kurfürst ließ den Pater Carl als den Propst in Gottesthal anweisen, nachzuforschen, ob die Konventualin Francha „öfters Conversation suche und pflege“ mit dem Klostergärtner und wo dies geschehe. Sodann befahl er, die Konventualin Caecilia, die ohne hinreichenden Grund in der Stadt Mainz herumgehe und sich in dem Wirtshaus „Zur Eichel“ aufhalte, habe sich „auf der Stelle“ in den Konvent zurückzubegeben 101. Am 5. Juli 1787 lag dem Vikariat über den Prälaten in Erbach der Bericht über die Professin Francha vor. Die Behörde übertrug die Angelegenheit dem Fiskal102. In der Sitzung vom 16. Juli 1787 erstattete dieser Bericht über den Fall. Das Vikariat beschloß: „Beruhet noch zur Zeit“103. Als die Neuwahl der Äbtissin anstand, beurteilte der Geistliche Rat Chandelle die aktive und passive Wahlfähigkeit der einzelnen Nonnen. Von der Luidgardis schrieb er, es sei erkennbar, daß sie nicht Äbtissin werden könne; daher sei „eine förmliche Exclusiva“ überflüssig104. Die Francha Dietz wurde am 7. August 1787 zur (letzten) Äbtissin von Gottesthal gewählt105. In dem Bericht, den Heimes und Becker über ihre Wahl am 8. August 1787 dem Erzbischof erstatteten, wird bemerkt, daß die Caecilia Leidner und die Luidgardis Jung sich erkühnen wollten, sich der Publikation der kanonisch befundenen Wahl zu widersetzen. Die erstere brachte vor, sie habe „noch vorher etwas zu erinnern“, die letztere gab an, „wenn sie den Namen der gewählten zuvor wisse“. Es gelang den Kommissaren, beide zur Anerkennung der neuen Äbtissin zu bewegen und sie dahin zu bringen, ihr Gehorsam zu geloben106.
100 101
DA Mainz 1/075 S. 823–825 (21. Juni 1787); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
DA Mainz 1/075 S. 832–834 (25. Juni 1787). DA Mainz 1/075 S. 899. 103 DA Mainz 1/075 S. 963. 104 DA Limburg Abt. 110 Nr. A/2 (30. Juli 1787). 105 DA Mainz 1/075 S. 1155 (23. August 1787). 106 DA Limburg Abt. 110 Nr. A/2. 102
132
Georg May
2. Außerhalb des Klosters Am 14. Januar 1788 lag dem Vikariat ein Schreiben der Luidgardis Jung vor, in dem sie bat, ihr einen (eigenen) Beichtvater zu schicken 107. Das Vikariat beschloß, der Generalvikar werde dafür Sorge tragen. Der Beichtvater aus Mainz kam und trug ihr an, das Kloster zu verlassen. Die Luidgardis erklärte, im Kloster sterben zu wollen, aber nicht in Gottesthal, sondern in Marienhausen 108. Die Situation der Luidgardis im Konvent wurde immer prekärer. Die Mainzer Behörde dachte noch immer an eine (zeitweilige) Versetzung in ein anderes Haus109. Am 28. Februar 1788 fragte das Vikariat bei der Äbtissin zu Marienhausen an, ob sie Bedenken habe, die Konventualin des Klosters Gottesthal Clara Luidgardis Jung einstweilen in ihren Konvent aufzunehmen, und zwar in der Weise, daß sie gleich anderen den Chor besuchen und die sonstigen allgemeinen Obliegenheiten erfüllen müsse110. Doch Äbtissin und Konvent zu Marienhausen wehrten sich am 11. März 1788 gegen die ihnen angesonnene Aufnahme der Luidgardis Jung111. Das Vikariat übte keinen Druck aus und beauftragte den Sekretär Elbert, den Mainzer Franziskanerguardian (den Beichtvater der Luidgardis) von dem ablehnenden Entschluß zu unterrichten, damit er die Luidgardis davon „insgeheim“ benachrichtige und ihr überlasse, ein anderes Kloster für ihren Aufenthalt vorzuschlagen112. Noch beharrte das Vikariat auf der Verbringung der widerspenstigen Nonne in ein geistliches Haus. Aber es fand sich keines oder die Luidgardis widerstrebte der Veränderung; jedenfalls blieb sie in Gottesthal. Aber die Stunde der Entscheidung war nahe. Mit Datum vom 10. April 1788 lag eine Anzeige der Äbtissin zu Gottesthal über die Luidgardis vor. Sie enthielt die bekannten Klagen. Die Schwester tadele jedermann, ihre erste Beschäftigung sei das Kaffeekochen 113. Das Vikariat übergab sie dem Geistlichen Rat Matthäus Georg Chandelle114.
107
DA Mainz 1/076 S. 68.
108
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3 (28. Februar 1788).
109
Zur Versetzung von Ordensleuten vgl. Rudolf von Scherer, Handbuch des Kirchenrechts, 2. Bd., Graz, Leipzig 1898, S. 845–847. 110
DA Mainz 1/076 S. 402–403 (28. Februar 1788).
111
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3. Es tue nicht gut, zwei leibliche Schwestern in einem Konvent zu haben. Man befürchte von der Luidgardis Unruhe und Unordnung. 112
DA Mainz 1/076 S. 509–510 (11. März 1788).
113
DA Mainz 1/076 S. 641; DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
114
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 398, 412, 552, 808.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
133
Die Luidgardis Jung beschäftigte weiterhin das Vikariat mit Vorstellungen 115. Das Vikariat übergab sie dem Geistlichen Rat Schmelzer. Die Luidgardis schlug jetzt vor, sie zu ihrer Schwester nach Lahnstein gehen zu lassen. In einem Schreiben an den Weihbischof tat sie kund, daß sie schon während des Noviziates habe das Kloster verlassen wollen 116. Das Vikariat rang sich endlich am 24. April 1788 zu dem Entschluß durch, die Luidgardis vom klösterlichen Leben zu befreien, wo sie sich und anderen so viele Unzuträglichkeiten bereitet hatte117. Am 5. Mai 1788 gestattete es der Nonne, sich aus ihrem Profeßhaus Gottesthal zu ihrer Schwester nach Lahnstein118 zu begeben, und befahl ihr, das Ordenskleid bei ihrem Austritt aus dem Kloster zurückzulassen und sich einstweilen bescheidener weltlicher Kleider zu bedienen. Es erwartete, daß sie nach Maßgabe ihrer weiterbestehenden Gelübde „ein erbauliches, eingezogenes und arbeitsames Leben“ führen werde119. Der Prälat von Erbach erhielt Nachricht über die Maßnahme, die er der Äbtissin mitzuteilen hatte. Die Entbindung von der Pflicht, im Kloster zu weilen und das Ordenskleid zu tragen, bei Bestehen bleiben der Verpflichtung, auch in der Welt soweit wie möglich die Ordensgelübde zu beobachten, wurde zu der damaligen Zeit als Säkularisation bezeichnet120. Man unterschied die saecularisatio ad tempus und in perpetuum. Die erstere, d. h. die einer Ordensperson gegebene Erlaubnis, außerhalb des Klosters in der Welt leben zu dürfen, nennt man heute Exklaustration 121. Um Verwechslungen zu vermeiden mit dem (ebenfalls Säkularisation genannten) Ausscheiden aus dem klösterlichen Stande, empfiehlt es sich, auch hier von Exklaustration zu sprechen. Die exklaustrierte Ordensperson wurde entbunden von den Pflichten gegenüber dem Klosteroberen und der Konvent von den Pflichten ihr gegenüber. Sie blieb Mitglied ihres Klosters und ihres Verbandes. Sie mußte die Tracht ihres Ordens ablegen und verlor für die Dauer der Exklaustration das aktive und passive Wahlrecht. Sie hatte ihre bestehenbleibenden Gelübde so weit 115
DA Mainz 1/076 S. 703–704 (21. April 1788); S. 733 (24. April 1788).
116
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
117
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
118
Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 257–259.
119
DA Mainz 1/076 S. 805–806 (5. Mai 1788); HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2; DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3. 120 A. Esser, Ordensprofeß, in: KL IX, 2. Aufl., 1895, S. 990–996, hier S. 994; ders., Säcularisation, in: KL X, 2. Aufl., 1897, S. 1534 f.; Scherer, Handbuch des Kirchenrechts (Anm. 109), II, S. 848–851; Cyrillus Piontek, De indulto exclaustrationis necnon saecularizationis. Kan. Diss. Washington (= Canon Law Studies 29), Washington 1925. 121
Elizabeth McDonough, Exclaustration: Canonical Categories and Current Practice, in: The Jurist 49, 1989, S. 568–606.
134
Georg May
zu beobachten, wie es in der Welt möglich war. Bezüglich des Gehorsamsgelübdes trat an die Stelle der Ordensoberen der zuständige Bischof. Hinsichtlich des Armutsgelübdes war der Gebrauch irdischer Güter gestattet, soweit er für den Unterhalt erforderlich war. Das Keuschheitsgelübde wurde uneingeschränkt aufrechterhalten. Die Exklaustration konnte befristet oder unbefristet sein, die der Luidgardis war zeitlich unbegrenzt und hielt tatsächlich an bis zur Aufhebung des Klosters. Die Exklaustration der Luidgardis wurde ihrer Entscheidung überlassen, d. h. es war eine freiwillige, nicht eine von den Oberen auferlegte. Am 12. Juni 1788 lag dem Vikariat ein Schreiben des Zollgängers J. W. Ott in Lahnstein, eines Schwagers der Luidgardis, vor. Er bat, ihr das Kloster Marienhausen anzuweisen122. Aber diese Lösung hatte sich zerschlagen. Das Mainzer Vikariat faßte den Beschluß, der Äbtissin von Gottesthal folgendes aufzutragen. Sie habe der Luidgardis zu bedeuten, gemäß der erhaltenen Erlaubnis innerhalb von acht Tagen entweder das Kloster zu verlassen oder sich im Konvent gemäß der Ordensregel „vollkommen ruhig und erbaulich zu betragen“. Die Äbtissin hatte innerhalb von 14 Tagen zu berichten, ob die Professin das Kloster verlassen oder (wenn sie darin verblieben sei) „wie sie sich betragen habe“123. Die Luidgardis nahm das Angebot, außerhalb des Klosters zu leben, an. Am 19. Juni 1788 reiste sie zu ihrer Schwester nach Geisenheim (sic) ab 124. Aber Ruhe gab sie auch als exklaustrierte Nonne nicht. Am 22. September 1788 war wiederum ein Schreiben von ihr in Mainz eingegangen 125. Das Vikariat übersandte die Vorstellung der Äbtissin. Es handelte sich offensichtlich um eine Geldforderung an das Kloster. Das Kloster sollte sie alimentieren, bis sie ihr ganzes Vermögen zurückerhalten haben werde. Es wiederholten sich von jetzt an in den folgenden Jahren fast stereotyp die Forderungen der Nonne, das Kloster solle ihr den Unterhalt gewähren und ihr das „Eingebrachte“ (die Mitgift) ausliefern. Beide Ansprüche hatten keine kanonistische Basis. Eine rechtliche Pflicht des Klosters, eine aus freiem Willen exklaustrierte Ordensperson zu unterhalten oder zu unterstützen, besteht nicht 126. Der Geistliche Rat Schmelzer machte den Vorschlag, das Kloster solle ihr 30 Gulden im Jahre zahlen 127. Das Vikariat stimmte ihm zu. Die Äbtissin erstattete die Erklärung, die man von ihr 122
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
123
DA Mainz 1/076 S. 1065–1066.
124
DA Mainz 1/076 S. 1178 (30. Juni 1788); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
125
DA Mainz 1/076 S.1568 (22. September 1788); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
126 Zu der Frage vgl. Piontek, De indulto exclaustrationis necnon saecularizationis (Anm. 120), S. 160–167. 127
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
135
verlangt hatte, nämlich, ihr die persönlichen Sachen auszuhändigen, und das Vikariat gab der Luidgardis eine Abschrift 128. Mit Datum des 13. November 1788 hatte das Vikariat eine weitere „Vorstellung“ von ihr in Händen 129. Das Vikariat sollte das Kloster auffordern, sie zu unterhalten und ihr das Einbringen samt Kleidern auszuliefern. Sie wollte vom Brevierbeten befreit werden und die Erlaubnis erhalten, jedem Priester beichten zu dürfen. Das Vikariat bedeutete der Luidgardis, daß sie, solange sie sich außerhalb ihres Profeßhauses befinde, bei dem Pfarrer oder Kaplan ihres Aufenthaltsortes beichten könne und nicht zum Beten des Breviers und der Ordensoffizien verpflichtet sei 130. Man erwarte jedoch, daß sie, „wie es einem jeden katholischen Christen zustehet, andere gute verdienstliche Werke statt derselben verrichten werde“. Nach ihrer Erklärung über das Schreiben der Äbtissin werde man sich mit ihren übrigen Petita befassen. Sie tue wohl, wenn sie je eher desto besser in ihr Profeßhaus zurückkehre131. Man hatte noch nicht aufgegeben, auf die geistliche Berufung der Luidgardis zu vertrauen. Sie wurde auch noch immer oder schon wieder ärztlich betreut. Im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden liegt die Rechnung des Rüdesheimer Chirurgen vom 25. August 1789 für die Behandlung der Luidgardis, u. a. für die Operation eines Tumor asticus (afticus?) 132. Am 30. August 1789 wandte sie sich mit ihren Wünschen und Beschwerden an den Kurfürsten133. Dieser sandte das an ihn gerichtete Schreiben dem Vikariat zu 134. Das Vikariat übergab es dem Geistlichen Rat Schmelzer. Am 12. Oktober 1789 teilte das Vikariat der Luidgardis mit, es habe die Äbtissin angewiesen, ihr jährlich, solange sie sich außerhalb des Klosters bei Verwandten aufhalte, für ihren Unterhalt 30 Gulden „wegen eingebrachten tausend Gulden Kapitals“ zu verabreichen135. Aber die Luidgardis stellte fortwährend weitergehende Forderungen an 128
DA Mainz 1/076 S. 1684 (6. November 1788); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
129
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
130
Damit überschritt das Vikariat seine Befugnisse. Exklaustrierte bleiben verpflichtet, das kanonische Stundengebet zu verrichten (Ferraris [Anm. 12]), V. Officium Divinum art. I n.18). 131
DA Mainz 1/076 S. 1724 (13. November 1788). Zum Recht des Exklaustrierten, in das Kloster zurückzukehren, vgl. Piontek, De indulto exclaustrationis necnon saecularizationis (Anm. 120), S. 154–160. 132
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
133
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
134
DA Mainz 1/077 S. 1079 (31. August 1789); S. 1164 (14. September 1789).
135
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2; DA Mainz 1/077 S. 1252. Eine Aufstellung der vom Kloster an die Luidgardis geleisteten Zahlungen findet sich im HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. R 1. Sie beginnen im Jahre 1790.
136
Georg May
das Kloster136. Am 6. Juni 1791 reichte sie ein Verzeichnis davon ein, was ihre Eltern dem Kloster Gottesthal angeblich zugewendet hatten137. Die Äbtissin erklärte sich einverstanden, ihr die „Pension“ von 30 Gulden zu zahlen, „so schwer ... eine solche Pension itzt dem armen, tiefgebeugten Kloster auch fällt“. Dagegen sei es ausgeschlossen, ihr die 1000 Gulden zurückzuzahlen oder jährlich 300 Gulden Sustentation zu gewähren, wie sie gefordert hatte 138. Am 18. Juli 1791 bat die Äbtissin das Vikariat, die Luidgardis anzuhalten, das Kloster nicht mit ihren unbilligen Forderungen zu belästigen 139. Aber diese ging am 24. Oktober 1791 erneut den Geistlichen Rat Schmelzer an140. Die Luidgardis beschäftigte das Vikariat in den folgenden Jahren weiter mit ihren „Vorstellungen“. In einer Aufstellung vom 7. Oktober 1793 werden 22 Vorgänge aufgeführt, die auf die Luidgardis Bezug nehmen141. Inzwischen waren schwere Zeiten für Erzbistum und Hochstift Mainz gekommen. Der Krieg ging über das Land, Mainz wurde von den Franzosen besetzt und erst nach langer Belagerung befreit 142. Die Bevölkerung hatte Zerstörung, Ausbeutung und Plünderung zu ertragen. Das Kloster Gottesthal war schwer mitgenommen. Die Luidgardis Jung meldete sich nach der Rückeroberung von Mainz wieder mit einem Schreiben 143. Das Vikariat gab es Joseph Hieronymus Karl Kolborn144 zur Bearbeitung. Dieser erstattete in der Sitzung vom 31. Oktober 1793 Bericht. Es waren die altbekannten Ansprüche. Die Nonne lebte immer noch außerhalb ihres Klosters, offensichtlich unverändert selbstbewußt und schwierig sowie fordernd gegenüber ihrem Profeßhaus. Am 31. Oktober 1793 ließ das Vikariat der Luidgardis Jung durch den Pfarrer Schmitt 145 zu Rüdesheim, wo sie sich aufhielt, eine geharnischte Epistel zugehen. Der Pfarrer 136
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3 (30. September 1790).
137
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2. In einer Aufstellung aller Zahlungen und sonstigen Übereignungen an das Kloster seit 1766 kam die Jung auf eine Summe von 2477,37 Gulden. 138
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2 (2. Juli 1791).
139
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
140
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
141
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
142
Karl Georg Bockenheimer, Die Wiedereroberung von Mainz durch die Deutschen im Sommer 1793, Mainz 1893. 143
DA Mainz 1/082 S. 922 (7. Oktober 1793); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
144
H. Raab, Kolborn, in: LThK VI, 2. Aufl., 1961, Sp. 370 f.
145
Zaun, Beiträge (Anm. 29), S. 291.
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137
sollte sie zu sich bescheiden und ihr „den Unsinn und das respectswidrige“ ihrer beiden letzten Vorstellungen im Namen des Erzbischöflichen Vikariats „nachdrucksamst“ verweisen. „Um ihrer ungebührlichen Schreibseligkeit ein für allemal ein Ende zu machen“, solle er ihr zu verstehen geben, daß ihr das Kloster Gottesthal während des von ihr selbst ohne Bedingungen begehrten Aufenthalts außerhalb desselben „nach den Rechten“ nichts schuldig sei außer der Wiederaufnahme, wenn sie mit Bewilligung des Vikariats in dasselbe zurückkehren wolle. Die ihr bisher bezahlten und fernerhin jährlich zu zahlenden 30 Gulden habe sie der besonderen Rücksicht dieser Stelle und dem guten Willen des Klosters zu verdanken. Sie habe sich also entweder mit dieser Summe zu begnügen oder in ihr Profeßhaus zurückzukehren. Sie werde dort zwar mit schwesterlicher Liebe wieder aufgenommen werden, doch würden auch alle nötigen Vorkehrungen getroffen, daß sie nicht wieder zum Ärgernis und zur Störung der Ruhe dieses Gotteshauses „nach ihrem Starrsinn“ leben könne. Das Vikariat unterrichtete die Äbtissin in Gottesthal von diesem Beschluß, damit sie überlege, wie die Ruhe ihres Klosters gesichert werden könne, wenn sich die Luidgardis entschließen sollte, in ihr Profeßhaus zurückzukehren, „wozu sie ein unstreitiges Recht habe“146. Doch daran dachte die exklaustrierte Nonne nicht. Da die Luidgardis mit ihren finanziellen Forderungen bei den kirchlichen Stellen nicht durchdrang, wandte sie sich an die weltliche Macht. Im Jahre 1803 (ohne Datum) ging sie ihren neuen Landesherren, den Fürsten von Nassau-Usingen, an. Sie stellte sich als „die betrübteste Klosterfrau“ des Klosters Gottesthal dar. Nach 21 Jahren klösterlichen Lebens habe sie wegen „Bedrückungen“ außerhalb des Klosters leben dürfen, sei aber jederzeit als „Mitglied“ des Klosters anzusehen gewesen. „Aber wie kann ich wieder zurückkehren, da ich den Haß meiner Oberin in ihrer ganzen Schwere empfinden muß?“ Der Herzog solle der Äbtissin befehlen, ihr Einbringen in Höhe von 3000 Gulden und ebenso die aufgelaufene Summe der ihr wöchentlich (!) zugesagten 4 Gulden (seit 1788) auszuzahlen147. Der Herzog ließ das Ansinnen der Klostervorsteherin unterbreiten. Die Äbtissin antwortete am 9. März 1803 auf die Vorstellung der Luidgardis. Sie zog sich einmal damit aus der Affäre, daß sie erklärte, die in Rede stehenden Vorgänge seien vor ihrer Amtszeit geschehen. Sie verwies dann auf die Ausplünderung des Klosters durch die Franzosen. Sie bat, die Luidgardis zur Ruhe zu verweisen „mit ihren unbilligen Forderungen“ 148. Sie waren nicht nur unbillig, sondern auch unerfüllbar. 146
DA Mainz 1/082 S. 993–995 (31. Oktober 1793); DA Limburg Abt. 110 Nr. A/3.
147
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
148
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
138
Georg May
Inzwischen waren einschneidende politische Ereignisse eingetreten. Durch den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803149 ging das kurmainzische Vizedomamt Rheingau und damit auch Gottesthal an Nassau-Usingen über. Damals gehörten zwölf Nonnen und drei Laienschwestern zum Konvent. Spätestens seit 1810 dachte die nassauische Regierung an die Aufhebung des Klosters Gottesthal150. Im Dezember 1810 wurde der Hofrat G. Steinberger damit beauftragt, die Aufhebung der Abteien Gottesthal und Marienhausen in die Hand zu nehmen151. Steinberger stellte folgendes fest: Der Konvent habe sparsam gewirtschaftet, sei aber mit hohen Schulden belastet. Die Äbtissin, der Propst und mehrere Klosterfrauen hätten den Wunsch geäußert, das Kloster möge aufgehoben und sie selbst mögen pensioniert werden 152. Steinberger stellte fest, daß die Äbtissin Francha Dietz alt und schwach sei und daß es ihr an „der gehörigen Autorität“ fehle, so daß unter den Nonnen „ewige Neckereyen und Disharmonien“ herrschten153. Am 5. Februar 1811 hob Herzog Friedrich August von Nassau das Kloster Gottesthal auf 154. Die Klosterfrauen erhielten je eine Pension von 300 Gulden. Auf Antrag wurde ihnen gestattet, sie außerhalb der nassauischen Lande zu verzehren. Anders stand es um die Luidgardis Jung. Sie wollte die gleiche Pension in Empfang nehmen, was ihr jedoch verweigert wurde. Steinberger hielt am 28. Oktober 1811 fest: Der Jung sei der Bezug der 30 f, die sie jährlich aus dem Kloster empfangen hatte, aus der hessischen Staatskasse zugesichert worden. Auf den Genuß einer gleichen Pension, wie sie den übrigen Klosterfrauen bewilligt worden ist, habe sie „in keinem Betracht einigen Anspruch, da sie das Kloster vor vielen Jahren freywillig verlassen, somit durch diese Handlung auf die Sustentation aus dem Klostervermögen verzichtet hat“. Es hänge von der höchsten Entschließung ab, ob ihr „aus einer besonderen Gnade außer den gedachten 30 f einige weitere Unterstützung bewilligt werden wolle“155. Am 20. Februar 1812 lag dem Fürsten eine entsprechende Bittschrift der Luidgardis vor. Sie habe nie aufgehört, eine Konventualin von Gottesthal zu sein und sei nie von ihren Gelübden dispensiert worden. Da sie keine Möglichkeit habe, in das jetzt aufgehobene Kloster zurückzukehren, bitte 149
Karl Zeumer (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Leipzig 1904, S. 439–460, hier S. 444 (§12). 150
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 44 f.
151
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 45.
152
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
153
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
154
HStA Wiesbaden Abt. 29/441; Nr. V/2.
155
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
139
sie um eine Entschädigung156. Der mit der Sache befaßte Hofrat Pfeiffer bemerkte dazu, daß dieser „Vorwand“ nicht stichhaltig sei, da es ihr von 1788 bis 1811 „nie eingefallen ist, in das Kloster zurückkehren zu wollen, sie vielmehr in allen früheren Gesuchen nur um Rückgabe des eingebrachten nachgesucht hat“. Das Gesuch sei daher „ein für allemal“ abzuweisen 157. Der Fürst folgte diesem Vorschlag. Am 1. Juni 1812 wurde der Luidgardis mitgeteilt, daß ihr Gesuch auf höchste Entschließung hin abgelehnt worden sei 158. Als den Nonnen außer der jährlichen Pension noch je 33 Gulden zur Anschaffung weltlicher Kleider bewilligt wurden, war Luidgardis begreiflicherweise nicht unter den so Bedachten159. III. Maria Anna Emmerich 1. Die Ordensapostasie Der zweite Fall einer Gottesthaler Nonne, der hier vorgestellt wird, betrifft die Maria Anna Emmerich160. Die Äbtissin zeigte dem Vikariat an, daß die Professin Maria Anna Emmerich am 25. Mai 1784 des Nachts mit dem Weingartenknecht161 Martin Hammer „wider alles Wissen und Vermuthen“ flüchtig geworden sei. Hier ging es nicht mehr bloß um ein unerlaubtes Verlassen des Klosters, das weiterhin als die geistliche Heimat angesehen wurde, sondern um ein Fortgehen mit der Absicht, nicht mehr dahin zurückzukehren, also den klösterlichen Stand aufzugeben. Das Verlassen des Klosters in der Absicht, sich vom klösterlichen Stand loszusagen, ist das Vergehen der apostasia a religione. Die Ordensperson verfällt der Exkommunikation, ist (wenn nötig zwangsweise) in das Kloster zurückzubringen und dort in Haft zu halten 162. In dem vorliegenden Falle war die Verfehlung von einem Vergehen der Unzucht begleitet. Die Nonne unterhielt geschlechtliche Beziehungen zu dem Bediensteten des Klosters. Die geschlechtliche Versündigung mit einer gottgeweihten Person galt als
156
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
157
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2 (2. März 1812).
158
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
159
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
160
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 81.
161
Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S.113.
162
VI 3,24,2; Conc. Trid. Sess. 25 De regul. Cap 19 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta [Anm. 18], S. 782).
140
Georg May
Sakrileg163 und als Inzest164. Das Bischöfliche Ordinariat Mainz war alarmiert. Es faßte den Beschluß, wegen dieses Falles eine eigene Kommission nach Gottesthal zu schicken. Von der Äbtissin erwartete es, daß sie alle Mühe angewandt haben werde und noch anwenden werde, um die flüchtige Nonne zurückzuholen 165. Der Kurfürst ordnete an, daß der Geistliche Rat Koch sich nach Gottesthal begeben und dort eine genaue Untersuchung über das Entweichen der Emmerich anstellen solle166. Inzwischen langten weitere Informationen ein. Am 7. Juni 1784 legte der Provikar Valentin Heimes dem Vikariat ein Schreiben des Amtskellers Bender in Eltville167 samt Originalbriefen vor, welche die Emmerich und der Martin Hammer an den Pfarrer Jost in Mittelheim und den dortigen Einwohner Johannes Kuntz vor einigen Tagen geschrieben hatten. Das Vikariat gab dem Sekretär Scheurich den Auftrag, sich am folgenden Tage nach Höchst 168 zu begeben, um den sich dort vermutlich aufhaltenden Hammer und die Emmerich „auf schickliche Art“ ausfindig zu machen und beide unter Anrufung des weltlichen Arms festzunehmen und „in guter Verwahrung“ nach Mainz zu überführen169. Höchst gehörte zum Erzstift Mainz, so daß keine Schwierigkeit bestand, die staatliche Macht für die Festnahme der flüchtigen Nonne einzusetzen. Das Vikariat richtete nun ein Schreiben an den Prälaten der Abtei Eberbach, wonach er sich über folgende Punkte verantworten sollte: (1) Aus welchem Grund er „als bisheriger Ordensvisitator“ des Klosters Gottesthal seit seiner Wahl zum Abt170 das Kloster nicht ein einziges Mal visitiert habe, obwohl ihm nicht verborgen sein könne, daß „mancherlei … Gebrechen“ dies verlangt hätten. (2) Weshalb er die Emmerich, die gegen „allgemeinem Kloster-Gebrauch und Ordensvorschrift“ schon drei Jahre nach ihrer Profeß „auf die Abtei genommen“ und zu allerlei „nur denen Officiantinnen 171 zuständigen Geschäften und Verrichtungen“ verwendet und somit sehr jung „der Gefahr einer Sittenver163
C. 27 q.1 c. 11.
164
C. 27 q.1 cc. 14 und 17; D. 81 c. 3.
165
DA Mainz 1/072 S. 673 (27. Mai 1784); HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. II/1.
166
DA Mainz 1/072 S. 687 (1. Juni 1784).
167
Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 97 f.; Sante, Hessen (Anm. 2), S. 106 f. 168 Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 2), S. 135; Sante, Hessen (Anm. 2), S. 226–228. 169
DA Mainz 1/072 S. 710–711 (7. Juni 1784).
170
Adolph II. Werner aus Salmünster war Abt von 1750 bis 1795.
171
Zu den „Nonnenämtern“ vgl. Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 72–76.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
141
derbniß“ ausgesetzt worden sei, nicht in den Konvent zurückgewiesen habe. Es mußte ihm bekannt sein, daß die Äbtissin 172 „aus lauter Vorlieb“ für ihre Base „unter gebrauchtem leeren Vorwande“ gehandelt habe. (3) Warum er nicht sogleich bei der Anzeige des verdächtigen Umgangs eine Untersuchung der Emmerich eingeleitet und sie gehörig bestraft habe. Es sei ihm doch hinterbracht worden, daß der Umgang schon lange Zeit anhalte und sogar „bei sehr vielen auswärtigen Leuten“ Ärgernis erregt habe. (4) Der Abt sollte sich weiter verantworten, warum er, nachdem die Emmerich in den Konvent zurückverwiesen worden war und er die Entlassung des Weinbergsknechtes als notwendig erkannt und dies der Äbtissin zweimal auferlegt hatte, gegen die „Gehörlosigkeit“ der Äbtissin keine „schärfere Einsicht“ gebraucht habe. (5) Die Äbtissin habe ihn hierauf dringend aufgefordert, „zu Stillung der desfalls entstandenen Unruhe im Kloster“ den gefährlichen Umgang persönlich oder durch einen Beauftragten zu untersuchen. Das Vikariat fragte ihn, weshalb er dies unterlassen habe. (6) Man habe ihn, den Abt, von dem glaubwürdigen Verdacht unterrichtet, daß die Emmerich heimlich einen Hauptschlüssel 173 zu den „verbothenen Thüren“ habe. Das Vikariat wollte Antwort haben, weshalb er die Nachforschung unterlassen habe. Die Priorin hatte ihm (wie andere auch) die „mancherlei Ausschweifungen“ der Emmerich beschrieben. Er habe es unterlassen, ihr die gehörigen Weisungen zu erteilen, und sie nicht unterstützt, nach der Ordensregel „fürzufahren“; er habe sehen können, daß die Priorin „aus Menschenfurcht“ nicht ihres Amtes walten wollte und angesichts der Umstände dies auch nicht nützlich tun konnte. (7) Schließlich rügte das Vikariat, daß sich der Abt bis zu der Flucht nicht an das Erzbischöfliche Vikariat gewendet habe. Er hätte wissen müssen, daß die Behörde „bis dahin“ nichts von dem verdächtigen Umgang der Emmerich gehört hatte174. Dieser Fragenkatalog zeigt die Unzufriedenheit des Vikariates mit der Wahrnehmung des Aufsichtsrechtes über das Nonnenkloster durch den Eberbacher Abt. Man gewinnt den Eindruck, daß es den Fall Emmerich zum Anlaß nahm, eine alte Rechnung mit ihm zu begleichen. Zugunsten des Abtes muß allerdings erwähnt werden, daß er zeitweilig die Aufsicht über 14 Zisterzienserinnenklöster hatte, womit er zweifellos überfordert war. Die Suche nach dem flüchtigen Paar war erfolgreich. Am 21. Juni 1784 zeigte der Geistliche Rat Koch an, daß er die Emmerich und den ehemaligen Weingartenknecht Martin Hammer aus Frankfurt zurückgebracht habe. Die Professin
172
Es war noch (bis 1786) Maria Francha Müller.
173
Zu den Schlüsseln in Gottesthal vgl. Monsees, Gottesthal (Anm. 2), S. 73–75.
174
DA Mainz 1/072 S. 721–724 (8. Juni 1784).
142
Georg May
habe er einstweilen in das St. Agnes-Kloster 175 verbracht, den Hammer aber in einem Vikariatszimmer verwahrt176. Der Prälat zu Eberbach, dem das Vikariat schwere Vorwürfe wegen Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht gemacht hatte, suchte sich zu rechtfertigen und brachte seinerseits Ausstellungen am Vorgehen des Vikariats in klösterlichen Angelegenheiten vor. Das Vikariat wies diese aufgrund eines Befehls des Kurfürsten in scharfer Form zurück und stellte „die verdiente Ahndung“ in der Zukunft in Aussicht 177. Dieses Aufschieben dürfte auf die Verlegenheit des Vikariats zurückzuführen sein, wie die Versäumnisse des Abtes zu „ahnden“ seien. Eine spätere Untersuchung der Verhältnisse in Gottesthal durch den versierten Geistlichen Rat Chandelle förderten aufschlußreiche Einzelheiten bezüglich der klösterlichen Disziplin zutage. Chandelle stufte die Priorin als „zu schüchtern, zu gut und zu nachgiebig“ ein, „auch allerdings etwas einfältig“ 178. Sie habe das Schlafhaus „gar zu oft offen gelassen, welches zu aller Ausschweifung Gelegenheit gab, auch die Flucht der Emerichin besonders“ 179. Chandelle schrieb, „von der Emerichin will behauptet werden, das sie einen Schlüssel gehabt habe, welches dann auch seyn kann“180. Das Vikariat sah die Schuld an dem Vorgang bei der Maria Anna Emmerich. Es meinte, der „Complex“181 Martin Hammer sei zu dem unerlaubten Umgang von der Emmerich verführt worden. Er habe, um sich von der sündhaften Gelegenheit zu entfernen, wiederholt die Entlassung aus den Diensten des Klosters verlangt. Er scheine seinen Fehltritt zu bereuen. Ihm fielen lediglich „iterata delicta carnis cum persona Deo sacrata“ 182 zur Last. Er sei daher nicht so strafbar, daß er auf eine Zeitlang des Landes verwiesen 183 oder für mehrere Jahre den 175
Das Kloster St. Agnes in Mainz war ein Konvent von Zisterzienserinnen (Handbuch der Diözese Mainz [Anm. 68], S. 29). 176 DA Mainz 1/072 S. 792 (21. Juni 1784). An diesem Tag lag auch die „Verantwortung“ des Prälaten zu Erbach vor. Ebenso wurden dem Koch die Kosten seiner Unternehmung ersetzt. 177
DA Mainz 1/072 S. 823–825 (25. Juni 1784).
178
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/2 (30. Juli 1787).
179
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/2.
180
DA Limburg Abt. 110 Nr. A/2.
181
Der Complex ist der Mitschuldige an einer Straftat. Vgl. Nicolaus München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 2 Bde., 2. Ausgabe, Köln, Neuß 1824, I, S. 76. 182 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht (Anm. 181), II, S. 449 f.; Joseph Hollweck, Die kirchlichen Strafgesetze, Mainz 1899, S. 269. 183
H. Holzhauer, Landesverweisung (Verbannung), in: HRG II, 1978, S. 1436–1448.
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
143
kaiserlichen Werbern184 überliefert werden könne. Es sei genug, wenn er drei Wochen lang in Arrest bleibe und über den anderen Tag nur mit Brot und Wasser gespeist werde, damit er die bereits angefangene Rekollektion 185 fortsetze und sich zu der fälligen Generalbeicht 186 gehörig vorbereite. Er solle demnächst nach Erfurt geschickt werden, um dort seinen Militärdienst zu leisten 187. Das zum Mainzer Staat gehörige Erfurt hatte eine ständige Besatzung von mainzischen und kaiserlichen Truppen. Der Petersberg und der Cyriaksberg waren festungsartig ausgebaut. Das Vikariat trug dem Pfarrer Christian Schick der Mainzer Kirche St. Quintin188 auf, sich zu dem Hammer zu begeben und ihn zu einer Generalbeicht vorzubereiten. Der Hammer sollte gleich in Mainz zum Militär eingezogen und dann in die Garnison zu Erfurt kommandiert werden 189. Der Stadtgouverneur Freiherr von Gymnich 190 schickte ihn tatsächlich nach Erfurt191. Der Umgang der Anna Maria Emmerich mit dem Martin Hammer war nicht ohne Folgen geblieben. Sie war schwanger geworden und hatte Aufnahme bei dem Mathaeus Knecht gefunden, der für die Unkosten entsprechend entschädigt wurde. Das Vikariat ging milde mit ihr um. Es könnten ihr auch „einige Schalen Caffee“ gereicht werden. Vom Besuch der Messe an Sonn- und Feiertagen wurde sie bis auf weiteres dispensiert 192. Vermutlich wollte man ihr ersparen, von der Bevölkerung begafft zu werden; in den damaligen engen Verhältnissen konnte ihr Fall kaum geheim gehalten werden. Da der derzeitige Aufenthaltsort der Emmerich als unschicklich befunden wurde, ordnete das Vikariat an, daß sie an einen geeigneten Ort in Marienborn 193 gebracht werde194 . Dort befand sich das Priesterhaus, das auch als Korrektionsanstalt für Geistliche 184
F.-W. Wilte, Soldatenwerbung, in: HRG IV, 1990, S. 1693–1695.
185
Darunter ist die Bekehrung und Geisteserneuerung zu verstehen.
186
Die Generalbeicht besteht in der Wiederholung früher erfolgter Beichten und erstreckt sich über einen längeren Zeitabschnitt. 187
DA Mainz 1/072 S. 832–834 (25. Juni 1784).
188
Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 68), S. 71.
189
DA Mainz 1/072 S. 841–842 (28. Juni 1784).
190
Elisabeth Darapsky, Mainz. Die kurfürstliche Residenzstadt 1648–1792, Mainz 1995, S. 334, 335. 191
DA Mainz 1/072 S. 976 (26. Juli 1784).
192
DA Mainz 1/972 S. 1238–1239 (13. September 1784).
193
Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 68), S. 117 f.
194
DA Mainz 1/072 S. 1307–1308 (27. September 1784).
144
Georg May
diente195. Allerdings ist nicht bekannt, daß jemals eine weibliche Person darin festgehalten wurde. Der Erzbischof verfügte jedoch, daß die Emmerich nicht aufs Land, sondern in ein schickliches Haus in Mainz nach Anordnung des Fiskals Bernhard Sebastian Horn196 verbracht werde197. 2. Die Säkularisation Die Anna Maria Emmerich war inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß sie im Kloster fehl am Platze sei; sie wollte in die Welt zurückkehren, d. h. aus dem klösterlichen Stande ausscheiden. Sie begehrte eine völlige Befreiung von den Gelübden ohne Bedingungen und Einschränkungen. Am 9. Dezember 1784 lag dem Vikariat eine entsprechende Bittschrift vor 198. Das Vikariat beriet darüber am 13. Dezember 1784. Es beschloß, selbst den Antrag auf Säkularisierung beim Apostolischen Stuhl zu stellen 199. Dem Vikariat war bewußt, daß die Lösung der Gelübdebindung einer Ordensperson mit feierlichen Gelübden allein durch den Papst erfolgen konnte200. Der Kurfürst ließ es am 1. Dezember 1784 „geschehen“, daß das Vikariat das Gesuch dem Mainzer Agenten Johann Baptist Fargna201 in Rom „zur Betreibung“ übertragen werde. Bis zur Bescheidung solle die Emmerich in ihr Kloster verbracht und in einem Zimmer „verwahrlich aufbehalten werden“202. Dagegen verwahrte sich die Nonne. Sie bekundete ihre Entschlossenheit, nicht wieder in ihr Profeßhaus einzutreten, sondern „in die weite Welt zu gehen“203. Eine erneute Bittschrift der Emmerich an den Kurfürsten beantwortete das Vikariat mit dem Entscheid, es bleibe bei dem Beschluß vom 16. Dezember204. Das Vikariat schien zunächst gewillt, die Zuständigkeit des Apostolischen Stuhles für die Aufhebung der Gelübdebindung zu respektieren. Doch aus uns 195
Georg May, Das Priesterhaus in Marienborn, Mainz 2005.
196
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 455.
197
DA Mainz 1/072 S. 1334–1335 (11. Oktober 1784).
198
DA Mainz 1/072 S. 1750.
199
DA Mainz 1/072 S. 1773.
200
Kreutzwald, Gelübde, in: KL V, 2. Aufl., 1888, S. 240–246, hier S. 245.
201
Georg May, Die Auseinandersetzungen zwischen den Mainzer Erzbischöfen und dem Heiligen Stuhl um die Dispensbefugnis im 18. Jahrhundert (= Adnotationes in Ius Canonicum, Bd. 40), Frankfurt am Main 2007, S. 213, 237, 240, 424. 202
DA Mainz 1/072 S. 1780.
203
DA Mainz 1/072 S. 1817 (20. Dezember 1784).
204
DA Mainz 1/072 S. 1856 (28. Dezember 1784).
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
145
unbekannten Gründen setzte ein Sinneswandel ein. Am 31. Januar 1785 ließ das Vikariat den Minister Fargna in Rom anweisen, das Gesuch der Emmerich auf Dispens von den Gelübden bis auf weiteres ruhen zu lassen 205. Das Mainzer Ordinariat hatte vermutlich vernommen, daß die gewünschte Dispens vom Heiligen Stuhl nicht werde erlangt werden können. Tatsächlich wurde eine volle Aufhebung der feierlichen Gelübde vom Papst höchstens in seltenen Ausnahmefällen gewährt206. Thomas von Aquin stritt sogar der Kirche und auch dem Papst das Recht ab, von den feierlichen Gelübden zu dispensieren 207. Aber das Erzbischöfliche Ordinariat Mainz wußte sich zu helfen. Die episkopalistischen Ansichten, die hier seit langem eine Stätte hatten 208, mögen die Behörde auf den Gedanken gebracht haben, die benötigte Dispens ex potestate ordinaria Episcopi erteilen zu dürfen. Die Nonne versetzte indes das Vikariat erneut in Aufregung. Sie ergriff nämlich die Flucht aus ihrem Mainzer Verwahrungsort. Vermutlich fürchtete sie, zwangsweise in ihr Kloster zurückgebracht zu werden. Das Vikariat hielt es für möglich, daß sie den Weg nach Erfurt nahm, wo der ehemalige Weinbergsknecht Hammer, mit dem sie zu tun gehabt hatte, beim Militär stand, und forderte deswegen das Geistliche Gericht zu Erfurt 209 auf, sie sogleich festzunehmen, falls sie dort auftauchen sollte210. Aber sie ging nicht nach Erfurt. Am 30. Juni 1785 zeigte die Emmerich an, daß sie sich auf dem Fahr bei Neuwied 211 aufhalte. Neuwied war wegen seiner konfessionellen Toleranz bekannt. In dieser Stadt lebten die Angehörigen mehrerer protestantischer Bekenntnisse und Gemeinschaften nebeneinander sowie auch einige Katholiken. Von dort wieder-
205
DA Mainz 1/073 S. 164 (31. Januar 1785).
206
Piontek, De indulto exclaustrationis necnon saecularizationis (Anm. 120), S. 191– 193, 205–214. 207
Summa theologiae IIa IIae q. 88 Nr. 11.
208
Die Einstellung, die bei der Mehrheit des Mainzer Vikariats diesbezüglich herrschte, findet sich beschrieben bei Georg Ludwig Carl Kopp, Die katholische Kirche im neunzehnten Jahrhunderte und die zeitgemäße Umgestaltung ihrer äusseren Verfassung mit besonderer Rücksicht auf die in dem ehemaligen Mainzer, später Regensburger Erzstifte hierin getroffenen Anstalten und Anordnungen, Mainz 1830, S. 301–313, 457–472. 209
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 790–809.
210
DA Mainz 1/073 S. 289–290 (24. Februar 1785).
211
Handbuch des Bistums Trier, Trier 1952, S. 317–319; Neuwied, in: Ludwig Petry (Hrsg.), Rheinland-Pfalz und Saarland (= Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, 5. Bd.), 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 260.
146
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holte die Emmerich ihr Gesuch pro Saecularisatione 212. Das Vikariat beschloß: Ad Acta. Die Sache lief. Der Mainzer Agent in Rom hatte die Bitte der Emmerich um Säkularisation nicht sistieren können; der Antrag nahm seinen Gang, aber er hatte nicht den erhofften Ausgang. Am 22. August 1785 teilte Johannes Fargna mit, der Papst habe das Gesuch der Emmerich abgelehnt 213. Diese Weise der Bescheidung war in der damaligen Zeit die Regel. Der Apostolische Stuhl erteilte die Dispens lediglich aus öffentlichen, nicht aus privaten Gründen; nur solche sah er im Falle der Emmerich gegeben. Am 1. Dezember 1785 hatte sich das Vikariat mit der Bittschrift der Constantia Volmar, einer Schwester der Emmerich, zu befassen, die darauf antrug, dem Kloster Gottesthal die Unterhaltung ihrer Schwester aufzutragen. Das Vikariat forderte die Bittstellerin auf, „vordersamst“ für die Rückkehr ihrer Schwester zu sorgen 214. Dazu war diese jedoch um keinen Preis zu bewegen. Der Antrag auf Unterhalt war unbillig. Eine Nonne, die ihre klösterliche Heimat auf eigene Faust verlassen hatte und nicht gewillt war zurückzukehren, konnte keine Ansprüche gegenüber ihrem Kloster erheben. Die Angelegenheit der Maria Anna Emmerich kam nicht weiter. Das Jahr 1785 verging, ebenso das folgende. Die Nonne wurde begreiflicherweise unruhig, weil die kirchliche Entscheidung und Regulierung ihrer Verhältnisse auf sich warten ließ. Man darf vermuten, daß sie Gewissenspein litt. Am 5. März 1787 lag dem Vikariat eine „Vorstellung“ der Emmerich vor. Die Behörde reichte sie dem Geistlichen Rat Johann Leonhard Becker 215 weiter216. Am 10. April 1787 hatte das Vikariat eine an den Kurfürsten gerichtete Bittschrift der Nonne (mit dessen Bemerkungen) in Händen 217. Am 3. Mai 1787 übergab die Emmerich eine erneute „gehorsamste Vorstellung“. Es mußte etwas geschehen. Die Mehrheit des Vikariats faßte den Beschluß, dem Vorschlag des Referenten Becker zuzustimmen218. Dieser ging dahin, der Erzbischof solle die Säkularisation der Emmerich aus eigener Machtvollkommenheit vornehmen. Das Referat und der Beschluß vom 3. Mai 1787 wurden dem Kurfürsten übersandt 219. Der Kurfürst stimmte am 17. August 1787 dem Beschluß zu. Doch sollte erst nach 212
DA Mainz 1/073 S. 914–915.
213
DA Mainz 1/073 S. 1114. Kosten: S. 1141 (29. August 1785).
214
DA Mainz 1/073 S. 1498.
215
May, Die Organisation (Anm. 25), S. 392, 397, 399, 401, 618.
216
DA Mainz 1/075 S. 328 (5. März 1787).
217
DA Mainz 1/075 S. 492–493.
218
DA Mainz 1/075 S. 592.
219
DA Mainz 1/075 S. 599 (7. Mai 1787).
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
147
Ablauf von vier Wochen „die diesfallsige Dispenz förmlich expediret werden“220. Am 19. Juli 1787 wurde der Maria Anna, sonst Ludovica Emrich zunächst die Erlaubnis erteilt, sich außerhalb ihres Klosters (Gottesthal) aufzuhalten, in weltlichen Kleidern zu gehen und das Gebet der Tagzeiten zu unterlassen221. Dies war eine Exklaustration, damals Säkularisation genannt, aber nicht die gewünschte Dispensation von den Gelübden (mit der Möglichkeit, eine Ehe zu schließen). Die Emmerich schien die Geduld zu verlieren. Sie drängte auf völlige Befreiung von der Bindung der Gelübde. Am 1. Oktober 1787 überreichte sie „wegen ihrer Dispensation“ eine weitere Vorstellung222. An diesem Tage faßte das Vikariat den entscheidenden Beschluß: „Es wird die bisherige Professin in dem Gottesthaler Kloster Anna Maria Emrichin von ihren Ordensgelübden hiermit vollkommen dispensiret und derselben die Erlaubniß ertheilet, in den weltlichen Stand zurückzutreten“223. Dieser Beschluß, den sich der Erzbischof zu eigen machte, gab der Emmerich endlich die ersehnte Freiheit. Doch um welchen Preis! Wir stehen am Vorabend des Emser Kongresses. Dort wurde das uneingeschränkte Dispensrecht der Bischöfe verfochten, wenn auch nicht voll verabschiedet224. Doch man behalf sich mit Umgehung des päpstlichen Vorbehaltsrechtes. Das Mainzer Vikariat entwickelte unter den beiden letzten Erzbischöfen die Praxis, aus einem päpstlichen Fall einen bischöflichen zu machen, zur Virtuosität. Das heißt: Wenn der Heilige Stuhl eine Dispens nicht erteilte oder wegen Schwierigkeiten nicht angegangen werden konnte, sahen der Erzbischof und seine Behörde sich befugt, bei Vorliegen von Gründen (die sich immer finden ließen) die (an sich dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene) Dispens zu geben. So verfuhren sie auch im Falle der Emmerich. Das Ordinariat nahm ihre vollständige Säkularisation vor. Es war, gelinde gesagt, eine Anmaßung und Unverfrorenheit, eine Entscheidung des Apostolischen Stuhles umzustoßen und gegenteilig zu entscheiden. Aber die gereizte Stimmung gegen die oberste kirchliche Autorität erklärt die Leichtigkeit, mit der dies geschah. Die Emmerich wird dankbar gewesen sein, auf diese Weise ihr Ziel erreicht zu haben. Sie hatte inzwischen eine neue Verbindung ins Auge gefaßt. Sie wollte den Christoph Friedel aus Nürnberg heiraten. Dieser kam ein um Dissimoriales225, damit er „anderstwo“ als in Mainz kopuliert werden könne. Das Vikariat 220
DA Mainz 1/075 S. 1130–1131 (20. August 1787).
221
DA Mainz 1/075 S. 978 (19. Juli 1787).
222
DA Mainz 1/075 S. 1359.
223
DA Mainz 1/075 S. 1359.
224
May, Die Auseinandersetzungen (Anm. 201), S. 82.
225
Schreiben mit Trauvollmacht für einen an sich nicht zuständigen Pfarrer.
148
Georg May
lehnte es ab, sie auszustellen226. Die Behörde wollte den Vorgang der Eheschließung in einem so delikaten Fall im Auge behalten. Der (protestantische) Friedel und die Emmerich baten dann um Dispens von den drei Aufgeboten 227 und vom Hindernis des tempus sacratum228. Die Brautleute hatten den begreiflichen Wunsch, alles Aufsehen zu vermeiden und endlich zu der gewünschten Eheschließung zu gelangen. Der Mainzer Generalvikar war einsichtig, erteilte die Dispensen und ermächtigte den Pfarrer der Braut, die beiden Ehewerber zu kopulieren, „si nullum constat Impedimentum Canonicum et praestito Juramento de Statu libero ex parte Sponsi“229. Die Ludovica Emerich heiratete dann den Friedel. Doch noch fand sie keine Ruhe. Ihr einstiger Entführer, Martin Hammer, verbreitete den „unglücklichen Vorfall“, den sie mit ihm gehabt hatte, in der Stadt Mainz und stellte „allerhand Foderungen“ (sic) an sie. Das Vikariat schlug vor, der Kurfürst solle dem Mainzer Gouverneur aufgeben, dem Hammer den geschärften Befehl zu erteilen, die Friedel in Ruhe zu lassen und von dem Vergangenen zu schweigen. Falls er nicht gehorche, solle man ihn nach Erfurt zurückschicken oder anderswohin verlegen230. Der Kurfürst sagte am 1. März 1788 zu, die nötigen Vorkehrungen zu treffen231. Damit verschwindet der Fall aus den Akten. IV. Schluß Die kleine Studie hat das klösterliche Geschick zweier Nonnen des Zisterzienserinnenklosters Gottesthal im (damals mainzischen) Rheingau zum Gegenstand. Es handelt sich bei dem Geschehen der zwei behandelten Personen nicht um außergewöhnliche Begebnisse, sondern um Vorgänge, wie sie bei Menschen, die einem hohen Ideal in Gemeinschaft nachstreben, immer vorkommen. Dennoch gestatten sie einige Feststellungen. Die beiden Fälle lassen erkennen, daß Schonung und Nachsicht der Klosteroberen die Bande der Disziplin schwächen. Es ist immer schwierig, zwischen Milde und Strenge die rechte Mitte zu finden. Von einem allgemeinen oder gar erschreckenden Niedergang war das Kloster Gottesthal am Vorabend seiner Aufhebung jedoch weit entfernt. Dazu stimmt, daß die Nonnen ihren Schmerz über die Liquidierung ihrer geistlichen 226
DA Mainz 1/075 S. 1655 (26. November 1787).
227
Sägmüller, Lehrbuch (Anm. 34), II, S. 110–115.
228
Sägmüller, Lehrbuch (Anm. 34), II, S. 192 f.
229
DA Mainz 1/075 S. 1793 (17. Dezember 1787).
230
DA Mainz 1/076 S. 355–356 (25. Februar 1788).
231
DA Mainz 1/076 S. 414 (3. März 1788).
Exklaustration und Säkularisation im 18. Jahrhundert
149
Heimat bekundeten232. Das Mainzer Ordinariat als die Gesamtheit von Erzbischof und Generalvikariat wachte aufmerksam über die Einhaltung der klösterlichen Ordnung in den ihm unterstellten Konventen. Die Abneigung gegen die Exemtion der Orden mag manche Schärfe in ihren Formulierungen und Maßnahmen erklären. Gegenüber den einzelnen Religiosen war sie bei aller Wachsamkeit zu Verständnis und Wohlwollen bereit. Es ist denkbar, daß Personen ohne klösterliche Berufung in den Ordensstand eintreten oder die einmal besessene Berufung verlieren. In beiden Fällen kann durch Arbeit und Bekehrung unter dem Einfluß der Gnade die fehlende Berufung erworben oder die verlorene Berufung wiedergewonnen werden. Wo dies nicht gelingt, stellt die Kirche Einrichtungen zur Verfügung, die dem Kloster Beunruhigung ersparen und den einzelnen Ordenspersonen Erleichterung bringen sollen: Exklaustration und Säkularisation. Das erste Institut wurde zur damaligen Zeit wie selbstverständlich praktiziert, das zweite nur in seltensten Ausnahmen, und dann nur durch die höchste kirchliche Instanz. Das Mainzer Ordinariat allerdings – im Fahrwasser von Febronianismus und Episkopalismus – hielt sich für berechtigt, die Verweigerung des Heiligen Stuhles durch einen eigenen angemaßten jurisdiktionellen Akt zu korrigieren.
232
HStA Wiesbaden Abt. 29 Nr. V/2.
Katholische Kirchengemeinden in Italien? Reflex einer mitteleuropäischen Bewegung im 19. Jahrhundert Von Martin Grichting Martin Grichting Nach der Französischen Revolution kam es in Europa in mehreren Wellen und in einer nicht linear verlaufenden Entwicklung zur allmählichen Demokratisierung der Gesellschaften und der Staaten. Dies wirkte sich in verschiedenen mitteleuropäischen Ländern auch auf die katholische Kirche aus. War noch die „Constitution civile du Clergé“ (1795) ein zwar gewalttätiges, aber letztlich kurzlebiges Projekt zur Demokratisierung der katholischen Kirche gewesen1, so zeitigten entsprechende Versuche in anderen Ländern nachhaltigere Wirkungen. Neben verschiedenen Schweizer Kantonen, als Beispiel sei etwa Zürich genannt2, ist hier vor allem Deutschland zu erwähnen. Hier sah bereits das 1794 erlassene „Allgemeine Landrecht für die Preussischen Staaten“ (ALR) für die Vermögensverwaltung kirchlicher Gemeinschaften demokratische Elemente vor3. Weitreichende Wirkungen hatte dann vor allem das auf dem Höhepunkt des Kulturkampfs im Jahre 1875 erlassene preussische „Gesetz über die Vermögens-Verwaltung in den katholischen Kirchengemeinden“ 4, wel1 Der Text ist etwa greifbar bei: Zaccaria Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche, Tübingen 1926, S. 3–12, vgl. vor allem Tit. II, Art. 1–3. Joseph Lortz, Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung, Bd. 2, 22. Aufl. Münster 1965, S. 283, kann man zustimmen, wenn er sagt, die Zivilkonstitution sei ausgerichtet gewesen auf „die Zerstörung der katholischen Hierarchie apostolischer Sukzession und letztlich des sakramentalen Priestertums“. 2 Zur schrittweise erfolgten Demokratisierung der dortigen evangelisch-reformierten Staatskirche im 19. Jahrhundert vgl. Martin Grichting, Kirche oder Kirchenwesen? Zur Problematik des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Schweiz, dargestellt am Bei spiel des Kantons Zürich, Fribourg 1997, S. 41–52 und 58–70. 3 Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten von 1794. Textausgabe. Mit einer Einführung von Dr. Hans Hattenhauer, 2. erw. Aufl., Neuwied / Kriftel / Berlin 1994, S. 543–584. Im Abschnitt II 11 sah das ALR für Religionsgemeinschaften insgesamt 1232 Paragraphen vor, vgl. dazu vor allem §§ 156, 159, 217, 552 und 624. 4
182.
Vgl. das Gesetz und die dazu gehörige Wahlordnung, in: AfkKR 34 (1875), S. 167–
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Martin Grichting
ches die Einrichtung von demokratisch strukturierten Kirchengemeinden vorsah, denen auch die Vermögensverwaltung zukommen sollte. Der Verfasser des Gesetzes, der evangelische Jurist und Kanonist Paul Hinschius, umschrieb das Ziel des Gesetzes folgendermassen: „Das Gesetz bietet somit den Laien die Möglichkeit, bei der Verwaltung ihrer kirchlichen Vermögensangelegenheiten sich dem alles beherrschenden Einfluss des Klerus zu entziehen, und kann der Ausgangspunkt für eine Zurückweisung der klerikalen Bevormundung auch in anderen Beziehungen werden“5. In Österreich kam es im 19. Jahrhundert zu zwei Versuchen, die katholische Kirche mittels der Schaffung von Kirchengemeinden zu demokratisieren. Demokratisierung der Gesellschaft sollte nämlich auch dort nicht heissen, die Kirche aus ihrer Existenz als Staatskirche zu entlassen. Vielmehr sollte die bisherige Staatskirche in die Demokratisierung einbezogen werden gemäss der Devise des böhmischen Abgeordneten Adolf Maria Pinkas, welche er im Kremsierer Reichstag von 1848 propagiert hatte: „Wenn wir keine Staatskirche anerkennen, so wird die Macht des Episkopats eine den Klerus knechtende furchtbare Macht, was sich schon jetzt zeigt ...“ 6 Und entsprechend lautete § 13 des Verfassungsentwurfs von 1848: „... 3. Das Recht, die Kirchenvorsteher durch freie Wahl zu bestellen, wird den kirchlichen Gemeinden und Synoden, zu welchen auch die Gemeinden Vertreter senden, eingeräumt. 4. Das Kirchenvermögen wird durch Organe, welche von den kirchlichen Gemeinden oder nach Umständen von Diözesan- oder Provinzialsynoden zu wählen sind, unter dem Schutze des Staates verwaltet ...“7. Das mitten im Kulturkampf erlassene „Gesetz über die äusseren Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche“ („Katholikengesetz“) vom 7. Mai 18748 urgierte dann die Gründung von kirchensteuereinzugsberechtigten „Pfarrgemeinden“ (§ 35 und 36). Beide Vorstösse scheiterten allerdings aufgrund politischer Umbrüche.
5 Paul Hinschius, Die Preussischen Kirchengesetze der Jahre 1874 und 1875 nebst dem Reichsgesetze vom 4. Mai 1874, herausgegeben mit Einleitung und Kommentar von P. Hinschius, Berlin 1875, S. XXIII. 6 Alfred Fischel (Hrsg.), Die Protokolle des Verfassungsausschusses über die Grundrechte. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Reichstags vom Jahre 1848, Wien / Leipzig 1912, S. 121. 7
Ebd., S. 200.
8
Greifbar in: AfkKR 32 (1874), S. 211–222.
Katholische Kirchengemeinden in Italien?
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I. Kirchenpolitische Theorien des Ministerpräsidenten Bettino Ricasoli So wie die französischen und deutschen Säkularisationen (1789 und 1803) sowie die österreichischen Religionsfonds im „Fondo per il culto“ im Italien des 19. Jahrhunderts ihren Nachhall und zumindest teilweise ihre Umsetzung fanden9, so führten auch die einleitend angeführten Demokratisierungstendenzen zu Nachahmungsversuchen in Italien. Es war Camillo Cavours Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten des sich einigenden Italiens, der toskanische Baron Bettino Ricasoli (Ministerpräsident 1861/1862 und 1866/1867), der eine Demokratisierung der katholischen Kirche von oben versuchte 10. Und diese „Kirchenreform“ sollte gerade durch eine Umgestaltung der Art und Weise des Besitzes und der Verwaltung des Kirchenvermögens realisiert werden. Denn Ricasoli sah die Macht des hohen Klerus letztlich in dessen Einfluss auf das Kirchenvermögen begründet. Durch das Kirchenvermögen vermöchten Papst und Bischöfe die Laien und den niederen Klerus zu unterdrücken. Durch eine Reform des kirchlichen Vermögensrechts sollte deshalb der Staat den Laien und dem niederen Klerus wieder einen Zugang zur Mitwirkung in der Kirche eröffnen11. Dem entsprechend machte Ricasoli dann in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts Vorschläge, welche zwar damals in Italien utopisch erscheinen mochten, es im skizzierten europäischen Kontext jedoch keineswegs waren: Die Verfassung der Kirche hätte nämlich nachhaltig verändert werden sollen, indem die kirchliche Vermögensverwaltung auf Pfarrei- und Diözesanebene demokratisch strukturierten, vereinsähnlichen Gebilden übertragen werden sollte. Ricasoli begründete seinen Vorschlag gut demokratisch: „Die Gemeinden repräsentieren die Gläubigen, welche die Kosten für den Kultus aufbringen müssen und denen deshalb das Eigentum an dem Vermögen zusteht, welches für den Kultus bestimmt ist. Dieser Aspekt ist zeitlicher Natur (‚temporale‘), und darüber haben der Staat, die Gemeinden und die Bürger das Recht der Repräsentanz“12. 9
Vgl. dazu Martin Grichting, Das Verfügungsrecht über das Kirchenvermögen auf den Ebenen von Diözese und Pfarrei, 2. Aufl., St. Ottilien 2012, S. 201–266. Das Folgende zu Italien stützt sich weitgehend auf dieses Werk und nimmt längere Textpassagen und Ergebnisse auf. 10 Vgl. Mario Tedeschi, Gli ideali giovanili di riforma ecclesiastica di Bettino Ricasoli, in: ders., Saggi di diritto ecclesiastico, Torino 1987, S. 347–396, hier 376 u. 384; vgl. auch Stelio Marchese, La riforma mancata. Le idee religiose di Bettino Ricasoli, Milano 1961, S. 97–101; vgl. Arturo Carlo Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica nel regno di Sardegna e nel regno d’Italia (1848–1888), 2. Aufl., Bologna 1974, S. 104 f.; vgl. auch ders., Chiesa e Stato in Italia dalla unificazione agli anni settanta, Torino 1977, S. 26–29. 11
Vgl. dazu Marchese, La riforma mancata (Anm. 10), S. 97 f.
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In der Folge ging Ricasoli so weit, das Recht der Gläubigen, das Kirchenvermögen zu verwalten, als Teil der Religionsfreiheit – ja, als ein ihnen von ihrem Kirchenverständnis her zustehendes Recht – hinzustellen: „Nur um eine einzige Sache soll der Staat sich kümmern, nämlich den Bürgern ihre religiösen Freiheiten zurückzugeben, das heisst, das Recht, das zeitliche Vermögen der Kirche zu verwalten, so wie sie auch alle anderen örtlichen und nationalen Angelegenheiten gemäss den Gesetzen des Staates verwalten“ 13. Religionsfreiheit war für Ricasoli somit nicht einfach die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des einzelnen, auch nicht die Freiheit der Kirche, sondern die vom Staat geschützte Freiheit des Bürgers in der Kirche14. Demokratisierung der Gesellschaft sollte laut Ricasoli auch Demokratisierung der Kirche und somit die Wahl der Pfarrer und der Bischöfe bedeuten: „Die Italiener werden also in politischer und in bürgerlicher Hinsicht emanzipiert sein, aber nicht in religiöser Hinsicht? Sie sollen als fähig betrachtet werden, ihre vitalsten bürgerlichen und politischen Interessen wahrzunehmen, aber sie sollen nicht fähig sein, das Vermögen ihrer Kirche zu verwalten und ihre Pfarrer und ihre Bischöfe zu ernennen?“15. Die Forderung nach „religiöser“ Emanzipation sei – und damit liess Ricasoli seine „kirchenreformerischen“ Absichten vollends deutlich werden – letztlich doch nur eine Rückkehr zu den urkirchlichen Zuständen: „Der Staat muss der 12 Marco Tabarrini / Aurelio Gotti (Hrsg.), Lettere e documenti del Barone Bettino Ricasoli, Bd. 7, Firenze 1892, S. 147. 13
Ebd., Bd. 7, S. 261 f.
14
Vgl. dazu Marchese, La riforma mancata (Anm. 10), S. 127.
15
Tabarrini / Gotti (Hrsg.), Lettere e documenti del Barone Bettino Ricasoli, Bd. 7, (Anm. 12), S. 263 f. Bei Ricasoli scheint dabei ein bemerkenswerter Sinneswandel stattgefunden zu haben. So schrieb er noch am 12. Dezember 1849 aus Zürich, wo er sich mehrere Monate im Exil aufgehalten hatte: „Der Zustand des Protestantismus hier ist schmerzlich ... Bisher existierte in diesem Kanton eine Art von Kirchenräten, welche die Aufgabe hatten, eine Terna vorzuschlagen, aus der dann die Gemeinde den Pfarrer gewählt hat. Eine kürzlich erfolgte Änderung der betreffenden Verfassungsbestimmung hat für die Zukunft vorgeschrieben, dass die Gemeinde ihren Pfarrer direkt wählt. Das sind unnütze Versuche, die nicht die wirkliche Wunde heilen. Darüber hinaus muss er [der Pfarrer] sich alle paar Jahre einer Wiederwahl stellen. Mir scheint, dass das keine Wege sind, um zu erreichen, dass die religiösen Überzeugungen Gefühle seien, die das Pflicht bewusstsein für die Erfüllung der Gesetze schaffen ... Die Religion wird so zu einem weltlichen Interesse wie alle anderen auch. Man wählt den Pfarrer, wie man den Bürgermeister wählt. Aber unglücklicherweise ist das Wesen [der Religion] nicht von dieser Welt und die weltlichen Formen zerstören es, und es bleibt nur der Name einer göttli chen Sache“, in: Mario Nobili / Sergio Camerani (Hrsg.), Carteggi di Bettino Ricasoli, Bd. 3, Roma 1945, S. 460.
Katholische Kirchengemeinden in Italien?
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Gemeinschaft der Katholiken jene Rechte übergeben, die ihnen in den unglücklichen Zeiten des Despotismus und der Barbarei genommen worden sind. Diese Rechte bestehen in der freien Verwaltung des für den Kultus bestimmten Vermögens und in der Wahl ihrer Hirten“ 16. Da Ricasoli nicht nur Theoretiker war, sondern – wie erwähnt – in jenen Jahren einer der führenden Politiker Italiens, sollten diesen Überzeugungen bald Taten folgen. II. Ein Gesetzesentwurf zur Demokratisierung der katholischen Kirche im Italienischen Parlament (1865) Bettino Ricasoli, im Jahr 1865 wieder einfacher Abgeordneter, sah im Zuge des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung, den Zeitpunkt für gekommen, die katholische Kirche grundlegend zu reformieren, und zwar durch eine staatlicherseits durchzusetzende Demokratisierung, welche auch die Vermögensverwaltung umfassen sollte. Als Präsident einer Parlamentskommission, welche einen Gesetzesvorschlag (benannt nach dem Berichterstatter Corsi) ausarbeiten sollte, mittels dessen der katholischen Kirche im geeinten Italien ihr gesellschaftlicher Platz zugewiesen werden sollte 17, bekam er Gelegenheit, seine Vorstellungen von dem, wie die katholische Kirche zukünftig gestaltet sein sollte, in die Tat umzusetzen18. Auf Ricasolis Gedankengut beruhend, bestimmte das Gesetzesprojekt Corsi in Art. 1, das Eigentumsrecht an den für den Kultus bestimmten Gütern werde der „katholischen Gemeinschaft“ („comunione cattolica“) der Diözesen und Pfarreien anerkannt, die von einer „Diözesan- oder Pfarrkongregation“ („Congregazione diocesana o parrocchiale“) repräsentiert werde. Der jeweiligen Congregazione sollten alle zivilen Rechte am örtlichen Kirchenvermögen zukom16 Tabarrini / Gotti (Hrsg.), Lettere e documenti del Barone Bettino Ricasoli, Bd. 7, (Anm. 12), S. 309 f; vgl. auch Marchese, La riforma mancata (Anm. 10), S. 121 f; vgl. Arturo Carlo Jemolo, Chiesa e Stato in Italia negli ultimi cento anni, Torino 1948, S 289. 17 Vgl. den Gesetzesentwurf (Projekt Corsi) und die dazugehörige Relatio bei Giuliana D’Amelio (Hrsg.), Stato e Chiesa. La legislazione ecclesiastica fino al 1867, Milano 1961, S. 454–493. Zur Präsidentschaft Ricasolis vgl. Alfonso Bogge / Modesto Sibona, La vendita dell’asse ecclesiastico in Piemonte dal 1867 al 1916, Milano 1987, S. 35; vgl. auch Mario Falco, Il riordinamento della proprietà ecclesiastica. Progetti italiani e sistemi germanici, Torino 1910, S. 15. 18
Vgl. dazu Pietro Gismondi, Dottrina e politica ecclesiastica di Bettino Ricasoli, in: Rassegna storica del Risorgimento 24 (1937), S. 1071–1113 und 1257–1301, hier 1263; vgl. auch Cesare Mirabelli, I progetti parlamentari di soppressione degli enti regolari e di riforma dei patrimoni ecclesiastici (1864–1867), in: P. A. D’Avack (Hrsg.), La legislazione ecclesiastica, Vicenza 1967, S. 453–475, hier 460.
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men. Dem Kirchenvolk sollte dadurch „neben der Hierarchie, wenn nicht gegen sie“, eine eigene Repräsentanz geschaffen werden 19. Zu diesem Projekt der Demokratisierung gehörte, dass die Mitglieder der einzelnen Kongregationen von allen männlichen Katholiken, die das 30. Lebensjahr erreicht und in der betreffenden Pfarrei bzw. im Bistum Wohnsitz hatten, gewählt werden sollten. Näheres bestimme das Gesetz. Bis solche Wahlen stattgefunden hätten, würden vom Kultusminister ernannte Kommissionen die Aufgaben der Congregazioni übernehmen (vgl. Art. 2). Den „Kongregationen“ sollte ferner die Wahl des Bischofs bzw. des Pfarrers zustehen (vgl. Art. 3). Die Pfarrei- und Diözesankongregationen hätten laut dem Projekt Corsi die sich derzeit auf der Pfarrei- und Diözesanebene befindlichen finanziellen Mittel übertragen erhalten, wobei die Immobilien jedoch hätten verkauft werden müssen (vgl. Art. 4–6 und 14). Das Pfarrbenefizium wäre somit untergegangen20. Ebenfalls zu übertragen gewesen wären weitere finanzielle Mittel aufzuhebender Institutionen. So sollten die Diözesen massiv reduziert werden, auf eine Diözese pro staatlicher Provinz (vgl. Art. 15, Abs. 4). Ebenfalls hätten die Vermögensmassen der Kirchenfabriken und der Seminare sowie bestimmte weitere Erträge in die neuen Rechtsinstitutionen eingebracht werden sollen (vgl. Art. 5). Dafür sollten die jeweiligen Congregazioni die bisher vom Zentralstaat und von den Gemeinden getragenen Kultusausgaben übernehmen (vgl. Art. 7). Insbesondere hätten sie fortan die Entlohnung der Bischöfe und Pfarrer übernehmen müssen (vgl. Art. 8–11). Bischöfe und Pfarrer als Lohnempfänger der Gläubigen: Auch dies hätte dazu beigetragen, die Verfassung der Kirche tiefgreifend zu verändern21. Diese Massregeln seien nicht bloss ein Akt der Gerechtigkeit, meinte die Kommission Corsi, sondern auch Ausdruck der Klugheit und der Nützlichkeit für die Religion. Denn nun würden die Belange des Volkes mehr mit denjenigen des Priesters verbunden sein und umgekehrt. Das Eigentum und die Verwaltung des Kirchenvermögens seien dann zudem stärker mit dem geistlichen Aspekt des Kultus verbunden22. Auch für den Klerus habe dieses System Vorteile: Er werde befreit von der Vermögensverwaltung, damit aber auch von der Gier, der diejenigen ausgesetzt seien, die mit weltlichen Geschäften zu tun hätten. So könne sich der Priester fortan fern von allzu weltlichen Beschäftigungen besser und würdiger seiner hohen und achtenswerten Sendung widmen23. 19
Mirabelli, I progetti parlamentari (Anm. 18), S. 462.
20
Vgl. Bogge / Sibona, La vendita dell’asse ecclesiastico (Anm. 17), S. 36.
21
Vgl. Falco, Il riordinamento (Anm. 17), S. 17 und 20 f.
22
Vgl. D’Amelio (Hrsg.), Stato e Chiesa (Anm. 17), S. 461.
23
Vgl. ebd., S. 481.
Katholische Kirchengemeinden in Italien?
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Das Projekt der Kommission Corsi trug widersprüchliche Züge in sich. So war einerseits beabsichtigt, die Errungenschaften der italienischen Gesetzgebung – Demokratie und Mitbestimmung der Bürger – auch in der Kirche durchzusetzen24. Andererseits sollte durch dieses Vorgehen, das ja eine völlige Neustrukturierung der Kirche durch den Staat zur Folge gehabt hätte, gerade die Einflussnahme des Staates auf die Kirche beendet und so die Trennung von Kirche und Staat verwirklicht werden 25. Im Ergebnis war damit jedoch nicht die Freiheit der Kirche, wie sie nun einmal nach theologischem Selbstverständnis und kanonischem Recht konstituiert war, intendiert, sondern bestenfalls die Freiheit einer von Ricasoli postulierten Kirche, wie sie angeblich in den ersten Jahrhunderten existiert hatte26. Es ging hier somit – auch wenn die obligate Anrufung der Cavour’schen Formel von der freien Kirche im freien Staat im Gesetzesentwurf nicht fehlte27 – nicht um die Trennung von Kirche und Staat. Und es ging zugleich um weit mehr als um die freie Kirche in einem freien Staat 28. Es ging um eine vom Staat nach seinen Prinzipien durchzuführende Reform der Kirche. Das Mittel, um solches zu bewerkstelligen, war freilich reichlich unkonventionell: Die Neuordnung des kirchlichen Vermögensrechts sollte der Kirche ihre Rückkehr zu den – angeblichen – eigenen Wurzeln ermöglichen und ihr so neues Leben einhauchen 29. Nicht die „ideale Kirche“ wäre dann allerdings das Resultat gewesen, sondern ein neues „Unterdrückungssystem“ 30. 24
Ricasoli argumentierte in seiner Rede vor dem Parlament folgendermassen: „Non avete voi fondato l’autonomia municipale, l’autonomia provinciale? Fondate anche l’autonomia dell’associazione religiosa“, ebd., S. 501. 25
Vgl. dazu folgende Aussagen der relazione Corsi: „Se l’Italia deve entrare francamente nella via del progresso sì che i principi i più arditi debbano regolare la nostra legislazione civile, mal s’intende come le buone massime di progresso sociale non abbiano da stabilirsi ed attuarsi in questa così interessante materia dell’amministrazione temporale della Chiesa“, ebd., S. 482. Im nächsten Absatz hiess es dann: „... spogliate lo Stato di ogni attributo o potere sul culto, e vedrete tosto mancare ogni ragione di rappor to tra i due poteri, avrete la vera separazione dello Stato dalla Chiesa“, ebd., S. 483. Die se widersprüchliche Haltung konnte man schon erkennen im Denken von Bettino Ricasoli, vgl. Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica (Anm. 10), S. 104–107. 26
Vgl. Jemolo, Chiesa e Stato in Italia (Anm. 16), S. 289.
27
Vgl. D’Amelio (Hrsg.), Stato e Chiesa (Anm. 17), S. 457.
28
Vgl. Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica (Anm. 10), S. 116.
29
So schrieb die Kommission bezüglich der Volkswahl der Pfarrer und Bischöfe: „... la nomina ai benefizi è parte affatto temporale del culto, e doveva essere restituita a chi spetta“, in: D’Amelio (Hrsg.), Stato e Chiesa (Anm. 17), S. 462; vgl. dazu Mirabelli, I progetti parlamentari (Anm. 18), S. 462. 30
Falco, Il riordinamento (Anm. 17), S. 22 und 25.
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Das Fazit Arturo Carlo Jemolos erscheint deshalb gerechtfertigt: „Sicher gab es nicht wenige, die genügend hellsichtig und vorurteilslos waren, um zu erkennen, dass aus dem liberalen Italien nie eine religiöse Reform oder eine neue Kirchenstruktur hervorgehen würde. Sie beschworen diese erneuerte Kirche bloss als bequemes Instrument, um das Versprechen von Cavours Programm zu umgehen. Viele andere glaubten aber an eine solche Möglichkeit, die Kirche zu verändern und zu erneuern, und sie glaubten – was noch seltsamer erscheinen mag –, dass rechtlich-administrative Reformen, die sich auf den Bereich der Vermögensverwaltung beschränkten, fruchtbar sein könnten im Hinblick auf so weitreichende Konsequenzen.“31 Ricasoli musste sich schon vor dem Parlament gegen den Vorwurf wehren, was die Kommission Corsi vorschlage, sei eine Utopie 32. Denn viele erkannten, dass es nicht die Aufgabe des Staates sein konnte, die Kirche zu reformieren 33. Im Übrigen war völlig unklar, ob die Kirche sich überhaupt auf eine solche Demokratisierung eingelassen hätte und wie dann gegebenenfalls die rechtlichen Beziehungen zwischen den ja zumindest teilweise weiterhin bestehenden kanonischen Institutionen bzw. Amtsträgern und den neuen, vom Staat geschaffenen „Kongregationen“ auszugestalten gewesen wären. Wer zudem die bisher nie mit der Vermögensverwaltung betrauten Laien unterstützen und beaufsichtigen sollte, war ebenfalls unerfindlich. So wurde das Projekt von breiten Kreisen im Parlament als unanwendbar abgelehnt und ging unter34. III. Weitere Versuche zur Demokratisierung der katholischen Kirche in Italien Das Ende des Projektes Corsi bedeutete nicht, dass in Italien keine weiteren Versuche unternommen worden wären, die Kirche über eine Reform ihres Vermögensrechts zu demokratisieren. Der nächste Anlauf erfolgte im Jahr 1871 mit dem „Gesetz für die Garantie der Prärogativen des Papstes und des Heiligen Stuhls und für die Beziehungen des Staates mit der Kirche“ 35. Dessen erster Teil 31
Jemolo, Chiesa e Stato in Italia (Anm. 16), S. 287.
32
Vgl. D’Amelio (Hrsg.), Stato e Chiesa (Anm. 17), S. 502.
33
Vgl. Falco, Il riordinamento (Anm. 17), S. 22.
34
Vgl. Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica (Anm. 10), S. 116 f.; vgl. auch Falco, Il riordinamento (Anm. 17), S. 18 und 22; vgl. Bogge / Sibona, La vendita dell’asse ecclesiastico (Anm. 17), S. 37 f. 35
Vgl. den Text des Gesetzes vom 13. Mai 1871 bei Francesco Scaduto, Guarantigie pontificie e relazioni tra Stato e Chiesa (Legge 13 maggio 1871). Storia, esposizione,
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wurde berühmt als Versuch des nunmehr geeinten Italiens, nach dem Untergang des Kirchenstaats unilateral die rechtliche Stellung des Papstes und des Heiligen Stuhls zu definieren. Weniger bekannt, aber im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, ist der zweite Teil dieses Gesetzes, mit dem Italien beabsichtigte – ebenfalls unilateral – die rechtliche Stellung der katholischen Kirche (Diözesen, Pfarreien, Ordensgemeinschaften, etc.) im Inland zu definieren. Während in einem ersten Entwurf des Garantiegesetzes lediglich auf ein zukünftiges Gesetz verwiesen wurde, welches die Schaffung von Laienverbänden für die kirchliche Vermögensverwaltung andeutete, gingen 80 Abgeordnete der Deputiertenkammer, darunter Bettino Ricasoli, einen Schritt weiter 36: Sie stellten unter der Führung des Abgeordneten Ubaldino Peruzzi ein Gegenprojekt zum Garantiegesetz vor, in welchem wiederum von so genannten Congregazioni diocesane für die kirchliche Vermögensverwaltung die Rede war (vgl. Art. 27)37. Die „Diözesankongregationen“ hätten personell aus dem Diözesanbischof als Präsidenten, zwei Kanonikern und sechs von den „Pfarreikongregationen“ gewählten Laien bestehen sollen (vgl. Art. 28, Abs. 1). Die „Pfarreikongregationen“ hätten aus dem Pfarrer und zwei von den Gläubigen gewählten Laien bestanden (vgl. Art. 28, Abs. 2). Obwohl dadurch der Klerus, sowohl auf Pfarreiwie auf Diözesanebene in die Minderheit versetzt worden wäre, sah Art. 29 vor, dass der Voranschlag und die Rechnung der „Diözesankongregationen“ von der Regierung genehmigt werden mussten. Der Mehrheit des Parlaments erschien jedoch der Zeitpunkt für eine solch durchgreifende Reform des kirchlichen Vermögensrechts nicht opportun. Denn man wollte ja der Welt beweisen, dass man nun, nachdem das Ziel der Einigung Italiens erreicht war, mit dem Papst und der Kirche pfleglich umgehen würde. Das Projekt Peruzzi wurde deshalb schliesslich aufgeschoben, indem in das Garantiegesetz ein Art. 18 aufgenommen wurde, welcher besagte, dass durch ein späteres Gesetz für die Neuordnung, die Bewahrung und die Verwaltung des Kirchenvermögens gesorgt werde. Wie das genau zu geschehen habe, darüber schwieg man sich nun allerdings aus38. Nachdem verschiedene Bemühungen im Sande verlaufen waren, Art. 18 des Garantiegesetzes auch wirklich umzusetzen, bemühte sich ab 1885 eine neue critica, documenti, Torino 1884, S. 472–479; vgl. den Text auch bei Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche (Anm. 1), S. 670–673. 36
Vgl. dazu Aldo Berselli, La destra storica dopo l’Unità. L’idea liberale e la Chiesa Cattolica, Bologna 1963, S. 285–288. 37
Vgl. den Entwurf bei Scaduto, Guarantigie Pontificie (Anm. 35), S. 487 f.
38
Vgl. dazu ebd., S. 378–386.
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Parlamentskommission unter der Führung des Senators Carlo Cadorna, eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten. Gemäss Art. 4 dieses Gesetzesentwurfs 39 sollten sämtliche Rechtspersonen der Kirche wie Pfarr- und Kanonikerpfründen, Bischofsmensen, Abteien, Seminare und Kirchenfabriken aufgehoben werden. Durch denselben Artikel sollten jedoch die Güter, welche bisher diesen Rechtspersonen gehört hatten, samt ihrer Zweckbestimmung als neue rein zivile Rechtspersonen gleich wieder erstehen. Zweck dieser Operation war es, den betroffenen Rechtspersonen nichts von dem zu nehmen, was ihnen vorher gehörte, „ausser die Verbindung des Zeitlichen mit dem Geistlichen“ 40. Zwar sei es die bleibende Zweckbestimmung der Pfründen, für den Unterhalt des Pfründners zu sorgen. Aber dessen Amt sei nun nicht mehr Teil der neuen zivilen Rechtsperson. Das geistliche Amt und der Genuss der dafür bestimmten weltlichen Mittel sollten also fortan getrennt sein. Denn der Staat habe bisher den Laien gegenüber eine Ungerechtigkeit begangen. Durch die von ihm akzeptierte innere Verbindung von geistlichem Amt und materiellen Gütern habe die geistliche Macht, da sie die einzige innerhalb der Kirche sei, die geistliche Ämter übertragen könne, auch über die materiellen Güter zu verfügen vermocht. Und so sei den Laien auch der Einfluss auf die Ämterbesetzung genommen worden. Die Trennung von Amt und Genuss der Güter werde nun den politischen Einfluss des Klerus über die Laien in seine gerechten Schranken weisen, und der hohe Klerus könne nicht mehr durch die Verfügung über die materiellen Mittel auf den niederen Klerus einwirken41. Entsprechend dieser Zielsetzung, „Geistliches“ und „Weltliches“ innerhalb der Kirche zu trennen, sah der Gesetzesentwurf nun nicht einfach nur die Schaffung von demokratisch gewählten Opere diocesani und Opere parrocchiali vor (vgl. Art. 6 und 10–12). Die Pfarrer und Bischöfe sollten darüber hinaus in diese Gremien nicht wählbar sein, sondern nur ein unverbindliches Antragsrecht besitzen (vgl. Art. 14). Vor allem sollte es nun das Recht dieser Opere sein, die Pfründner in die Pfründe einzuweisen. Ebenfalls sollten die Opere befugt sein, ihnen die Pfründe unter bestimmten Bedingungen wieder zu entziehen (vgl. Art. 22–30). „Das praktische Resultat eines solchen Systems“ sollte es demnach sein, „dass die Laien und die kirchliche Autorität sich bezüglich des
39 Vgl. den Entwurf und die dazugehörige relazione in: Rivista di Diritto Ecclesiastico 5 (1895), S. 395–457, 585–606 und 731–749; vgl. zu diesem Entwurf Falco, Il riordinamento della proprietà ecclesiastica (Anm. 17), S. 36–58. 40
Vgl. Rivista di Diritto Ecclesiastico 5 (1895), S. 419 f.
41
Vgl. ebd., S. 415–419.
Katholische Kirchengemeinden in Italien?
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Innenlebens der Religionsgemeinschaft einigen müssen, indem sie von der vollständigen Freiheit Gebrauch machen, die ihnen der Staat lässt“42. Auch dieser letzte Versuch, die Laien auf der Basis des vom Staat geordneten kirchlichen Vermögensrechts als Gegenpol zur Hierarchie aufzubauen, scheiterte jedoch auf der politischen Ebene 43. Es war der letzte ernsthafte Versuch, das kirchliche Amt von seiner Verbindung mit dem dafür bereitgestellten Vermögen zu lösen und so mittels einer Institutionenverdoppelung die Laien als eigenständige Kraft innerhalb der Kirche zu etablieren. In Italien behielt somit trotz aller Bemühungen, die Kirche letztlich einfach als innerstaatlichen Verein zu betrachten, die Achtung vor der besonders gearteten Struktur der Kirche, die in ihrem Wesen verankert ist, die Oberhand44. IV. Überreste einer überwundenen mitteleuropäischen Bewegung in der Schweiz Auch in den eingangs erwähnten Ländern scheiterten im 19. und 20. Jahrhundert alle Versuche, die Kirche bzw. ihre Vermögensverwaltung zu demokratisieren und damit das Kirchenvermögen und dessen Verwaltung aus der kirchlichen Communio herauszulösen. Zu nennen ist hier einmal Frankreich und dessen Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche von 1905. Papst Pius X. 42
Ebd., S. 431.
43
Vgl. dazu Antonio Consoli, Possibilità e limiti di una riforma della proprietà ecclesiastica, in: Raccolta di scritti in onore di Arturo Carlo Jemolo, Bd. I/2, Milano 1963, S. 1237–1269, hier 1245; vgl. auch Jemolo, La questione della proprietà ecclesiastica (Anm. 10), S. 141. Bereits Ministerpräsident Crispi hatte sich gegen die Kommission Cadorna gewandt mit dem Argument, eine Ausführung von Art. 18 sei mit dem Papst nicht zu erreichen. Denn dieser wolle nur eines: die Wiedererrichtung der aufgehobenen Institutionen und die Rückgabe von deren Vermögen, vgl. Francesco Crispi, Discorsi parlamentari. Pubblicati per deliberazione della Camera dei Deputati, Bd. 2, Roma 1915, S. 748. Die Lateranverträge von 1929 entzogen dann weiteren Versuchen, die Verwaltung des Kirchenvermögens aus der Kirche auszugliedern, definitiv den Boden, weil das Garantiegesetz obsolet wurde. 44 Vgl. dazu Pietro Gismondi, Il nuovo giurisdizionalismo italiano. Contributo alla dottrina della qualificazione giuridica dei rapporti fra Stato e Chiesa, Milano 1946, S. 159 f., 165–167 und 183 f. Auch Falco, Il riordinamento della proprietà ecclesiastica, (Anm. 17), S. 63–251, der im Jahre 1910 das deutsche Kirchengemeinde- und Kirchensteuersystem umfassend beschrieb und zur Diskussion stellte, musste zugeben, dass dieses System der italienischen Tradition zu wenig entspreche, vgl. ebd., S. 243. Auf S. 249 bemerkte er gar, keine andere Idee finde so wenig Widerhall im Volksempfinden wie der kollektive Besitz des Kirchenvermögens.
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verbot der Kirche in Frankreich, das Gesetz anzunehmen und umzusetzen. Er nahm damit in Kauf, dass die Kirche ihr gesamtes, seit der Französischen Revolution wieder angesammeltes Vermögen verlor, konnte so aber verhindern, dass sie zivilrechtlich in rund 40'000 demokratisch strukturierte Vereine („associations cultuelles“) atomisiert wurde 45. Ebenfalls scheiterte in Österreich ein dritter Anlauf zur Schaffung von „Pfarrgemeinden“, welcher im Zuge des Erlasses des Kirchenbeitragsgesetzes von 1939 unternommen worden war 46. In Deutschland schliesslich besteht das Institut der Kirchengemeinden in modifizierter Weise zwar bis heute weiter, wie es mit dem preussischen Gesetz von 1875 initiiert worden war. Die rechtlich selbständigen Kirchengemeinden sind jedoch heute nur noch Empfänger von Schlüsselzuweisungen seitens der Diözese, welche die Kirchensteuermittel eintreibt, das Bischöfliche Ordinariat finanziert sowie das kirchliche Personal selbst besoldet. Die Kirchengemeinden in Deutschland sind damit faktisch entmachtet worden, was nicht der ursprünglichen Absicht des kulturkämpferischen Preussen entspricht 47. Übriggeblieben ist somit noch die Mehrheit der Schweizer Kantone. In diesen werden die Kirchensteuermittel von demokratisch strukturierten Gremien, die rein weltlich-rechtlich begründet sind und die unabhängig von der kirchlichen Leitung sowie nach eigenen Zielvorstellungen agieren, eingenommen, verwaltet und ausgegeben. Die so genannten Kirchgemeinden und deren jeweiliger Zusammenschluss auf kantonaler Ebene – in der Regel „Landeskirche“ genannt – stellen somit im Sinne Bettino Ricasolis eine zweite Kraft innerhalb der Kirche dar, die unabhängig von der ekklesiologisch ausgewiesenen kirchlichen Leitung agiert oder zumindest agieren kann. 45
Vgl. dazu mit Literaturhinweisen: Martin Grichting, Die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich im Jahr 1905, in: Schweizerische Kirchenzeitung 174 (2006), S. 26– 30. Pius X. beschrieb in der Enzyklika „Une fois encore“ vom 6. Januar 1907 sein Di lemma folgendermassen: „In perfider Weise vor die Wahl zwischen dem materiellen Ruin und der Zustimmung zu einer Beeinträchtigung ihrer Verfassung, die göttlichen Ursprungs ist, gestellt, hat die Kirche es selbst um den Preis der Armut abgelehnt, dass in ihr das Werk Gottes angetastet werde“, in: ASS 40 (1907), S. 7. Papst Benedikt XVI. hat die Haltung von Papst Pius X., noch als Kardinal in seinem Interview-Buch „Salz der Erde“, so zusammengefasst: „Das Gut der Kirche ist wichtiger als ihre Güter. Wir geben die Güter weg, weil wir das Gut verteidigen müssen. Das ist, glaube ich, ein grosser Satz, den man sich immer wieder vor Augen halten muss“, Joseph Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, S. 185 (Hervorhebung dort). 46
Vgl. Grichting, Das Verfügungsrecht (Anm. 9), S. 123–129.
47
Vgl. ebd., S. 351–357.
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Diese „zweiköpfige Hierarchie“48 konnte sich über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus relativ unangefochten behaupten, nicht zuletzt deshalb, weil die Katholiken in der Schweiz seit 1848 unter dem Druck einer liberal-protestantischen Mehrheit standen und deshalb zusammenhalten mussten. Demokratische Elemente wie Kirchgemeinden und „Landeskirchen“ konnten in dieser Phase nicht jene Sprengkraft entwickeln, wie sie es heute in einer pluralisierten Gesellschaft, deren Teil die Katholiken sind, tun können. Kritik am System dieser „zweiten Hierarchie“ blieb deshalb lange akademischer Natur. Zu nennen ist hier in erster Linie Eugenio Corecco, Professor in Fribourg und später Bischof von Lugano (1986–1995), welcher in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts diesbezüglich einen kritischen Aufsatz veröffentlichte49. Ebenfalls hatte sich der Luzerner Staatsanwalt und Regierungsrat Walter Gut bereits frühzeitig kritisch mit dem staatskirchenrechtlichen System auseinandergesetzt. Insbesondere forderte er eine „Gesundschrumpfung“ von Aufgabenbereich und Apparat der staatskirchenrechtlichen Kantonalorganisationen („Landeskirchen“) und eine Abänderung der missverständlichen Terminologie („Landeskirche“, „Kirchenverfassung“)50. In den 90er-Jahren profilierte sich dann der Offizial des Bistums Chur, Joseph M. Bonnemain, als Kritiker des staatskirchenrechtlichen Systems, indem er dieses anlässlich einer Kirchenrechtstagung im Vatikan im Jahre 1993 als „demokratischen Volk-Josephinismus“ bzw. einen solchen „der Oligarchie des staatskirchlichen Apparates“ bezeichnete und schlichtweg die Abschaffung der „Landeskirchen“ forderte51. In einem Beitrag zur „Kantonalkirche Schwyz“ 48
Roland Bernhard Trauffer, Überlegungen aus römisch-katholischer Sicht, in: R. Pahud de Mortanges / G. Rutz / Chr. Winzeler (Hrsg.), Die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Ankerkennung von Religionsgemeinschaften, Fribourg 2000, S. 115–127, hier 117. 49
Grundlegend dafür war Coreccos in den 60er-Jahren erstellte Studie zu den mit der Schweiz vergleichbaren verfassungs- und vermögensrechtlichen Problemen der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika im 19. Jahrhundert: Eugenio Corecco, La formazione della Chiesa cattolica negli Stati Uniti d’America attraverso l’attività sinodale, 2. Aufl., Bologna 1991; zusammengefasst in: ders., Die synodale Aktivität im Aufbau der katholischen Kirche der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit besonderer Berücksichtigung der kirchlichen Vermögensverwaltung, in: AfkKR 137 (1968), S. 38–94; darauf baute dann gedanklich Coreccos grundlegender und nach wie vor gültiger Beitrag zum schweizerischen Staatskirchenrecht auf: ders., Katholische „Landeskirche“ im Kanton Luzern. Das Problem der Autonomie und der synodalen Struktur der Kirche, in: AfkKR 139 (1970), S. 3–42. 50
Vgl. Walter Gut, Revisionsbedürftige römisch-katholische „Landeskirche“, in: Vaterland, 25. Februar 1970. 51
Joseph M. Bonnemain, Die Schweizer Kantonalkirchen und die Mitverantwortung der Gläubigen bei der Verwaltung des kirchlichen Vermögens, in: Pontificium Consilium
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konstatierte er 1997, es liege bei den „Kantonal- bzw. Landeskirchen nach schweizerischem Modell“ eine „grundsätzliche Fehlkonstruktion“ vor. Der Staat wolle nicht in eine „wirkliche Partnerschaft“ mit der Kirche als solcher eintreten, sondern er wolle eine Kirche „im Korsett der eigenen Kriterien“ haben52. Es folgte sodann im Jahr 1997 noch die Dissertation des Verfassers des vorliegenden Beitrags zum Zürcher Staatskirchenrecht53. Erst der Konflikt um den Priester Franz Sabo in der Pfarrei Röschenz (Bistum Basel, Kanton BaselLand) in den Jahren 2005–2007 führte dann jedoch sowohl der schweizerischen Öffentlichkeit wie auch dem Apostolischen Stuhl vor Augen, dass das staatskirchenrechtliche System der Schweiz potentiell schismatisch ist. Denn der erwähnte Priester, vom Diözesanbischof suspendiert, fuhr über längere Zeit fort, als „Pfarradministrator“ zu wirken, unterstützt von der örtlichen Kirchgemeinde, die keine Anstalten machte, ihn zu entlassen, sondern die sich ostentativ hinter ihn stellte und ihn weiterhin entlohnte54. de legum textibus interpretandis (Hrsg.), Ius in vita et in missione ecclesiae. Acta Symposii Internationalis Iuris Canonici occurrente X Anniversario promulgationis Codicis Iuris Canonici diebus 19–24 aprilis 1993 in Civitate Vaticana celebrati, Città del Vaticano 1994, S. 527–545, hier 533 und 541. 52
Ders., Verfassung der römisch-katholischen Kantonalkirche Schwyz. Neuaufleben des Staatskirchentums am Ende des 20. Jahrhunderts?, in: R. Puza / A. Weiß (Hrsg.), Iustitia in Caritate. Festgabe für Ernst Rössler zum 25jährigen Dienstjubiläum als Offizial der Diözese Rottenburg-Stuttgart, (= Adnotationes in Ius Canonicum, Bd. 3), Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 693–716, hier 714. 53 Vgl. Grichting, Kirche oder Kirchenwesen (Anm. 2); italienisch: ders., Chiesa e Stato nel Cantone di Zurigo. Un caso unico nel diritto ecclesiastico dello Stato nei con fronti della Chiesa cattolica, Roma / Freiburg i. Brsg. / Wien 1997. 54 Urs Brosi, Fallstudie „Röschenz“, in: L. Gerosa / L. Müller (Hrsg.), Katholische Kirche und Staat in der Schweiz, (= Kirchenrechtliche Bibliothek, Bd. 14), Wien / Berlin / Zürich 2010, S. 200–208; vgl. auch Arturo Cattaneo, Lehren aus dem „Fall Röschenz“, ebd., S. 209–216. In den Vereinigten Staaten von Amerika war es im 19. Jahrhundert zu einem vergleichbaren Fall gekommen, vgl. dazu Martin Grichting, Wenn die Herde den Hirten führt, in: Schweizerische Kirchenzeitung 175 (2007), S. 450–453. Auch dieser Fall führte zu einem Eingreifen des Apostolischen Stuhls. Papst Pius VII. legte in seinem Schreiben „Non sine magno“ vom 24. August 1822 allgemeingültige Grundsätze zur kirchlichen Vermögensverwaltung fest: „Itaque memorare debent aeditui, bona quae ad divinum cultum nec non ad Ecclesiae eiusque ministrorum sustentationem oblata sunt, in Ecclesiae potestatem transire: sicut autem Episcopi ex ordinatione divina sunt qui praesunt Ecclesiae, ita ipsi non possunt ab eorumdem bonorum cura, dispositione ac vigilantia excludi“; vgl. das Schreiben bei: R. De Martinis (Hrsg.), Iuris Pontificii de Propaganda Fide, Pars prima complectens Bullas, Brevia, Acta S. S. a Congregationis Institutione ad Praesens iuxta Temporis Seriem Disposita, Bd. 4, Roma 1891, S. 620–
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Nach der Beendigung des „Falles Röschenz“ verlangte der Apostolische Stuhl die Durchführung eines zweitägigen Kongresses zum schweizerischen Staatskirchenrecht, welcher am 3. und 4. November 2008 in Lugano stattfand. Die Moderation oblag dem renommierten Kanonisten Libero Gerosa. Dieser gab in der Folge nicht nur den Tagungsband heraus 55. Er präsidierte von 2008 bis 2013 auch eine im Nachgang zum Kongress von der Schweizer Bischofskonferenz eingerichtete „Fachkommission Kirche und Staat“, welche die Ergebnisse ihrer Arbeit in der Form von Empfehlungen der Schweizer Bischofskonferenz übergeben hat. Die Schweizer Bischofskonferenz hat sich im Jahr 2013 diese Empfehlungen zu eigen gemacht und sie zuhanden der Diözesanbischöfe sowie der staatskirchenrechtlichen Körperschaften zur Umsetzung in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen verabschiedet56. Zum Stellenwert des Vademecums befragt, hat die Bischofskonferenz in ihrem Mediencommuniqué vom 4. September 2013 ferner festgehalten, dass „das von den Bischöfen verabschiedete Vademecum als Arbeitsgrundlage zur Weiterentwicklung von staatskirchenrechtlichen Fragen zu lesen“ sei57. Nicht nur seine für den Kontakt mit der römischen Kurie wichtige Beheimatung in der italienischen und der deutschen Sprache, die Libero Gerosa als Professor für Kirchenrecht in Paderborn und Lugano unter Beweis gestellt hatte, qualifizierten ihn für die Aufgabe, einen Reformprozess des schweizerischen 622, hier 620 f. Und zur Ämterverleihung stellte er fest: „Novum autem ac plane inauditum est in Ecclesia illud quod aliquando istic accidisse accepimus, nempe aedituos et laicos sibi ius arrogasse constituendi pastores legitimis facultatibus destitutos, saepe etiam censuris obnoxios, ... illos etiam pro arbitrio amovendi, atque subsidia praestandi cui ipsi maluerint. Si ita acta sunt, uti fuit nobis nunciatum, quo pacto tolerari posset tam magna legum non ecclesiasticarum modo, sed divinarum etiam subversio? Ita enim non Episcopi praeessent Ecclesiae, sed laici; pastor subditus gregi suo effectus esset, et laici homines potestatem illam, quae Episcopis divinitus data est, sibi usurpare conarentur“, ebd., S. 621. 55
Vgl. Gerosa / Müller (Hrsg.), Katholische Kirche und Staat in der Schweiz (Anm. 54); französisch: Libero Gerosa / René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Eglise catholique et Etat en Suisse, (= Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, Nr. 25), Zürich / Basel / Genf 2010. 56 Schweizer Bischofskonferenz / Fachkommission der Schweizer Bischofskonferenz „Kirche und Staat in der Schweiz“, Vademecum für die Zusammenarbeit von katholischer Kirche und staatskirchenrechtlichen Körperschaften in der Schweiz, Fribourg 2012, www.bischoefe.ch/dokumente/anordnungen/vademecum, Zugriff am 13. Oktober 2013. 57 „Nie wieder Krieg!“, Mediencommuniqué zur Versammlung der Schweizer Bischofskonferenz in Givisiez/FR vom 2. bis 4. September 2013, www.bischoefe.ch, Zugriff am 13. Oktober 2013.
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Staatskirchenrechts zu moderieren. Bereits im Jahr 1987 hatte er mit Augenmass und Klarheit die Problematik des schweizerischen Staatskirchenrechts beschrieben und Reformen verlangt: „So konnte man sich nicht zur Anerkennung der römisch-katholischen Kirche in ihrer kanonischen Verfasstheit als Weltkirche entscheiden, sondern forderte auf kantonaler Ebene die Schaffung von demokratisch gestalteten römisch-katholischen Körperschaften, die eine ähnliche Struktur wie die evangelische Kirche aufweisen mussten. Diese Organismen sind aber staatskirchenrechtliche Verbände, die neben der wirklichen Kirche stehen. Die innere Widersprüchlichkeit dieser Rechtslage ist die Konsequenz daraus, dass man durch das Institut der „Landeskirche“ versucht hat, der katholischen Kirche ein staatskirchenrechtliches System aufzuzwingen, das ihrer eigenen Struktur völlig fremd ist. Es mag richtig sein, dass die „Landeskirche“ technisch-juridisch nicht der Staat, sondern nur ein auf Staatsrecht fussender Selbstverwaltungskörper ist, sie ist aber um so weniger und auf keinen Fall Kirche ... Dort, wo dieses Prinzip zu einer Einmischung der Kantone in die innere Struktur der katholischen Kirche geführt hat, ist die Freiheit der Selbstbestimmung verletzt worden. Dieses Nachgeben der katholischen Kirche muss wieder überwunden werden, damit die Schweiz – durch die Achtung jeder Verschiedenheit – weiterhin bleibt, was sie immer ihrer vielfältigen Natur nach gewesen ist“ 58. Ob diese Sätze Libero Gerosas in Kenntnis der im 19. Jahrhundert südlich des Tessins gemachten Versuche, der Sache nach Kirchengemeinden und „Landeskirchen“ zu gründen, geschrieben wurde, kann dahingestellt bleiben. Zweifellos schimmert aber die weitsichtige Haltung des bedeutenden Tessiner Ekklesiologen und Kanonisten Eugenio Corecco durch.
58
Libero Gerosa, Die staatskirchenrechtliche Vielfalt in der Schweiz, in: AfkKR 156 (1987), S. 46 f.
Ein Votum Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen Anmerkungen zu einem Gutachten für Julius Kardinal Döpfner aus dem Jahre 1962 Ein Votum Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen Von Stephan Haering Stephan Haering
I. Einführung. – II. Bischofskonferenzen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. – III. Die Stellungnahme Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen aus dem Jahre 1962. 1. Beobachtungen und Hinweise zu dem Gutachten. a) Zur Frage des Adressaten. b) Hinweise zum damaligen Stand der Debatte. c) Aufbau und inhaltliche Aussagen des Mörsdorfschen Gutachtens. – 2. Rechtliche Konzeption der Bischofskonferenz. a) Grundlegende Regelungen im Konzilsdekret „Christus Dominus“. b) Nachkonziliare Rechtsentwicklung, insbesondere der Codex Iuris Canonici. c) Statutenrecht der Deutschen Bischofskonferenz. – IV. Würdigung des Gutachtens Mörsdorfs. 1. Allgemeine Bemerkungen. – 2. Vergleich der Vorschläge Mörsdorfs mit den nachfolgenden rechtlichen Bestimmungen. – 3. Zusammenfassung und Ausblick. – V. Anhang: Edition des Gutachtens.
I. Einführung Der Münchener Kanonist Klaus Mörsdorf1 (1909–1989) gab als kirchenrechtlicher Fachmann und Ratgeber manche Anregungen, die in die Beratungen
Abkürzung: DGDC = Diccionario general de derecho canónico, 7 Bde., Cizur Menor 2012. 1
Studien der Philosophie, Rechtswissenschaft und katholischen Theologie, 1931 Dr. jur. (Köln), 1936 Priesterweihe, 1938 Dr. theol. (München), 1939 Habilitation (Münster), 1946 Prof. für Kirchenrecht an der Universität Münster, im selben Jahr Wechsel nach München und 1947 Gründung des Kanonistischen Instituts an der Universität München, 1977 emeritiert, zahlreiche Mitgliedschaften und Ehrungen; zur Person Klaus Mörsdorfs siehe: Franz Kalde, Art. Mörsdorf, Klaus, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6, Herzberg 1993, Sp. 11–13 (Lit.); Winfried Aymans, Art. Mörsdorf, Klaus, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17, Berlin 1994, S. 683 f. (Lit.); Andreas Rudiger, Klaus Mörsdorf – bleibender Inspirator der Theologie, in: AfkKR 171 (2002), S. 3–37 (mit ausführlicher Dokumentation des Schrifttums zu Mörsdorfs Werk);
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und die Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) eingeflossen sind.2 Mörsdorf war schon frühzeitig, nämlich seit 1960, als Mitglied der Kommission für die Sakramentenordnung in die Vorbereitung dieses Konzils einbezogen.3 Insbesondere aber stand er dem Münchener Erzbischof Julius Kardinal Döpfner4 (1913–1976) während des Konzils als theologischer und kirchenrechtlicher Experte zur Seite. 5 Mörsdorfs fachliche Unterstützung für Kardinal Döpfner wird nicht zuletzt aus zahlreichen Dokumenten ersichtlich, die im Konzils-Archiv des damaligen Erzbischofs von München und Freising überWinfried Aymans, Art. Mörsdorf, Klaus, in: Lexikon des Kirchenrechts, Freiburg / Basel / Wien 2004, Sp. 1119 f. (Lit.); ders., Klaus Mörsdorf. Erinnerungen an den akademischen Lehrer und väterlichen Freund anlässlich seines 100. Geburtstages, in: AfkKR 178 (2009), S. 3–16; Arturo Cattaneo, Art. Mörsdorf, Klaus, in: DGDC, Bd. V, S. 472–474. 2 Vgl. Stephan Haering, Der Münchener Kanonist Klaus Mörsdorf und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Erneuerung in Christus. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) im Spiegel Münchener Kirchenarchive. Begleitband zur Ausstellung des Erzbischöflichen Archivs München, des Archivs der Deutschen Provinz der Jesuiten und des Karl-Rahner-Archivs München anlässlich des 50. Jahrestags der Konzilseröffnung, hrsg. von Andreas R. Batlogg / Clemens Brodkorb / Peter Pfister (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising, Bd. 16), Regensburg 2012, S. 177–190; ferner auch Stephan Haering, Konzil und Kirchenrecht, in: Klerusblatt 93 (2013), S. 150–154. 3
Siehe AAS 52 (1960), S. 845. – Mörsdorf wurde für die Mitarbeit an der Vorbereitung des Konzils durch Julius Kardinal Döpfner empfohlen, den Bischof von Berlin, in dessen Diözese Mörsdorf als Priester inkardiniert war; siehe Schreiben Döpfners an den Apostolischen Nuntius Corrado Bafile, Berlin, 18. Juni 1960, abgedruckt in: Julius Kardinal Döpfner. Konzilstagebücher, Briefe und Notizen zum Zweiten Vatikanischen Konzil, bearb. von Guido Treffler (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising, Bd. 9), Regensburg 2006, S. 99–101 (Nr. 30). 4
Studium der Philosophie und Theologie in Würzburg und Rom, 1939 Priesterweihe, 1941 Dr. theol. (Rom, Gregoriana), 1948–1957 Bischof von Würzburg, 1957–1961 Bischof von Berlin, 1958 Kardinal, 1961–1976 Erzbischof von München und Freising, ab 1965 auch Vorsitzender der Fuldaer bzw. Deutschen Bischofskonferenz; vgl. Anton Landersdorfer, Art. Döpfner, Julius (August), in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Erwin Gatz, Berlin 2002, S. 386–394; Stephan Mokry, Kardinal Julius Döpfner (1913–1976) und das Zweite Vatikanische Konzil. Forschungsthemen und vorläufige Bilanz, in: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Stand und Perspektiven der kirchenhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Franz Xaver Bischof (Münchener Kirchenhistorische Studien, N.F. Bd. 1), Stuttgart 2012, S. 67–79; Anton Landersdorfer, Julius Kardinal Döpfner (1913–1976). Ein biographisches Porträt, in: Julius Kardinal Döpfner (1913–1976). Daten und Bilder zu seinem Wirken in Würzburg, Berlin und München, hrsg. von Peter Pfister (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising,
Ein Votum Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen
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liefert sind.6 Von der zweiten Sitzungsperiode (1963) an zählte Mörsdorf, auf die Initiative Kardinal Döpfners hin, auch zu den offiziellen Periti des Konzils.7 Schon im Vorfeld des Konzils hatte Klaus Mörsdorf in einem umfangreichen, vom 17. März 1960 datierenden Gutachten zur künftigen Reform des CIC angeregt, dass sich die von Papst Johannes XXIII. 8 (1958–1963) am 25. Januar 1959 angekündigte ökumenische Synode in grundsätzlicher Weise mit dem „Ausbau der Bischofskonferenzen“ beschäftigen solle.9 In den Konzilsakten Döpfners befindet sich darüber hinaus eine spezielle, von Klaus Mörsdorf verfasste Stellungnahme mit dem Titel „Zur Frage der Bischofskonferenzen“. Dieses undatierte Gutachten ist offensichtlich im November 1962 entstanden, also während der ersten Sitzungswochen des Konzils. Es ging jedenfalls Anfang Dezember 1962 bei Döpfner ein, der sich damals in Rom aufhielt und dort im GerBd. 17), Regensburg 2013, S. 17–49; „In dieser Stunde der Kirche“. Zum 100. Geburtstag von Julius Kardinal Döpfner, hrsg. von Thomas Brechenmacher in Verb. mit Rainer Dvorak / Florian Schuller / Peter Weidisch (Bad Kissinger Archiv-Schriften, Bd. 2), Würzburg 2013 (mit Literaturverzeichnis zu Döpfner, S. 147–153). 5 Vgl. Karin Nußbaum, Klaus Mörsdorf und Michael Schmaus als Konzilsberater des Münchener Erzbischofs Kardinal Julius Döpfner auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Eine Untersuchung aufgrund des Konzilsnachlasses Kardinal Döpfners, in: MThZ 55 (2004), S. 132–150; Peter Neuner, Kardinal Döpfner und Münchener Theologen im Zweiten Vatikanum. Ein Beitrag zur Kooperation von Lehramt und Theologie, in: MThZ 64 (2013), S. 327–340. 6
Erzbischöfliches Archiv München. Julius Kardinal Döpfner. Archivinventar der Dokumente zum Zweiten Vatikanischen Konzil, bearb. von Guido Treffler / Peter Pfister (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising, Bd. 6), Regensburg 2004, S. 962 f. (Register). 7 Siehe Johannes Neumann, Chronik der zweiten Sitzungsperiode des II. Vatikanischen Konzils vom 29. September bis 4. Dezember 1963, in: AfkKR 132 (1963), S. 586–606, hier 587; vgl. dazu mehrere Dokumente im Erzbischöflichen Archiv München, KardinalDöpfner-Archiv, Konzilsakten Nr. 168 (Schreiben Kardinal Döpfners an Staatssekretär Kardinal Amleto Giovanni Cicognani, Rom, 26. September 1963, abgedruckt in: Julius Kardinal Döpfner. Konzilstagebücher, Briefe und Notizen zum Zweiten Vatikanischen Konzil [Anm. 3], S. 511 f. [Nr. 326]) sowie Konzilsakten Nr. 198, 200 und 206. 8 Vgl. Giuseppe Alberigo, Art. Johannes XXIII., in: Lexikon der Päpste und des Papsttums, red. von Bruno Steimer, Freiburg / Basel / Wien 2001, Sp. 203–207 (Lit.). 9
Klaus Mörsdorf, Erwägungen zur Anpassung des Codex Iuris Canonici, in: ders., Schriften zum Kanonischen Recht, hrsg. von Winfried Aymans, Karl-Theodor Geringer u. Heribert Schmitz, Paderborn u. a. 1989, S. 777–822, hier 803 f. – Als Manuskript im Umfang von 58 Seiten liegt dieses Gutachten auch im Erzbischöflichen Archiv Mün chen, Kardinal-Döpfner-Archiv, Konzilsakten Nr. 12, vor.
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manikum wohnte. Kardinal Döpfner hat das kurze Gutachten bei Mörsdorf in Auftrag gegeben, wie aus Mörsdorfs Begleitbrief vom 29. November 1962 hervorgeht.10 Der Text des Gutachtens selbst sagt hingegen nichts darüber aus, auf wessen Veranlassung es verfasst wurde. Leider findet sich in den Korrespondenzakten des Konzils-Archivs Döpfners, die reichlich Schriftverkehr Döpfners mit Bischöfen und Theologen im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanum überliefern, kein Schreiben Döpfners an Mörsdorf, das über die Erteilung des Auftrags zu diesem Gutachten und dessen nähere Zielsetzung Auskunft geben würde. Möglicherweise hat Döpfner das Gutachten mündlich erbeten. Der nicht sehr umfangreiche, etwa sechseinhalb großzügig beschriebene Maschinenseiten umfassende Wortlaut des Gutachtens wird am Ende dieses Beitrags ediert.11 Die Veröffentlichung des Gutachtens Mörsdorfs ist nicht zuletzt durch die interessante Beobachtung veranlasst, dass wesentliche Vorschläge des Münchener Professors und Konzilsberaters für eine künftige rechtliche Gestaltung der Bischofskonferenz ziemlich weitgehend den faktischen Ergebnissen der damals anstehenden Rechtsreform entsprechen. Mit diesem Hinweis gleich zu Beginn soll freilich nicht angedeutet werden, Mörsdorfs Überlegungen von 1962 hätten entscheidend oder gar exklusiv die diesbezügliche weitere Entwicklung bestimmt. Allein ein flüchtiger Blick auf die Masse der publizierten und in Archiven verfügbaren Akten und Dokumente zu den Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Revision des CIC zeigt, dass man es hier mit einem höchst komplexen Prozess zu tun hat, der unter Beteiligung einer sehr großen Zahl von Akteuren abgelaufen ist. Darüber hinaus steckt sicher noch manches Material in bislang unerschlossenen Beständen, etwa privaten Nachlässen von Personen, die am Konzil oder an der Rechtsreform mitgewirkt haben. Dessen ungeachtet wird deutlich erkennbar, dass der Münchener Kanonist in der Frage der Bischofskonferenzen schon in einem frühen Stadium der Diskussion einen sehr sicheren Blick für sowohl theologisch verantwortete als auch gesetzgeberisch angemessene und vertretbare Lösungen bewiesen hat. II. Bischofskonferenzen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil Die Bischofskonferenz ist keine Erfindung des Zweiten Vatikanischen Konzils oder gar der nachkonziliaren Reform des kanonischen Rechts, sondern sie 10 Schreiben Mörsdorfs an Kardinal Döpfner, München, 29. November 1962: Erzbischöfliches Archiv München, Kardinal-Döpfner-Archiv, Konzilsakten Nr. 1211. 11
Siehe unten, V. Anhang: Edition des Gutachtens.
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reicht geschichtlich viel weiter zurück. Als informelle Zusammenkünfte zur Koordination des pastoralen Handelns der Bischöfe fanden Bischofskonferenzen im deutschen Sprachgebiet und darüber hinaus seit dem 19. Jahrhundert statt.12 In Deutschland wurde die erste Bischofskonferenz 1848 in Würzburg durchgeführt.13 Es entwickelte sich namentlich im deutschsprachigen Raum eine rege Praxis der Abhaltung von Bischofskonferenzen für die Vorsteher bestimmter Diözesen. Für Deutschland sind besonders die Fuldaer und die Freisinger Bischofskonferenz zu nennen. Die Bischöfe dieser Konferenzen kamen regelmäßig zusammen und stimmten ihr pastorales Vorgehen miteinander ab. Für die wiederkehrenden Arbeitsabläufe entwickelten sich bestimmte Konventionen, die teilweise auch schriftlich niedergelegt worden sind. 14 Die Bedeutung dieser Konferenzen für das kirchliche Leben wird nicht zuletzt aus einer eingehenden wissenschaftlichen Erschließung und Bearbeitung der Akten erkennbar, die in den vergangenen Jahren erfolgt ist.15 12
Vgl. Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. III, Wien / München 1959, S. 212–216; Peter Leisching, Die Bischofskonferenz. Beiträge zu ihrer Rechtsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklung in Österreich (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten, Bd. 7), Wien / München 1963; Rudolf Lill, Die ersten deutschen Bischofskonferenzen, Freiburg / Basel / Wien 1964 (auch publiziert in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 59 [1964], S. 127–185; 60 [1965], S. 1–75); Erwin Gatz, Zur Entwicklung der Fuldaer und der Österreichischen Bischofskonferenzen von ihren Anfängen bis zum Ende des Ersten Welt krieges, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 99 (2004), S. 103–116. 13 Vgl. Klaus Wittstadt, Die erste deutsche Bischofskonferenz in Würzburg 1848, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 60 (1998), S. 433–460. 14 Siehe etwa die „Geschäftsordnung für die Konferenzen des deutschen Episkopats“, die der Münchener Erzbischof Michael Kardinal Faulhaber 1943 zusammengestellt hat; abgedruckt: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–45, Bd. 6: 1943– 1945, bearb. von Ludwig Volk (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 38), Mainz 1985, S. 157–160 (Nr. 868/IIe). Vgl. dazu Stephan Haering, Eine „Geschäftsordnung für die Konferenzen des deutschen Episkopats“ aus dem Jahr 1943. Kanonistische Bemerkungen zur Geschichte der Bischofskonferenz aufgrund des Nachlasses Faulhaber, in: Iuri Canonico Promovendo. Festschrift für Heribert Schmitz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans u. Karl-Theodor Geringer unter Mitwirkung von Peter Krämer u. Ilona Riedel-Spangenberger, Regensburg 1994, S. 809–834. 15
Akten der Fuldaer Bischofskonferenz, bearb. von Erwin Gatz, 3 Bde. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 22, 27, 39), Mainz 1977, 1979, 1985 (betrifft den Zeitraum 1871 bis 1919); Wolfgang Vogl, Die bayerischen Bischofskonferenzen 1850–1918, 2 Teile. (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 46), Regensburg 2012. Weitere Dokumente, die im Zusammenhang mit Bi-
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Doch nicht nur in Deutschland spielten Konferenzen der Bischöfe eine wichtige Rolle. Auch in Österreich entwickelte sich eine entsprechende regelmäßige Praxis bischöflicher Zusammenkünfte.16 Wie in Deutschland wurden diese Konferenzen des österreichischen Episkopats lange Zeit ohne eine förmliche rechtliche Grundlage durchgeführt. Auch über das deutsche Sprachgebiet hinaus fanden im 20. Jahrhundert in einigen weiteren europäischen und außereuropäischen Regionen mit gewisser Regelmäßigkeit bereits Konferenzen von Bischöfen statt. So wurde etwa 1955 für ganz Südamerika, auf einer längeren Tradition von Bischofsversammlungen aufbauend, eine eigene Bischofskonferenz (CELAM) gebildet und 1958 durch den Apostolischen Stuhl als juristische Person errichtet.17 Es gab also am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Kirche schon eine nennenswerte Erfahrung mit Bischofskonferenzen, die geeignet war, durch diese ökumenische Synode aufgegriffen zu werden. Vergleichsweise gering war damals allerdings der Beitrag, den das zu jener Zeit geltende kirchliche Gesetzbuch zum Thema „Bischofskonferenz“ leisten konnte. Der CIC/1917 enthielt in can. 292 18 nur eine Bestimmung zu einer Bischofsversammlung auf der Ebene einer Kirchenprovinz, welcher die Vorbereischofskonferenzen entstanden sind, wurden in anderen von der Kommission für Zeitgeschichte veröffentlichten Bänden von Bischofsakten ediert. 16
Vgl. Leisching, Bischofskonferenz (Anm. 12); 150 Jahre Österreichische Bischofskonferenz 1849–1999. Dokumentation. Red. von Ägidius Zsifkovics (Katholisch aktuell, Bd. 5), Klosterneuburg 1999; Wolfgang F. Rothe, Art. Österreichische Bischofskonferenz, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 1), Sp. 122 f. 17 Vgl. Félix Zubillaga, Die Kirche in Lateinamerika, in: Die Weltkirche im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hubert Jedin / Konrad Repgen (Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VII), Freiburg / Basel / Wien 1979, S. 685–768, hier 690; Johannes Meier / Veit Straßner, Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn u. a. 2009, S. 1–28, hier 7 f.; Alejandro W. Bunge, Art. Consejo Episcopal Latinoamericano (CELAM), in: DGDC, Bd. II, S. 585–589. 18 Can. 292 CIC/1917: § 1. Nisi aliter pro peculiaribus locis a Sede Apostolica provisum fuerit, Metropolita, eoque deficiente, antiquior e Suffraganeis ad normam can. 284, curet ut Ordinarii locorum, saltem quinto quoque anno, stato tempore apud Metropolitam aliumve Episcopum comprovincialem conveniant, ut, collatis consiliis, videant quaenam in dioecesibus agenda sint ut bonum religionis promoveatur, eaque praeparent de quibus in futuro Concilio provinciali erit agendum. – § 2. Etiam Episcopi aliique de quibus in can. 285, una cum aliis Ordinariis convocari et convenire debent. – § 3. Iidem Ordinarii congregati sedem proximi conventus designent.
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tung eines Provinzialkonzils oblag.19 Immerhin aber gab es damit auch im Gesetzbuch einen bescheidenen Ansatzpunkt, auf den man verweisen und den man für die weitere Entwicklung dieser Einrichtung nutzen konnte. III. Die Stellungnahme Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen aus dem Jahre 1962 1. Beobachtungen und Hinweise zu dem Gutachten a) Zur Frage des Adressaten In dem Gutachten Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen ist nicht vermerkt, für wen er diesen Text verfasst hat. Aus der Tatsache, dass das Papier im Nachlass Kardinal Julius Döpfners überliefert ist, und aufgrund der offensichtlichen Durcharbeitung des Textes durch Döpfner würden sich allein noch keine zwingenden Anhaltspunkte ergeben, dass es für Döpfner geschrieben worden ist, wenngleich sie dies sehr wahrscheinlich machen; doch der erhaltene Begleitbrief Mörsdorfs schafft Gewissheit über den Auftraggeber und Empfänger Döpfner.20 Dies bedeutet aber nicht, dass Mörsdorf für seinen Text nicht auch noch an andere Adressaten gedacht haben könnte. Gestützt wird die Überlegung, dass neben Kardinal Döpfner möglicherweise auch andere kirchliche Entscheidungsträger als Rezipienten im Blick waren durch einige sachliche Beobachtungen. Die Stellungnahme Mörsdorfs ist so konzipiert, dass ein Leser, der kein kirchenrechtlicher Experte ist, die geltende Rechtslage rasch erfassen und die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung wahrnehmen kann. Hier schreibt erkennbar ein Kanonist für einen Rezipienten, der zwar theologisch gebildet, aber kein kirchenrechtlicher Fachmann ist und sich wahrscheinlich auch sonst nicht theoretisch näher mit der Bischofskonferenz befasst hat. Vor diesem Hintergrund kommt den grundsätzlichen Überlegungen zur Aktualisierung des synodalen Elements in der Kirchenverfassung mittels der Bischofskonferenz erhebliche Bedeutung zu. Sie dienen einer ekklesiologischen Rechtfertigung der Bischofskonferenz und bieten dem (bischöflichen) Leser wichtige Anhaltspunkte für einen theologischen Ort der Bischofskonferenz und damit zugleich auch Argumente für die weitere Diskussion zur Sache. Außerdem bereiten sie auf die 19 Vgl. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. I, 7. verb. und vermehrte Aufl., Paderborn 1953, S. 382 f. 20
Siehe oben Anm. 10.
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nachfolgenden Vorschläge zur konkreten rechtlichen Gestaltung der Bischofskonferenz vor und geben diesen ihr theologisches Fundament. Auch der Umfang der Stellungnahme lässt darauf schließen, dass Mörsdorf sich nicht gegenüber Fachkollegen äußern und mit diesen in einen wissenschaftlichen Dialog treten wollte, sondern dass er als Adressaten einen Leser im Blick hatte, der zu einer bestimmten Frage eine rasche und zugleich sachlich fundierte Orientierung erhalten sollte, ohne mit vielen Detailaspekten oder gar mit einem Überblick über eine Forschungsdiskussion belastet zu werden. Bischöfe etwa schätzen nach der eigenen Erfahrung des Verfassers dieses Beitrags eher Vorlagen im Umfang von nicht mehr als einer bis drei Seiten, um mit einem Problem oder Sachverhalt vertraut gemacht zu werden und einen Ausgangspunkt für eine anstehende Entscheidung zu erhalten. Die sechseinhalb Maschinenseiten, die Mörsdorf Kardinal Döpfner zugesandt hat, konnten auch noch von einem vielbeschäftigten Bischof oder kirchlichen Oberen persönlich wahrgenommen und inhaltlich bewältigt werden. Dass das Gutachten aufgrund eines übergroßen Umfangs des Textes womöglich ungelesen beiseite gelegt würde, hatte sein Verfasser nicht zu befürchten. Schließlich weisen auch noch die sehr konkreten und zugleich knappen Anregungen de lege condenda, die am Ende gegeben werden, auf einen kirchlichen Verantwortungsträger als Adressaten hin. Offensichtlich wollte Mörsdorf schon frühzeitig dazu beitragen, dass der Zug der künftigen Gesetzgebung auf die passenden Gleise gesetzt und die Weichen auf das richtige Ziel hin gestellt werden. Dazu hatte man gegenüber einem einflussreichen Bischof, wie Kardinal Döpfner es war, und potentiell weiteren Rezipienten in ähnlicher Stellung in aller Kürze Klartext zu formulieren. Überdies passt auch die Tatsache, dass Mörsdorf bei der Abfassung seiner Stellungnahme teilweise auf das eingangs erwähnte ältere Gutachten aus dem Jahr 1960 zurückgegriffen hat, worin er unter anderem auf die Notwendigkeit einer Neuordnung der Bischofskonferenzen durch das künftige Konzil zu sprechen gekommen war21, gut zu der Einschätzung, dass es mit einem Papier zu tun hat, das gezielt als praktische Hilfe für einen Bischof geschrieben worden ist. Denn hier kam es nicht auf die Originalität der Formulierung, sondern einzig auf Knappheit und Klarheit an. Selbstzitate des Verfassers, die nicht ausgewiesen werden, bedeuten bei diesem Textgenre keinerlei qualitative Beeinträchtigung. Schließlich ist noch näher auf die bereits angedeutete Frage einzugehen, ob die Stellungnahme Mörsdorfs von vornherein nicht nur für Kardinal Döpfner, 21
Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9); siehe dazu die Nachweise der Zitate, unten, V. Anhang: Edition des Gutachtens: Vorbemerkungen und Hinweise Nr. 6.
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sondern auch für andere Leser gedacht war. Der Text des Gutachtens ist, wie bereits erwähnt, so abgefasst, dass ein konkreter Adressat daraus nicht abzulesen ist. So hält es Mörsdorf allerdings auch bei anderen vergleichbaren gutachterlichen Äußerungen, und deshalb muss keine besondere Absicht dahinter stehen. Doch man konnte (auch) bei Mörsdorfs Stellungnahme „Zur Frage der Bischofskonferenzen“ ohne weiteres für die Weiterleitung des Gutachtens an andere Personen sorgen, ohne gleich als ursprünglicher Empfänger erkennbar zu werden. Dies könnte Mörsdorf selbst intendiert haben oder auch durch Kardinal Döpfner so veranlasst gewesen sein. Wollte man solchen Überlegungen nähertreten, dann könnte man in dem Gutachten Mörsdorfs ein Instrument sehen in der Auseinandersetzung mit damals vorhandenen (und gleich anzusprechenden) Tendenzen, einen Ausbau der Bischofskonferenzen über das bisher in Deutschland übliche Maß hinaus nicht zuzulassen. Das Papier könnte von Döpfner bei Mörsdorf sogar ausdrücklich für einen solchen Zweck bestellt worden sein. Ein Schriftstück Döpfners, das eine solche Vermutung möglicherweise bestätigen könnte, liegt in dessen eigenen Konzilsakten jedoch nicht vor. b) Hinweise zum damaligen Stand der Debatte Die Auseinandersetzung mit dem Thema Bischofskonferenz hatte nicht nur Klaus Mörsdorf als eine wichtige Aufgabe des Konzils eingeschätzt. Bei der amtlichen Vorbereitung der Synode war dazu bereits ein Schema mit konkreten Normen erarbeitet worden22, welches anlässlich einer Sitzung der Zentralen Vorbereitungskommission am 20. Februar 1962 vorgelegt und von der Kommission diskutiert wurde.23 Dieser Entwurf sah die obligatorische Einrichtung von Bischofskonferenzen in allen Ländern vor mit der Aufgabe, das pastorale Wirken zu koordinieren und zu fördern. Trotz der verpflichtenden Einrichtung war die Bischofskonferenz in dem Schema aber nicht als eine wirkliche hierarchische Zwischeninstanz konzipiert; denn die Beschlüsse der Konferenz sollten die einzelnen Bischöfe nur moralisch, nicht aber rechtlich verpflichten. Nur wenn in einzelnen besonderen Fällen eine Angelegenheit durch die Bischofskonferenz rechtsverbindlich geordnet werden sollte, konnte der Heilige Stuhl angegangen und dessen Entscheidung in der Sache umgesetzt werden.
22 Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II apparando. Ser. II, vol. II, pars II, Vatikanstadt 1967, S. 520 f. 23
Protokoll der Sitzung vom 20. Februar 1962, in: Acta et Documenta II, II, II (Anm. 22), S. 518–541.
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Die einzelnen Konferenzen sollten nach dem Entwurf eigene, vom Heiligen Stuhl gebilligte Statuten erhalten. Als Organe der Bischofskonferenz, deren Einrichtung vorgeschrieben sein sollte, wurden ein ständiger Rat aus einigen Bischöfen sowie bischöfliche Kommissionen für bestimmte Aufgabengebiete vorgesehen. Außerdem sollte ein Generalsekretariat als zentrale Dienst- und Informationsstelle der Konferenz eingerichtet werden. Für große Länder mit sehr vielen Bischöfen sah das Schema die Möglichkeit vor, dass an die Stelle einer Vollversammlung aller Bischöfe ein Konvent der Metropoliten oder der Vorsitzenden regionaler Konferenzen treten könne24; dabei müsse aber sichergestellt werden, dass die Auffassungen aller Bischöfe in die Beratungen einfließen können. Zu dieser Konzeption der Bischofskonferenz äußerten sich in der Sitzung mehrere Mitglieder der Zentralen Vorbereitungskommission. Am ausführlichsten fiel die Stellungnahme des damaligen Erzbischofs von Köln und Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Josef Kardinal Frings 25 (1887–1978), aus, die schließlich in einer klaren Ablehnung des Entwurfs mündete (non placet).26 Frings stellte in seinem Diskussionsbeitrag zunächst kurz die Geschichte und die herrschende Praxis der in Deutschland bereits existierenden Bischofskonfe24
Hier stand möglicherweise die herrschende Praxis des französischen Episkopats vor Augen, denn in Frankreich fanden seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zweimal jährlich Versammlungen der Kardinäle und Erzbischöfe statt; Henri Chappoulie, Art. Assemblée des cardinaux et archevêques de France (A.C.A.), in: Catholicisme, Bd. 1, Paris 1948, Sp. 915 f.; Gabriel Jacquemet, Art. Épiscopat de France, in: Catholicisme, Bd. 4, Paris 1956, Sp. 339–341, hier 340. 25 Studium der Theologie in Innsbruck, Freiburg i. Br. und Bonn, 1910 Priesterweihe, 1916 Dr. theol. (Freiburg i. Br.), Seelsorger, 1937 Regens des Kölner Priesterseminars in Bensberg, 1942–1969 Erzbischof von Köln, 1945–1965 Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz, 1946 Kardinal; vgl. Eduard Hegel, Art. Frings, Josef, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001 (Anm. 4), S. 287–290; Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887–1978), Bd. I: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 94), Paderborn u. a. 2003; ders., Josef Kardinal Frings (1887–1978), Bd. II: Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 104), Paderborn u. a. 2005; ders., Kardinal Josef Frings auf dem II. Vatikanischen Konzil, in: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962– 1965) (Anm. 4), S. 93–103; Klaus Dick, „Für die Menschen bestellt“ – Josef Kardinal Frings, in: … und es gibt sie doch! 25 Priester in guter Erinnerung. Zusammengestellt und hrsg. von Markus Hofmann / Klaus-Peter Vosen, Kisslegg 2013, S. 49–53. 26 Protokoll der Sitzung vom 20. Februar 1962, in: Acta et Documenta II, II, II (Anm. 22), S. 527 f.
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renzen dar und unterstrich die positiven Erfahrungen, die man damit gemacht habe. Davon ausgehend forderte er, (1) die Einrichtung von Bischofskonferenzen nicht vorzuschreiben, sondern diese nur zu empfehlen, (2) den Beschlüssen der Bischofskonferenz weder eine rechtliche noch eine moralische Verpflichtungskraft beizumessen – sonst entstehe eine Zwischeninstanz ohne Basis im göttlichen Recht zwischen Apostolischem Stuhl und Einzelbischof – und die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Bischofs nicht einzuschränken, sowie (3) auf die Schaffung eines Generalsekretariats gänzlich zu verzichten, weil es die Gefahr berge, dass Vorsitzender und Sekretär womöglich nicht im Einklang stehen, und weil vor allem kleinere Diözesen durch das Generalsekretariat dominiert werden könnten. Kardinal Frings trat im Grunde dafür ein, die in Deutschland üblich gewordene Praxis der Bischofskonferenzen beizubehalten und sie auf andere Länder zu übertragen. Diese Praxis war Frings seit zwei Jahrzehnten als Mitglied und fast ebenso lange als Vorsitzender der Fuldaer Konferenzen vertraut. Den Charakter einer hierarchischen Instanz hätte die Bischofskonferenz damit nicht erlangt, noch weit weniger als es gemäß dem der Kommission vorgelegten Schema der Fall gewesen wäre. Die Ablehnung eines Generalsekretariats der Bischofskonferenz durch Frings war insbesondere durch seinen Berater in dieser Frage, den Kölner Generalvikar Joseph Teusch 27 (1902–1976) mitbestimmt, der hier ein „Super-Quasi-Ordinariat“ entstehen sah. 28 Teusch hatte sich übrigens bereits in den 1950er Jahren massiv gegen Pläne gewandt, ein eigenes Sekretariat der Fuldaer Konferenz einzurichten, die damals unter deutschen Bischöfen erörtert worden sind.29 Mörsdorf geht in seiner Stellungnahme nicht auf den Entwurf ein, welcher der Zentralen Vorbereitungskommission zur Bischofskonferenz vorgelegt worden war. Er dürfte dieses Schema wohl auch nicht gekannt haben, weil er nicht persönlich damit befasst worden ist. Wenn man berücksichtigt, wie peinlich genau wenigstens Kardinal Frings – zumindest zunächst – auf die Beachtung des 27
Theologiestudium in Bonn, 1927 Priesterweihe, 1952–1969 Generalvikar in Köln; vgl. Erwin Gatz (Red.), Art. Teusch, Joseph, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001 (Anm. 4), S. 304–306; Trippen, Josef Kardinal Frings, Bd. I (Anm. 25), S. 421–424; ders., Inspirierend, organisierend, regierend. Generalvikar DDr. Joseph Teusch, in: … und es gibt sie doch! (Anm. 25), S. 149–153. 28 Siehe Trippen, Josef Kardinal Frings, Bd. II (Anm. 25), S. 257; ders., Josef Kardinal Frings, Bd. I (Anm. 25), S. 630 f. 29 Siehe Norbert Trippen, Von den Fuldaer „Bischofskonferenzen“ zur „Deutschen Bischofskonferenz“ 1945–1976, in: Historisches Jahrbuch 121 (2001), S. 304–319, hier 310–313; ders., Josef Kardinal Frings, Bd. I (Anm. 25), S. 618–630.
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(vor-)konziliaren Secretum bedacht war, dann scheint eine Weitergabe durch diesen auch an andere deutsche Bischöfe unwahrscheinlich. Frings hatte nicht einmal seinen Generalvikar Teusch ohne die – auf Antrag hin freilich problemlos erteilte – Erlaubnis des Generalsekretärs des Konzils, Erzbischof Pericle Felici30 (1911–1982), zur persönlichen Beratung in Konzilsangelegenheiten beizuziehen gewagt.31 Diese Umstände schließen freilich nicht aus, dass Mörsdorf um die generelle Skepsis des Kölner Erzbischofs gegen Veränderungen bezüglich der Bischofskonferenz wusste, zumal Kardinal Döpfner gleichfalls Mitglied der Zentralen Vorbereitungskommission war und ihm auch als langjährigem Mitglied der Fuldaer Konferenz Frings’ Standpunkt in dieser Frage bekannt gewesen sein muss. So könnte gerade darin ein Grund zu suchen sein, dass Mörsdorf in seiner Stellungnahme, wie gleich darzulegen sein wird, gegenüber Kardinal Döpfner die Freiheit der Kirche in der konkreten Ausgestaltung des synodalen Elements hervorgehoben und die Etablierung der Bischofskonferenz als hierarchische Zwischeninstanz forciert hat. Kardinal Josef Frings hat übrigens später, ein Jahr nach der Abfassung des Mörsdorfschen Gutachtens, auch bei der Debatte in der Konzilsaula seine Position zur Bischofskonferenz geäußert und sich in seiner Intervention bei der 66. Generalkongregation am 13. November 1963 erneut gegen deren stärkere Institutionalisierung gewandt.32 c) Aufbau und inhaltliche Aussagen des Mörsdorfschen Gutachtens Das kurze Gutachten Klaus Mörsdorfs ist in vier Abschnitte gegliedert. 33 Im ersten Abschnitt werden kurz die Rechtslage bezüglich der Bischofskonferenzen gemäß dem CIC/1917 referiert und die für die Aufsicht über die Bischofs30
Studien in Rom, 1929 Dr. phil., 1934 Dr. theol., 1938 Dr. iur. can., 1933 Priesterweihe, Tätigkeit in der akademischen Lehre und der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 1960 Titula rerzbischof und Generalsekretär der Konzilsvorbereitungskommission und danach des Konzils, 1967 Kardinal, Präsident der CIC-Reformkommission und 1977 Präfekt der Apostolischen Signatur; vgl. Franz Kalde, Art. Felici, Pericle, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 1), Sp. 1072 (Lit.); ders., Art. Felici, Pericle, in: DGDC, Bd. III, S. 952 f. (Lit.). 31
Siehe Trippen, Josef Kardinal Frings, Bd. II (Anm. 25), S. 244 f., 256.
32
Acta synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II. Vol. II, pars V, Vati kanstadt 1973, S. 66–69. 33
Ein kurzer Hinweis zum Inhalt dieses Gutachtens bereits bei Haering, Der Münchener Kanonist Klaus Mörsdorf und das Zweite Vatikanische Konzil (Anm. 2), S. 183.
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konferenzen zuständigen Dikasterien des Apostolischen Stuhls genannt (Konzils-, Propaganda- oder Orientalenkongregation). Im zweiten Abschnitt weist Mörsdorf auf die parakanonische Bildung von Bischofskonferenzen in Deutschland hin. Er nennt gemäß der zur Zeit der Abfassung des Gutachtens herrschenden Praxis für Deutschland vier verschiedene Konferenzen. Es handelt sich um die einmal im Jahr unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Köln tagende Fuldaer Konferenz der deutschen Diözesanbischöfe 34; die zweimal jährlich einberufene Freisinger Bischofskonferenz, die sich aus den Bischöfen Bayerns und der Pfalz zusammensetzt und deren Vorsitz der Erzbischof von München und Freising innehat35; das offensichtlich etwas formlosere „Conveniat“ der westdeutschen Bischöfe, das dreimal jährlich an wechselnden Orten zusammentritt36; und schließlich die Berliner Ordinarienkonferenz der Ortsoberhirten aus Berlin und der DDR unter Vorsitz des Bischofs von Berlin, die nach Be darf zusammengerufen wird37. Soweit es feste Tagungsorte für die Zusammenkünfte gibt, sind diese jeweils namengebend für die einzelnen Konferenzen. Während diese deutschen Konferenzen ganz auf Herkommen und Gewohnheit gründende Einrichtungen waren, gab es damals für andere Konferenzen – wie Mörsdorf gleichfalls im zweiten Abschnitt darlegt – bereits Organisationsvorgaben seitens des Apostolischen Stuhles. Genannt werden Bischofskonferenzen für Österreich, Südamerika, Italien, Philippinen, Kanada und Kolumbien. Im dritten Abschnitt geht es Mörsdorf um die theologisch-ekklesiologische Einordnung der Bischofskonferenzen. Er legt dar, dass das bischöflich-synodale Element in der Kirchenverfassung göttlichen Rechts sei, die konkrete rechtliche 34
Vgl. Trippen, Von den Fuldaer „Bischofskonferenzen“ zur „Deutschen Bischofskonferenz“ (Anm. 29). 35 Vgl. dazu Peter Pfister, Art. Bayerische Bischofskonferenz, in: Historisches Lexikon Bayerns: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44418 (25. 03. 2011) (abgerufen: 29. Dezember 2013); Vogl, Die bayerischen Bischofskonferenzen (Anm. 15). 36
Vgl. dazu Trippen, Josef Kardinal Frings, Bd. II (Anm. 25), S. 606–608. Vgl. dazu Josef Pilvousek, Gesamtdeutsche Wirklichkeit – pastorale Notwendigkeit. Zur Vorgeschichte der Ostdeutschen Bischofskonferenz, in: Von Gott reden in säkularer Gesellschaft. Festschrift für Konrad Feiereis zum 65. Geburtstag, hrsg. von Emerich Coreth / Wilhelm Ernst / Eberhard Tiefensee (Erfurter Theologische Studien, Bd. 71), Leipzig 1996, S. 229–242; ders., Katholische Bischofskonferenz und Vatikan, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12 (1999), S. 488–511, hier 492–497; Trippen, Josef Kardinal Frings, Bd. II (Anm. 25), S. 612–618; Josef Pilvousek, Die katholischen Bischöfe in der SBZ / DDR. Zentralisierte Kirchenführung im Horizont totalitärer Macht, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 439–463, hier 439–446. 37
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und organisatorische Ausgestaltung jedoch in der Vollmacht der Kirche liege. Das Entstehen der Bischofskonferenzen sei durch historische Umstände veranlasst. Die bestehenden Bischofskonferenzen seien in der Lage, als über eine einzelne Kirchenprovinz hinausreichende hierarchische Zwischeninstanzen zu fungieren. Hier spielt Mörsdorf auf die nach seiner Meinung unzureichende Konzeption von can. 292 CIC/191738 an, wo Bischofskonferenzen nur für die Ebene einer Kirchenprovinz vorgesehen sind. Insgesamt ist dieser Abschnitt ein – fast möchte man sagen: leidenschaftliches, jedenfalls aber nachdrückliches – Plädoyer zugunsten teilkirchlicher bischöflich-synodaler Institutionen, das deren günstigen Einfluss auf das kirchliche Leben unterstreichen und eine neue Wertschätzung fördern möchte. Über das synodale Element in der Kirchenverfassung, dessen Bedeutung und rechte Ausgestaltung Mörsdorf sehr am Herzen lag, hat er sich selbst noch einmal vor dem Hintergrund des Zweiten Vatikanischen Konzils in einem Fachbeitrag geäußert.39 Außerdem ließ er später durch seinen akademischen Schüler Winfried Aymans40 (geb. 1936) eine größere monographische Untersuchung zu dieser Thematik erarbeiten.41 Im vierten Abschnitt wird Mörsdorf dann sehr konkret und formuliert in vier Punkten seine Vorschläge für eine künftige rechtliche Gestaltung der Bischofskonferenz, die in ihren Grundzügen durch das Konzil erfolgen solle. Mörsdorf hielt es also für angebracht, hinter eine Neuregelung die Autorität des ökumenischen Konzils zu stellen. Einleitend mahnt er freilich auch, das Konzil solle keine zu detaillierten Vorgaben machen, sondern für die Zukunft ausreichenden Spielraum zur Gestaltung lassen. Bemerkenswert ist hier nicht zuletzt die gleich am Beginn stehende Betonung der Dringlichkeit einer Regelung der Frage der Bischofskonferenzen durch das Konzil auch für den Fall, dass das Verhältnis von Papst und Bischof dort nicht grundsätzlich geklärt werden sollte. Punkt 1 ist den Aufgaben und Vollmachten der Bischofskonferenz gewidmet. Klaus Mörsdorf plädiert dafür, sich bei der Beschreibung der Aufgaben ganz 38
Siehe oben Anm. 18.
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Klaus Mörsdorf, Das synodale Element der Kirchenverfassung im Lichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Volk Gottes. Festgabe für Joseph Höfer, hrsg. von Remigius Bäumer / Heimo Dolch, Freiburg / Basel / Wien 1967, S. 568–584; wieder abgedruckt: ders., Schriften zum Kanonischen Recht (Anm. 9), S. 256–272. 40 Zu Aymans, 1978–2003 Nachfolger Mörsdorfs auf dessen kirchenrechtlichem Lehrstuhl in München, siehe Stephan Haering, Laudatio für Winfried Aymans zum 75. Geburtstag, in: AfkKR 180 (2011), S. 353–369 (Lit.). 41
Winfried Aymans, Das synodale Element in der Kirchenverfassung (MthStkan, Bd. 30), München 1970.
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allgemein zu halten und von Förderung und Koordinierung des kirchlichen Wirkens zu sprechen. Bezüglich der Vollmachten der Konferenz spricht sich Mörsdorf eindeutig dafür aus, die Bischofskonferenz als „hierarchische Instanz“ zu etablieren, deren gesetzgeberische Maßnahmen jedoch der päpstlichen Bestätigung bedürfen. Mit letzterer Forderung nimmt Mörsdorf unausgesprochen eine kirchenrechtliche Bestimmung auf, die bezüglich der bestehenden hierarchischen Zwischeninstanzen, nämlich der Plenar- und der Provinzialkonzilien (Partikularkonzilien), bestand42, und überträgt sie auf die Bischofskonferenz. Um Zusammensetzung und Vorsitz der Bischofskonferenz geht es in Punkt 2. Als Mitglieder der Bischofskonferenz, die zur Teilnahme an den Sitzungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, sieht Mörsdorf die Diözesanbischöfe (regierende Bischöfe) vor. Die Weihbischöfe und andere potentielle Mitglieder (nichtbischöfliche Ordinarien) werden nicht erwähnt. Offensichtlich sollen sie nicht daran teilnehmen. In der Frage des Vorsitzes der Bischofskonferenz wünscht Mörsdorf Rücksichtnahme auf eine etwa bereits bestehende Praxis. Er stellt sich vor, dass die Leitung der Bischofskonferenz dauerhaft mit einem bestimmten Metropolitansitz verbunden bleibe; es könne aber eventuell auch ein anderer Metropolit als Vorsitzender in Betracht kommen, gemäß dem Wunsch der Konferenz und mit Zustimmung des Apostolischen Stuhls. Im Hintergrund des Vorschlags steht wohl der herkömmliche Brauch der Fuldaer Konferenz, den Vorsitz im Wechsel durch die Erzbischöfe von Köln und Breslau wahrnehmen zu lassen. Es scheint außerhalb der Vorstellung Mörsdorfs gelegen zu haben, dass ein Diözesanbischof, der nicht einer Kirchenprovinz als Metropolit vorsteht, den Vorsitz über einen bischöflichen Zusammenschluss, dem Metropolitanerzbischöfe angehören, übernehmen könnte. Allerdings macht Mörsdorf auch darauf aufmerksam, dass – wie etwa in der Schweiz – nicht überall die Provinzialverfassung eingerichtet sei und auch in solchen Ländern der Vorsitz der Konferenz einer Regelung bedürfe. Zu Zeit und Ort der Versammlungen der Bischofskonferenzen äußert Mörsdorf sich unter Punkt 3. Er hält eine ordentliche Versammlung im Jahr für angemessen, wobei diese stets zur selben Zeit und am selben Ort stattfinden solle. Außerordentliche Tagungen sollen nach Bedarf durch den Vorsitzenden einberufen werden, der dann auch Zeitpunkt und Ort der Zusammenkunft bestimme. 42
Can. 291 § 1 CIC/1917: Absoluto Concilio plenario aut provinciali, praeses acta et decreta omnia ad Sanctam Sedem transmittat, nec eadem antea promulgentur, quam a Sacra Congregatione Concilii expensa et recognita fuerint; ipsimet autem Concilii Patres designent et modum promulgationis decretorum et tempus quo decreta promulgata obli gare incipiant.
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Unter Punkt 4 macht Klaus Mörsdorf einige Vorschläge dazu, wie die Bischofskonferenz auch außerhalb der Tagungen aktionsfähig sein könne. Er schlägt hierzu die Einrichtung ständiger Referate vor und hat dabei wohl die bereits geübte Praxis der Fuldaer Konferenz vor Augen, einzelne Bischöfe mit bestimmten „Referaten“ zu betrauen. Unter „Referaten“ könnte man allerdings auch kollegiale Organe, etwa bischöfliche Kommissionen, verstehen, die für ein bestimmtes Sachgebiet besondere Zuständigkeit besitzen. Außerdem solle der Vorsitzende auch außerhalb der Tagungen eine Funktion wahrnehmen und als „Sprecher“ der Bischofskonferenz auftreten können. Unter Verweis auf die Ständige Synode, die in den orientalischen patriarchalen und großerzbischöflichen Kirchen in der Kurie des Patriarchen beziehungsweise des Großerzbischofs eingerichtet ist, spricht Mörsdorf sich dafür aus, wenigstens bei den größeren Bischofskonferenzen einen ständigen Ausschuss zu bilden und ihn dem Vorsitzenden beizugeben für den Fall, dass eilige Entscheidungen zu treffen sind. Der Hinweis auf die Ständige Synode bei den Orientalen legt nahe, dass dieser Ausschuss nicht sehr groß sein, sondern lediglich eine Handvoll Bischöfe umfassen soll.43 Keine Aussagen macht Klaus Mörsdorfs Gutachten über ein Sekretariat der Bischofskonferenz oder einen ständigen Generalsekretär, die insbesondere den Vorsitzenden unterstützen könnten. 2. Rechtliche Konzeption der Bischofskonferenz a) Grundlegende Regelungen im Konzilsdekret „Christus Dominus“ Mit dem Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche „Christus Dominus“44 des Zweiten Vatikanischen Konzils vom 28. Oktober 1965 ist die Bischofskonferenz als hierarchische Instanz der Kirchenverfassung rechtlich ins Dasein getreten. Die entsprechenden Aussagen finden sich in den Artikeln 37 und 38 dieses Dokumentes: 43
Nach dem heute geltenden Gesetzbuch für die orientalischen katholischen Kirchen gehören zur Ständigen Synode neben dem Patriarchen bzw. dem Großerzbischof vier weitere Bischöfe; siehe c. 115 § 1 CCEO. Vgl. dazu Jobe Abbass, Art. Sínodo permanente de la curia patriarcal, in: DGDC, Bd. VII, S. 354 f. (Lit.). 44
AAS 58 (1966), S. 673–696; lat. und dt.: LThK2-Konzilskommentar II (1967), S. 148–247; Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lat.-dt. Studienausgabe, hrsg. von Peter Hünermann (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1), Freiburg / Basel / Wien 2004, S. 242–283.
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37. Hodiernis potissimum temporibus Episcopi haud raro munus suum apte ac fructuose adimplere non valent nisi cum aliis Episcopis arctiorem in dies suam concordem atque coniunctiorem operam efficiant. Cum autem Episcoporum Conferentiae – pluribus in nationibus iam constitutae – praeclara ediderint uberioris apostolatus argumenta, Sacrosancta haec Synodus summopere expedire censet, ut ubique terrarum eiusdem nationis seu regionis Episcopi in unum coetum confluant, statis temporibus simul convenientes, ut communicatis prudentiae et experientiae luminibus, collatisque consiliis sancta fiat ad commune Ecclesiarum bonum virium conspiratio. Propterea de Episcoporum Conferentiis haec quae sequuntur statuit. 38. 1) Est Episcoporum Conferentia veluti coetus in quo sacrorum Antistites cuiusdam nationis vel territorii munus suum pastorale coniunctim exercent ad maius bo num, quod hominibus praebet Ecclesia, provehendum, praesertim per apostolatus formas et rationes occurrentibus aetatis adiunctis apte compositas. 2) Omnes Ordinarii locorum cuiuscumque ritus, Vicariis Generalibus exceptis, Coadiutores, Auxiliares aliique Episcopi titulares peculiari munere vel ab Apostolica Sede vel ab Episcoporum Conferentiis demandato fungentes ad Episcoporum Conferentiam pertinent. Ceteri Episcopi titulares necnon, ob singulare quod obeunt in territorio officium, Legati Romani Pontificis non sunt de iure membra Conferentiae. Ordinariis locorum necnon Coadiutoribus competit suffragium deliberativum. Auxiliaribus aliisque Episcopis, quibus ius est Conferentiae interesse, suffragium deliberativum aut consultivum decernent statuta Conferentiae. 3) Quaelibet Conferentia Episcoporum sua conficiat statuta, ab Apostolica Sede re cognoscenda, in quibus – praeter alia media – officia provideantur quae fini consequendo efficacius consulant, e. g. Consilium permanens Episcoporum, Commissiones Episcopales, Secretariatus Generalis. 4) Decisiones Conferentiae Episcoporum, dummodo legitime et per duas saltem ex tribus partibus suffragiorum Praesulum, qui voto deliberativo fruentes ad Conferentiam pertinent, prolatae fuerint et ab Apostolica Sede recognitae, vim habeant iuridice obligandi in casibus dumtaxat in quibus aut ius commune id praescripserit aut peculiare Apostolicae Sedis mandatum, motu proprio aut ad petitionem ipsius Conferen tiae datum, id statuerit. 5) Ubi peculiaria adiuncta id postulent, Episcopi plurium nationum, Apostolica Sede approbante, unam poterunt Conferentiam constituere. Foveantur insuper relationes inter Conferentias Episcopales diversarum nationum ad maius bonum promovendum ac tuendum. 6) Enixe commendatur ut Praesules Orientalium Ecclesiarum, in disciplina propriae Ecclesiae in Synodis promovenda et ad opera in bonum religionis efficacius fovenda, rationem etiam habeant boni communis totius territorii, ubi plures Ecclesiae diver -
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sorum rituum exstant, consiliis in conventibus interritualibus collatis, iuxta normas a competenti Auctoritate statuendas.
Demnach werden die Bischofskonferenzen allgemein eingerichtet als Zusammenschlüsse der Bischöfe eines Landes oder einer Region, um eine Institution für die gemeinschaftliche Ausübung des bischöflichen Dienstes zu schaffen.45 Entscheidend ist die Bestimmung von Art. 38 Ziff. 4, wonach eine Bischofskonferenz rechtsverbindliche Beschlüsse fassen kann, die allerdings der Gutheißung des Apostolischen Stuhls bedürfen. Mörsdorf selbst nennt diese Regelung „das Kernstück der neuen Gesetzgebung über die Bischofskonferenz“46. Jedenfalls wird die Bischofskonferenz so zur hierarchischen Instanz, wie Klaus Mörsdorf es vorgeschlagen hatte. Die Kompetenz der Bischofskonferenz ist allerdings eine normierte; mit anderen Worten: sie kann nur Angelegenheiten regeln, für die ihr die Zuständigkeit ausdrücklich übertragen worden ist. Was die Mitgliedschaft in der Bischofskonferenz angeht, so gehören ihr gemäß Art. 38 Ziff. 2 die Diözesanbischöfe und die rechtlich gleichgestellten Ortsoberhirten, die Koadjutoren, die Weihbischöfe und gegebenenfalls weitere Titularbischöfe an, die ein besonderes Amt im Auftrag des Apostolischen Stuhls oder der Konferenz ausüben, nicht aber der päpstliche Legat und weitere Titularbischöfe. Entscheidendes Stimmrecht in der Konferenz besitzen gemäß dem Konzilsdekret nur die Diözesanbischöfe, die ihnen rechtlich Gleichgestellten und die Koadjutoren. Die von der Konferenz erlassenen Statuten können jedoch auch den übrigen Mitgliedern, namentlich den Weihbischöfen, das Stimmrecht zugestehen. In diesem Punkt geht das Dekret ein wenig über den Vorschlag Mörsdorfs hinaus, der nur die regierenden Bischöfe als Mitglieder der Konferenz vorgesehen hatte, nicht aber die Weihbischöfe und andere Titularbischöfe. Allerdings werden die Letztgenannten auch durch „Christus Dominus“ insoweit von den regierenden Bischöfen abgehoben, als sie nur als beratende Mitglieder vorgesehen sind und ihnen allenfalls auf der Basis statutarischer Regelung das Stimmrecht übertragen werden kann. Außerdem nennt Art. 38 Ziff. 3, wo die von der Bischofskonferenz selbst erlassenen und vom Apostolischen Stuhl überprüften Statuten der Konferenz be45 Kommentare zu CD Art. 37 und 38 bei Klaus Mörsdorf, Einleitung und Kommentar zum Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche, in: LThK 2-Konzilskommentar II (1967), S. 128–247, hier 231–240; Guido Bausenhart, Theologischer Kommentar zum Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe in der Kirche Christus Domi nus, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hrsg. von Peter Hünermann u. Bernd Jochen Hilberath, Bd. 3, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 225–313, hier 287–291. 46 Mörsdorf, Einleitung und Kommentar (Anm. 45), S. 237.
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handelt werden, exemplarisch einige Organe der Bischofskonferenz. Aufgeführt werden ein ständiger Bischofsrat, bischöfliche Kommissionen und ein Generalsekretariat. Dies entspricht dem Konzept, das bereits 1961 von der zuständigen Konzilsvorbereitungskommission erstellt worden ist. Es fällt auf, dass der Vorsitz der Konferenz weder hier noch an anderer Stelle in Art. 38 angesprochen wird; auch dies verhielt sich schon so in dem genannten Schema. Mit den Vorschlägen Klaus Mörsdorfs zur Einrichtung bestimmter Organe der Bischofskonferenz kommt das Konzilsdekret insoweit überein, als es einen ständigen Bischofsrat als Möglichkeit vorsieht. Auch die bischöflichen Kommissionen entsprechen wenigstens potentiell den von Mörsdorf genannten Referaten. Die Frage des Vorsitzes, für die Mörsdorf gewisse offene Vorschläge unterbreitet, wird vom Konzil nicht angesprochen und verbleibt damit bei einer Regelung durch die einzelne Konferenz in den Statuten. An ein (ständiges) Sekretariat der Bischofskonferenz, das im Konzilsdekret genannt wird, hatte Mörsdorf anscheinend nicht gedacht; zumindest erschien ihm die Schaffung eines solchen nicht unbedingt erforderlich. Es ist freilich auch nicht auszuschließen, dass er diese – eine unter ekklesiologischen Aspekten sekundäre, kirchenpolitisch jedoch nicht unbedeutende – Frage bewusst nicht in den Vordergrund rücken wollte. Der Beschlussfassung über „Christus Dominus“ war eine Debatte des Konzils zu den einschlägigen Schemata „De episcopis ac de dioeceseon regimine“, „De cura animarum“ bzw. „De pastorali episcoporum munere in Ecclesia“ vorausgegangen, in der nicht zuletzt die Frage der Bischofskonferenzen eine wichtige Rolle spielte.47 Darauf ist hier jedoch nicht in den Einzelheiten einzugehen48, zumal gerade dieser Teil des Dekrets bei der Abstimmung am 6. November 1964 die erforderliche Mehrheit der Väter wider Erwarten ohne Mühe erreicht hat und in der Schlussabstimmung sehr eindeutig angenommen worden ist.49 Die verschiedenen Standpunkte zur Bischofskonferenz, die im Vorfeld und
47 Zur Diskussion in der zweiten Sitzungsperiode vom 12. bis 15. November 1963 siehe Mörsdorf, Einleitung und Kommentar (Anm. 45), S. 136 f.; Joseph Famerée, Bischöfe und Bistümer (5.–15. November 1963), in: Geschichte des Zweiten Vatikani schen Konzils (1959–1965), Bd. III: Das mündige Konzil. Zweite Sitzungsperiode und Intersessio September 1963 – September 1964, hrsg. von Giuseppe Alberigo / Klaus Wittstadt, Mainz / Leuven 2002, S. 139–222, hier 170–180. 48 Siehe dazu Mörsdorf, Einleitung und Kommentar (Anm. 45), S. 128–146; Bausenhart, Theologischer Kommentar (Anm. 45), S. 243–246. 49
Siehe Mörsdorf, Einleitung und Kommentar (Anm. 45), S. 145 f.
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auch während des Konzils noch erkennbar gewesen waren 50, konnten am Ende doch in einem recht einmütigen Beschluss zusammengeführt werden. b) Nachkonziliare Rechtsentwicklung, insbesondere der Codex Iuris Canonici Schon bald nach Abschluss des Konzils setzte die praktische rechtliche Umsetzung der Konzilsbeschlüsse ein. Sie betraf auch die Neuordnung der Bischofskonferenz. Mit dem Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ erließ Papst Paul VI.51 (1963–1978), nur wenige Monate nach dem Ende der Synode, Ausführungsbestimmungen zu mehreren Konzilsdekreten, darunter zu dem Dekret „Christus Dominus“.52 Dieses päpstliche Gesetz ordnete die flächendeckende Einrichtung von Bischofskonferenzen in allen Ländern an sowie die Abfassung von Statuten für die Konferenzen, die dem Apostolischen Stuhl zur Genehmigung vorzulegen waren; letztere Vorschrift betraf auch die bereits faktisch bestehenden Bischofskonferenzen.53 Eine dauerhafte gesetzliche Regelung erhielt die Bischofskonferenz als Rechtsinstitut mit der Promulgation des revidierten CIC durch Papst Johannes Paul II.54 (1978–2005) im Jahr 1983.55 Damit wurde ihre bereits durch das Konzilsdekret „Christus Dominus“ grundgelegte Stellung als hierarchische Instanz zwischen dem Apostolischen Stuhl und den Teilkirchen gefestigt. Die Regelungen des CIC zur Bischofskonferenz56 (cc. 447–459) greifen die Vorgaben des 50 Vgl. Heribert Heinemann, Die Bischofskonferenz. Streiflichter zur vorkonziliaren Situation und Diskussion, in: Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans / Anna Egler / Joseph Listl, Regensburg 1991, S. 407–422. 51 Vgl. Victor Conzemius, Art. Paul VI., in: Lexikon der Päpste und des Papsttums (Anm. 8), Sp. 283–288 (Lit.); Jörg Ernesti, Paul VI. Der vergessene Papst, Freiburg / Basel / Wien 2012. 52 Paul VI., MP „Ecclesiae Sanctae“ vom 6. August 1966, in: AAS 58 (1966), S. 757– 787; abgedruckt: AfkKR 135 (1966), S. 553–578; mit dt. Übers.: NKD, Bd. 3, Trier 1967. 53
Paul VI., MP „Ecclesiae Sanctae“ (Anm. 52), Teil I, Nr. 41.
54
Vgl. Erwin Gatz, Art. Johannes Paul II., in: Lexikon der Päpste und des Papsttums (Anm. 8), Sp. 208–211 (Lit.); Andrea Riccardi, Johannes Paul II. Die Biografie. Übers. aus dem Ital. von A. Peter, Würzburg 2012. 55
Vgl. Heribert Schmitz, Der Codex Iuris Canonici von 1983, in: HdbKathKR2 (1999), S. 49–76. 56 Zur geltenden Ordnung der Bischofskonferenz vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II (1997), S. 276–298; Joseph Listl, Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbKathKR 2 (1999), S. 396–415; Heribert Hallermann, Art. Bischofskonferenz. II. Kath., in:
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Konzils und der weiteren Rechtsentwicklung auf und führen sie in verschiedenen Punkten fort. Die Bischofskonferenz, die der gemeinsamen Ausübung pastoraler Aufgaben der Bischöfe einer Nation oder eines bestimmten Gebietes dient, ist eine ständige Einrichtung und kann nur durch den Apostolischen Stuhl errichtet werden (cc. 447, 449 § 1). Gesetzliche Mitglieder der Bischofskonferenz und in der Vollversammlung57 vertreten sind die Diözesanbischöfe und die ihnen rechtlich Gleichgestellten, die Koadjutoren, die Weihbischöfe und die übrigen Titularbischöfe mit einer besonderen, vom Apostolischen Stuhl oder der Konferenz übertragenen Aufgabe (c. 450 § 1), wobei jedoch den Weihbischöfen und den übrigen Titularbischöfe entscheidendes Stimmrecht nur nach Maßgabe der Statuten zukommt (c. 454). Durch die Statuten der Konferenz, welche der Genehmigung durch den Apostolischen Stuhl bedürfen, ist deren Arbeitsweise sowie namentlich die Einrichtung eines Ständigen Rates 58 und eines Generalsekretariats59 zu regeln (c. 451); das Konzilsdekret „Christus Dominus“ hatte diese Institutionen (und darüber hinaus auch Bischöfliche Kommissionen 60) zwar bereits exemplarisch genannt, ihre Einrichtung aber noch nicht verbindlich vorgeschrieben. Ausdrücklich werden die Ämter des Vorsitzenden, des stellvertretenden Vorsitzenden und des Generalsekretärs61 erst durch den CIC vorgesehen (c. 452). Die juridische Kompetenz der Bischofskonferenz ist keine allgemeine und bewegt sich nicht nur in den Grenzen des übergeordneten Rechts, sondern sie wird konkret umschrieben. Die Bischofskonferenz kann also nur in jenen Angelegenheiten allgemeine Dekrete erlassen, für die sie von Gesetzes wegen oder LKStKR, Bd. I (2000), S. 277–279; ders., Bischofskonferenzen. Solidarität und Autonomie, in: Leitungsstrukturen der katholischen Kirche. Kirchenrechtliche Grundlagen und Reformbedarf, hrsg. von Ilona Riedel-Spangenberger (Quaestiones disputatae, Bd. 198), Freiburg / Basel / Wien 2002, S. 209–228; Winfried Aymans, Art. Bischofskonferenz 1. Allgemein, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 1), Sp. 116–118; Antonio Viana, Art. Conferencia episcopal, in: DGDC, Bd. II, S. 484–490 (Lit.). 57
Vgl. Domenico Mogavero, Art. Asamblea plenaria de la conferencia episcopal, in: DGDC, Bd. I, S. 493–496 (Lit.). 58 Vgl. Mauro Rivella, Art. Comisión permanente de la conferencia episcopal, in: DGDC, Bd. II, S. 242–244 (Lit.). 59 Vgl. Heribert Hallermann, Art. Generalsekretariat der Bischofskonferenz, in: LKStKR, Bd. II (2002), S. 60–62. 60
Vgl. Mauro Rivella, Art. Comisiones en las conferencias episcopales, in: DGDC, Bd. II, S. 244 f. (Lit.). 61
Vgl. Heribert Hallermann, Art. Generalsekretär der Bischofskonferenz, in: LKStKR, Bd. II (2002), S. 58–60.
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aufgrund spezieller Ermächtigung durch den Apostolischen Stuhl explizit zuständig ist; die Rechtskraft dieser Dekrete steht unter dem Vorbehalt der Überprüfung (recognitio) durch den Apostolischen Stuhl (c. 455 §§ 1, 2).62 Die Bischofskonferenz besitzt stets die Stellung einer öffentlichen juristischen Person (cc. 449 § 2, 116). Gegenüber den bisherigen konziliaren und nachkonziliaren kirchlichen Bestimmungen zur Bischofskonferenz regelt der CIC ausdrücklich auch die Frage des Vorsitzes, der stets durch Wahl der Mitglieder zu vergeben ist und nicht etwa kraft statutarischer Regelung dauerhaft mit einem bischöflichen (Metropolitan-)Sitz verbunden werden kann, sowie das Amt des Generalsekretärs. Auch die Mitgliedschaft der Weihbischöfe in der Konferenz wurde durch den CIC definitiv entschieden. Neu ist auch die gesetzliche Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit an die Bischofskonferenz, die ihrer rechtlichen Natur als ständige Einrichtung und dauerhafte hierarchische Instanz gerecht wird. Die Bischofskonferenzen wirken an der Bildung der ordentlichen Generalversammlungen der Bischofssynode durch Wahl von Synodalen mit (c. 346 § 1); dies war schon 1965 durch das päpstliche Spezialgesetz über die Bischofssynode63 vorgesehen worden64. Auch die Teilnahme der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen an den außerordentlichen Generalversammlungen der Bischofssynode (vgl. c. 346 § 2) ist bereits in diesem Gesetz statuiert. 65 Es war
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Zu Fragen der amtlichen Verkündung der allgemeinen Dekrete der Bischofskonferenz vgl. Stephan Haering, Zur Promulgation von Gesetzen der Bischofskonferenz. Anmerkungen zu einem formalen Aspekt bischöflich-kollegialer Gesetzgebung, in: Pax et iustitia. Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walther Kaluza / Hans R. Klecatsky / Heribert Franz Köck / Johannes Paarhammer, Berlin 1990, S. 317–335. 63
Paul VI., MP „Apostolica sollicitudo“ vom 15. September 1965, in: AAS 57 (1965), S. 775–780; abgedruckt: AfkKR 134 (1965), S. 473–477. Zur Bischofssynode vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II (1997), S. 224–232; Carl Gerold Fürst, Die Bischofssynode, in: HdbKathKR2 (1999), S. 353–359; Markus Graulich, Bischofssynode. Kollegialität und Primat, in: Leitungsstrukturen der katholischen Kirche (Anm. 56), S. 50–75; Antonio Viana, Art. Sínodo de obisbos, in: DGDC, Bd. VII, S. 345–350 (Lit.). 64 65
Paul VI., MP „Apostolica sollicitudo“ (Anm. 63), Nr. V 1 b.
Paul VI., MP „Apostolica sollicitudo“ (Anm. 63), Nr. VI 1 b. Vgl. auch die entsprechenden Regelungen in der geltenden Ordnung der Bischofssynode vom 29. September 2006 (AAS 98 [2006], S. 755–779; abgedruckt: AfkKR 175 [2006], S. 507–527), Art. 5; zur erneuten Ordnung der Bischofssynode: Markus Graulich, Die Neufassung des Ordo Synodi Episcoporum, in: AfkKR 176 (2007), S. 154–176.
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also nicht nur eine, aus der Arbeitsweise eines Gremiums wie der Bischofskonferenz sich ergebende, sachliche Notwendigkeit, in den Statuten auch Bestimmungen über einen Vorsitzenden aufzunehmen, sondern der Apostolische Stuhl selbst hatte den Konferenzen mittelbar, nämlich über das Spezialgesetz zur Bischofssynode, die Veranlassung dazu gegeben. Ferner ist der Vorsitzende der Bischofskonferenz vom Apostolischen Nuntius in das Verfahren zur Kandidatenermittlung einzubeziehen, wenn es um die Ernennung eines Diözesanbischofs oder eines Bischofskoadjutors im Gebiet der Konferenz geht (c. 377 § 3 CIC). Auch nach dem Inkrafttreten des CIC blieb die Bischofskonferenz ein Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung. Durch authentische Interpretation per modum legis wurde am 23. Mai 1988 bestimmt, dass der Vorsitz und auch der stellvertretende Vorsitz der Bischofskonferenz durch Diözesanbischöfe wahrgenommen werden müssen und einem Weihbischof nicht übertragen werden können.66 Ein Jahrzehnt später wurde eine sehr wichtige und über längere Zeit hin intensiv diskutierte Frage um die Stellung der Bischofskonferenz gesetzlich geregelt.67 Papst Johannes Paul II. klärte 1998 durch das Motu proprio „Apostolos suos“68 über die theologische und rechtliche Natur der Bischofskonferenzen deren Kompetenz auf dem lehramtlichen Sektor und schloss damit eine Lücke, die weder beim Zweiten Vatikanischen Konzil noch anlässlich der Revision des CIC genügend klar in den Blick genommen worden war. Demnach kann die Bischofskonferenz als bischöflich-hierarchische Instanz unter festgesetzten Bedingungen auch als Trägerin des authentischen kirchlichen Lehramts tätig werden. Die Kongregation für die Bischöfe erließ in der Folge, auch namens der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, durch ein Rundschreiben an 66 AAS 81 (1989), S. 388; abgedruckt: AfkKR 157 (1988), S. 469; lat. und dt.: Franz Kalde, Authentische Interpretationen zum Codex Iuris Canonici I (1984–1994) (Subsidia ad ius canonicum vigens applicandum, Bd. 1), 2. Aufl., Metten 1996, S. 24 f., 61 (Lit.). 67 Zu dieser Diskussion vgl. exemplarisch den Bericht von Ilona Riedel-Spangenberger, Zwischen Kollegialität und Zentralismus. Bedeutende Stimmen zum römischen Schreiben über den theologischen und juridischen Standort der Bischofskonferenzen, in: AfkKR 158 (1989), S. 457–475. 68 Johannes Paul II., MP „Apostolos suos“ vom 21. Mai 1998, in: AAS 90 (1998), S. 641–658; dt.: AfkKR 167 (1998), S. 158–173. Vgl. dazu Heribert Schmitz, Neue Normen für die Bischofskonferenzen. Kanonistische Anmerkungen zum Motu Proprio „Apostolos suos“ vom 21. Mai 1998 und zum Schreiben der Kongregation für die Bischöfe vom 13. Mai bzw. 21. Juni 1999, in: AfkKR 169 (2000), S. 20–34; ferner auch Winfried Aymans, Geistlose Bischofskonferenz? Kritik an einem Beitrag von Ladislaus Örsy über „Die Bischofskonferenzen und die Macht des Geistes“, in: AfkKR 169 (2000), S. 3–19.
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die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen Ausführungsbestimmungen zu „Apostolos suos“ und einige weitere Anordnungen.69 In dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben über das bischöfliche Amt „Pastores Gregis“, das Papst Johannes Paul II. 2003 veröffentlichte, wird zwar auch die Funktion der Bischofskonferenz behandelt.70 Sachlich neue Regelungen zur Bischofskonferenz werden aber weder dort noch in dem im folgenden Jahr publizierten Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum successores“ der Kongregation für die Bischöfe getroffen.71 c) Statutenrecht der Deutschen Bischofskonferenz Die Deutsche Bischofskonferenz als Nachfolgerin der bisherigen Fuldaer Konferenz wurde 1966 konstituiert.72 Man ging rasch an die Erarbeitung des Statuts und den Aufbau der Organisation.73 Der neben der Bischofskonferenz im Jahr 1968 begründete „Verband der Diözesen Deutschlands“ tritt staatlich als Körperschaft des öffentlichen Rechts auf und dient der Konferenz als Instrument zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Bereich des weltlichen Rechts und der Finanzen; er verwaltet auch den überdiözesanen Haushalt.74
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Lucas Kardinal Moreira Neves, Brief vom 13. Mai bzw. 21. Juni 1999, in: AAS 91 (1999), S. 996–999; dt.: OssRom (dt.) 29 (1999), Nr. 28 vom 9. Juli 1999, S. 9. 70 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Pastores Gregis“ vom 16. Okt. 2003, in: AAS 96 (2004), S. 825–924; dt.: VApSt, Bd. 163, Bonn 2003, bes. Nr. 63. 71 Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum successores“ vom 22. Febr. 2004 (VApSt, Bd. 173), Bonn 2006; in verschiedenen Sprachen auf der Internetseite der Kongregation publiziert: http://www.vatican.va/roman _curia/congregations/cbishops/documents/ (abgerufen: 11. Februar 2008), bes. Nr. 28–32. 72 Vgl. Walter Rasquin, Die Deutsche Bischofskonferenz. Ihre Geschichte, ihre Grundlage im CIC/1983 und ihre gegenwärtige Struktur, Diss. jur. Köln 1989; Heribert Hallermann, Art. Deutsche Bischofskonferenz, in: LKStKR, Bd. I (2000), S. 408–410; Heribert Schmitz, Art. Deutsche Bischofskonferenz, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 1), Sp. 118–122. 73
Vgl. dazu Georg May, Die Deutsche Bischofskonferenz nach ihrer Neuordnung, in: AfkKR 138 (1969), S. 405–461. 74 Vgl. Stefan Kräßig, Der Verband der Diözesen Deutschlands (Reihe Rechtswissenschaft, Bd. 175), Pfaffenweiler 1995; Leopold Turowski, Art. Verband der Diözesen Deutschlands (VDD), in: LKStKR, Bd. III (2004), S. 746–749.
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In dem Statut der Deutschen Bischofskonferenz75, das im Lauf der Jahrzehnte mehrfach novelliert worden ist, ohne dabei die wesentliche Struktur der Konferenz zu verändern, sind als Organe der Konferenz vorgesehen die Vollversammlung, der Ständige Rat, der Vorsitzende 76 und die Bischöflichen Kommissionen (Art. 3). Die Weihbischöfe sind nicht nur beratende Mitglieder der Konferenz, sondern besitzen, mit Ausnahme der Beschlussfassung über Änderungen des Statuts, volles Stimmrecht (Art. 5). In außerordentlichen Fällen kann die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz auch auf schriftlichem Wege eine Entscheidung treffen (Art. 15). Mitglieder des Ständigen Rats sind alle Diözesanbischöfe und die Diözesanadministratoren (Art. 19 Abs. 1). Mit dieser Regelung wird erreicht, dass jedes Bistum in dem Organ vertreten ist, allerdings mit dem Nachteil, dass ein relativ großes Gremium mit gegenwärtig jeweils 27 stimmberechtigten Sitzungsteilnehmern entsteht. Der Vorsitzende der Konferenz, der dieses Amt nunmehr höchstens zwei (aufeinander folgende) Amtsperioden von je sechs Jahren ausüben kann, leitet die Sitzungen der Vollversammlung und des Ständigen Rates und vertritt die Konferenz nach außen (Art. 29 Abs. 1). Der Sekretär (und das Sekretariat) der Bischofskonferenz sind dem Vorsitzenden zugeordnet und unterstützen ihn (Art. 38 Abs. 1). Die von der Vollversammlung gebildeten Bischöflichen Kommissionen bestehen aus Mitgliedern der Bischofskonferenz und nichtbischöflichen Beratern. Sie bearbeiten Teilbereiche der Aufgaben der Bischofskonferenz, stehen in ihrer Tätigkeit aber ganz in Abhängigkeit von der Vollversammlung und dem Ständigen Rat (Art. 30–35). Anlässlich der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands wurden die Bischöfe der bis dahin auf dem Gebiet der DDR gelegenen kirchlichen Jurisdiktionsbezirke, die in der Berliner Bischofskonferenz zusammengeschlossen wa-
75
Alle folgenden Verweisungen auf Artikel des Statuts beziehen sich auf dessen derzeit geltende Fassung vom 15. März 2011, veröffentlicht auf der Internetseite der Deutschen Bischofskonferenz: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/ Statut_2011-04-15.pdf (abgerufen: 11. Dezember 2013). 76 Der Vorsitzende wird erst seit Geltung des Statuts vom 23. Oktober 1976 (abgedruckt: AfkKR 145 [1976] S. 543–552) unter den Organen der Konferenz genannt; zur Stellung des Vorsitzenden gemäß dem ersten Statut aus dem Jahr 1966 siehe May, Die Deutsche Bischofskonferenz nach ihrer Neuordnung (Anm. 73), S. 450.
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ren, Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz. 77 Die Eingliederung der mittel- und ostdeutschen Oberhirten hatte aber keine Änderungen in der Struktur der Konferenz zur Folge. IV. Würdigung des Gutachtens Mörsdorfs 1. Allgemeine Bemerkungen Das kurze Gutachten zur Frage der Bischofskonferenzen, das Klaus Mörsdorf vor rund einem halben Jahrhundert Kardinal Julius Döpfner vorgelegt hat, wirft ein Schlaglicht auf eine zur Konzilszeit sehr bedeutsame Diskussion, aus der sich in der Folge wichtige Weichenstellungen für künftige Entwicklungen in der Kirche ergeben haben. Es sagt bei näherem Zusehen zugleich auch viel über den Kanonisten Klaus Mörsdorf aus, nämlich über sein Verständnis der Behandlung kirchenrechtlicher Fragen von einer soliden theologischen Basis her und über sein kluges Urteilsvermögen. Bezeichnend für Klaus Mörsdorf ist es, dass er nicht einfach pragmatisch oder juridisch-positivistisch an seinen Gegenstand herantritt, sondern sein Augenmerk vor allem auf die Erschließung des theologischen Hintergrundes seiner Thematik richtet. Diese Eigenart wurde schon vielfach in kompetenten Würdigungen des Münchener Kanonisten hervorgehoben. 78 Sie wird auch hier deutlich erkennbar. In wenigen Sätzen zeichnet er die Bedeutung des bischöflich-synodalen Elementes der Kirchenverfassung, das in der über die eigene Teilkirche hinausreichenden Verantwortung des einzelnen Bischofs für das Wohl der gesamten Kirche wurzelt. Diese kollegiale bischöfliche Verantwortung kann nicht nur universal, sondern auch in regionaler Begrenzung zur Geltung kommen. Dabei legt Mörsdorf auch die historischen Ursachen für die eingetretene Verkümmerung des partikularen Synodalwesens in der Kirche dar und weist die innere Legitimität einer Wiederbelebung in der neuen Gestalt der Bischofskonferenzen auf. Er geht sogar soweit, auch für jene faktisch existierenden Bischofskonferenzen, die noch keine Basis in einer positiven Regelung durch den Apostolischen Stuhl besitzen, wenigstens teilweise eine in der legitimen Gewohnheit wurzelnde Rechtsqualität zu postulieren. Davon ausgehend 77 Vgl. Heribert Schmitz, Die Einheit der katholischen Kirche in Deutschland. Chronik kirchenrechtlich relevanter Daten, Fakten und Tendenzen, in: AfkKR 159 (1990), S. 623–634, hier 628–634; Philipp Förter, Das Ende der Berliner Bischofskonferenz, in: Theologie der Gegenwart 52 (2009), S. 116–122. 78
Vgl. exemplarisch: Arturo Cattaneo, Klaus Mörsdorfs Beitrag zur Revision des CIC, in: AfkKR 178 (2009), S. 17–51; siehe auch die in Anm. 1 genannten Titel.
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und auf der Grundlage der positiven Erfahrungen mit den bestehenden Konferenzen befürwortet er die Einrichtung der Bischofskonferenz als hierarchische Instanz durch das Zweite Vatikanische Konzil. Bei gesetzgeberischen Maßnahmen der Konferenz ist, der geltenden Regelung für andere partikulare bischöflich-synodale Organe entsprechend, der Apostolische Stuhl obligatorisch einzubeziehen. Bezüglich der Einzelregelungen zeigt sich Mörsdorf eher zurückhaltend und orientiert an der bisherigen Praxis der deutschen Bischofskonferenzen, was etwa den Teilnehmerkreis (Diözesanbischöfe), den Vorsitz (durch einen Metropoliten) und die Schaffung von ständigen Referaten angeht. Er mahnt dazu, den einzelnen Konferenzen genügend Spielraum zu lassen, damit sie ihren konkreten regionalen Gegebenheiten, Bedürfnissen und Möglichkeiten möglichst gut entsprechen können. Dies ist eine kluge Empfehlung. Im Übrigen beschränkt er sich darauf, eine Verpflichtung der Mitglieder zur Teilnahme, einen wenigstens jährlichen Tagungsrhythmus, die Zuweisung der Rolle eines Sprechers des Episkopats an den Vorsitzenden auch außerhalb der Tagungen und die Unterstützung des Vorsitzenden durch einen Bischofsausschuss anzuregen. 2. Vergleich der Vorschläge Mörsdorfs mit den nachfolgenden rechtlichen Bestimmungen Vergleicht man die einzelnen Vorschläge Klaus Mörsdorfs mit den Bestimmungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und mit der heutigen gesetzlichen Ordnung der Bischofskonferenz, dann sind unterschiedliche Beobachtungen festzuhalten. In wesentlichen Punkten treffen Mörsdorfs Vorschläge die Regelung des Konzilsdekrets „Christus Dominus“ und der daran anschließenden kirchlichen Gesetzgebung, teilweise erweisen sie sich freilich auch noch geprägt von der bisherigen Praxis der deutschen Konferenzen. Die entscheidende Forderung Klaus Mörsdorfs, die Bischofskonferenz zu einer hierarchischen Instanz zu erheben und sie damit – neben den älteren Partikularkonzilien – als Bestandteil der Kirchenverfassung im strengen Sinn zu etablieren, wurde vom Konzil umgesetzt; dies war in den vorbereitenden Entwürfen der Synode noch nicht vorgesehen gewesen. Nicht alle kirchenrechtlichen Experten waren mit dieser Entwicklung einverstanden. Der Mainzer Kanonist Georg May (geb. 1926) etwa, ein Starschüler Mörsdorfs 79, urteilt wenige Jahre später, zweifellos unter dem Eindruck eines forcierten Ausbaus des institutionellen Apparats der Deutschen Bischofskonferenz, der Abgabe der so genann79 Mörsdorf selbst hat die Bezeichnung „Starschüler“ für den gelehrten Mainzer Kanonisten May geprägt; siehe Anna Egler, Dienst an Glaube und Recht. Laudatio für Universitätsprofessor Dr. Georg May, in: AfkKR 175 (2006), S. 500–506, hier 502.
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ten „Königsteiner Erklärung“ zur Enzyklika „Humanae vitae“ durch die Konferenz im Jahr 196880 und einer gewissen aufkommenden Tendenz, die Verantwortung und die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Diözesanbischöfe zugunsten der Bischofskonferenz zu vermindern: „Für die Errichtung einer ständigen hierarchischen Instanz auf Landesebene zwischen dem Einzelbischof und dem Papst bestand kein Bedürfnis.“81 An der Förderung eines ausgedehnten Apparats der Bischofskonferenz war freilich auch Klaus Mörsdorf nicht gelegen. Die Anregungen in seinem Gutachten von 1962 erwähnen die Schaffung eines Sekretariats nicht. Andererseits war die Notwendigkeit unabweisbar, eine zumindest elementare organisatorische und fachliche Unterstützung für die Tätigkeit der Bischofskonferenz zur Verfügung zu stellen. Kardinal Josef Frings als Vorsitzender der Fuldaer Konferenz etwa hatte sie durch Mitarbeiter seines Kölner Ordinariats erhalten. Eine Trennung des Sekretariats der Bischofskonferenz von der Bischöflichen Kurie des jeweiligen Vorsitzenden war freilich spätestens in dem Augenblick angebracht, als die Bischofskonferenz eine eigene hierarchische Instanz wurde, und auch im Hinblick auf die Möglichkeit angemessen, dass der Vorsitz der Konferenz nicht mit einem bestimmten Bischofssitz verbunden ist. Das Dekret „Christus Dominus“ jedenfalls regt die Einrichtung eines Sekretariats zumindest an (CD Art. 38 Ziff. 3), während das revidierte kirchliche Gesetzbuch zwei Jahrzehnte später diese ebenso vorschreibt wie die Bestimmung des Vorsitzenden durch Wahl der Vollversammlung (cc. 451, 452 § 1 CIC). Über die einzelnen Aufgaben des Sekretärs und die personelle Ausstattung des Sekretariats ist in einem zweiten Schritt zu entscheiden. Eine Gefahr der ungebührlichen Aufblähung des Sekretariats der Bischofskonferenz, wie nicht nur Georg May sie sieht 82, muss man jedenfalls gewärtigen und kann sie nicht von vornherein für ausgeschlossen halten. Auch Papst Johannes Paul II. hat 1998 davor gewarnt, den bürokratischen Apparat der Konferenz unangemessen auszuweiten.83 Was den Vorsitzenden der Bischofskonferenz angeht, empfiehlt Klaus Mörsdorf eine Erweiterung der Funktion über die Moderation der Tagungen hinaus. Der Vorsitzende soll auch außerhalb der Tagungen offizieller „Sprecher“ der 80
Vgl. Bernhard Häring, Art. Königsteiner Erklärung, in: LThK 3, Bd. 6 (1997), Sp. 261 f. 81 May, Die Deutsche Bischofskonferenz nach ihrer Neuordnung (Anm. 73), S. 456. 82
Siehe May, Die Deutsche Bischofskonferenz nach ihrer Neuordnung (Anm. 73), S. 456 f. 83
Siehe Johannes Paul II., MP „Apostolos suos“ (Anm. 68), Nr. 18; auch ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Pastores Gregis“ (Anm. 70), Nr. 63.
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Konferenz sein; Entscheidungsbefugnisse soll er aber nur im Zusammenwirken mit einem Ausschuss von Bischöfen ausüben können. Eine Sprecherfunktion hatten die Vorsitzenden der deutschen Konferenzen faktisch schon bisher wahrgenommen, allerdings ohne formelle rechtliche Beauftragung. Mörsdorf denkt nun offensichtlich daran, den Vorsitzenden ausdrücklich zu einem Organ der Bischofskonferenz zu machen, wie es vom Konzilsdekret „Christus Dominus“ noch vermieden, durch den CIC aber anerkannt worden ist (c. 452). Die Deutsche Bischofskonferenz rechnet den Vorsitzenden seit 1976 offiziell zu ihren Organen.84 Keineswegs aber sieht Mörsdorf im Vorsitzenden der Konferenz eine Art „Oberbischof“ mit Kompetenzen, die über die Konferenzleitung hinausreichen und die Leitung der einzelnen Bistümer irgendwie berühren. Bezüglich der Vergabe des Vorsitzes der Konferenz folgt Klaus Mörsdorf seinem allgemeinen Postulat, den Bischöfen ausreichenden Spielraum für die Gestaltung der Konferenztätigkeit zu lassen. Eine gewisse Präferenz hegt er für die bisherige deutsche Praxis, einem Metropoliten den Vorsitz zu übertragen, sei es dauerhaft in Verbindung mit einem bestimmten Metropolitansitz, sei es im Wechsel der an der Konferenz beteiligten Metropoliten. Er schließt aber auch die Wahl des Vorsitzenden durch die Konferenz nicht aus. Eine eventuelle Begrenzung der Amtszeit des Vorsitzenden kommt bei ihm nicht in den Blick. Der CIC schreibt nun vor, dass der Vorsitzende ausschließlich durch Wahl bestimmt wird (c. 452 § 1). Außerhalb des CIC wurde verfügt, dass nur ein Diözesanbischof zum Vorsitzenden gewählt werden kann 85, was angesichts seiner Vorstellungen von der Zusammensetzung der Bischofskonferenz zweifellos auch Mörsdorf so beurteilt hätte. Als Mitglieder der Bischofskonferenz sieht Klaus Mörsdorf nur die regierenden Bischöfe des Konferenzgebietes, also die Diözesanbischöfe und die rechtlich Gleichgestellten sowie gegebenenfalls die Koadjutoren. Die Weihbischöfe gehören nach seiner Konzeption nicht zur Bischofskonferenz. 86 In der Tat würde es für die Erfüllung der Hauptaufgabe der Bischofskonferenz, das pastorale Handeln in einem Land bistumsübergreifend zu koordinieren und zu fördern, genügen oder die Erfüllung dieser Aufgabe möglicherweise sogar begünstigen, wenn nur die hierarchischen Vorsteher der einzelnen Teilkirchen die Bischofs84
Siehe oben Anm. 76.
85
Siehe oben Anm. 66.
86
Vgl. dazu auch Klaus Mörsdorf, Die Rolle des Ortsbischofs in dem Zuordnungsverhältnis von Gesamtkirche und Teilkirche, in: Ortskirche – Weltkirche. Festgabe für Julius Kardinal Döpfner, hrsg. von Heinz Fleckenstein / Gerhard Gruber / Georg Schwaiger / Ernst Tewes, Würzburg 1973, S. 439–458, hier 450–458; wieder abgedruckt: ders., Schriften zum Kanonischen Recht (Anm. 9), S. 302–321, hier 313–321.
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konferenz bildeten. Das Konzilsdekret „Christus Dominus“ und in der Folge der CIC haben indes auch die Mitgliedschaft der Weihbischöfe in der Bischofskonferenz verfügt, wenngleich in einer rechtlich von den regierenden Bischöfen etwas abgesetzten Position.87 Klaus Mörsdorf hatte angeregt, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz einen Ausschuss von Bischöfen beizugeben, der vor allem dann tätig werden soll, wenn eilige Entscheidungen zu treffen sind. Dieses Postulat kann man in der Bestimmung des Dekrets „Christus Dominus“ und des CIC verwirklicht sehen, ein „consilium permanens Episcoporum“ als Organ der Bischofskonferenz einzurichten. Im Statutenrecht der Deutschen Bischofskonferenz ist der Ständige Rat freilich nicht als kleines und rasch handlungsfähiges Gremium zur Unterstützung (und Kontrolle) des Vorsitzenden ausgestaltet (vgl. c. 457 CIC), sondern gewissermaßen als „Kern-Bischofskonferenz“, gebildet aus den hierarchischen Vorstehern aller Bistümer des Landes. Insoweit entspricht der deutsche Ständige Rat viel eher den Vorstellungen Mörsdorfs von der Bischofskonferenz als die deutsche Vollversammlung. Die hohe Mitgliederzahl dieses Ständigen Rates erschwert dessen rasche Einberufung und kurzfristige Handlungsfähigkeit. Das Gutachten von Klaus Mörsdorf empfiehlt die Einrichtung ständiger Referate der Bischofskonferenz. Dabei hatte der Verfasser wohl die bisherige Praxis der Fuldaer Konferenz vor Augen, einzelne Bischöfe zu Referenten für bestimmte Fachgebiete zu bestellen. Der Wortlaut des Gutachtens lässt es aber durchaus offen, diese Referate auch kollegial zu besetzen oder durch eigene Kommissionen betreuen zu lassen. Das Konzilsdekret „Christus Dominus“ und c. 451 CIC sprechen von Bischöflichen Kommissionen, die durch die Statuten der Bischofskonferenzen bei entsprechender Veranlassung eingerichtet werden können. Tatsächlich nehmen die beispielsweise durch das Statut der Deutschen Bischofskonferenz ausdrücklich als Organe der Konferenz geschaffenen und aus Mitgliedern der Konferenz gebildeten Bischöflichen Kommissionen die Funktion ständiger Referate wahr. Klaus Mörsdorf schlägt für die Bischofskonferenz mindestens eine ordentliche Tagung im Jahr vor; daneben können nach Bedarf auch weitere Zusammenkünfte einberufen werden. Diese Anregung ist in c. 453 CIC genau so gesetzlich verwirklicht worden. Dass Mörsdorf für die ordentliche jährliche Zusammenkunft einen dauerhaft feststehenden Tagungsort empfiehlt, entspricht der damals herrschenden deutschen Praxis, ist aber im Grunde ein sekundärer 87
Die ergänzenden Ausführungsbestimmungen von 1999 (Anm. 69) zum MP „Apostolos suos“ haben dies noch einmal besonders unterstrichen.
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Gesichtspunkt. Er wird im allgemeinen Recht und auch in den Statuten der Deutschen Bischofskonferenz nicht aufgegriffen, wenngleich diese Konferenz in der Praxis daran festhält, ihre Herbstvollversammlung stets in Fulda durchzuführen. In knapper Formulierung kommt Mörsdorfs Gutachten auf das Erfordernis einer Rückbindung der Bischofskonferenz an den Apostolischen Stuhl zu sprechen: „Über jede Bischofskonferenz ist dem Heiligen Stuhl zu berichten. Gesetzgeberische Maßnahmen einer Bischofskonferenz bedürfen der päpstlichen Bestätigung.“88 Die das Leben der Kirche fördernde und die pastorale Aktivität in einem Land koordinierende Funktion der Bischofskonferenz kann sich nicht isoliert vollziehen und deshalb bedarf es einer regelmäßigen Berichterstattung gegenüber dem Apostolischen Stuhl. Dieser muss insbesondere auch in die Gesetzgebungstätigkeit der Bischofskonferenz einbezogen werden, weil die Jurisdiktion der Konferenz von diesem hergeleitet ist. Diese Art der Rückbindung der Bischofskonferenz an den Apostolischen Stuhl wurde in der Folge durch das Dekret „Christus Dominus“ (Art. 38 Ziff. 4) beziehungsweise durch c. 456 CIC verfügt. Klaus Mörsdorf hat 1962 gegenüber Kardinal Döpfner auch einige Anregungen vorgetragen, die sich nicht in der geltenden Ordnung der Bischofskonferenz widerspiegeln; dazu zählt etwa, wie bereits erwähnt, die Bestimmung eines festen Tagungsortes für die ordentliche Vollversammlung. Ferner hat er manche Aspekte nicht angesprochen, die heute von der Gesetzgebung zur Bischofskonferenz geregelt werden, wie etwa die auch schon behandelte Einrichtung eines Generalsekretariats. Der Vorschlag Klaus Mörsdorfs, das Gebiet einer Bischofskonferenz als „regio“ (Kirchenregion) zu bezeichnen, ist im geltenden Recht nicht aufgegriffen. Vielmehr wird gemäß dem CIC ein besonderer Zusammenschluss mehrerer Kirchenprovinzen „Kirchenregion“ genannt (c. 433). Für das Gebiet einer Bischofskonferenz fehlt eine eigene kanonische Bezeichnung; doch seitens der kanonistischen Doktrin wurde die Anregung gegeben, hier von einem „Plenarverband“ zu sprechen.89 Die lehramtliche Stellung der Bischofskonferenz wird durch Klaus Mörsdorf in seinem Gutachten von 1962 nicht näher erörtert, doch spricht er immerhin von gemeinsamen Hirtenschreiben der Bischöfe der Konferenz. Formal sind 88 Siehe unten: V. Anhang: Edition des Gutachtens: IV. Anregungen zur rechtlichen Ausformung der Bischofskonferenz, 1. (Zitat am Ende). 89
Siehe Aymans / Mörsdorf, KanR II (1997), S. 273 f.
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solche Hirtenworte freilich von der Lehrautorität der einzelnen Diözesanbischöfe getragen. In Mörsdorfs Forderung, die Bischofskonferenz als eigene (bischöflich-)hierarchische Instanz zu etablieren, ist implizit jedoch auch eine grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Lehrautorität der Bischofskonferenz enthalten. Dieser Aspekt der Vollmacht der Bischofskonferenz wurde indes weder vom Konzil noch vom CIC, sondern erst 1998 durch Papst Johannes Paul II. dahingehend geklärt, dass der Bischofskonferenz als solcher Lehrkompetenz zukomme.90 Die Frage der Verleihung der Rechtspersönlichkeit an die Bischofskonferenz kommt in Mörsdorfs Gutachten nicht zur Sprache, obwohl der Apostolische Stuhl bereits 1958 die Lateinamerikanische Bischofskonferenz, die Mörsdorf in seinem Gutachten erwähnt, als juristische Person errichtet hatte. 91 Diese Frage allgemein zu berücksichtigen, schien allerdings auch beim Zweiten Vatikanischen Konzil nicht dringlich, denn auch das Dekret „Christus Dominus“ geht nicht darauf ein. Erst durch c. 449 § 2 CIC wurde später bestimmt, dass jede vom Apostolischen Stuhl errichtete Bischofskonferenz ohne weiteres eine juristische Person ist. 3. Zusammenfassung und Ausblick Klaus Mörsdorf hat in seinem hier untersuchten Gutachten für Kardinal Julius Döpfner zur Frage der Bischofskonferenzen im Jahr 1962 ein klares Plädoyer für die allgemeine Einführung der (nationalen) Bischofskonferenz als rechtlich konstituierte Institution und hierarchische Zwischeninstanz in der Kirche zwischen dem Apostolischen Stuhl und den einzelnen Teilkirchen abgegeben. Er sah in diesen Konferenzen ein wichtiges Instrument zur Koordinierung des pastoralen Handelns der Bischöfe in einem größeren Gebiet mit einheitlichen Gegebenheiten und damit zur Förderung des kirchlichen Wirkens. In seinen knapp gehaltenen Anregungen für eine künftige rechtliche Gestaltung der Bischofskonferenz hat er bereits vieles von dem vorweggenommen, was später gesetzliche Realität geworden ist. Über den unmittelbaren Anstoß zur Abfassung des Papiers ist aus den relevanten Münchener Akten nichts zu entnehmen. Man gerät in den Bereich der Spekulation, wenn man in dem Gutachten Mörsdorfs ein Instrument sehen wollte, das Kardinal Julius Döpfner sich von seinem Berater aus einem kirchenpolitischen Interesse heraus hat schaffen lassen. Gewiss konnte das Gutachten 90
Johannes Paul II., MP „Apostolos suos“ (Anm. 68).
91
Siehe oben, II. Bischofskonferenzen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil.
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Döpfner bei der Zurückdrängung der von Kardinal Josef Frings vertretenen Auffassung, die Bischofskonferenzen weder mit einer juridischen noch einer moralischen Autorität gegenüber den einzelnen Bischöfen auszustatten, nützlich sein, indem er es bei anderen (deutschsprachigen) Bischöfen verbreitete. 92 Die Konzeption des Textes hätte eine solche Verbreitung jedenfalls leicht möglich gemacht. Diese Feststellung bedeutet aber genauso wenig einen sicheren Hinweis auf solche Intentionen oder einen solchen Gebrauch wie die Tatsache, dass der unmittelbare Anlass für das Entstehen des Gutachtens aus den Korrespondenzakten nicht nachvollzogen werden kann. Denn aus dem Fehlen von Dokumenten kann man weder deren vorsätzliche Aussonderung aus den Akten noch die Existenz eines ganz bestimmten, mit dem Gutachten verbundenen Planes ableiten. So war das Gutachten in diesem Beitrag vor allem aus seiner eigenen inhaltlichen Qualität heraus und aus dem Vergleich mit den späteren rechtlichen Bestimmungen zu bewerten, ihm aber keine spezielle kirchenpolitische Bedeutung beizulegen. Rund ein halbes Jahrhundert nach Mörsdorfs Gutachten von 1962 und der allgemeinen Einrichtung der Bischofskonferenzen durch das Zweite Vatikanische Konzil gilt die damals getroffene Feststellung Mörsdorfs noch in erheblich verstärktem Maße: „Die Bischofskonferenzen sind aus dem Bild der Kirche unserer Tage nicht mehr wegzudenken.“93 Die Bischofskonferenzen sind heute längst allgemein vertraut gewordene Institutionen des kirchlichen Lebens, die ihre zahlreichen Aufgaben nach innen und nach außen durchaus erfolgreich wahrnehmen. Verschiedene Äußerungen von Papst Franziskus geben Anlass zu der Vermutung, dass den Bischofskonferenzen in dem beständig fortzuführenden Prozess der Erneuerung der Kirche – Ecclesia semper reformanda – vom Heiligen Vater eine wichtige Rolle zugedacht werden könnte, etwa im Bereich der Zusammenarbeit zwischen der Römischen Kurie und den Teilkirchen. Welche konkreten Schritte ins Auge gefasst sein könnten, ist noch nicht zu erkennen. Bei einer vielfach diskutierten und geforderten Dezentralisierung der Aufgaben in der Kirche wird jedenfalls auch darauf zu achten sein, dass nicht ein neuer „Zentra92 Siehe die Erörterungen oben, III. Die Stellungnahme Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen aus dem Jahre 1962, 1. Beobachtungen und Hinweise zu dem Gutachten, a und b. 93 Siehe unten, V. Anhang: Edition des Gutachtens: III. Neubelebung des synodalen Elementes (Zitat am Beginn). So Mörsdorf auch schon im Jahr 1960 wörtlich in dem umfangreichen Gutachten zu der Reform des CIC und den diesbezüglichen Aufgaben des künftigen Konzils; siehe Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9), S. 804.
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lismus der Bischofskonferenzen“94 entsteht und die Gefahr einer Begünstigung nationalkirchlicher Tendenzen vermieden wird. V. Anhang: Edition des Gutachtens Vorbemerkungen und Hinweise 1. Das Gutachten Klaus Mörsdorfs zur Frage der Bischofskonferenzen ist im Erzbischöflichen Archiv München, Kardinal-Döpfner-Archiv unter der Signatur „Konzilsakten Nr. 3594“ überliefert. Es handelt sich um einen maschinenschriftlich erstellten Text im Umfang von sieben paginierten, einseitig und eineinhalbzeilig beschriebenen Blättern im Format DIN A4. Er ist am Ende vom Verfasser nur mit seinem Nachnamen handschriftlich unterzeichnet. Für die Bereitstellung des Gutachtens und manche weitere Unterstützung gebührt Herrn Guido Treffler M. A. vom Erzbischöflichen Archiv München der herzliche Dank des Verfassers. 2. Der Text trägt auf dem ersten Blatt oben die ursprüngliche Registratursignatur „Akt 1 Conc VI SF Nr. 1“ sowie zwei handschriftliche Vermerke von Dr. Gerhard Gruber95 (geb. 1928), der damals Sekretär von Kardinal Julius Döpfner war und später lange als Generalvikar und Domdekan in München wirkte. Diese Vermerke lauten: „(Gutach ten von Prof. Mörsdorf)“ und „übersandt mit Brief vom 29. 11. 62.“ Außerdem zeigt der gesamte Text zahlreiche Unterstreichungen in roter Farbe, die offensichtlich Kardinal Döpfner angebracht hat. Die genannte Signatur, die beiden Vermerke Grubers und die Unterstreichungen Döpfners werden im untenstehenden Abdruck des Gutachtens nicht berücksichtigt. Die Edition gibt ausschließlich den von Mörsdorf verfassten Text wieder. Die Identifizierung der Urheber der Vermerke und der Unterstreichungen erfolgte durch Herrn Dipl.-Theol. Stephan Mokry, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem das Gutachten am 6. Mai 2013 vom Verfasser dieses Beitrags vorgelegt wurde. Herrn Mokry, der sich in seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit intensiv mit dem Akten- und Büchernachlass Kardinal Döpfners befasst hat, sei herzlich für seine sachkundige Unterstützung gedankt.
94 95
May, Die Deutsche Bischofskonferenz nach ihrer Neuordnung (Anm. 73), S. 460.
Vgl. Anton Landersdorfer, Art. Gruber, Gerhard, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001 (Anm. 4), S. 403 f.
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3. Seitenwechsel im Originaltext werden im Abdruck des Gutachtens durch die Einfügung der Seitenangaben kenntlich gemacht; diese sind in eckige Klammern gesetzt und erscheinen im Kursivdruck. 4. Das Gutachten umfasst insgesamt sechs Fußnoten, die jeweils Fundorte von Dokumenten nachweisen, die von Mörsdorf im laufenden Text erwähnt werden. Die Fußnoten sind seitenweise gezählt; fünf Fußnoten finden sich im Original auf Seite 2 (dort: Fußnoten 1 bis 5), eine weitere auf Seite 3 (dort: Fußnote 1). Die Zählung der Fußnoten des Gutachtens im vorliegenden Abdruck schließt der Einfachheit halber an die fortlaufende Fußnotenzählung dieses Beitrags an (hier: Fußnoten 101 bis 106). 5. Hervorhebungen von Überschriften und dergleichen, die im Original durch Unterstreichung erfolgt sind, werden in der Edition durch Kursive kenntlich gemacht. 6. Manche Textpassagen des vorliegenden Gutachtens hat Mörsdorf wörtlich aus seinen umfangreichen „Erwägungen zur Anpassung des Codex Iuris Canonici“ vom 17. März 1960 übernommen.96 Es sind in Abschnitt II: „Das Ansehen, das sich … in Staat und Gesellschaft gehört wird“97 und „In Deutschland haben sich die Fuldaer Bischofskonferenz … für die in den Konferenzen vertretenen Bistümer geleistet“ 98; in Abschnitt III: „Die Bischofskonferenzen sind … nicht mehr wegzudenken“ 99; und in Abschnitt IV: der Schlusssatz „In Analogie zu der ständigen Synode … eilige Entscheidungen treffen könnte“100. Zur Frage der Bischofskonferenzen I. Regelung im CIC. Im Anschluß an die Vorschriften über die Abhaltung von Plenar- und Provinzialkonzilien handelt der CIC in c. 292 von der Bischofskonferenz. Hiernach sollen, soweit der Heilige Stuhl für bestimmte Gebiete nichts anderes angeordnet hat, der Metropolit bzw. der älteste Suffraganbischof Sorge dafür tragen, daß die Ortsoberhirten einer Kirchenprovinz wenigstens alle fünf Jahre zu Beratungen zusammenkommen und hierbei auch die Verhandlungsgegenstände des künftigen Provinzialkonzils vorbereiten. Die Zusammenkunft kann bei dem Metropoliten oder bei einem Suffraganbischof stattfinden. Erzbischöfe und Bischöfe, die sich gemäß c. 285 einem Metropoliten angeschlossen haben, 96
Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9).
97
Siehe Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9), S. 804.
98
Siehe Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9), S. 803 f.
99
Siehe Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9), S. 804.
100
Siehe Mörsdorf, Erwägungen (Anm. 9), S. 804.
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sind einzuladen und zur Teilnahme verpflichtet. Die versammelten Oberhirten sollen den nächsten Ort ihrer Tagung bestimmen. Für die Ebene der Kirchenprovinz geben diese Normen bei allem Spielraum, den sie bewußt lassen, der Bischofskonferenz schon eine gewisse rechtliche Gestalt, insbesondere dadurch, daß die Bischöfe zur Teilnahme verpflichtet werden. Im Unterschied zu einem Plenar- oder Provinzialkonzil hat die Bischofskonferenz (conventus Episcoporum provinciae) keine hoheitlichen Befugnisse; sie ist insbesondere kein Organ der teilkirchlichen Gesetzgebung. Sie kann nur beraten und – abgesehen von dem Recht, Gebühren festzusetzen (cc. 1507 §1 1909 §1) – nichts im rechtlichen Sinne beschließen oder anordnen. Die Aufsicht über die Bischofskonferenzen führt im Bereich der ordentlichen Kirchenverfassung die SC Conc. (c. 250 §4), sonst die SC Prop. bzw. SC Orient. [Seite 2] II. Weitere Entfaltung. Die Entwicklung der Bischofskonferenzen war indessen längst darüber hinweggeschritten. An die Stelle der Kirchenprovinz ist die Ebene eines Landes oder Landesteils getreten, und das Ansehen, das sich die Bischofskonferenzen allenthalben erworben haben, ist so groß, daß ihre Stimme nicht nur in der Kirche, sondern auch in Staat und Ge sellschaft gehört wird. In Deutschland haben sich die Fuldaer Bischofskonferenz, zu der sich alle deutschen Bischöfe jährlich einmal unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Köln versammeln, die Freisinger Bischofskonferenz, zu der jährlich zweimal die Bischöfe Bayerns und der Pfalz unter dem Vorsitz des Erzbischofs von München zusammentreten, das dreimal im Jahre an verschiedenen Orten tagende Conveniat der westdeutschen Bischöfe und die nach Bedarf tagende Berliner Ordinarienkonferenz, zu der sich die Orts oberhirten der DDR und Berlins unter dem Vorsitz des Bischofs von Berlin versammeln, zu ständigen Einrichtungen entwickelt, die außerhalb ihrer Tagungen durch ihre Vorsit zer vertreten werden. Für verschiedene Aufgabengebiete sind einzelne Bischöfe zu ständigen Referenten bestellt; die hierdurch geschaffene Arbeitsteilung ermöglicht es, die an die Kirche herandrängenden Fragen und Aufgaben mit aller Sorgfalt und der gebotenen Sachkunde zu verfolgen und Lösungen vorzubereiten. Auf den Bischofskonferenzen wird so ein hochbedeutsames Maß an Koordinierungsarbeit für die in den Konferenzen vertretenen Bistümer geleistet. Für die Bischofskonferenzen anderer Länder sind päpstliche Organisationsmaßnahmen erfolgt, die sich u. a. auf den Vorsitz, Zeit und Ort und die Verhandlungsgegenstände der Konferenzen beziehen, so für Österreich 101, Südamerika102, Italien103, die Philippinen104, Kanada105 und [Seite 3] Columbien106. Soweit es die Veröffentlichung dieser Organisationsmaßnahmen erkennen läßt, ist die südamerikani101
SC Ep. et Reg., instr. v. 22. 7. 1898 quoad Congressiones episcopales Dioceses Austriacas: ASS 32 (1900), S. 487–488. 102
Instruktion Leo’s XIII. v. 1. 5. 1900 für die südamerikanischen Bischofskonferenzen, in: AfkKR 80 (1900), S. 766–767.
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sche Bischofskonferenz, die in engerem Zusammenhang mit der Durchführung des in Rom abgehaltenen Plenarkonzils für Lateinamerika steht, bereits in weitem Umfang zu einer hierarchischen Instanz geworden. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, daß in dem Organisationsstatut von „resolutiones vel praescriptiones clero vel fidelibus communicandae“ (n. VI) gesprochen wird und dafür die Form des Rundschreibens oder gemeinsamen Hirtenbriefes empfohlen wird. III. Neubelebung des synodalen Elementes. Die Bischofskonferenzen sind aus dem Bild der Kirche unserer Tage nicht mehr wegzudenken. Sie sind nach geltendem Kirchenrecht keine hierarchischen Instanzen, funktionieren aber als solche. In ihnen hat das synodale Element der Kirchenverfassung eine bedeutsame Neugeburt erfahren. Die erste deutsche Bischofskonferenz – sie ist eine der ersten überhaupt – fand 1848 unter dem Vorsitz des Erzbischofs Geissel von Köln in Würzburg statt; sie stand im Zeichen des Freiheitskampfes der Kirche. Dies ist sicher kein Zufall; denn der Verfall des teilkirchlichen Synodalwesens ist neben dem Mißtrauen der Römischen Kurie darauf zurückzuführen, daß die staatliche Kontrolle allen kirchlichen Lebens und Wirkens keinen Raum für die teilkirchliche Synodaltätigkeit gab. Auch Abbau und Aushöhlung der Mittelinstanzen zwischen Papst und Bischof (Primas, Metropolit) sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die kircheneigene Aufsicht weithin der Staatsauf sicht hatte weichen müssen. Die sich in Deutschland mit der Verkündung der Grundrechte des deutschen Volkes (Frankfurt 1848) anbahnende freiheitliche Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat machte den Weg frei für die Übernahme der kirchlichen Aufgaben durch die Organe der Kirche [Seite 4] und forderte zugleich von den Bischöfen die unerläßliche Koordination ihrer Bemühungen. Indem die Bischöfe die auf sie zukommende Verantwortung begriffen und entsprechend handelten, wuchs die Bischofskonferenz gleichsam von selbst in die Rolle der fehlenden Mittelinstanz zwischen Papst und Bischof. Man mag das „parakanonistisch“ nennen, weil das geltende Gesetzesrecht eine solche Wirksamkeit der Bischöfe eines die Kirchenprovinz überschreitenden Gebietes nicht vorsieht. Es läßt sich aber nicht bestreiten, daß die Entwicklung der Bischofskonferenzen in dem der Kirchenverfassung eigenen synodalen Element kanonistisch gerechtfertigt ist und sicher den Charakter einer rechtmäßigen Gewohnheit hat, die wenigstens in einem gewissen Umfang schon zur gesetzesgleichen Norm geworden ist. 103
SC Consist., decr. v. 15. 2. 1919: AAS 11 (1919), S. 72–74; SC Consist., lettera circolare v. 22. 3. 1919: AAS 11 (1919), S. 175–177; SC Conc. disposizioni v. 21. 6. 1932: AAS 24 (1932), S. 242–243. 104
SC Consist., decr. v. 28. 6. 1952: AAS 45 (1953), S. 247.
105
SC Consist., decr. v. 23. 1. 1955: AAS 47 (1955), S. 461.
106
SC Consist., decr. v. 23. 10. 1957: AAS 50 (1958), S. 224–225.
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Stephan Haering
Das bischöflich-synodale Element der Kirchenverfassung ist göttlichen Rechtes, wenngleich seine konkrete Ausgestaltung dem kirchlichen Recht anvertraut ist. Es gründet darin, daß die Bischöfe Nachfolger der Apostel sind, was richtig dahin zu verstehen ist, daß sie als Glieder des Bischofskollegiums Nachfolger des Apostelskollegiums sind. Ihre Unterordnung unter den Papst will sagen, daß sie in ihm das Haupt ihres Kollegiums haben, das die Glieder zur Einheit verbindet, die im Allgemeinen Konzil ihren sichtbaren Ausdruck findet, aber auch außer eines solchen Konzils in der Kirche wirksam ist. Jeder Bischof repräsentiert in seinem Bistum die eine Kirche und trägt, unge achtet der territorialen oder personalen Eingrenzung seiner oberhirtlichen Gewalt, immer auch Verantwortung für die Gesamtkirche. Zur rechtlichen Ausprägung kommt dies im Synodalwesen der Kirche. Bevor das Kirchenrecht aber bestimmte Formen der synodalen Tätigkeit entwickelt hatte, war das synodale Element in der Kirche bereits wirk sam. Das gläubige Bewußtsein um die im Kollegium der Apostel und ihrer Nachfolger liegende Einheit der Kirche führte die Bischöfe ganz spontan zu synodalen Treffen, und was zunächst tatsächlich geübt wurde, erhielt später seine rechtliche Gestalt. Aber selbst für [Seite 5] das rechtlich ausgeformte Synodalwesen bleibt festzustellen, daß nicht wenige teilkirchliche Synoden weit über den Bereich ihrer Zuständigkeit hinaus gewirkt und die kirchliche Rechtsentwicklung nachhaltig beeinflußt habe [sic!], sicher nicht weniger als die Gesetzgebung der Allgemeinen Konzilien. IV. Anregungen zur rechtlichen Ausformung der Bischofskonferenz. Die Frage, ob es opportun erscheint, der Bischofskonferenz eine festere rechtliche Gestalt zu geben, wird sicher bejaht werden dürfen, auch wenn es auf dem Vatikanum II nicht gelingen sollte, das Verhältnis zwischen Papst und Bischof grundsätzlich zu klären. Ich warne jedoch entschieden vor jedem Perfektionismus. Der Spontaneität der Bischöfe, die an der Wiege der Bischofskonferenz steht, sollte in Zukunft ein ausreichender Spiel raum gelassen werden. Die gemeinrechtliche Regelung, die tunlichst von dem Vatikanum II vorgenommen werden könnte, sollte sich auf folgende Fragenpunkte beschränken: 1. Aufgaben und Vollmachten. Hauptaufgabe der Bischofskonferenzen ist die Förderung und Koordinierung der kirchlichen Aufgaben in einem größeren Gebiet. Die tatsächlichen Bedürfnisse werden jeweils verschieden liegen, was durch die verschiedenen Bischofskonferenzen in Deutschland deutlich wird. Doch ist es jedenfalls geboten, eine über die Kirchenprovinz hinausgehende Reichweite der Bischofskonferenzen gesetzlich festzulegen. Hier dürfte sich empfehlen, daß der Begriff regio benützt wird. Für die Erfassung der Aufgabe gibt es gesetzestechnisch zwei Methoden: die Generalklausel und die sogenannte Enumerationsmethode. Letztere ist in den päpstlichen Organisationsstatuten befolgt worden; sie scheint mir indessen wenig geeignet zu sein, die vielfältigen Koordinationsaufgaben einer Bischofskonferenz zu erfassen, falls die Aufzählung einzelner Aufgaben nicht wiederum so weit gehalten ist, daß sie einer Generalklausel
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gleichkommt. Meines Erachtens empfiehlt es sich, die Aufgaben der Bischofskonferenz in allgemeiner Weise festzulegen, etwa mit der Formulierung ad activitatem ecclesiasticam in aliqua regione fovendam ac coordinandam. [Seite 6] In der Frage, welche Vollmachten die Bischofskonferenz haben soll, wird man der Ent wicklung dadurch Rechnung tragen müssen, daß sie hierarchische Instanz für das betreffende Gebiet wird. Es dürfte hierzu genügen, wenn gesagt wird, daß die Bischofskonferenz in allen Fragen, die einer Koordination bedürfen, Entscheidungen treffen und Anordnungen geben kann. Über jede Bischofskonferenz ist dem Heiligen Stuhl zu berichten. Gesetzgebe rische Maßnahmen einer Bischofskonferenz bedürfen der päpstlichen Bestätigung. 2. Zusammensetzung. Die Bischofskonferenz wird gebildet aus allen regierenden Bischöfen des betreffenden Gebietes. Diese müßten zur Teilnahme verpflichtet werden. Die Vorsitzfrage müßte in einer Weise geregelt werden, die der tatsächlichen Entwicklung der Bischofskonferenzen entspricht. Danach würde der Vorsitz bei einem Metropoliten liegen, wobei offen bleiben sollte, ob es immer der Metropolit eines bestimmten Sitzes sein soll, oder ob auch ein anderer Metropolit dazu ausersehen werden kann. Die Entscheidung dieser Frage sollte der Bischofskonferenz selbst überlassen bleiben, aber immer der Gutheißung des Hl. Stuhles bedürfen. Man wird auch darauf Bedacht nehmen müssen, daß es Bischofskonferenzen gibt, deren Gebiet keine Provinzeinteilung kennt; dies trifft beispielsweise für die Schweiz zu. 3. Zeit und Ort der Tagungen. Die Bischofskonferenzen sollten wenigstens einmal jährlich zu einer ordentlichen Tagung zusammentreten; nach Bedarf können weitere au ßerordentliche Tagungen festgesetzt werden. Für die ordentliche Tagung sollten Zeit und Ort festliegen. Für die außerordentlichen Tagungen können Zeit und Ort von dem Vorsitzenden bestimmt werden. [Seite 7] 4. Wirksamkeit außerhalb der Tagungen. Es ist ein dringliches Anliegen, daß die Bischofskonferenzen auch außerhalb ihrer Tagungen in ihrem Gebiete wirksam sind. Hierzu ist die Einrichtung ständiger Referate ein wichtiges Erfordernis. Es scheint aber ebenso notwendig zu sein, daß in Fragen, die einer dringenden Entscheidung bedürfen, mit gebotener Beschleunigung eine Stellungnahme der Konferenz herbeigeführt werden kann. Es legt sich nahe, den Vorsitzenden mit dieser Aufgabe eines Sprechers der Konfe renz zu betrauen. In Analogie zu der ständigen Synode, die dem ostkirchlichen Patriarchen zur Seite steht, wäre es für die größeren Bischofskonferenzen angezeigt, einen ständigen Ausschuß zu bilden, der nach Bedarf zusammentreten und in Verbindung mit dem Vorsitzer der Konferenz eilige Entscheidungen treffen könnte. Mörsdorf
III. Die Grundvollzuge der Kirche und ihre rechtliche Ordnung
Communitas Christiana oder Ecclesia Dei Kanonistische Anmerkungen zu einer Änderung im Taufritus Von Christoph Ohly Christoph Ohly Das Erstaunen in aller Welt war groß, als Papst Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 anlässlich eines öffentlichen Konsistoriums für drei Heiligsprechungen in der Sala del Concistorio ankündigte, gemäß c. 332 § 2 CIC auf sein Amt zu verzichten und nach Eintritt der Vakanz zum 28. Februar 2013 die Wahl eines Nachfolgers zu ermöglichen.1 Die Entscheidung war ihrer Natur nach die erste Amtsverzichtserklärung eines Papstes in der Neuzeit, nachdem Papst Coelestin V. im Jahre 1294 nach nur wenigen Monaten sein Amt aus Gründen der Krankheit und der fehlenden Erfahrung in der kirchlichen Verwaltung mit dem Wunsch zur Verfügung gestellt hatte, wieder als Einsiedler leben zu können.2 Der kirchenrechtlich mögliche, im Bewusstsein vieler Menschen jedoch höchst ungewöhnliche Schritt des Papstes ist seither vielfältig beurteilt und als historisch gewürdigt worden. Die Wahl von Papst Franziskus und die ersten Monate des Pontifikates haben jedoch das Interesse an diesem Ereignis in den Hintergrund treten lassen. Vielmehr ist die gänzlich unbekannte Situation eines amtierenden Papstes, der von seinem emeritierten Vorgänger im Gebet begleitet und mitgetragen wird, in den Vordergrund gerückt. Nicht zuletzt die erste Enzyklika von Papst Franziskus mit dem Titel „Lumen Fidei“ hat dabei die innere Kontinuität beider Päpste zum Ausdruck gebracht. 3 Ebenso wurden weitere In1
Papst Benedikt XVI., Declaratio vom 11. Februar 2013, in: AAS 105 (2013), S. 239–240; in dt. Übersetzung in: OssRom (dt.) 43 (2013), Nr. 7, S. 1. 2 Siehe dazu u. a. Martin Bertram, Die Abdankung Papst Cölestins V. (1294) und die Kanonisten, in: ZRG Kan.Abt. 56 (1970), S. 1–101. In jüngerer Zeit u. a. Valerio Gigliotti, „Fit monachus, qui papa fuit“: la rinuncia di Coelestino V tra diritto e letteratura, in: Rivista di storia e letteratura religiosa 44 (2008), S. 257–323 sowie Paolo Golinelli, Celestino V: il papa contadino, Milano 2007. – Vgl. dazu auch den Besuch von Papst Benedikt XVI. am Grab des hl. Coelestin am 29. April 2009 mit der Übergabe der päpstlichen Stola sowie Papst Benedikt XVI., Homilie zum 800. Geburtstag von Papst Coelestin V. vom 4. Juli 2010, in: AAS 102 (2010), S. 455–458. 3
Papst Franziskus, Enzyklika Lumen Fidei vom 29. Juni 2013, in: AAS 105 (2013), S. 555–596; in dt. Übersetzung in: VApSt 193, Bonn 2013.
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itiativen (beispielsweise das „Jahr des Glaubens“) und amtliche Entscheidungen aus den letzten Wochen des vorausgehenden Pontifikates aufgenommen und fortgeführt. Unter diese amtlichen Entscheidungen fällt auch ein Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 22. Februar 2013, das Papst Benedikt XVI. im Rahmen einer Audienz für den Präfekten der Kongregation, Antonio Kardinal Cañizares Llovera, am 28. Januar 2013 approbiert hatte. Darin wird eine Änderung der Formelworte angeordnet, die in der Taufliturgie die Bezeichnung der Stirn des Täuflings mit dem Kreuz begleiten sollen. Noch in der Amtszeit von Benedikt XVI. approbiert, ist die Änderung – fast stillschweigend, aber wie im Dekret angeordnet – zum 31. März 2013, d. h. in der Amtszeit von Papst Franziskus, in Kraft getreten. Die Bestimmung berührt nicht nur die liturgische Feier der Taufe, sondern zugleich wichtige, damit verbundene ekklesiologische Grundüberzeugungen, wie sie durch das II. Vatikanische Konzil formuliert wurden und sowohl in lehramtlichen Verlautbarungen als auch in den Diskussionen theologischer Beiträge ihren Niederschlag gefunden haben. Nicht zuletzt Papst Benedikt XVI. selbst hat als renommierter Theologe, Kardinal und Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre maßgeblich an der Durchdringung der damit zusammenhängenden Sachfrage mitgewirkt. Daher darf diese rechtliche Bestimmung, mit dem ein Element des Taufritus geringfügig verändert wurde, als ein auch persönlich wichtiges Anliegen im Denken des emeritierten Papstes interpretiert werden. Die Ausführungen und Normen des Dekrets in ihrer verfassungsrechtlichen Relevanz für die Beziehung von Taufe und Kirche kanonistisch erschließen zu helfen, soll ein Zeichen des Dankes für den zu ehrenden Jubilar und sein vielfältiges Wirken im Kontext der Kanonistik als einer theologischen Wissenschaft der Kirche sein, „die gemäß den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse mit juristischer Methode arbeitet“.4 I. Einzelbestimmungen des Dekrets Das Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 22. Februar 2013 ist in lateinischer Fassung im Amtsblatt des römi4
Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. I, Paderborn u. a. 1991, S. 71. Vgl. dazu auch Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (= AMATECA XII), Paderborn 1995, S. 69–117, bes. 87–105; ders., Die kanonistische Methode. Kritische Erwägungen zur Methodologie von Eugenio Corecco, in: AfkKR 163 (1994), S. 11–27.
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schen Dikasteriums (Notitiae) veröffentlicht worden.5 Es trägt neben der Unterschrift des Präfekten auch die des Sekretärs der Kongregation, Erzbischof Arthur Roche. Ohne gesonderten Titel umfasst das Dekret neben einer kurzen theologischen Einleitung und den Rechtsbestimmungen zur Approbation und Inkrafttretung am Schluss des Dekrets fünf liturgierechtliche Bestimmungen. Diese beziehen sich auf die einschlägigen Abschnitte in der editio typica des Ordo Baptismi Parvulorum vom 15. Mai 1969, der unter dem Datum vom 29. August 1973 mit wenigen Veränderungen in der editio typica altera vorgelegt wurde.6 1. Theologische Einleitung In der Eröffnung zum Dekret wird die Taufe in Anlehnung an die Aussagen der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (LG 8.11.16.40; AG 14; PO 5) und des Codex Iuris Canonici (c. 849 CIC) als Pforte des Lebens und des Reiches (vitae et regni ianua) bezeichnet und als das Sakrament des Glaubens (sacramentum fidei) beschrieben, durch das die Menschen in die einzige Kirche Christi eingegliedert werden, die in der katholischen Kirche verwirklicht ist (subsistit in), welche vom Nachfolger des Petrus und der Bischöfe in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.7 Ausgehend von diesem ekklesiologischen Grundgedanken formuliert das Dekret die Legitimation für die nachfolgend angeführten Änderungen im Taufritus. Diese wird als in der Notwendigkeit gegeben verstanden, die Lehre von der Aufgabe und der Pflicht der Kirche im Taufritus eindeutiger herauszustellen, damit sie auch in der Feier des Sakraments bewusster zum Ausdruck kommen kann.8 5 Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum, Decretum vom 22. Februar 2013 (Prot. N. 44/13/L), in: Notitiae 49 (2013), S. 54–56. 6 Rituale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli Pp. VI promulgatum, Ordo baptismi parvulorum, vom 15. Mai 1969, Editio typica, Typis Polyglottis Vaticanis 1969. Zur Promulgationsgeschichte siehe Alfred E. Hierold, Taufe und Firmung, in: HdbKathKR2, S. 807–823, hier Anm. 7. In deutscher Fassung: Die Feier der Kindertaufe in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und des Bischofs von Luxemburg, Freiburg u. a. 1971; nachfolgend: Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes, zweite authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica altera 1973, Freiburg u. a. 2007. 7
Decretum (Anm. 5), S. 54: „Vitae et regni ianua, Baptismus est sacramentum fidei, quo homines incorporantur unicae Christi Ecclesiae, quae in Ecclesia catholica subsistit, a Successore Petri et Episcopis in eius communione gubernata“. 8
Ebd.: „Unde Congregationi de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum visum est variationem quandam in editionem typicam alteram Ordinis Baptismi Parvulorum indu-
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2. Liturgierechtliche Aussagen Mit Blick auf fünf Stellen im Ordo Baptismi Parvulorum bestimmt das Dekret, dass der Taufende zukünftig nicht mehr die Formel „Magno gaudio communitas christiana te (vos) excipit“ 9, sondern die Worte spricht: „Magno gaudio Ecclesia Dei te (vos) excipit“ 10. Daraus ergeben sich folgende Formulierungen für die verschiedenen Taufsituationen11: NR. 41: ORDO BAPTISMI PRO PLURIBUS PARVULIS „Deinde celebrans prosequitur dicens: N. …, N. (vel Filioli), magno gaudio Ecclesia Dei vos excipit. In cuius nomine ego signo vos signo crucis; et parentes vestri (patrinique) post me eodem signo Christi Salvatoris vos signabunt. Et signat ununquemque parvulum in fronte, nihil dicens. Postea invitat parentes et, si opportunum videtur, patrinos, ut idem faciant.“ NR. 79: ORDO BAPTISMI PRO UNO PARVULO „Deinde celebrans prosequitur dicens: N. …, magno gaudio Ecclesia Dei te excipit. In cuius nomine ego signo te signo crucis; et parentes tui (patrinique vel et matrina) post me eodem signo Christi Salvatoris te signabunt. Et signat parvulum in fronte, nihil dicens. Postea invitat parentes et, si opportunum videtur, patrinum (matrinam), ut idem faciant.“
cere, eo ut in eodem ritu melius in lucem ponatur tradita doctrina de munere et officio Matris Ecclesiae in sacramentis celebrandis.“ 9
Im deutschen Rituale (Anm. 6) heißt dies bisher: „Mit großer Freude empfängt euch (dich) die Gemeinschaft der Glaubenden“ (Nr. 39). Der Anschluss wird wie folgt fortgesetzt: „Im Namen der Kirche bezeichne ich euch (dich) mit dem Zeichen des Kreuzes“ (Nr. 39). In der Fassung von 1971 hatte es geheißen: „N., mit großer Freude nimmt dich die christliche Gemeinde (oder: unsere Pfarrgemeinde) auf …“ – Zu den anderen muttersprachlichen Übersetzungen siehe die Übersicht unter http://www.katholisches.info (Stand: 23. 08. 2013). 10
Folgerichtig muss es nun in der deutschen Fassung heißen: „N., mit großer Freude nimmt dich die Kirche Gottes auf“ oder in wörtlicher Übersetzung: „N., mit großer Freude empfängt dich die Kirche Gottes.“ 11
Im Folgenden: Decretum (Anm. 5), S. 55–56. Hervorhebungen vom Verfasser.
Communitas Christiana oder Ecclesia Dei
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NR. 111: ORDO BAPTISMI PRO MAGNO NUMERO PARVULORUM „Celebrans prosequitur dicens: Filioli, magno gaudio Ecclesia Dei vos excipit. In cuius nomine ego signo vos signo crucis. Producit signum crucis super omnes infantes simul, et ait: Et vos, parentes (vel patrini), infantes in fronte signate signo Christi Salvatoris. Tunc parentes (vel patrini) signant parvulos in fronte.“ NR. 136: ORDO BAPTISMI
PARVULORUM ABSENTE SACERDOTE ET DIACONO A
CATECHESIS ADHIBENDUS
„Catechista prosequitur dicens: Filioli, magno gaudio Ecclesia Dei vos excipit. In cuius nomine ego signo vos signo crucis. Producit signum crucis super omnes infantes simul, et ait: Et vos, parentes (vel patrini), infantes in fronte signate signo Christi Salvatoris. Tunc parentes (vel patrini) signant parvulos in fronte.“ NR. 170: ORDO REFERENDA AD ECCLESIAM PARVULUM IAM BAPTIZATUM „Deinde celebrans prosequitur dicens: N. …, magno gaudio Ecclesia Dei, cum parentibus tuis gratias agens, te excipit testificaturque te iam ad Ecclesia fuisse receptum. In cuius nomine ego signo te signo Christi, qui tibi in Baptismate vitam largitus est et Ecclesiae suae te iam aggregavit. Et parentes tui (patrinusque vel et matrina) post me eodem signo crucis te signabunt. Et signat infantem in fronte, nihil dicens; postea invitat parentes et, si opportune videtur, patrinum, ut idem faciant.“ 3. Sonstige rechtliche Bestimmungen In den abschließenden Bestimmungen des Dekrets wird neben dem Datum seiner Inkraftsetzung ausdrücklich auf die Aufgabe der Bischofskonferenzen verwiesen, für die Aufnahme der veränderten Formel in die landesprachlichen Rituale zu sorgen.12 Damit ist nach c. 838 § 3 CIC eine Übersetzung verbunden, da diese im vorliegenden Fall entgegen ähnlicher Korrekturen oder Erweiterungen der Ritusbücher nicht mitgegeben wurde.13 12 Decretum (Anm. 5), S. 56: „Curae autem Conferentiarum Episcopalium committitur ut variationes, in Ordine Baptismi Parvulorum factae, in editiones eiusdem Ordinis lingua vernacula apparandas inducant.“ 13 Vgl. dazu exemplarisch das Dekret Paternas vices zur Nennung des hl. Joseph in den eucharistischen Hochgebeten vom 1. Mai 2013, in: http://www.vatican.va/roman_ curia/congregations/ccdds/documents (Stand: 23. 08. 2013). Dazu die Hinweise in: Gottesdienst 47 (2013), S. 112, 116.
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II. Entstehungsgeschichte der Korrektur Um die verfassungsrechtliche Bedeutung der Korrektur des Taufritus würdigen zu können, bedarf es zunächst eines Rückblicks auf ihre Entstehungsgeschichte. Benjamin Leven interpretiert die Hintergründe in seiner kurzen liturgiewissenschaftlichen Skizze als Ausdruck eines „alten Konflikts“, der sich über 40 Jahre hingezogen und nun in der päpstlichen Entscheidung ein (zumindest vorläufiges) Ende gefunden habe.14 Worin bestand diese Auseinandersetzung, die der theologischen Klärung einer damit verbundenen ekklesiologischen Grundfrage dienen sollte? Die Formel des Rituale Romanum zur Bezeichnung des Täuflings mit dem Kreuzzeichen15 hatte der deutschprachige Taufritus im Jahre 1971 mit den Worten widergegeben: „N.N., mit großer Freude nimmt euch die christliche Gemeinde (oder: die Pfarrgemeinde) auf. In ihrem Namen bezeichne ich euch mit dem Zeichen des Kreuzes.“
Nach den ersten Jahren ihrer liturgischen Anwendung kam von kirchenamtlicher Seite Kritik an der Aussagegestalt der Formel auf. Bezeichnenderweise wurde die Kritik nicht aus der katholischen, sondern aus der orthodoxen Kirche vernehmbar. Metropolit Damaskēnos Papandreou (1936–2011), der in den 1960er Jahren als Seelsorger für griechische Gastarbeiterfamilien in Bonn tätig war und nach seiner Bischofsweihe im Jahre 1970 und weiteren damit verbundenen Funktionen schließlich 1982 von der Synode des Ökumenischen Patriarchats zum Metropoliten der Schweiz und Exarchen von Europa ernannt wurde16, äußerte in einer Ansprache anlässlich des 65. Priesterjubiläums von Kardinal Josef Frings in Köln seine Bedenken gegenüber der Formulierung: „Der Täufling wird nach diesem Ritual nicht mehr in die eine, welt- und zeitumspannende Kirche hineingetauft, sondern in eine Pfarrgemeinde eingegliedert, und in ihrem Namen – nur in ihrem! – wird er mit dem Kreuz bezeichnet.“ 17 Ledig14
Vgl. Benjamin Leven, Ein alter Konflikt. Die Änderung im Ritus der Kindertaufe und ihre Hintergründe, in: Gottesdienst 47 (2013), S. 150, 152; vgl. auch Gottesdienst 48 (2014), S. 45. Für den vorliegenden Beitrag hat das Deutsche Liturgische Institut in Trier dankenswerterweise die entsprechenden Dokumente aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt. 15 Ordo baptismi parvulorum, Nr. 41 (Anm. 6): „N. N., (vel: Filioli), magno gaudio communitas christiana vos excipit. In cuius nomine ego signo vos.“ 16 17
Siehe http://www.orthodoxresearchinstitute.org/hierarchs (Stand: 25. 08. 2013).
Damaskēnos Papandreou, Eucharistie und Amt in der Kirche, in: Kölner Beiträge, Heft 20, Köln 1976, S. 11–34, hier 20.
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lich das „bloße traditionsfremde Wort“ communitas stehe in einer gewissen Beziehung zum Begriff communio.18 Der anwesende Theologieprofessor Joseph Ratzinger, der persönlich mit Damaskēnos Papandreou befreundet war, nahm diese Kritik aufmerksam wahr und machte sich in den folgenden Jahren zu ihrem Sprachrohr auf katholischer Seite. Auf der ersten Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, an der Joseph Ratzinger als neuer Erzbischof von München und Freising teilnahm (19.–22. September 1977 in Fulda), wurde daher die Liturgiekommission mit der Prüfung der Kritik beauftragt. Zugleich sah man es wegen des länderübergreifenden Taufrituale im deutschen Sprachraum für hilfreich an, eine Stellungnahme der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im deutschen Sprachgebiet (IAG) einzuholen.19 Das Gutachten von Balthasar Fischer, das sowohl von der IAG als auch von der Liturgiekommission gutgeheißen wurde und in die Stellungahme der Liturgiekommission einging, übte erstaunlich scharfe Kritik an der Auffassung des orthodoxen Metropoliten und wies diese als „gegenstandslos“ zurück. 20 Zum einen missverstehe dieser „in Unkenntnis der Geschichte des römischen Taufritus“ die Bekreuzung des Täuflings als Teil der eigentlichen Taufhandlung. Doch handele es sich dabei vielmehr um einen „alten Katechumenats-Eröffnungsritus“, der den Täufling nicht in die Kirche „eingliedere“, sondern lediglich zum Ausdruck bringe, dass die Pfarrgemeinde ihn „empfange“. Nicht die rechtlich relevante „Aufnahme“ sei gemeint, sondern ein Willkommensgestus, der zur Taufe hinführe. Zum anderen widerlege das Wort des Taufritus von der Aufnahme „in die Gemeinschaft der Heiligen“ den „ungerechten“ Vorwurf des Metropoliten, der neue Taufritus vermeide die Sicht der Aufnahme in „eine welt- und zeitumspannende Kirche“. Aber auch weitere Hinweise auf die Gesamtkirche im nachgängigen Verlauf des Taufritus machten den Vorwurf von selbst gegenstandslos. 18
Vgl. ebd.
19
Vgl. Stellungnahme der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz zu Nummer 15 der „Feier der Kindertaufe“ (Archiv des DLI-Trier, LK 2/78, 1–6, hier 1). Die Liturgiekommission hatte Professor Balthasar Fischer (Trier), Relator der römischen Kommission zur Erarbeitung des Ordo baptismi parvulorum, um ein entsprechendes Gutachten gebeten, das dieser zusammen mit Emil J. Lengeling (Münster) und PierreMarie Gy (Paris) erstellen sollte. Auf der Versammlung der IAG vom 16.–18. November 1977 in Augsburg wurde das Gutachten von Fischer beraten und mit Blick auf mögliche Korrekturen mit der Überzeugung angenommen, „daß sowohl der lateinische Text der Nr. 15 als auch die deutsche Übersetzung unanfechtbar sind“ (Archiv des DLI-Trier, IAG-Augsburg/1977, hier 33). 20
Die folgenden Zitate entstammen der Stellungnahme der Liturgiekommission (Anm. 19).
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Schließlich kritisierte das Gutachten die orthodoxe Unterstellung, die „örtliche Gemeinde“ handle hier isoliert und letztlich von der Gesamtkirche losgelöst. Mit Verweis auf zahlreiche Belegstellen, die zu einer „Wiederaufwertung nicht nur der unmittelbar vom Bischof geleiteten Ortskirche, sondern der örtlichen Gemeinde als ‚Ecclesia‘“ beigetragen hätten (vgl. SC 42, LG 26) gelangten die Verfasser der Stellungnahme darüber hinaus zu einer positiven Bewertung des Begriffs „communitas“, der nicht „traditionsfremd“ sei, sondern gerade die ökumenisch relevante Intention des Konzils unter Beachtung der östlichen Ekklesiologie zum Ausdruck bringe. Offensichtlich auf Anregung der IAG bat der damalige Bischof von Trier und Vorsitzende der Liturgiekommission, Bernhard Stein, den Münchener Erzbischof, Joseph Kardinal Ratzinger, um „eine schriftliche Darlegung seiner Gravamina“.21 Dieser Bitte kam Kardinal Ratzinger im Vorfeld eines gesonderten Studientages der Deutschen Bischofskonferenz zu liturgischen Fragen im Rahmen der Herbstvollversammlung in Fulda vom 24.–27. September 1979 nach.22 In seinem Schreiben vom 27. August 1979 kommentierte er die drei in der Stellungnahme vorgelegten Argumente und wies diese mit dem Leitgedanken zurück, Liturgie bilde gläubiges Bewusstsein und müsse daher stets auf die rechte Wortwahl achten (lex orandi – lex credendi). Im Zusammenhang mit dem ersten Argument „Begrüßungsformel“ erinnerte er folglich an die Tatsache, dass das verwendete Wort keine „private Begrüßung“ beinhalte, sondern „von der Sache her“ die Nennung des „wahre[n] Träger[s] des Geschehens“ verlange. Dies sei die Kirche als Universalkirche. Würde diese nachfolgend aufgerufen, könnte die Begrüßung in dieser Form hingenommen werden, ansonsten substituiere sich die „gemeindliche Begrüßung … dem unverzichtbaren Vorgang, in dem die Gesamtkirche in Erscheinung treten muß“. Für Ratzinger war daher mit der bestehenden Formulierung die praktische Gefahr verbunden, der Vorstellung Vorschub zu leisten, nach der die Taufe in eine „christliche Gemeinde … jenseits der Konfessionen“ einordne. In seiner Antwort auf das zweite und dritte Argument der Stellungnahme verweist Ratzinger auf die Untersuchungen von Oskar Saier zum CommunioBegriff im II. Vatikanischen Konzil und von Henri de Lubac zur Bedeutung der Partikularkirche in der Universalkirche, denen gemäß die Identifizierung der Begriffe „communitas“ und „Ecclesia localis“ „sprachlich und sachlich ein unverzeihlicher Irrtum“ darstelle. Es sei nicht möglich, beide Begrifflichkeiten 21 22
So das Protokoll der IAG-Augsburg/1977 (Anm. 19), 33.
Joseph Kardinal Ratzinger, Schreiben an Bischof Dr. Bernhard Stein vom 27. August 1979 (Archiv des DLI-Trier, LK 90/79). Die folgenden Zitate entstammen diesem Schreiben.
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gleichzusetzen, ansonsten läge ein falsches Verständnis der Universialität im Sinne einer über die Konfessionen gesetzte „christliche Gemeinde“ vor, der gegenüber jedoch die „wirkliche Universalität der katholischen Kirche“ ausgesagt werden müsse. Ratzinger kommt folglich mit Metropolit Papandreou zu dem Schluss: „Das Wort communitas hat in der liturgischen und theologischen Tradition des Taufsakramentes keinen Ort, sondern ist hier im strikten Sinn traditionsfremd, ja, traditionswidrig“. Die logische Folge war die Forderung nach einer Korrektur der Begrüßungsformel im Taufritus. Nur wenige Wochen später legte die Liturgiekommission noch vor Beginn der Herbstvollversammlung der Bischofskonferenz eine Antwort auf die Beanstandungen von Kardinal Ratzinger vor, mit der die Veränderung bzw. die Ergänzung der Formel sowohl in der lateinischen als auch in der deutschen Fassung abgelehnt wurde.23 Diese habe den Begutachtungen und Überprüfungen sowohl von Papst Paul VI. und der Kongregation für die Glaubenslehre als auch der Bischofskonferenzen des deutschen Sprachraums standgehalten und seien daher als „unbedenklich angenommen worden“. 24 Da der Text das Wort „excipit“ und nicht „recipit“ verwende, werde auch sprachlich deutlich, dass es sich hier allein um einen Willkommensgruß der örtlichen Gemeinde handle, welcher der sakramentenrechtlichen Aufnahme durch die Taufhandlung vorausgehe. Dieser sei nicht in neuer Zeit ritualisiert worden, sondern mit der Bekreuzung des Taufbewerbers auf der Stirn „fast so alt … wie die Taufe“. 25 Um einer konfessionellen Verunklarung entgegenzuwirken und zugleich die Sorge, die Taufe würde den Täufling in eine irgendwie allgemein bestimmte „christliche Gemeinde“ jenseits der Konfessionen aufnehmen, könne der mehrheitlich protestantisch verwendete Terminus „Gemeinde“ auch durch „Pfarrgemeinde“ ersetzt werden. Als zentrales Argument legt die Antwort jedoch die Nähe zwischen den Begriffen „communitas“ und „Ecclesia particularis“ vor, wie sie sich in den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils nachweisen ließen. Als Belegstelle wird vor allem die Aussage im Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam Actuositatem“ (Art. 30) herangezogen, nach der die Kinder in die örtliche Gemeinschaft der Pfarrei in dem Bewusstsein hineingenommen werden, bereits lebendige und aktive Glieder des Volkes Gottes zu sein. In dieser sei nach Aussagen des damaligen Weihbischofs in Fulda, Eduard Schick, 23 Antwort der Liturgiekommission auf die Frage von Kardinal Ratzinger vom 27. August 1979 zur „Feier der Kindertaufe“ vom 20. September 1979 (Archiv des DLITrier, LK 123/79, 1–5). 24
Antwort (Anm. 23), 5.
25
Antwort (Anm. 23), 2.
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eine „vera repraesentatio et manifestatio Ecclesiae universalis“ gegeben. 26 Um jedoch die offensichtlichen Verständnisschwierigkeiten gegenüber der liturgischen Formel zu beheben, schlug die Liturgiekommission vor, dauerhaft auf eine Textänderung hinzuwirken. Demzufolge könne es zukünftig heißen: „N.N. Mit großer Freude heißt euch die christliche Gemeinde (oder: unsere Pfarrgemeinde) willkommen.“27 Nach Beratung in der Vollversammlung folgte die Bischofskonferenz der Argumentation der Liturgiekommission und beschloss, bei einer Neuauflage der „Feier der Kindertaufe“ die Textänderung im Sinne der vorgelegten Formulierung aufzunehmen.28 Gleichzeitig bat die Bischofskonferenz die Kongregation für die Sakramente und den Gottesdienst, den Terminus „communitas christiana“ eingehender zu prüfen. Die Glaubenskommission wurde beauftragt, eine entsprechende Eingabe an das römische Dikasterium vorzubereiten. 29 Eine direkte Reaktion der Kongregation auf die Eingabe ist nicht bekannt. Wohl aber blieb die Problematik in den Folgejahren als Einzelaspekt in die theologische Diskussion um das rechte Verhältnis von Gesamtkirche und Teilkirche hineingestellt. Angestoßen vom Schlussdokument der Außerordentlichen Bischofssynode im Jahre 1985 stand die Kirche als „Communio“ im Mittelpunkt einer vertieften theologischen Reflexion.30 Joseph Ratzinger hat sowohl als Dogmatik-Professor als auch im Amt des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre wichtige Beiträge publiziert.31 Ein entscheidender Beitrag für die Frage der Taufe und des Taufritus 26
Antwort (Anm. 23), 4.
27
Eventual-Antrag der Liturgiekommission zur Nr. 15 der „Feier der Kindertaufe“ für die Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24.–27. September 1979 in Fulda (Archiv des DLI-Trier, LK 124/79). 28 Protokoll der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24.– 27. September 1979 (Archiv des DLI-Trier, DBK-HVV 1979, 15). 29
Vgl. Protokoll (Anm. 28), 15.
30
Vgl. Schlussdokument der außerordentlichen Bischofssynode 1985 und die Botschaft an die Christen in der Welt vom Dezember 1985 (= VApSt 68), Bonn 1985, hier 13–18 (Abschnitt C). 31
Vgl. dazu besonders Joseph Ratzinger, Der Kirchenbegriff und die Frage nach der Gliedschaft in der Kirche, in: Das neue Volk Gottes, Düsseldorf 1969, S. 90–104 (= JRGS 8, S. 290–307); ders., Recht der Gemeinde auf Eucharistie? Die „Gemeinde“ und die Katholizität der Kirche, in: Theologische Prinzipienlehre, München 1982, S. 300–314 (= JRGS 8, S. 538–555); ders., Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Kirche, Ökumene und Politik, Einsiedeln 1987, S. 13–27 (= JRGS 8, S. 258–282); ders., Ge-
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liegt in seinen Überlegungen zur ontologischen und temporalen Vorgängigkeit der universalen Kirche gegenüber den Ortskirchen, die in eine theologische Auseinandersetzung mit Walter Kasper führten. 32 In diesem Zusammenhang antwortet er auf die Frage, worin die Vorgängigkeit bestehe und wie sie in ihrer Wirkung ersichtlich werden könne, mit dem Blick auf die Sakramente (insbesondere der Taufe), wie sie von der Kirchenkonstitution in den Blick genommen werden (vgl. LG 11): „Da ist zunächst die Taufe: Sie ist ein trinitarischer, das heißt ein ganz theologischer Vorgang, weit mehr als eine ortskirchliche Sozialisation, wie sie heute leider so häufig mißdeutet wird. Die Taufe kommt nicht aus der einzelnen Gemeinde heraus, sondern in ihr öffnet sich uns die Tür zur einen Kirche, sie ist die Präsenz der einen Kirche, und nur von ihr her … kann sie kommen. Der bekannte Ökumeniker Vinzenz Pfnür hat kürzlich dazu gesagt: Taufe impliziert Aufgebrochenwerden ‚auf den einen am Kreuz für uns geöffneten Leib Christi hin (vgl. Eph 2,16), in den wir (und die Anderen) durch den einen Geist hineingetauft wurden (1 Kor 12,13), was wesentlich mehr ist als die mancherorts übliche Taufankündigung: Wir haben […] in unsere Gemeinde aufgenommen – und dessen Glieder wir geworden sind – was nicht zu verwechseln ist mit der Mitgliedschaft in einer Ortskirche –, und das eine Brot hin (vgl. 1 Kor 10,17), das nicht das Sonderbrot einer Ortskirche ist, und das eine Bischofsamt hin, an dem man mit Cyprian nur in der Gemeinschaft der Bischöfe Anteil hat.‘ In der Taufe geht immer wieder die Universalkirche der Ortskirche voraus und schafft sie. […] Jeder ist überall zu Hause und nicht bloß Gast. Es ist immer die eine Kirche, die eine und selbige. Wer in Berlin getauft ist, ist in der Kirche in Rom oder in New York oder in Kinshasa oder in Bangalore oder wo auch immer genauso zu Hause wie in seiner Taufkirche. Er braucht sich nicht umzumelden, es ist die eine Kirche. Die Taufe kommt aus ihr und gebiert in sie hinein.“33 samtkirche und Teilkirche. Der Auftrag des Bischofs, in: Zur Gemeinschaft gerufen, Freiburg 1991, S. 70–97 (= JRGS 8, S. 519–537); ders., Universalität und Katholizität, in: Unterwegs zu Jesus Christus, Augsburg 2003, S. 133–143 (= JRGS 8, S. 193–201). 32
Als Ausgangspunkt dazu gilt Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben Communionis notio über einige Aspekte der Kirche als Communio vom 28. Mai 1992, in: AAS 85 (1993), S. 838–850; in dt. Übersetzung in: VApSt 107, Bonn 1992. Darauf bezogen Joseph Ratzinger, Die Ekklesiologie der Konstitution Lumen gentium, in: Weggemeinschaft des Glaubens, Augsburg 2002, S. 107–131 (= JRGS 8, S. 573–596); Walter Kasper, Das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirche. Freundschaftliche Auseinandersetzung mit der Kritik von Joseph Kardinal Ratzinger, in: StdZ 218 (2000), S. 795–804; Joseph Ratzinger, Ortskirche und Universalkirche. Antwort auf Walter Kasper, in: StdZ 218 (2000), S. 795– 804 (= JRGS 8, S. 597–604). Dazu siehe Achim Buckenmaier, Universale Kirche vor Ort. Zum Verhältnis von Universalkirche und Lokalkirche, Regensburg 2009. 33
Ratzinger, Ekklesiologie (Anm. 32), S. 587 mit Verweis auf Vinzenz Pfnür, Communio und excommunicatio, in: Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die
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Diesem Anliegen wurde im neuen deutschsprachigen Taufrituale aus dem Jahre 2007 insofern Rechnung getragen, als es dort zur Bezeichnung mit dem Kreuz nun heißt: „N. und N., mit großer Freude empfängt euch die Gemeinschaft der Glaubenden. Im Namen der Kirche bezeichne ich euch mit dem Zeichen des Kreuzes.“ 34
Die unterschiedlichen Übersetzungsweisen sowie die verbleibenden Verständnisschwierigkeiten, die im theologischen Disput offenkundig geworden sind, haben Papst Benedikt XVI. offensichtlich zu der Überzeugung geführt, mit der Entscheidung vom 22. Februar 2013 das umzusetzen, was er im Einklang mit den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über viele Jahre durchdacht und formuliert hatte. Daher wird es nach der Einarbeitung und Übersetzung der veränderten Formel künftig lauten (an den anderen genannten Stellen in entsprechender Weise): „N. und N., mit großer Freude empfängt euch die Kirche Gottes. In ihrem Namen bezeichne ich euch mit dem Zeichen des Kreuzes.“ 35
III. Versuch einer kanonistischen Würdigung Wie ist diese liturgierechtliche Bestimmung kanonistisch, näherhin verfassungsrechtlich zu würdigen? Im Blick auf die Entstehungsgeschichte der Korrektur ist ersichtlich geworden, dass in ihrem Verlauf drei Ebenen im Verständnis der Formelworte miteinander verbunden worden sind. Da ist die terminologische Ebene, die zwischen „communitas“ und „Ecclesia“ zu unterscheiden und die Relation zwischen beiden zu benennen sich bemüht. Von ihr abzugrenzen ist die zweite Ebene, die nach dem Handelnden des Geschehens fragt, während die dritte Ebene der Überlegung nachgeht, welchen Sinn bzw. welches Ziel der Ritus der Bekreuzigung für das Geschehen der Taufe als solche in sich trägt. Alle drei Ebenen stehen in einem untrennbaren Zusammenhang, der umfassend nach dem fragt, was in und durch die Taufhandlung mit dem Menschen geschieht, der sie empfängt.
Eucharistie. FS für Theodor Schneider, hrsg. von Bernd Hilberath und Dorothea Sattler, Mainz 1995, S. 277–292, hier 292. 34
Die Feier der Kindertaufe (Anm. 6), Nr. 39.
35
Gemäß Anm. 34.
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1. Eingliederung in die Kirche In Übereinstimmung mit den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils (bes. LG 11.1) gestaltet die Taufe nach c. 849 CIC den Menschen durch ein untilgbares Prägemal Christus gleich und gliedert ihn so in die Kirche als Leib Christi ein.36 Die Taufe wird dem Menschen zur ianua sacramentorum in einem doppelten Sinn. Sie inkorporiert den Menschen in der Gleichgestaltung mit dem Erlöser in die Kirche als dem allumfassenden Heilssakrament (LG 48.2), das heißt dem „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschenheit“ (LG 1); zugleich eröffnet sie dem getauften Menschen das Leben mit den Grundvollzügen der Kirche in Wort, Sakrament und Caritas. Die Taufe wird zum Tor in das Sakrament der Kirche und zu den Sakramenten der Kirche. Folgerichtig bestimmt c. 96 CIC, dass der Mensch, durch die Taufe der Kirche Christi (Ecclesia Christi) eingegliedert, in ihr zur Person mit den Pflichten und Rechten wird, die den Christen unter Beachtung ihrer jeweiligen Stellung eigen sind, soweit sie sich in der kirchlichen Gemeinschaft (in ecclesiastica communione) befinden und keine rechtmäßig verhängte Sanktion entgegensteht (nisi obstet lata legitimo sanctio). 2. Differenzierte Kirchengliedschaft Mit der sakramententheologischen und kanonistischen Sicht auf das Geschehen der Taufe ist die weiterführende Frage verbunden, wer die Kirche ist, von der hier die Rede ist, und wo diese sichtbar wird. Dem Glaubensbekenntnis der Kirche zufolge hat der Herr sie als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche gestiftet. Die Einheit der Kirche und ihre Einzigkeit im Heilswerk Gottes sind daher konstitutive Kennzeichen ihres Daseins. In der Folge zahlreicher Spaltungen in ihrer Geschichte ist die Kirche Jesu Christi aber nicht mehr überall in vollem Maße Wirklichkeit. Sie gilt institutionell unterschiedlich verwirklicht und zwar in dem Maße, wie die kirchenbildenden Elemente erhalten sind, zu denen das gemeinsame Glaubensbekenntnis, die Sakramente und die rechtmäßige Leitung durch das qua sakramentaler Weihe in die Geschichte hinein vermittelte apostolische Amt gehören. Gemäß katholischem Verständnis kann daher die Kirche Jesu Christi „nicht – gleichsam linear – als die Summe alles Christlichen verstanden werden; sie drängt vielmehr auf konkrete Realisierung und ist institutionell entweder voll oder annähernd oder in geringerem Maße verwirklicht“.37 So versteht die Kirchenkonstitution Lumen gentium die 36 37
Vgl. dazu Decretum (Anm. 5), 54.
Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. II, Paderborn u. a. 1997, S. 10.
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katholische Kirche als institutionell volle Realisierung der Kirche Jesu Christi im Sinne der communio plena, wenn sie formuliert: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“38
Den inneren Zusammenhang zwischen der Kirche Jesu Christi und der katholischen Kirche, der hier aufgewiesen wird, hat der kirchliche Gesetzgeber in den Codex Iuris Canonici aufgenommen, auch wenn ihm dies rechtssystematisch weniger glücklich gelungen ist. Die umfassende Aussage des c. 96 CIC erhält mit c. 204 §1 CIC, der die Formulierung aus LG 8.2 verwendet, ihre notwendige ekklesiologische Spezifizierung. Mit der Konzentration auf die gesellschaftliche Verfasstheit und die hierarchische Struktur der Kirche wird deutlich, dass das zugrundeliegende Selbstverständnis der katholischen Kirche im Sinne der Verwirklichung der Kirche Jesu Christi „nicht Ausdruck einer moralischen Überheblichkeit ist, sondern im institutionellen Sinn verstanden werden muß“39: Die hierarchische Struktur und Verfasstheit (communio hierarchica) gehören zu den konstitutiven Elementen im authentischen Verständnis der Kirche Jesu Christi, die jedoch zugleich und untrennbar immer Gemeinschaft aller Gläubigen (communio fidelium) ist. Die in der katholischen Kirche voll verwirklichte Kirche Jesu Christi zeigt sich dabei als Gemeinschaft von Teilkirchen (communio Ecclesiarum) gemäß der Aussage in LG 23.1. Demzufolge tritt die Gesamtkirche in der Teilkirche in Erscheinung; gleichzeitig besteht die Gesamtkirche aus den Teilkirchen. Mit dieser Lehre von der vollen institutionellen Verwirklichung der Kirche Jesu Christi ist jedoch zugleich die differenzierte Sicht auf die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften 40 möglich. Im Abrücken sowohl vom apologetischen Kirchenbegriff, demgemäß exklusiv allein der zur wahren Kirche gehört, der gültig die Taufe empfangen hat, den rechten Glauben bekennt und sich der hierarchischen Leitung der Kirche unterstellt, als auch vom kanonistischen Kirchenbegriff, der inklusiv, wenn auch unterscheidend alle Getauften zur katholischen Kirche zählte, wird durch das Reinigen der beiden An38 LG 8.2 i. V. m. LG 14 und 15. Dazu auch Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Jesus vom 6. August 2000, in: AAS 92 (2000), S. 742–765; in dt. Übersetzung: VApSt 148, Bonn 2000, hier bes. Nr. 16 und 17. 39
Aymans / Mörsdorf, KanR II (Anm. 37), S. 57.
40
Vgl. LG 15 i. V. m. UR 15.19.20–22.
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sätze mit dem II. Vatikanischen Konzil der Blick auf die nichtkatholischen Christen in ihren verschiedenen Bekenntnisgemeinschaften frei. 41 So werden die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in ihrem Verhältnis zur katholischen Kirche als in der communio non plena stehend verstanden. Das bedeutet positiv, die durch die Taufe sakramental grundgelegte Kirchengemeinschaft und ihre konkreten Verwirklichungen anzuerkennen, negativ hingegen, die bestehenden Trennungsgründe wahrzunehmen und mit Hilfe eines ökumenischen Dialogs in Wahrheit und Liebe zu klären. Die ökumenisch relevanten Zusammenhänge der differenzierten Sichtweise zur Kirchengliedschaft durch die Taufe lassen sich schließlich auch terminologisch zusammenfassen. Während der Begriff „Kirchengliedschaft“ den Grundstatus des Getauften bezeichnet, der aus dem Empfang der Taufe und der darin vollzogenen Inkorporation in die Kirche Christi erwächst (cc. 96, 204 § 1, 849 CIC), wie sie mit den im Glaubensbekenntnis angeführten Wesensproprietäten erfasst wird, steht der Terminus „Kirchenzugehörigkeit“ für die „reale, aus dem konkret konfessionell vollzogenen Taufgeschehen oder einer möglichen Konversion sich ergebenden institutionell fassbaren Kirchengemeinschaft“. 42 Mit anderen Worten: Kirchengliedschaft setzt das sakramentale Geschehen der Inkorporation in Christus und seine Kirche ins Wort, während Kirchenzugehörigkeit ihre konfessionelle Konkretisierung zum Ausdruck bringt. Daher geht es bei der (katholischen) Taufe immer um die Einverleibung in die Kirche Jesu Christi, die in der katholischen Kirche verwirklicht ist (LG 8.1). 3. „Kirche“ und „Gemeinde“ Die bisherigen Überlegungen gingen in der Frage von Taufe, Gliedschaft und Zugehörigkeit wie selbstverständlich vom Begriff „Kirche“ aus. Die Taufe inkorporiert den Menschen in die Kirche Jesu Christi. Der Taufritus spricht jedoch an der nun korrigierten Stelle bisher von der „communitas christiana“, 41 Vgl. dazu ausführlich Georg Gänswein, Kirchengliedschaft gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Zur Vorgeschichte, Erarbeitung und Interpretation der konziliaren Lehraussagen über die Zugehörigkeit zur Kirche (= DiKa 13), St. Ottilien 1996, hier bes. S. 5–36; ders., Kirchengliedschaft – Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex Iuris Canonici. Die Rezeption der konziliaren Aussagen über die Kirchenzugehörigkeit in das nachkonziliare Gesetzbuch der Lateinischen Kirche (= MThSt.K 47), St. Ottilien 1995. 42 So Gerhard Ludwig Müller, Kirchenzugehörigkeit und Kirchenaustritt aus dogmatischer Perspektive, in: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, hrsg. v. Elmar Güthoff / Stephan Haering / Helmuth Pree (= QD 243), Freiburg / Basel / Wien 2011, S. 77–89, hier 77 f.
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d. h. von der „Gemeinde“ bzw. von der „Pfarrgemeinde“. In welchem Zusammenhang stehen die Begriffe „Ecclesia“ und „communitas christiana“? Das II. Vatikanische Konzil kennt drei Stufen des Kirchenbegriffs („Ecclesia“), die es terminologisch fast durchgehend einhält 43: die „Ecclesia universalis“ („Gesamt- oder Universalkirche“) als Ausdruck für die ganze katholische Kirche, d. h. die lateinische Kirche und die katholischen Ostkirchen; die „Ecclesia localis“ („Ortskirche“) als Begriff für spezifische Traditions- und Ritusgemeinschaften; die „Ecclesia particularis“ („Teil- oder Partikularkirche“) als Umschreibung für die Diözese gemäß cc. 368 und 369 CIC. Es fällt auf, dass das Konzil den Begriff „Ecclesia“ insofern schützt, indem es diesen nur für die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Ebenen der Kirche verwendet, auf denen die Kirche als ganze gemäß LG 23.1 in Erscheinung tritt (in quibus – ex quibus).44 In diesem Sinne unspezifisch wird lediglich die Familie in LG 11.2 („Ecclesia domestica“; Hauskirche) als „Ecclesia“ benannt. In Abgrenzung dazu wird die Pfarrei in den konziliaren Dokumenten häufig mit dem Begriff „communitas“ verbunden, der an dieser Stelle durch die Konzilsväter neu in den lehramtlichen Sprachgebrauch aufgenommen wurde. In diesem Sinne stehen die in den zuvor angeführten Gutachten der IAG und der Liturgischen Kommission zitierten Textstellen für die Wirklichkeit dessen, was in der kirchlichen Rechtssprache bis heute die Pfarrei meint. 45 So ist die Pfarrei jene Ortsgemeinschaft von Gläubigen (communitas localis parochialis), in der die Kirche gleichsam „am Ort“ erfahrbar wird und sich als notwendige Untergliederung der Diözese nach c. 374 § 1 CIC erweist. Terminologisch ist sie jedoch nicht „Ecclesia localis“. Darüber hinaus – und das macht verstärkt die Entwicklung nach dem Konzil deutlich – erfasst der Begriff „Gemeinde“ auch kirchliche Gemeinschaftsformen unterhalb und neben der Pfarrei (z. B. Hausgemeinde oder Personalgemeinde).46 Prägnant formuliert heißt das: Die Pfarrei kann „Gemeinde“ sein, aber nicht jede „Gemeinde“ ist Pfarrei. 43
Vgl. Ratzinger, Recht der Gemeinde (Anm. 31), S. 304–312.
44
Zu dieser Formel ausführlich Winfried Aymans, Die Communio Ecclesiarum als Gestaltgesetz der einen Kirche, in: AfkKR 139 (1970), S. 69–90 (siehe auch in: Kirchenrechtliche Beiträge zur Ekklesiologie [= KStuT 42], Berlin 1995, S. 17–39). 45 Vgl. beispielsweise SC 42, LG 28, CD 30, AA 30, AG 16, PO 5.6. Im Hinblick auf die einschlägige Textaussage in LG 26 siehe die Erläuterung bei Ratzinger, Recht der Gemeinde (Anm. 31), S. 304 f. 46 Vgl. Siegfried Wiedenhofer, Gemeinde. Systematisch-theologisch, in: LThK3 IV, Sp. 420–421 mit Verweis auf Hermann Wieh, Konzil und Gemeinde. Eine systematischtheologische Untersuchung zum Gemeindeverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in pastoraler Absicht (= FThSt 25), Frankfurt a. M. 1978.
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Folglich trägt der Begriff „communitas“ als solcher etwas in sich, was die Natur der Pfarrei und darüber hinaus auch der Partikular- und Universalkirche auszudrücken vermag, nämlich Gemeinschaft und Vergemeinschaftung derer zu sein, die innerhalb der communio plena Glieder der Kirche innerhalb eines spezifischen Territoriums sind. Man spricht daher auch von der „Diözesangemeinschaft“ (Diözesanfamilie) ebenso wie von der „Pfarreigemeinschaft“ (Pfarrfamilie). Festzuhalten bleibt aber für die konziliare Terminologie, dass der Begriff „Ecclesia“ nur für die Ebenen der Universal- und Partikularkirche verwendet wird, während der Terminus „communitas“ die Kirche vor Ort (nicht die „Ecclesia localis“ als „Ortskirche“!) – sprich Pfarrei, Pfarrgemeinde, Gemeinde und ihre möglichen Unterformen – verbalisiert, in denen die Kirche im authentischen Vollzug von Wort, Sakrament und Caritas erfahrbar wird. Die „communitas“ als die Kirche vor Ort bleibt aber über sich hinaus verwiesen auf jene „Ecclesia“, die als die Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche in communio plena subsistiert und somit die Träger und Handelnde im Vollzug der Heilsgeheimnisse darstellt, welche die Sakramente der Kirche sind. Um diesen Zusammenhang eindeutiger zum Ausdruck zu bringen, bewahrheitet sich mit Blick auf die Taufe das bereits zitierte Wort von Joseph Ratzinger: „Die Taufe kommt nicht aus der einzelnen Gemeinde heraus, sondern in ihr öffnet sich uns die Tür zur einen Kirche, sie ist die Präsenz der einen Kirche, und nur von ihr her … kann sie kommen.“47 Daher drängt sich die Entscheidung von Papst Benedikt XVI. zur Korrektur der Formel zur Bekreuzigung mit dem Kreuzzeichen nahezu von selbst auf, ohne damit die Bedeutung der „communitas“ vor Ort zu schmälern. Die Taufe steht im großen Kontext der ganzen Kirche, auch wenn und gerade weil sie am Ort gespendet wird. Um diesen umfassenden Kontext sichtbar zu machen, bedarf es der Aufrufung und Nennung der „Ecclesia“ im Taufgeschehen. 4. Rituelle Form der Begrüßung? Nun legt sich an dieser Stelle noch der Einwand nahe, bei der Bezeichnung mit dem Kreuzzeichen handele es sich lediglich um einen Begrüßungsritus gegenüber dem Täufling, der zur Taufe hinführe, aber nicht selbst Teil der Taufe sein. Dies komme im verwendeten Verb „excipit“ („aufnehmen“ als „empfangen“ oder „willkommen heißen“) zum Ausdruck, so dass die Nennung der „communitas“ gerechtfertigt sei. Diese repräsentiere die Kirche vor Ort und heiße den Taufbewerber (im Namen der ganzen Kirche) willkommen. 48 Ohne 47
Ratzinger, Ekklesiologie (Anm. 32), S. 587.
48
Vgl. Antwort der Liturgiekommission (Anm. 23), 1.
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Zweifel stimmt es, dass es sich bei der Bekreuzigungsformel um eine Begrüßung handelt, die auf dem Weg zur Taufspendung steht, jedoch davon nicht losgelöst erscheinen kann. Der Gegeneinwand, der von der Gefahr eines Verständnisses des Taufsakramentes spricht, das in eine überkonfessionelle „christliche Gemeinde“ eingliedere, ist daher an dieser Stelle nicht ganz von der Hand zu weisen. Gliedert die Taufe in die Kirche ein (c. 849 CIC), dann muss sie als solche auch benannt werden, auch und gerade als die, welche den Taufbewerber willkommen heißt. Zugleich wird damit eine Verabsolutierung der „communitas“ vor Ort vermieden und der große Zusammenhang dessen aufgezeigt, wer und was die Kirche („Ecclesia“) ist. 5. Ökumenischer Gewinn Insbesondere die Möglichkeit, mit dem Begriff „Ecclesia“ bereits in der Formel zur Kreuzbezeichnung die differenzierte Lehre des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche liturgisch anklingen zu lassen, muss schließlich auch als ein ökumenischer Gewinn der päpstlichen Textkorrektur verstanden werden. Indem der Täufling durch die Kirche Gottes willkommen geheißen und mit dem Zeichen der Erlösung bekreuzigt wird, stellt ihn dieser liturgische Begrüßungsritus in eine Beziehung zur Kirche Jesu Christi, die in der katholischen Kirche voll verwirklicht ist und der er nur als Glied zugehören wird (LG 8.2), jedoch gemäß konziliarer Lehre und kodikarischer Norm auch, wenngleich in unterschiedlicher Dichte in den nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften präsent ist (LG 15). Der katholische Christ wird somit von Beginn seines Daseins an auf diese ökumenische Dimension seines Christ- und Kircheseins verwiesen. Die Taufe drängt zu dem Großen und Weiten des Glaubens, der sich in der Universalität der Kirche ausdrückt und zugleich im Alltäglichen seinen notwendigen Platz findet. So sympathisch und berechtigt daher die Erfahrung der Kirche „vor Ort“ ist, so notwendig ist es aber auch, dieses Große und Weite der Kirche und des Glaubens zu benennen. Das geschieht nun in den Worten zur Bezeichnung mit dem Kreuz aussagekräftiger: „Magno gaudio Ecclesia Dei te (vos) excipit“. Dass mit Damaskēnos Papandreou ein späterer orthodoxer Metropolit diese Korrektur durch seine Anfragen auf den Weg gebracht hat und diese schließlich von einem mit ihm in Freundschaft verbundenen Papst Benedikt XVI. umgesetzt wurde, kann und muss wohl als ein besonderes Zeichen ökumenischer Verbundenheit und Lebendigkeit gewürdigt werden.
Die Sonntagspflicht in moderner Zeit Von Reinhild Ahlers Reinhild Ahlers Anlässlich des Erscheinens einer Studie von Guido Fuchs 1 über das Wochenendverhalten von Katholiken, im Rahmen derer der Würzburger Theologe 300 katholische Pfarrgemeinden befragt hatte, brachte KNA folgende Meldung, die die Ergebnisse der Studie prägnant zusammenfasst: „Der Samstag hat … den Sonntag als Höhepunkt der Woche abgelöst. ‚Der Sonntag ist der Tag, an dem man sich ausruht, auf der Heimfahrt im Stau steht oder – als Alleinstehender – depressiv wird‘ … Der ‚Tag des Herrn‘ gehe förmlich im Wochenende unter. Am Samstag dagegen spiele sich die Freizeit ab, die Menschen kauften ein, machten Ausflüge oder feierten … Die Kirchen müssten diesem veränderten Freizeitverhalten mit ihren Angeboten Rechnung tragen … Bisherige Traditionen wie die Sonntagsmesse um 9.00 Uhr früh passten nicht in den Rhythmus des typischen Wochenendmenschen. Die Kirchen stünden vor der Herausforderung, sich für diese Zei teinteilung zu öffnen, ‚wenn sie verhindern wollen, dass ein Gottesdienstbesuch demnächst als kulturelle Verhaltensanomalie betrachtet wird.“
Und erst kürzlich meldete sich der Benediktiner-Abtprimas Notker Wolf zu diesem Thema zu Wort, indem er das kirchliche Sonntagsgebot kritisierte. „Wie zur Zeit der ersten Christen müsse der Impuls zum regelmäßigen Besuch des Sonntagsgottesdienstes ‚doch aus dem Herzen kommen‘ … Das von der Kirche eingeführte Gebot bezeichnete er als ‚Entwürdigung des Sonntags‘. Dadurch sei das Thema ‚von der Schiene des Glaubens und des Herzens auf eine juristische Bahn‘ gekommen. Er sprach von einer ‚großen Tragik‘ und einem ‚Abstieg‘… die sonntägliche Messe sei ‚die zentrale Feier unseres Glaubens‘ … ‚Aber wenn ich mich nur aus Angst vor Strafen daran halte, ist damit ja noch lange keine innere Überzeugung verbunden.‘“2
Diese beiden Meldungen sollen zum Anlass genommen werden, einige Streiflichter über die Sonntagspflicht und ihre Erfüllung aus kirchenrechtlicher Perspektive zu werfen.
1 Guido Fuchs, Wochenende und Gottesdienst. Zwischen kirchlicher Tradition und heutigem Zeiterleben, Regensburg 2009. 2
KNA vom 7. Juni 2013, S. 8.
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Reinhild Ahlers
I. Die Sonntagspflicht im CIC von 1983 Es ist eines der Verdienste des Eucharistierechtes des CIC, den theologischen Zusammenhang von communio ecclesiastica und communio eucharistica wieder zur Geltung gebracht und rechtlich umgesetzt zu haben. 3 Aus diesem Zusammenhang ergibt sich nicht nur eine grundsätzliche Berechtigung, sondern auch eine Verpflichtung zur Teilnahme an der eucharistischen Feier. Deshalb schreibt der CIC von 1983 ebenso wie der CIC von 1917 (can. 1248 CIC/1917) vor, dass die Gläubigen an Sonn- und Feiertagen zur Teilnahme an der Messfeier verpflichtet sind (c. 1247 CIC/1983). Dabei sind einige terminologische Veränderungen vorgenommen worden, die auch inhaltlich nicht unbedeutend sind. 1. Veränderungen in der Rechtslage In can. 1247 CIC/1917 wurden die zu haltenden Festtage aufgezählt, wobei sich der Sonntag in keiner Weise von den anderen gebotenen Feiertagen abhob. „Die Sonntage sind in der taxativen (‚sunt tantum‘) Aufzählung der Feiertage zwar an erster Stelle genannt, figurieren aber im Grunde in der gleichen einschichtigen Kategorie.“4 Die besondere Bedeutung des Sonntags, die er schon in der frühen Kirche als Tag der Auferstehung und somit als „Herrentag“ hatte, kam auf diese Weise kaum zum Tragen und damit auch nicht die Notwendigkeit, gerade diesen Tag als Gottesdiensttag zu feiern. Das II. Vatikanische Konzil hat die besondere Bedeutung des Sonntags als Tag des Herrn und als Urfeiertag der Christen wieder neu herausgestellt. „Aus apostolischer Überlieferung, die ihren Ursprung auf den Auferstehungstag Christi zurückführt, feiert die Kirche Christi das Pascha-Mysterium jeweils am achten Tage, der deshalb mit Recht Tag des Herrn oder Herrentag genannt wird. An diesem Tag müssen die Christgläubigen zusammenkommen, um das Wort Gottes zu hören, an der Eucharistiefeier teilzunehmen und so des Leidens, der Auferstehung und der Herrlichkeit des Herrn Jesus zu gedenken und Gott dankzusagen, der sie ‚wiedergeboren hat zu lebendiger Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten‘ (1 Petr 1,3). Deshalb ist der Herrentag der Ur-Feiertag, den man der Frömmigkeit der Gläubigen eindringlich vor Augen stellen soll, auf dass er auch ein Tag der Freude und der Muße werde. Andere 3
Vgl. dazu Reinhild Ahlers, Communio Eucharistica. Eine kirchenrechtliche Untersuchung zur Eucharistielehre im Codex Iuris Canonici, Regensburg 1990. 4 Adolf Knauber, Das „Kirchengebot“ der sonntäglichen Eucharistiefeier. Sprachgebrauch und Gehalt, in: Ulrich Mosiek / Hartmut Zapp (Hrsg.), Ius et salus animarum. FS Bernhard Panzram, Freiburg 1972, S. 239–268, 247.
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Feiern sollen ihm nicht vorgezogen werden, wenn sie nicht wirklich von höchster Bedeutung sind; denn der Herrentag ist Fundament und Kern des ganzen liturgischen Jahres“ (SC 106). Der CIC von 1983 hat diese konziliare Lehre aufgegriffen; in c. 1246 CIC wird der Sonntag deutlich von den anderen gebotenen Feiertagen abgehoben und als „primordialis dies festus de praecepto“ bezeichnet. Dementsprechend heißt es in c. 1247 CIC auch nicht mehr wie noch im CIC von 1917: „Festis de praecepto diebus Missa audienda est“ (can. 1248 CIC/1917), sondern: „Die dominica aliisque diebus festis de praecepto fideles obligatione tenentur Missam participandi“ (c. 1247 CIC). Damit ist schon eine weitere terminologische Änderung angesprochen, die inhaltliche Konsequenzen hat. Vermittelte das Verb „audire“ im CIC von 1917 noch das Bild einer Messfeier, bei der die Gläubigen eher passiv zugegen waren, entspricht das Wort „participare“ doch eher dem Sinngehalt des vom II. Vatikanischen Konzil geprägten Ausdrucks „participatio actuosa“. 5 Reinhold Bärenz macht auf eine weitere Änderung aufmerksam, wenn er darauf hinweist, dass der CIC/1917 von den Sonntagen im Plural sprach – „omnes et singuli dies dominici“ (can. 1247 CIC/1917) – und damit die Verpflichtung zur Teilnahme an jedem Sonntag hervorhob, während im CIC/1983 vom Sonntag im Singular die Rede ist – „dies dominica“ (cc. 1246, 1247 CIC) –, womit nicht mehr jeder einzelne Sonntag, sondern der Sonntag grundsätzlich angesprochen ist. „Damit ist eine rechtliche Kasuistik und auch ein rechtlicher Rigorismus überwunden.“6 2. Einige Aspekte zur geschichtlichen Entwicklung der Sonntagspflicht Für die ersten Christen, die den Sonntag als spezifisch christlichen Feiertag noch neben dem jüdischen Sabbat feierten, war es eine „selbstverständlich notwendige Lebensäußerung der Heilsgemeinde“7, sich am Herrentag zu versammeln und das Herrenmahl miteinander zu feiern. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bieten die so genannten Märtyrerakten des 4. Jahrhunderts, in denen von einem Prozess berichtet wird, der am 12. Februar 304 in Karthago stattgefunden hat und bei dem 48 Christen angeklagt waren, sich trotz des Versamm5
Vgl. z. B. VatII SC 48.
6
Reinhold Bärenz, Das Sonntagsgebot. Gewicht und Anspruch eines kirchlichen Leitbildes, München 1982, S. 53. 7
Hubert Müller, Das Sonntagsgebot – Anachronismus oder heilsamer Appell?, in: ThPQ 122 (1974), S. 150–163, 152.
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lungsverbotes des Kaisers Diokletian am Sonntag versammelt zu haben. Nach dem Grund gefragt, antworteten sie, dass Christsein und Sonntagsfeier zusammen gehören.8 Dieser enge selbstverständliche Zusammenhang von Christsein und gemeinsamer Feier driftete im Laufe der Geschichte immer mehr auseinander, was nicht zuletzt auf die Einführung des Christentums als Staatsreligion im Anschluss an die Konstantinische Wende zurückzuführen sein dürfte, was dazu führte, dass Menschen ohne innere Bekehrung zum Christentum kamen und das spezifisch Christliche verblasste.9 Die sonntägliche Versammlung war nicht mehr selbstverständlich, sodass sich verschiedene Synoden des 1. Jahrtausends dazu veranlasst sahen, eine gesetzliche Regelung einzuführen. Einige Synoden drohten auch Strafen für die Nichtbefolgung an.10 Diese Festlegungen waren aber nur partikularrechtliche Normierungen. Eine formalrechtliche Fixierung des Sonntagsgebotes mit universalkirchlicher Geltung erfolgte erst im CIC von 1917. Und auch der CIC von 1983 hält an der rechtlichen Normierung dieser Christenpflicht fest. 3. Bedeutung der Sonntagspflicht als kirchenrechtliche Norm In der eingangs zitierten KNA-Meldung kritisiert Notker Wolf die juristische Fixierung der Sonntagspflicht, da sie doch eine Herzensangelegenheit sein müsste. Diese Auffassung stützen die oben bereits erwähnten Märtyrerakten des 4. Jahrhunderts, die deutlich machen: Man kann nicht Christ sein, ohne gemeinsam Eucharistie zu feiern. Für das Leben des einzelnen Christen, aber auch der christlichen Gemeinschaft hat die Eucharistie eine konstitutive Bedeutung. 11 Daraus ergibt sich ein innerer Verpflichtungscharakter. Die Eucharistiefeier ist daher nicht eine von außen an den Christen herangetragene Bürde, sondern eine wesentliche Form der Verwirklichung des Christseins. Andererseits wird man nicht befürchten müssen, die Tatsache, dass die Sonntagspflicht im CIC normiert ist, führe dazu, dass man sie nur aus Angst vor Strafe befolgt. C. 1247 CIC spricht zwar eine strenge Verpflichtung aus (obliga8
Die Märtyrerakten sind unter den Titel „Saturnius, Dativus und ihre Gefährten“ ab gedruckt und mit weiteren Quellenangaben versehen in: Klaus Gamber, Sie gaben Zeugnis. Authentische Berichte über Märtyrer der Frühkirche, Regensburg 1982, S. 92–99. 9
Vgl. Müller, Sonntagsgebot (Anm. 8), S. 155.
10
Zeitweiser Ausschluss aus der Gemeinschaft (Synode von Elvira, Mansi 9, Sp. 915) oder Zurechtweisung durch Peitschenhiebe (Synode von Szabolcs, Mansi 20, Sp. 763 f.). 11
Vgl. Ahlers, Communio Eucharistica (Anm. 4), v. a. S. 113–118.
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tione tenentur), deren Nichtbefolgung aber keine Rechtsfolgen nach sich zieht. Es handelt sich also um eine so genannte „lex imperfecta“. Dass es solche Gesetze in der kirchlichen Rechtsordnung gibt, bedeutet nicht, dass sich hier Recht und Moral mischen, aber auch nicht, dass sie beziehungslos nebeneinander stehen. So gibt es „Ursprünglich moralische Normen, welche aber zugleich durch die Rechtsetzung der Autorität zu rechtlichen positiviert werden. Der Gesetzgeber anerkennt dadurch gewisse moralische Werte und Güter als rechtlich relevante Werte und Rechtsgüter.“12 Eine weitere Frage stellt sich im Hinblick auf die geforderte sonntägliche Regelmäßigkeit der Mitfeier einer Eucharistie. Dazu schreibt Karl Rahner: „Vom Wesen der Kirche und des Christentums einerseits und vom Wesen der Eucharistie her andererseits wird der Dogmatiker und Moraltheologe mit der ganzen kirchlichen Überlieferung sagen müssen, daß im Normalfall die Mitfeier der Eucharistie als Höhepunkt des Selbstvollzug der Kirche in der Dimension ihrer Geschichtlichkeit und gesellschaftlichen Öffentlichkeit unabdingbar zum Leben des Christen gehört. Eine prinzipielle und von vornherein gewollte Kultlosigkeit würde das christliche Leben als solches und seine Kirchlichkeit aufheben, damit ist aber noch keine bestimmte Häufigkeit der Mitfeier der Eucharistie durch den einzelnen Christen gegeben. Das ‚Sonntagsgebot‘ als Verpflichtung, jeden Sonntag ‚mit Andacht die heilige Messe zu hören‘, ist ein positives Kirchengebot.“13 Rahner sieht also die Eucharistiefeier wohl als wesentlich für die Kirche an, nicht jedoch ihre allsonntägliche Regelmäßigkeit. Und in der Tat gibt es dafür keinen direkten biblischen Beleg. Die Art aber, wie die Apostel und die Urgemeinde den Sonntag verstanden und begangen haben, legt die allsonntägliche Eucharistiefeier zumindest nahe. Auch die Betonung der Bedeutung des Sonntags durch das II. Vatikanische Konzil und den CIC von 1983 untermauert das. Deshalb wird man sagen können: Auf eine gottesdienstliche Feier am Sonntag kann nicht verzichtet werden. Diese gottesdienstliche Feier muss im Normalfall eine Eucharistiefeier sein. II. Erfüllung der Sonntagspflicht Die eingangs zitierte KNA-Meldung von Guido Fuchs wirft die Frage auf, wie die Sonntagspflicht in einer modernen und weitgehend säkularen Welt und 12
Hans Heimerl / Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien 1983, S. 8–9. 13 Karl Rahner, in: Karl Rahner / Wilhelm Thüsing / Emil Josef Lengeling, Eucharistiefeier der Kirche und Sonntagspflicht des Christen, in: Fragen der Kirche heute, hrsg. von Adolf Exeler, Würzburg 1971, S. 35–37, 35 f.
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Zeit, in der der Sonntag zum reinen Erholungstag geworden ist, angemessen erfüllt werden kann. Die reguläre Form ist der Kirchgang am Sonntag selbst, wobei natürlich die Zeiten auf die Bedürfnisse der Gläubigen abgestimmt werden müssen. Daneben bietet der CIC von 1983 die Möglichkeit der Erfüllung der Sonntagspflicht am Vorabend an. 1. Vorabendmesse Der Hinweis in c. 1248 § 1 CIC, dass dem Gebot zur Teilnahme an der Messfeier auch am Vorabend eines Feiertages Genüge getan werden kann, ist eine Neuerung gegenüber dem CIC von 1917. Das II. Vatikanische Konzil kann als Wegbereiter dieser pastoralen Möglichkeit bezeichnet werden, wenn es im Dekret über die Ostkirchen formuliert: „Damit die Gläubigen diese [Sonntags-]Pflicht leichter erfüllen können, wird festgelegt, daß die Frist zur Erfüllung dieser Pflicht mit dem Abend des Vortages beginnt und bis zum Ende des Sonn- oder Feiertags läuft“ (OE 15). Und in der Liturgiekonstitution heißt es: „das liturgische Jahr soll so geordnet werden, dass die überlieferten Gewohnheiten und Ordnungen der heiligen Zeiten beibehalten oder im Hinblick auf die Verhältnisse der Gegenwart erneuert werden; jedoch soll der ursprüngliche Charakter der Zeiten gewahrt bleibt, damit die Frömmigkeit der Gläubigen durch die Feier der christlichen Erlösungsgeheimnisse, ganz besonders des Pascha-Mysteriums, genährt werde“ (SC 107).14 Das erste nachkonziliare Dokument, das die Frage der Vorabendmesse behandelte, war die Instruktion der Ritenkongregation über die Eucharistie aus dem Jahr 1967.15 Danach kann der Apostolische Stuhl entscheiden, ob und wo die Vorabendmesse eingeführt wird. Die Seelsorger werden angewiesen, in ihrer Verkündigung darauf hinzuwirken, dass durch die Vorabendmesse nicht der Sinn des Sonntags verdunkelt wird. Die Einführung der Vorabendmesse wird so begründet: „… diese Erlaubnis zielt darauf hin, daß die Gläubigen unter den heutigen Umständen den Tag der Auferstehung des Herrn leichter feiern können.“16 Im Zuge der Reform des CIC fand die Vorabendmesse erstmals im Schema über die heiligen Orte und Zeiten von 1977 Erwähnung, und zwar im Zusam14 Aus den Schemata und den Diskussionen um diese Textstelle geht hervor, dass es auch um die Frage der Vorverlegung der Sonn- und Feiertage auf den Samstag ging: vgl. besonders Acta Synodalia II/3, S. 274. 15 Sacra Congregatio Rituum, Instructio de cultu mysterii eucharistici „Eucharisticum mysterium“ vom 25. Mai 1967, in: AAS 59 (1967), S. 539–573 (= NKD 6). 16
Ebd., S. 556.
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menhang mit der Berechnung der Feiertage, allerdings mit dem einschränkenden Hinweis auf partikulares Recht. Can. 1199 SchemaCIC von 1980 hatte bereits den gleichen Wortlaut wie c. 1248 § 1 CIC/1983. Damit wird die Möglichkeit der Vorabendmesse generell und gesamtkirchlich eingeräumt, jetzt im Zusammenhang mit der Sonntagspflicht. Im Anschluss an Guido Fuchs kann gefragt werden, ob die Einführung der Vorabendmesse eine angemessene Antwort auf die Fragen der Zeit sein kann. Bereits in den 1980er Jahren wurde innerkirchlich über den Schutz des Sonntages diskutiert, weil schon damals die Befürchtung geäußert wurde, den Sonntag zu nivellieren und jedem anderen Arbeitstag gleichzumachen oder aber ihn zu einem reinen Freizeit- und Vergnügungstag werden zu lassen, an dem der Besuch eines Gottesdienst nur als lästige Zeitverschwendung erscheint. 17 Die Begründung der Ritenkongregation für die Einführung der Vorabendmesse, dass die Sonntagsfeier unter den heutigen Lebensumständen erleichtert werden soll, kann leicht in diese Richtung missgedeutet werden. Der eigentliche Grund für die Legitimität der Vorabendmesse ist jedoch ein anderer. Nach alter Tradition der Kirche, die aus der jüdischen Tradition übernommen wurde, beginnt der Sonntag mit der Vesper des Vortages. Und deshalb ist die Vorabendmesse eine legitime Möglichkeit, auf das von Guido Fuchs beschriebene Szenario zu reagieren. 2. Priesterloser Wortgottesdienst am Sonntag In Zeiten zurückgehender Priesterzahlen kann an manchen Orten am Sonntag keine Eucharistie gefeiert werden, sodass es den Gläubigen nicht möglich ist, der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Messfeier nachzukommen. Für diesen Fall sieht c. 1248 § 2 CIC vor: „Wenn wegen Fehlens eines geistlichen Amtsträgers oder aus einem anderen schwerwiegenden Grund die Teilnahme an 17 Vgl. Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 26. 08. 1985: „Der Sonntag muß geschützt bleiben“, in: ABl. Augsburg 95 (1985), S. 486–489; Zukunft des christlichen Sonntags in der modernen Gesellschaft. Grundsätzliche Überlegungen der Kommission 8 „Pastorale Grundfragen“ des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken vom 02. 11. 1987, o. O. o. J. (Bonn 1988), Gemeinsame Erklärung des Präsidenten der Schweizer Bischofskonferenz, des Präsidenten des Vorstandes des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes und des Bischofs und Synodalrates der Christkatholischen Kirche der Schweiz vom 20. 06. 1985 zur Frage des Sonntagsarbeitsverbotes, in: SKZ 154 (1986), S. 461 f., Erklärung der Österreichischen Bischofskonferenz vom 20. 03. 1986 zum Sonntag, in: ABl. Wien 124 (1986), S. 37 f.
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einer Eucharistiefeier unmöglich ist, wird sehr empfohlen, daß die Gläubigen an einem Wortgottesdienst teilnehmen, wenn ein solcher in der Pfarrkirche oder an einem anderen heiligen Ort gemäß den Vorschriften des Diözesanbischofs gefeiert wird, oder daß sie sich eine entsprechende Zeit lang dem persönlichen Gebet oder dem Gebet in der Familie oder gegebenenfalls in Familienkreisen widmen.“ Dieser kodikarische Text findet seine Vorlage in der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils: „Zu fördern sind eigene Wortgottesdienste an den Vorabenden der höheren Feste, an Wochentagen im Advent oder in der Quadragesima sowie an den Sonn- und Feiertagen, besonders da, wo kein Priester zur Verfügung steht; in diesem Fall soll ein Diakon oder ein anderer Beauftragter des Bischofs die Feier leiten“ (SC 35, 4). Aus den Diskussionen um die Liturgiekonstitution geht hervor, daß diese Textstelle hauptsächlich auf die Interventionen zweier argentinischer Bischöfe zurückgeht, die dabei vor allem auf die seelsorgliche Not in ihrer Heimat hinwiesen.18 Das Problem ist jedoch längst auch in vielen Ländern Europas angekommen. Kirche kann ohne Eucharistie nicht existieren, einer Pfarrei ohne Eucharistiefeier fehlt ein Konstitutivum. So bestimmt c. 528 CIC: „Der Pfarrer hat dafür Sorge zu tragen, daß die heiligste Eucharistie zum Mittelpunkt der pfarrlichen Gemeinschaft der Gläubigen wird“. Die Eucharistiefeier ist die adäquate Form, den Sonntag als Tag des Herrn zu heiligen und zu feiern. Deshalb kann der priesterlose Wortgottesdienst als Alternative für die sonntägliche Eucharistiefeier nur die Ausnahme sein.19 Zwar ist der Aspekt der Gemeinschaft, der eine Pfarrgemeinde zusammenführt und zusammenhält, wichtig und nicht zu unterschätzen; insofern kann es durchaus sinnvoll sein, dass eine nichteucharistische gottesdienstliche Feier am Sonntag stattfindet. Andererseits darf diese Gemeindeversammlung nicht zu einer soziologischen und psychologischen Übung werden, in der die jeweilige Gemeinde nur noch sich selber feiert. 20 Es darf deshalb nicht versäumt werden, die Gläubigen gut auf die Durchführung solcher Wortgottesdienste vorzubereiten, die Vielfalt der gottesdienstlichen Formen zu pflegen und immer wieder Verbindungslinien zur Eucharistiefeier herzustellen.21
18
Acta Synodalia I/1, S. 521 und 525.
19
So ist z. B. im Bistum Münster die Leitung von Wortgottesdiensten durch Laien nur für Werktage vorgesehen: ABl. Münster CXXXV (2001), Art. 127. 20 Vgl. Joseph Ratzinger, Zum Sinn des Sonntags, in: KlBl 65 (1985), S. 209–214, 213 f. 21
Vgl. Ahlers, Communio Eucharistica (Anm. 4), S. 168 mit weiteren Quellenangaben.
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Auch c. 1248 § 2 CIC vermittelt den Charakter einer Ausnahmebestimmung.22 Das wird zum einen dadurch deutlich, dass die Norm von einer Unmöglichkeit der Teilnahme an einer Eucharistiefeier ausgeht, und zwar wenn ein geistlicher Amtsträger fehlt oder aus einem anderen schwerwiegenden Grund. Durch diese einschränkenden Formulierungen weist das kirchliche Gesetzbuch darauf hin, dass ein priesterloser Wortgottesdienst die Eucharistiefeier nicht adäquat ersetzen kann, die immer die eigentliche Form der sonntäglichen Gemeindeversammlung bleiben muss. Zum anderen ist zu beachten, dass es sich in c. 1248 § 2 CIC um eine – wenn auch sehr eindringliche – Empfehlung handelt, die der Gesetzgeber ausspricht. Zwar hat auch die sonntägliche Eucharistieverpflichtung nach c. 1247 CIC letztendlich ihre Verpflichtungskraft im Gewissen des Einzelnen, aber die Empfehlung zur Teilnahme an einem priesterlosen Wortgottesdienst am Sonntag hat eine andere Qualität, da sie nicht als Erfüllung der Sonntagspflicht des Christen bezeichnet werden kann. Das soll in keiner Weise die pastorale Nützlichkeit dieser Gottesdienstform sowohl für den einzelnen Gläubigen als auch für die Gemeinde als ganze bestreiten. Die Aussageabsicht des c. 1248 § 2 CIC ist die, dass es legitim und sinnvoll ist, eine andere Form des Gottesdienstes zu feiern, wenn es nicht möglich ist, eine Eucharistie zu feiern. Der Empfehlungscharakter dieser Norm dient jedoch dazu, im Blick zu behalten, dass die Eucharistiefeier die adäquate Form der Sonntagsheiligung ist. 3. Ökumenische Gottesdienste am Sonntagvormittag Im Jahr 1994 haben die deutschen Bischöfe eine Erklärung bezüglich ökumenischer Gottesdienste23 herausgegeben. Während bis dahin ökumenische Wortgottesdienste nur an Werktagen bzw. an Sonntagnachmittagen gefeiert werden durfte, eröffnet die Erklärung erstmals in Deutschland die Möglichkeit, einen ökumenischen Wortgottesdienst am Sonntagvormittag zu feiern. Auch in diesem Papier weisen die deutschen Bischöfe auf die Wichtigkeit der Eucharistie für die Feier des Herrentages hin. „Seit apostolischer Zeit feiert die Kirche den Sonntag als ‚Tag des Herrn‘. Der wöchentlich wiederkehrende Feiertag ist wesentlich ‚Zeichen‘ für die Heilswirklichkeit der ‚neuen Schöpfung‘, die mit der Auferstehung Christi angefangen hat und an Ende der Tage vollendet wird. In Treue zum Vermächtnis und Auftrag des Herrn ‚Tut dies zu meinem Ge22
Der § 2 des c. 1248 CIC/1983 wurde auch erst in der Phase der Endredaktion auf genommen; noch im SchemaCIC von 1982 fehlt dieser Paragraph. Man wollte die Frage zunächst der pastoralen Sorge überlassen, statt neue juristische Verpflichtungen zu schaffen; vgl. Comm. 12 (1980), S. 361. 23
Abgedruckt z. B. in: ABl. Münster CXXVIII (1994), Art. 115.
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dächtnis‘ hält die katholische Kirche den Sonntag heilig durch die Feier der heiligen Eucharistie.“24 Deshalb hat – so argumentieren die Bischöfe weiter – die Eucharistie einen anderen Stellenwert als ein ökumenischer Wortgottesdienst. „Da die sonntägliche Eucharistiefeier für das christliche Leben und den Aufbau der christlichen Gemeinde einen unverzichtbaren Wert hat, können ökumenische Gottesdienste sie nicht ersetzen. Diese haben deshalb stets einen Ausnahmecharakter.“25 Auch priesterlose Wortgottesdienste aufgrund des Fehlens eines Priesters können nicht als ökumenischer Gottesdienst gefeiert werden, weil sie „an der katholischen Sonntagsliturgie und Sonntagsspiritualität orientierte Feierordnungen“ haben.26 Favorisiert wird von den Bischöfen, „daß die verschiedenen Gemeinden bei besonderen Anlässen zunächst je einzeln feiern und anschließend zu einer ökumenischen Feier zusammenkommen.“27 Wo dies nicht möglich ist, können ökumenische Gottesdienste an Sonntagen und kirchlichen Feiertagen am Vormittag stattfinden. Gefordert werden dazu bestimmte Fälle und wichtige Gründe, die ausdrücklich benannt werden: besondere ökumenische Ereignisse der Gemeinde; herausragende Ereignisse der politischen Gemeinde auf Ortsebene; überörtliche Großveranstaltungen von besonderem Rang.28 Zu beachten ist, dass der Besuch eines ökumenischen Gottesdienstes für den Katholiken nicht die Erfüllung der Sonntagspflicht bedeutet. Deshalb muss die Möglichkeit zur Mitfeier an einer Eucharistiefeier gewährleistet sein.29 Durch eine Begrenzung der Zahl der ökumenischen Gottesdienste soll ihr Ausnahmecharakter deutlich werden. Außerdem muss der Pfarrer, der immer – auch bei Ereignissen der politischen Gemeinde – das Heft des Handelns in der Hand haben muss, für jeden ökumenischen Gottesdienst eine Genehmigung des Generalvikariates einholen.30 „Jedem ökumenischen Gottesdienst sollte ein echtes spirituelles Bedürfnis zugrundeliegen. Andere Motive, wie zum Beispiel Verschönerung eines Vereinsfestes, kirchenfremde Anlässe oder Konzessionen an Gruppeninteressen können solche Gottesdienste am Sonntag nicht rechtfertigen. In jedem Fall sollten ökumenische Gottesdienste eingebettet sein in ein aktives ökumenisches Leben der Gemeinde.“31 24
Ebd., Rdnr. 1–2.
25
Ebd., Rdnr. 5.
26
Ebd., Rdnr. 6.
27
Ebd., Rdnr. 7.
28
Vgl. ebd., Rdnr. 7.
29
Vgl. ebd., Rdnr. 8.
30
Vgl. ebd., Rdnr. 9.
31
Ebd., Rdnr. 10.
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III. Die Sonntagspflicht – eine kulturelle Verhaltensanomalie? Die von Guido Fuchs formulierte Befürchtung, der Gottesdienst am Sonntag könnte zu einer „kulturellen Verhaltensanomalie“ werden, ist sicher in bestimmten Gebieten bereits Realität. Während es in ländlichen, vorwiegend katholisch geprägten Gegenden noch relativ üblich sein dürfte, sonntags in die Kirche zu gehen, gehört das in Großstädten nicht mehr unbedingt zur Normalität. Dennoch ergibt sich aus dem engen Zusammenhang von communio ecclesiastica und communio eucharistica, dass die Feier der Eucharistie konstitutiv zur Kirche und zum Christsein gehört. Als Tag der Auferstehung des Herrn ist dafür der Sonntag der angemessene Feiertag. Nur durch die Eucharistiefeier wird er adäquat geheiligt. Alle anderen Feiern können nur Notlösungen aufgrund von Priestermangel bzw. Ausnahmefälle in besonderen Situationen sein. In einer Zeit und in einer Umwelt, in der der sonntägliche Kirchgang nicht mehr selbstverständlich ist, setzen Christen, die ihn dennoch praktizieren, ein Zeichen. Insofern sollte man nicht von einer „kulturellen Verhaltensanomalie“ sprechen, sondern eher von einem christlichen Glaubenszeugnis.
Überlegungen zum Glauben der Ehegatten als Konstitutivum des Ehesakramentes Überlegungen zum Glauben der Ehegatten als Konstitutivum Von Dominik Burghardt Dominik Burghardt Das Thema ist seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung, und auch in jüngster Zeit verstummt die kirchenöffentliche Auseinandersetzung damit nicht: Es geht um die Frage des Umgangs mit der Problematik der geschiedenen und zivil wiederverheirateten Personen. Erst im Oktober 2013 hat eine Handreichung des Freiburger Seelsorgeamtes1 zum pastoralen Umgang mit dieser Situation für Aufsehen gesorgt, und auch Papst Franziskus, der für Oktober 2014 eine Sonderbischofssynode über „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung“ einberufen hat, äußerte sich auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro am 28. Juli 2013 auf die Frage eines Journalisten zur Situation der wiederverheirateten Geschiedenen und deren Möglichkeiten hinsichtlich der Zulassung zu den Sakramenten: „Eines der Themen, die mit diesen acht Mitgliedern des Kardinal-Rates … zu behandeln sein werden, ist die Frage, wie es in der Ehe-Pastoral weitergehen soll, und dieses Problem wird dort zur Sprache kommen … Wir sind unterwegs zu einer etwas vertieften Ehe-Pastoral.“2 Viele Möglichkeiten einer erneuerten Sicht auf die Ehe sind bisher erwogen worden, und oft wird dabei auch die Frage gestellt, ob es nicht vielleicht doch einen kirchlich gangbaren Ausweg für die wiederverheiratet Geschiedenen geben könnte. Stellvertretend für unzählige Veröffentlichungen und Lösungsansätze zum Thema sei hier nur verwiesen auf den jüngst erschienenen Lösungsvorschlag „… bis dass der Tod euch scheidet?“ von Thomas Ruster, Professor für Systematische Theologie an der Universität Dortmund, und seiner Ehefrau Heidi Ruster, Leiterin der Katholischen Ehe- und Familienberatungsstelle in
1 Die zunächst nur als vorläufiger Impuls zur Debatte gedachte, interne „Handrei chung für die Seelsorge zum Begleiten von Menschen in Trennung, Scheidung und nach ziviler Wiederheirat“ ist als Download zu finden unter http://www.familienseelsorge-freiburg.de/html/wiederheirat452.html. 2
Vgl. dazu Armin Schwibach, Das ‚bonum coniugum‘ und die ohne Glauben geschlossene Ehe, veröffentlicht am 17. 09. 2013 unter www.kath.net/news/42588.
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Bonn.3 Die Eheleute Ruster legen darin eine profunde Darstellung der gegenwärtigen Situation vor, sowohl aus der Sichtweise der Theologie des Ehesakraments als auch aus der Erfahrung des Umgangs mit Betroffenen und nicht zuletzt der eigenen, langjährigen Eheerfahrung. Dem eigentlichen Ergebnis der Autoren – der kirchlichen Akzeptanz von Zivilehen geschiedener Getaufter als „Beziehungswirklichkeiten eigener Art“4, die weder die Gültigkeit noch die Unauflöslichkeit der sakramentalen Erstehen in Frage stellen – mag man aus vielerlei Gründen durchaus skeptisch gegenüberstehen. Durchaus bedenkenswert aber erscheint die These der Autoren: „Die von der Theologie stets vorausgesetzte natürliche Ordnung der Ehe ist heute nicht mehr in Kraft!“5 Diese zunächst revolutionär erscheinende These basiert auf der Erkenntnis, dass die zentralen Wesenseigenschaften der Ehe – ihre Einheit und vor allem Unauflöslichkeit – in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr allgemein akzeptiert werden. Nun mag man den Autoren entgegenhalten, dass die ontologische Eigenart der Ehe nicht einer mehr oder weniger gegebenen, zeitabhängigen Akzeptanz unterliege, und in der Tat sind hier Präzisierungen wünschenswert. Fakt aber ist, dass Partnerschaften – auch ehelicher Art – heutzutage keineswegs mehr unter der Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung um jeden Preis gesehen werden. Dem widerspricht nicht der nach wie vor auch in der jungen Generation vorhandene und geltend gemachte Wunsch nach Treue, Dauerhaftigkeit und Ausschließlichkeit in Beziehungen. Dass es ein Leben lang „mit uns klappt“ – das wird durchaus gewünscht, aber sicher ist das keineswegs, und mit weitgehender wirtschaftlicher Unabhängigkeit beider Partner erscheint es auch gar nicht mehr notwendig, sein gesamtes weiteres Leben in einer Partnerschaft zu verbringen, in der es eben „nicht mehr klappt“, in der sich die Bedürfnisse und Eigenarten der Partner im Laufe der Zeit auseinander entwickelt haben und in der auch Kinder nicht mehr der „Klebstoff“ sind, der die eigentlich längst auseinander gelebten Partner langfristig trotzdem zu binden vermag. Wenn zudem das zivilrechtliche Eheverständnis – nicht zuletzt durch die faktische Gleichbehandlung nichtehelicher Lebensgemeinschaften auf vielerlei Ebenen sowie von „Lebenspartnerschaften“ Homosexueller – einer immer weitergehenden Relativierung der Ehe zwischen Frau und Mann das Wort redet, kann von einem allgemein angenommenen, gewissermaßen „natürlichen“ Konsens der Menschen in Bezug auf das Wesen der Ehe nicht mehr ausgegangen werden. In Folge dessen kann auch nicht mehr allgemein davon ausgegangen werden, dass derjeni3
Thomas und Heidi Ruster, … bis dass der Tod euch scheidet? Die Unauflöslichkeit der Ehe und die wiederverheirateten Geschiedenen. Ein Lösungsvorschlag, München 2013. 4
Vgl. Ruster, … bis dass der Tod (Anm. 3), S. 187 f.
5
Ruster, … bis dass der Tod (Anm. 3), S. 27, von den Autoren kursiv gesetzt.
Überlegungen zum Glauben der Ehegatten als Konstitutivum
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ge, der in der heutigen Zeit eine Ehe schließt, quasi automatisch jene Inhalte und Wesenseigenschaften der Ehe intendiert, die auch dem katholischen Eheverständnis zugrunde liegen. Umso deutlicher tritt in einer solchen gesellschaftlichen Situation das Proprium des katholischen, sakramentalen Eheverständnisses hervor. Hierbei geht es eben nicht um eine Partnerschaft auf Zeit, die den Schwankungen der persönlichen Gefühlslage unterliegt und nur so lange als bestehend angesehen wird, wie sie für beide Partner zu einer in emotionaler Hinsicht einigermaßen befriedigenden Gesamtsituation führt. Sondern es geht um eine – nicht bloß quantitativ bzw. temporär zu verstehende – „Gemeinschaft des ganzen Lebens“ (vgl. c. 1055 § 1 CIC), in der „die Ehegatten von Gott zu einem Abbild der unverbrüchlichen Einheit Christi mit der Kirche verbunden und mit der sakramentalen Gnade gleichsam geweiht und gestärkt werden“ (c. 776 § 2 CCEO ), wie es der Codex der Katholischen Orientalischen Kirchen sehr treffend ausdrückt. Dies ist ein Eheverständnis, das man heutzutage nicht einfach „im Vorbeigehen mitnehmen“ kann – dafür muss man sich zumindest mit einem grundsätzlichen Bewusstsein entscheiden. Denn wer seine Ehe so versteht, wie es in den kirchlichen Dokumenten und Codices zum Ausdruck kommt, kann sie eo ipso nicht mehr als allein auf Erfüllung gegenseitiger emotionaler Bedürfnisse angelegte Zweisamkeit „so lange es gut geht“ verstehen. Ehe ist dann etwas, das an der Totalität der Lebenshingabe Christi teilhat. Aber machen wir es den heutigen Menschen nicht viel zu schwer, wenn wir als Kirche derartige Vorstellungen mit der ehelichen Partnerschaft verbinden? Wird hier nicht etwas so hoch gehängt, dass sprichwörtlich „keiner mehr drankommt“? Es mag sein, dass hier ein Anspruch erhoben wird, der heutzutage allenfalls von einer Minderheit – selbst unter getauften Christen – geteilt wird. Es kann auch gar nicht darum gehen, von allen Eheschließungswilligen eine subjektive, reflektierte „Theologie der Ehe“ zu erwarten, die diesen Anspruch bis ins Tiefste durchdacht und sich zu eigen gemacht hat. Es muss aber zumindest daran festgehalten werden, dass derjenige, der eine sakramentale Ehe schließt, sich in einem gewissen Mindestmaß bewusst ist, hier etwas zu tun, was von einer – im Grunde nicht unplausiblen – Partnerschaft gegenseitiger emotionaler Erfüllung „so lange es gut geht“ zu unterscheiden ist. Kurz gesagt: Sakramentale Ehe ist heute nicht mehr denkbar ohne ein Mindestmaß an Bejahung dieses jede rein „natürliche“ Sichtweise übersteigenden Aspektes – der nur im Glauben wahrgenommen werden kann. Oder umgekehrt gesagt: Dort, wo Eheschließung stattgefunden hat ohne ein Mindestmaß an Glauben bzw. aktiver Bejahung (nicht bloß Nicht-Ausschließung) dieser sakramentalen Dimension, kann nicht mehr schlechthin von einem Vorliegen einer sakramentalen Ehe ausge-
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gangen werden. Wenn c. 1099 CIC 6 also sagt, dass ein „Irrtum über … die sakramentale Würde der Ehe“ den Ehekonsens nicht beeinträchtige, „sofern er nicht den Willen bestimmt“, bedarf dies nach heutigen Gesichtspunkten einer sehr engen Auslegung.7 Denn die Vorstellung, die Taufe beider Eheleute, verbunden mit einer recht allgemeinen Vorstellung von Ehe, genüge in jedem Falle zum Zustandekommen des Ehesakramentes, impliziert einen gewissen sakramentalen „Automatismus“ und wird zurecht von Libero Gerosa als „im Widerspruch zu … der Communio-Ekklesiologie und der wiederentdeckten kirchlichen Dimension der Sakramente, die beide vom Zweiten Vatikanum entwickelt wurden“8, empfunden. In der Tat scheint mit c. 1099 CIC – ebenso wie mit c. 1101 § 2 CIC 9 oder den Möglichkeiten, das Ehesakrament ohne jegliche liturgische Eheschließungsform zu empfangen10 – nach wie vor ein gewisser sakramentaler Automatismus vorzuliegen: Es genügt, dass die Partner getauft sind und einen Konsens zum Ausdruck bringen, der ein „natürliches“ Eheverständnis beinhaltet. Das mag in Einzelfällen auch völlig ausreichend sein, und die Aussage Papst Johannes Pauls II. bleibt durchaus in Kraft: „Wenn sich ein Mann und eine Frau daher entschließen, eine Ehe im Sinne dieses Schöpfungsplanes miteinander einzugehen, das heißt, sich durch ihren unwiderruflichen ehelichen Konsens für 6
C. 1099 CIC/1983: „Ein Irrtum über die Einheit oder die Unauflöslichkeit oder die sakramentale Würde der Ehe beeinträchtigt den Ehekonsens nicht, sofern er nicht den Willen bestimmt.“ 7
Vgl. dazu Bruno Primetshofer, Der Ehekonsens § 86, in: HdbKathKR², Regensburg 1999, S. 935 f.: „Wenn aber ein nichtkatholischer Christ oder nichtpraktizierender Katholik einer völlig säkularisierten Eheauffassung anhängt, derzufolge die Ehe im Sinne des staatlichen Rechts als grundsätzlich jederzeit auflösbar betrachtet wird […] dann ist das Fehlen einer Bereitschaft, eine Ehe im Sinne der Kirche zu schließen, wohl auch dann anzunehmen, wenn kein positiver Distanzierungsakt mehr erfolgt ist.“ 8
Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (AMATECA XII), Paderborn 1995, S. 282.
9
C. 1101 § 2 CIC/1983: „Wenn aber ein oder beide Partner durch positiven Willensakt die Ehe selbst oder ein Wesenselement der Ehe oder eine Wesenseigenschaft der Ehe ausschließen, ist ihre Eheschließung ungültig.“ 10 Etwa im Falle der Dispens von der Formpflicht bei Mischehen gem. c. 1127 § 2 CIC oder bei der sanatio in radice gem. c. 1161 CIC. Thomas Rusters (Anm. 3, S. 136) Kritik scheint hier nicht ganz unberechtigt zu sein: „Ich weiß nicht, wie hoch der Pro zentsatz der Ehen ist, die nach kirchlicher Auffassung sakramentale Ehen sind, ohne dass die Eheleute dies überhaupt wissen; vielleicht würden sie es sogar explizit ablehnen. Ist das nicht eine Entehrung des Sakraments? Was soll man von einer Gnade Gottes halten, die ohne Wissen oder ohne Zustimmung der Beteiligten gegeben wird, die demgemäß auch gar keine Wirkungen hat?“
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ihr ganzes Leben zu lebenslanger Liebe und unbedingter Treue zu verpflichten, dann ist in diesem Entschluss tatsächlich, wenn auch nicht ganz bewusst, eine Haltung tiefen Gehorsams vor dem Willen Gottes enthalten, die es ohne seine Gnade nicht geben könnte.“11 Wenn dies tatsächlich der Fall ist – Eheleute, die trotz eines nicht expliziten Glaubens den in katholischer Sichtweise interpretierten (!) „Schöpfungsplan“ bejahen, einen „unwiderruflichen ehelichen Konsens für ihr ganzes Leben“ eingehen und sich dabei zu „lebenslanger Liebe“ und „unwiderruflicher Treue“ verpflichten – soll die Möglichkeit einer wahren, sakramentalen Ehe auch im Falle des defizitären oder gar nicht vorhandenen christlichen Glaubens hier keinesfalls bestritten werden. In Frage zu stellen bleibt aber, ob ein solches hier vom Papst skizziertes Eheverständnis heutzutage – erst recht gut eine Generation nach Familiaris consortio – noch zum allgemeinen Ausgangspunkt einer Beurteilung von Ehen, die außerhalb eines klaren katholischen Kontextes zustande gekommen sind, gemacht werden kann. Und selbst bei „katholischen Ehen“ sind Probleme keineswegs ausgeschlossen. In einer Zeit, in der beispielsweise in Deutschland nur noch durchschnittlich knapp 12 % der getauften Katholiken regelmäßig die Sonntagsmesse besuchen12 (und davon wahrscheinlich noch verhältnismäßig mehr aus der älteren als aus der eher „heiratsfreudigen“ Generation zwischen 20 und 40 Jahren), ist nicht per se davon auszugehen, dass jeder, der kirchlich heiratet, zumindest gemäß klassischer Sakramententheologie wirklich intendiert, „zu tun, was die Kirche tut“.13 11
Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“, 1981, Nr. 68. 12
Vgl. zur Statistik Deutsche Bischofskonferenz, Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2012/13, zu finden unter www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen %20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Allgemein_Zahlen_und_Fakten/AH_263.pdf, S. 20. Die Zahl katholischer Eheschließungen lag demnach im Jahre 2012 in Deutschland bei 47.161. Das entspricht knapp 0,4 % der getauften Katholiken bzw. 3,3 % der Messbesucher. 13 Zur Illustration mag folgendes, recht offenes „Bekenntnis“ eines anonymen Teilnehmers eines Internetforums dienen, der in Bezug auf den Wunsch seiner Freundin, bald kirchlich heiraten zu wollen, schreibt: „Im Allgemeinen ist es ja das Beste, einfach das zu machen, was Frau will, um Ärger aus dem Weg zu gehen, aber bei diesem Fall hab ich tatsächlich so einige Probleme damit. Ich bin zwar noch katholisch, aber kein bisschen gläubig. Man kann halt als Kind das eher schlecht selbst entscheiden und schwimmt mit der Masse mit. Ich glaube einfach an die Realität und werde auch nicht mehr zu Gott finden. Auch meine Freundin ist nicht wirklich gläubig, sondern braucht diese Hochzeit mit weißem Brautkleid usw. weil’s für sie der wichtigste Tag im Leben wird usw. bla…bla…bla. […] Eigentlich sollte ich einen Tag lang, wenn es soweit ist, einfach die Zähne zusammen beißen und das hinter mich bringen, aber ich würde mich
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Es ist bemerkenswert, dass Papst Benedikt XVI. die konstitutive Bedeutung des Glaubens für die sakramentale Ehe bei seiner letzten Neujahrsansprache an die Römische Rota thematisiert hat. Zwar möchte auch er erklärtermaßen „keineswegs einen einfachen Automatismus zwischen mangelndem Glauben und Ungültigkeit der Ehe postulieren“.14 Dennoch ist es sein Anliegen, hervorzuheben, „wie ein solcher Mangel, wenngleich nicht notwendigerweise, auch die Güter der Ehe verletzen kann, da die Bezugnahme auf die von Gott gewollte natürliche Ordnung dem Ehebund innewohnt …“ Der Papst baut dabei seine Argumentation auf dem bonum coniugum, dem Wohl der Ehegatten, auf. Es könne Fälle geben, „in denen durch fehlenden Glauben das Gut der Eheleute beeinträchtigt und daher vom Konsens ausgeschlossen ist: zum Beispiel im Falle einer Verwirrung der Ordnung durch einen der Ehepartner aufgrund eines falschen Verständnisses des Ehebunds, des Gleichheitsprinzips oder im Falle einer Ablehnung der dualen Vereinigung, die den Ehebund kennzeichnet, im Zusammenhang mit dem möglicherweise gleichzeitig bestehenden Ausschluss der Treue und dem Vollzug des Geschlechtsaktes ‚humano modo‘.“ Mit dieser Argumentation zeigt Benedikt XVI., dass ein Defizit im Bereich des Glaubens der Eheschließenden dazu imstande ist, Defizite in anderen, substantiellen Bereichen des ehelichen Lebens nach sich zu ziehen. Und man könnte noch ergänzen: In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft wie der unseren wird es nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel sein, dass ein Defizit im Glauben auch Defizite im Verständnis von ehelichen Werten wie lebenslanger Dauer, Einmaligkeit oder auch Offenheit für Kinder mit sich bringt. Wenn aber nach allem bisher Gesagten der Glaube der Eheleute gerade in der heutigen Zeit als konstitutiv für das Zustandekommen einer sakramentalen Ehe gesehen werden kann, was spricht dann dagegen, ihn stärker als bisher in der kirchlichen Rechtsordnung zu verankern? Papst Johannes Paul II. selber hat in Familiaris consortio seine Bedenken dagegen geltend gemacht: „Wollte man zusätzliche Kriterien für die Zulassung zur kirchlichen Eheschließung aufstellen, die den Grad des Glaubens der Brautleute betreffen sollten, würde das außerdem große Risiken mit sich bringen: zunächst jenes, unbegründete und diskriminierende Urteile zu fällen; dann das Risiko, zum großen Schaden der einfach selber anlügen und weiß nicht, ob ich damit klar komme.“ Zitiert nach www. lovetalk.de/probleme-in-der-beziehung/156399-kirchliche-hochzeit.html, dort veröffentlicht am 20. 08. 2013 (Rechtschreibfehler korrigiert). 14 Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota vom 26. 01. 2013, hier und im Folgenden zitiert nach „Zur Würde eines Sakramentes erhoben“ in: „Die Tagespost“ vom 21. 02. 2013, S. 7. Interessanterweise sieht er die Gefahr des „Automatismus“ bereits in der anderen Richtung.
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christlichen Gemeinschaften Zweifel über die Gültigkeit der schon geschlossenen Ehen und neue, unbegründete Gewissenskonflikte bei den Brautleuten hervorzurufen; man würde ferner in Gefahr geraten, die Sakramentalität vieler Ehen von Brüdern und Schwestern, die von der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche getrennt sind, zu bestreiten oder in Zweifel zu ziehen, und das im Widerspruch zur kirchlichen Tradition.“ (FC 68) Dazu ist zu sagen: Es muss gar nicht ein gewisser „Grad des Glaubens“ verlangt sein, keine wie oben bereits erwähnte persönliche und durchreflektierte „Ehetheologie“. Was aber verlangt werden müsste, ist die positive, persönliche Bejahung auch der sakramentalen Tiefendimension der christlichen Ehe – und das ist mehr als die bloße Abwesenheit eines expliziten Ausschlusses derselben. Damit mag das Argument bezüglich etwaiger Gültigkeitszweifel und Gewissenskonflikte bereits weitgehend beantwortet sein. Wer seine Ehe im Vertrauen auf die Gnade Gottes lebt, hat keinen Grund zu ernsthaftem Zweifel. Das haben die Eheleute auch dann nicht, wenn sie selbst beim Brautgespräch mit dem Pfarrer offen und ehrlich waren und etwaige Glaubenszweifel und -widerstände nicht einfach unter den Tisch gekehrt wurden. Offenheit und Ehrlichkeit von allen Beteiligten vermindert auch die Gefahr „unbegründete und diskriminierende Urteile zu fällen“. Und wenn keine positive Disposition zum Empfang des Ehesakramentes gegeben scheint, wird niemandem ein wirklicher Gefallen getan, würde man trotzdem auf die kirchliche Eheschließung drängen. Schwerwiegender erscheint das Argument des Papstes hinsichtlich der Ehen von getrennten Christen. Doch fallen diese erst dann in den Zuständigkeitsbereich des katholischen Eherechtes, wenn ein katholischer Christ davon tangiert ist – etwa nach einer Konversion oder nach dem Scheitern einer solchen Ehe und dem Wunsch, nun einen katholischen Partner zu heiraten. Und dann ist es ohnehin notwendig, den Einzelfall zu prüfen und eben nicht automatisch davon auszugehen, dass ein Sakrament sich unbewusst oder gar ungewollt (!) eben dort ereignet hat, wo man etwa nach klassischer reformatorischer Sichtweise die Ehe als ein rein „weltlich Ding“ schließen wollte oder dies gar nur im Standesamt getan hat.15 Und im Bereich der getrennten orthodoxen und orientalischen Kirchen besteht aufgrund der rigorosen Bindung der gültigen sakramentalen Trauung an die priesterliche Eheschließung zumindest nicht mehr als im
15
Warum sollte es der katholischen Kirche darüber hinaus ein Anliegen sein, dass in kirchlichen Gemeinschaften, in denen es nach katholischer Dogmatik lediglich eine gültige Taufe, aber aufgrund des Fehlens des Weihesakramentes kein anderes gültiges Sakrament gibt, ausgerechnet das Ehesakrament als „unbewusst gültiges“ Sakrament vorhanden ist?
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katholischen Kontext die Gefahr, dass Ehen regelmäßig ohne entsprechenden Glaubenshintergrund geschlossen würden. Es zeigt sich also, dass die Konstitutivität des Glaubens der Eheschließenden für das Bestehen einer gültigen sakramentalen Ehe in einer weitgehend säkularisierten Umwelt schon allein um des klareren Zeugnisses der Kirche willen einen höheren Wert darstellt als eine möglichst niederschwellige Gültigkeitsvermutung. Die Interpretation der katholischen Ehe als eine „natürliche“ Einrichtung, die „zur Würde eines Sakramentes erhoben“ (vgl. c. 1055 § 1 CIC) wurde – würde man dies nach Art eines „frommen Upgrades“ einer „normalen“ Partnerschaft verstehen! – kann leider in unserer Zeit der konkurrierenden Lebensformen sehr missverständlich sein. Bei der sakramentalen Ehe wird nichts bereits Bestehendes aufgewertet, sondern Neues gesetzt!16 Sie ist eine Beziehungswirklichkeit sui generis – und wie jedes andere Sakrament strikt übernatürlich. Dies bringt nicht zuletzt der vom II. Vatikanischen Konzil gewählte Begriff foedus – „Bund“ – zum Ausdruck, der diese Übernatürlichkeit im Gegensatz zum früheren contractus-(„Vertrags“)-Begriff auch sprachlich unterstreicht. Die Sakramentalität der Ehe als in diesem foedus-Begriff ausgedrücktes Proprium ist, mit Libero Gerosa gesprochen, „nicht eine unwesentliche Hinzufügung, sondern die Entwicklung dieses Propriums in einer von Grund auf neuen und tieferen Dimension als der der Schöpfungsordnung.“ 17 Diese Tiefendimension kann sich allerdings nur dann als wirksam entfalten, wenn sie zumindest ansatzweise auch auf der subjektiven Ebene der Eheschließenden den Ehekonsens prägt. Was bringt die geschärfte Sichtweise der Konstitutivität des Glaubens der Ehegatten für den Bestand einer sakramentalen Ehe nach katholischem Verständnis nun für die eingangs genannte Problematik der wiederverheiratet Geschiedenen? Nun, sicherlich ist damit auch noch nicht jedes Problem gelöst. Aber es könnte sein, dass in einer größeren Anzahl von Fällen als bisher von einer Nichtigkeit der Erstehe ausgegangen werden dürfte, so dass für manchen katholischen Christen, der an seiner Situation als wiederverheiratet Geschiedener leidet, eine tiefere kanonische Klärung seiner Ehe- und Lebenssituation möglich wäre. Dabei geht es nicht um eine einfache „Erleichterung“ einer – möglicherweise erwünschten – Nichtigkeitserklärung der Erstehe, sondern vor allem um eine umfassendere Betrachtung der eigenen Entwicklung auf dem Glaubensweg. Denn immer öfter muss heutzutage mit Menschen gerechnet 16
Ebenso wie beispielsweise die Weihe zum (ständigen) Diakon nicht lediglich die bisherigen laikalen Dienste dieses Christen in seiner Gemeinde „aufwerten“ würde, sondern ihn ekklesial in einen neuen Stand versetzt. 17
Gerosa, Das Recht der Kirche (Anm. 8), S. 276 f.
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werden, die nicht auf dem Wege einer „klassischen“ religiösen Sozialisierung zum Glauben gekommen sind, sondern diesen erst im Erwachsenenalter – unter Umständen „neu“ – gefunden haben.18 Aber einer umfassenden Neuordnung des Lebens auch im Lichte des (neu)entdeckten Glaubens stehen dann „Altlasten“ im Wege, etwa in Gestalt einer seit Langem gescheiterten Erstehe, geschlossen zu einer Zeit, in der man selbst noch eher die „schöne Feier“ als den „sakramentalen Lebensbund“ gesucht oder in der man einen Partner erwählt hatte, der sich zwar auf die kirchliche Trauung eingelassen, aber ansonsten mit dem Glauben „nicht viel am Hut“ hatte. Oder man war nicht formpflichtig und hatte einen ebenfalls nicht formpflichtigen, getauften Partner im Standesamt geheiratet. Hier könnte ein geschärfter Blick auf die Konstitutivität des Glaubens der Eheschließenden für den Bestand der sakramentalen Ehe so manche subjektive Vermutung ins Recht setzen, die erste Ehe habe man selbst oder der Partner vielleicht voreilig und ohne weitere Gedanken geschlossen, worauf man sich damit eigentlich aus katholischer Sicht eingelassen habe. Einer möglichen Klärung im kanonischen Eheverfahren ist dabei auch der Vorzug zu geben vor einer wie auch immer gearteten Epikie-Lösung hinsichtlich einer Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zu den Sakramenten. 19 Epikie-Lösungen – also Zulassungen zivil wiederverheiratet geschiedener Katholiken bei gültiger Erstehe zur Eucharistie in Einzelfällen – sollen damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein, zumal c. 915 CIC lediglich Exkommunizierte, Interdizierte und Gläubige, die „hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren“, von der Zulassung zur Kommunion ausschließt. Und die glatte und uneingeschränkte Ineinssetzung des subjektiven Zustands eines Verharrens in manifesto gravi peccato mit dem Lebensstand, nach vielleicht schweren Schicksalsschlägen (wie Betrug oder Verlassenwerden durch den früheren Partner) eine zivile Zweitehe geschlossen zu haben, bleibt fragwürdig, zumal Papst Johannes Paul II. ja selbst in Familiaris consortio die Hirten dazu ermahnt, „die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden“, da es ein Unterschied sei, „ob jemand trotz aufrichtigen Bemühens, die frühere Ehe zu ret18 Etwa im Umfeld der Weltjugendtage, der neu auflebenden Wallfahrtsfrömmigkeit sowie der Neuen Geistlichen Bewegungen. 19 Thomas und Heidi Ruster, … bis dass der Tod (Anm. 3, S. 189 f.) „plädieren … nachdrücklich dafür, die Ehenichtigkeitserklärungen nicht auszuweiten, sondern sie strikt auf die Fälle zu beschränken, in denen wirklich keine Ehe zustande gekommen ist.“ Aber auch, wenn der Glaube mehr als bisher in seiner Bedeutung als konstitutives Element der Ehe wahrgenommen würde, bedeutete dies nicht eine ungebührliche Ausweitung von Ehenichtigkeitserklärungen, sondern eine in der Sakramentalität der Ehe selbst begründete weitere Präzisierung, sakramentale Ehen von solchen, die es nicht sind (und damit auch keine Ehe im katholischen Sinne), zu unterscheiden.
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ten, völlig zu Unrecht verlassen wurde oder ob jemand eine kirchlich gültige Ehe durch eigene schwere Schuld zerstört hat.“ (FC 84) Eine Epikie-Lösung sollte allerdings nicht allein dem seelsorglichen Gespräch sowie der Gewissensentscheidung des Einzelnen (die ja beim aufrichtig nach Wahrheit suchenden Gläubigen auch eine schwere, mit immer wiederkehrenden Zweifeln belastete Gewissensqual sein könnte!) überlassen sein 20, was einer bedenklichen Subjektivität der Entscheidung Tür und Tor öffnen könnte. Hier wäre weiterzudenken in Richtung einer kirchenamtlichen Feststellung des einzelnen Epikie-Falles, etwa im Zuge eines vorhergehenden Ehenichtigkeitsverfahrens, das aber die Nichtigkeit der Erstehe nicht feststellen konnte.21 Dennoch steht vor jeglicher Epikie mit gutem Grund die Frage, ob die Erstehe überhaupt eine Ehe im katholischen, sakramentalen Sinne ist. Denn erstes Anliegen in einer irregulären Situation sollte sein, alle Wege zu prüfen, um die irreguläre in eine reguläre Situation überführen zu können, bevor als letzter Ausweg eine Epikie-Lösung möglich scheint. Libero Gerosas Feststellung bleibt daher uneingeschränkt zuzustimmen: „Entscheidend wichtig bleibt das Bemühen, zu verhüten, dass irgendeine Lösung dieses Problems in objektiver, aber soweit möglich auch in subjektiver Hinsicht den Sinn der sakramentalen Struktur der Kirche und insbesondere der Eucharistie verfälschen kann, die ihre Quelle und ihr Höhepunkt ist als das Zeichen der ‚communio Ecclesiae‘, der Einheit des ganzen Volkes Gottes.“22
20 Dies scheint die Freiburger „Handreichung“ (Anm. 1, S. 11) allerdings nahezulegen: „In der Folge einer verantwortlich getroffenen Gewissensentscheidung kann im Einzelfall in der konkreten Situation aber auch die Möglichkeit gegeben sein, die Sakramente der Taufe, der Heiligen Kommunion, der Firmung, der Versöhnung und der Krankensalbung zu empfangen, insofern die erforderliche konkrete Glaubensdisposition vorhanden ist.“ 21
Etwa im Sinne einer Dispens (vgl. c. 85 CIC) von dem in diesem Falle als rein kirchliches Gesetz verstandenen Ausschluss des in ziviler Zweitehe lebenden Gläubigen von der Eucharistie. 22
Gerosa, Das Recht der Kirche (Anm. 8), S. 190 f.
IV. Kirchliches Sanktions- und Verfahrensrecht
Bischöfliche Leitungsgewalt und kanonisches Strafverfahren Ein Beitrag zur Einordnung des c. 1722 CIC/1983 im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker1 Von Michael Werneke Michael Werneke
I.
Die im vergangenen Jahrzehnt in verschiedenen Regionen der katholischen Weltkirche bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker haben ein kanonisches Rechtsgebiet neu in den Fokus der innerwie außerkirchlichen Öffentlichkeit gerückt, das spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein eher stiefmütterliches Dasein geführt hatte: das kirchliche Straf- und Strafverfahrensrecht.2 So ist auch in Deutschland spätestens seit dem Jahr 2010 das Strafrecht der katholischen Kirche neu in den Blickpunkt geraten. Gänzlich anders stellte sich die Situation noch dar, als der mit dieser Festschrift zu ehrende Jubilar im Jahr 1984 seine Dissertation veröffentlichte, in der er sich mit grundlegenden Fragen zur Rechtsnatur und theologischen Einordnung des Strafrechts in der katholischen Kirche auseinandersetzte.3 Zwei gegenläufige Tendenzen bestimmten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Stellung des kanonischen Rechts. Einerseits war das der antijuridische Affekt dieser Epoche: Das persönliche Bekenntnis des Glaubens an Christus als den Erlöser kann als höchstpersönlicher Freiheitsakt nicht eigentlich an Rechtsnormen gebunden und in ihnen zum Ausdruck gebracht werden, wohnt dem Recht doch die Äußerlichkeit des Zwangs von außen inne. Letztlich tritt in dieser Sichtweise ein dichotomisches Verständnis
1
Der Aufsatz gibt die Rechtslage zum Sachstand 31. August 2013 wieder.
2
Der kirchliche Gesetzgeber verwendet die Terminologie „Sanctiones“ (cc. 1311 ff. CIC) bzw. „Sanctiones Poenales“ (cc. 1401 ff. CCEO) sowie „Processus Poenalis“ (cc. 1717 ff. CIC) bzw. „Iudicium Poenale“ (cc. 1468 ff. CCEO). 3 Vgl. Libero Gerosa, La Scomunica è una pena? Saggio per una fondazione teologica del diritto penale canonico, Freiburg / Schweiz 1984; ders., Ist die Exkommunikation eine Strafe?, in: AfkKR 154 (1985), S. 83–120.
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von Recht und Sakrament, bezogen auf die pastorale Ebene: von Rechts- und Seelsorgestrukturen, zutage.4 Andererseits herrschte – und herrscht bis heute – ein ausgesprochen positivistisches Rechtsverständnis vor, das mit einseitig auf bloße, am weltlichen Juristen orientierte Rechtstechnik kirchliche Normen und Rechtsetzung losgelöst vom ekklesiologischen und methodischen Kontext interpretiert. Gerosa hat hierzu schon vor zwei Jahrzehnten überzeugend ausgeführt, dass von hier eine direkte Linie zu einem ekklesiologischen Spiritualismus führt, der der kanonischen Rechtsordnung jeglichen Zusammenhang mit Glaubensinhalten bestreitet.5 Von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zum bekannten Sohmschen Diktum von der Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium.6 Der antijuridische Affekt der Nachkonzilszeit einerseits und ein eher positivistisches Rechtsverständnis anderseits haben somit beide dazu beigetragen, dass das kirchliche Strafrecht weder in der Kanonistik, noch in der kirchlichen Praxis der letzten Jahrzehnte eine nennenswerte Rolle spielte. Die Zeit „war gekennzeichnet durch verschiedene Strömungen innerhalb der Kanonistik bezüglich der Zielsetzungen des kirchlichen Strafrechts und der Notwendigkeit einer dezentralen Behandlung der Fälle, mit Betonung der Autorität und des Urteilsvermögens der Bischöfe vor Ort. Gegenüber unangebrachten Verhaltensweisen wurde eine ‚pastorale Herangehensweise‘ bevorzugt; von manchen wurden kanonische Prozesse als anachronistisch angesehen. Häufig herrschte beim Umgang mit unangebrachten Verhaltensweisen von Klerikern ein ‚therapeutisches Modell‘ vor. Man erwartete, dass der Bischof eher ‚heilen‘ als ‚bestrafen‘ sollte. Eine allzu optimistische Vorstellung in Bezug auf Erfolge psychologischer Therapien bestimmte viele Personalentscheidungen in den Diözesen und Ordensgemeinschaften, bisweilen wurden dabei die Möglichkeiten des Rückfalls nicht in entsprechender Weise bedacht.“7 4
Vgl. hierzu Libero Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral, Eichstätt / Wien 1991, v. a. S. 16 ff.; ferner Antonio Rouco Varela / Eugenio Corecco, Sakrament und Recht – Antinomie in der Kirche?, Paderborn 1998. 5
Vgl. Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral (Anm. 4), S. 18–21.
6
„Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich. Das Wesen des Kirchenrechtes steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch“, Rudolph Sohm, Kirchenrecht I. Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig 1923 (Neudruck Darmstadt 1970), S. 700. 7 Kongregation für die Glaubenslehre, Die Normen des Motuproprio Sacramentorum Sanctitatis Tutela (2001). Geschichtliche Einführung, Sonderdruck, Città del Vaticano 2013, S. 51.
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Durch das rein positivistische Herangehen an das Kirchenrecht, zum Teil durch das von außen weltlich-rechtlich vorgeprägte Rechtsverständnis bedingt, scheint insbesondere im gegenwärtigen Umgang mit den Normen des kirchlichen Straf- und Strafverfahrensrechtes die Societas-perfecta-Lehre eine Renaissance zu erleben.8 Im kirchlichen Strafverfahrensrecht lässt sich das an zwei Tendenzen festmachen. Der eine Gedankengang geht von der empirischen Tatsache aus, dass die Kirche eine eigene Rechtsordnung besitzt und zur Vollständigkeit einer solchen gehöre nun einmal auch die Existenz eines Prozessrechtes, weil anderenfalls die Rechte nicht geltend gemacht werden können. Die andere Richtung argumentiert mit dem Prinzip der Wahrheit. Danach hat das Verfahrensrecht nicht die Verwirklichung subjektiver Rechte, sondern die Authentizität der das Heil realisierenden Elemente, Wort und Sakrament, zu garantieren. Entsprechend dem katholischen Prinzip des „et – et“ liegt die Wahrheit einmal mehr, darin ist Ludger Müller zuzustimmen, in der Mitte.9 Diese Einsicht scheint die Tendenz zu befördern, bei der gegenwärtig geplanten Reform des kirchlichen Strafrechts dieses „wieder mehr zu einem Instrument von Pastoral und Seelsorge aufzuwerten“. 10 Damit erfährt das Grundanliegen der Dissertation unseres Jubilars aus dem Jahr 1984 eine neue Aktualität, war es doch das Ziel dieser umfassenden Arbeit, die Frage von Strafen, der Autor spricht im Ergebnis seiner Untersuchungen lieber von Sanktionen 11, in
8
Vgl. hierzu Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: Ludger Müller / Alfred E. Hierold / Sabine Demel / Libero Gerosa / Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? Berlin 2006, S. 183– 202. 9 Vgl. zum Ganzen: Ludger Müller, Rechte in der Kirche. Die Begründung kichlichen Verfahrensrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche, Wien / Berlin 2011, S. 9– 24, hier 13–16. 10 Wilhelm Rees, Zur Novellierung des kirchlichen Strafrechts im Blick auf sexuellen Missbrauch einer minderjährigen Person durch Kleriker und andere schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten. Gesamtkirchliches Recht und Maßnahmen einzelner Bischofskonferenzen, in: AfkKR 180 (2011), S. 466–513, hier 481, Anm. 60. 11 Vgl. hierzu Aymans / Mörsdorf / Müller, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. IV, Paderborn / München / Wien / Zürich 2013, S. 78: „Wenn vom Gesamten des hier geregelteten Rechtsbereichs die Rede ist, wird der Oberbegriff ‚Sanktion‘ zu verwenden sein, zumal mit dem Wort ‚Strafe‘ manche Assoziationen verbunden werden, die geeignet sind, das Typische des kirchlichen Sanktionsrechts zu verdecken. Das widerspricht nicht der Möglichkeit, auch im Bereich des Sanktionsrechts Elemente zu entdecken, die mit Fug und Recht als ‚Strafe‘ bezeichnet werden können.“
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der Kirche neu in den nachkonziliaren theologischen Kontext der Communio-Ekklesiologie einzuordnen.12 Eine wichtige Einsicht ist, dass das weltliche Strafrecht nicht einfach zum Maßstab für die Bewertung und Konzeption des kirchlichen Strafrechts genommen werden darf.13 Das kanonische Strafrecht folgt, wie noch zu zeigen sein wird, einer durchaus eigengearteten Zielsetzung und Logik. Es reicht hierzu nicht aus, „auf die theologische Basis und pastorale Ausrichtung des Rechts hinzuweisen, um es dann alsbald in einen juristischen eigenständigen Bereich zu entlassen und in seiner pragmatisch-technischen Funktionalität zu betrachten.“ 14 Im Folgenden sollen an einem konkreten Beispiel aus dem geltenden kanonischen Strafverfahrensrecht die Konsequenzen aus diesen Einsichten illustriert werden. Es geht um die Frage der Möglichkeiten des hierarchischen Oberen im Hinblick auf vorläufige Maßnahmen gegen einen Kleriker, gegen den der Verdacht des sexuellen Missbrauchs einer minderjährigen Person besteht. Nicht die damit verbundenen materiellen Rechtsfragen, sondern eine verfahrensrechtliche Problematik soll erörtert werden. Dabei erfolgt aus Gründen der Praxisausrichtung an der Situation im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz im Hinblick auf die kodikarischen Normen eine Beschränkung auf den lateinischen Rechtskreis gemäß dem Codex Iuris Canonici von 1983. II. Erhält ein Ordinarius, etwa durch Anzeige eines Betroffenen, Kenntnis vom Vorwurf sexuellen Missbrauchs gegen einen noch lebenden Kleriker, ist er in der Situation, neben der Einleitung der vorgesehenen Verfahrensschritte auch unmittelbar im Hinblick auf die Dienstausübung des Klerikers reagieren zu müssen. Die „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ in der Fassung vom 1. Septem12
Hierzu auch Libero Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit kanonischer Sanktionen, Paderborn 1995. 13
Vgl. Libero Gerosa, Bußsakrament, in: Reinhild Ahlers / Libero Gerosa / Ludger Müller (Hrsg.), Ecclesia a sacramentis, Paderborn 1992, S. 53–70, hier 67 f. 14 So bereits vor Inkrafttreten des CIC von 1983: Peter Krämer, Warum und wozu kirchliches Recht? Zum Stand der Grundlagendiskussion in der katholischen Kirchenrechtswissenschaft, Trier 1979, S. 18.
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ber 201015 bieten hier verfahrenstechnisch nur wenig Hilfe. Unter dem Abschnitt „Maßnahmen bis zur Aufklärung des Falls“ heißt es in Nr. 31: „Liegen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen vor, entscheidet der Diözesanbischof über das weitere Vorgehen. Soweit es die Sachlage erfordert, stellt der Diözesanbischof die beschuldigte Person vom Dienst frei und hält sie von allen Tätigkeiten fern, bei denen Minderjährige gefährdet werden könnten (vgl. Art. 19 der ‚Normae de gravioribus delictis‘).“ Hier wird zum einen vorausgesetzt, dass „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht vorliegen“. Wann liegen diese „tatsächlichen“ Anhaltspunkte vor? Bei jeder Anzeige? Oder muss zunächst ermittelt werden? Reicht der bloße Umstand, dass der behauptete Sachverhalt grundsätzlich möglich wäre, weil keine sofort offenliegenden objektiven Fakten dagegen sprechen? Oder bedarf es einer gewissen Plausibilität? Woran kann man diese in diesem frühen Stadium festmachen? Dieselben Fragen stellen sich im Hinblick auf die Formulierung: „soweit es die Sachlage erfordert“. Erfordert bei dieser Art eines Vorwurfs, wenn seine Richtigkeit nicht ad hoc sachlogisch ausgeschlossen werden kann, nicht immer die dort genannte Maßnahme? Welche Bedeutung ist der Bezugnahme auf Artikel 19 der Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010 16 beizumessen, in dem auf das Recht des Ordinarius (es wird nicht vom Diözesanbischof gesprochen) verwiesen wird, mit Beginn der Voruntersuchung Maßnahmen nach c. 1722 CIC zu ergreifen? Wird hier inhaltlich auf den dort genannten Katalog der nach c. 1722 CIC möglichen Maßnahmen verwiesen oder werden die dort genannten formalen Voraussetzungen für das Ergreifen von Maßnahmen (vorgängige Vernehmung des Beschuldigten und Anhörung des Kirchenanwalts) in Bezug genommen oder soll vornehmlich auf eine Kompetenzerweiterung verwiesen werden, da c. 1722 CIC rechtssystematisch voraussetzt, dass die Voruntersuchung bereits mit der Entscheidung zur Führung eines Strafprozesses abgeschlossen ist? Lüdicke geht sogar noch weiter, in dem er für die Anwendung dieser Norm davon ausgeht, „dass die Tat und die Täterschaft bereits vor dem Strafprozess, spätestens zum Zeitpunkt der Verhängung der Maßnahme, sicher ist. Andernfalls wäre die Auferlegung von Rechtsbeschränkungen ungerechtfertigt.“17 15
KAbl. Paderborn 153 (2010), S. 138–141.
16
Kongregation für die Glaubenslehre, Normae de delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis seu normae de delictis contra fidem necnon de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010, Sonderdruck Città del Vaticano 2013, im Folgenden zitiert als: Normae. 17
Klaus Lüdicke, c. 1722, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: November 2012).
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In Nr. 32 der Leitlinien heißt es: „Der beschuldigten Person kann auferlegt werden, sich vom Dienstort fern zu halten.“ Steht auch diese Maßnahme unter den in Nr. 31 erwähnten Voraussetzungen? Es handelt sich immerhin um eine gravierende, hier gesondert erwähnte Maßnahme, die sich auch im Katalog des c. 1722 CIC findet. Der aktuell vorliegende Entwurf 2013 der Neufassung der Leitlinien (jetzt Nr. 37) bringt mit der durchgängigen Ersetzung des Terminus „Diözesanbischof“ durch den Begriff „Ordinarius“ zwar eine rechtssystematisch – wie noch zu zeigen sein wird – nicht unwichtige Präzisierung, bleibt aber auf die Bezugnahme auf Art. 19 der Normae und c. 1722 CIC fixiert, so dass sich für die hier zu behandelnde Thematik keine Änderung ergibt. Aus den hier für die Praxis aufgeworfenen Fragen soll im Folgenden näher auf die Bedeutung des c. 1722 CIC, und zwar im Hinblick auf die dort genannten formalen Voraussetzungen eingegangen werden. Die besondere Praxisrelevanz ergibt sich daraus, dass c. 1722 CIC bestimmte formale Verfahrensschritte vor Verhängung der Maßnahmen verlangt und sich damit für sofortige Maßnahmen zusätzliche rechtliche Voraussetzungen ergeben. Tatsächlich breitet sich verstärkt die Tendenz aus, alle vorsorglichen sofortigen Maßnahmen des Ordinarius unter die Maßgabe von c. 1722 CIC und die dort genannten formalen Voraussetzungen zu stellen. In einem Brief des Präfekten der Glaubenskongregation vom 18. Januar 2013 an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz mit Anmerkungen und Anfragen der Glaubenskongregation zu den Leitlinien der deutschen Bischöfe 18 heißt es unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Nr. 31: „Die provisorischen Maßnahmen nach Art. 19 SST erfordern die Anhörung des Kirchenanwalts und die Vorladung des Beschuldigten“. Und an anderer Stelle des Schreibens (zu Nr. 20 der Leitlinien) wird ausgeführt: „Die vorsorglichen Maßnahmen nach c. 1722 CIC i. V. m. Art. 19 SST setzen die Anhörung des Kirchenanwalts und die Vorladung (Hervorhebung im Original) zwingend voraus.“ Dementsprechend breitet sich zunehmend die Auffassung aus, dass ganz generell für jegliche Maßnahme des Oberen, die in c. 1722 CIC Erwähnung findet, eine Beachtung der Förmlichkeiten des c. 1722 CIC geboten ist. Ist aber die Prämisse, dass c. 1722 CIC die unhintergehbare formelle Schranke für alle vorsorglichen Maßnahmen der kirchlichen Autorität im Hinblick auf die Dienstausübung eines aktuell beschuldigten Klerikers festlegt, zutreffend?
18
Der Brief ist nicht veröffentlicht.
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III. C. 1722 CIC lautet in deutscher Übersetzung19: „Um Ärgernissen zuvorzukommen, die Freiheit der Zeugen zu schützen und den Lauf der Gerechtigkeit zu sichern, kann der Ordinarius nach Anhörung des Kirchenanwaltes und Ladung des Angeklagten in jedem Stand des Prozesses den Angeklagten vom heiligen Dienst oder von einem anderen Amt oder kirchlichen Dienst ausschließen, ihm den Aufenthalt an einem Ort oder in einem Gebiet auferlegen oder verbieten oder auch die öffentliche Teilnahme an der Eucharistie verbieten; das alles ist, wenn der Grund wegfällt, zu widerrufen, und es endet von Rechts wegen, wenn der Strafprozeß aufhört.“
Die Norm benennt Maßnahmen, die einem Angeklagten („accusatus“) in jedem Stand des Prozesses („in quolibet processus stadio“) vom Ordinarius auferlegt werden können: – – – – – –
Ausschluss vom heiligen Dienst, Ausschluss von einem anderen Amt, Ausschluss vom kirchlichen Dienst, Auferlegung des Aufenthalts an einem Ort oder in einem Gebiet, Verbot des Aufenthalts an einem Ort oder in einem Gebiet, Verbot der öffentlichen Teilnahme an der Eucharistie.
Als Gründe, gleichsam materielle Voraussetzungen für eine oder mehrere der vorgenannten Maßnahmen nennt der Canon: – Ärgernissen zuvorzukommen, – Schutz der Freiheit der Zeugen, – Sicherung des Laufs der Gerechtigkeit. Hieran, wie an der Festlegung, dass die Maßnahmen bei Wegfall des Grundes aufzuheben sind bzw. mit Beendigung des Strafprozesses hinfällig werden („ipso iure finem habent“), wird deutlich, dass es sich um vorläufige Sicherungs- und Vorsichtsmaßnahmen handelt, die noch keine Aussage darüber treffen, ob ein strafbares oder sonstiges Fehlverhalten vorliegt.
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Zitiert nach Lüdicke, c. 1722 (Anm. 17).
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Als formale Voraussetzungen werden genannt: – Anhörung des Kirchenanwaltes – Ladung des Angeklagten, was nach Lüdicke zugleich die Anhörung des Angeklagten meint20. Sofern man hier einen Anwendungsfall des c. 127 § 2 n. 2 CIC sehen will 21, stünde die vorsorgliche Maßnahme damit unter der Drohung der Nichtigkeit bei Unterlassen der Anhörung. IV. C. 1722 CIC steht in Kapitel II („De processus evolutione“) des Teils IV („De processu poenali“) des VII. Buches („De processibus“). Es handelt sich nach der systematischen Stellung mithin um eine Norm, die sich nicht generell auf das kirchliche Strafverfahren bezieht, sondern auf diejenigen Verfahren, die in Form eines gerichtlichen Prozesses geführt werden. Die Norm setzt mithin voraus, dass das Voruntersuchungsverfahren mit der Entscheidung zur Durchführung eines Strafverfahrens abgeschlossen (c. 1718 CIC) und die Entscheidung zugunsten eines gerichtlichen Strafverfahrens nach cc. 1721 ff. CIC getroffen wurde. Aufgrund dieser Einordnung ergibt sich zunächst, dass der Canon keine Anwendung während der Voruntersuchung und im Strafdekretverfahren findet.22 Dieser durch die systematische Stellung gegebene Befund bestätigt sich auch im Blick auf die Terminologie. So setzt die Redeweise vom Angeklagten („accu20
Vgl. Lüdicke, c. 1722, Rdnr. 5 (Anm. 17).
21
So wohl Klaus Lüdicke, in: Rüdiger Althaus / Klaus Lüdicke, Der gerichtliche Strafprozess nach dem Codex Iuris Canonici und Nebengesetzen. Normen und Kommentar (BzMK CIC 61), Essen 2011, c. 1722, Rdnr. 2. 22 Vgl. Johann J. Reißmeier, Sexueller Missbrauch im kirchlichen Strafrecht. Verfahren – Zuständigkeiten – Strafen, Innsbruck / Wien 2012, S. 70. Diese Auffassung bestätigt indirekt auch Wilhelm Rees, wenn er feststellt: „Dass auch die beschuldigte Person (und der Kirchenanwalt) im Rahmen der Voruntersuchung zu hören sind … ist im Recht der römisch-katholischen Kirche nicht explizit ausgesprochen bzw. gefordert, aber auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen“, Wilhelm Rees, Rechtsschutz im kirchlichen Strafrecht und in kirchlichen Strafverfahren, in: L. Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kir che (Anm. 9), S. 75–105, hier 90; daher auch handelt Rees c. 1722 CIC konsequent im Abschnitt über den gerichtlichen Strafprozess ab, ebd., 97 f.; zuletzt Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV (Anm. 11), S. 585: „Ab der Einreichung der Anklage kann der Ordina rius nach c. 1722 bei jedem Stand des Verfahrens provisorische Maßnahmen ergreifen.“ r
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satus“) begriffslogisch eine Anklage voraus und verweist damit auf den gerichtlichen Prozess, dem allein eine förmliche Anklage zugrundeliegt. Auch die Einbeziehung des Kirchenanwalts bestätigt diese Einordnung. Der Kirchenanwalt ist ein Organ der kirchlichen Gerichtsverfassung und Teil des Gerichtspersonals23; in Streitsachen vertritt er das öffentliche Wohl, in Strafsachen ist er An kläger.24 In seiner Funktion als Ankläger ist seine Einbeziehung in beabsichtigte Maßnahmen während des gerichtlichen Strafprozesses sinnvoll, da er durch Vertretung der Anklage Teil des Gerichtsverfahrens und mit der Sachlage vertraut ist. Im Vorverfahren etwa wäre seine Beteiligung sinn- und systemwidrig; der Kirchenanwalt ist mit dem Sachverhalt bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht befasst gewesen und müsste sich zunächst mit dem Sachverhalt vertraut machen; an welchen Kirchenanwalt sollte sich im Übrigen etwa ein Ordinarius aus dem Ordensbereich in einem Vorermittlungsverfahren oder in Wahrnehmung seiner Verpflichtungen aus den Leitlinien wenden (vgl. Nr. 14 der Leitlinien)? Entgegen dieser rechtssystematisch klaren Stellung des c. 1722 CIC bestimmen jedoch die Normae der Glaubenskongregation in dem schon erwähnten Artikel 19 im ersten Halbsatz: „Firmo iure Ordinarii …, ab investigatione praevia inchoata, imponendi quae in can. 1722 Codicis Iuris Canonici … statuuntur“. Danach kommt dem Ordinarius bereits im Rahmen der Voruntersuchung das Recht zu, Maßnahmen nach c. 1722 CIC zu verhängen. Die Aussage rein deklaratorisch zu verstehen, verbietet die nach dem CIC insoweit eindeutige gegenteilige Rechtslage, wie sie vorstehend festgestellt wurde. Man wird also eher konstitutiv von einer Erweiterung des Anwendungsbereichs von c. 1722 CIC durch die Glaubenskongregation ausgehen müssen. 25 Ohne im Kontext dieses Aufsatzes auf die sich damit stellenden rechtsdogmatischen und legislativen Probleme einzugehen, bleibt für unsere Themenstellung zu fragen: Kann und soll hier eine Beschränkung dahin ausgesprochen werden, dass Maßnahmen im Vorverfahren nur nach Maßgabe von c. 1722 CIC, also auch unter Beachtung von dessen formalen Vorgaben, möglich sein sollen, wodurch implizit unterstellt würde, dass vorläufige Maßnahmen im Vorverfahren ansonsten grundsätzlich nicht zulässig wären? 26 Fest steht nur, dass mit Beginn des gerichtlichen 23 Vgl. Thomas Schüller, Art. Promotor iustitiae, in: LKStKR III, S. 303 f., hier 303; vgl. auch Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV (Anm. 11), S. 318 f. 24
Vgl. Lüdicke, c. 1430, Rdnr. 3 (Anm. 17).
25
So etwa Reißmeier, Sexueller Missbrauch (Anm. 22), 71; Althaus / Lüdicke, Der gerichtliche Strafprozess (Anm. 21), c. 1722, Nr. 7; Rees, Zur Novellierung des kirchlichen Strafrechts (Anm. 10), S. 491. 26
Die Formulierung im Rundschreiben der Glaubenskongregation vom 3. Mai 2011 lässt das offen. Es heißt dort lapidar erläuternd: „Es kommt dem Bischof oder dem Hö-
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Strafverfahrens für Maßnahmen der in c. 1722 CIC beschriebenen Art durch den Ordinarius der dortige Verfahrensweg vorgeschrieben ist. Wie aber verhält es sich im Voruntersuchungs- oder während des Strafdekretverfahrens? Diese Frage ist rechtlich nicht abschließend geklärt, hat aber enorme praktische Auswirkungen. Kann der Ordinarius, wenn überhaupt, nur im Rahmen der formalen und materiellen Vorgaben des c. 1722 CIC vorsorgliche Maßnahmen im Rahmen eines Missbrauchsvorwurfs einleiten? Verletzt er Recht oder handelt er unwirksam, wenn er unmittelbar nach Anzeige eines Missbrauchs ohne Anhörung des Kirchenanwalts oder des Betroffenen Vorsichtsmaßnahmen verhängt, die unter den Katalog der in c. 1722 CIC genannten Maßnahmen fallen? Oder gilt – zumindest für den Diözesanbischof oder den ihn mit Spezialmandat vertretenden Generalvikar – etwas anderes? Hierzu gilt es grundsätzlicher anzusetzen. V. Dem Diözesanbischof kommt die allgemeine Aufsichtsfunktion bezüglich der kirchlichen Disziplin im Bereich der ihm anvertrauten Ortskirche zu (c. 392 CIC). Georg Bier spricht von einer „final“ bestimmten potestas zur Ausübung des munus pastorale.27 „ Im Blick auf das munus regendi (Hervorhebung im Text) hat er (der Diözesanbischof, M. W.) die Aufgabe, in seiner Diözese die kirchliche Ordnung zu gewährleisten, Missbrauch von dieser Ordnung fernzuhalten und auf die Befolgung aller kirchlichen Gesetze zu drängen“ 28. Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe führt aus: „Der göttliche Ursprung, die kirchliche Gemeinschaft und die kirchliche Sendung unterscheiden die bischöfliche Vollmacht von jener, die in jeder anderen menschlichen Gesellschaft ausgeübt wird. Sie besitzt eine pastorale Natur und Zielsetzung, um die Einheit des Glaubens, der Sakra-
heren Oberen zu, für das Gemeinwohl zu sorgen und festzulegen, welche der in can. 1722 CIC … genannten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Nach Art. 19 SST kann dies geschehen, sobald die Voruntersuchung begonnen wurde“, Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben, um den Bischofskonferenzen zu helfen, Leitlinien für die Behandlung von Fällen von Minderjährigen durch Kleriker zu erstellen, vom 3. Mai 2011, Sonderdruck, Città del Vaticano 2013, S. 61. 27 Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1983, Würzburg 2001, S. 128. 28
Bier, ebd., S. 197.
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mente und der kirchlichen Ordnung zu fördern, und um die Teilkirche selbst angemessen und entsprechend ihrer eigenen Zielsetzung zu ordnen.“ 29 Dies umfasst den Dienst der in seiner Diözese tätigen Kleriker, schließt im Hinblick auf ihr priesterliches oder diakonales Wirken nach außen auch die im Bereich des Bistums tätigen Ordenskleriker ein (vgl. cc. 678 § 1, 679, 680 CIC) und gilt insbesondere auch in den Fällen, in denen ein im Gebiet der Diözese tätiger Kleriker des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wird. Das Rundschreiben der Glaubenskongregation vom 3. Mai 2011 stellt dazu fest: „Zu den wichtigsten Verantwortlichkeiten des Diözesanbischofs im Hinblick auf die Sicherung des Gemeinwohls der Gläubigen und insbesondere auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen gehört es, auf eventuelle (Hervorhebung M. W.) Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker in seiner Diözese (Hervorhebung M. W.) angemessen zu reagieren.“30 Dies folgt aus der ekklesiologischen Stellung des Diözesanbischofs, die von der Stellung des Ordinarius sauber getrennt werden muss. Der Diözesanbischof kann sich zur Erfüllung dieser seiner Verpflichtung nach Maßgabe des Rechts der ihm zur Verfügung stehenden legislativen, exekutiven und judikativen Instrumente bedienen (c. 391 CIC). Somit stehen ihm verschiedene Wege und Maßnahmen offen, die alternativ oder auch nebeneinander Anwendung finden können. Ein Weg ist das kanonische Straf- und Strafverfahrensrecht, wie es im Codex statuiert und durch weitere universalkirchliche Rechtsetzung ergänzt ist. Das Strafverfahren ist das förmliche Verfahren zur Prüfung und ggf. Feststellung oder Verhängung kanonischer Strafen (vgl. c. 1400 n. 2 CIC) und dem Bereich des kirchlichen Gerichtswesens einzuordnen, nur im Ausnahmefall soll der Verwaltungsweg (Strafdekretverfahren) beschritten werden. Auch im Legislativbereich hat der Diözesanbischof durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen gegen möglichen sexuellen Missbrauch vorzusorgen. Im Rahmen seiner Exekutivfunktion schließlich kommt es dem Diözesanbischof zu, durch geeignete Maßnahmen – der Sonderfall des Strafverfahrens auf dem Verwaltungsweg soll hier außer Blick bleiben – seiner Pflicht zur Sicherung der Disziplin nachzukommen. Das schließt die Einschränkung von Rechten einzelner Gläubiger nicht aus, da nicht die Verwirklichung subjektiver Ansprüche, sondern der Schutz der Communio und das Heil der Seelen der oberste 29
Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe, vom 22. Februar 2004 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 173, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 2006, S. 96, Nr. 64. 30
Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben vom 3. Mai 2011 (Anm. 26), S. 57.
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Maßstab des bischöflich-aufsichtlichen Handelns ist. 31 Hierbei sind selbstverständlich die kanonischen Rechte des Betroffenen zu wahren. Dazu steht gegen Exekutivakte des Diözesanbischofs der Beschwerdeweg offen.32 Exekutivakte dieser Art können somit auch in die Rechtsstellung eines Klerikers eingreifen. Ein solches Eingreifen kann ganz allgemein bestimmt sein durch ein defektives Verhalten des Klerikers, ohne dass es bereits um die Frage einer Strafbarkeit des Handelns des Klerikers geht. Eingreifende Maßnahmen dieser Art können wie folgt weiter differenziert werden: Die Maßnahme kann den Charakter einer Disziplinarmaßnahme haben. Diese kann dahin charakterisiert werden, dass mit ihr zum Schutz der Communio die Einhaltung der kirchlichen Rechtsordnung angemahnt oder durchgesetzt werden soll gegen einen Amtsträger 33, der gegen diese Ordnung verstoßen hat, ohne damit jedoch eine kirchliche Straftat begangen zu haben. 34 Ob das Verhalten im Rechtssinne schuldhaft sein muss35, darf bezweifelt werden. Es geht um einen objektiven Verstoß gegen die Rechtsordnung unabhängig von einer rechtlichen Schuld oder Vorwerfbarkeit.36 Das Eingreifen kann andererseits aber auch eine rein pastorale Maßnahme zum Schutz der Communio und zum Heil der Gläubigen sein. Hier geht es 31
„Bei der Behandlung von Problemen und beim Fällen von Entscheidungen ist das Heil der Seelen oberstes Gesetz und unabdingbare Norm“, Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 29), S. 98, Nr. 65; vgl. auch c. 1752 CIC/1983. 32
Vgl. hierzu Rees, Rechtsschutz (Anm. 22), S. 93–96.
33
Zutreffend stellt Rees fest, dass eine solche Maßnahme „in der Regel nur die Dienststellung eines Klerikers oder eines im besonderen Dienst der Kirche stehenden Laien treffen kann“ (Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR², S. 1117–1125, hier 1122). Zu ergänzen wäre noch, dass es dabei nicht darauf ankommt, ob dieser Dienst haupt-, neben- oder ehrenamtlich ausgeübt wird. 34 Vgl. hierzu Reinhild Ahlers, Amtsenthebung – Strafe und / oder Disziplinarmaßnahme? in: Müller u. a. (Hrsg.), Strafrecht (Anm. 8), S. 91–96, hier 93 f. 35 36
So Ahlers, ebd., S. 94.
Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 8), S. 195 f., folgt in seiner Abgrenzung der im staatlichen Recht entwickelten Unterscheidung, wonach Disziplinarmaßnahmen sich von Strafen lediglich durch ihren geringeren Schaden für die Öffentlichkeit und dem dadurch bedingten geringeren Öffentlichkeitsbezug mit stärkerem Gewicht auf der Spezialprävention unterscheiden sollen. Es scheint zweifelhaft, ob im Hinblick auf die Zwecksetzung der kirchlichen Rechtsordnung diese Unterscheidung passend ist.
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nicht um einen konkreten objektiven Verstoß gegen die Rechtsordnung, sondern darum, dass das Eingreifen in die Rechtsstellung des Amtsträgers ausschließlich aufgrund des übergeordneten Interesses zum Wohl des kirchlichen Auftrags erfolgt. Weder braucht hierzu der Amtsträger sich strafbar gemacht zu haben, noch muss er objektiv die Rechtsordnung verletzt haben. Ein Beispiel hierfür, das der kirchliche Gesetzgeber ausdrücklich geregelt hat, ist das Verfahren zur Amtsenthebung des Pfarrers nach cc. 1740 ff. CIC, das ausdrücklich nicht an einem Fehlverhalten des Pfarrers oder eine Verletzung der Rechtsordnung anknüpft, sondern ausschließlich die Schädlichkeit und Unwirksamkeit der Dienstausübung zur Voraussetzung hat. 37 So stellt Alfred E. Hierold mit Recht fest: „Allein auf Verdächtigungen kann keine Strafmaßnahme aufgebaut werden. Es kann aber angeraten sein, den Verdächtigten aus seinem Wirkungskreis zu entfernen, um nicht sein Wirken nutzlos zu machen und das Wohl der Gemeinde zu gefährden.“38 Für alle vorsorglichen Exekutivmaßnahmen, mit denen der Diözesanbischof in die dienstrechtliche Stellung eines Klerikers in seinem Verantwortungsbereich eingreift, gilt: Die Maßnahme ist aufgrund akuter Umstände ohne Aufschub zum jetzigen Zeitpunkt geboten, sie ist nicht abschließend, steht unter dem Vorbehalt der jederzeitigen Aufhebbarkeit und beinhaltet kein vorgezogenes Werturteil über Schuld oder Vorwerfbarkeit. Zudem sind die einschlägigen Vorschriften über Dekrete für Einzelfälle (cc. 48–58 CIC) zu beachten. Der Betroffene kann den Rechtsweg der Hierarchischen Beschwerde gemäß cc. 1732 ff. CIC beschreiten, wobei dieser Beschwerde in der Regel nicht eo ipso aufschiebende Wirkung zukommt (c. 1734 2. HS i. V. m. c. 1736 CIC). Die in Betracht kommenden Maßnahmen liegen im Ermessen des Diözesanbischofs und erfassen im Rahmen der Beachtung gesamtkirchlicher Vorgaben alle Maßnahmen, die geeignet, aber auch – insbesondere bei der Einschränkung von Rechten – unabdingbar notwendig sind zur Erreichung des angestrebten legitimen Zwecks. Dabei sind auch solche Maßnahmen miterfasst, die c. 1722 CIC für den kirchlichen Strafprozess ausdrücklich dem Ordinarius unter den dort genannten Voraussetzungen zubilligt. 37 „Sicherlich kann der Bischof eine Amtsenthebung zur Disziplinierung eines Pfar rers einsetzen, aber speziell die Amtsenthebung des Pfarrers hat vom Anliegen her weder den Charakter einer Strafe noch einer Disziplinarmaßnahme. Die Amtsenthebung ist eine pastorale Maßnahme zum Wohle des Seelenheils der Gläubigen“, Ahlers, Amtsenthebung (Anm. 34), S. 96. 38
Alfred E. Hierold, Pädophilie und Ephebophilie: Rechtsschutz für Opfer und Beschuldigte, in: Müller u. a. (Hrsg.), Strafrecht (Anm. 8), S. 171–181, hier 180.
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Daraus ergibt sich, dass c. 1722 CIC für das exekutive Handeln des Diözesanbischofs keine verfahrensrechtliche Schranke bilden kann, da diese Norm – wie immer man ihre Reichweite interpretieren will – in jedem Fall sachlich auf den Bereich des Strafrechts und funktionell auf den Ordinarius bezogen bleibt. Ob der Diözesanbischof sein Ermessen zulässig oder fehlerhaft ausübt, ist einer rechtlichen Prüfung durch ortskirchliche Instanzen, insbesondere durch das Diözesangericht, naturgemäß entzogen und kann nur im Beschwerdeverfahren durch den Apostolischen Stuhl geprüft werden.39 VI. Als Ergebnis kann festgehalten werden: In den Fällen, in denen gegen einen Kleriker der Vorwurf sexuellen Missbrauchs erhoben wird, sind für kirchenrechtliche Maßnahmen im Hinblick auf die Dienstausübung die unterschiedlichen Handlungsebenen auseinanderzuhalten. Im Hinblick auf die Strafbarkeit ist durch den Ordinarius (nicht notwendig durch den Diözesanbischof) eine Voruntersuchung einzuleiten. 40 Am Ende der Voruntersuchung kann die Entscheidung zur Führung eines Strafverfahrens im Gerichts- oder Verwaltungsweg stehen. In allen Stadien, nicht erst bei Gerichtsverfahren, kann der Ordinarius nunmehr nach c. 1722 CIC unter den dort genannten materiellen und formalen Voraussetzungen vorsorglich Maßnahmen ergreifen. Der Diözesanbischof, und damit als sein Vertreter auch der mit Spezialmandat ausgestattete Generalvikar, kann unabhängig davon im Rahmen seiner Pflicht zur Wahrung der Disziplin, zum Schutz der Communio und zum Heil der Seelen ihm geeignet erscheinende, notwendige, vorläufige und wertfreie Maßnahmen ergreifen, durch die auch in die Rechtsstellung des Betroffenen eingegriffen wird. Dies erfolgt unabhängig von den Regelungen des c. 1722 CIC, der hier als Rechtsgrundlage überhaupt nicht einschlägig ist und auf einer anderen Handlungsebene liegt. Damit bedarf es hier auch keiner Beteiligung des Kirchenanwaltes, der im Exekutivbereich als Organ der Rechtspflege auch gar keine Kompetenz besitzt. Dass ein Missbrauchsvorwurf gegen einen im Bereich der Ortskirche wirkenden Kleriker eine solche Situation bedeuten kann, die auch außerhalb von 39 Ausführlicher hierzu: Michael Werneke, Zur Stellung der kirchlichen Arbeitsgerichtsbarkeit in der kanonischen Gerichtsverfassung, in: KuR 2011, S. 209–224, hier 211–217. 40
Cc. 1717 ff. CIC; Art. 16 Normae (Anm. 16); Nr. 29 Leitlinien (Anm. 15).
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strafrechtlichen Ermittlungen ein vorläufiges Eingreifen des Diözesanbischofs bzw. seines Generalvikars erforderlich machen kann, ist naheliegend und wird auch vom Apostolischen Stuhl mehrfach bestätigt. So heißt es in dem Leitfaden aus dem Vatikan vom 12. April 201041 in deutscher Übersetzung: „In der Tat steht dem Ortsbischof immer die Vollmacht zu, Kinder zu schützen, indem er die Aktivitäten eines jeden Priesters in seiner Diözese einschränkt. Dieses folgt aus seiner ordentlichen Autorität, die in jeglichem notwendigen Maß einzusetzen ihm aufgetragen ist, damit die Kinder nicht zu Schaden kommen und diese Vollmacht kann ausgeübt werden nach Ermessen des Bischofs vor, während und nach jeglichem kanonischen Prozess.“42 Und im oben erwähnten Schreiben der Glaubenskongregation vom 3. Mai 201143 heißt nach Hinweis auf die Unschuldsvermutung klarstellend: „Als Vorsichtsmaßnahme kann der Bischof aber die Ausübung des Weiheamtes bis zur Klärung der Anschuldigungen einschränken.“ Dies entspricht dem Anspruch, dass kirchliches Rechtshandeln der Förderung der kirchlichen Communio und dem Heil der Seelen zu dienen verpflichtet ist. Es gilt für alle Maßnahmen, was Ludger Müller für kirchliche Verfahren festgestellt hat: „Sie müssen geeignet sein, sowohl der Freiheit des Christen als auch der Verpflichtung gegenüber Gott zu dienen.“ Und sie müssen dazu beitragen, „daß die Kirche immer mehr zu einem Ort wird, an dem wirklich das Wort Gottes gehört und seine Sakramente gefeiert werden“. 44 Damit kehren wir dann zurück zu dem Ausgangspunkt der Überlegungen und dem Beitrag, den der Jubilar vor drei Jahrzehnten mit seinen Arbeiten zum kirchlichen Sanktionenrecht hierzu geleistet hat.
41 Guida alla comprensione delle procedure di base della Congregazione per la Dottri na della Fede (CDF) riguardo alle accuse di abusi sessuali, veröffentlicht unter www.vatican.va/resources_guide-CDF-procedures_it.html (Stand: 13. 04. 2010), ohne Verfasserangabe. 42 „In realtà, al vescovo locale è sempre conferito il potere di tutelare i bambini limitando le attività di qualsiasi sacerdote nella sua diocesi. Questo rientra nella sua autorità ordinaria, che egli è sollecitato a esercitare in qualsiasi misura necessaria per garantire che i bambini non ricevano danno, e questo potere può essere esercitato a discrezione del vescovo prima, durante e dopo qualsiasi procedimento canonico“ (Übersetzung M. W.). 43
Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben vom 3. Mai 2011 (Anm. 26),
S. 59. 44
Müller, Rechte in der Kirche (Anm. 9), S. 24.
Zensuren und Strafen im kanonischen Recht Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes der Lateinischen Kirche Von Ludger Müller Ludger Müller Die wissenschaftliche Arbeit von Libero Gerosa ist geprägt vom Anliegen einer „Theologie des Kirchenrechts“,1 d. h. vom Bemühen um eine wissenschaftliche Untersuchung der kirchlichen Rechtsordnung „in stetem lebendigem Bezug zum Mysterium der Kirche“, wie Gerosa im Anschluß an das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils „Optatam totius“ über die Priesterbildung (OT 16, 4) formuliert hat.2 Schon in seiner Dissertation wandte Libero Gerosa sich daher der „theologischen Begründung des kirchlichen Strafrechts“ 3 zu. Hier kam er zu dem Ergebnis, daß jener Bereich des kanonischen Rechts, der herkömmlich als Strafrecht bezeichnet wurde, „ein System kanonischer Sanktionen“ bildet, „das sich weder als ein eigentliches Strafrecht noch als eine ausschließliche Disziplinarrechtsordnung bezeichnen läßt“. 4 Dieser Teil des 1
Vgl. hierzu v. a. Libero Gerosa, Teologia del diritto canonico: fondamenti storici e sviluppi sistematici, con la collaborazione di Stefano Violi, Lugano / Reggiani 2005. Das Anliegen einer Theologie des Kirchenrechts ist aus der „Münchener Schule“ erwachsen, der auch Libero Gerosa entstammt; vgl. zum Ganzen Ludger Müller, Die „Münchener Schule“. Charakteristika und wissenschaftliches Anliegen, in: AfkKR 166 (1997), S. 85– 118. 2
Libero Gerosa, Charisma und Recht. Kirchenrechtliche Überlegungen zum „Urcharisma“ der neuen Vereinigungsformen in der Kirche, Einsiedeln / Trier 1989 (Sammlung Horizonte 27), 20; vgl. ders., Das Recht der Kirche, Paderborn 1995 (AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie 12), S. 15; ders., Kirchenrecht, Paderborn 2001, S. 71 f. u. ö. 3 So der Untertitel dieser Arbeit: Libero Gerosa, La scomunica è una pena? Saggio per una fondazione teologica del diritto penale canonico (Studia Friburgensia N. S. 64), Fribourg (Suisse) 1984. 4 Libero Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit der kanonischen Sanktion, Paderborn 1995, S. 292. Der erste Teil dieses Buches (S. 21–293) stellt die redaktionell bearbeitete deutsche Übersetzung seiner Doktorarbeit dar.
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kirchlichen Rechts ist daher am besten als „Sanktionsrecht“ zu bezeichnen. Ein wichtiger Grund dafür war die Erkenntnis: „Die ‚excommunicatio‘ läßt sich nicht als eine Strafe bezeichnen, nicht einmal in einem analogen Sinn.“5 Die Exkommunikation stellt nach Gerosa deshalb keine Strafe dar, weil sie nicht den Zweck der Vergeltung hat. Ähnliches läßt sich auch von Suspension und Interdikt sagen.6 Innerhalb des Systems kanonischer Sanktionen muß die grundlegende Unterscheidung zwischen Zensuren und (Sühne-)Strafen7 gemacht werden.8 Im Blick auf das geltende Sanktionsrecht der Lateinischen Kirche stellt sich jedoch die Frage, ob diese Unterscheidung wirklich konsequent beachtet wird. Welche Folgerungen ergeben sich aus einer strikten Unterscheidung von Zensuren und Strafen, auch im Blick auf eine Reform des kirchlichen Sanktionsrechts, wie sie im Augenblick vorbereitet wird?9
5
Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, ebd., S. 284; vgl. hierzu noch besonders: ders., Ist die Exkommunikation eine Strafe?, in: AfkKR 154 (1985), S. 83–120; ders., Communio – Excommunicatio. Zur theologischen und rechtlichen Natur der Exkommunikation, in: Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre, hrsg. von Reinhild Ahlers und Peter Krämer, Paderborn 1990, S. 105–119. 6
Vgl. Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, ebd., S. 287.
7
Libero Gerosa vertritt die Ansicht, daß auch die „Sühnestrafen“ nicht als Strafen in genau demselben Sinn bezeichnet werden können wie im weltlichen Recht; er sieht sie als „Disziplinarmaßnahmen ‚sui generis‘“ an; vgl. Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam, ebd., S. 291. Dagegen läßt sich feststellen, daß die „Sühnestrafen“ des kanonischen Rechts den Strafen des weltlichen Rechts doch recht weitgehend ähnlich sind, weswegen sie auch als Strafen bezeichnet werden können. Der These von Gerosa wird dadurch in ihrer Substanz nichts genommen; vgl. hierzu Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe – Notwendigkeit oder Widerspruch?, hrsg. von Ludger Müller, Alfred E. Hierold, Sabine Demel, Libero Gerosa und Peter Krämer, Münster 2006 (Kirchenrechtliche Bibliothek 9), S. 183–202, 195. 8 Da Zensuren keine Strafen sind, sind die Begriffe „Strafe“ und „Sühnestrafe“ identisch; im folgenden wird für diese im Regelfall der Begriff der Strafe verwendet. Oberbegriff für Zensur und Strafe ist jener der Sanktion. 9 Vgl. hierzu Juan I. Arrieta, Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung. Drei bisher nicht veröffentlichte Schreiben von 1988, in: AfkKR 179 (2010), S. 108–116; ders., Il progetto di revisione del libro VI del Codice di Diritto Canonico, in: AfkKR 181 (2012), S. 57–74.
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I. Wesen und Sinn kirchlicher Sanktionen Da sich Zensuren und Strafen in Sinn und Funktionsweise grundlegend unterscheiden, kann die Frage, was kirchliche Sanktionen sind und welchen Sinn ihre Anwendung hat, nicht für alle Sanktionsarten in derselben Weise beantwortet werden. So stellt sich zunächst die Frage: Was ist das Wesen der Zensur? Der CIC von 1983 bietet nur noch selten regelrechte Legaldefinitionen, 10 weil die Bildung von Begriffen nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, sondern der Wissenschaft ist.11 Aus diesem Grund wäre es nicht sinnvoll gewesen, den Text des can. 2241 § 1 CIC/1917 in das Gesetzbuch von 1983 wieder aufzunehmen: „Censura est poena qua homo baptizatus delinquens et contumax quibusdam bonis spiritualibus vel spiritualibus adnexis privatur, donec, a contumacia recedens, absolvatur.“ Diese Aussage kann jedoch von der Kirchenrechtswissenschaft ohne weiteres als Ausdruck der kanonischen Tradition aufgenommen und bei der begrifflichen Erfassung der Zensur berücksichtigt werden. 12 Danach haben Zensuren den Sinn, die Hartnäckigkeit („contumacia“) des Täters zu überwinden, sie sollen „den Täter zur Besinnung und so zur Änderung seines Verhaltens bringen“13 – theologisch könnte man auch von Umkehr sprechen, und das ist durchaus sachgerecht, wenn die weitverbreitete Lehre Recht hat, wonach jedes schwere Delikt in der Kirche auf einem sündhaften Verhalten beruht.14 Aus der klar auf den Täter bezogenen Zielsetzung der Zensur ergeben sich Eigentümlichkeiten im Blick auf die Dauerhaftigkeit dieser Sanktion und ihre 10
Vgl. Ludger Müller, Theologische Aussagen im kirchlichen Gesetzbuch. Sinn – Funktion – Problematik, in: Münchener Theologische Zeitschrift (MThZ) 37 (1986), S. 32–41, 35 f. 11
Vgl. Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici, Paderborn 1937 (Nachdruck: Paderborn 1967), S. 19. 12
Vgl. Antonio Calabrese, Diritto penale canonico, Città del Vaticano 21996, S. 112 f.
13 Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf / Ludger Müller, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. IV: Vermögensrecht, Sanktionsrecht und Verfahrensrecht (KanR IV), Paderborn / München / Wien / Zürich 132013, S. 91. 14 So auch Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam (Anm. 4), S. 160 im Anschluß an Aurelius Augustinus, Tractatus in Ioannis evangelium 41, 9: „Crimen autem est peccatum graue, accusatione et damnatione dignissimum“ (Sancti Aurelii Augustini in Ioannis Evangelium Tractatus CXXIV, hrsg. von Radbod Willems, Turnhout 1954 [Corpus Christianorum, Series Latina XXXVI, VIII] 362, 22–23), rezipiert in das Decretum Gratiani (c. 1 D. 81; Corpus Iuris Canonici, Pars I: Decretum Magistri Gratiani, hrsg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, S. 281); vgl. hierzu auch Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen? (Anm. 7), S. 198–200.
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Beendigung. Da Zensuren ausschließlich die Aufgabe haben, den Täter zum Einlenken zu bewegen, sind sie nicht mehr legitim, sobald dieser sein Fehlverhalten beendet hat. Deshalb regelt c. 1358 § 1, daß der Erlaß einer Zensur dann und nur dann möglich ist, wenn der Täter das Delikt wirklich bereut und außerdem die Wiedergutmachung eines allfälligen Schadens und die Behebung eines Ärgernisses zumindest ernsthaft versprochen hat (vgl. c. 1347 § 2); wenn das aber der Fall ist, kann dem einsichtig gewordenen Täter „der Nachlaß nicht verweigert werden“, wie c. 1358 § 1 ausdrücklich festhält. Das heißt: Es gibt einen bedingten Anspruch auf Nachlaß der Zensur bei Beendigung jener Handlungsweise, die zur Sanktionierung geführt hatte. Wenn es erforderlich scheint, kann der Ordinarius bei der Beendigung der Zensur allerdings weitere Maßnahmen bis hin zu einem Sanktionssicherungsmittel ergreifen, um für den Täter selbst und seine künftige Lebensführung oder für das öffentliche Wohl zu sorgen (vgl. c. 1348). Im Blick auf das Wesen von Strafen in der Kirche zeigt sich das folgende: Strafen sollen „den Täter und mögliche weitere Täter durch Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Rechtsminderungen davon“ abhalten, „weiterhin gegen die kirchliche Rechtsordnung zu verstoßen. Dabei darf das Strafmaß das Maß der Schuld nicht übersteigen.“15 Strafen werden also im wesentlichen im Blick auf das begangene Delikt angewendet. Wie Strafen im weltlichen Bereich sind auch die kanonischen Strafen von vorneherein in ihrer Höhe bemessen und mit ihrer Verbüßung beendet. Sie können ihren Sinn dadurch erreichen, daß sie verbüßt werden. Hieraus ergibt sich, daß Zensuren nicht als Strafen verwendet werden können und umgekehrt. Die beiden Sanktionsarten verfolgen unterschiedliche Ziele: Geht es bei der Zensur um die Beendigung eines sanktionswürdigen Verhaltens, so verfolgen Strafen allgemein- wie spezialpräventive Ziele ebenso wie den Zweck der Vergeltung für die begangene Tat. Eine Regelung wie jene des can. 2255 CIC/1917, daß Interdikt und Suspension Zensur oder Sühnestrafe sein können, wobei die Rechtsvermutung dafür spricht, daß sie als Zensuren wirken,16 widerspräche daher dem Sanktionsmittelsystem des CIC/1983. Die Verhängung der Suspension oder des Interdikts als (Sühne-)Strafe ist nicht
15 Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV, S. 93. – Das Problem der kirchlichen Disziplinarmaßnahmen kann an dieser Stelle übergangen werden, weil sie für das kodikarische Sanktionsrecht nicht im Vordergrund stehen. 16 Vgl. hierzu im Blick auf das Interdikt: Reinhard Knittel, La pena canonica dell’interdetto – Indagine storico-giuridica, Roma 1998 (Pontificia Universitas Lateranensis. Theses ad Doctoratum in Jure Canonico), S. 92–98.
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mehr möglich,17 auch nicht unter Berufung auf die „traditio canonica“ (vgl. c. 6 § 2 CIC/1983), die etwa in can. 2255 CIC/1917 erkannt werden könnte. Mit der oben dargestellten unterschiedlichen Funktion von Zensuren und Strafen ist es nicht zu vereinbaren, wenn der CIC die Zensuren lediglich als schwerere Strafen behandelt, wie dies in zwei Canones des allgemeinen Sanktionsrechts geschieht: C. 1318 mahnt den Gesetzgeber, Zensuren, besonders die Exkommunikation „nur mit allergrößter Zurückhaltung und für schwerere Delikte“ anzudrohen, und c. 1349 sieht die Zensuren als schwerere Strafen an, die der Richter im Falle einer gesetzlich unbestimmten Sanktion nur verhängen darf, „wenn die Schwere des Falles dies unbedingt erfordert“. In diesen beiden Canones wird nicht auf die spezielle Wirkweise von Zensuren abgestellt, sondern nur auf die Entsprechung zwischen Schwere des Delikts und Schwere der Sanktion. Neben diesen beiden Regelungen wird vor allem anhand der konkreten Androhung von Zensuren im speziellen Sanktionsrecht des CIC deutlich, daß der Gesetzgeber oftmals Zensuren einfach nur als besonders schwere (Sühne-)Strafen verstanden hat.18 C. 1387 dagegen zeigt, daß die Entlassung aus dem Klerikerstand – als „Strafe für immer“ – eine nochmals schärfere Sanktion ist als die Zensur der Suspension; die Sollizitation wird „je nach Schwere des Delikts, mit der Suspension, mit Verboten, mit dem Entzug von Rechten und, in schwereren Fällen, mit der Entlassung aus dem Klerikerstand“ sanktioniert. Hier steht am Ende der Aufzählung, und ausdrücklich als schwerste Sanktion benannt, die Entlassung aus dem Klerikerstand. Ähnlich sieht c. 1370 § 1 beim tätlichen Angriff auf den Papst neben der ohnedies von selbst eingetretenen Exkommunikation die Entlassung aus dem Klerikerstand als Strafverschärfung vor. Auch grundsätzlich stellen „Strafen für immer“ die schwereren Sanktionen als Zensuren jeder Art dar. Dieser Eindruck wird in gewisser Weise durch die folgenden Regelungen im allgemeinen Sanktionsrecht zusätzlich bestätigt: – Nach c. 1317 kann die Entlassung aus dem Klerikerstand durch ein Partikulargesetz nicht festgesetzt werden,19 – c. 1319 § 1 untersagt die Androhung von „Strafen für immer“ durch Verwaltungsbefehl, 17 Vgl. nochmals für das Interdikt: ebd., S. 184; in bezug auf alle drei Zensuren: Bruno Fabio Pighin, Diritto penale canonico, Venezia 2008 (Istituto di Diritto Canonico San Pio X, Manuali 3), S. 188. 18 Vgl. hierzu unten, II. 19 Im Unterschied dazu kann der – auch teilkirchliche – Gesetzgeber sehr wohl auch eine Zensur und sogar die Exkommunikation androhen, wenn auch nur „mit allergrößter Zurückhaltung und nur für schwerere Straftaten“ (c. 1318).
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– nach c. 1349 kann der Richter im Falle einer gesetzlich unbestimmten Sanktion „Strafen für immer“ nicht verhängen, wogegen er Zensuren bei entsprechend schweren Delikten durchaus verhängen darf20 und – c. 1342 § 2 schreibt für die Verhängung oder Feststellung einer „Strafe für immer“ den Gerichtsweg verbindlich vor; diese kodikarische Regelung hat allerdings durch die Sondervollmachten, die Papst Benedikt XVI. am 30. Januar 2009 der Kleruskongegation erteilt hat,21 ihre ausnahmslose Geltung verloren. Hiernach ergibt sich im Blick auf die jeweilige Schwere die folgende „Hierarchie“ von Maßregelungen:22 (1) Die schwerste Sanktionsart stellen die „Strafen für immer“ dar, insbesondere die Entlassung aus dem Klerikerstand. (2) Danach folgen die Zensuren, wobei für Kleriker zu Exkommunikation und Interdikt die Suspension hinzutritt. (3) An dritter Stelle sind die Sühnestrafen zu nennen, die untereinander in Charakter und Schwere sehr verschieden sind. (4) Die Sanktionsersatzmittel sind zwar keine Sanktionen, stellen aber eine Möglichkeit der Reaktion der Kirche auf das Fehlverhalten eines Gläubigen dar, die ohne die Härte der Sanktion auskommen soll und insofern milder ist als jede der soeben genannten Sanktionsarten. In dieser Abfolge erscheinen die Zensuren schlicht eingereiht zwischen verschiedenen Strafen. Der qualitative Unterschied zwischen Zensuren und anderen Maßregelungen wird auf diese Weise nicht deutlich. Wirkt sich die hier angedeutete Gefahr einer Vermischung konkret aus? Werden Zensuren tatsächlich nur als Maßnahmen zur Beugung der Hartnäckigkeit des Täters herangezogen oder auch zur Sühne für ein bereits abgeschlossenes Delikt?
20 Die Übersetzung des c. 1349 in der im Auftrag der Bischöfe des deutschen Sprachraums erstellten lateinisch-deutschen Ausgabe: „Strafen für immer darf er jedoch nicht verhängen“ mildert den lateinischen Text des Canons ab: „perpetuas autem poenas irrogare non potest“. 21 22
Vgl. hierzu Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV, S. 574–577.
Der Begriff „Maßregelung“ wird in einem allgemeineren Sinn verwendet als der Begriff der Maßregel in der Sprache des deutschen weltlichen Strafrechts; vgl. hierzu z. B. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, München 31997, § 3.
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II. Die Androhung von Zensuren im speziellen Sanktionsrecht Ein Überblick über das spezielle Sanktionsrecht 23 der Lateinischen Kirche ergibt das folgende Bild. 1. Exkommunikation Die Exkommunikation wird angedroht bei den folgenden Delikten: – Apostasie, Häresie und Schisma (c. 1364, Tatsanktion), – Wegwerfen der eucharistischen Gestalten oder deren Entwendung oder Zurückbehaltung in sakrilegischer Absicht (c. 1367, Tatsanktion, dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung vorbehalten), – Anwendung physischer Gewalt gegen den Papst (c. 1370, Tatsanktion, dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung vorbehalten), – absolutio complicis (c. 1378 § 1, Tatsanktion, dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung vorbehalten), – Bischofsweihe ohne päpstlichen Auftrag (c. 1382, Tatsanktion, dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung vorbehalten), – Versuch der Spendung der Priesterweihe an eine Frau bzw. des Empfangs der Priesterweihe durch eine Frau (Art. 5 Normen SCFid 2010, Tatsanktion, der Kongregation für die Glaubenslehre zur Behandlung vorbehalten)24, – unmittelbarer Bruch des Beichtgeheimnisses (c. 1388 § 1, Tatsanktion, dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung vorbehalten), – Abtreibung (c. 1398, Tatsanktion). Hierbei fällt schon auf den ersten Blick zweierlei auf: (1) Die Exkommunikation wird grundsätzlich als Tatsanktion angedroht. Nach Libero Gerosa entspricht dieses Faktum „treffend der inneren Eigenstruktur der ‚excommunicatio‘ … Diese besteht im Grund in der Anerkenntnis, daß man sich schon selbst aus der ‚communio plena‘ ausgeschlossen hat. Die Exkommunikationssentenz, die von der kirchlichen Autorität ausgesprochen wird, besteht einfach darin, daß die rechtlichen Konsequenzen eines schon vorher vorgenommenen Bruchs mit der Kirche ‚in foro externo‘ klargestellt 23
Zugrundegelegt werden außer dem CIC/1983 auch die Normen über die der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehaltenen Straftaten bzw. Normen über Straftaten gegen den Glauben und schwerwiegendere Straftaten vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419–430; AfkKR 179 (2010), S. 169–179. 24
AAS 102 (2010), S. 419–430, hier 423 f.
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werden“.25 Als Spruchsanktion kommt die Exkommunikation nur bei der unbestimmten Sanktionsdrohung des c. 1388 § 2 in Betracht oder als Sanktionsverschärfung gemäß c. 1378 § 3. (2) Bei der Sanktion der Exkommunikation – und nur bei dieser – ist fast immer ein Vorbehalt der Behandlung des betreffenden Falles durch den Apostolischen Stuhl vorgesehen. Die Reservation bewirkt eine Erschwernis für den Exkommunizierten, den Sanktionsnachlaß zu erlangen. Sie stellt so eine Sühnemaßnahme dar,26 wie sie auch sonst durch den Ordinarius mit dem Nachlaß verbunden werden kann (vgl. c. 1358 i. V. m. c. 1348). Dies soll wohl als Zeichen dafür zu verstehen sein, daß das betreffende Delikt eine größere Beeinträchtigung der kirchlichen communio mit sich bringt.27 Doch scheint dieser Interpretation zu widersprechen, daß neben der Abtreibung ausschließlich die Glaubensdelikte nicht dem Apostolischen Stuhl zur Behandlung reserviert sind, also gerade jene Delikte, die für die kirchliche communio die schwersten Beeinträchtigungen mit sich bringen. Daher stellt sich die Frage um so dringlicher, ob nicht auf die Reservation des Nachlasses von Sanktionen überhaupt verzichtet werden sollte.28 2. Interdikt Das Interdikt ist im CIC/1983 angedroht in den folgenden Fällen: – Anwendung physischer Gewalt gegen einen Bischof (c. 1370, Tatsanktion), – Förderung oder Leitung einer kirchenfeindlichen Vereinigung (c. 1374), – Simulation der Eucharistiefeier durch einen Laien (c. 1378 § 2 n. 1, Tatsanktion), – Versuch der sakramentalen Absolution ohne Absolutionsvollmacht oder Simulation des Bußsakraments durch einen Laien (c. 1378 § 2 n. 2, Tatsanktion), – Falschanzeige wegen Sollizitation (c. 1390 § 1, Tatsanktion) und – Eheschließungsversuch eines laikalen Ordensangehörigen mit ewigen Gelübden (c. 1394 § 2, Tatsanktion). 25
Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam (Anm. 4), S. 274.
26
So auch Antonio Vitale, Contributo ad una teoria delle sanzioni nell’ordinamento canonico, in: Ephemerides iuris canonici 18 (1962), S. 234–294; 20 (1964), S. 110–159, hier 145. 27 28
Vgl. auch Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam (Anm. 4), S. 281.
Vgl. Gerosa, ebd.; vgl. auch Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV, S. 165: „Eine vollständige Abschaffung der Lossprechungsvorbehalte scheiterte … daran, daß sich der Apostolische Stuhl den Nachlaß beim Delikt des tätlichen Angriffs auf den Papst vorbehielt.“
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Auch das Interdikt wird im CIC im Regelfall als Tatsanktion angedroht; nur für das Delikt der Förderung oder Leitung einer Vereinigung, die gegen die Kirche handelt (c. 1374), ist das Interdikt als Spruchsanktion vorgesehen. Im Hintergrund dieser Regelung könnte das Faktum stehen, daß der Richter bzw. der Ordinarius feststellen muß, ob das Verhalten des betreffenden Christgläubigen nur als Mitgliedschaft oder als Förderung oder Leitung einer kirchenfeindlichen Vereinigung anzusehen ist. In den Fällen des c. 1378 § 2 kann nach c. 1378 § 3 die Tatsanktion des Interdikts durch Spruchsanktionen verschärft werden, bis hin zur Exkommunikation. Das Faktum des wahlweise geschehenden Einsatzes einer Strafe oder einer Zensur zeigt, daß auch im Hintergrund der Regelung des c. 1378 § 3 das Verständnis steht, daß die als Sanktionsverschärfung verhängte Exkommunikation lediglich eine besonders schwere Strafe darstellt. 3. Suspension Die Sanktion der Suspension ist nach der kodikarischen Rechtslage für die folgenden Fälle vorgesehen: – Anwendung physischer Gewalt gegen einen Bischof durch einen Kleriker (c. 1370, Tatsanktion, neben der ebenfalls latae sententiae eintretenden Sanktion des Interdikts), – Simulation der Eucharistiefeier durch einen nichtpriesterlichen Kleriker (c. 1378 § 2 n. 1, Tatsanktion), – Versuch der sakramentalen Absolution ohne Absolutionsvollmacht oder Simulation des Bußsakraments durch einen Kleriker (c. 1378 § 2 n. 2, Tatsanktion), – Falschanzeige wegen Sollizitation durch einen Kleriker (c. 1390 § 1, Tatsanktion, neben der ebenfalls latae sententiae eintretenden Sanktion des Interdikts), – Eheschließungsversuch eines Klerikers (c. 1394 § 1) und – eheähnliches Verhältnis eines Klerikers bzw. anderer Zölibatsverstoß (c. 1395 § 1). Auch die Suspension ist im Regelfall als Tatsanktion vorgesehen und nur bei Verstößen gegen die Zölibatspflicht bzw. das Keuschheitsgelübde als Spruchsanktion.
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C. 1383 normiert, daß der ohne Weiheentlaßschreiben Geweihte „ohne weiteres von der empfangenen Weihe suspendiert“ ist.29 Diese Sanktion ist aber nicht mit der Zensur der Suspension identisch, die sich ja auf die Weihe- und Leitungsvollmacht insgesamt und nicht nur auf die illegitim empfangene Weihe bezieht.30 Angesichts der Regelung des c. 1333, der die Suspension nur als Zensur vorsieht, hätte der Gesetzgeber in c. 1383 an die Stelle der traditionellen Formel „a recepto ordine suspensus“ um der Klarheit der Rechtssprache willen eine andere Ausdrucksweise wählen und z. B. vom Verbot der Ausübung der empfangenen Weihe sprechen sollen. Ihre Begründung findet diese spezielle Art der Suspension darin, daß es – beim Empfang der Diakonenweihe ohne Weiheentlaßschreiben – keinen Inkardinationsordinarius gibt, der jedoch für die rechtmäßige Ausübung der empfangenen Weihe unverzichtbar ist (vgl. c. 265), bzw. daß – beim Empfang der Priesterweihe ohne Weiheentlaßschreiben – der Inkardinationsordinarius „nicht dazu gezwungen werden kann,“ dem so Geweihten „die Ausübung der Priesterweihe zu gestatten oder gar ihm eine priesterliche Aufgabe zuzuweisen.“31 Daran ändert sich jedoch auch dann nichts, wenn der betreffende Weiheempfänger seine Handlungsweise bereut und bereit ist, Schaden zu beheben und an der Beseitigung des Ärgernisses mitzuwirken, wie c. 1347 i. V. m. c. 1358 § 1 die Voraussetzungen für den Nachlaß einer Zensur umschreibt. Wenn nämlich der Inkardinationsordinarius zu dem Urteil gelangt, daß der ohne sein Weiheentlaßschreiben zum Priester geweihte Diakon für das Priesteramt nicht geeignet ist bzw. wenn der „clericus acephalus“ keinen Ordinarius findet, der bereit ist, ihn zu inkardinieren, bleibt die „suspensio a recepto ordine“ u. U. bis zum Lebensende des unrechtmäßig Geweihten bestehen. 4. Androhung einer unbestimmten Zensur In c. 1372 wird die Appellation gegen eine Entscheidung des Papstes an ein Allgemeines Konzil32 oder in anderer Weise an das Bischofskollegium mit einer Zensur sanktioniert. In Betracht kommen also Exkommunikation oder Interdikt, für Kleriker auch die Suspension. Wenn jedoch, wie es nach c. 1372 möglich ist, die Appellation eines Klerikers gegen eine Entscheidung des Papstes mit 29
So schon can. 2374 CIC/1917 in Aufnahme einer alten kanonischen Tradition.
30
Vgl. hierzu Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV, S. 220 f.
31
Ebd., S. 221.
32
Zum historischen Hintergrund dieses Delikts vgl. Hans-Jürgen Becker, Die Appellation vom Papst an ein Allgemeines Konzil. Historische Entwicklung und kanonistische Diskussion im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Köln / Wien 1988 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 17).
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der Suspension, jene eines Laien dagegen mit dem Interdikt oder gar der Exkommunikation sanktioniert würde, wäre dies eine nicht begründbare Ungleichbehandlung, denn die Suspension betrifft nur die Weihe- und die Leitungsgewalt, während die anderen Zensuren v. a. auch den Sakramentenempfang untersagen und daher viel tiefer in die Rechte des betreffenden Katholiken eingeifen (vgl. c. 1331 § 1 n. 2 bzw. c. 1332 i. V. m. c. 1331 § 1 n. 2). Für den Fall der simonistischen Sakramentenspendung bzw. des simonistischen Sakramentenempfangs sieht c. 1380 die Verhängung des Interdikts oder der Suspension vor. Insofern diese Sanktionsdrohung ermöglicht, einen Kleriker (nur) mit der Suspension zu belegen, einen Laien dagegen mit dem Interdikt, gilt für diese Regelung dieselbe Kritik wie soeben bezüglich c. 1372 geäußert.33 Da alle Zensuren dasselbe Ziel verfolgen, nämlich den Täter zur Besinnung zu bringen, ist die Androhung einer unbestimmten Zensur – von der dadurch ermöglichten Ungleichbehandlung von Klerikern und Laien abgesehen – unproblematisch. III. Die Zensur – Beugemaßnahme und besonders schwere Strafe Wie gesehen, soll die Zensur den Sinn haben, die Hartnäckigkeit des Täters zu beenden. Deshalb kommt sie nur in den Fällen eines Dauerdelikts bzw. eines solchen Delikts in Betracht, in dem sich eine dauerhafte communio-widrige Einstellung des Täters zeigt. Diese Voraussetzungen für die Anwendung einer Zensur dürften ohne weiteres bei den Glaubensdelikten von Häresie, Apostasie und Schisma vorliegen. 34 Besonders diese „typisch kirchenwidrigen Delikte“ 35 haben bei der Entwicklung der These von Gerosa im Hintergrund gestanden.36 Wenn beim Zölibatsverstoß des Klerikers die Suspension verhängt wird, geht es darum, daß dieser das fortbestehende zölibatswidrige Verhältnis been33 Eine Ungleichbehandlung besteht auch bei der Sanktionierung des Eheschließungsversuchs durch einen Ordenskleriker mit der Suspension (c. 1394 § 1) und durch einen Ordenslaien mit dem Interdikt (c. 1394 § 2). Allerdings ist in diesem Fall dem Richter bzw. Ordinarius nicht die Möglichkeit einer Wahl gegeben. 34 Vgl. hierzu Libero Gerosa, Scisma e scismatici, in: Enciclopedia del Diritto, Vol. XII, Milano 1989, S. 742–750; ders., Schisma und Häresie. Kirchenrechtliche Aspekte einer neuen ekklesiologischen Begriffsbestimmung, in: ThGl 83 (1993), S. 195–212. 35
Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam (Anm. 4), S. 186.
36
Vgl. bes. ebd., S. 186–190; 233–243.
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det.37 Deswegen ist c. 1395 § 1 so formuliert, daß der Tatbestand nur dann erfüllt ist, wenn der Kleriker „in einem eheähnlichen Verhältnis lebt“ bzw. „in einer anderen äußeren Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs verharrt“. Eine ähnliche Situation setzt c. 1394 bezüglich der Eheschließung des Klerikers voraus. Nur wenn der zölibatswidrige Zustand fortbesteht, können die Sanktionen von c. 1394 bzw. c. 1395 angewendet werden. Wenn der Ordinarius bzw. der Richter erst nach Beendigung dieses Delikts davon Kenntnis erhält, ist die Anwendung einer Zensur nicht mehr sinnvoll und auch nicht mehr zulässig. 38 Nach dem Wortlaut der cc. 1394 § 1 und 1395 ist auch die Verhängung einer Strafe nach dem Ende der zölibatswidrigen Handlungsweise nicht möglich; 39 zu prüfen ist allenfalls, ob in einem besonders schwerwiegenden Fall eine Sanktionierung nach c. 1399 geboten oder die Anwendung eines Sanktionsersatzes möglich und sinnvoll ist. In den cc. 1394 und 1395 wird die Zensur gegenüber einem Kleriker als Beugemaßnahme eingesetzt, d. h. so, wie es ihrem Wesen entspricht. Andere Delikte zeigen eine dahinterstehende Überzeugung, die korrigiert werden muß, so z. B. – die Verunehrung der eucharistischen Gestalten, die einen Angriff auf die Realpräsenz Christi in diesem Sakrament darstellt;40 – die Appellation gegen eine Entscheidung des Papstes an ein Allgemeines Konzil oder in anderer Art und Weise an das Bischofskollegium; die Verhängung einer Zensur ist bei diesem Delikt deswegen angebracht, weil diese Handlungsweise eine schismatische und häretische Einstellung 41 offenbart, die dauerhafter Natur sein dürfte; gegen das „hartnäckige Festhalten“ an dieser zugrundeliegenden Einstellung richtet sich die Zensur; – die Bischofsweihe ohne päpstlichen Auftrag, welche als in sich schismatischer Akt zu werten ist,42 37 Zum Erreichen dieses Zieles kann ggf. durch weitere Maßnahmen bis hin zur Ent lassung aus dem Klerikerstand weiterer Druck ausgeübt werden. 38 Wenn jedoch die Beendigung des zölibatswidrigen Verhaltens des Klerikers nicht eindeutig feststeht, ist die Anwendung der Suspension zulässig; sofern klar beweisbar ist, daß das Delikt begangen wurde und seine Fortdauer zumindest einigermaßen wahrscheinlich ist, muß der Täter nachweisen, daß es nicht weiter andauert. 39 Zu beachten ist zudem, daß bei Sanktionsgesetzen enge Interpretation geboten ist (vgl. c. 18). 40 Vgl. Velasio de Paolis / Davide Cito, Le sanzioni nella Chiesa. Commento al Codice di Diritto Canonico Libro VI, Città del Vaticano 22008 (Manuali 8), S. 305. 41
Vgl. bes. I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Pastor aeternus“, Kap. 4 (DenzH 3064).
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– die versuchte Weihe einer Frau zum Priester, die eine Bestreitung der als endgültig verpflichtend vorgelegten diesbezüglichen Lehre43 zeigt. Bei einzelnen Delikten ist es fraglich, ob die Zensur als Beugemaßnahme eingesetzt wird. Das gilt beispielsweise in folgenden Fällen: Beim Eheschließungsversuch eines laikalen Ordensangehörigen mit ewigen Gelübden ist die von selbst eintretende Zensur des Interdikts angedroht (c. 1394 § 2). Diese Sanktion dürfte allerdings angesichts des ipso facto eingetretenen Ausschlusses aus dem Orden nicht als Beugemaßnahme wirken. Es ist daher die Frage zu stellen, ob das Ziel dieser Sanktion überhaupt die Beendigung der gelübdewidrigen ungültigen Ehe sein kann. Ist nicht eher schlicht eine härtere Bestrafung angezielt? Geht es nicht darum zu verdeutlichen, daß der Verstoß gegen das Gelübde nicht nur den betreffenden Christgläubigen und den kanonischen Lebensverband betrifft, dem er angehört hatte? 44 Schließlich handelt es sich beim amtlichen Gelübde um ein öffentlich abgegebenes Versprechen gegenüber Gott, aus dem zugleich eine Bindung gegenüber der Kirche entsteht. 45 Jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, daß das Interdikt in c. 1394 § 2 lediglich als eine besonders schwere Strafe angedroht wird. Wenn in c. 1370 für den Angriff auf den Papst die von selbst eintretende Exkommunikation, für den tätlichen Angriff auf einen Bischof das von selbst eintretende Interdikt und für dasselbe Delikt gegenüber einem anderen Kleriker oder Ordensangehörigen nur eine gerechte Strafe vorgesehen ist, scheint sich zu 42
Vgl. die Begründung der Kongregation für die Bischöfe im Exkommunikationsdekret im Fall des Erzbischofs Marcel Lefebvre vom 1. Juli 1988, in: AfkKR 157 (1988), S. 466 f.; ebenso Papst Johannes Paul II., Motu Proprio Ecclesia Dei vom 2. Juli 1988, in: AAS 80 (1988), S. 1495–1498, hier 1496; vgl. hierzu: Ludger Müller, Der Fall Lefebvre. Chronik eines Schismas, in: Das Bleibende im Wandel (Anm. 5), S. 11–34, 29 f. 43 Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe vom 22. Mai 1994, in: AAS 86 (1994), S. 545–548. Vgl. hierzu Winfried Aymans, Veritas de fide tenenda. Kanonistische Erwägungen zu dem Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ im Lichte des Motu Proprio „Ad tuendam Fidem“, in: Frauen in der Kirche. Eigensein und Mitverantwortung, hrsg. von Gerhard Ludwig Müller, Würzburg 1999, S. 380–399; Libero Gerosa, Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten und wissenschaftliche Methode im Kirchenrecht. Überlegungen aufgrund der jüngsten Debatte über die Frauenordination, in: ThGl 93 (2003), S. 13–27. 44
Diesem Verhältnis entspricht c. 694 § 1 n. 2 mit der von selbst eintretenden Entlassung aus dem Institut. 45 Vgl. Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. III: Verkündigungsdienst und Heiligungsdienst [KanR III], Paderborn / München / Wien / Zürich 132007, S. 557.
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zeigen, daß die Zensur auch in diesem Zusammenhang lediglich als besonders harte Sanktion verstanden und angewandt wird: Je höher die angegriffene Person in der kirchlichen Hierarchie steht, desto härter scheint die anzuwendende Sanktion sein zu müssen, um sie möglichst wirksam vor tätlichen Übergriffen zu schützen. Allerdings kann diese Art der Sanktionierung z. T. auch so erklärt werden, daß hinter dem tätlichen Angriff auf den Papst oder den Bischof eine schismatische Einstellung steht. C. 751 definiert das Schisma als „Verweigerung der Unterordnung unter den Papst oder der Gemeinschaft mit den diesem untergebenen Gliedern der Kirche“. Hier geht es nicht um die Gemeinschaft mit jedem Katholiken, sondern um jene mit dem Papst und den Bischöfen. 46 Eine solche Verweigerung der Unterordnung dürfte hinter einem tätlichen Angriff auf den Papst und den Bischof stehen; beim Angriff auf einen anderen Kleriker oder Ordensangehörigen kann von einer schismatischen Handlungsweise dagegen nicht die Rede sein. Die unterschiedliche Härte der Reaktion beim Angriff auf den Papst einerseits (Exkommunikation) und auf den Bischof andererseits ist dadurch zu erklären, daß der Papst eine höhere Stellung in der Kirche einnimmt als ein anderer Bischof, was auch den schismatischen Charakter dieser Tat deutlicher hervortreten läßt. Allerdings läßt sich mit dieser Interpretation nicht begründen, warum der tätliche Angriff auf einen nichtbischöflichen Kleriker oder auf einen Ordensangehörigen überhaupt mit einer Strafe bedroht ist. Bei simonistischer Sakramentenspendung und bei simonistischem Sakramentenempfang wird eine Zensur verhängt (c. 1380). Fraglich erscheint, ob dies mit dem Ziel der Beendigung eines sanktionswürdigen Verhaltens geschieht oder zur Sühne. Wenn man nur auf das Geschehen der Sakramentenspendung gegen einen materiellen Vorteil achtet, kann man zur Ansicht gelangen, daß bei dieser Handlungsweise, die ja bereits abgeschlossen ist, die Zensur nicht das richtige Mittel ist. Allerdings stellt Simonie eine besondere Art von Verunehrung der Sakramente dar.47 In seinem Brief „O quam bona“ an Bischof Virgilius von Arles vom 12. August 595 bezeichnete Papst Gregor der Große die Simonie als die erste Häresie, die in der Kirche entstanden ist (vgl. Apg 8, 9–24).48 Gegen diese Haltung, die das Heilige mit dem Profanen auf eine Stufe stellt, kann eine Zensur als Beugemaßnahme eingesetzt werden. 46
Aymans / Mörsdorf, KanR III, S. 42: „Wer das Band zerschneidet, das ihn als Glied der Gesamtkirche in eine konkrete Teilkirche einbindet, wer die verfassungsrechtliche Stellung der für ihn zuständigen Hirten nicht anerkennt, erfüllt den Tatbestand des Schismas“ (Her vorhebung von mir); vgl. auch Aymans / Mörsdorf / Müller, KanR IV, S. 199. 47 Vgl. Klaus Mördorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. II: Sachenrecht, München / Paderborn / Wien 121967, S. 6–11. 48
Vgl. DenzH 473.
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Bei einigen Delikten wird die Zensur nur deshalb eingesetzt, weil sie eine besonders harte Sanktion ist: Das gilt zunächst für die von selbst eintretende Exkommunikation bei der Abtreibung (c. 1398); hier geht es um den Schutz für die besonders Schwachen, für das ungeborene Leben – ein Anliegen, das der Kirche schon von ihrem Anfang an wichtig ist.49 Bei der Abtreibung als einem abgeschlossenen Geschehen geht es nicht um den Charakter der Zensur als Beugemaßnahme; die Exkommunikation wird hier als (Sühne-)Strafe eingesetzt. Auch wenn in c. 1388 § 2 bei Geheimnisverrat durch eine Person, die Kenntnisse aus der Beichte hat, die Exkommunikation verhängt wird, geht es nicht darum, ein fortbestehendes Delikt zu beenden, sondern eine besonders schwere Strafe anzuwenden – dies wohl aus dem Grund, weil das Beichtgeheimnis ein hohes Gut ist, das entsprechend geschützt werden muß. In einem solchen Fall wäre jedoch eine (Sühne-)Strafe eher angebracht, ggf. auch eine harte Strafe. Eine Steigerung der Sanktion ist in c. 1388 zu beobachten im Verhältnis zwischen dem mittelbaren (gerechte Sanktion) und dem unmittelbaren Bruch des Beichtgeheimnisses (Tatsanktion der Exkommunikation). Es läßt sich in keiner Weise begründen, daß es beim unmittelbaren Bruch des Beichtgeheimnisses die Notwendigkeit gibt, eine hartnäckige Haltung des Täters zu korrigieren; das ist hier ebensowenig der Fall wie beim mittelbaren Bruch des Beichtgeheimnisses. Eine solche Steigerung kann auch vermutet werden im Verhältnis zwischen der einfachen Mitgliedschaft in einer kirchenfeindlichen Vereinigung (gerechte Strafe) und ihrer Förderung oder Leitung (Interdikt, c. 1374). Allerdings wäre die Anwendung einer Zensur in beiden Fällen eher sinnvoll, insofern es darum gehen sollte, sowohl den gesetzwidrigen Zustand der Förderung bzw. Leitung einer Vereinigung, die gegen die Kirche arbeitet, als auch jenen der einfachen Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung zu beenden. In diesem Zusammenhang wollte der kirchliche Gesetzgeber wohl eher die Sanktion für die schlichte Mitgliedschaft gegenüber jener für Leitung und Förderung abmildern. Dennoch: Auch in diesem Fall steht das Verständnis der Zensur als härtere Sanktion im Hintergrund der gesetzlichen Regelung. Die unterschiedliche Wirkweise von Zensuren und Strafen wird vor allem an jenen Stellen nicht berücksichtigt, an denen im CIC als Hauptsanktion 50 wahl-
49 Vgl. hierzu: Sabine Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation. Weltliches und kirchliches Strafrecht auf dem Prüfstand, Stuttgart 1995, zur Rechtsgeschichte v. a. S. 75–110.
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weise eine Zensur oder eine andere Sanktion, also eine Strafe angedroht wird. Als solche sind zu nennen: – c. 1366 – nichtkatholische Taufe oder Kindererziehung: Zensur oder andere gerechte Sanktion, – c. 1373 – Agitation gegen kirchliche Maßnahmen: Interdikt oder andere gerechte Sanktion, – c. 1385 – Meßstipendienhandel: Zensur oder andere gerechte Sanktion, – c. 1387 – Sollizitation: Suspension, Verbote oder Rechtsentzüge bis hin zur Entlassung aus dem Klerikerstand, – c. 1388 § 2 – Geheimnisverrat durch Personen, die Kenntnisse aus der Beichte erlangt haben: gerechte Sanktion, die Exkommunikation nicht ausgenommen, und – c. 1390 § 2 – Falschanzeige oder andere Rufverletzung: gerechte Sanktion, eine Zensur nicht ausgenommen. Bei diesen Delikten wäre die Verhängung einer Zensur, ggf. neben einer Strafe, nur bei einem andauernden Delikt sinnvoll. Der Text der Canones ermöglicht jedoch eine Wahl und unterscheidet nicht zwischen abgeschlossenem und fortdauerndem Delikt, wie es jedoch notwendig wäre. Die für die Aufwiegelung gegen Maßnahmen des Apostolischen Stuhls oder des Ordinarius oder bei der Aufforderung zum Ungehorsam gegen diese kirchlichen Autoritäten in c. 1373 vorgesehene Sanktionsdrohung („Interdikt oder andere gerechte Sanktionen“) hat ihr Vorbild bereits in den entsprechenden Canones des CIC von 1917 (cann. 2331 § 2, 2344), die „Zensuren oder andere angemessene Strafen“ angedroht haben. C. 1390 § 2 droht für eine Falschanzeige oder sonstige Rufverletzung eine gerechte Sanktion an, eine Zensur nicht ausgenommen. Das entspricht ungefähr der Sanktion, die can. 2355 CIC/1917 bei diesem Delikt für einen Kleriker vorgesehen hatte: angemessene Strafen oder Bußen, nicht ausgenommen die Suspension. Im Vergleich mit den im CIC/1917 vorgesehenen Sanktionsdrohungen ergibt sich jedoch insgesamt der Eindruck, daß die Vermischung der beugenden Funktion von Zensuren mit ihrem Einsatz als Strafen im CIC/1983 nur selten auf die entsprechenden Regelungen im CIC von 1917 zurückzuführen ist. Im Hintergrund scheint vielmehr die mangelnde 50
C. 1378 § 3 droht für die Meßfeier durch einen Nichtpriester und den Versuch der Absolutionserteilung oder Beichthören durch eine Person, welche die Absolution nicht erteilen kann, neben der obligatorischen Sanktion des Interdikts die Sanktionsverschärfung mit einer Sanktion an, nicht ausgeschlossen die Exkommunikation. Die Möglich keit der Wahl zwischen Strafe oder Exkommunikation betrifft aber nur die Strafverschärfung, nicht die Hauptsanktion; siehe hierzu oben II, 2.
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Beachtung des Unterschieds zwischen Zensuren und anderen Sanktionen in der Kirche zu stehen – vielleicht auch wegen der in can. 2255 CIC/1917 vorgesehenen und den an der CIC-Reform beteiligten Kanonisten geläufigen Möglichkeit, das Interdikt und die Suspension auch als Strafe einzusetzen. Nach geltendem Recht ist es allerdings mit dem Verständnis der Zensur als reine Beugemaßnahme nicht in Übereinstimmung zu bringen, wenn diese an die Stelle einer Strafe tritt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie eine anstelle einer Strafe verhängte Zensur beendet wird. Als Strafe müßte sie ein vordefiniertes Ende haben, so daß sie an einem bestimmten Datum von selbst wegfällt, als Zensur aber müßte sie nach den Bedingungen von c. 1358 i. V. m. c. 1347 § 2 beendet werden, wenn der Täter tätige Reue zeigt. Anders als die wahlweise geschehende Verhängung einer Zensur oder einer (Sühne-)Strafe erscheint die Verschärfung einer Zensur mit einer Strafe als unproblematisch, wie sie beispielsweise in c. 1395 § 1 vorgesehen ist, um einen Kleriker dazu zu bringen, sein eheähnliches Verhältnis oder seine sonstige andauernde Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs zu beenden. Diese Sanktionsverschärfung hat nur den Sinn, den Druck auf den Täter zu erhöhen und der Zensur eine höhere Wirksamkeit zu verschaffen. Das kann bei einer „Strafe für immer“ aber oftmals nur gelingen, solange mit dieser Sanktion nur gedroht wird. Ein aus dem Klerikerstand Entlassener dürfte wohl kaum noch ein Interesse an der Beendigung der Suspension haben. IV. Folgerungen im Blick auf die Reform des kirchlichen Sanktionsrechts Aus den vorstehenden Beobachtungen ergeben sich folgende Konsequenzen für die Neufassung eines den eigenen theologischen Grundlagen entsprechenden kirchlichen Sanktionsrechts: 1. Die Unterscheidung von Zensuren und Strafen muß konsequent durchgehalten werden. Das macht es insbesondere unmöglich, wahlweise eine Zensur oder eine Strafe anzudrohen. 2. Zensuren sind dann und nur dann anzudrohen, wenn es darum geht, gegen eine Hartnäckigkeit des Täters in seiner Handlungsweise oder in seiner nach außen erkennbaren Haltung anzugehen. Zur Sühne für eine gänzlich abgeschlossene Tat sind sie ungeeignet. 3. Es steht nichts dagegen, auch solche Rechtsentzüge und Verbote als Strafen anzuwenden, die als Folge einer Zensur festgelegt sind (z. B. ein Zelebrationsverbot). In einem solchen Fall muß aber der Umfang bzw. die Dauer dieser Strafe eindeutig im vorhinein festgelegt werden. Als Strafe ist dann nicht
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die Suspension zu verhängen, sondern z. B. das Verbot der (ggf. nur öffentlichen) Zelebration für die Dauer von zwei Jahren o. ä. 4. Gegen die Verhängung von Strafen oder Bußen zur Unterstützung einer Zensur ist nichts einzuwenden. Am Beispiel der Zensur läßt sich verdeutlichen, daß das kirchliche Recht auch juristisch verbessert werden kann, wenn bei seiner Ausgestaltung und Reform der Blick auf die jeweiligen theologischen Grundlagen gelenkt wird. Die synthetisch-kritische Aufgabe der Kirchenrechtswissenschaft, die nach Klaus Mörsdorf einen wesentlichen Bestandteil der Kirchenrechtsdogmatik darstellt, 51 kann „nur im Blick auf das ‚Mysterium der Kirche‘ (vgl. OT 16, 4) erfüllt werden.“52 Was Papst Johannes Paul II. vom kanonischen Recht insgesamt gesagt hat, gilt ebenso vom kirchlichen Sanktionsrecht: Es ist eng verknüpft mit dem Heilscharakter der Lehre des Evangeliums.53 Und nach den Worten von Libero Gerosa zeigt sich diese Verbindung hinsichtlich des kirchlichen Sanktionsrechts im engen „Zusammenhang der kirchlichen Sanktionen mit dem Sakrament der Buße …, das im Zentrum einer Pastoral der Bekehrung und deshalb im Zentrum der Sendung der Kirche steht.“54 Dem kirchlichen Sanktionsrecht muß es stets auch um den Täter gehen. Seiner Umkehr sollen die Zensuren dienen, und wenn das gelingt, ist zugleich auch für die Wiederherstellung der kirchlichen Communio am besten gedient.
51 Vgl. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. I: Einleitung, Allgemeiner Teil und Personenrecht, München / Paderborn / Wien 111964, S. 37. 52 Ludger Müller, Codex und Konzil. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils als Kontext zur Interpretation kirchenrechtlicher Normen, in: AfkKR 169 (2000), S. 469–491, hier 490. 53 Papst Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ vom 25. Januar 1983, in: AAS 75, Pars II (1983) XI, von Libero Gerosa am Ende seiner Doktorarbeit zitiert: La scomunica è una pena? (Anm. 3), S. 388. 54 Libero Gerosa, Bußsakrament, in: Reinhild Ahlers / Libero Gerosa / Ludger Müller, Ecclesia a Sacramentis. Theologische Erwägungen zum Sakramentenrecht, Paderborn 1992, S. 53–70, hier 70.
Recursus ab abusu Plädoyer für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche Von Alfred E. Hierold Alfred E. Hierold In seiner Studie „Appellatio extraiudicialis“ hat Heribert Schmitz eindrucksvoll nachgewiesen, dass ein Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte keine neue Erfindung, sondern ein altes Erbe in der kirchlichen Rechtstradition ist. 1 Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde im Rahmen der Reform des kanonischen Rechts der Gedanke einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, d. h. einer Gerichtsbarkeit über kirchliche Verwaltungsakte verstärkt aufgegriffen. Von wissenschaftlicher Seite wurden Entwürfe erarbeitet. 2 Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland verabschiedete einen Entwurf.3 In den Vorarbeiten für den neuen Codex Iuris Canonici waren Normen für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. 4 Selbst im letzten Schema 1982 für den CIC waren in den cc. 1737–1740 Normen für die Errichtung von Verwaltungsgerichten erster und zweiter Instanz durch die Bischofskonferenzen 1
Heribert Schmitz, Appellatio extraiudicialis. Entwicklungslinien einer kirchlichen Gerichtsbarkeit über die Verwaltung im Zeitalter der klassischen Kanonistik (1140– 1348) (= MthSTkan 29), München 1970. 2
Vgl. Entwurf auf der Ebene der bayerischen Kirchenprovinzen „Kirchliche Verwaltungsprozessordnung der Kirchenprovinzen in Bayern (VPO Bayern)“, abgedr. in: AfkKR 140 (1971), S. 59–73; dazu Paul Wirth, Gerichtlicher Schutz gegenüber der kirchlichen Verwaltung. Modell eines kirchlichen Verwaltungsgerichts, in: AfkKR 140 (1971), S. 29–59; Günter Raab, Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung. Zur Möglichkeit einer kanonischen Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem Modell des deutschen Rechts (AnGr, Vol. 211), Rom 1978; zuvor Heribert Schmitz, Möglichkeit und Gestalt einer kirchlichen Gerichtsbarkeit über die Verwaltung, in: AfkKR 135 (1966), S. 18–38. 3 Beschl. „Ordnung für Schiedsstellen und Verwaltungsgerichte der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (Kirchliche Verwaltungsgerichtsordnung – KVGO)“, in: Gemeinsame Synode Gesamtausg., S. 734–767; vgl. dazu Klaus Lüdicke, Auf dem Wege zu einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: ThPQ 126 (1978), S. 350– 360. 4
Vgl. Leitsatz Nr. 7 der Bischofssynode 1967 „Principia quae Codicis Iuris Canonici Recognitionem dirigant“, in: Communicationes 1 (1969), S. 77–85.
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und Normen für die verwaltungsgerichtliche Verfahrensweise (cc. 1741–1746 und 1750–1763) noch zu finden.5 Erst beim letzten Durchgang mit dem Papst wurden diese gestrichen und im revidierten und dann promulgierten Text blieben nur die Normen über den Rekurs auf dem Verwaltungsweg 6. Papst Paul VI. hatte bereits 1967 bei der Apostolischen Signatur eine Zweite Sektion als Gericht über Verwaltungsakte eingerichtet.7 Diese sollte nicht in der Sache entscheiden, sondern nur darüber, ob Rechtsnormen verletzt worden seien. 8 Die Diskussion über eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit ist im Rahmen der sog. Dialogprozesses erneut aufgeflammt. 9 Offensichtlich besteht ein Bedürfnis danach; dieser Beitrag will dies an einem konkreten Beispiel illustrieren. I. Rechtslage Wegen der notwendigen Umstrukturierungen aufgrund des Priestermangels sind manche Diözesen dazu übergegangen, keine oder nur wenige kanonische Pfarrer zu ernennen, sondern Priester zu sog. Moderatoren, die nicht dem c. 517 CIC entsprechen, zu Pfarradministratoren, zu Pastoren oder zu Pfarrvikaren, die nicht mit den vicarii paroeciales gemäß den cc. 545–552 CIC identisch sind, zu bestellen, weil diese leichter versetzbar oder absetzbar sind. In manchen sog. Versetzungsordnungen wird auch von den kanonischen Pfarrern verlangt, dass sie bereit sind, nach 10, 12 oder 15 Jahren die Stelle zu wechseln. 10 Sollten sie diesem gesetzlichen Befehl nicht nachkommen, wird ihnen angedroht, dass gegen sie ein Versetzungsverfahren gemäß den cc. 1748–1752 CIC durchgeführt 5
Schema Codicis Iuris Canonici iuxta animadversiones S. R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Institutorum vitae consecratae recognitum, Libreria Editrice Vaticana 1980. 6
Cc. 1732–1739; ein letzter Rest blieb in c. 1400 erhalten, der von einem Verwaltungsgericht spricht. 7 Papst Paul VI., Ap. Konst. „Regimini Ecclesiae Universae“ v. 15. August 1967, in: AAS 59 (1967), S. 885–928; NKD 10, S. 62–151. Zur rechtlichen Entwicklung des Verwaltungsgerichts der Apostolischen Signatur vgl. Zenon Grocholewski, La giustizia amministrativa presso la Segnatura Apostolica, in: Ius Ecclesiae 4 (1992), S. 3–22. 8
Vgl. „Normae Speciales in Supremo Tribunali Signaturae Apostolicae ad experimentum servandae“; nicht in den AAS veröffentlicht; abgedr. aber u. a. in: AfkKR 137 (1969), S. 177–202. 9
Vgl. „Memorandum von Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der katholischen Kirche“ vom 4. Februar 2011, Nr. 3, in: http://www.memorandum-freiheit.de (Zugriff am 16. 10. 2013). 10
Vgl. „Versetzungsordnung des Erzbistums Bamberg“ vom 12. 4. 2012, in: ABl. 135 (2012), S. 171–180, hier: 172.
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wird. Das Anliegen, das dahinter steckt, ist durchaus verständlich, da die Priester flexibler einsetzbar sind, aber damit wird faktisch das gesamtkirchliche Recht unterlaufen und ausgehebelt; denn nach c. 522 CIC muss der Pfarrer „Beständigkeit im Amt besitzen und ist deshalb auf unbegrenzte Zeit zu ernennen“. So bestünde bei der gegenteiligen Praxis schon „ein Interesse, auf gerichtlichem Wege kirchliche Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten Normen überprüfen zu lassen. Indes ist die gerichtliche Nachprüfung von Gesetzen im Wege des Normenkontrollverfahrens im Codex von 1983 nicht vorgesehen.“11 Umso dringlicher ist ein anderer Rechtsschutz gegen das Vorgehen der Verwaltung, wie der folgende konkrete Fall zeigt. II. Konkreter Fall Der Pfarrer XY wurde vom Personalreferenten der Diözese Z zu einem Gespräch eingeladen. Bei diesem Gespräch wurde dem Pfarrer erklärt, dass dieses keinesfalls der Einleitung eines Verfahrens gegen den Pfarrer und schon gar nicht der Einleitung eines Strafverfahrens diene. Er sei nun schon 15 Jahre kanonischer Pfarrer der Pfarrei A und deshalb sei es an der Zeit, entsprechend der Versetzungsordnung über einen Stellenwechsel nachzudenken und einen solchen zu vollziehen, zumal auch Leute aus seiner Gemeinde Klagen gegen ihn erhoben hätten und seinen Abschied wünschten, ohne dass ein strafwürdiges Vergehen vorliege. Da der Pfarrer nach einer Bedenkzeit einen Wechsel auf eine andere Pfarrei ablehnte, wurde er zu einem weiteren Gespräch geladen. Bei diesem wurden die Klagen schon konkreter benannt und der Pfarrer wurde erneut aufgefordert, einem Stellenwechsel zuzustimmen. Auch auf Wunsch des Pfarrers hin führte der Bischof der Diözese Z am 13. Juni 201212 mit ihm ein Gespräch und forderte ihn darin auf, entsprechend seinem Weiheversprechen im Gehorsam, wie der Bischof ihn versteht, zu folgen, und erörterte mit ihm die Möglichkeit des Eintritts in eine Ordensgemeinschaft, die der Pfarrer selbst ins Spiel brachte. Zugleich bot er ihm an, ihn in eine andere Pfarrei zu versetzen; in der neuen Pfarrei sollte er einen Begleiter haben, der ihm helfen solle, die Pfarrei so zu führen, dass die Pastoral im ganzen Umfang geleistet werden könne. Der Pfarrer selbst legte ein ärztliches Attest vor, in dem
11 12
Georg May, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: HdbKathKR 2, S. 1161.
Das Datum wird deswegen angegeben, weil dies im weiteren Fortgang und in der Endentscheidung eine Rolle spielt.
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der behandelnde Arzt eine Krankheit bescheinigte, die eine Versetzung nicht möglich mache. Als der Pfarrer nach einer kurzen Bedenkzeit unter Hinweis auf das Attest am 22. Juni 2012 erklärte, dass er nicht von seinem Amt zurücktreten wolle, richtete der Bischof am 6. Juli 2012 einen Brief an den Pfarrer, in dem er die Inhalte des Gesprächs zusammenfasste und ihm erklärte, dass er nicht mehr in seiner Pfarrei bleiben könne, da sein Dienst seit geraumer Zeit „schädlich und unwirksam“ gemäß c. 1740 CIC sei. Zugleich teilte er ihm mit, dass er das Amotionsverfahren einleite, mit der Durchführung den Generalvikar in Zusammenarbeit mit einem Domvikar und dem Personalreferenten beauftrage. Dazu benannte er zwei vom Priesterrat gewählte Pfarrer, wobei einer schon nicht mehr Pfarrer war und der andere vor der Pensionierung stand. Zudem verfügte der Bischof, dass der Pfarrer ab dem 1. September 2012 für die Dauer des Ver fahrens von allen Rechten und Pflichten des Pfarrers entpflichtet sei. Er dürfe keinerlei Amtshandlungen, einschließlich des schulischen Religionsunterrichts, vornehmen und auch keine Gottesdienste in der Pfarrei feiern. Der Bischof setzte zum gleichen Zeitpunkt den Nachbarpfarrer zum Administrator der Pfarrei ein. Mit dieser Maßnahme, die vom Recht nicht gefordert ist, nahm der Bi schof faktisch das Ergebnis des Verfahrens schon vorweg. Daraufhin beantragte der Pfarrer mit Schreiben vom 13. Juli 2012 gemäß c. 1734 § 1 CIC die Rücknahme des Dekrets. Ihm seien keine detaillierten Gründe mitgeteilt oder Beweise vorgelegt worden. Es sei ihm nie eine Ermahnung wegen eines Fehlverhaltens zugegangen. Im Gegenteil: Der Bischof habe ihm mit Schreiben vom 24. Juni 2011 anlässlich seines 25jährigen Priesterjubiläums für sein priesterliches Wirken gedankt, das „viele Gläubige schätzen“. Wegen des schulischen Religionsunterrichts, den der Pfarrer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags mit der staatlichen Schulbehörde mit Genehmigung des Ordinariats an zwei weiterführenden Schulen erteilte, legte er zwei positive Stellungnahmen der betreffenden Schulleiter vor. Außerdem äußerten sich der Oberbürgermeister der Stadt, ein Professor, ein ehemaliger Staatssekretär und der Kirchenpfleger der Pfarrei schriftlich im positiven Sinn zum Wirken des Pfarrers. Diese Schreiben lagen den Konsultoren, mit denen nicht der Bischof oder der Generalvikar gemäß c. 1742 § 1 CIC, sondern der Domvikar am 18. Juli 2012 die Sachlage erörterte, noch nicht vor. Die Konsultoren kamen zu dem Ergebnis, dass der Pfarrer die Pfarrstelle verlassen müsse. Der Bischof müsse von außen eingreifen zum pastoralen Wohl der Gemeinde und zum Heil der Seelen. Dieses Ergebnis teilte der Domvikar mit Schreiben vom 24. Juli 2012 dem Pfarrer mit und fügte diesem Schreiben als „Beweise“ Auszüge aus der Personalakte des Pfarrers und aus Visitationsberichten bei.
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Der Pfarrer erhob daraufhin mit Schreiben vom 18. August 2012 formell Beschwerde gegen die Suspension. Am 21. August 2012 antwortete der Domvikar, der Bischof habe das Wort Suspension nicht verwandt. Der Brief sei nicht als Suspensionsdekret gekennzeichnet und gedacht gewesen, deshalb brauche es nicht zurückgenommen zu werden. Ebenso sei eine Beschwerde nicht möglich; denn es fehle das Dekret als Grundlage. Dem Pfarrer wurde erst nun auch Einsicht in seine Personalakte gewährt. Mit Schreiben vom 20. September 2012 gab der Pfarrer eine Erklärung ab, in der er zu allen vorgebrachten Anschuldigungen ausführlich Stellung nahm, und lehnte weiterhin einen Verzicht auf seine Pfarrei ab. Am 27. September 2012 fand eine Sitzung des Pfarrgemeinderates statt, an der auch der Pfarrer und der Domvikar teilnahmen. Der Domvikar „sollte im Zuge des Verfahrens der Amtsenthebung von Pfarrer … vor Ort prüfen und erheben, inwieweit die bisher schriftlich vorliegenden Gravamina gegen Pfarrer … von verantwortlichen Mitgliedern der Pfarrgemeinde … bestätigt werden.“ 13 Im Verlauf der Sitzung wurden sowohl negative als auch positive Stellungnahmen zum Dienst des Pfarrers geäußert. Vor allem wurde ihm zum Vorwurf gemacht, dass er zu wenig erreichbar sei, wozu auch der schulische Religionsunterricht beitrage. Deshalb forderte ihn der Generalvikar am 10. Oktober 2012 auf, den Vertrag mit der staatlichen Schulbehörde zu kündigen. Die Verweigerung stelle einen Verstoß gegen den geschuldeten Gehorsam dar. Am 15. Oktober 2012 wies der Pfarrer schriftlich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück, insbesondere dass ihn der Religionsunterricht vom pastoralen Dienst abhalte, da dieser im Schnitt täglich nur ca. zwei Stunden beanspruche. Am 17.Oktober 2012 erörterte der Domvikar erneut die Causa mit den beiden gleichen Konsultoren, von denen nun auch der zweite nicht mehr Pfarrer war, da er inzwischen in den Ruhestand getreten war. Am 30. Oktober 2012 erließ der Generalvikar das Dekret zur Amtsenthebung des Pfarrers zum 30. November 2013. Als Gründe und Beweise werden Tatsachen angegeben, die angeblich erst in jüngerer Zeit aufgetreten seien, während sich die Gegendarstellungen des Pfarrers und die vorgelegten Referenzen auf einen früheren Zeitraum bezögen. Da der Pfarrer verreist war, ging der Brief mit Einschreiben an den Absender zurück und konnte erst am 12. Novem-
13
Protokoll S. 1. Das Protokoll, das der Domvikar erstellte, wurde dem Pfarrer zugestellt.
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ber 2012 dem Pfarrer persönlich übergeben werden. Am 5. November 2012 ernannte der Bischof den Nachbarpfarrer mit Wirkung vom 1. Dezember 2012 zum Pfarradministrator der vakanten Pfarrei. Ebenso wurden der Pfarrgemeinderat und die Kirchenverwaltung über die Amtsenthebung informiert. Am 21. November 2012 legte der Pfarrer schriftlich beim Bischof Beschwerde gegen das Dekret seines Generalvikars ein und beantragte die Aussetzung des Vollzuges. Er machte sowohl Mängel im Verfahren als auch inhaltliche Mängel geltend. Mit Schreiben vom 28. November 2012 wies der Generalvikar die Beschwerde und den Antrag zurück und verwies auf die Möglichkeit des Rekurses an die Kongregation für den Klerus in Rom. Der Bischof reagierte nicht. Daraufhin legte der Pfarrer am 8. Dezember 2012 über die Nuntiatur Beschwerde an die Kongregation für den Klerus ein und teilte dies dem Bischof mit. Als Gründe machte er die gleichen Punkte geltend wie in der Beschwerde an den Bischof. Am 20. Dezember 2012 ermahnte der Generalvikar den Pfarrer, alle Dinge der Pfarrei dem ernannten Pfarradministrator zu übergeben und bis zum 1. Januar 2013 das Pfarrhaus zu räumen. Am 8. Januar 2013 teilte er ihm mit, dass sein Gehalt wegen der Wohnung im Pfarrhaus reduziert würde. Weil sich der Pfarrer weigerte, die Wohnung im Pfarrhaus zu verlassen, da er Rekurs an die Kleruskongregation eingelegt habe und die Rechtsstreitigkeit noch in der Schwebe sei, sprach der Generalvikar am 7. März 2013, ohne eine Entscheidung aus Rom abzuwarten, eine Verwarnung gemäß c. 1339 CIC aus und drohte dem Pfarrer bei weiterer Widersetzlichkeit mit der Verhängung der Kirchenstrafe der suspensio generalis nach c. 1333 CIC. Dazu nahm der Pfarrer am 20. März 2013 Stellung und betonte, dass er sich der Seelsorge in der Gemeinde enthalte, aber weiterhin Religionsunterricht an den weiterführenden Schulen, die außerhalb seiner Gemeinde liegen, halten werde, da dies keine Seelsorge im klassischen Sinne sei. Daraufhin stellte der Generalvikar am 26. März 2013 in einem Schreiben fest, dass der Pfarrer aufgrund der Amtsenthebung als Pfarrer auch die Befugnis zur Erteilung des Religionsunterrichts verloren habe und ab 1. Mai 2013 keinen Religionsunterricht mehr erteilen dürfe. Er teilte dies auch der staatlichen Schulbehörde mit, die aber die Rechtslage anders beurteilte. Mit dem gleichen Datum (26. März 2013) erließ der Generalvikar ein Dekret, in dem er den Pfarrer „als Beugestrafe mit der Kirchenstrafe der suspensio generalis (c. 1333 § 1, § 2 CIC)“ belegte. Zugleich verhängte er „als Sühnestrafe das Verbot, sich in der Pfarrei … noch länger aufzuhalten gemäß c. 1336 § 1 Nr. 1 CIC“.
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Gegen dieses Dekret erhob der Pfarrer am 5. April 2013 Beschwerde beim Bischof, die der Generalvikar am 18. April 2013 zurückwies. Der Bischof reagierte wieder nicht. Mit dem gleichen Datum teilte der Sottosegretario der Kongregation für den Klerus dem Pfarrer mit, „dass wegen des weiteren Studiums des Falls die Frist für die Prüfung der Beschwerde gemäß Art. 136 § 2 Regolamento Generale della Curia Romana um zwei Monate verlängert wird, d. h. bis zum 18. Juni 2013“. Da der Bischof auf die Beschwerde nicht reagierte, erhob der Pfarrer am 23. April 2013 über die Nuntiatur Beschwerde an die Kleruskongregation mit den gleichen Argumenten, die er gegenüber dem Bischof und dem Generalvikar vorgetragen hatte, und teilte dies dem Bischof mit. Am 26. April 2013 teilte der Generalvikar dem Pfarrer die „Feststellung des Verlustes des Wohnrechtes im Pfarrhaus“ und die „Einleitung zivilrechtlicher Schritte zur Räumung“ mit. In einem persönlichen Schreiben vom 6. Mai 2013 versuchte nun der Bischof den Pfarrer zum Einlenken zu bewegen. Mit Datum vom 13. Juni 2013 erhielt der Pfarrer zwei Dekrete der Kleruskongregation. Zu dem Rekurs gegen die Amtsenthebung äußerte sich die Kongregation u. a. folgendermaßen: „– in Anbetracht der Tatsache, dass der hierarchische Rekurs vom 8. Dezember 2012 nicht legitim ist, weil er nicht innerhalb der Nutzfrist von fünfzehn Tagen nach dem 22. Februar 2013 eingelegt worden ist, – in Anbetracht der Tatsache, dass wegen der Sachlage der infrage stehende hierarchische Rekurs unzulässig ist, beschließt diese Kongregation nach Feststellung ihrer Zuständigkeit und im Sinne der aufgeführten Aspekte, dass der hierarchische Rekurs des H. H. … in procedendo nicht angenommen werden kann“14. Zu dem Rekurs gegen die verhängten Kirchenstrafen äußerte sich die Kongregation u. a. folgendermaßen: „– in Anbetracht der Tatsache, dass der hierarchische Rekurs vom 23. April 2013 nicht legitim ist, weil er verfrüht, d. h. vor dem Ende der Dreimonatsfrist gemäß can. 57 § 1CIC, eingelegt worden ist; – in Anbetracht der Tatsache, dass wegen dieser Sachlage der infrage stehende hierarchische Rekurs unzulässig ist, beschließt diese Kongregation nach Feststellung ihrer Zuständigkeit und im Sinne der aufgeführten Aspekte, dass der hierarchische Rekurs des H. H. … in procedendo nicht angenommen werden kann“15. 14
Dekret vom 13. Juni 2013 (Prot. Nr. 20131579), 2.
15
Dekret vom 13. Juni 2013 (Prot. Nr. 20131334), 2.
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Alfred E. Hierold
Der Pfarrer verzichtete auf die in der Rechtsmittelbelehrung angegebene Möglichkeit der Beschwerde gegen diese Dekrete gemäß Art. 34 § 2 des M. P. „Antiqua ordinatione“16 bei der Apostolischen Signatur, da von kundiger römischer Stelle bedeutet wurde, dass ein Erfolg gegen eine Maßnahme eines Bischofs kaum eine Chance habe. Es kam schließlich zu einer Einigung zwischen dem Bischof und dem Pfarrer: Der Pfarrer verzichtete auf seine Pfarrei und erklärte sich bereit, eine andere als Pfarradministrator zu übernehmen und erneuerte das von ihm geforderte Versprechen, „gemäß dem Weiheversprechen von Ehrfurcht und Gehorsam zu leben“. Daraufhin wurden am 7. August 2013 die verhängten Kirchenstrafen vom Generalvikar aufgehoben. III. Resümee a) Es ist eine Eigenart der Verwaltung, auf einen, wenn möglich, raschen Erfolg zu zielen und so das Leben zu gestalten. 17 Dabei geht es auch um die Anwendung des Rechts, aber das Recht bietet nur die Schranken des Handelns. So kann es geschehen, dass im Eifer das Recht leichter verletzt wird oder auf der Strecke bleibt. Die Rechtsprechung hingegen zielt auf die Erforschung der Wahrheit und ist deswegen an strengere Regeln des Vorgehens gebunden. Daher ist sie besser geeignet, bei der Verhängung von Strafen oder bei der Einschränkung von Rechten der Gerechtigkeit zu dienen.18 b) Das Vorgehen auf dem Verwaltungsweg ist in der Regel der schnellere Weg. „Die Rechtsschutzgewährung durch die Verwaltung ist grundsätzlich rascher und flexibler als die durch die Gerichte. Sie entbehrt nicht bestimmter verfahrensrechtlicher Normen, ist jedoch von zeitraubenden Förmlichkeiten frei.“19 Diese Feststellung von Georg May ist im Grunde richtig, aber es muss nicht so sein, wie Eheprozesse zeigen, wenn die Sachlage nicht sehr kompliziert ist, oder wie Verfahren der kirchlichen Arbeitsgerichtsbarkeit es deutlich machen. c) Nur zu unterstreichen ist die weitere Feststellung von Georg May, die Verwaltung strebe „in erster Linie nach reibungslosem Funktionieren der Praxis, 16
Papst Benedikt XVI., M. P. „Antiqua ordinatione“ vom 21. Juni 2008, in: AAS 100 (2008), S. 521. 17 Vgl. Klaus Mörsdorf, Rechtsprechung und Verwaltung im kanonischen Recht, Freiburg i. Brsg. 1941. 18 Vgl. Alfred E. Hierold, Vorgehen auf dem Verwaltungs- oder auf dem Gerichtsweg?, in: Rechtsschutz in der Kirche, hrsg. v. Ludger Müller, Wien / Berlin 2011, S. 25–38. 19
May, Grundfragen (Anm. 11), S. 1156 f.
Recursus ab abusu
293
nicht nach Verwirklichung der Gerechtigkeit“20. Wenn es aber um die Minderung oder Einschränkung oder um den Entzug von Rechten des Einzelnen oder gar um Bestrafung geht, hat nicht das Funktionieren der Praxis den Vorrang, sondern die Gerechtigkeit hat den absoluten Vorrang. Darum ist hier eine gerichtliche Überprüfung eines Verwaltungsaktes mehr als angebracht. d) Dabei will durchaus beachtet sein, dass nicht alle Verwaltungsakte einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind. Der sog. innere Bereich ist ihr verschlossen, ebenso der sakramentale Bereich, auch wenn hier Rechte des Einzelnen verletzt sein können. Offen ist jedoch das weite Feld der übrigen kirchlichen Verwaltung. e) Ein Argument gegen die Einrichtung einer solchen Gerichtsbarkeit scheint die Möglichkeit zu sein, dass Priester über einen Verwaltungsakt eines Bischofs zu Gericht sitzen. Abgesehen davon, dass Akte des Papstes gemäß c. 1404 CIC keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegen, ist dies bei Akten von Bischöfen möglich, und es ist auch kein Dogma, dass dies nicht durch ein Richterkollegium geschehen könnte, das aus Priestern besteht, zumal die meisten Verwaltungsakte nicht vom Bischof persönlich, sondern von untergeordneten Instanzen gefällt werden und im Bereich der kirchlichen Arbeitsgerichtsbarkeit Laien als Richter tätig sind21 Insgesamt gesehen, darf die Norm des c. 221 § 1 CIC – „Den Gläubigen steht es zu, ihre Rechte, die sie in der Kirche besitzen, rechtmäßig geltend zu machen und sie nach Maßgabe des Rechts vor der zuständigen kirchlichen Behörde zu verteidigen“ – nicht bloße Deklamation bleiben. Gerade in der Kirche als geistlicher Gemeinschaft bedarf es auch eines Rechtsschutzes, insbesondere für Kleriker, die sich in den Dienst der Kirche gestellt haben. Der Hinweis auf den versprochenen Gehorsam ersetzt nicht die rechtlichen Argumente und darf nicht zur Rechtlosigkeit des Klerikers führen.
20 21
Ders., Grundfragen (Anm. 11), S. 1157.
Deutsche Bischofskonferenz, Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung i. d. F. v. 2010, in: ABl. Bamberg 133(2010), S. 179–205. Vgl. dazu die harsche Kritik von Thomas A. Amann, Die Ausübung der Sacra Potestas im kirchlichen Arbeitsgericht, in: AfkKR 175 (2006), S. 435–451.
„Geh zu Jesus, er vergibt Dir.“ – Zur Frage theologischer und kirchenrechtlicher Neuansätze im Fall von „Scheitern“ in der römisch-katholischen Kirche* „Geh zu Jesus, er vergibt Dir.“
Von Wilhelm Rees
Wilhelm Rees Diesem Satz, den Papst Franziskus bei der Predigt in der Messe in Sant’Anna dei Palafrenieri, der Pfarrkirche in der Vatikanstadt, am Sonntag, den 17. März 2013, sagte1, ist nichts hinzuzufügen. Bietet er doch, kurz nach Amtsantritt des Papstes, einen entscheidenden Impuls und Neuansatz in der römischkatholischen Kirche. Die Bibel enthält unzählige Beispiele für einen liebenden und verzeihenden Gott. Doch wie steht es mit der Kirche? Gilt diese Aussage des Papstes auch für die römisch-katholische Kirche und das von ihr erlassene Kirchenrecht? Wie reagieren sie, wenn eine Ehe zerbrochen ist und eine erneute Zivilehe geschlossen wird? Wie reagieren sie, wenn Religionslehrerinnen und -lehrer vom Glauben der Kirche abweichen oder theologische Forscherinnen und Forscher bei ihren Forschungen zu Ergebnissen gelangen, die mit der Lehre der Kirche im Widerspruch stehen? Wie reagieren sie im Blick auf Kleriker, die ihre einmal übernommene Pflicht zum Zölibat nicht mehr leben bzw. auf Ordensleute, die ihren einmal in freier Entscheidung abgelegten Ordensgelübden nicht mehr treu sein wollen bzw. können? Wie sind die Reaktionen auf Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Wie reagieren Kirche und Kirchenrecht, wenn Eltern einen kirchlich geprägten Glauben nicht mehr weitergeben können bzw. wollen? Wie reagieren sie schließlich, wenn Gemeindemitglieder des Sakraments der Eucharistie bzw. der Seelsorge insgesamt entbehren müssen und keinen Priester mehr am Ort haben? Menschen machen die Erfahrung, dass einmal getroffene Lebensplanungen zerbrechen können oder die Nähe zur Institution Kirche verloren geht. Betroffene erleben die Kirche oft nicht als einen Ort, an dem Scheitern zugelassen *
Erweiterte Fassung eines Statements beim Dies academicus & Diözesantag, 25. 4. 2013, Kath.-Theol. Fakultät der Universität Innsbruck. Der Vortragsstil wurde weithin beibehalten. Siehe ders., Die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten. Kritische Anfragen aus kirchenrechtlicher Perspektive, in: ZKTh 136 (2014), S. 135–145. 1
Wortlaut dieser Predigt (dt. Übers.), in: Die Tagespost, Nr. 34, 19. 3. 2013, S. 6.
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Wilhelm Rees
und begleitet wird. Vielmehr scheinen kirchenrechtliche Normen vielfach am Leben der einzelnen Menschen vorbeizugehen. Oftmals genügt ein kleiner Anlass, um der Kirche in Form des Kirchenaustritts 2 den Rücken zu kehren. Scheitern Menschen an der Kirche und an ihren kirchenrechtlichen Bestimmungen oder „scheitert“ die Kirche an den Menschen bzw. ihrer eigenen Rechtsordnung? Sehr oft wird angenommen, dass Menschen, die ihre ursprüngliche Entscheidung revidieren und damit letztendlich scheitern, aufgrund kirchenrechtlicher Bestimmungen einerseits vom Empfang der Sakramente, andererseits vom Leben der Kirche ausgeschlossen sind. Weithin wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen, dass die Kirche auf die oben genannten Situationen mit Ausgrenzung sowohl rechtlicher Art als auch im konkreten Umgang, ja sogar mit der Verhängung von Strafen reagiert. Diese Vorgehensweise wird weithin „vermeintlich restriktiven kirchenrechtlichen Bestimmungen angelastet. Dem Kirchenrecht wird die Funktion unterstellt, die kirchliche Pastoral durch Juridismus im Sinne einer von der Realität abgehobenen Zwangsordnung zu ersetzen“. Kirchenrecht wird dann „als Gegensatz zu einer weiteren menschen- und situationsgerechten Pastoral verstanden“3. Rechtsstruktur und Seelsorgestruktur werden, wie Libero Gerosa bemerkt, „ambivalent“ gesehen4. Folge ist dann, dass in vielen Fällen „dem rechtlichen Denken eine pastorale Einstellung und Lösung gegenüber gestellt“ wird 5. 2 Vgl. Wilhelm Rees, Zur Aktualität des kirchlichen Strafrechts. Sexuelle Übergriffe durch Kleriker, Kirchenaustritt und Priesterbruderschaft St. Pius X. – mit einem Blick auf den actus formalis, in: öarr 58 (2011), S. 156–191, bes. 171–183; ders., Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche Problematik, in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz (= Die österreichischen Bischöfe 10), Wien 2010, S. 38–61. 3 Ilona Riedel-Spangenberger, Die Rechtsstellung der in kirchlich ungültiger Ehe lebenden Katholiken. Kirchenrechtliche Aspekte und Lösungsangebote zum Problem von Scheidung und Wiederheirat, in: Theodor Schneider (Hrsg.), Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie (= QD 157), Freiburg i. Brsg. 1995, S. 236– 253, hier 236 f.; zu den Grenzen rechtlicher Ordnung in der Kirche siehe Libero Gerosa / Ludger Müller, Kirche ohne Recht? Stand und Aufgaben der Kirchenrechtswissenschaft heute (= Kirchenrecht im Dialog 3), Paderborn 2003, S. 46–48, die ebd., S. 47, u. a. von einer „Überforderung des Gläubigen“ sprechen. 4 Dazu Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (= AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie 12), Paderborn 1995, S. 19 f. 5 Walter Kasper, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Überlegungen zu einer Applikationstheorie kirchenrechtlicher Normen, in: Iustitia in caritate. Festgabe für Ernst Rößler zum 25jährigen Dienstjubiläum als Offizial der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hrsg. von Richard Puza und Andreas Weiß (= AIC 3), Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 59–66, hier 59;
„Geh zu Jesus, er vergibt Dir.“
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Libero Gerosa hat in seinem Schrifttum immer wieder die Frage von Schuld und Versagen aufgegriffen. Er hat dabei „Schuld und Gnade“ als „Schlüsselbegriffe der christlichen Existenz“ gesehen und deren rechtliche Bedeutung aufgezeigt6. Er hat sich ferner mit dem kirchlichen Rechtsbegriff und der Grundlegung des Kirchenrechts und damit mit Sinn und Zweck kirchlicher Rechtsnormen auseinandergesetzt7 und sich intensiv dem kirchlichen Strafrecht gewidmet8. Im Folgenden soll zunächst nach dem Sinn und Zweck von kirchenrechtlichen Normen gefragt werden. Zudem soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit kirchliches Strafrecht als ein Mittel zum Heil des Menschen gesehen werden kann. Es soll schließlich darauf geschaut werden, was die Kirche konkret tun müsste oder auch tun kann, damit sie Menschen in ihrem Scheitern beisteht, neue Wege aufzeigt und nicht selbst „scheitert“.
siehe grundlegend auch Libero Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral (= Extemporalia. Fragen der Theologie und Seelsorge 9), Eichstätt / Wien 1991. 6
Vgl. Libero Gerosa, Bußsakrament, in: Reinhild Ahlers / Libero Gerosa / Ludger Müller (Hrsg.), Ecclesia a sacramentis. Theologische Erwägungen zum Sakramenten recht. Mit Beiträgen von Eugenio Corecco und Christian Huber, Paderborn 1992, S. 53– 70, hier 53. 7 8
Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 17–68; ders. / Müller, Kirche (Anm. 3), S. 18–25.
Libero Gerosa, „Communio“ und „Excommunicatio“. Ein Streitgespräch, in: Ludger Müller / Alfred E. Hierold / Sabine Demel / Libero Gerosa / Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= Kirchenrechtliche Bibliothek 9), Berlin 2006, S. 97–110; ders., Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit der kanonischen Sanktionen, Paderborn 1995; ders., Communio – Excommunicatio. Zur theologischen und rechtlichen Natur der Exkommunikation, in: Reinhild Ahlers / Peter Krämer (Hrsg.), Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre, Paderborn 1990, S. 105–119; ders., Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit. Die Anwendbarkeit der vom neuen Kodex vorgesehenen Strafen, in: Concilium 22 (1986), S. 198–204; ders., Ist die Exkommunikation eine Strafe?, in: AfkKR 154 (1985), S. 83–120; ders., La scomunica e la protezione dei diritti fondamentali del cristiano, in: Eugenio Corecco / Nikolaus Herzog / Angelo Scola (Hrsg.), Les Droits Fondamentaux du Chrétien dans l’Eglise et dans la Société – Die Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft – I Diritti Fondamentali del Cristiano nella Chiesa e nella Società. Actes du IVe Congrès International de Droit Canonique / Akten des IV. Internationalen Kongresses für Kirchenrecht / Atti del IV Congresso Internazionale di Diritto Canonico, Fribourg (Suisse) 6–11. X. 1980 (Universitas Friburgensis Helvetiorum Ordo Theologorum), Fribourg Suisse / Freiburg i. Brsg. / Milano 1981, S. 1095–1106.
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I. Zum Sinn und Zweck kirchenrechtlicher Normen In dem vom Zweiten Vatikanischen Konzil wieder entdeckten Begriff „Volk Gottes“ als Bezeichnung und Selbstverständnis der Kirche wird deutlich, dass diese Gemeinschaft von Menschen nicht aus sich selbst heraus besteht, sondern von Gott als sein neues Volk erwählt und geheiligt ist (Art. 9 Abs. 1 VatII LG; vgl. Art. 32 Abs. 1 VatII GS). Sie ist in Christus, dem Licht der Völker, „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Art. 1 VatII LG). Auftrag und Sendung der Kirche ist es, eine heilbringende Botschaft zu verkündigen und eine heilbringende Begegnung zwischen Gott und den Menschen sowie den Menschen untereinander zu ermöglichen. Dabei ist die Kirche nicht nur als eine innerliche und geistliche Größe zu verstehen, die gleichsam irgendwo im Cyperspace existiert bzw. auf ein Jenseits hofft und vertröstet, sondern auch als „sichtbares Gefüge“, d. h. eine hier und heute existierende Gemeinschaft (vgl. Art. 8 Abs. 1 VatII LG). Die in der Aussage des Konzils zum Ausdruck kommende untrennbare Doppelgestalt der Kirche bedeutet für das kirchliche Recht, dass es an der Dienstaufgabe der Kirche zum Heil der Seelen Anteil hat und zugleich verpflichtet ist, hierzu einen Beitrag zu leisten9. So muss das Kirchenrecht, wie es bereits in einer der Grundmaximen für die Reform des kirchlichen Gesetzbuchs, die im Jahre 1983 abgeschlossen wurde, zum Ausdruck kommt, in seiner diakonisch-pastoralen Funktion es der gläubigen Person ermöglichen und ihr zugleich helfen, in der Gemeinschaft des Volkes Gottes ihren Weg zum Heil in eigener Verantwortung und in freier Entscheidung zu gehen10. Zudem darf nicht übersehen werden, was Papst Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution „Sacrae disciplinae leges“, mit der er am 25. Januar 1983 den Codex Iuris Canonici in Kraft gesetzt hat, gesagt hat: Danach ist es die erste und notwendige Aufgabe des Kirchenrechts, den Weg aufzuzeigen, der zum Heil führt, und einen Raum zu schaffen, der „der Liebe, der Gnade und dem Charisma Vorrang einräumt“ und gleichzeitig den „geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie auch der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert“ 11. So wundert in diesem Zusammen9
Vgl. Winfried Aymans, Die Kirche – Das Recht im Mysterium Kirche, in: HdbKathKR², S. 3–12, bes. 4–6. 10
Vgl. Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, Nr. 3; abgedr. in: Communicationes 1 (1969), S. 77–85, hier 79 f. 11
Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ vom 25. Januar 1983, in: AAS 75 (1983), Pars II (Separatfaszikel), XXX und 317 S., S. VII–XIV,
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hang auch die Aussage des letzten Kanons des Kirchlichen Gesetzbuchs von 1983 in keiner Weise, wenn hierin zusammenfassend und interpretierend sowie wegweisend für die Anwendung des kirchlichen Rechts gesagt wird: Das „Heil der Seelen“ muss immer „das oberste Gesetz“ sein (vgl. c. 1752 CIC: „salus animarum, quae in Ecclesia suprema semper lex esse debet“) 12. Letztendlich ist „das Heil des Menschen … Sinnbestimmung des Kirchenrechts“ 13. Die Kirche ist somit „nicht um ihrer selbst willen da, sondern um des Reiches Gottes und darin um des Heiles der Menschen willen“14. Für das Kirchenrecht heißt dies, dass es in Übereinstimmung mit dem ekklesiologischen Selbstverständnis der Kirche stehen und ihrem grundlegenden Sendungsauftrag, nämlich dem Heil der Menschen, dienen muss15. „Mit dem Auftrag, das Heilswirken des Herrn fortzusetzen, wurde der Kirche zugleich auch die Art und Weise bestimmt, in der sie ihren Auftrag zu erfüllen hat: durch ihr Leben aus dem göttlichen Wort und der Feier der Sakramente.“16 Kirchenrecht ist somit nicht etwas, was von außen an die Kirche herangetragen oder ihr gleichsam übergestülpt wird; es „erwächst vielmehr aus der Wesensart der in Wort und Sakrament sich vollziehenden Sendung“ 17. Seinen Daseinsgrund hat es im „Dienst an der kirchlichen communio“18. Insgesamt gesehier XI; lat. / dt.: Codex Iuris Canonici – Codex des kanonischen Rechtes. Lateinischdeutsche Ausgabe, hrsg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, der Erzbischöfe von Luxemburg und von Straßburg sowie der Bischöfe von Bozen-Brixen, von Lüttich und von Metz, 7. Aufl., Kevelaer 2012, S. XVI–XIX, hier XVI / XVII; vgl. auch bereits Paul VI., Ansprache vom 19. Februar 1977 an den Internationalen Kongreß für Kirchenrecht anläßlich der 100-Jahr-Feier der Kanonistischen Fakultät der Gregoriana, in: AAS 69 (1977), S. 208–212; dt. in: OssRom (dt.), 18. März 1977, S. 4 f. 12
Im CCEO findet sich kein entsprechender Kanon.
13
Kasper, Gerechtigkeit (Anm. 5), S. 61.
14
Ebd., S. 61, unter Hinweis auf Art. 1 VatII LG.
15
Vgl. Thomas Schüller, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie (= FzK 14), Würzburg 1993, S. 317 f. 16
Aymans / Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 1: Einleitende Grundfragen und Allgemeine Normen, Paderborn u. a. 1991, S. 30; siehe dazu auch Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 41–44. 17 18
So Aymans, Kirche (Anm. 9), S. 7.
So Antonio María Rouco Varela, Das kanonische Recht im Dienst der kirchlichen Communio, in: ders., Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfas sung, hrsg. von Winfried Aymans / Libero Gerosa / Ludger Müller, Paderborn 2000,
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hen lässt sich kirchliches Recht seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil als „ordinatio fidei“ verstehen19. II. Strafen als Mittel zum Heil? Es war für die frühe Kirche ein schwerer Schock, als einzelne Glieder dem hohen Ideal, das ihr von Jesus Christus mitgegeben worden ist, nicht entsprechen konnten bzw. daran gescheitert sind. Es zeigte sich, dass die „Gemeinde der Heiligen hineingestellt war in das Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Erfüllung“20. Von ihren Anfängen an hat die Kirche daher gegen schwerwiegendes Versagen, das ihre Ordnung störte oder die Gemeinde nach außen entehrte, mit Strafen reagiert. Es ging ihr dabei nicht nur um die Ausübung einer Disziplinargewalt zur Sicherung des Gemeinschaftslebens, sondern letztlich darum, der Heiligkeit und Heilsfunktion der Kirche zu dienen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft und von der Eucharistie sollte der Wiedergewinnung des Bruders bzw. der Schwester dienen. Dies war Ziel und Zweck der Maßnahme21. S. 291–309, hier 308; siehe auch Wilhelm Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck. Kirchenrechtler und Selbstverständnis des Faches in Vergangenheit und Gegenwart, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching und Wilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte [KStuT] 46), Berlin 2001, S. 317–341, bes. 331– 333; ders., Kirchenrecht – Wegweisung zur ewigen Glückseligkeit? Zur Bedeutung rechtlicher Normen für das Heil des Menschen und der Kirche, in: Thomas H. Böhm / Nikolaus Wandinger (Hrsg.), Wenn alles aus ist – Christliche Hoffnung angesichts von Tod und Weltende. Vorträge der fünften Innsbrucker Theologischen Sommertage 2004 (= theologische trends 14), Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 111–146, bes. 113–124. 19 Vgl. dazu Libero Gerosa, „Lex canonia“ als „ordinatio fidei“. Einleitende Erwägungen zum Schlüsselbegriff der kanonistischen Lehre von Eugenio Corecco, in: Euge nio Corecco, Ordinatio fidei. Schriften zum kanonistischen Recht, hrsg. von Libero Gerosa und Ludger Müller, Paderborn u. a. 1994, S. IX–XXIII; ders., Gesetzesauslegung im Kirchenrecht. Anregungen und Zukunftsperspektiven für die katholische Kanonistik (= Kirchenrechtliche Bibliothek 2), Münster u. a. 1999, S. 42–46; ders., Kirchenrecht (= Theologie betreiben – Glaube ins Gespräch bringen. Die Fächer der katholischen Theologie stellen sich vor), Paderborn 2011, S. 60–65. 20
Richard A. Strigl, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR 1, S. 923–929, hier 923. 21 Vgl. Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KStuT 41), Berlin 1993, S. 40–43.
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Bis heute kennt die Kirche so genannte Besserungs- oder Medizinalstrafen und verfolgt mit ihrer Verhängung denselben Zweck. „Ob ein Ausgestoßener den helfenden Aspekt der ihm auferlegten Strafe erkennt und nutzt, hängt von ihm selber ab.“22 Strafmaßnahmen wurden und werden jedoch vielfach als Zwang gesehen. Die davon betroffene gläubige Person soll zu Einlenken und Wohlverhalten gezwungen werden. Hier hat sich die Sichtweise der Kirche weithin verändert. Strafen werden – ungeachtet der nach wie vor geltenden Sorge der Kirche um das Heil des Menschen – nicht mehr vorwiegend oder ausschließlich als Zwangsmaßnahmen in Richtung Wohlverhalten oder Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche gesehen. Vielmehr will die Kirche, wie Libero Gerosa aufzeigt, durch die Verhängung von Strafmaßnahmen zum Ausdruck bringen, dass sich die betreffende Person „außerhalb der ‚communio plena‘ befindet“23. Sie hat durch ihr Verhalten selbst die kirchliche Gemeinschaft verlassen. Die Kirche verurteilt also nicht die (Gewissens-)Entscheidung, die sie bei aller Sorge um das Heil des einzelnen Menschen respektieren muss, sondern die Auswirkung der seitens der einzelnen gläubigen Person getroffenen Entscheidung auf die kirchliche Gemeinschaft im Sinn der Communio. Sie bringt zum Ausdruck und stellt dies in manchen Fällen ausdrücklich fest (vgl. c. 1331 § 2 CIC), dass eine Person nach kirchlichem Selbstverständnis nicht mehr vollwertiges Glied dieser Gemeinschaft sein und alle Rechte, die mit der vollen Gliedschaft gegeben sind, ausüben kann. Dadurch, dass es sich bei den Strafen der Exkommunikation und der Suspension im Fall eines Klerikers um Besserungs- bzw. Medizinalstrafen handelt (vgl. c. 1312 § 1, 1° CIC), ist eine Rückkehr in die volle Rechtsstellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft und damit die Rückgabe der vollen Rechte nicht ausgeschlossen. Vielmehr hat die Person im Fall der „Besserung“ hierauf sogar einen Rechtsanspruch (vgl. c. 1358 § 1 CIC). Bußsakrament und Exkommunikation gehen, wie Libero Gerosa be22 23
Strigl, Grundfragen (Anm. 20), S. 924.
Vgl. dazu Gerosa, Natur (Anm. 8), S. 115; ders., Streitgespräch (Anm. 8), S. 105; ders., Il significato della nuova normativa codiciale sulla scomunita per la giustificazione teologica del diritto penale canonico, in: Michel Thériault / Jean Thorn (Hrsg.), Actes du Ve Congrès international de droit canonique, organisé par l’Université Saint-Paul et tenu à l’Université d’Ottawa du 19 au 25 aout 1984 – Proceedings of the 5th International Con gress of Canon Law, organized by Saint Paul University and held at the University of Ottawa, August 19–25, 1984, Le nouveau Code de droit canonique / The New Code of Canon Law (Consociatio Internationalis Studio Iuris Canonici Promovendo), Bd. 1, Ottawa 1986, S. 385–399; siehe auch Wilhelm Rees, Vom unbequemen Gott zur unbequemen Kirche. Bergpredigt contra Strafrecht?, in: Willibald Sandler / Nikolaus Wandinger (Hrsg.), Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (= theologische trends 11), Thaur 2002, S. 135–159, hier 148 f.
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merkt, „von der gleichen Voraussetzung aus, nämlich von der schweren Sünde, wirken aber auf einer je verschiedenen Ebene“24. Letztlich haben beide dasselbe Ziel, nämlich die Rückkehr des sündigen bzw. straffälligen Mitgliedes in die kirchliche Gemeinschaft. Libero Gerosa sieht daher die Exkommunikation nicht als Strafe oder Disziplinarmaßnahme im eigentlichen Sinn. „Alle Zensuren, vor allem die Exkommunikation, haben vorwiegend Bußcharakter.“25 „Denn ihre feststellende Natur macht sie zu einer Sanktion, deren Rechtswirkungen mit der Absolution des reuigen Gläubigen aufhören.“ 26 Letztlich hat das System der kanonischen Sanktionen, wie Libero Gerosa bemerkt, „den Sinn, Gläubige, die sich von der kirchlichen Communio entfernt haben, durch eine ernsthafte Bekehrung und die Versöhnung mit Gott und der Kirche wieder in die volle Gemeinschaft einzugliedern und somit in den ‚Besitz des Geistes Christi‘ (LG 14,2) zu bringen“27. Der medizinale Charakter einer kirchlichen Strafe zeigt sich besonders deutlich im Recht der katholischen Ostkirchen, d. h. dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium28. Gegenüber einer gewissen Abwertung des kirchlichen Strafrechts in nachkonziliarer Zeit will die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete diesbezügliche Reform dieses wieder verstärkt als ein Mittel der Pastoral in der Heilssorge der Kirche um ihre Gläubigen sehen und angewendet wissen 29. Bedeutet diese Sicht und die in die Wege geleitete Neuordnung des kirchlichen Strafrechts nach einer Phase des größeren Ernstnehmens von Eigenverantwortung jedes und jeder einzelnen Christgläubigen bzw. der Verantwortung des einzelnen Diözesanbischofs eine Verschärfung in Richtung Ausübung von Zwang und 24
Gerosa, Natur (Anm. 8), S. 108 f.
25
Gerosa, Streitgespräch (Anm. 8), S. 109.
26
Gerosa, Glaubensgehorsam (Anm. 8), S. 378.
27
Gerosa, Bußsakrament (Anm. 6), S. 54.
28
Vgl. Wilhelm Rees, Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche? Ein Vergleich zwischen CCEO und CIC, in: Ius Canonicum in Oriente et Occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst, hrsg. von Hartmut Zapp, Andreas Weiß und Stefan Korta (= AIC 25), Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 939–958, bes. 943–945. 29 Dass die Kirche ihr Strafrecht ernst nimmt, zeigt die Aufnahme verschiedener Straftaten in die Kategorie der delicta graviora (schwerwiegendere Straftaten) in den Jahren 2001 und 2010 und die Übertragung der Beurteilung und Ahndung dieser Straftaten an die Kongregation für die Glaubenslehre. Vgl. Wilhelm Rees, Delicta graviora im Recht der römisch-katholischen Kirche und der katholischen Ostkirchen, in: Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In Memoriam Carl Gerold Fürst, hrsg. von Elmar Güthoff, Stefan Korta und Andreas Weiß (= AIC 50), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 467–506.
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Gewalt in der römisch-katholischen Kirche und damit die einzige Reaktion auf ein in den Augen der Kirche erfolgtes Scheitern? Es kann jedoch nicht allein bei einer Strafe bzw. Sperrmaßnahme, wie der Verweigerung der Eucharistie, bleiben, vor allem dann nicht, wenn ein Scheitern und eine Lebensentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden will bzw. kann. Hier muss gefragt werden, wie die Kirche mit diesen in ihren Augen gescheiterten Christgläubigen umgeht und ob hier nicht ggf. kirchliches Recht geändert werden muss. III. Woran könnte die römisch-katholische Kirche „scheitern“ – was müsste sie bedenken? Die Kirche „scheitert“ wohl dann, wenn sie das Scheitern von Menschen nicht wahrnimmt. Zwar ist grundsätzlich von der Verbindlichkeit von Lebensentwürfen und Entscheidungen auszugehen. Zu fragen ist jedoch, ob jede Entscheidung absolut verbindlich und auf jeden Fall durchzutragen ist bzw. durchgetragen werden kann. Zu fragen ist auch, ob es sein kann, „jene Menschen, die nach sorgsamer Prüfung und Beratung sich und anderen eingestehen müssen, dass ihr Lebensentwurf gescheitert ist, zu brandmarken, und für den Rest ihres Lebens auszugrenzen“30. Humanwissenschaftler(innen) machen darauf aufmerksam, dass es keine „perfekte Existenz“ gibt und Scheitern im Leben des Menschen mitinbegriffen ist31. Wo aber zeigt die Kirche, die den Menschen den grenzenlosen Vergebungswillen Gottes verkündigt, die Bereitschaft zur Vergebung im Fall von Scheitern? Wo gibt sie eine Chance für einen Neubeginn, auch innerhalb der Gemeinschaft Kirche? Wie steht sie dazu, dass „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ zum Dasein des Menschen gehören und es darum geht, die Brüchigkeit menschlicher Handlungen zu sehen und ernst zu nehmen (vgl. Art. 1 VatII GS)? Wie kann sie betroffenen Menschen in ihrem Scheitern verantwortungsvoll beistehen und neue Wege eröffnen? Wer legt überhaupt fest, dass eine Handlung bzw. Entscheidung als Scheitern oder gescheitert zu sehen ist? Kann hier allein die kirchliche Autorität eine diesbezügliche Entscheidung treffen? Es steht außer Zweifel, dass die Kirche das Recht haben muss, Abweichungen von der wahren Lehre festzustellen, ebenso auch die Entfernung eines Kir30 Richard Hartmann, Abgesang für den Zölibat? – Vom Wert treuer Lebensentwürfe: http://thf-fulda.de/sites/default/files/abgesang_zoelibat.pdf (eingesehen 17. 4. 2013). 31 Vgl. Roswitha Dockendorff, Scheitern aus tiefenpsychologischer Sicht, in: Erich Garhammer / Franz Weber (Hrsg.), Scheidung – Wiederheirat – von der Kirche verstoßen? Für eine Praxis der Versöhnung. Gewidmet Matthäus Kaiser (1924–2011), Würzburg 2012, S. 89–98.
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chenglieds von dem Weg zum Heil, den die Kirche ihm nach ihrem Selbstverständnis aufzeigt. Und trotzdem besteht die Gefahr, dass auch die Kirche „scheitert“. Wie könnte dies erfolgen? 1. Scheidung und Wiederheirat Es ist Lehre der Kirche, dass das biblische Jesu-Wort gegen die Ehescheidung (vgl. Mt 5,32; Lk 16,18; Mk 10,2–12; Mt 19,3–9; 1 Kor 7,10–16) im Sinn eines Scheidungsverbots (vgl. c. 1085 § 1 CIC) dem göttlichen Recht zuzuordnen ist und damit der Verfügungsgewalt der Kirche zumindest in seinem Wesenskern entzogen ist32. Zu Recht verweist Dietmar Konrad darauf, dass das Ius divinum „weder durch mangelnde Anpassung an die Zeichen der Zeit erstarren noch durch Preisgabe an den Zeitgeist verfälscht werden“ darf 33. Es bleibt jedoch die Frage, die ein deutscher Weihbischof bereits vor mehr als 20 Jahren dahingehend artikuliert hat: „Es ist keine Frage, daß die Kirche für die Unauflöslichkeit der Ehe einzutreten hat. Sie weiß sich dabei dem Wort des Herrn verpflichtet. Es ist aber die Frage, ob Christus mit den wiederverheirateten Geschiedenen so umgehen würde, wie es gegenwärtig in unserer Kirche vorgesehen ist.“34 Nach wie vor prägt „der Denkansatz, dass die Kirche gar nicht anders könne, als den Wiederverheiraten die Kommunion zu verweigern, … die verschiedenen lehramtlichen Antworten, die in jüngerer Zeit publiziert worden sind“35. So heißt es bereits im Apostolischen Schreiben „Familiaris Consortio“ Papst Johannes Pauls II.: „Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige 32 Vgl. jedoch Gerd Häfner, Ehescheidung und Wiederheirat – Neutestamentliche Aspekte, in: Garhammer / Weber, Scheidung (Anm. 31), S. 101–117, der ebd., 106, herausstellt, dass das „Wort Jesu zur Ehescheidung … überfordert (ist), wenn man es im Sinne einer rechtlichen Regelung versteht, die unabdingbar und unter Absehung der näheren Umstände auf alle Ehen anzuwenden ist“. Der „biblische Befund ist nicht so ein deutig wie häufig angenommen“ wird. Ebd., 114. 33
Dietmar Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche (= JusEccl 93), Tübingen 2010, S. 68. 34
So die von Auxiliarbischof Norbert Werbs, Schwerin, bei der Sonderversammlung der Bischofssynode zum Thema Europa am 3. Dezember 1991 formulierte Anfrage. Zitiert nach Riedel-Spangenberger, Rechtsstellung (Anm. 3), S. 236, unter Hinweis auf Anzeiger für die Seelsorge, Mainz 1992, S. 94; siehe auch die Erfahrungsberichte von betroffenen Personen und Seelsorgern, in: Garhammer / Weber, Scheidung (Anm. 31), S. 29–85. 35
Klaus Lüdicke, Wieso eigentlich Barmherzigkeit? Die wiederverheirateten Geschiedenen und der Sakramentenempfang, in: HerKorr 66 (2012), S. 335–340, hier 336.
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Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht.“36 Jedoch hat die Kirche, wie Bruno Primetshofer bemerkt, in der Frage der geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen „mehr lehramtlichen Spielraum als sie selbst derzeit vorgibt“37. Anzumerken ist auch, dass das biblische Scheidungsverbot zu zwei Traditionen geführt hat, nämlich zur strengen Praxis der Unauflöslichkeit einer Ehe in der Westkirche und zu einer milderen Praxis im Sinn einer Wiederheirat in den Ostkirchen38. Näherhin sieht c. 213 CIC den Empfang der Eucharistie als ein Grundrecht eines und einer jeden Christgläubigen (sc. Katholiken/-in) an, sofern, wie in c. 912 und c. 843 § 1 CIC statuiert, kein rechtliches Hindernis besteht und die rechte Disposition gegeben ist. Somit ist eine Nichtzulassung zur Kommunion „nur dann zulässig, wenn der Gesetzestext dies unzweifelhaft verlangt“ 39. Näherhin dürfen gemäß c. 915 CIC zur heiligen Kommunion nicht zugelassen
36
Johannes Paul II., Adhortatio Apostolica „Familiaris Consortio“ ad Episcopos, Sacerdotes et Christifidelibus totius Ecclesiae catholicae: de Familiae Christianae muneribus in mundo huius temporis vom 22. Nov. 1981, Nr. 84, in: AAS 74 (1982), S. 81– 191, hier 185; dt.: VApSt 33, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 51994, S. 87 f.; ferner unter: www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/ apost_exhortations/documents/hf_jp-ii_exh_19811122_familiaris-consortio_ge.html (eingesehen 17. 4. 2013). 37
Kirchenrechtler: Unauflöslichkeit der Ehe ist kein „Quasi-Dogma“. Primetshofer in Gastkommentar der „Wiener Zeitung“: Kirche hat in Frage der wiederverheirateten Ge schiedenen mehr lehramtlichen Spielraum als sie selbst derzeit vorgibt, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 206, 30. Aug. 2012, S. 4 f., hier 4; siehe Bruno Primetshofer, Gastkommentar: Quasi-Dogma im Bereich der katholischen Kirche? (28. 8. 2012): www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/483238_Quasi-Dogma-im-Bereich-derkatholischen-Kirche.html (eingesehen 17. 4. 2013); siehe andererseits Glaubenspräfekt Gerhard Ludwig Müller: Keine Änderungen bei Kommunion-Regeln. Präfekt der Glaubenskongregation erteilt in „Tagespost“-Interview auch Bestrebungen zur Zulassung von Frauen zur Diakonats- oder Priesterweihe Absage, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 243, 11. Okt. 2012, S. 11 f. 38
Vgl. hierzu kritisch Joseph Kardinal Ratzinger, Einführung, in: Congregazione per la Dottrina della Fede, Sulla pastorale dei divorziati risposati. Lettera circa la recezione della Comunione eucaristica da parte dei fedeli divorziati risposati (= Documenti, commenti e studi 17), Città del Vaticano 1998, Nr. 2. c. 39
Rüdiger Althaus, Kommentar, in: MKCIC, c. 912, Rdnr. 2 c (Stand: Nov. 2012).
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werden, „die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren“ 40. Diese Aussage ist „in sich konsequent“41. Es ist auch nicht in Frage zu stellen, dass das Leben in Scheidung und Wiederheirat der kirchlichen Ordnung widerspricht. Was jedoch die Frage des Eucharistieempfangs von geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen betrifft, muss wohl auch c. 916 CIC hinzugelesen werden. Er besagt, dass eine christgläubige Person die Eucharistie ohne vorherige sakramentale Beichte nicht empfangen darf, wenn sie sich „einer schweren Sünde bewußt ist“. Wie Rüdiger Althaus betont, richtet sich c. 916 CIC im Unterschied zu c. 915 CIC „nicht an den Spender der Kommunion, gibt diesem also keine über 915 hinausgehenden Kriterien an die Hand, einen Gläubigen von der Kommunion zurückzuweisen“. Die Bestimmung von c. 915 CIC, die die Zurückweisung eines öffentlichen Sünders von der Eucharistie durch den Priester normiert, erfährt vielmehr durch den in c. 916 CIC herausgestellten „Aufruf zur Selbstbeurteilung ein gewisses Korrektiv“42. Somit gilt: „Niemand außer dem ‚Sünder‘ selbst kann hinreichend sicher wissen, daß er ein Sünder ist.“43 Libero Gerosa hat sich bereits 1995 mit den entsprechenden Kanones des CIC und der Diskussion bezüglich der Zulassung geschiedener und wiederverheirateter Personen und den sich herauskristallisierenden drei großen Richtungen im Umgang mit geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen kritisch auseinandergesetzt. Dabei stellt er zutreffend fest. „Die für das schmerzliche Problem der wiederverheirateten Geschiedenen vorgeschlagenen Lösungen müssen, gerade weil sie von der pastoralen Nächstenliebe diktiert sind, alle sitt40
Hierzu werden nach traditioneller Lehre geschiedene und wiederverheiratete Gläubige gerechnet. Vgl. Adalbert Mayer, Die Eucharistie, in: HdbKathKR², S. 824–840, hier 832 mit Anm. 42; siehe in diese Richtung auch Päpstlicher Rat für die Interpretation von Gesetzestexten, Erklärung vom 24. Juni 2000: www.vatican.va/roman_curia/pontifical_ councils/intrptxt/documents/rc_pc_intrptxt_doc_20000706_declaration_ge.html (eingesehen 17. 4. 2013); abgedr. in: AfkKR 169 (2000), S. 135–138. 41
Lüdicke, Barmherzigkeit (Anm. 35), S. 337.
42
Althaus, Kommentar, in: MKCIC, c. 916, Rdnr. 2 b (Stand: Juli 2004); a. A. Georg May, Das Verhältnis von Gesetz und Gewissen im kanonischen Recht, dargestellt an den cc. 915/916 CIC/1983, in: Forum Katholische Theologie 9 (1993), S. 117–130, hier 122; abgedr. in: ders., Schriften zum Kirchenrecht. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Anna Egler und Wilhelm Rees (= KStuT 47), Berlin 2003, S. 171–186, hier 176, der festhält: „Das Gesetz befindet über die Zulassung, das Gewissen urteilt über das Hinzutreten zur Kommunion … Im Konfliktsfall obsiegt die Autorität des Nichtzulassens über die Freiheit des Hinzutretens.“ 43 Lüdicke, Barmherzigkeit (Anm. 35), S. 340; siehe auch Klaus Reinhardt, Kann die Kirche den Empfang der Eucharistie durch wiederverheiratete Geschiedene dulden? Ein Vorschlag zur Lösung des Problems, in: TThZ 91 (1982), S. 91–104.
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lichen, rechtlichen und sakramentalen Aspekte der Situation dieser Gläubigen erwägen, um gleichzeitig jegliche Verletzung ihrer Rechte und jedwede Unordnung in der kirchlichen Gemeinschaft zu vermeiden.“44 2. Freiheit und (Glaubens-)Gehorsam Auch kann und darf das kirchliche Lehramt nicht in Frage gestellt werden. So kann der kirchliche Gesetzgeber Christgläubigen durchaus zur Pflicht machen, das, „was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen, … im Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung in christlichem Gehorsam zu befolgen“ (c. 212 § 1 CIC). Allerdings ist der sensus fidelium, von dem das Zweite Vatikanische Konzil in Art. 12 Abs. 1 VatII LG spricht und der besagt, dass „die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen Geist haben (vgl. 1 Joh 2, 20 u. 27), … im Glauben nicht irren“ kann, nicht in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen worden. Vielmehr trägt nach wie vor allein die kirchliche Hierarchie, d. h. Papst und Bischöfe, Verantwortung für die Glaubens- und Sittenlehre (vgl. cc. 749 und 750 CIC)45. Zwar gibt es Stufungen in Bezug auf den Glaubensgehorsam (vgl. cc. 750–754 CIC)46. Dennoch ist „im Bereich unfehlbarer und definitiver Lehren für Abweichungen der Gläubigen ‚im Bewusstsein eigener Verantwortung‘ kein Raum“, wie Dietmar Konrad bemerkt, so dass c. 212 CIC von c. 750 CIC „verdrängt wird“47. 44
Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 184–191, hier 190 f. Zum Vorschlag einer diesbezüglichen Ergänzung siehe Christoph Ohly, Der Glaubenssinn der Gläubigen. Ekklesiologische Anmerkungen zum Verständnis eines oft mißverstandenen Phänomens im Beziehungsverhältnis von Dogmatik und Kanonistik, in: AfkKR 168 (1999), S. 51–82, hier 82; ferner auch Konrad, Rang (Anm. 33), S. 87–97, der ebd., 96, zusammenfassend bemerkt, dass „die im II. Vatikanum begründeten Spannungen zwischen dem Glaubenssinn der Gläubigen und dem Verkündigungsauftrag des Lehramtes … durch den CIC/1983 einseitig zugunsten des Lehramtes verschoben“ wurden. Siehe auch Papst: Theologie muss im kirchlichen Lehramt verankert sein. Audienz für Mitglieder der Theologenkommission – Benedikt XVI. erläutert zentralen Gedanken des „sensus fidelium“ und betont Wert der kirchlichen Soziallehre, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 292, 7. Dezember 2012, S. 8; Dietrich Wiederkehr (Hrsg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes – Konkurrent oder Partner des Lehramts? (= QD 151), Freiburg / Basel / Wien 1994. 46 Vgl. Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 130–134; ders., Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten und wissenschaftliche Methode im Kirchenrecht. Überlegungen aufgrund der jüngsten Debatte über die Frauenordination, in: ThGl 93 (2003), S. 13–27, bes. 19–25. 47 Konrad, Rang (Anm. 33), S. 94 f., hier 94; siehe auch Wilhelm Rees, Der Schutz der Glaubens- und Sittenlehre durch kirchliche Gesetze. Index librorum prohibitorum. 45
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Ähnliches ist in Richtung „Freiheit der Forschung und der klugen Meinungsäußerung“ von Christgläubigen im Bereich der theologischen Wissenschaften zu sagen (vgl. c. 218 CIC)48. Trotz der zugesprochenen Freiheit „ist der schuldige Gehorsam gegenüber dem Lehramt der Kirche zu wahren“ (c. 218 CIC). Die Freiheit der einzelnen Person wird insofern eingeschränkt, wenn sie vor die Entscheidung gestellt wird, ihre Forschungsergebnisse bzw. Aussagen zu widerrufen oder nach ihrem Gewissen zu handeln und entsprechende Konsequenzen in Kauf zu nehmen. So hat auch die Neubesetzung von Lehrstühlen an Katholisch-Theologischen Fakultäten in den letzten Jahren immer wieder Anlass zu Unmut und Kritik gegeben, vor allem im Blick auf Erteilung bzw. Verweigerung des Nihil obstat. Ähnliches gilt für die Erteilung und vor allem den Entzug der Missio canonica bei Religionslehrerinnen und -lehrern 49. Zwar ist der römisch-katholischen Kirche als Glaubensgemeinschaft eine Einschränkung von Grundrechten zuzugestehen wie es auch im weltlichen Recht sogenannte Grundrechtsschranken gibt, d. h., Grundrechte nicht schrankenlos sind. Problematisch erscheint jedoch, dass das Grundrecht auf Forschungsfreiheit, ebenso wie jenes auf Freiheit der Meinungsäußerung „einen Unterfall der Gehorsamspflicht“ darstellt, die in c. 212 § 1 CIC normiert ist50. Diese Einschränkungen scheinen somit, wie Dietmar Konrad bemerkt, „den konziliaren Christenrechtsansatz der aktiven Teilhabe aller Getauften an der Sendung der Kirche gem. c. 204 zugunsten einer auf Befehl und Gehorsam aufgebauten einseitig autoritätsorientierten Hierarchiekirche aufzugeben“51. Bedeutet Katholizität aber Bücherzensur. Lehrbeanstandungsverfahren. Nachkonziliare Änderungen und gegenwärtiger Rechtszustand, in: AfkKR 160 (1991), S. 3–24; ders., Glaubensschutz durch Strafmaßnahmen und andere Rechtsinstitute. Zur neueren Entwicklung kirchlicher Bestimmungen, in: Iudicare inter fideles. Festschrift für Karl-Theodor Geringer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans, Stephan Haering und Heribert Schmitz, St. Ottilien 2002, S. 367–390. 48 In diesem Zusammenhang ist auch die Pflicht der Kleriker zu sehen, „dem Papst und ihrem Ordinarius Ehrfurcht und Gehorsam zu erweisen“ (c. 273 CIC). 49 Vgl. Winfried Löffler, Missio Canonica und Nihil obstat. Wege des Rechtschutzes im Konfliktfall, in: Breitsching / Rees, Tradition (Anm. 18), S. 429–462; ferner auch Rees, Glaubensschutz (Anm. 47), S. 383–387. 50 51
Konrad, Rang (Anm. 33), S. 133.
So ausdrücklich Konrad, Rang (Anm. 33), S. 133, mit Blick auf Recht und Pflicht der freien Meinungsäußerung; siehe auch Helmuth Pree, Die Meinungsäußerungsfreiheit als Grundrecht des Christen, in: Recht als Heilsdienst. Matthäus Kaiser zum 65. Ge burtstag gewidmet von seinen Freunden, Kollegen und Schülern, hrsg. von Winfried Schulz, Paderborn 1989, S. 42–85, hier 85, der als Fazit bemerkt, dass der kirchliche Gesetzgeber „noch kein in jeder Hinsicht befriedigendes Ergebnis erreicht“ hat.
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nicht auch, mit Differenz und Dissens zu leben, oder positiv gesagt, eine gewisse Pluralität und Vielfalt zuzulassen? 52 Da die Theologie dem kirchlichen Lehramt einen wesentlichen und unersetzlichen Dienst leistet, ist es notwendig, wie bereits Heribert Schmitz festgestellt hat, dass vom Lehramt der Kirche der theologischen Wissenschaft „der notwendige Raum für Forschung und Lehre mit der entsprechenden Wissenschaftsfreiheit bei aller Bindung an ‚depositum fidei‘ und ‚magisterium authenticum‘ gewährt wird“ 53. Libero Gerosa hat sich dieser Thematik im Anschluss an das im Mai 1994 veröffentlichte Apostolische Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ von Papst Johannes Paul II. und dem Responsum der Kongregation für die Glaubenslehre vom November 1995 über das Problem der Frauenordination zugewandt, die „sehr bald zu einer neuen Infragestellung der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und allgemeiner zu einer Diskussion über die Grundlagen und Kriterien der Lehramtshermeneutik sowie zu einer Wiederaufnahme des Gesprächs über die wissenschaftliche Methode der Theologie“ geführt hat 54. Zudem hat er sich auch mit dem Thema „Meinungsfreiheit und Kommunikation in der Kirche“ befasst55.
52 Ein Beispiel hierfür sind die katholischen Ostkirchen, die mit der römisch-katholi schen Kirche zusammen die katholische Kirche bilden, jedoch ihre Eigenheiten u. a. im Bereich der Liturgie, in Form des verheirateten Priesters, in der ökumenischen Ausrich tung, der Bischofsbestellung durch die jeweilige Synode sowie im Ehe- und Strafrecht bewahrt haben. Siehe Rees, Unterschiedliche Strafen (Anm. 28). 53
Heribert Schmitz, Katholische Theologie und kirchliches Hochschulrecht. Kommentar zu den Akkomodationsdekreten zur Apostolischen Konstitution „Sapientia Christiana“. Dokumentation der kirchlichen Rechtsnormen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Arbeitshilfen 100), Bonn 1992, S. 41, Rdnr. 35. 54 Vgl. Johannes Paul II., Epistola Apostolica „Ordinatio sacerdotalis“. De sacerdotali ordinatione viris tantum reservanda“ vom 22. Mai 1994, in: AAS 86 (1994), S. 545– 548; abgedr. in: AfkKR 163 (1994), S. 150–153; dt.: VApSt 117, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994, S. 3–7; Congregatio pro Doctrina Fidei, Responsum ad dubium circa doctrina in Epist. A. „Ordinatio sacerdotalis“ traditam vom 28. 10. 1995, in: AAS 87 (1995), S. 1114; abgedr. in: Communicationes 27 (1995), S. 212; AfkKR 164 (1995), S. 455; siehe Gerosa, Verbindlichkeit (Anm. 46). 55 Libero Gerosa, Meinungsfreiheit und Kommunikation in der Kirche. Ein kanonistischer Überblick, in: Communio in Ecclesiae Mysterio. Festschrift für Winfried Aymans zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karl-Theodor Geringer und Heribert Schmitz, St. Ottilien 2001, S. 129–146.
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3. Zölibat Die Verpflichtung der Kleriker zum Zölibat (vgl. c. 277 § 1 CIC; Art. 16 Vat II PO) ist nicht göttlichen Rechts. Das Zweite Vatikanische Konzil sieht aber „den Zölibat, obgleich nicht von der Natur des Priestertums notwendig, in vielfacher Hinsicht als dem Priestertum angemessen“ 56. Dennoch ist „die in der westlichen Kirche seit etlichen Jahrhunderten praktizierte Koppelung von Priesterweihe und Zölibat“, wie Richard Hartmann bemerkt, „nicht notwendig“57. Die Verletzung der Zölibatspflicht, die can. 132 § 1 CIC/1917 noch als Sakrileg bezeichnet hatte, ist „zunächst Gegenstand der Moraltheologie“; in bestimmten Fällen auch des Kirchenrechts58. So hat eine Verletzung des Versprechens dienst- und strafrechtliche Konsequenzen (vgl. cc. 1394 §§ 1 und 2; 1395 § 1; 1395 § 2 CIC) und kann zur Rücksetzung in den Laienstand führen59. Es geht nicht um die Abschaffung der Zölibatspflicht, wenngleich diese mit Blick auf den Priestermangel, zumindest im deutschsprachigen Raum 60, und dem damit örtlich hier und da verbundenen Seelsorgenotstand immer wieder andiskutiert wird 61. Vielmehr ist 56
Heinrich J. F. Reinhardt, Kommentar, in: MKCIC, c. 277, Rdnr. 3 (Stand: November 1996) unter Hinweis auf Art. 16 VatII PO; vgl. Benedikt XVI., Adhortatio Apostolica Postsynodalis „Sacramentum Caritatis“ ad Episcopos, Sacerdotes, Consecratos Consecratasque necnon Christifideles laicos de Eucharistia vitae missionisque Ecclesiae fonte et culmine vom 22. Febr. 2007, Nr. 24, in: AAS 99 (2007), S. 105–180, hier 124 f.; dt.: VApSt 177, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2007, S. 38 f.; auch: www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/apost_exhortations/documents/hf_ben-xvi_exh_ 20070222_sacramentum-caritatis_ge.html (eingesehen 28. 12. 2013); zum Weihesakrament siehe Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 254–273. 57
Hartmann, Abgesang (Anm. 30).
58
Vgl. Reinhardt, Kommentar, in: MKCIC, c. 277, Rdnr. 6 (Anm. 56); siehe auch Rees, Strafgewalt (Anm. 21), S. 472–477; ders., Koordiniertes Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch. Die Normen der Kongregation für die Glaubenslehre über die delicta graviora vom 21. 05. 2010, in: Heribert Hallermann / Thomas Meckel / Sabrina Pfannkuche / Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= Würzburger Theologie 9), Würzburg 2012, S. 67–135; ders., Aktualität (Anm. 2), S. 156–170. 59
Vgl. Rüdiger Althaus, Kommentar, in: MKCIC, c. 1037, Rdnr. 5. (Stand: Febr. 2006).
60
Angesichts eines im deutschen Sprachraum seit Jahren stagnierenden niedrigen Besuchs der Sonntagsmesse von durchschnittlich nur ca. 10 % der katholischen Gläubigen, ist der sog. Priestermangel dennoch sehr differenziert zu betrachten. 61 Vgl. Stephan Haering, Die Ausübung pfarrlicher Hirtensorge durch Diakone und Laien. Gesamtkirchliches Recht und partikulare Ausgestaltung, in: AfkKR 165 (1996), S. 353– 372, bes. 372; siehe auch Konrad Hartelt, Von der Pfarrei zur Seelsorgeeinheit? Rahmenbedingungen und Zukunftsperspektiven aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Sabine Demel / Li-
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zu fragen, wie die lateinische Kirche reagiert, wenn Priester diese Pflicht verletzten und somit die Ausübung des priesterlichen Dienstes nicht mehr möglich ist? Gibt es hier die Chance für einen Neuanfang, auch in der Kirche? Gelegentlich wird hier auf die katholischen Ostkirchen geblickt. Anzumerken ist jedoch, dass auch nach dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (c. 373 CCEO) der um des Himmelsreiches willen gewählte Zölibat der Kleriker, wie es der Tradition der Universalkirche entspricht, als dem Priestertum sehr angemessen ist. Deshalb geht auch das Weiherecht des CCEO im Grundsatz vom ehelosen Kleriker aus, wie die Bestimmung des c. 758 § 3 CCEO belegt, wonach für die Zulassung von Verheirateten zu den heiligen Weihen weitere Bestimmungen des jeweiligen Partikularrechts sowie besondere einschlägige Normen des Apostolischen Stuhls beachtet werden müssen. Der Stand der verheirateten Kleriker ist gemäß c. 373 CCEO in Ehren zu halten. Aufgrund der eigenständigen Praxis der Ostkirchen ist die ehelose Lebensform nach c. 180 n. 3 CCEO nur für Bischöfe verpflichtend vorgeschrieben. Im Übrigen ist aber in dem oben angesprochenen Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass nach c. 804 CCEO aufgrund des Weiheempfanges ein Ehehindernis besteht, weshalb die spätere Heirat eines Klerikers nicht möglich ist. 4. Homosexualität Nach katholischem Verständnis ist „die spezifische Neigung“ einer homosexuellen Person „zwar in sich nicht sündhaft“; sie „begründet aber eine mehr oder weniger starke Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grunde muß die Neigung selbst als objektiv ungeordnet angesehen werden“62. Die Kirche müsse sich deshalb mit besonderem seelsorglichem Eifer dieser Menschen annehmen, „damit sie nicht zu der Meinung verleitet werden, die Aktuierung einer solchen Neigung in homosexuellen Beziehungen sei eine moralisch annehmbare Entscheidung“63. Ausdrücklich hat Papst Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache vor der Römischen Kurie im Jahr 2008 Homosexualität als „Zerstörung des Werkes Gottes“ gebrandbero Gerosa / Peter Krämer / Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst der Gemeinde. Wirklichkeit und Zukunftsgestalt der kirchlichen Ämter (= Kirchenrechtliche Bibliothek 5), Münster 2002, S. 243–248, hier 246. 62
Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen vom 1. Oktober 1986, Nr. 3, in: AAS 79 (1987), S. 543–554, hier 544; dt.: VApSt 72, hrsg. vom Sekretariat der Deut schen Bischofskonferenz, Bonn 1986, S. 4; vgl. KKK 2357 f. 63
Ebd.
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markt64. Es steht außer Zweifel, dass die römisch-katholische Kirche das Recht hat, Zulassungskriterien für den Zugang zu den Weihen aufzustellen. Näherhin hat sie festgelegt, dass Männer, die Homosexualität praktizieren, tief sitzende homosexuelle Tendenzen haben oder die so genannte homosexuelle Kultur unterstützen, nicht zur Priesterweihe zugelassen werden können 65. Zu fragen ist, ob es sowohl staatlicher-66 als auch kirchlicherseits Diskriminierungen geben darf? Ist hier nicht ein Nachdenken über die moraltheologische Beurteilung gefordert? So hatte Kardinal Christoph Schönborn im Fall der Wahl eines in eingetragener Partnerschaft lebenden Mannes zum Mitglied des Pfarrgemeinderats der Pfarrei Stützenhofen im Jahr 2012 bemerkt: In der Vielfalt der Pfarrgemeinderäte „spiegelt sich die Vielfalt heutiger Lebens- und Glaubenswege. So gibt es auch unter den Pfarrgemeinderäten viele, deren Lebensentwürfe nicht in allem den Idealen der Kirche entsprechen. Im Blick auf ihr jeweiliges Lebenszeugnis in seiner Gesamtheit und auf ihr Bemühen um ein Leben aus dem Glauben freut sich die Kirche über ihr Engagement. Damit stellt sie die Ideale nicht in Frage“67. Papst Franziskus hat in einem Interview auf dem Rückflug nach Rom vom Weltjugendtag in Brasilien gleichgeschlechtlich empfindende Menschen, unter Hinweis auf den Katechismus der Katholischen Kirche gegen Diskriminierung in Schutz genommen. Über einen Homosexuellen, der Gott su-
64 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache vom 22. Dezember 2008 an die Römische Kurie, in: AAS 101 (2009), S. 48–56; dazu Papst: Homosexualität „zerstört das Werk Gottes“: http://derstandard.at/1229974959036/Papst-Homosexualitaet-zerstoert-das-Werk-Gottes (eingesehen 17. 4. 2013). 65
Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion über Kriterien zur Berufungsklärung von Personen mit homosexuellen Tendenzen im Hinblick auf ihre Zulassung für das Priesterseminar und zu den heiligen Weihen vom 4. November 2005, in: AAS 97 (2005), S. 1007–1013; dt.: VApSt 170, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2005. 66 Vgl. Straßburg: Österreich diskriminiert Homosexuelle bei Adoption. Rechtsphilosoph Potz: Schlechte Argumentation der heimischen Justiz im Anlassfall – Auch in Deutschland Entscheidung über Sukzessivadoption, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 42, 19. Februar 2013, S. 3 f. 67 Schönborn bestätigt homosexuellen Pfarrgemeinderat (30. 03. 2012): http://derstandard.at/1332324257517/Katholische-Kehrtwende-Schoenborn-bestaetigt-homosexuellenPfarrgemeinderat (eingesehen 17. 4. 2013); siehe auch Österreichische Bischofskonferenz, Seelsorge für Personen mit homosexueller Neigung. Eine Orientierungshilfe für die Ein richtung seelsorglicher Initiativen vom 22. August 2001, in: ABl. ÖBK, Nr. 34, 1. Sept. 2002, IV. 5., S. 15–18; ferner unter: www.bischofskonferenz.at/content/site/dokumente/behelfehandreichungen/index.html (eingesehen 17. 4. 2013).
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che und ein Mensch guten Willens sei, könne er nicht den Stab brechen – wört lich: „Wer bin ich, ihn zu verurteilen“68. 5. Gemeindeleitung „Scheitern“ könnte die Kirche auch im Blick auf die Leitung von Pfarrgemeinden und die Schaffung immer größerer Seelsorgeeinheiten. Es steht außer Zweifel, dass die Leitung einer Pfarrei durch einen Priester den Idealfall darstellt, wie es der kirchliche Gesetzgeber in c. 515 § 1 CIC vorsieht und wie es über Jahrhunderte möglich und dienlich war69. Allerdings muss Libero Gerosa im Anschluss an die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Pfarrei feststellen, dass in der beschriebenen ekklesiologischen Sicht „der konstitutionelle Status der Pfarrei dadurch deutlich relativiert (wird), daß sie bloß eine der möglichen Rechtsformen der verschiedenen Eucharistiegemeinden einer Teilkirche ist“70. Gerosa sieht diese Relativierung der Pfarrei, d. h. dass sich die Pfarrei „nicht mehr mit der territorialen Einheit deckt“, als „eine notwendige, sich aufgrund der konziliaren Communio-Ekklesiologie aufdrängende Erfüllung der pastoralen Forderung, die schon vor vielen Jahren von Karl Rahner formuliert wurde, nämlich die Starrheit des sogenannten ‚Pfarrprinzips‘ des alten Codex durch eine angemessene Berücksichtigung auch des ‚Standesprinzips‘ und des ‚Freigruppenprinzips‘ zu lockern“71. Darüber hinausgehend legt der kirchliche Gesetzgeber in c. 517 § 2 CIC eine spezielle Form der Leitung einer Pfarrgemeinde vor, die die römisch-katholische Kirche bis zum Inkrafttreten des Codex Iuris Canonici von 1983 nicht gekannt hatte. Sie nimmt nicht nur neue 68 „Credo che quando uno si trova con una persona così, deve distinguere il fatto di essere una persona gay, dal fatto di fare una lobby, perché le lobby, tutte non sono buone. Quello è cattivo. Se una persona è gay e cerca il Signore e ha buona volontà, ma chi sono io per guidicarla? Il Catechismo Cattolica spiega in modo tanto bello questo ...“ [vgl. KKK 2357–2359], in: Presseamt des Heiligen Stuhls / Sala Stampa della Santa Sede, Bolletino. Viaggio apostolico di Sua Santità Francesco a Rio de Janeiro (Brasile) in occasione della XXVIII Giornata Mondiale della Gioventù (22–29 luglio 2013) (XXII), 30. 7. 2013: http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bolletino/pubblico/20 13/07/30/0508/011... und auch http://de.radiovaticana.va/print_page.asp?c=715105 (eingesehen: 8. 3. 2014). 69 Vgl. Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 360–364; siehe auch ders., Die Pfarrei als ein Grundtyp der eucharistischen Gemeinde, in: TThZ 98 (1989), S. 297–310. 70 71
Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 361.
Ebd., S. 361, unter Hinweis auf Karl Rahner, Friedliche Erwägungen über das Pfarrprinzip, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 2, Zürich / Einsiedeln / Köln 1968, S. 299–337.
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Zeitumstände und Gegebenheiten in den Blick, sondern berücksichtigt auch Ansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils in Richtung Verantwortung und gemeinsamer Dienst aller Gläubigen im Sinn des allgemeinen Priestertums: „Wenn der Diözesanbischof wegen Priestermangels glaubt, einen Diakon oder eine andere Person, die nicht die Priesterweihe empfangen hat, oder eine Gemeinschaft von Personen an der Ausübung der Hirtensorge einer Pfarrei (participationem in exercitio curae pastoralis paroeciae) beteiligen zu müssen, hat er einen Priester zu bestimmen, der, mit den Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers ausgestattet, die Hirtensorge leitet (curam pastoralem moderetur)“ (c. 517 § 2 CIC). Hintergrund der Entstehung dieses Kanons war die konkrete Situation von christlichen Gemeinden vor allem in den Kirchen des Südens, die keinen Pfarrer bzw. Priester am Ort hatten 72. Nach diesem neuen Leitungsmodell wird, wie Heribert Hallermann betont, Personen, die nicht die Priesterweihe empfangen haben, seitens des Diözesanbischofs „eine Beteiligung an der Ausübung der Hirtensorge übertragen, das heißt, daß sie im Auftrag des Bischofs diejenigen seelsorglichen Aufgaben aus dem Gesamtspektrum der pfarrlichen Hirtensorge auszuüben haben, welche den Empfang der Priesterweihe nicht voraussetzen. Die beauftragten Nichtpriester üben ihre Aufgaben in der vakanten Pfarrei also auf der Grundlage der mit der Taufe und gegebenenfalls mit dem Empfang der Diakonatsweihe gegebenen sakramentalen Befähigung aus“73. Das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Christifideles laici“ Papst 72
So übten in Lateinamerika Gemeinschaften von Ordensfrauen Hirtensorge in Pfarreien aus. Vgl. Coetus de sacra hierarchia, De paroeciis et de parochis, in: Communicationes 8 (1976), S. 23–31, bes. 24; siehe auch Wilhelm Rees, Die Sicherung der Hirtensorge. Can. 517 § 2 CIC und die österreichischen diözesanen Rahmenordnungen, in: Johannes Panhofer und Sebastian Schneider (Hrsg.), Spuren in die Kirche von morgen. Erfahrungen mit Gemeindeleitung ohne Pfarrer vor Ort – Impulse für eine menschennahe Seelsorge (= Kommunikative Theologie 12), Ostfildern 22010, S. 156–174; ders., Mitverantwortung von Laien und Leitung einer Pfarrgemeinde. Kirchenrechtliche Anmerkungen in Zeiten eines akuten Priestermangels, in: Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollen dung seines 65. Lebensjahres, hrsg. von Dominicus M. Meier / Peter Platen / Heinrich J. F. Reinhardt / Frank Sanders (= BzMK 55), Essen 2008, S. 505–537; ders., Können nur Priester leiten? Kirchenrechtliche Anmerkungen zum Leitungsverständnis der römischkatholischen Kirche, in: Johannes Panhofer / Matthias Scharer / Roman Siebenrock (Hrsg.), Erlöstes Leiten. Eine kommunikativ-theologische Intervention (= Kommunikative Theologie 8), Ostfildern 22008, S. 181–197. 73 Heribert Hallermann, Die Wahrnehmung der Hirtensorge in einer Pfarrei gemäß den Bestimmungen des c. 517 § 2 CIC, in: ders. (Hrsg.), Die Verantwortung gemeinsam tragen. Erfahrungen mit der kooperativen Pastoral im Bistum Mainz im Hinblick auf c. 517 § 2 CIC. Unter Mitarbeit von Marlis Schuhmacher, Johannes Smykalla und Lioba
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Johannes Pauls II. aus dem Jahr 1988 hat ermunternde Worte gefunden: So müssten vor allem bei Priestermangel die jeweils zuständigen örtlichen Autoritäten, d. h. die Diözesanbischöfe, dafür Sorge tragen, dass „die Pfarrstrukturen den Situationen mit der großen Flexibilität, die das Kirchenrecht vor allem durch die Förderung der Teilhabe der Laien an der pastoralen Verantwortung gewährt, angepaßt werden“74. Allerdings wird die von c. 517 § 2 CIC den Diözesanbischöfen im Fall von Priestermangel eröffnete Möglichkeit zunehmend kritisch beurteilt75. So zeigt die Praxis, dass dieses Modell der Leitung einer Pfarrgemeinde ohne Pfarrer in den meisten Diözesen Österreichs als Auslaufmodell gilt und in den neu entstehenden Seelsorgeräumen die Position des Priesters gestärkt wird. Zu fragen ist jedoch, inwieweit und wie lange ein Priester, der Pfarrer für mehrere Gemeinden ist, diese Verantwortung verantwortungsbewusst wahrnehmen, aber auch physisch und psychisch durchstehen kann? Zu fragen ist auch, was und wie viel ein Diözesanbischof einem Priester zumuten kann und darf, wenn er seine Verantwortung und Fürsorge gegenüber den Priestern (vgl. c. 384 CIC) 76 ernst nimmt? Wie attraktiv erscheint es für Stohl (= Mainzer Perspektiven. Berichte und Texte aus dem Bistum 13), Mainz 1999, S. 26–47, hier 35. 74
Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Christifideles laici“ über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt vom 30. Dez. 1988 (= VapSt 87), 4. Aufl. Bonn 1991, Nr. 26, Abs. 4. Lat. in: AAS 81 (1989), S. 393–521, hier 440. 75 Zu durchaus positiven Erfahrungen in der Diözese Innsbruck vgl. Johannes Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Gemeindeleitung durch Nichtpriester als Anstoß zur Gemeindeentwicklung – Eine empirisch-theologische Studie zu can. 517 § 2 (= S.Th.P.S. 58), Würzburg 2003, bes. S. 131–265; ders., Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“. Das Kirchenrecht zwischen Beständigkeit und Weiterentwicklung, in: Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching und Wilhelm Rees (= KStuT 51), Berlin 2006, S. 113–147, bes. 122–129. 76 Vgl. Wilhelm Rees, Bischofsprofil. Kanonische Eignung und Bestellung, in: Ilona Riedel-Spangenberger (Hrsg.), Rechtskultur in der Diözese. Grundlagen und Perspektiven (= QD 219), Freiburg i. Brsg. 2006, S. 120–162, bes. 121–130. Vgl. c. 384 CIC: „Mit besonderer Fürsorge hat der Diözesanbischof die Priester zu begleiten, die er als Helfer und Ratgeber hören soll; er hat ihre Rechte zu schützen und dafür zu sorgen, daß sie die ihrem Stand eigenen Verpflichtungen richtig erfüllen und daß ihnen die Mittel und Einrichtungen zur Verfügung stehen, deren sie zur Förderung des geistlichen und geistigen Lebens bedürfen; ebenso hat er für ihren angemessenen Lebensunterhalt und für die soziale Hilfe nach Maßgabe des Rechts zu sorgen.“ Vgl. auch Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 2004, bes. Nr. 75–83 (= VApSt 173), Bonn 2006, S. 109–123.
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(junge) Männer, den Priesterberuf zu ergreifen, wenn Priester nur mehr „Blaulichtpriester“ und „Manager“ sind, aber kaum noch Beziehung zu den Menschen aufbauen und pflegen können? Die sorgfältige Wahrnehmung des Hirtendienstes setzt voraus, „die seiner Sorge anvertrauten Gläubigen zu kennen; … die Familien (zu) besuchen, an den Sorgen, den Ängsten und vor allem an der Trauer der Gläubigen Anteil (zu) nehmen und sie im Herrn (zu) stärken, … (und) den Kranken, vor allem den Sterbenden zur Seite (zu) stehen …“ (vgl. c. 529 § 1 CIC). Am wichtigsten erscheint wohl jene Frage: Wie viele Priester stehen den Bischöfen in den nächsten Jahren für die Leitung von Pfarrgemeinden bzw. Seelsorgeräumen überhaupt noch zur Verfügung? Bei allen theologischen Fragen, die das Modell des c. 517 § 2 CIC aufwirft, muss bedacht werden, dass die konkrete Entwicklung nicht an der Situation der Menschen und ihren Bedürfnissen und am Auftrag der Kirche, Menschen nahe zu sein und sie auf ihrem Weg zum Heil zu begleiten, vorbeigehen darf. IV. Was muss die Kirche tun? Grundsätzlich ist zu fragen, ob Ausgrenzung und Verhängung von Strafen im Fall eines von der Kirche festgestellten Scheiterns für die Kirche der richtige Weg sind oder ob ihre Sorge um das Heil des Menschen nicht darüber hinausgehende Hilfen erfordern müsste. Dass die Kirche in letzter Zeit, nicht zuletzt unter dem Druck der Öffentlichkeit gelernt hat, zeigt sich darin, dass sie im Fall sexualisierter Gewalt bzw. des sexuellen Missbrauchs minderjähriger Personen durch Kleriker nicht nur ihre Strafbestimmungen verschärft hat, sondern gerade in neuerer Zeit – nach einer langen Zeit des Vertuschens, Verdrängens und mangelnder Aufarbeitung – auf die Opfer schaut und mit Blick auf Täterinnen und Täter auch Therapie, Hilfe und Begleitung für notwendig erachtet und anbietet. Es darf auch nicht übersehen bzw. geleugnet werden, dass die Kirche und die in ihr Verantwortlichen präventiv, um Scheitern zu vermeiden, positive Überlegungen angestellt und Neuansätze in die Wege geleitet haben. So legt der kirchliche Gesetzgeber u. a. großen Wert auf eine gute und gründliche Verlobungspastoral und Ehevorbereitung77, die die Frage der Konfliktbewältigung nicht ausschließt.
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Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, Verlobungspastoral, 7.–10. Nov. 2011, in: ABl. ÖBK Nr. 57, 1. Juni 2012, II. 1., S. 6–11; dies., Standards der Eheseminare für Brautpaare vom 9. Nov. 2007, in: ABl. ÖBK Nr. 45, 1. Mai 2008, II. 5., S. 11–17; dazu Wilhelm Rees, Partikularnormen der Österreichischen Bischofskonferenz und der Diözesen Österreichs. Überblick über die Gesetzgebung des Jahres 2008, in: öarr 57 (2010), S. 120–175, hier 122 f.
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Es gibt ortskirchliche Vorstöße für „Segensfeiern“ für den Fall, dass eine Beziehung gescheitert ist und eine neue eingegangen wurde bzw. aus sozialen Gründen, wie der Sorge um die Kinder, das finanzielle Auskommen des Partners / der Partnerin usw., eingegangen werden musste, oder verhindert sie zumindest nicht78. Die Kirche bietet vor allem die Möglichkeit der Annullierung einer Ehe an, allerdings unter genau festgelegten Kriterien. Deutsche Bischöfe rekurrieren auf das Arbeitsrecht und sehen einen gewissen Handlungsspielraum dafür, dass nicht in jedem Fall von Scheidung und Wiederheirat, wie dies bisher überwiegend der Fall war, gekündigt werden muss79. Zu bedenken gilt, dass bereits Papst Johannes Paul II. im Jahre 1981 mit Blick auf das Scheitern einer Ehe darauf verwiesen hat, „die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob jemand trotz aufrichtigen Bemühens, die frühere Ehe zu retten, völlig zu Unrecht verlassen wurde oder ob jemand eine kirchlich gültige Ehe durch eigene schwere Schuld zerstört hat“ 80. Hilfestellungen gibt es auch im Fall des Scheiterns in den anderen angesprochenen Bereichen. Dennoch muss sich die Kirche fragen, inwieweit sie die Entscheidung eines Menschen ernstnimmt. Sie muss sich fragen, ob sie mit ihren Forderungen ihre Gläubigen, Kleriker oder Laien, nicht überfordert und ob diese Forderungen heute für das Heil der Kirche und jeder und jedes einzelnen Christgläubigen notwendig sind. Scheitern betrifft Sachverhalte, die gewertet werden. Wer wertet? Auf welchen Kriterien beruht die Wertung? So müsste die Kirche darüber nachdenken, ob sie allein festlegen kann, was Scheitern ist, sie allein feststellen kann, ob oder dass ein solches gegeben ist und sie schließlich allein über entsprechende Maßnahmen entscheidet. Es ist nicht zu leugnen, dass die der Kirche eigenen Rechtsinstitute im Interesse der Reinheit der Glaubensverkündigung, der Weitergabe der kirchlichen Lehre und der Erfüllung ihres Auftrags durchaus berechtigt, ja sogar notwendig sind und es Rechtsentzüge bzw. Einschränkungen braucht bzw. brauchen kann, wenn Gefahr besteht, dass die Kirche ihrem Auftrag nicht mehr gerecht werden kann. Die Lehre der Kirche und 78 Vgl. Seelsorgeamt der Diözese Innsbruck (Hrsg.), Wenn geschiedene Menschen anlässlich ihrer standesamtlichen Trauung um ein Gebet bitten, Innsbruck 2008. 79
Vgl. Geschiedene Wiederverheiratete: Deutsche Bischöfe reden mit Rom. Bischofskonferenz setzt Arbeitsgruppe ein, fasst aber vorerst keine konkreten Beschlüsse – Magdeburger Diözesanbischof Feige neuer deutscher „Ökumene-Bischof“, in: KATHPRESSTagesdienst Nr. 232, 28. September 2012, S. 15 f.; Deutscher Bischof: Wiederverheiratete im Kirchendienst möglich. Münsteraner Bischof Genn: Aber nicht im Bereich der Verkündigung, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 260, 31. Okt. 2012, S. 8 f.; siehe auch unter www.dbk.de/themen/gespraechsprozess (eingesehen 17. 4. 2013). 80
Johannes Paul II., Familiaris Consortio (Anm. 36), S. 185.
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ihre Ideale dürfen und sollen nicht in Frage gestellt werden. Immer ist jedoch zu berücksichtigen, dass alle Maßnahmen, seien sie gegen Kleriker (u. a. Suspension) oder Laien (Exkommunikation) gerichtet oder für beide möglich (Verweigerung von nihil obstat und missio canonica bzw. Entzug), transparent und nachvollziehbar sein müssen unter Wahrung des vom Gesetzgeber gewährleisteten Rechtsschutzes81. Letztlich braucht die Kirche nicht Barmherzigkeit zu üben, wie immer wieder eingefordert wird; vielmehr muss sie ihr bestehendes Recht anwenden und ausschöpfen82. Zur Erfüllung ihres Auftrags obliegt der Kirche, wie das Zweite Vatikanische Konzil betont, „allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Art. 4 Abs. 1 VatII GS)83. Sie muss fragen, was „heute“ die Sorgen und Nöte der Menschen sind und ihnen entsprechende Hilfen anbieten. Letztendlich geht es um ein aggiornamento im Heute, so wie es Papst Johannes XXIII. damals für das Zweite Vatikanische Konzil gefordert hat. So muss die Kirche immer fragen, ob das jeweils geltende Gesetz das beste Gesetz ist, d. h. das heute geforderte Gesetz, dasjenige, das dem Heilsauftrag der Kirche im Heute gerecht wird und Menschen heute Hilfe auf ihrem Weg zum Heil sein kann. Wenn Gesetze reformbedürftig sind, muss die Kirche Gesetze ändern. Wenn Gesetze bestehen, aber nicht angewendet werden, müssen kirchliche Amtsträger und Verantwortliche dies tun und damit den Raum ausschöpfen, den der kirchliche Gesetzgeber im Interesse einer zeitgemäßen Verwirklichung der Heilssorge ihnen zur Verfügung stellt. Wo aus Treue gegenüber der Botschaft Jesu und aufgrund der Sorge um das Heil des Menschen und der kirchlichen Gemeinschaft, die der Kirche übertragen ist, weder das eine noch das andere möglich ist, kennt die Kirche alte
81 Dazu Wilhelm Rees, Rechtsschutz im kirchlichen Strafrecht und in kirchlichen Strafverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= Kirchenrechtliche Bibliothek 15), Wien / Berlin 2011, S. 75–105; ders., Verfahren in der Kirche. Rechtsschutz in der römisch-katholischen Kirche, besonders in kirchlichen Strafverfahren, in: Martha Heizer / Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung (= Topos TB 763), Kevelaer 2011, S. 255–295. 82 So ausdrücklich Lüdicke, Barmherzigkeit (Anm. 35), S. 339. Auf eine Balance zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zielt: Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes. Theologische Stellungnahme zum Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener, in: HerKorr 66 (2012), S. 589–592, hier 591. 83
Dies heißt jedoch nicht, dass sich die Kirche allen gesellschaftlichen Strömungen anpassen müsse.
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Rechtsprinzipien in Bezug auf menschliche und rein kirchliche Normen 84, wie die Epikie, die kanonische Billigkeit (aequitas canonica), die Oikonomia oder auch die Toleranz und Dispens, in unserer modernen Sprache gesagt, eine gewisse Elastizität oder, wie Richard Puza es formuliert hat, eine „diakonische Funktion“ des Kirchenrechts85, die es anzuwenden gilt. Zwar wird in einer kürzlich erschienenen Einführung in das römisch-katholische Kirchenrecht darauf hingewiesen, dass das kirchliche Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici von 1983, hermeneutischer Schlüssel zur Auslegung des Zweiten Vatikanischen Konzils sein muss und somit gilt: „Codex sticht Konzil“86, nicht umgekehrt. Dennoch weist das Zweite Vatikanische Konzil den Weg, den Christoph Theobald SJ87 anhand eines Koordinatensystems entfaltet hat: Kirche, Kirchenrecht, Pastoral und Seelsorge brauchen zwei Dimensionen, die zwei Texte des Konzils vorgeben: Hören auf das Wort (Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei verbum“) und Ernstnehmen der Sorgen der Menschen, d. h. der „condicio humana“ (Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“). Um Lösungen im Blick auf Scheitern zu finden, braucht es ein Miteinander. Einem katholischen Kirchenrechtler wird, wie Thomas Schüller zu Recht bemerkt, „die Stimmung verhagelt“, wenn bei einem Autor zu lesen ist, „es sei Schuld des katholischen Kirchenrechts, dass es in dieser Frage (Geschiedene-Wiederverheiratete) zu keiner Lösung komme“88. Andererseits betont der kritisierte Theologe, dass sich „die 84 Vgl. Kardinal Ratzinger, Einführung (Anm. 38), Nr. 3. a; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 189. 85 Vgl. hierzu im Einzelnen Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (= UTB 1395), Heidelberg 21993, S. 76–84. 86
Norbert Lüdecke / Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Bernhard Sven Anuth, Stuttgart 2012, bes. S. 38–40, Rdnr. 19–24, hier 40, Rdnr. 24. Roman Siebenrock spricht in diesem Zusammenhang von der „Machtfrage“, die sich vor allem darin zeigt, „wer kompetent ist, in den verschiedensten Bereichen des kirchlichen Lebens verbindliche Entscheidungen zu treffen“. Roman Siebenrock, Im Dienst an der Versöhnung. Vorfragen zur Situation des Ökumenismus im Zeitalter der Profilierung, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte (= Kirchenrechtliche Bibliothek 13), Wien / Berlin 2014, S. 121–138, hier 125. 87 Siehe unter: www.univie.ac.at/et/downloads/texte/Referenten/PRessemappe_ Theobald.pdf (eingesehen 17. 4. 2013). 88
So ausdrücklich Thomas Schüller, Das Kirchenrecht und die wiederverheirateten Geschiedenen, in: Garhammer / Weber, Scheidung (Anm. 31), S. 118–132, hier 119, unter Hinweis auf Eberhard Schockenhoff, Interview mit dem Deutschlandradio „Dahinter steckt auch ein sehr merkwürdiges Eheverständnis“. Moraltheologe ist für die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion (23. 6. 2012): www.dra-
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Botschaft Jesu … nicht allein auf die Unauflöslichkeit der Ehe reduzieren“ lasse. Vielmehr habe Jesus „mit seinen Mahlfeiern auch ganz bewusst Menschen am Rand der religiösen Gesellschaft in deren Mitte zurückgeholt“. Und ferner meint er: „Die Wertschätzung der unauflöslichen Ehe wird bei den Gläubigen wie in der Gesellschaft insgesamt steigen, wenn die Kirche zugleich die unverbrüchliche Liebe Gottes auch bei einem tragischen, ja sogar schuldbehafteten Scheitern durch ihr Tun lebensdienlich erfahrbar macht.“ 89 Wenngleich Kanonistinnen und Kanonisten einen Beitrag zum Umgang mit Scheitern in der Kirche leisten müssen und sich hier nicht ausgrenzen dürfen, indem sie sich damit entschuldigen, nur dogmatische oder lehramtliche Aussagen in kirchenrechtliche Normen zu überführen, so muss deutlich gesagt werden, dass das Kirchenrecht diese Fragen nicht allein lösen kann, sondern hierbei auf andere theologische Disziplinen, wie u. a. Bibeltheologie, Dogmatik und die Moraltheologie, sowie auf die Humanwissenschaften oder die Systematische Therapie verwiesen ist. Die Kirche muss Brüche und Scheitern zur Kenntnis nehmen, aber auch Hilfen in diesen Fällen anbieten. Sie müsste auch über ihre Rechtsordnung eine Neuorientierung ermöglichen. Was geschiedene und wiederverheiratete Gläubige anbelangt, sollte sich die Kirche nicht jener Worte bewusst sein, die der vormalige Professor Joseph Ratzinger in früheren Jahren geschrieben hat? „Wo eine erste Ehe seit langem und in einer für beide Seiten irreparablen Weise zer brochen ist; wo umgekehrt eine hernach eingegangene zweite Ehe sich über einen längeren Zeitraum hin als eine sittliche Realität bewährt hat und mit dem Geist des Glaubens, besonders auch in der Erziehung der Kinder, erfüllt worden ist (so daß die Zerstörung dieser zweiten Ehe eine sittliche Größe zerstören und moralischen Schaden anrichten würde), da sollte auf einem außergerichtlichen Weg auf das Zeugnis des Pfarrers und von Gemeindemitgliedern hin die Zulassung der in einer solchen zweiten Ehe Lebenden zur Kommunion gewährt wer-
dio.de/dkultur/sendungen/interview/1792542/ (eingesehen 17. 4. 2013); siehe auch Eberhard Schockenhoff, Ausgeschlossen vom Mahl der Versöhnung? Plädoyer für eine Revision der kirchlichen Praxis gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen, in: Garhammer / Weber, Scheidung (Anm. 31), S. 133–145. 89 Wiederverheiratete: Theologe Schockenhoff für pastorales Umdenken. Freiburger Moraltheologe bei Herbstvollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK): Kommunionempfang unter bestimmten Voraussetzungen gestatten, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 281, 25. November 2012, S. 12 f.
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den.“90 Analog zu dieser Lösung müssten auch in anderen Fällen des Scheiterns Lösungen gefunden werden. V. Schluss In der angesprochenen Thematik hat sich in letzter Zeit viel ereignet. In Richtung Veränderungen zielt die für 5. bis 19. Oktober 2014 angekündigte und damit gegenüber der ursprünglichen Planung um ein Jahr vorgezogene Außerordentliche Bischofssynode in Rom zum Thema „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“. Der in Vorbereitung der Synode ausgesandte Fragebogen, mit dem der Vatikan weltweit Fakten und Einstellungen rund um das Thema Familie erheben ließ, soll nach dem Wunsch von Papst Franziskus „bis an die Basis“ verbreitet werden. Die Kirche in Österreich möchte mit dem Fragebogen „so offen wie möglich“ umgehen 91. Ausdrücklich angesprochen werden die Fragen von Scheidung und Wiederheirat sowie der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften: „Stellen die getrennt Lebenden und die wiederverheirateten Geschiedenen eine wichtige pastorale Realität in der Ortskirche dar?“ (Frage 4 c). „Welche Anfragen / Bitten gibt es von Seiten der wiederverheirateten Geschiedenen an die Kirche in Bezug auf die Sakramente der Eucharistie und der Versöhnung?“ (Frage 4 e). „Könnte die Straffung der kirchenrechtlichen Praxis zur Anerkennung der Nichtigkeitserklärung des Ehebandes einen wirklichen und positiven Beitrag leisten zur Lösung der 90 Joseph Ratzinger, Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe. Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen Befund und zu seiner gegenwärtigen Bedeutung, in: Franz Henrich / Volker Eid (Hrsg.), Ehe und Ehescheidung. Diskussion unter Christen (= Katholische Akademie in Bayern. Münchener Akademie-Schriften 59), München 1972, S. 35– 56, hier 54. Vgl. aber seine amtlichen Lehräußerungen als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst Benedikt XVI. wie bspw. in: Congregazione per la Dottrina della Fede, Sulla pastorale dei divorziati risposati (Anm. 38). 91 Vgl. Schönborn: Umgang mit Vatikan-Fragebogen „so offen wie möglich“. Vorsitzender der Bischofskonferenz bei Pressegespräch in Wien: „Nicht vorgefasste Lehrfragen, sondern offene Lebensfragen“ rund um das Thema Familie werden bis Ende des Jahres abgefragt – Antworten bei Ad-limina-Besuch in Rom Ende Jänner 2014 an den Papst überreicht, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 262, 8. November 2013, S. 2 f., hier 2; vgl. auch Österreichische Bischofskonferenz, Presseerklärungen zur Herbstvollversammlung. Wortlaut der Presseerklärungen der Herbstvollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz, 4. bis 7. Nov. 2013 in Stift Michaelbeuern, Salzburg, Nr. 1: www.bischofskonferenz.at/content/site/dokumente/presseerklaerungen/2013/article/597. html (eingesehen 28. 12. 2013); Text und Fragenkatalog unter: http://www.bischofskonferenz.at/content/site/home/article/596.html (eingesehen 28. 12. 2013).
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Probleme der betroffenen Personen?“ (Frage 4 f)92. „Welche pastorale Aufmerksamkeit ist möglich gegenüber Menschen, die sich für derartige Lebensgemeinschaften entschieden haben?“ (Frage 5 c)93. Aktuell ist wohl das Seelsorgeamt des erzbischöflichen Ordinariats Freiburg, aber ohne Autorisierung des dortigen Erzbischofs, einen Schritt mit Blick auf geschiedene und wiederverheiratete Gläubige vorgeprescht, wenn ein Schreiben, das Anfang Oktober 2013 an die Seelsorger des Erzbistums weitergereicht wurde, Katholikinnen und Katholiken, die in einer zweiten standesamtlichen Ehe leben, erlaubt, an der Kommunion teilzunehmen. Sie sollen sich auch im Pfarrgemeinderat engagieren dürfen. Zudem werden darin Gebets- bzw. Segnungsfeiern für eine zweite Ehe nicht ausgeschlossen94. Die Handreichung hat Zustimmung und Widerspruch erfahren, zugleich auch gezeigt, wie komplex
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Bischofssynode. III. Außerordentliche Versammlung, Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Vorbereitungsdokument, Vatikanstadt 2013: www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20131105_ iii-assemblea-sinodo-vescovi_ge.html (eingesehen 28. 12. 2013); siehe auch Familienreferat der Diözese Innsbruck, Beratung, Gespräch, Unterstützung für Menschen in Ehekrisen, nach einer Scheidung, in einer neuen Partnerschaft: http://dioezesefiles.x4content.com/page-downloads/folder_beratung_2.pdf (eingesehen 28. 12. 2013). 93
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe, Gütersloh 2013. Diese Orientierungshilfe ist äußert umstritten, da sie „von der traditionellen Ehe als alleiniger Norm abrückt und ein Familienbild vertritt, das auch andere dauerhafte Lebensgemeinschaften, etwa gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder Patchwork-Familien, einschließt“. Vgl. Evangelisches Ehepapier für EKD-Vorsitzenden kein Ökumene-Risiko. Schneider: Ökumene „stark genug, das Papier und manch andere Differenz in Fragen der Sozialethik auszuhalten“ – Im September erfolgt innerevangelische Manöverkritik, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 197, 23. August 2013, S. 12 f. 94
Siehe unter: www.swr.de/landesschau-aktuell/bw/geschieden-wiederverheiratet-kirche/-/id=1622/nid=1622/did=12181886/1qn7adq/ (eingesehen 10. 10. 2013); http://katholisches.info/2013/10/08/zollitschs-letzter-streich-kommunionempfang-fuer-wiederverheiratet-geschiedene-freiburg-als-avantgarde-des-ungehorsams/ (eingesehen 10. 10. 2013); www.faz.net/aktuell/politik/inland/freiburg-katholische-kirche-geht-auf-geschiedene-zu12608180.html (eingesehen 10. 10. 2013); siehe auch Katholisch-Theologischer Fakultätentag, Hinweise zu Dankgebet und Segensfeier anlässlich einer erneuten Eheschließung. Sexualmoral und neue Beziehungsformen. Eine Stellungnahme: www.fakultaetentag. de/kthf/download/Voten/Stellungnahme_Sexualmoral_Wiederverheiratung.pdf (eingesehen 28. 12. 2013); Seelsorgeamt der Diözese Innsbruck, Gebet (Anm. 78).
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und spannungsreich diese Thematik ist95. So hat der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, sowohl die Möglichkeit zum Empfang der Eucharistie als auch jene von Segensfeiern ausgeschlossen. Zwar bescheinigte Müller dem Freiburger Text „richtige und pastorale Hinweise“. Jedoch stimme der Text „in zwei Punkten nicht mit der kirchlichen Lehre überein“, näherhin mit der von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. zum Ausdruck gebrachten Auffassung, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen, und mit dem ausdrücklichen Verbot beider Päpste, Feiern dieser Art abzuhalten 96. In diesem Zusammenhang hat der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre in Rücksprache mit dem Papst am 23. Oktober 2013 die Lehre der Kirche zur Ehe, zur Scheidung und zu den Sakramenten im Osservatore Romano zusammengefasst. Dabei deutet er an, „dass eine Ausweitung von Eheannullierungen ein möglicher Weg sei, um kirchlich verheirateten Personen, die in einer zweiten zivilen Verbindung leben, die Wiederzulassung zu den Sakramenten zu ermöglichen“97. 95 Die Kongregation für die Glaubenslehre hat Erzbischof Zollitsch sogar „zur Rücknahme und Überarbeitung der Freiburger Handreichung aufgefordert“, wie aus einem Brief der Kongregation für die Glaubenslehre an den Freiburger Erzbischof, der in Kopie an die deutschen Ortsbischöfe gegangen ist, hervorgeht. Keinesfalls dürften Wege offiziell gutgeheißen werden, die der kirchlichen Lehre entgegenstehen. Vgl. Freiburger Handreichung wird zum Politikum. Die Vatikanische Glaubenskongregation hat Erzbischof Zollitsch zur Rücknahme und Überarbeitung aufgefordert. Von Spitzenpolitikern BadenWürttembergs gibt es indes viel Beifall für das Papier zur Ehepastoral: „Eine Wohltat“, in: Die Tagespost, 66. Jg., Nr. 140, 21. Nov. 2013, S. 1; siehe auch „Nach scharfer Kritik: Zollitsch um Schadensbegrenzung bemüht. Deutscher Sonderweg beim Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen? – Vatikan erteilt Freiburger Seelsorgeamt klare Absage“ – Zollitsch: „Ohne mein Wissen veröffentlicht“, aber guter Diskussionsbeitrag – Rom: Bischofssynode zur Familienpastoral, in: Die Tagespost, 66. Jg., Nr. 122, 10. Okt. 2013, S. 1. 96
Umgang mit Geschiedenen: „Seelsorge muss Lehre beachten“. Glaubenspräfekt Müller bescheinigt der vom DBK-Vorsitzenden Zollitsch verantworteten Freiburger Handreichung „richtige und wichtige pastorale Hinweise“, doch stimme sie „in zwei Punkten nicht mit der kirchlichen Lehre überein“, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 265, 12. Nov. 2013, S. 13 f., hier 13; Thomas Jansen, „Barmherzigkeit dispensiert nicht von Gottes Geboten“. Vatikan bekräftigt Position zu wiederverheirateten Geschiedenen – Korrespondentenbericht, in: KATHPRESS-Infodienst Nr. 589 / 590, 31. Okt. 2013, S. 5 f.; Vatikan: Keine Sakramente für wiederverheiratete Geschiedene. Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Müller: Keine Ausnahme durch Gewissensentscheidung, sondern klare Kirchenlehre, in: KATHPRESS-Tagesdienst Nr. 249, 23. Okt. 2013, S. 11. 97 Vatikan: Keine Sakramente (Anm. 96), S. 11; siehe auch Bischöfliches Offizialat Münster (Hrsg.), Geschieden? Wiederverheiratet? Mit der Kirche? Eine Handreichung, Freiburg im Brsg. 2012.
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Mit dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ hat Papst Franziskus erneut Hoffnungen geweckt, wenn er mit Blick auf die Neuausrichtung der Seelsorge betont: „Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind … Das Zweite Vatikanische Konzil hat die kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst aus Treue zu Jesus Christus“ (Nr. 25 und 26). Die Pfarrei bezeichnete der Papst als „keine hinfällige Struktur“. Gerade „weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen. Obwohl sie sicher nicht die einzige evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzupassen, weiterhin ‚die Kirche (sein), die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt‘. Das setzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht und nicht eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von Auserwählten wird, die sich selbst betrachten“ (Nr. 28). Allerdings muss der Papst zugeben, „dass der Aufruf zur Überprüfung und zur Erneuerung der Pfarreien noch nicht genügend gefruchtet hat, damit sie noch näher bei den Menschen sind, Bereiche lebendiger Gemeinschaft und Teilnahme bilden und sich völlig auf die Mission ausrichten“ (Nr. 28). Mit Blick auf die Eucharistie stellt der Papst fest, dass sie, „obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“ ist (Nr. 46). Schließlich sieht er die Gefahr, dass „das den Männern vorbehaltene Priestertum“, das er nicht in Abrede stellt, „Anlass zu besonderen Konflikten geben (kann), wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird“ (Nr. 104). Auch die Überlegungen und Schlussfolgerungen von Libero Gerosa sind bei einer anstehenden Reform zu bedenken: So stellt Gerosa vor allem den Aspekt der Buße heraus und stellt das kirchliche Strafrecht „im Licht seines unerläßlichen Zusammenhangs mit dem Bußsakrament“ als „ein System kanonischer Sanktionen und Bußen von pastoral-disziplinarischem Charakter dar“ 98. Buße und Umkehr scheinen somit unerläßliche Voraussetzung für einen Neuanfang. Ausdrücklich bemerkt Gerosa im Blick auf Scheidung und Wiederheirat: „Entscheidend wichtig bleibt das Bemühen, zu verhüten, daß irgendeine Lösung dieses Problems in objektiver, aber soweit möglich auch in subjektiver Hinsicht den Sinn der sakramentalen Struktur der Kirche und insbesondere der Eucharistie verfälschen kann, die ihre Quelle und ihr Höhepunkt ist als das Zeichen der
98
Gerosa, Recht (Anm. 4), S. 235.
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‚communio Ecclesiae‘, der Einheit des ganzen Volkes Gottes“ 99. Diese Sicht gilt es bei allen Bemühungen um eine Lösung zu berücksichtigen. Wie Libero Gerosa mit Blick auf die Spannung Lehramt und theologische Wissenschaft bzw. Gehorsam bemerkt, hatte die Debatte über die Frauenordination „eine positive Wirkung, wenn sie als Gelegenheit zum Neuüberdenken der Beziehungen zwischen der Gemeinschaft der Gläubigen, dem kirchlichen Lehramt und der theologischen Wissenschaft (darunter auch der Kirchenrechtswissenschaft) ernstgenommen wird. Die konkrete Frage der Frauenordination kann jedenfalls nur beantwortet werden, wenn alle drei genannten Instanzen (Gläubige, Lehramt und Theologie) berücksichtigt werden – darunter selbstverständlich auch die päpstliche Entscheidung in ‚Ordinatio sacerdotalis‘ von 1994“ 100. Wenn es um Kriterien geht, die das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Kirche regeln, darf nicht vergessen werden, dass in der Kirche „‚Autonomie‘ christlich nur auf dem Weg der ‚Theonomie‘ und Freiheit nur als auf Gott bezogene und sich Gott verdankende Freiheit möglich“ ist. Auch ist „die Auferbauung der Kirche als ‚communio‘ … ‚nicht eindimensional von einem Punkt aus zu reglementieren, sondern muß immer neu durch Konsens und Rezeption gesucht werden. In diesem ekklesialen Prozeß bildet das synodale Prinzip als rechtlicher Ausdruck gemeinschaftlicher Verwirklichung der Freiheit in der Kirche ein unverzichtbares Element, das der Vorbereitung amtlicher Entscheide im Hinblick auf Rezeption und Konsens dient und zu einer vertieften, Freiheit realisierenden Communio hinführt‘“101. 99
Ebd., S. 184–191, hier 190 f.
100
Gerosa, Verbindlichkeit (Anm. 46), S. 27. Papst Franziskus hat in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ bekräftigt, dass das Priestertum den Männern vorbehalten sei und nicht zur Diskussion stehe. Wenngleich eine Zulassung zum Priesteramt für Frauen ausgeschlossen sei, so hat Papst Franziskus mit Blick auf die Frauen mehr Tätigkeitsfelder und Aufgaben in der Kirche gefordert. Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vom 24. Nov. 2013, Nr. 103 f.: www.vatican.va/holy_father/francesco/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione -ap_20131124_evangelii-gaudium_ge.pdf (eingesehen 28. 12. 2013); abgedr. in: Die Tagespost, 66. Jg., Nr. 143, 28. Nov. 2013, S. 13–33; dazu „Dieser Papst überrascht selbst schärfste Kritiker positiv“. Presseschau zum Schreiben „Evangelii Gaudium“ von Papst Franziskus zum Ende des „Jahres des Glaubens“, in: KATHPRESS-Infodienst Nr. 594, 29. Nov. 2013, S. 5–8. 101 Gerosa, Meinungsfreiheit (Anm. 55), S. 145 f., unter Hinweis auf Hubert Müller, Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung? Die Frage nach individueller und gemeinschaftlicher Verwirklichung von Freiheit im kanonischen Recht, in: AfkKR 150 (1981), S. 454–476, hier 473 f.
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So forderte bereits das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralen Konstitution über die Kirche nicht nur den Dialog mit allen Menschen und der Welt, sondern als wesentliche Voraussetzung für diesen Dialog, „daß wir vor allem in der Kirche selbst, bei Anerkennung aller rechtmäßigen Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen, die das eine Volk Gottes bilden, Geistliche und Laien“ (Art. 92 Abs. 1 und 2 VatII GS). Besondere Bedeutung gewinnt dabei das Wort von Papst Franziskus, das er Ende Juli 2013 mit Blick auf wiederverheiratete Geschiedene gesagt hat, dass nämlich „die Zeit der Barmherzigkeit“ sei102, und das, was der Papst in Evangelii Gaudium über die Barmherzigkeit schreibt103. So bleibt abzuwarten, ob bzw. welche Veränderungen eine Überarbeitung des kirchlichen Gesetzbuchs, das nun seit 30 Jahren in Kraft ist, oder auch die Neuansätze von Papst Franziskus bringen werden 104. Eine gesamtkirchliche Lösung wäre gegenüber Ansätzen, Wünschen und Veränderungen in einzelnen Diözesen angebracht. Die Aufgabe der Kanonist(inn)en liegt „nicht nur darin, Wandlungen in der Rechtsgemeinschaft … im Nachhinein in juristische Kategorien zufassen; sie müssen solche Entwicklungen begleiten und aus der Perspektive von Recht und Gerechtigkeit mitgestalten … Maßgeblich ist für uns die Kirche von gestern und von heute, immer aber auch der Blick auf die Kirche von morgen“105. Libero Gerosa hat in diese Richtung maßgeblich hingearbeitet.
102
Vgl. Vatikan: Keine Sakramente (Anm. 96).
103
Franziskus, Evangelii Gaudium (Anm. 100): „Lesen wir noch einmal, was das Wort Gottes über die Barmherzigkeit sagt, damit es kraftvoll im Leben der Kirche nach hallt“ (Nr. 193). „Das ist eine so klare, so direkte, so einfache und viel sagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren“ (Nr. 194). 104
Vgl. Vatikan will Kirchenrecht überarbeiten: Das Kirchengesetzbuch „Codex Iuris Canonici“ ist seit genau 30 Jahren in Kraft. Nun wird etwa bei den Themen Eherecht und Migration nachgebessert (22. 1. 2013): http://diepresse.com/home/panorama/ religion/1335766/Vatikan-will-Kirchenrecht-ueberarbeiten (eingesehen 6. 9. 2013). 105
Gerosa / Müller, Kirche (Anm. 3), S. 48 f.
V. Vergleichendes Religionsrecht und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat
„Supremus inter Pares“ Der Primat in der Kirche von England und in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft Von Hanns Engelhardt Hanns Engelhardt In seinem Vortrag „Le primazie nella Chiesa occidentale“ 1 hat Péter Kardinal Erdő das primatiale Amt in der lateinischen Kirche in einem umfassenden Überblick dargestellt. Es mag das Interesse unseres Jubilars finden, zu dessen bevorzugten Arbeitsgebieten ja das vergleichende Religionsrecht und in diesem Rahmen auch die Rechtsordnungen der verschiedenen christlichen Traditionen gehören, diesen Überblick über das lateinische Kirchenrecht durch eine Darstellung des Primates zu ergänzen, wie er sich in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft entwickelt hat. Dem Thema kommt aktuelle Bedeutung deshalb zu, weil neben dem mit dem Erzstuhl von Canterbury verbundenen Primat in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft die jüngste Entwicklung des sogenannten „Primates’ Meeting“ der Inhaber der primatialen Ämter in den einzelnen anglikanischen Kirchenprovinzen als „instrument of communion“ kontrovers diskutiert wird. Dabei empfiehlt es sich, von der Entwicklung des Primats in der Kirche von England, der Mutterkirche der Anglikanischen Kirchengemeinschaft,2 auszugehen, sodann den Primat in den anderen Provinzen dieser Kirchengemeinschaft zu beleuchten und schließlich auf die Entwicklung und Bedeutung des Primats von Canterbury und des erwähnten „Primates’ Meeting“ für die Anglikanische Kirchengemeinschaft als ganze einzugehen.
1 2
Folia canonica 5 (2002), pp. 279–91.
Außer der Scottish Episcopal Church sind alle anglikanischen Kirchenprovinzen in der einen oder anderen Weise aus der Kirche von England hervorgegangen.
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I. Der Primat in der Kirche von England Die kanonische Rechtslage in der Kirche von England ist dadurch gekennzeichnet, dass es dort3 einen doppelten „Primat“ der Erzbischöfe von Canterbury und York gibt. Diese Besonderheit hat von Alters her zu Problemen geführt. 1. Geschichtliche Entwicklung Die Anfänge des Primats von Canterbury lassen sich zurückverfolgen bis zu dem ersten Erzbischof – Augustinus, den Papst Gregor der Große nach England sandte, um die Kirche von England neu aufzubauen. In einem Schreiben von 6014 traf der Papst für die Organisation der englischen Kirche die Anordnung, Augustinus solle zunächst zwölf Bischöfe weihen, die dann unter seiner Autorität stehen sollten, danach einen Bischof für York, der ebenfalls Metropolit von zwölf Bischöfen sein solle. Trotzdem solle der Bischof von York der Autorität Augustins unterstehen. In der Ausstattung des Bischofs von London – der Papst ging davon aus, dass der Metropolitansitz von Canterbury nach London verlegt werde – mit einer Autorität über den anderen Metropoliten können wir den Anfang eines Primats über ganz England sehen. Allerdings sollte diese Regelung zunächst nur für die Lebenszeit Augustins gelten. Danach sollte der Bischof von York dem „Bischof von London“ in keiner Weise untergeordnet sein. Vielmehr sollte jeweils dem früher geweihten Bischof ein Ehrenvorrang zukommen. 5 Im Jahr 624 schrieb Papst Bonifatius V. (619 –625), als er Erzbischof Justus (624–627) das Pallium übersandte: „certam adsumentes fiduciam, non solum suppositarum ei gentium plenissimam salute; immo quoque uicinarum, uestrae praedicationis ministerio credimus subsequendam;, Pallium praeterea per latorem praesentium fraternitati tuae, benignitatis studiis inuitati, direximus; … concedentes etiam tibi ordinationes episcoporum, exigente oportu-
3 Wie sonst nur in der Kirche von Irland; cf. infra p. 342. In der Anglikanischen Kirche von Aotearoa, Neuseeland und Polynesien gibt es – aus ganz anderen Gründen – die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Primats von drei Bischöfen; cf. infra p. 340 seq. 4 Beda Venerabilis, Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum, [H. E.]. I.29; englische Übersetzung in: Henry Gee / William John Hardy, Documents Illustrative of English Church History, London 1896, 9. 5 Edward Carpenter, Cantuar: The Archbishops in Their Office, rev. ed., Oxford 1988, 6; cf. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Berlin 1869, Bd. I, 616 mit Fußn. 7.
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nitate, Domini praeueniente misericordia, celebrare; ita ut Christi euangelium plurimorum adnuntiatione in omnibus gentibus, quae necdum conuersae sunt, dilatetur.“6
Ein weiterer Brief Papst Bonifatius’ V. an Justus, in dem die Verleihung des Primats deutlicher zum Ausdruck kommt, ist eine spätere Fälschung. 7 Ein Brief Papst Honorius’ I. (625–638) an den gleichnamigen Erzbischof von Canterbury (627?–653), der ebenfalls die Formulierung „primatum omnium ecclesiarum Britanniae tibi, Honori, tuisque successoribus in perpetuum obtinere concedimus“8 enthält, wurde von Hinschius noch für echt gehalten, wird inzwischen aber ebenfalls allgemein als Fälschung angesehen.9 Ein besonderer Vorkämpfer des Primatsgedankens bezüglich Canterburys war Erzbischof Lanfranc (1070–1089). Er präsidierte im Jahr 1075 einem Konzil in London, auf dem bestimmt wurde, der Erzbischof von York solle zur Rechten des Erzbischofs von Canterbury sitzen und der Bischof von London zu seiner Linken.10 Dies ist ein früher Ausdruck der noch heute geltenden Rangfolge von Canterbury, York und London. Papst Urban II. (1088–1099) sagte sogar über Anselm von Canterbury (1093–1109), den aufgrund seiner theologischen Schriften außerhalb Englands und der anglikanischen Kirche wohl bekanntesten Erzbischof von Canterbury, bei dessen Besuch in Rom: „Cunque illum … quasi comparem velut alterius orbis apostolicum et patriarcham jure venerandum censeamus.“ 11 Die Vorstellung der Britischen Inseln als zu einem alter orbis gehörig, wurzelt in der antiken Lehre, dass die bewohnbare Welt, Europa, Afrika und Asien umfassend, von einem Ozeanring umgeben sei, in dem sich Inseln befanden und vornehmlich Britannien, eine „insula interfuso mari toto orbe divisa“12. Das Verhältnis zwischen Canterbury und York war ein wesentlicher Gegenstand der Bemühungen, des hl. Anselm.13 Im November 1102 gebot Papst Pas6
Cf. Beda Venerabilis, Historia (Anm. 4), II.8. A. E. McKilliam, A Chronicle of the Archbishops of Canterbury, London 1913, 26. 8 Hinschius, System (Anm. 5), Bd. I, 616 und Fußn. 9. 9 McKilliam, Chronicle (Anm. 7), 20. 10 Cf. Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 108. 11 Cf. Eadmer, Vita Anselmi II, xxix; hrsg. v. R. W. Southern, 1962, p. 105; cf. Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 109. 12 Southern, (Anm. 11), Fußnote 2 zu dem vorangehenden Zitat. Dort auch der Hinweis auf die von William von Malmesbury zitierte Formulierung „alterius orbis papa“, deren Historizität Southern indes kritisch beurteilt. 13 Cf. [Sir] R[ichard] W[illiam] Southern, Saint Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990, 330–364. 7
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chalis II. dem Erzbischof Gerhard von York, Anselm Gehorsam zu geloben, und bestätigte damit seinen persönlichen Vorrang; im folgenden Jahr dehnte der Papst die Gehorsamspflicht auf alle zukünftigen Erzbischöfe aus. 14 Damit hatte Anselm indes nur einen Scheinsieg errungen; denn das letztgenannte Schreiben bestätigte den Primat von Canterbury nur in dem Umfang, in dem er von Anselms Vorgängern innegehabt worden sei; aber darum ging gerade der Streit. Damit hatte der Papst die grundsätzliche Frage letztlich – wohl bewusst 15 – doch wieder offen gelassen. Erzbischof William de Corbeil (1123 –1136) erlangte von Papst Calixtus II. 16, richtiger wohl – im Hinblick auf das vorangegangene Konzil von Westminster am 9. September 1125 – von Papst Honorius II., 17 die Ernennung zum Vicar General und päpstlichen Legaten. Damit war er dem Erzbischof von York eindeutig übergeordnet; diese Überordnung galt aber nur für ihn persönlich, nicht für den jeweiligen Inhaber des Erzstuhls von Canterbury. Dementsprechend erlangte schon ... später Erzbischof Roger von York auf Betreiben König Heinrichs II., der den einen Erzbischof gegen den anderen ausspielen wollte, die Ernennung zum päpstlichen Legaten mit der gleichzeitigen Versicherung des Papstes, es würde ihm nie in den Sinn kommen, seine Kirche einem anderen als dem römischen Stuhl untergeordnet sehen zu wollen.18 Nachdem Erzbischof Ralphs Versuch einer Durchsetzung eines dauernden substantiellen Primats gescheitert war, verkam der Streit zu einer Reihe von Auseinandersetzungen über Fragen des Präzedenzrechts.19 Zu einem geradezu grotesken Vorfall kam es bei einem weiteren Konzil in Westminster, dem ebenfalls ein päpstlicher Legat vorsaß. Der früher angekommene Erzbischof Richard von Canterbury setzte sich zur Rechten des Legaten; dieser einen Vorrang implizierende Akt erboste Erzbischof Roger von York bei seinem Eintreffen derart, dass er nach dem Bericht des Chronisten Gervasius von Canterbury „sein Hinterteil zwischen den Erzbischof von Canterbury und 14
Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 109.
15
Southern, Saint Anselm (Anm. 13), 342. Cf. ders., Saint Anselm, and His Biographer, Cambridge 1963, p. 137; Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 109. 16
Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 110.
17
McKilliam, Chronicle (Anm. 7), 157, unter Berufung auf Florence of Worcester’s Chronicle, 1125. 18 Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 110 seq., unter Bezugnahme auf Materials V.18, zitiert bei R. Winston, Thomas Becket, Constable 1967, 169 seq. 19
Southern, (Anm. 13), 363.
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333
den Legaten zwängte,“ so dass er schließlich auf dem Schoß des Erzbischofs landete. Darauf warfen die Diener des Erzbischofs von Canterbury ihn auf den Boden und zerrissen seine Gewänder.20 Sichtbar wurde der Rangstreit nicht zuletzt an der Frage, welcher Erzbischof in der Provinz des anderen sein Vortragekreuz mitführen dürfe. Diese Frage wurde schließlich im Jahr 1353 zwischen den Erzbischöfen Simon Islip von Canterbury und John Thoresby von York einvernehmlich dahin entschieden, dass jeder den Titel des anderen (Primate of All England und Primate of England) anerkannte und fortan jeder sein Vortragekreuz in der Provinz des anderen benutzen durfte; die einzige Bedingung war, dass der Erzbischof von York innerhalb von zwei Monaten nach seinem ersten Betreten der Provinz Canterbury21 der Kathedrale von Canterbury die goldene Nachbildung eines Erzbischofs mit seinem Kreuz in der Hand im Wert von etwa £ 40 und ein weiteres Kleinod desselben Wertes übersenden musste, die dem Schrein des hl. Thomas dargebracht wurden.22 Durch diese Bestimmung, die sowohl durch Papst Clemens VI. als auch durch König Edward III. bestätigt wurde, wurde der Vorrang Canterburys, ohne ausdrücklich erwähnt zu werden, doch bestätigt.23 Die Rangstreitigkeiten zwischen Canterbury und York wirkten sich nicht nur auf die Rechtsstellung der beiden Erzbischöfe aus. Carpenter macht mit Recht darauf aufmerksam, dass der Fehlschlag, den sowohl Lanfranc als auch Anselm bei dem Versuch erlitten, einen eindeutigen Vorrang des Erzstuhls von Canterbury zu begründen, auch zu dem völligen Aufhören von Nationalsynoden geführt hat, die im kirchlichen Leben der angelsächsischen Zeit eine so große Rolle gespielt hatten.24 2. Gegenwärtige Lage Die gegenwärtige Rechtslage ist durch ein unübersichtliches Gemisch von Rechtssätzen aus verschiedenen Zeiten gekennzeichnet. Erschwerend kommt hinzu die auch heute noch bestehende Gemengelage von kirchlichem und staatlichem Recht. Angesichts der staatskirchlichen Ordnung in England, würde man aber der Wirklichkeit nicht gerecht, wenn man das staatliche Recht aus der Betrachtung ausklammern würde. Eine strenge Trennung erscheint auch des20
Cf. Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 112.
21
Oder der Bestätigung seiner Wahl; McKilliam, Chronicle (Anm. 7), 239.
22
Cf. Carpenter, Cantuar (Anm. 5), 112.
23
McKilliam, Chronicle (Anm. 7), 239.
24
Carpenter, Carpenter (Anm. 5), 113.
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halb unmöglich, weil an sich innerkirchliche Regelungen durch staatliche Gesetze modifiziert worden sind. So sind durch den Ecclesisastical Licences Act von 1533, der heute noch gilt, die päpstlichen Zuständigkeiten für Lizenzen, Dispense und Fakultäten auf den Erzbischof von Canterbury übertragen worden. Man mag dies vom Standpunkt des allgemeinen kanonischen Rechts für unmöglich und deshalb unwirksam halten. Das Gesetz hat aber die kirchliche Rechtswirklichkeit in England seit fast einem halben Jahrtausend bestimmt, so dass es sinnlos wäre, es bei einer Betrachtung der Rechtsstellung des Erzbischofs von Canterbury zu ignorieren. Das Amt des Erzbischofs von Canterbury betrifft – insofern ähnlich dem Papstamt – verschiedene Ebenen der kirchlichen Organisation; er ist: a) Bischof der Diözese Canterbury; b) Erzbischof der südlichen Kirchenprovinz Englands; c) Primas von ganz England; d) erster Primas der Anglikanischen Kirchengemeinschaft. a) Titel Der Erzbischof von Canterbury führt den Titel „Primate and Metropolitan of All England“25. Er gehört dem Oberhaus und regelmäßig dem Privy Council an – daher der Titel „The Most Reverend and Right Honourable“ – und steht in der Rangfolge unmittelbar hinter der königlichen Familie und vor dem Lordkanzler. 26 b) Wahl Der (Erz-)Bischofsstuhl von Canterbury wird grundsätzlich in derselben Weise besetzt wie alle Bischofsstühle der Kirche von England, formell durch Wahl von Seiten des Domkapitels, das aber die Person wählen muss, die der Monarch durch letter missive bezeichnet; kommt es dieser Verpflichtung nicht innerhalb von zwölf Tagen nach, dann kann der Monarch den Bischof durch
25
Ecclesiastical Law. Being a Reprint of the Title Ecclesiastical Law from Halsbury’s Laws of England, 3rd ed. Church Assembly Edition, London 1957, p. 63. Ganz entsprechend übrigens der Erzbischof von Armagh (der anglikanische sowohl als auch der römisch-katholische) „Primate of All Ireland“. 26
Halsbury, Laws (Anm. 25), ibid.
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letters patent ernennen.27 Diese Rechtslage stricti iuris wird seit langem durch Constitutional Convention ergänzt, derzufolge zunächst eine Crown Nominations Commission gebildet wird, der angehören: ein(e) Vorsitzende(r), vom Premierminister ernannt; ein Bischof, vom House of Bishops der Generalsynode gewählt; der Erzbischof von York, wenn er nicht auf die Mitgliedschaft verzichtet und ein anderer vom House of Bishops gewählter Bischof an seine Stelle tritt; – 6 Vertreter der Diözese Canterbury, von deren Vacancy in See Committee gewählt; – 6 Vertreter (3 Kleriker und 3 Laien), von der Generalsynode für einen Zeitraum von 5 Jahren gewählt; – ein Mitglied des Primates’ Meeting der Anglikanischen Gemeinschaft, vom Standing Committee der Gemeinschaft gewählt. – – –
Außerdem gehören der Kommission der Generalsekretär der Anglikanischen Kirchengemeinschaft, der Sekretär des Premierministers für Ernennungen und der entsprechende Sekretär der Erzbischöfe ohne Stimmrecht an. Die Kommission benennt nach einem Konsultationsprozess dem Premierminister einen empfohlenen Kandidaten und einen Ersatzkandidaten. Seit 2007 gilt die vereinbarte Konvention, dass der Premierminister der Königin den erstgenannten Kandidaten zur Ernennung vorschlägt.28 c) Kompetenzen Bei den Kompetenzen des Erzbischofs von Canterbury kann man unterscheiden zwischen oberhirtlichen Kompetenzen, die im geistlichen Bereich angesiedelt sind, Verwaltungs- und richterlichen Kompetenzen sowie Aufgaben im staatskirchenrechtlichen Bereich, die sich also aus der besonderen Stellung der Kirche von England im Staat ergeben.
27 Appointment of Bishops Act 1533 (25 Henry VIII c. 20 sec. 3); cf. Norman Doe, The Legal Framework of the Church of England, Oxford 1996, 166. 28 Cf. Outline of procedures for the appointment of an Archbishop of Canterbury vom 16. März 2012; http://rowanwilliams.archbishopofcanterbury.org/articles.php/2403/outline-of-procedures-procedures-for-the-appointment-of-an-archbishop-of-canterbury, abgerufen 12. 10. 2013.
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aa) Oberhirtliche Kompetenzen Bei den Kompetenzen des Erzbischofs von Canterbury ist zu unterscheiden zwischen seinen Rollen als Metropolit der Kirchenprovinz Canterbury, einer internen (Unter-)Provinz innerhalb der anglikanischen Kirchenprovinz „Kirche von England“.29 Als Metropolit besitzt er „metropolitical jurisdiction“ in der gesamten Provinz Canterbury, ist „superintendent of all ecclesiastical matters“ und hat die Pflicht und das Recht, „to correct and supply the defects of other bishops“.30 Alle diese Kompetenzen erstrecken sich lediglich auf die Provinz Canterbury und stehen in der Provinz York dem dortigen Erzbischof zu. bb) Synodale Kompetenzen Der Erzbischof von Canterbury ist Präsident der Convocation of Canterbury, der Versammlung des Klerus der Provinz Canterbury, aber er ist nicht alleiniger Präsident der Generalsynode der Kirche von England; vielmehr hat er das Amt des Präsidenten gemeinsam mit dem Erzbischof von York inne.31 cc) Verwaltungsaufgaben Der Erzbischof von Canterbury ist Vorsitzender der Church Commissioners, einer Körperschaft, die als Rechtsnachfolgerin von Queen Anne’s Bounty und den Ecclesiastical Commissioners32 ein erhebliches kirchliches Vermögen verwalten und wesentlich zur Deckung der Ausgaben für die kirchliche Arbeit beitragen, z. B. die bis 1998 erdienten Ruhegehälter der Pfarrer zahlen, und ihres Board of Governors.33 Dagegen ist er Präsident des Archbishops’ Council, dessen Aufgabe es ist, die Arbeit der Kirche von England auf nationaler Ebene zu koordinieren und zu unterstützen,34 gemeinsam mit dem Erzbischof von York.
29 Im anglikanischen Sprachgebrauch werden die rechtlich selbstständigen Kirchen der verschiedenen Länder und Regionen regelmäßig als „Provinces“ bezeichnet. Daraus ergeben sich terminologische Probleme in denjenigen Provinzen, die – wie England, Irland, USA, Nigeria und andere – ihrerseits wieder in interne „Provinzen“ gegliedert sind. 30
Doe, Framework (Anm. 27), 170.
31
Synodical Government Measure 1969 (No. 2) Schedule 2 Sec. 4 para. (1).
32
Zu diesen Institutionen cf. Geoffrey Best, Temporal Pillars: Queen Anne’s Bounty, the Ecclesiastical Commissioners, and the Church of England, Cambridge 2010. 33
Church Commissioners Measure 1947 sec. 4 (1), 5 (2).
34
Cf. National Institutions Measure 1998 No. 1 sec. 1.
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In den staatlichen Bereich hinein reichen heute die Zuständigkeiten, die dem Erzbischof von Canterbury durch den Ecclesiastical Licences Act 153335 übertragen worden sind. Danach hat er das Recht, im Gebiet beider englischer Kirchenprovinzen alle Lizenzen, Dispense und Fakultäten zu gewähren, die zuvor in der Jurisdiktion des Papstes lagen. 36 Insoweit wird gewöhnlich von „legatine powers“ gesprochen, weil diese Zuständigkeiten schon zuvor vom Papst dem Erzbischof als seinem Legaten übertragen worden waren.37 Eine besondere Rolle spielen in diesem Rahmen die Heiratslizenzen. Der Erzbischof von Canterbury kann auf Grund der vorgenannten Gesetzesbestimmung eine „special licence“ gewähren, einem Brautpaar ermöglicht, in einer Kirche, in der getraut zu werden sie keinen Rechtsanspruch haben, oder in einem Gebäude zu heiraten, das für Trauungen nicht allgemein zugelassen ist38. Auf dieser Grundlage ist der Erzbischof von Canterbury auch befugt akademische Grade zu verleihen, an Geistliche sowohl als auch an Laien, nach Prüfung oder ohne eine solche. Auch diese Befugnis geht auf die von dem päpstlichen Legaten ausgeübten päpstlichen Befugnisse zurück, die durch den Ecclesiastical Licences Act auf den Erzbischof von Canterbury übertragen worden sind.39 Diese Grade sind als „Lambeth Degrees“ bekannt. Aus ihnen ergibt sich allerdings kein Recht auf Mitgliedschaft in einer Universität; das „Lambeth degree“ in Medizin berechtigt insbesondere nicht dazu, eine ärztliche Praxis aus35
25 Henry VIII c. 21 sec. 2–4; ursprünglicher Titel: Act concerning Peter-Pence and Dispensations, umbenannt durch Statute Law Revision Act 1948 (c. 62) Schedule 2; auch abgedruckt in: Gee / Hardy, Documents (Anm. 4), 209; Edmund Gibson, Codex Juris Ecclesiastici Anglicani, 2nd ed., Oxford 1761, Vol., I, 88. 36
Be it also enacted …, That the said archbishop [i. e. von Canterbury], and his successors, … shall have full power and authority by themselves, or by their sufficient and substantial commissary or deputy, by their discretions, from time to time, to grant and dispose, by an instrument under the name and seal of the said archbishop, as well to any of your subjects, as to the subjects of your heirs and successors, all manner licences, dispensations, faculties, compositions, rescripts, delegacies, instruments or other writings for any such cause or matter whereof heretofore such licences, dispensations, compositions, faculties, rescripts, delegacies, instruments, or writings have been accustomed to be had at the See of Rome, or by the authority thereof, or of any prelate of this realm. 37 Ausführlich hierzu Noel Cox, Dispensations, Privileges, and the Conferment of Graduate Status: with Special Reference to Lambeth Degrees, in: Journal of Law and Religion 18 No 1 (2002–2003), 249–274. 38
Cf. Doe, Framework (Anm. 27), 51.
39
Mark Hill, Ecclesiastical Law, London 1995, 238, Anm. 9.
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zuüben.40 Die Inhaber dieser Grade sind jedoch berechtigt, die akademische Tracht der Universität Oxford oder Cambridge zu tragen je nach dem, welche den Erzbischof graduiert hat.41 dd) Richterliche Aufgaben Richterliche Funktionen übt der Erzbischof in seiner Eigenschaft als Primas nicht aus. In seiner Eigenschaft als Metropolit der Kirchenprovinz Canterbury ist ihm der Court of the Arches zugeordnet, der über Berufungen gegen Urteile von Diözesangerichten entscheidet und dem in der Kirchenprovinz York der Chancery Court of York entspricht. Im 19. Jahrhundert hat der Erzbischof von Canterbury auch noch persönlich, als Metropolit seiner Kirchenprovinz und unter Hinzuziehung mehrerer Bischöfe als Assessoren, als Richter amtiert. Er hat ein gerichtliches Verfahren gegen den Bischof von Lincoln wegen des Vorwurfs von Verstößen gegen liturgische Vorschriften geführt.42 Die Kompetenz hierfür stützte das Gericht auf die durch das Konzil von Chalkedon bestätigten Kanones früherer Konzilien, die in England anerkannt seien und nach denen dem Erzbischof die Jurisdiktion über die Bischöfe seiner Provinz zustehe.43 Heute erscheint es eher zweifelhaft, ob der Bischof oder Erzbischof einen Fall an Stelle des ordentlichen Richters, auf Diözesanebene des chancellor, selbst hören und entscheiden darf oder ob dies gegen den allgemeinen Grundsatz der Gewaltenteilung verstößt. Diese Frage wurde 1981 von Chancellor Moore in einem Urteil des Southwark Consistory Court erörtert.44 Moore führte aus, die Entscheidung eines Falles durch den Bischof selbst anstelle des chancellor „involved a breach of the constitutional principle of the separation of the functions of the legislature, the executive and the judiciary and a return to the absolutism of the middle ages condemned in this country since at least the middle of the 17th century.“
Noch 1902 hatte der Court of Appeals die Entscheidung durch den Bischof selbst als unproblematisch akzeptiert.45 40
Cf. Halsbury, Laws (Anm. 25), 63 (m).
41
Halsbury, Laws (Anm. 25), 63 (m).
42
Cf. R. P. Flindall, The Church of England 1815–1948, London 1972, 252–260.
43
Flindall, Church of England (Anm. 42), 253 seq.
44
Cf. Re St. Mary’s, Barnes, [1982] 1 WLR 531.
45
R v Tristram, [1902] 1 KB 816.
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ee) Staatsrechtliche Stellung Der Erzbischof von Canterbury ist der erste Peer des Reiches und genießt nicht nur den Vorrang vor allen anderen Bischöfen, sondern auch vor den weltlichen Adligen außer denen königlichen Blutes.46 Kraft Herkommens, steht ihm das Recht zu, die regierenden Könige und Königinnen von England zu krönen.47 Das Recht, die Gemahlin des Königs zu krönen, hat auch der Erzbischof von York in Anspruch genommen. Ob ihm diese Befugnis von Rechts wegen zusteht, ist allerdings nie entschieden worden. Eine Petition dieses Inhalts wurde aus Anlass der Krönung Eduards VII. (1902) dem Court of Claims vorgelegt, der vor jeder Krönung zusammentritt, um über Ansprüche auf die Ausübung bestimmter Funktionen bei der Krönung zu entscheiden; über diese Petition wurde aber nicht entschieden, da die Krönung Königin Alexandras auf Vorschlag des damaligen Erzbischofs von Canterbury (Frederick Temple) dem Erzbischof von York „as a matter of grace“ übertragen wurde. Nach Lockhart48 geschah dies mit Rücksicht auf die Schwäche des achtzigjährigen Erzbischofs Temple. Dementsprechend konnte die Auffassung, damit sei ein Präzedenzfall geschaffen, sich nicht durchsetzen 49; 1911 wurde dem Erzbischof von York lediglich die Predigt übertragen,50 1937 nicht einmal sie, da der Krönungsgottesdienst keine Predigt enthielt51. Gekrönt wurde die Königin in beiden Fällen vom Erzbischof von Canterbury.52 II. Der Primat in den anderen Provinzen der Anglikanischen Kirchengemeinschaft In der Anglikanischen Kirchengemeinschaft hat der Begriff des Primats sich weiterentwickelt. Spätestens seit der Einrichtung des „Primates’ Meeting“, in dem die leitenden Bischöfe der einzelnen Kirchenprovinzen sich alljährlich treffen, ist er auch als Bezeichnung dieser leitenden Bischöfe offiziell anerkannt, obwohl er in den provinzialen Verfassungen nicht überall gebraucht wird. Auch hinsichtlich der Inhaber dieser primatialen Ämter sind gemein46
John Godolphin, Repertorium Canonicum, 3rd ed., London 1687, 13.
47
„the Kings and Queens regnant“; Halsbury, Laws (Anm. 25), 63.
48
J. G. Lockhart, Cosmo Gordon Lang, London 1949, 240.
49
Lockhart, Lang (Anm. 48), ibid.
50
Lockhart, Lang (Anm. 48).
51
Lockhart, Lang (Anm. 48), 411; vgl. auch die ausführliche Beschreibung der Krönung von 1937 dort 408–423. 52
Halsbury, Laws (Anm. 25), 63 (b).
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schaftliche Regelungen und provinziales Recht zu unterscheiden, wobei hier das Provinzialrecht im Vordergrund steht. Die Ausgestaltung des primatialen Amtes ist in den einzelnen Kirchenprovinzen unterschiedlich je nach dem provinzialen Recht. Ian Douglas53 führt dazu aus:54 The primates are different with respect to their own church structure, from church to church. For example, in the Episcopal Church USA, the primate is the presiding bishop – the bishop who presides over the meeting of the House of Bishops. In other parts of the Anglican Communion, the primate might be the archbishop, the bishop that sits above, or hosts, the other bishops, or archbishops, as they gather together. In even other churches of the Anglican Communion, the primate is known as the “metropolitan,” which might be an elected position that rotates among the bishops. Whether it’s metropolitan, archbishop, or presiding bishop, the primate is an all-inclusive term that says “chief officer,” if you will, the chief office in any church. 55
Die Verschiedenheit der Regelungen soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden, da die vollständige Darstellung des Rechts aller Provinzen der Gemeinschaft den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde. Eine besondere Regelung besitzt, aufgrund ihrer besonderen Struktur, die Anglikanische Kirche von Aotearoa, Neuseeland und Polynesien. In ihr leben Angehörige verschiedener Kulturtraditionen zusammen, der europäischen, der Māori- und der polynesischen Tradition. Um deren kulturelle Identität zu bewahren, ist die Kirchenprovinz deshalb in drei „Tikanga“ eingeteilt. Zu dem europäisch ausgerichteten Tikanga Pākēha gehören die (derzeit sieben) Diözesen der Kirche von Neuseeland; zum Tikanga Māori gehört Te Pihopatanga o Aotearoa;56 den polynesischen Tikanga bildet die Diözese Polynesien. Hinsichtlich des primatialen Amtes sieht das kanonische Recht zwei Möglichkeiten vor: die 53 Damals Professor of Mission and World Christianity an der Episcopal Divinity School in Cambridge, Massachusetts, inzwischen Bischof von Connecticut. 54
In einem Interview mit Religion and Ethics Newsweekly, am 16. 10. 2003; http://www.anglicannews.org/news/2003/10/the-revd-ian-t-douglas-upholds-importanceof-the-anglican-communion.aspx, abgerufen am 12. 10. 2013. 55
Ob man in dieser Weise einen Unterschied zwischen „Metropolitan“ und „Archbishop“ machen kann, scheint nicht unbezweifelbar. Ob die Bezeichnung „chief officer“, die sehr an „chief executive officer“ erinnert, dem geistlichen Gehalt des primatialen Amtes gerecht wird, sei hier einmal dahingestellt. In der amerikanischen Episkopalkirche wird der Presiding Bishop freilich auch als „chief executive officer“ (des Executive Council, nicht der Kirche) bezeichnet (Can. I.4 sec. 3 (a)); das ist aber nur eine Seite seines Amtes. 56
Pihopatanga bedeutet so viel wie Bistum; Aotearoa ist der Māori-Name Neuseelands.
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Generalsynode kann einen einzigen Primas wählen; sie kann aber auch bestimmen, dass das Amt von den drei Seniorbischöfen der einzelnen Tikangas gemeinschaftlich ausgeübt wird, von denen dann jeder die Amtsbezeichnung „Primas und Erzbischof“ führt. Zur Zeit stellt jeder Tikanga einen Primas. Diese sprechen die Wahrnehmung ihrer repräsentativen Rollen nach ihren Interessen, der Verfügbarkeit und in einigen Fällen nach dem Rotationsprinzip untereinander ab. Das letztgenannte Prinzip gilt zum Beispiel für die Teilnahme an den Primates’ Meetings, sofern der Primas, der an der Reihe ist, nicht verhindert ist. Der Vorsitz in Generalsynode und ihrem Standing Committee wird gemeinsam wahrgenommen, indem die einzelnen Sitzungen verteilt werden. Einige andere Provinzialorgane, in denen ein Primas Mitglied ist, werden generell verteilt, so dass eine gewisse Kontinuität gesichert ist.57 1. Bezeichnung Schon die Amtsbezeichnung des Primas ist in den einzelnen Kirchenprovinzen unterschiedlich geregelt. In der Kirche von Irland führt der Erzbischof von Armagh – entsprechend der Titulatur des Erzbischofs von Canterbury – den Titel „Primate of All Ireland“. In den Kirchenprovinzen, die nicht in mehrere interne Provinzen gegliedert sind, führt der Primas in der Regel den Titel „Archbishop“. In den Kirchenprovinzen mit mehreren internen Provinzen, in denen der Primas aus der Reihe der provinzialen Erzbischöfe gewählt wird, behält er den Titel „Archbishop“. In Nigeria wird der Primas als Archbishop, Metropolitan and Primate bezeichnet (Const. 27 (1); Can. II.1 (1)). In Kanada ist ausdrücklich bestimmt, dass der Primas „presiding bishop“ ist (Can. III,I.1 a) und den Titel „archbishop“ führt (Can. III.1 c) und auch nach Beendigung seines Amtes behält; (Can. III.9 e); letzteres ist deshalb von Bedeutung, weil in Kanada auch ein Diözesanbischof, der kein Erzbischof einer internen Provinz ist, zum Primas gewählt werden kann (Can. III.12). Der Primas wird auch als „Senior Metropolitan“ bezeichnet (Can. III.1 b); als solcher ist er primus inter pares der Erzbischöfe der internen Provinzen („Provincial Metropolitans“), beruft ihre Zusammenkünfte ein und sitzt ihnen vor und berät mit diesen Erzbischöfen über Fragen von Leitung und Mission (Can. III.3). 57
Für die Information über die dargestellte Praxis habe ich dem Generalsekretär der Kirche von Aotearoa, Neuseeland und Polynesien, The Rev’d Michael Hughes, zu danken.
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In der Schottischen Episkopalkirche gibt es keinen Erzbischof (mehr); der Primas führt den Titel „Primus“. Auch in der amerikanischen Episkopalkirche wird die Bezeichnung Archbishop oder Metropolitan nicht verwendet, was nicht ausschließt, dass dem Presiding Bishop Kompetenzen übertragen sind, die andernorts dem Metropolitan zukommen.58 Der leitende Bischof wird traditionell als Presiding Bishop (bis 1901 „of the House of Bishops“ und von da an „of the Church“)59, seit 1967 auch als „chief pastor“60 und heute auch als „Primate of the Church“ bezeichnet (mit der Titulatur „The Most Reverend“). In dieser Entwicklung spiegelt sich die wachsende Bedeutung des Amtes. In der, stark von der Tradition der amerikanischen Episkopalkirche beeinflussten, Episkopalkirche Brasiliens führt der Primas ebenfalls nicht den Titel Erzbischof, sondern wird als „Bishop Primate“ („Bispo Primaz“) bezeichnet (und ist als solcher ebenfalls „The Most Reverend“); anders als in der amerikanischen Episkopalkirche leitet er aber neben dem Primasamt seine bisherige Diözese weiter.61 2. Sitz An einen bestimmten Bischofssitz gebunden ist der Primat außer in England (Canterbury) nur in Irland (Armagh), wo es ebenfalls – wie in England – einen zweiten Erzbischofssitz in Dublin gibt, dessen Verhältnis zu Armagh dem von York zu Canterbury entspricht. In Schottland, wo es lange Zeit kein Erzbistum gab, nahmen im Mittelalter die Erzbischöfe von York und Canterbury die Metropolitangewalt in Anspruch. Dagegen leisteten die Schotten Widerstand und unterstellten sich lieber der unmittelbaren Metropolitangewalt des Papstes. 62 Erst im Jahr 144263 erhob der 58
Cf. infra II. 5. a).
59
Annotated Constitution and Canons, New York 1997, 199.
60
Annotated Constitution and Canons (Anm. 59), 202.
61
Der Website www.ieab.org.br/site/en/structure/bispo-primaz (am 18. 7. 2013) entnommen. Die kanonischen Rechtsvorschriften waren mir leider nicht zugänglich. 62 Cf. Herbert Mortimer Luckock, The Church in Scotland, London 1893, 95 seq., auch zum Folgenden. 63 So Luckock, Church in Scotland (Anm. 62), 95. Nach Wikipedia (en.wikipedia. org/archdiocese_of_St_Andrews, abgerufen 12.07.2013) unter Berufung auf Watt / Murray (eds.), Fasti Ecclesiae Scotinanae Medii Aevi ad annum 1638, Edinburgh 2003, 376, erst 1472.
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Papst das Bistum St. Andrews zum Erzbistum. Der Erzbischof nahm in Schottland die Stellung ein, die in England dem Erzbischof von Canterbury zukam. Um seinen Vorrang zu begrenzen, wurde nach dem Vorbild von Canterbury und York im Jahre 1492 das Erzbistum Glasgow errichtet. Dem folgten freilich langandauernde Rangstreitigkeiten, die es nach Auffassung von Luckock als mehr als zweifelhaft erscheinen lassen, ob die Angleichung an England in dieser Hinsicht weise und vorteilhaft war. Nach der Abschaffung des Episkopats durch das schottische Parlament im Jahr 1689 achteten die abgesetzten Bischöfe zwar auf die Aufrechterhaltung der Sukzession in ihrem Weihestand, verzichteten aber darauf, neue Bischöfe für bestimmte Sitze zu ernennen. Im Lauf der Zeit starben die alten Diözesanbischöfe aus, so dass schließlich die den Bischöfen treu gebliebenen Priester und Gemeinden sich unter der Regierung einer Gruppe von Bischöfen fanden, die keine ordnungsgemäß abgegrenzten Jurisdiktionsbezirke hatten. Damit war auch die alte Provinzialverfassung obsolet geworden. Auf Bitten des Klerus in den verschiedenen Teilen des Landes wurden nach und nach einzelnen Bischöfen bestimmte Gebiete als Diözesen zugeteilt. Im Jahr 1731 einigten die Bischöfe sich in den „Articles of Agreement amongst the Bishops of the Church of Scotland“ auf Grundsätze über die Wahl der Bischöfe und eines Primus. Diese Grundsätze wurden von einer Bischofssynode im Jahr 1743 in einen Kodex von Kanones aufgenommen. Darin heißt es unter anderem, die Bischöfe sollten den Primus wählen „without respect either to seniority of consecration or precedency of district.“ Man verzichtete also – im Gegensatz zu England und Irland – ausdrücklich auf einen bestimmten Primatialsitz. Die Kirche in Wales ist in einer ähnlichen Lage wie die Kirche von Irland, insofern sie – ein halbes Jahrhundert später – aus der Kirche von England ausgegliedert und entstaatlicht (disestablished) worden ist. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass die irische Kirche aus mehreren Provinzen der Vereinigten Kirche von England und Irland bestand und der irische Primatialsitz von Armagh ohne Schwierigkeit seine traditionelle Funktion in der neuen Kirchenstruktur wieder aufnehmen konnte, während die walisischen Diözesen aus der Kirchenprovinz Canterbury herausgelöst wurden und es in Wales daher keinen Erzbischofssitz gab, dessen Inhaber den Primat hätte übernehmen können. Die walisische Kirche entschied sich für die Einrichtung des Amtes eines Erzbischofs, jedoch ohne einen bestimmten Sitz. In den übrigen Kirchenprovinzen hat es von Anfang an keinen Primatialsitz gegeben. Der Primas64 behält seine bisherige Diözese oder er muss sogar auf diese verzichten und hat dann überhaupt keine Diözese (Kanada; amerikanische 64
Ebenso wie die – soweit vorhanden wie in Kanada und Nigeria – Erzbischöfe interner Kirchenprovinzen.
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Episkopalkirche). Die letztere Regelung erscheint indes ekklesiologisch bedenklich. Sie beruht ausschließlich auf praktischen Erwägungen. Das zeigt sich deutlich an der Entwicklung in der amerikanischen Episkopalkirche. Dort fiel das Amt des Presiding Bishop65 lange Zeit stets dem dienstältesten Bischof zu. Erst 1919 wurde diese Regelung dahin geändert, dass der Presiding Bishop aus der Zahl der amtierenden Bischöfe gewählt wird (Const. Art. I Sec. 3). 66 Im Hinblick auf die Vermehrung seiner Verantwortlichkeiten wurde dann 1937 bestimmt, dass der gewählte Presiding Bishop auf das Bischofsamt in seiner bisherigen Diözese verzichten muss (Can. I.2 Sec. 3); 67 ihm steht jetzt nur noch die Jurisdiktion über die Auslandsgemeinden zu, die keiner Diözese zugeordnet sind. 3. Wahl Die Problematik der Besetzung des Primasamtes stellt sich unterschiedlich dar je nach dem, ob es mit einem bestimmten Bischofssitz verbunden ist oder nicht. Bei dem Primat von Canterbury (England) wird durch die Wahl am ehesten deutlich, dass der Primat ein Annex des Diözesanbischofsamtes ist, da der (Erz-)Bischofsstuhl von Canterbury grundsätzlich in derselben Weise besetzt wird wie alle Bischofsstühle der Kirche von England. Gerade umgekehrt stellt die Lage sich in Irland dar. Der Erzbischof von Armagh und Primas von ganz Irland wird vom House of Bishops der Generalsynode der Kirche von Irland durch Mehrheitsbeschluss aus seinen Mitgliedern gewählt (Const. Ch. VI.2), ohne dass der Diözese Armagh dabei eine besondere Stimme zukäme. Die übrigen Bischöfe einschließlich des Erzbischofs von Dublin werden von einem Bischofswahlkollegium gewählt (Const. Ch. VI.4). Zu diesem Kollegium treten bei der Wahl des Nachfolgers des Erzbischofs von Armagh in seiner bisherigen Diözese je 6 geistliche und weltliche Vertreter der Diözese Armagh hinzu. (Const. VI.4(e)); damit hat die Diözese Armagh zwar keinen rechtlichen Einfluss auf die Wahl ihres (Erz-)Bischofs, aber ein besonderes Gewicht bei der Wahl des Nachfolgers in seinem bisherigen Bischofsamt.
65
Ursprünglich Presiding Bishop oft the House of Bishops, seit 1901 Presiding Bishop oft the Episcopal Church (vgl. Annotated Constitution and Canons [Anm. 59], Vol. I, p. 199). Die Amtsbezeichnung Erzbischof gibt es in der amerikanischen Episkopalkirche nicht. 66 67
Vgl. Annotated Constitution and Canons (Anm. 59), Vol. I, 199.
Dazu Annotated Constitution and Canons (Anm. 59), Vol. I, 201. Die gleiche Regelung gilt in Kanada (Can. III.4 (b)).
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Vergleichbare Konkurrenzprobleme können dort, wo das Amt des Primas nicht mit einem bestimmten Bischofssitz verbunden ist, nicht auftreten. In diesen Kirchenprovinzen wird der Primas entweder von der Bischofssynode bzw. dem House of Bishops der Provinzialsynode, der gesamten Synode oder einem Bischofswahlkollegium gewählt. In der Schottischen Episkopalkirche wird der Primus von der Episcopal Synod, der alle Diözesanbischöfe angehören, aus ihrer Mitte gewählt (Can. 3.1). Das gleiche gilt für den Primas von Nigeria mit der Maßgabe, dass die Wahl grundsätzlich einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Bischofssynode bedarf (Can. II.4 (2)). Falls diese Mehrheit in drei Wahlgängen nicht erreicht wird, scheiden alle Kandidaten außer den beiden mit der höchsten Stimmenzahl im dritten Wahlgang aus (Can. II.7 (4)). Wird im vierten Wahlgang immer noch nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht, so entscheidet im fünften Wahlgang die einfache Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder der Synode (Can. II.7 (5) Satz 2). Bei Stimmengleichheit gilt der Kandidat, der früher zum Bischof geweiht worden ist, als gewählt (Can. II.7 (5) Satz 3). In der amerikanischen Episkopalkirche wird der Presiding Bishop vom House of Bishops der General Convention aus der Zahl der Bischöfe der Provinz – es muss sich nicht unbedingt um einen amtierenden Diözesanbischof handeln – gewählt; die Wahl muss aber vom House of Deputies bestätigt („confirmed“) werden. Verschiedene Versuche, dem House of Deputies eine aktivere Rolle bei der Wahl einzuräumen, sind stets am Widerstand des House of Bishops gescheitert; das House of Deputies hat aber die Bestätigung eines vom House of Bishops nominierten Presiding Bishop noch nie abgelehnt.68 In Neuseeland nominieren die Bischöfe mit Zweidrittelmehrheit einen Kandidaten (Title A Canon I § 7.3.3), über den die Mitglieder der Generalsynode aus Clergy und Laity dann abstimmen (Title A Can. I § 7.3.8). Nach Nr. 5 der am Anfang der Verfassung stehenden „Fundamental Provisions“ muss auch hier der Kandidat die Mehrheit in beiden Orders von Clergy und Laity erreichen; es ist also eine Abstimmung nach Orders erforderlich. Wenn der nominierte Kandidat nicht die erforderlichen Mehrheiten erhält, wird das Verfahren wiederholt (Title A Can. I § 7.3.11), beginnend mit einer neuen Nominierung durch die Bischöfe. Eine Devolution des Bestimmungsrechts nach einer bestimmten Zahl ergebnisloser Wahlgänge ist nicht vorgesehen. Das beschriebene Wahlverfahren erübrigt sich, wenn beschlossen wird, dass die Senior Bishops – bestimmt durch Beschluss der Generalsynode – der drei Tikanga, in die die aus-
68
Persönliche Mittelung von Bischof Pierre Whalon an den Verfasser.
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tralische Kirchenprovinz gegliedert ist, gemeinsam das Primasamt ausüben sollen (Title A Can. I § 7.1.1 b). In Kanada nominiert das House of Bishops aus der Zahl der Bischöfe der Provinz, die Mitglieder des Order of Bishops der Generalsynode sind, (Can. III.12) drei oder mehr Kandidaten (Can. III.15), über die Clergy und Laity dann (in Abwesenheit der Bischöfe! Can. III.20) abstimmen; der Kandidat, der in beiden Orders die Mehrheit der anwesenden Synodalen erhält, ist gewählt (Can. III.21 d). Wird die erforderliche Mehrheit nicht erreicht, dann scheidet nach dem zweiten und jedem folgenden Wahlgang der Kandidat mit den wenigsten Stimmen sowie jeder Kandidat mit weniger als 10 % der Stimmen aus (Can. III.21 c). Sowohl der Order of Clergy als auch der Order of Laity können nach dem zweiten Wahlgang verlangen, dass der Order of Bishops (einen oder mehrere) neue Kandidaten nominiert (Can. III.22). Wenn nach der Reduzierung der Kandidaten auf zwei in drei Wahlgängen die erforderliche Mehrheit nicht erreicht und auch keine zusätzliche Nominierung gefordert wird, wählt das House of Bishops aus den letzten zwei Kandidaten den Primas (Can. III.24). In Westindien wird der Primas von der Provinzialsynode als Wahlversammlung aus zwei von dem vorsitzenden Bischof nach Beratung mit den anderen Bischöfen vorgeschlagenen Diözesanbischöfen der Provinz gewählt (Can. 5). Die Wahlversammlung stimmt über die Nominationen – nach getrennter Beratung von Klerus und Laien – „as a body by secret ballot“, und es genügt „a simple majority“. Die Formulierung scheint darauf hinzudeuten, dass dabei nicht getrennt nach Orders abgestimmt wird. In Australien wird der Primas von einem Wahlausschuss gewählt, dem alle Mitglieder des House of Bishops sowie je zwölf Kleriker und Laien angehören (Primate Canon Sec. 4). In Wales wird der Erzbischof aus der Zahl der Diözesanbischöfe durch ein Wahlkollegium gewählt, dem die Bischöfe sowie die ersten drei geistlichen und die ersten drei weltlichen Bischofswähler auf der Bischofswählerliste angehören, die jede Diözesankonferenz nach ihrer Wahl aufstellen muss (Const. Ch. V Part II 4 (1) und 5).69 4. Amtsdauer Soweit der Primat an einen bestimmten Bischofssitz geknüpft ist (England und Irland), richtet die Amtsdauer des Primas nach den Bestimmungen für den Bischofssitz; das bedeutet, dass der Primas sein Amt auf Lebenszeit erhält, ab69
Cf. Norman Doe, The Law of the Church in Wales, Cardiff 2002, 130.
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gesehen natürlich von der Möglichkeit, aus Alters- oder Gesundheitsgründen zurückzutreten. So kann in Irland der Primas – wie jeder Bischof – bei Erreichen des Alters von 65 Jahren zurücktreten (Const. Ch. VI.25(1)); eine Altersgrenze, bei deren Erreichen er zurücktreten muss, gibt es allerdings nicht; jedoch kann das House of Bishops wie bei jedem anderen Bischof, wenn es den Primas für dauernd amtsunfähig hält, einen dahingehenden Ausspruch des Court of the General Synod herbeiführen, der dieselben Wirkungen wie ein Rücktritt hat. (Const. VI.31) Wird der Primas ohne Rücksicht auf einen bestimmten Bischofssitz gewählt, dann kann die Amtsdauer auf eine bestimmte Zahl von Jahren begrenzt sein; zusätzlich stellt sich die Frage der Möglichkeit einer Wiederwahl. Keine feste Amtsdauer ist bestimmt in Verfassung und Canons der Provinz Westindien. Das bedeutet, dass der Primas für die Dauer seines Bischofsamtes gewählt wird und mit diesem auch auf die Stellung als Primas verzichten kann. Das gleiche gilt für den Primus der Schottischen Episkopalkirche, für den nur bestimmt ist, dass er durch schriftliche Erklärung gegenüber dem dienstältesten Bischof auf sein Amt verzichten kann und dass das Primusamt automatisch vakant wird, wenn der Primus aufhört ein Diözesanbischof der Schottischen Episkopalkirche zu sein (Can. 3.6). Auch in Wales wird der Erzbischof grundsätzlich für die Dauer seines Diözesanbischofsamtes gewählt; er kann aber auf sein erzbischöfliches Amt verzichten und Diözesanbischof bleiben.70 In Kanada wird der Primas grundsätzlich für die Zeit bis zur Erreichung des Alters von 70 Jahren gewählt (Can. III.4 c) i)); Er kann aber jederzeit durch Erklärung gegenüber dem dienstältesten Provinzialerzbischof zurücktreten (Can. III.9); desgleichen kann das Primasamt für vakant erklärt werden (Can. III.4 c) iii), wenn die Amtsunfähigkeit des Primas in einem vorgeschriebenen Verfahren festgestellt wird (Can. III.10). In Nigeria wird der Primas auf zehn Jahre gewählt; seine Amtszeit endet aber schon früher, wenn er schon vor Ablauf dieser Zeit das Alter von 70 Jahren erreicht (Const. 30 (2)). Ausdrücklich ist freilich vorgesehen, dass der Primas vor Ablauf seiner Amtszeit durch Beschluss der Bischofssynode oder der Generalsynode, der jeweils mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden muss, von seinem Amt abberufen werden kann (Can. II.5 (1) Satz 2). In der amerikanischen Episkopalkirche wird der Presiding Bishop auf neun Jahre gewählt71; eine Wiederwahl ist nicht ausgeschlossen. In Australien wird 70
Doe, Church in Wales (Anm. 69), 127. Die Amtsdauer ist im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach geändert, verkürzt oder verlängert worden; cf. Annotated Constitution and Canons (Anm. 59), 199–201, 207. 71
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der Primas auf sechs Jahre gewählt, bei Wiederwahl auf drei Jahre (Primate Canon 1985 Sec. 8A). In Neuseeland wird die Amtsdauer von der Generalsynode bestimmt; in Ermangelung einer solchen Bestimmung endet sie mit der Beendigung der dritten ordentlichen Sitzungsperiode der Generalsynode nach der Sitzungsperiode, bei der die Wahl stattgefunden hat (Title A Can. I § 7.2.4). 5. Kompetenzen Die Zuständigkeiten des Primas lassen sich unter vier Überschriften gruppieren: a) Oberhirtliche Kompetenzen Wie der Erzbischof von Canterbury hat der Primas von Irland das Recht, dass bei Prozessionen überall in Irland sein Kreuz vor ihm getragen wird. (Can. 41(3)) In Kanada hat der Primas die Kirchenprovinz in der Erkenntnis und Ausführung der Sendung Gottes zu leiten, pastorale und geistliche Leitung in der ganzen Kirchenprovinz auszuüben und regelmäßig jede Diözese zu besuchen („visit“), ferner einen pastoralen Dienst insbesondere an den Bischöfen zu versehen (Can. III.5 a) i–iii)). Es wird von ihm erwartet („expected“), dass er als Senior Metropolitan in der ganzen Kirche von Kanada den apostolischen Dienst eines Bischofs ausübt, in erster Linie durch Lehre und Predigt (Can. III.6) und auf Einladung des Diözesanbischofs durch die Leitung von Gottesdiensten der Taufe, der Eucharistie, der Konfirmation und der Ordination während pastoraler Besuche; er ist Hauptkonsekrator des Militärbischofs und des National Indigenous Anglican Bishop (Can. III.6 c)) und soll an der Konsekration neugewählter Bischöfe sowie an der Installation von Metropoliten sichtbar beteiligt sein („a visible role“, Can. III.6 b) und d)), die Installation aber nur auf besondere Einladung leiten, schließlich alle liturgischen Feiern der Generalsynode und ihres Rates sowie „all national church events“ leiten, wenn er die Leitung nicht delegiert (Can. III.6 e)). Es fällt auf, dass Can. III.6 die Überschrift „Sacramental Ministry of the Primate“ trägt, obwohl nicht alle geregelten Funktionen im strengen Sinne den Charakter der Sakramentsverwaltung haben. In der amerikanischen Episkopalkirche hat der Presiding Bishop als „Chief Pastor72 and Primate“ das Recht, Hirtenbriefe zu versenden (Can. I.2 sec. 4(b). und weiterhin die Aufgabe 72
Dieser Titel mag den Leser an Lumen Gentium 25 erinnern, wo der Papst supremus omnium christifidelium pastor – supreme shepherd … of the faithful genannt wird.
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– der Kirche und der Welt als Repräsentant der Kirchenprovinz und ihres Epi-
–
– –
–
skopats in seiner Gesamtheit Gottes Wort zu verkündigen (Can. I.2 sec. 4(a) (2)); im Fall der Sedisvakanz in einer Diözese mit der Diözesanleitung zu beraten, um eine angemessene bischöfliche Versorgung für die Zeit der Vakanz sicherzustellen (Can. I.2 sec. 4(a)(3)); die ordnungsgemäße Wahl der Bischöfe festzustellen und die Konsekration ordnungsgemäß gewählter Bischöfe anzuordnen (Can. I.2 sec. 4(a)(4)); alle Bischöfe der Kirchenprovinz entweder als House of Bishops oder als einen bischöflichen Rat zu versammeln sowie Zeit und Ort der Versammlung zu bestimmen (Can. I.2 sec. 4(a)(4)); Visitationen jeder Diözese der Kirchenprovinz durchzuführen (Can. I.2 sec. 4(a)(6)).
In Nigeria hat der Primas Visitationen der Diözesen entweder auf Einladung des Diözesanbischofs oder aus eigener Initiative durchzuführen (Const. 31 (d)); die Wahl der Bischöfe zu bestätigen und für ihre Weihe Sorge zu tragen, wenn sie noch nicht zum Bischof geweiht sind (Const. 31 (b)) In Schottland leitet der Primus, wenn er anwesend ist, die Weihe der Bischöfe (Can. 2). In Australien ernennt der Primas mit Zustimmung der Mehrheit der Metropolitanbischöfe den Militärbischof (Defence Force Ministry Canon 1985 Sec. 2A (1)). b) Repräsentation der Gesamtheit und Vertretung nach außen Selten wird dem Primas ausdrücklich eine besondere Verantwortung für die Beziehungen der Provinz zur Anglikanischen Gemeinschaft als ganzer auferlegt. So wird in der Verfassung der Provinz Westindien der Erzbischof als „focus of Provincial unity“ und als Bindeglied zwischen der Provinz und dem Rest (sic!) der Anglikanischen Gemeinschaft bezeichnet (Const. Art. 2.2). Auch in Nigeria besitzt der Primas die Aufgabe, to represent the Church of Nigeria in its relationship with the rest of the Anglican Communion and other Churches in communion with it and on its behalf to correspond with other Metropolitans; (Const. 31 (e)).
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In Westindien umfasst die Metropolitangewalt ausdrücklich (Const. Art. 2.3 (d)) „the abrogation of any resolution or enactment of a Diocese which is ultra vires its own Constitution and Canons or Regulations or conflicts with the Constitution and Canons of the Province or is at variance with the Faith, Doctrine, and Worship of the Anglican Communion.“
Der Primas kann also Beschlüsse und Gesetzgebungsakte einzelner Diözesen für nichtig erklären, wenn sie nach seiner Auffassung gegen übergeordnetes Recht verstoßen oder mit Glauben, Lehre oder liturgischen Grundsätzen der Anglikanischen Gemeinschaft in Widerspruch stehen. „Faith, Doctrine, and Worship of the Anglican Communion“ werden dadurch als übergeordnete und die Diözesanorgane bindende Normen anerkannt. Freilich hat der Primas gegenüber Beschlüssen von Provinzialorganen keine vergleichbare Befugnis. Insoweit obliegt es ihm zwar (Const. Art. 2.3 (a)), „(to ensure) that both the Provincial Constitution and Canonical development are in accordance with general Anglican tradition and practice, and that the provisions of the Provincial Constitution and Canons are adhered to.“
Von einer Nichtigerklärung zuwiderlaufender Beschlüsse ist indes nicht die Rede. Man könnte freilich daran denken, dass der Primas in seiner Eigenschaft als Präsident der Synode (Can. 1.5) Anträge von der Behandlung und insbesondere von der Abstimmung ausschließen kann, die seiner Ansicht nach nicht „in accordance with general Anglican tradition and practice“ stehen. Die Kompetenzen des Primus der SEC umfassen nach geltendem Recht die Vertretung der Kirchenprovinz gegenüber allen anderen Provinzen der Anglikanischen Gemeinschaft und ihrem jeweiligen Primas sowie dem Generalsekretär des Anglican Consultative Council.
In Kanada repräsentiert der Primas die Kirchenprovinz „international und ökumenisch“ (Can. III.5 a) ix)). c) Synodale Befugnisse Durchgängig gehört der Primas der Provinzialsynode nicht nur an, sondern führt in ihr auch den Vorsitz (z. B. Kanada Can. III.5 a) iv); USA Can. I.2 sec. 4(a)(5); Irland Const. Chap. I.15; Nigeria Const. 13 (1); ); in diesem Punkt besteht ein wesentlicher Unterschied zu den protestantischen Kirchen, in denen der Bischof der Synode in der Regel nicht angehört, sondern ihr gegenübersteht. in USA ist dem Presiding Bishop ausdrücklich das Recht zuerkannt, „eine solche gemeinsame Sitzung einzuberufen, jedem Haus Gesetzgebungsvorschlä-
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ge zu unterbreiten und nach ordentlicher Ankündigung vor dem House of Deputies zu erscheinen und zu sprechen; beide Häuser sind „gehalten, seine Empfehlungen zu erwägen und zu handeln (Can. I.2 sec. 4(a)(5)) – freilich nicht „dementsprechend“ zu handeln73. Der Primas von Irland hat nach der irischen Kirchenverfassung das Recht und auf schriftliches Verlangen eines Drittels eines der drei Stände (Bischöfe, Kleriker, Laien) der Generalsynode die Pflicht, diese einzuberufen, und sitzt ihren Verhandlungen vor (Const. Ch. I.15). Wenn das House of Bishops oder die Episcopal Synod für sich tagt, führt der Primas auch hier den Vorsitz; so z. B. in Irland (Const. Chap. I.15), in Australien (Const. 20 Abs. 1) und in Nigeria (Const. Ch. II.13 (1)). In Schottland führt der Primus den Vorsitz in der Generalsynode, der Bischofssynode und dem Bischofskollegium mit, soweit nicht im Einzelfall ausdrücklich anders bestimmt, einer normalen und bei Stimmengleichheit der ausschlaggebenden Stimme (Can. 3 (3)). In Australien ernennt der Primas außerdem auf Empfehlung nichtdiözesane Mitglieder der Generalsynode (Aborigines und Torres Strait Insulaner) (Const. 17 (8)(b)). d) Verwaltungsaufgaben In Kanada wird der Primas ausdrücklich als Chief Executive Officer of the General Synod bezeichnet (Can. III.5 a) v). Er hat der Generalsynode und ihrem Rat bei jeder Sitzung Bericht zu erstatten (Can. III.5 a) vii)). In Schottland obliegt dem Primus grundsätzlich die Verkündung und Ausführung der Beschlüsse der Generalsynode, der Bischofssynode und des Bischofskollegiums (Can. 3 (3)). In Nigeria gehört der Primas kraft Amtes allen „Committees, Boards, Commissions and Councils appointed under any provision of this Constitution or of any Canon“ als Mitglied an (Const. 28). In Australien ist der Primas – soweit die Generalsynode nicht etwas anderes bestimmt – ermächtigt, in extraprovinzialen Diözesen 74 alle Lizenzen, Fakultä73
Dieser Pflicht dürfte auch Genüge getan sein, wenn beschlossen wird, nicht zu handeln; ein Beschluss muss aber in jedem Fall gefasst werden. 74
In den internen Provinzen steht diese Befugnis den Metropolitanbischöfen zu und damit auch dem Primas in seiner eigenen internen Provinz.
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ten zu gewähren, die der Erzbischof von Canterbury in der Kirche von England am 31. Dezember 1961 gewähren konnte (Canon Concerning Authority in Certain Matters 1989 Sec. 3). Er ernennt auf Vorschlag des Standing Committee der Generalsynode die Mitglieder zu einem bestimmten Zweck eingerichteter Task Forces sowie bestimmter Kommissionen wie der Lehr-, der Liturgie- oder der Kirchenrechtskommission (Strategic Issues, Commissions, Task Forces and Networks Canon 1998 Sec. 7, 14). Er kann aus gegebenem Anlass eine Person zur Überprüfung der finanziellen Verwaltung einer Organisation bestellen, auf die der Financial Protection Canon 1995 Anwendung findet (Financial Protection Canon 1995 Sec. 5). Weiter obliegt ihm dort die Deposition eines Bischofs entsprechend der Empfehlung des Special Tribunal für die Entscheidung über Anklagen gegen Bischöfe (Special Tribunal Canon 2007 Sec. 54 (1)). In den USA trägt der Presiding Bishop als „Chief Pastor and Primate“ Leitungsverantwortung, kraft deren er die Politik und Strategie der Kirchenprovinz initiiert und entwickelt und für die Kirchenprovinz spricht im Rahmen der Politiken, Strategien und Programme, die die Generalkonvention beschlossen hat (Can. I.2 sec. 4(a)(1)). Er ist verpflichtet, der Kirche jährlich zu berichten (Can. I.2 sec. 4 (b)). Um seine Pflichten besser erfüllen zu können, kann er auf vom Exekutivrat der Episkopalkirche eingerichtete Stellen Personen ernennen, die ihm verantwortlich sind (Can. I.2 sec. 4 (c)). Insbesondere kann er einen „Chancellor to the Presiding Bishop“ ernennen, der des kirchlichen und weltlichen Rechts kundig sein muss und sein Amt als Berater ad nutum des Presiding Bishop ausübt (Can. I.2 sec. 5). In Australien hat der Primas die Befugnis, einen Metropolitanbischof oder den Bischof einer extraprovinzialen Diözese wegen Amtsunfähigkeit zu suspendieren (Bishop (Incapacity) Canon 1995 Sec. 8 (1), 2 (b)). e) Richterliche Aufgaben In Nigeria führt der Primas, wenn die einschlägigen Vorschriften das vorsehen, den Vorsitz im Berufungsverfahren in Verfahren gegen Bischöfe, Kleriker und Laien und in anderen Angelegenheiten, in denen das House of Bishops als Gericht fungiert (Const. 31 (c)). f) Allgemeines In Schottland ist ausdrücklich bestimmt, dass der Primus seine Aufgaben nur mit Zustimmung aller anderen Diözesanbischöfe delegieren kann (Can. 3 (5)).
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III. Der Primat als „focus“ und „instrument of communion“ der Anglikanischen Kirchengemeinschaft Die Anglikanische Kirchengemeinschaft ist nach der Definition der Lambethkonferenz von 1930 „a fellowship, within the One Holy Catholic and Apostolic Church, of those duly constituted Dioceses, Provinces or Regional Churches in communion with the See of Canterbury, which have the following characteristics in common: ... (c) they are bound together not by a central legislative and executive authority, but by mutual loyalty sustained by the common counsel of the Bishops in conference.“ 75
1. Erzbischof von Canterbury Aus der Definition von 1930 ergibt sich schon die Bedeutung des Erzbischofs von Canterbury für die Anglikanische Kirchengemeinschaft, zugleich aber auch deren Grenze. Von den vier „instruments of unity“ oder „instruments of communion“ (Erzbischof von Canterbury, Lambethkonferenz aller anglikanischen Bischöfe der Welt, Anglican Consultative Council – in dem die Provinzen durch Bischöfe, andere Kleriker und Laien vertreten sind, Primates’ Meeting – Konferenz der Inhaber des primatialen Amtes in allen Provinzen) ist der Erzbischof von Canterbury das älteste und wahrscheinlich noch immer wichtigste. Andererseits lässt die Verneinung einer „central legislative and executive authority“ und das Bauen auf „mutual loyalty sustained by common counsel“ schon die Grenzen seiner Stellung erkennen. „Alterius Orbis Papa“ überschreibt Lockhart unter Bezugnahme auf den erwähnten Brief Papst Urbans II. an Anselm von Canterbury76 ein Kapitel seiner Biografie des Erzbischofs Cosmo Gordon Lang (1864–1945: Erzbischof von Canterbury 1928–1942) – Papst des anderen Erdkreises. 77 Dieser alter orbis konnte natürlich nur die Gebiete umfassen, die der Metropolitangewalt des Erzbischofs von Canterbury unterstanden und lässt sich schon gar nicht auf die heutige Anglikanische Kirchengemeinschaft beziehen. Die Stellung des Erzbischofs von Canterbury in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft ist für Juristen nicht ganz einfach zu beurteilen, weil es nach herrschender Auffassung unter den anglikanischen Kanonisten kein allgemeines 75
Vgl. Hanns Engelhardt, Art. Anglikanische Gemeinschaft (Kirche), in: LKStKR I (2000), 105; dort auch die weiteren Charakteristika, die hier keine Rolle spielen. 76
Vide supra p. 331.
77
Lockhart, Lang (Anm. 48), 372, 314.
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anglikanisches Kirchenrecht gibt, das unabhängig von dem provinzialen Recht gilt.78 Trotzdem bestehen auch auf der Ebene der Anglikanischen Kirchengemeinschaft bestimmte Regeln, aus denen sich Befugnisse des Erzbischofs von Canterbury ergeben. Ob es sich dabei um „Rechts“sätze handelt, ist umstritten und wird wohl überwiegend verneint. Diese Problematik kann hier nicht in extenso erörtert werden; um sie nicht zu präjudizieren wird im Folgenden terminologisch dem provinzialen Recht nicht – wie es folgerichtig wäre – ein Gemeinschafts„recht“ gegenübergestellt, sondern nur von gemeinschaftlichen Regelungen gesprochen. a) Gemeinschaftliche Regelungen In dem Bericht des Komitees der Lambethkonferenz von 1908 über die Organisation der Anglikanischen Kirchengemeinschaft findet sich folgender Absatz: … your Committee records their conviction that no supremacy of the See of Canterbury over Primatial or Metropolitan Sees outside England is either practicable or desirable. … The Committee further bear witness to the universal recognition in the Anglican Communion of the ancient precedence of the See of Canterbury. 79
Die Lambethkonferenz von 1968 hat die Rolle des Erzbischofs von Canterbury wie folgt beschrieben:
78
Cf. Norman Doe, Canon Law in the Anglican Communion, Oxford 1998, 339; John Hind, Papal Primacy: An Anglican Perspective, in: EccLJ 7 (2003), 112–126, hier 123; John Rees, Primates Meeting, October 2003: Some Legal Considerations, www. anglicancommuion.org/commission/process/lc_commission/docs/200310johnrees.pdf – abgerufen 12. 7. 2013, 2.1. Diese Auffassung, die im englischen Rechtsdenken beheimatet ist, kann ich hier keiner grundsätzlichen Überprüfung unterziehen. Die entscheidende Frage scheint zu sein, ob man von Rechtssätzen wirklich nur sprechen kann, wenn es sich um Sätze handelt, die von einem Gericht angewendet werden (So Doe, Framework [Anm. 27], 22). Wenn man davon ausgeht, ist es in der Tat schwierig zu erkennen, wann Normen, die das Zusammenleben der anglikanischen Kirchenprovinzen regeln – und dazu gehören auch die Normen, die die Handlungsmöglichkeiten des Erzbischofs von Canterbury in diesem Bereich bestimmen – von einem Gericht angewendet werden könnten. Richard Hooker, der zuerst grundsätzlich über anglikanische Kirchenordnung nachgedacht hat, verwendet jedenfalls einen weiteren Begriff von „law“, der allerdings andererseits Normen einschließt, die kaum jemand als Rechtsnormen ansehen würde, wie etwa „the law whereby the Eternal himself doth work“ (Of the Laws of Ecclesiastical Polity, Buch I, I.3) oder das Gesetz, das Gott für die Engel gegeben hat (op. cit. Buch I, IV.1). 79 Randall Davidson (ed.), The Five Lambeth Conferences, London 1920, 418 seq.
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Within the college of bishops it is evident that there must be a president. In the Anglican Communion this position is at present held by the occupant of the historic See of Canterbury, who enjoys a primacy of honour, not of jurisdiction. This primacy is found to involve, in a particular way, that care of all the churches which is shared by all the bishops.
Mit der Zukunft der Stellung des Erzbischofs von Canterbury befasst sich der sog. Virginia Report der Inter-Anglican Theological and Doctrinal Commission von 1996. Gegenstand dieses Reports, der in den Jahren 1988 bis 1996 vorbereitet und ausgearbeitet wurde, war die Untersuchung der Bedeutung und der Natur von communio mit besonderer Berücksichtigung der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, der Einheit und der Ordnung der Kirche sowie der Einheit und der Zusammengehörigkeit der Menschheit. Er geht aus von einem Verständnis der Kirche als „Bild (icon) der Zukunft, in Richtung auf die Gott die Weltgeschichte lenkt. Eine treue Kirche stellt durch ihr Leben dar, dass sie die lebende Verheißung von Gottes Zweck in der Mitte der heutigen Geschichte ist.“ (2.14)80 Das dritte Kapitel des Reports befasst sich mit der Frage, was Zusammengehörigkeit in der Anglikanischen Gemeinschaft bedeutet. Das Leben in Zusammengehörigkeit wird unterstützt durch ein Netz von Strukturen („structures of interdependence“), die einesteils in der Kontinuität der westlichen katholischen Kirche stehen und sich anderenteils der Reformation des 16. Jahrhunderts verdanken. Die Interdependenz der unabhängigen Kirchenprovinzen wird erhalten durch bestimmte Ämter und Strukturen, deren erstes der Erzbischof von Canterbury ist. (3.29)81 Er ist (6.2)82 neither a supreme legislator nor a personification of central administrative power, but as a pastor in the service of unity, offers a ministry of service, care and support to the Communion. … The pastoral service of unity is exercised by invitation. For ex ample, at the request of Provincial leaders, the Archbishop has exercised a pastoral role and mediation in the Sudan and Rwanda.
Hiervon ausgehend stellt der Report die Frage, ob die bestehenden Bande der Interdependenz stark genug sind, um die Kirchengemeinschaft in einer Zeit von Spannungen und Konflikten zusammenzuhalten, während Antworten für scheinbar unlösbare Probleme gesucht werden. Ausdrücklich stellt der Report die Frage, ob etwa die Notwendigkeit für einen universalen Primat bestehe, der 80 Abgedruckt in: Being Anglican in the Third Millennium. The Official Report of the 10th Meeting of the Anglican Consultative Council Panama 1996, Harrisburg 1997, 223 seqq. (238); und in: Official Report of the Lambeth Conference 1998, 15 seqq. (27). (Die Nummerierung findet sich nur in dem erstgenannten Abdruck.) 81
In: Lambeth 1998 (Anm. 80), 36.
82
In: Lambeth 1998 (Anm. 80), 56.
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kollegial auszuüben sei und die Rolle der Laien bei den Entscheidungen der Kirche respektieren müsse. Daneben sieht die Kommission allerdings also a certain administrative primacy. Historically this has found its unique expression when the Archbishop of Canterbury calls and presides at the Lambeth Conference, where the relationship of the Archbishop of Canterbury to the Communion … is most clearly seen. It is also visible in the chairmanship of the regular meetings of the Primates, and also exercised within in the life of the Anglican Consultative Council where the Archbishop of Canterbury acts as its president and as an active participant in its meetings.83
Die Einladung bzw. ihre Ablehnung betrifft den einzelnen Bischof, bisher jedenfalls noch nie eine ganze Kirchenprovinz. Nach allgemeiner Auffassung ist allein der Erzbischof von Canterbury zuständig für die Entscheidung, wer zur Lambethkonferenz 84 eingeladen wird, an ihr als Mitglied teilnehmen darf. Es ist ihm vorbehalten, die einzelnen Bischöfe dazu einzuladen oder nicht einzuladen. Nur seine Einladung begründet das Recht zur Teilnahme. Dem steht nicht entgegen, dass nach Sec. 6 (2) der englischen Overseas and Other Clergy (Ministry and Ordination) Measure von 1967 der Erzbischof von Canterbury nur gemeinsam mit dem Erzbischof von York darüber entscheiden kann, ob eine Kirche mit der Kirche von England in Kirchengemeinschaft steht. Diese Regelung ist ausdrücklich auf „the purposes of this measure“ beschränkt. Dabei handelt es sich aber um etwas ganz anderes, nämlich darum, ob ein auswärtiger Geistlicher in der Kirche von England Handlungen vornehmen darf, die die gültige Priesterweihe voraussetzen. Auch diese Entscheidung könnte durch das englische Kirchenrecht dem Erzbischof von Canterbury als dem „Primate of All England“ allein übertragen werden; dass dies nicht der Fall ist, hat jedoch für die nach den gemeinschaftlichen Regelungen zu beantwortende Frage, wer zur Lambethkonferenz einlädt, nichts zu tun. Auf Wunsch des damaligen Erzbischofs von Canterbury hat der Anglican Consultative Council 1996 Richtlinien beschlossen, die den Erzbischof bei der Entscheidungsfindung unterstützen sollen, wenn es um die Anerkennung des
83 84
Lambeth 1998 (Anm. 80), p. 56.
Zu ihr vgl. Hanns Engelhardt, Die Anglikanische Gemeinschaft und ihre kirchenrechtlichen Strukturen, in: ZRG Kan.Abt. 85 (1999), 433–447, hier 438–440; ders., Art. Anglikanische Gemeinschaft (Kirche), in: LKStKR I, 105.
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Communion-Status von Kirchen und Provinzen geht, die in die Anglikanische Gemeinschaft aufgenommen werden wollen.85 Diese Richtlinien sind für den Erzbischof allerdings in keiner Weise bindend; sie führen nur zu einer (für ihn unverbindlichen) Meinungsbildung im Anglican Consultative Council. Er kann eine neue Provinz schon als Vollmitglied behandeln, bevor die Inhaber der provinzialen Primasämter ihre Zustimmung dazu gegeben haben, sie in die Liste der Mitgliedskirchen aufzunehmen, die Bestandteil der Verfassung des ACC ist. Dies ist im Fall der Provinz Hong Kong im Jahr 1998 auch geschehen.86 Der Virginia-Report wurde der Lambethkonferenz von 1998 vorgelegt und von ihr den Provinzen zum eingehenden Studium empfohlen. 87 Die Mitwirkung des Erzbischofs von Canterbury in der Provinz Rwanda in der Mitte der neunziger Jahre und in der Provinz Sudan während der letzten Dekade des Bürgerkrieges wurde auch von der Lambethkonferenz von 1998 als „ministry of support“ gewertet, nicht als die Ausübung rechtlicher Autorität. 88 Sie fasste dazu folgenden Beschluss (IV.13):89 The Conference a) notes with gratitude the ministry of support which the Archbishop of Canterbury has been able to give in Sudan and Rwanda, and recognises that he is called upon to render assistance from time to time in a variety of situations; b) in view of the very grave difficulties encountered in the internal affairs of some Provinces of the Communion, invites the Archbishop of Canterbury to appoint a Commission to make recommendations to the Primates and the Anglican Consultative Council as to the exceptional circumstances and conditions under which, and the means by which, it would be appropriate for him to exercise an extra-ordinary ministry of episcopé (pastoral oversight), support and reconciliation with regard to the internal affairs of a Province other than his own for the sake of maintaining communion within the said Province and between the said Province and the rest of the Angli can Communion.
Gerade diese Fälle können aber insofern nachdenklich machen, als in der Frühzeit der überregionalen Wirksamkeit der Päpste auch ihre Tätigkeit als „support“ (Unterstützung der örtlichen Kircheninstanzen) gewertet werden 85
Cf. Being Anglican in the Third Millennium (Anm. 80), 182 seqq.
86
Rees, Primates’ Meeting (Anm. 78), 4.17.
87
Cf. Resolution III.8, Lambeth 1998 (Anm. 80), 398.
88
Rees, Primates’ Meeting (Anm. 78), 4.3
89
In: Lambeth 1998 (Anm. 80), 410.
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konnte, zumal sie zu einem wesentlichen Teil in Antworten auf Anfragen von Bischöfen bestand. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich daraus die päpstliche Universaljurisdiktion entwickelt. Ian Douglas hat kürzlich90 die Stellung des Erzbischofs von Canterbury in der Anglikanishen Kirchengemeinschaft so beschrieben: The Archbishop of Canterbury does not have canonical authority or the power to tell any one church of the 38 churches in the Anglican Communion what to do. The power that he does have is the power of invitation and recognition. Whether it’s the bishops coming together at the Lambeth Conference every ten years or the primates’ meeting that happens annually, it’s up to the Archbishop of Canterbury, who presides over these meetings, who’s the president, to extend the invitation. Who’s in or out of the Anglican Communion depends on who the Archbishop of Canterbury wants to recognize as being in communion with him. In other words, if you don’t get invited to the party, you’re not an Anglican.
Douglas bringt dies in dem Bild von der Familie zur Darstellung: The Anglican Communion is a family of churches and, like any family, there is a pa rent who sits at the head of the table. For us Anglicans, that parent, that titular body – the Archbishop of Canterbury – sits at the head of the table and has the power of recognition and invitation to the family members to come together around the table. So, as a family, our communion, which is a gift from God, which is our relationship one to another as brothers and sisters in Christ, is convened, is hosted if you will, by the See of Canterbury, the Archbishop of Canterbury, from which we all have some historic connection and relationship.
Für manche mag dies freilich als ein reichlich konservatives Familienbild erscheinen. Im Übrigen wird diese Auffassung – wie so vieles – in der Anglikanischen Gemeinschaft nicht unbestritten hingehen. Dementsprechend weist Douglas mit Recht darauf hin, dass der Primat des Erzbischofs von Canterbury mehr ist als ein bloßer Ehrenprimat: It’s really much deeper than a symbolic head. We do believe that communion, our fel lowship one to another, is a gift by God. It is the way that we have developed as this family of churches. As part of that gift, the Archbishop of Canterbury hosts [and] helps to frame our coming together as the body of Christ.
Die Einstellung in der Anglikanischen Gemeinschaft zur Bedeutung des Erzbischofs von Canterbury ist schließlich keineswegs einheitlich. In dem oben zitierten Text der Lambethkonferenz von 1968 fällt dem Juristen der Gebrauch der Worte „at present“ auf. Er scheint einen deutlichen Vorbehalt zugunsten ei90
Cf. supra Anm. 54.
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ner zukünftigen abweichenden Regelung machen zu wollen. Eine solche abweichende Regelung wäre auch ohne einen ausdrücklichen Vorbehalt möglich; denn – wie schon erwähnt – gibt es ja in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft – abweichend von der Rechtslage in der orthodoxen Kirchenfamilie – kein gemeines Recht, das nicht zur Disposition der Mitgliedskirchen stünde. Heute jedenfalls bietet dieser fast ein halbes Jahrhundert alte Text einen Fingerzeig für Kirchenprovinzen, die mit der Amtsführung des Erzbischofs von Canterbury nicht zufrieden sind. Dies ist angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen in der Gemeinschaft keine realitätsferne Spekulation. In der Kirche von Nigeria trägt Art. 3 der Provinzialverfassung zwar noch die Überschrift „See of Canterbury“; aus seinem Text ist jedoch jeder Hinweis auf den Erzbischof von Canterbury als Fokus anglikanischer Einheit getilgt worden, so dass er jetzt bestimmt, die Kirche von Nigeria shall be in full communion with all Anglican Churches Dioceses and Provinces that hold and maintain the Historic Faith, Doctrine, Sacrament and Discipline of the one Holy, Catholic, and Apostolic Church as the Lord has commanded in His holy word and as the same are received as taught in the Book of Common Prayer and the ordinal of 1662 and in the Thirty-Nine Articles of Religion.
Dieser Text lässt die Absicht der Abgrenzung von den nach Meinung seiner Verfasser mindestens häresieverdächtigen „westlichen“ Kirchenprovinzen, zu denen nach nigerianischer Auffassung offenbar nicht nur die Provinzen von Kanada und USA gehören, sondern auch die Kirche von England, deutlich erkennen. Was Verfassungsänderungen dieser Art für die Natur der Anglikanischen Gemeinschaft und die Zugehörigkeit der betreffenden Kirchenprovinzen zu ihr bedeuten, bedarf noch eingehenderer Untersuchung. Die Kirche von Nigeria steht mit ihrer kritischen Haltung auch nicht allein da. Auf eine Umfrage der Inter-Anglican Theological and Doctrinal Commission im Jahr 2002 zum Verständnis der Anglikanischen Gemeinschaft antwortete z. B. die Diözese Glasgow der Episcopal Church of Scotland sogar, anglikanisch zu sein „has nothing whatever to do with the See of Canterbury.“ 91 Diese Auffassung wird wahrscheinlich, wenn überhaupt, nur von wenigen Kirchenprovinzen oder Diözesen geteilt werden. Ob sich das in absehbarer Zeit ändern wird, bleibt abzuwarten.92 Sie mag im Fall Glasgow auch damit zusammenhängen, dass die Schottische Episkopalkirche die wohl einzige anglikanische Kir-
91 Inter-Anglican Theological and Doctrinal Commission, The Communion Study 2002, p. 14. 92 Cf. den vorstehenden Hinweis auf Nigeria.
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chenprovinz ist, die nicht – unmittelbar oder mittelbar – aus der Kirche von England hervorgegangen ist.93 Trotzdem ist es der Erinnerung wert, was der Bischof von Albany in seiner Schlussansprache bei der Lambeth-Konferenz von 1908 ausgesprochen hat, als er von sich sagte, er sei one who feels that he expresses simply in his old age a feeling of infinite confidence in you in the position that you occupy officially as primus inter pares – personally, I believe, in the admiration and affection of all your brethren as supremus inter pares, – …94
b) Provinziales Recht Wird im Rahmen der gemeinschaftlichen Regelungen dem Erzbischof von Canterbury ein Primat zugeschrieben, aus dem sich keine Jurisdiktionsbefugnisse ergeben, so können ihm solche Befugnisse indes durch das Recht einzelner Kirchenprovinzen (außerhalb Englands) eingeräumt werden. 95 Hier fällt besonders die Provinz Westindien auf, in der jeder gewählte Bischof vor seiner Konsekration neben der Unterwerfung unter das Recht der Kirchenprovinz und dem Gehorsamseid gegenüber dem Erzbischof der Provinz folgendes Versprechen abgeben muss: „I, A. B. do solemnly declare that I will pay all due honour and deference to the Archbishop of Canterbury, and will respect and maintain the spiritual rights and privileges of all Churches in the Anglican Communion.“ (Can. 8 Sec. 10)
Die Vorschrift bezieht sich ausdrücklich auf Resolution 9 der Lambethkonferenz von 1897. Dort wird die Abgabe einer solchen Erklärung allerdings nur für den Fall empfohlen, dass ein gewählter Bischof für einen Sitz, der nicht unter der Metropolitanjurisdiktion des Stuhls von Canterbury steht, in England auf königliches Mandat hin geweiht werden soll. 96 Die westindische Regelung geht darüber hinaus, was nicht ausschließt, dass sie als ein begrüßenswertes Zeichen
93
Die (anglikanische) Kirche von Irland, an die man in diesem Zusammenhang auch denken könnte, war immerhin von 1800 bis 1865 mit der Kirche von England in der „United Church of England and Ireland“ verbunden; bezüglich der schottischen Kirche hat es eine solche Verbindung aus historischen Gründen nie gegeben. 94
Cf. G. K. A. Bell, Randall Davidson. Archbishop of Canterbury, Oxford / London 1935, Vol. I, 572. 95 96
Rees, (Anm. 78), 4.2. Cf. Davidson, Lambeth Conferences (Anm. 79), p. 200.
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der Loyalität zur Anglikanischen Gemeinschaft angesehen werden kann. Sie ist freilich bisher vereinzelt geblieben. In der Provinz Zentralafrika devolviert das Recht zur Ernennung des Erzbischofs auf den Erzbischof von Canterbury, wenn das Wahlkollegium keine Wahl zustande bringt (Can. 3).97 Die Verfassung der Episkopalkirche von Jerusalem und des Mittleren Ostens sieht vor, dass die Metropolitanjurisdiktion unter bestimmten Umständen auf den Erzbischof von Canterbury übergehen kann.98 Außergewöhnlich war die Einbeziehung des Erzbischofs von Canterbury in die Regelung der Angelegenheiten der Diözese Karatschi der Kirche von Pakistan. Sie erfolgte jedoch durch das Zivilgericht in Karatschi und beruht deshalb auf dessen juristischer Autorität.99 2. Das Primates’ Meeting Neben dem Erzbischof von Canterbury wächst auch den Inhabern des primatialen Amtes in den anderen Provinzen der Gemeinschaft eine wachsende Rolle auf Gemeinschaftsebene zu. Erzbischof Coggan von Canterbury führte am 7. August 1978 vor der Lambethkonferenz aus: I am coming to believe that the way forward in the coming year ... will be along two lines: first, to have meetings of the primates of the Communion reasonably often, for leisurely thought, prayer and deep consultation. There have been such meetings, but on very informal and rare bases. I believe they should be held perhaps as frequently as once in two years. But if that meeting now on some fairly regular basis is to be fruitful, those primates would have to come to such meetings well informed with a knowledge of the mind and will of their brothers whom they represent. Then they would be channels through which the voice of the members Churches would be heard, and real interchange of mind and will and heart could take place.100
Dementsprechend beschloss die Lambethkonferenz von 1978 in ihrer Resolution 11 para 2):
97
Rees, Primates’ Meetings (Anm. 78).
98
Rees, Primates’ Meetings (Anm. 78).
99
Cf. Rees, Primates’ Meetings (Anm. 78), 4.2.
100
The Report of the Lambeth Conference 1978, London 1978, 123 seqq.
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The Conference advises member Churches not to take action regarding issues which are of concern to the whole Anglican Communion without consultation with a Lambeth Conference or with the episcopate through the Primates’ Committee, and requests the primates to initiate a study of the nature of authority within the Anglican Communion.
Die Lambethkonferenz von 1988 führte diese Gedanken im Rahmen ihrer Resolution 18 weiter: 2. (a) (This Conference) Urges that encouragement be given to a developing collegial role for the Primates’ Meeting under the Presidency of the Archbishop of Canterbury, so that the Primates’ Meeting is able to exercise an enhanced responsibility in offering guidance on doctrinal, moral and pastoral matters. (b) Recommends that in the appointment of any future Archbishop of Canterbury, the Crown Appointments Commission be asked to bring the Primates of the Communion into the process of consultation.
Die Lambethkonferenz von 1998 hat die Entschließung von 1988 bekräftigt und darum gebeten, that the Primates’ Meeting, under the presidency of the Archbishop of Canterbury, include among its responsibilities positive encouragement to mission, intervention in cases of exceptional emergency which are incapable of internal resolution within provinces, and giving of guidelines on the limits of Anglican diversity in submission to the sovereign authority of holy scripture and in loyalty to our Anglican tradition and formularies.101
Das „Primates’ Meeting“, das seit 1978 regelmäßig zusammentritt, hat nur die Autorität seiner einzelnen Mitglieder102, d. h. – da kein Primas außerhalb seiner eigenen Provinz Jurisdiktionsgewalt besitzt – keine rechtsförmliche Autorität. Wenn die Beschlüsse des Primates‘ Meeting in den Provinzen Bindungswirkung entfalten sollen, müssen sie die zuständigen Provinzialorgane „überreden“, sie in provinziales Recht umzusetzen. Dem widerspricht freilich nicht, dass – wie bei der Lambethkonferenz – „its influence is immense“103. Wenn es heißt, die Inhaber der primatialen Ämter sollten „bring their Provinces with them“, dann bedeutet dies, dass sie nicht als Individuen zusammen kommen, sondern als Repräsentanten Ihrer Provinzen. Deshalb sollen sie, wie Erzbischof Coggan ausgeführt hat, zu den Treffen kommen „wohlinformiert
101
Resolution III.6 (b), Lambeth 1998 (Anm. 80), 396 seq.
102
Rees, Primates’ Meeting (Anm. 78), 4.13.
103
Rees, Primates’ Meeting (Anm. 78), 4.14.
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über die Meinung und den Willen ihrer Brüder, die sie repräsentieren“, will sagen der übrigen Bischöfe ihrer Provinz. Dem Primates’ Meeting ist eine große Verantwortung für die geistliche Einheit der Anglikanischen Gemeinschaft zugewiesen. Dem entspricht die Empfehlung der Lambethkonferenz von 1998, that, while not interfering with the juridical authority of the provinces, the exercise of these responsibilities by the Primates’ Meeting should carry moral authority calling for ready acceptance throughout the Communion.104
Diese Formulierung macht deutlich, wie nahe die Autorität des Primates’ Meeting strukturell derjenigen der altkirchlichen Konzilien kommt. Das Selbstverständnis des Primates’ Meeting kommt in einem Dokument zum Ausdruck, das von dem Meeting selbst am 29. Januar 2011 verabschiedet worden ist: Towards an Understanding of the Purpose – and Scope of the Primates’ Meeting A Working Document Approved by the Primates Meeting January 29, 2011 01 Purpose 02 The Primates’ Meeting is a gathering of the Primates and Moderators of the Churches of the 03 Anglican Communion convened by the Archbishop of Canterbury. 04 Archbishop Coggan was the first to call for “meetings of the Primates of the Communion reasonably 05 often, for leisurely thought, prayer and deep consultation …” (Lambeth Conference 1978, Report, p 06 123.) 07 The Windsor Report expressed the hope that the Primates’ Meeting ‘should be a primary forum for 08 the strengthening of the mutual life of the provinces, and be respected by individual primates and 09 the provinces they lead as an instrument through which new developments may be honestly 10 addressed’ (The Windsor Report, Appendix One, paragraph 5) 11 By God’s grace we strive to express that unity in diversity which is the Spirit’s work among the 104
Resolution III.6 (c); Lambeth 1998 (Anm. 80), 397.
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Hanns Engelhardt
12 Churches of the Communion and the community of Primates. That unity is expressed and fostered 13 by our study of the Scriptures together, prayer and the celebration of the Eucharist. We look to the 14 Spirit to nurture our bonds of affection as we endeavour to work together with the other 15 Instruments of Communion in the service of the Gospel. 16 Our Life and Work Together 17 The Primates: 18 bring the realities, expectations and hopes of the context from which they come, thus 19 representing the local to the global 20 learn the realities, expectations and hopes of other contexts, and 21 carry home and interpret the global to the local 22 The Primates together 23 give leadership and support as the Communion lives out the Marks of Mission105 24 seek continuity and coherence in faith, order, and ethics 25 provide a focal point of unity 26 address pressing issues affecting the life of the Communion 27 provide guidance for the Communion 28 address pressing issues of global concern 29 are advocates for social justice in these situations 30 We endeavour to accomplish our work through: 31 prayer 32 fellowship 33 study and reflection 34 caring for one another as Primates and offering mutual support 35 taking counsel with one another and with the Archbishop of Canterbury 36 relationship building at regular meetings 37 being spiritually aware 38 being collegial 105 The Five Marks of Mission were summarized in the Missio report of 1999 and reiterated in The Anglican Covenant. They are: To proclaim the Good News of the Kingdom To teach, baptize and nurture new believers To respond to human need by loving service To seek to transform unjust structures of society To strive to safeguard the integrity of creation and sustain and renew the life of the earth.
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being consultative acknowledging diversity and giving space for difference being open to the prophetic Spirit exercising authority in a way that emerges from consensus‐building and mutual discernment leading to persuasive wisdom the work of the Primates’ Standing Committee Commitment In our common life in Christ we are passionately committed to journeying together in honest conversation. In faith, hope, and love we seek to build our Communion and further the reign of God.
Christlich-islamische Ehen – Ja oder Nein? Von Martin Ötker und Stephan Leimgruber Martin Ötker und Stephan Leimgruber Wenn in Deutschland1 über vier Millionen Musliminnen und Muslime leben und in der Schweiz2 und in Österreich3 je annähernd eine halbe Million, dann bedeutet das auch, dass es Bekanntschaften, Freundschaften und Ehen zwischen Christen und Muslimen gibt 4. Es handelt sich dabei um bikulturelle und
1 Unter den 3,8 bis 4,5 Millionen Muslimen, die 2013 in Deutschland leben, befinden sich 2.640.000 Sunniten, 500.000 Aleviten sowie 225.500 iranische Imaniten und türkische Schiiten. Das sind 5 % der Gesamtbevölkerung (80.500.000, 2012) (nach http: // de. statistica.com/statistik/daten/studie/76744 / umfrage / anzahl - der - muslime - in - deutschland - nach - glaubensrichtung [Zugriff am 2. 12. 2013]). 2
Laut dem Schweizerischen Bundesamt für Statistik ergab die Volkszählung in der Schweiz aus dem Jahr 2000, dass im Lande 310.800 Muslime lebten (nach www. bfs. admin. ch / bfs / portal / de / index / themen / 01 / 05 / blank / key / religionen. html [Zugriff am 2. 12. 2013]). 3 In Österreich, in dem die Muslimische Glaubensgemeinschaft den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts genießt, lebten 2009 515.914 Muslime, das sind 6,2 % der Gesamtbevölkerung (8.355.260) (zit. nach www.integrationsfonds.at/fileadmin/ integrationsfond/5_wissen/islam_reader/20100216_Islambuch_final.pdf [Zugriff am 2. 12. 2013]). Vgl. Susanne Heine / Rüdiger Lohlker / Richard Potz, Muslime in Österreich, Innsbruck u. a. 2012, S. 19–21. Die Zahlen der Muslime in ausgewählten europäischen Staaten sind folgende: Frankreich: ca. 4.155.000 (2000) (zit. nach www.ladocumentationfrancaise.fr/var/storage/rapports-publics/ [Zugriff am 2. 12. 2013]); Spanien: ungefähr 1.500.000 Muslime (zit. nach Margot Zeslawski, Allah in Andalusien, in: Focus, Nr. 27 vom 30. 6. 2008, S. 136–137); Italien: ca. 1.500.000 Muslime oder 2 % der Gesamtbevölkerung (59.433.744) im Jahre 2011 (Der neue Fischer Weltalmanach 2014. Zahlen, Daten, Fakten, Frankfurt a. M. 2013, S. 228. 4 Im Jahre 2002 wurden 5.183 bireligiöse Ehen (kath. / sonstige) kirchlich geschlossen (nach: http://dbk.de/daten/in_daten-07.html [Zugriff am 29. 11. 2005]. Bei einer nochmaligen Abfrage der Daten (2013) bei der DBK musste zur Kenntnis genommen werden, dass religionsverschiedene Ehen tabellarisch seit Jahren nicht ausgewiesen werden, aus welchen Gründen auch immer. Lediglich eine Grafik war diesbezüglich vorfindbar, die für das Jahr 2012 gegenüber dem Vorjahr wohl einen geringen Anstieg dieser Ehen auswies (nach: http: // www.dbk.de / zahlen-fakten / kirchliche-statistik / ?tx _ ig-
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bireligiöse Gemeinschaften, in denen zwei recht unterschiedliche Kulturen und Religionen aufeinandertreffen. Aber der Glaube an den einen Gott und die Absage an Götzen aller Art ist ihnen gemeinsam 5. Abraham ist beiden Religionen Vorbild im Glauben und im Vertrauen. Jesus ist für beide ein Prophet Gottes, für Muslime primär der Sohn Marias, für Christen allerdings Gottes eingeborener Sohn, der Inbegriff der Offenbarung, vergleichbar islamischerseits mit dem Koran als Fülle der Offenbarung. Dieser Beitrag überlegt zum einen, unter welchen Bedingungen können Christinnen und Christen mit Muslimen und Musliminnen eine christliche Ehe eingehen, also eine von der katholischen Kirche anerkannte Ehe schließen. Zum andern wird überlegt, ob zu einer solchen Ehe geraten werden kann oder ob diese Ehe nicht zu empfehlen ist. Der Großteil christlich-islamischer Ehen wird rein zivilrechtlich geschlossen. Hier stellt sich die Frage, ob das so gut ist, ob die Ehe halt doch eher ein „weltlich Ding“ (Martin Luther) sei, oder ob nicht eine theologische Vertiefung möglich und sinnvoll wäre. Noch viel schwieriger ist die Frage, ob eine kirchlich anerkannte religionsverschiedene Ehe ratsam ist, wenn das Ehepaar gedenkt, in islamisch geprägte Länder auszureisen bzw. in die Heimat des islamischen Ehepartners umzusiedeln. Schließlich ist mit christlich-islamischen Ehen die Frage verbunden, ob es heute sinnvoll ist, vom Christentum zum Islam oder vom Islam zum Christentum zu konvertieren, wie das des öfteren geschieht 6. In diesem Beitrag medienkatalog _ pi1%5Bcatsearch%5D = 39&tx _ igmedienkatalog _ pi%5Bshow%5D = 1& cHash=56063554e23352a1d6ad5c72aßf8c615 [Zugriff am 4. 12. 2013]). 5 Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ vom 24. November 2013 an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der der Welt von heute, S. 216–217, Nr. 252 (zit. nach www.vatican.va / holy _ father / francesco / apost _ exhortations / documents / papa-francesco _ esortazione-ap20131124 _ evangeliigaudium _ ge. html [Zugriff am 2. 12. 2013]). 6
Der Islamwissenschaftler Jörn Thielmann äußert sich in einem KNA-Interview zur Konversion vom Islam zum Christentum. Auch wenn es keine Zahlen gibt, dürften es einige Hundert pro Jahr sein. Asylbewerber und politische Flüchtlinge bilden hauptsächlich die Gruppe dieser Konvertiten. Für sie ist die Konversion ein heikler Punkt, weil die Konversion aus dem Islam aus muslimischer Perspektive nicht möglich, sogar bei Strafe verboten ist, bis hin zur Hinrichtung. Viele müssen auch in Deutschland ihre Religion verbergen, wenn sie weiterhin Kontakt zu ihrer Herkunftsgemeinschaft haben wollen (zit. nach http://www.domradio.de/themen/interreligioeser-dialog/2013-01-14/islamwissenschaftler-zurkonversion-vom-islam-zum] (Zugriff am 3. 12. 2013]). Vgl. zur Situation in Frankreich Anne-Benedicte Hoffner, Heikle Aufnahme: Konvertiten aus dem Islam. Jährlich werden in der katholischen Kirche in Frankreich etwa 300 Muslime getauft, in: DT Nr. 145 vom 3. Dez. 2013, S. 7. Inzwischen ist wohl eine leichte Veränderung für aus dem Islam Konvertierende erkennbar, wenn zu lesen ist: „Es zeichnet sich aber auf
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stehen kirchenrechtliche und pastorale Aspekte dieser komplexen Frage im Vordergrund. I. Die religionsverschiedene Ehe aus kirchenrechtlicher Sicht In der katholischen Kirche hat jeder, der in ihr getauft oder nach der Taufe in sie aufgenommen wurde (c. 11 CIC; c. 1490 CCEO), das Recht, seinen Lebensstand frei zu wählen (c. 219 CIC; c. 22 CCEO). Anders als im Staat, in dem die Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat formuliert sind, kann jeder Katholik und jede Katholikin seine/ihre Grundrechte in der Kirche wahrnehmen. Das in c. 219 CIC zugestandene Grundrecht wird in c. 1058 CIC (c. 778 CCEO) dahingehend spezifiziert, dass alle eine Ehe schließen können, die rechtlich nicht daran gehindert sind. Dieses Recht wird durch Ehehindernisse 7 eingeschränkt (cc. 1083–1094 CIC; cc. 800–812 CCEO). Darunter versteht der Kodex alle einer Person anhaftende Umstände, die unabhängig vom Ehekonsens kraft des göttlichen oder menschlichen (kirchlichen) Gesetzes der gültigen Eheschließung entgegenstehen8. Wenn ein Katholik, eine Katholikin, eine(n) getaufte(n) Nichtkatholik(in)en oder eine(n) Ungetaufte(n) ehelichen möchte, sind jeweils andere rechtliche offizieller Ebene ein vorsichtiges Abrücken von überkommenen radikalen Positionen zum Glaubensabfall ab. So hat die türkische Religionsbehörde 2008 erklärt, dass für Übertritte vom Islam keine ‚weltlichen‘ Strafen zulässig seien, denn der Prophet hätte niemandem seinen Glauben aufgezwungen. Auch von islamischen religiösen Gelehrten wird die Problematik dieser Regel inzwischen weltweit diskutiert“ (Susanne Heine u. a., Muslime in Österreich, S. 145). Andererseits sind gemäß einer Studie des Islam-Archivs Soest, im Auftrag des Innenministeriums zwischen 2004 und 2005 rund 4000 Bundesbürger zum Islam konvertiert (L. Ackermann, Sportcoupé mit Gebetsteppich. Trotz des islamistischen Terrors: Die Zahl der zum Islam übergetretenen Deutschen hat sich bin nen eines Jahres vervierfacht, in: Der Spiegel, Nr. 3 vom 15. Jan. 2007, S. 15). Dabei scheint der Islam eine besondere Faszination auf Frauen auszuüben, wie Uta Sternbach (Frauen konvertieren zum Islam – kognitive Dissonanz und ihre Bewältigung, in: Religionsproduktivität in Europa. Markierungen im religiösen Feld, hrsg. von Jamal Malik / Jürgen Manemann, Münster 2009, S. 29–50) deutlich macht. 7 Vgl. zum Überblick und Einteilung der Ehehindernisse Myriam Wijlens, Art. Ehehindernisse, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht (LKStKR), Bd. 1, Paderborn u. a., 2000, S. 512–513; Reinhold Sebott, Das neue kirchliche Eherecht, Frankfurt a. M., ³2005, S. 80–111; Josef Prader / Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Eherecht in der seelsorglichen Praxis, Essen 42001, S. 112–128. 8
287.
Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (AMATECA XII), Paderborn 1995, S. 286–
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Bestimmungen einschlägig. Für die konfessionsverschiedenen Ehen sind das die cc. 1124–1128 CIC und bei den Ehen mit Ungetauften ist das der c. 1129 CIC (c. 1134 CCEO). Somit fasst der kirchliche Gesetzgeber beide Arten von Eheschließungen mit Nichtkatholiken in einem Kapitel9 zusammen, das mit „de matrimoniis mixtis“ überschrieben ist und in der deutschen Übersetzung mit „Mischehen“ wiedergegeben wird, obwohl darin ganz überwiegend die konfessionsverschiedenen Ehen geregelt sind und nur am Schluss, gewissermaßen als Appendix, die Ehen mit Ungetauften thematisiert 10 werden. Darin wird bestimmt, dass die Vorschriften der cc. 1127 und 11128 CIC auch auf Ehen anzuwenden sind, denen das Hindernis der Religionsverschiedenheit 11 gemäß c. 1086 § 1 CIC (c. 803, § 1 CCEO) entgegensteht. Der Kritik Heribert Heinemanns12 ist zuzustimmen, wonach c. 1129 CIC nur auf die cc. 1127 und 1128 CIC verweist, jedoch die ebenfalls einschlägigen cc. 1125 und 1126 CIC nicht erwähnt. Tatsächlich sind jedoch die cc. 1125–1128 CIC gesamthaft auf die religionsverschiedenen Ehen entsprechend anzuwenden. II. Das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit Kanon 1086 CIC behandelt in drei Paragraphen das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. Dabei wird im ersten das Ehehindernis definiert, im zweiten Paragraphen die Dispens vom Hindernis und abschließend die Vorgehensweise festgelegt, wenn Zweifel an der Gültigkeit der Taufe bestehen (c. 1086 § 3 CIC). Kanon 1086 § 1 CIC lautet folgendermaßen: „Die Ehe zwischen zwei Personen, von denen die eine in der katholischen Kirche getauft oder in sie aufgenommen wurde, die andere aber ungetauft ist, ist ungültig“. Seit dem 8. April 2010 ist das die geltende Formulierung. Denn Papst Benedikt XVI. hat durch 9
4. Buch, Titel 7, 6. Kapitel des CIC.
10
Gian P. Montini (I matrimoni tra una parte cattolica e una parte non battezata. La questione terminologica, in: QDE 24 [2011], S. 261–270, hier 262) macht darauf aufmerksam, dass es der ausdrückliche Wunsch des kirchlichen Gesetzgebers war, das Kapitel mit c. 1129 CIC zu beschließen, obwohl zunächst in der Kodifikationsphase eine andere Regelung favorisiert wurde. 11 In der Literatur findet sich synonym zu Religionsverschiedenheit auch der Begriff der Kultusverschiedenheit, z. B. bei Hartmut Zapp, Kanonisches Eherecht, 7. Aufl., Freiburg i. Brsg. 1988, S. 114–115; Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht, Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. 3, Paderborn u. a. 2007, S. 437.
Heribert Heinemann, Die konfessionsverschiedene Ehe III, in: HdbKathKR 2, Regensburg 1999, S. 969–980, hier 979. 12
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das Motu Proprio „Omnium in mentem“ vom 28. Oktober 200913 die bisherige Klausel „und nicht durch einen förmlichen Akt von ihr abgefallen sind“, ersatzlos gestrichen14. Ob sich dadurch eine Gesetzesänderung ergeben hat, ist umstritten15. Inhaltlich besteht nach der jüngsten Korrektur das Hindernis gegenüber allen Katholiken. Dazu zählen nun auch jene, deren Kirchenaustritt nach dem 8. April 2010 wirksam geworden ist16. Das ergibt sich aus c. 11 CIC, der alle in der katholischen Kirche getauften Personen auf die Beachtung der kirchlichen Gesetze verpflichtet. Somit ist das zwischen dem Inkrafttreten des CIC (27. November 1983) und dem 7. April 2010 durchbrochene Axiom „Semel catholicus, semper catholicus“ wieder uneingeschränkt in Geltung17. Weiter betrifft das Ehehindernis diejenigen, die nach der Taufe in die katholische Kirche aufgenommen wurden. Der Sinn eines solchen Ehehindernisses besteht darin, den Glauben des katholischen Partners vor Gefahren zu schützen, die sich aus einer Ehe mit einer 13
Benedikt XVI., MP „Omnium in mentem“ vom 26. Oktober 2009, in: AAS 102 (2010) S. 8–10. 14
Nicht nur aus c. 1086 § 1, sondern auch aus den cc. 1117 CIC (Pflicht zur Einhaltung der kanonischen Eheschließungsform) und 1124 CIC (konfessionsverschiedene Ehe) wurde diese Klausel getilgt. Unter der Geltung dieser Wendung wurde ein ausgetretener Katholik von der Beachtung der drei genannten Canones freigestellt, so dass er eine „gültige Ehe in jedweder öffentlichen Form schließen konnte, z. B. durch eine standesamtliche Heirat, sofern nicht der andere Partner formpflichtig war, und sofern der Ehe kein trennendes Ehehindernis außer dem der Religionsverschiedenheit entgegen stand“ (Heinrich J. F. Reinhardt, Die kirchliche Trauung, [BzMK 3], Essen ²2006, S. 125, Rdnr. 348). Vgl. auch Bernd Dennemark, Eheschließung trotz Kirchenaustritt. Rechtliche Neuorientierung nach dem Motu Proprio Omnium in mentem, in: AfkKR 180 (2011) S. 92–117, hier S. 93; Martin Rehak, Änderungen im kirchlichen Eherecht durch das Motu Proprio Omnium in mentem vom 26. Oktober 2009, in: Klerusblatt 90 (2010), S. 183–187. 15 Vgl. Klaus Lüdicke (in: ders. [Hrsg.], MKCIC, [Loseblattwerk, Stand: August 2010], Essen seit 1984, 1086, 1d ), der erklärt: „Die Änderung ist von Bedeutung für den rechtlichen Umgang mit Ehen, die in der Zeit vom 27. November 1983 bis zum 7. April 2010 geschlossen worden sind“. Siehe auch Susanne Ganster, Religionsverschiedenheit als Ehehindernis. Eine rechtshistorische und kirchenrechtliche Untersuchung (KStKR 16), Paderborn u. a. 2013, S. 281–283. 16
Vgl. Motu Proprio „Omnium in mentem“ – Neue Bestimmungen zur kirchlichen Eheschließung, in: Amtsblatt für die Diözese Augsburg 121 (2011), S. 30–31. 17
Hubert Socha (in: Klaus Lüdicke [Hrsg.], MKCIC, 11, 16 [Stand: Februar 2012]) hält das für problematisch, weil es keine innerkirchliche Religionsfreiheit gibt.
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ungetauften Person ergeben können18. Da das Ehehindernis rein kirchlichen Rechts ist, kann der Diözesanbischof (c. 1078 § 1 CIC) davon dispensieren, insofern die Bedingungen der cc. 1125 (c. 814 CCEO) und 1126 CIC erfüllt sind (c. 1086 § 2 CIC). III. Voraussetzungen einer Dispensgewährung In c. 1086 § 2 CIC verweist der kirchliche Gesetzgeber voraus auf die cc. 1125 und 1126 CIC. Damit verpflichtet er Personen, die eine bireligiöse Ehe einzugehen beabsichtigen, auf die Beachtung von Regelungen, wie sie für konfessionsverschiedene Ehen bestehen. Allerdings wird eine Dispens, auf die ein Antragsteller keinen Rechtsanspruch hat, weil es sich hierbei um einen Akt der freiwilligen Verwaltung handelt (c. 136 § 1 CIC)19, nur dann gewährt, wenn hierfür ein gerechter und vernünftiger Grund vorliegt (c. 90 § 1 CIC). Dieser ist immer schon dann gegeben, wenn der Katholik nach gewissenhafter Prüfung meint, eine solche Ehe eingehen zu dürfen und ohne Dispenserteilung in ungültiger Ehe leben müsste20. Das mag in Europa vielleicht als Grund ausreichen, aber die bloße Tatsache, dass es für einen Katholiken so gut wie unvermeidbar ist, die Ehe mit einem Ungetauften zu schließen, z. B. in einem Land, in dem die Katholiken eine kleine Minderheit sind, kann nicht schon als gerechter und vernünftiger Grund angesehen werden. Hier wird der Dispensgewährende die Situation beider Partner genauer in Betracht ziehen, ebenso das Umfeld, in dem das Paar künftig leben wird und nicht zuletzt auch die Personen selbst, deren Persönlichkeit und Temperament21. Bei Vorliegen eines gerechten und vernünftigen Grundes, müssen gemäß c. 1125, 1°–3° CIC vier Voraussetzungen22 erfüllt sein, damit der Ortsordinarius die Dispens vom Hindernis der Religionsverschiedenheit gewähren kann. Da18 Begründung des kirchlichen Gesetzgebers in der Relatio zu can. 1039 § 1 Schema CIC/1980, in: Communicationes 15 (1983), S. 239. 19
Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht, Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris canonici, Bd. 1, Paderborn u. a. 1991, S. 270. 20
Sebott, Das neue kirchliche Eherecht (Anm. 7), S. 91; Zapp, Kanonisches Eherecht (Anm. 11), S. 114–115; Norbert Ruf, Das Recht der katholischen Kirche. Nach dem neuen Codex Iuris Canonici für die Praxis erläutert, Freiburg i. Brsg. 1983, S. 260. 21
Elke Freitag, Ehen zwischen Katholiken und Muslimen, Eine religionsrechtliche Vergleichsstudie, (KB 11), Wien 2007, S. 112; Urbano Navarrete, L’impedimento di „disparitas cultus“ (can. 1086), in: I matrimoni misti, (Studi Giuridici 47), hrsg. von der Associazione Canonistica Italiana, Città del Vaticano, 1998, S. 107–137, hier 131. 22
Vgl. Reinhold Sebott, Art. Kautelen, in: LKStKR, Bd. 2 (2002), S. 408–409.
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von richten sich zwei Bedingungen an den katholischen Partner (c. 1125, 1° CIC); einmal wird der Ungetaufte angesprochen (c. 1125, 2° CIC), und c. 1125, 3° CIC wendet sich an beide Partner. Der Katholik bzw. die Katholikin hat die Erklärung abzugeben, Gefahren des Abfalls vom eigenen Glauben zu beseitigen. Das ist in dem Sinne zu verstehen, dass der Mensch verpflichtet ist, zu bewahren, was er als gut und richtig erkannt hat. Für einen Katholiken bedeutet das, dass er bzw. sie den dreieinigen Gott bekennt, dass er bzw. sie die katholische als die von Christus gestiftete Kirche bejaht und dass er/sie im Gewissen verpflichtet ist, Glied dieser Kirche zu bleiben sowie von seinem Glauben Zeugnis zu geben. Weiter sind katholische Christen gehalten, das ihnen Mögliche zu tun, den als wahr erkannten Glauben und die Zugehörigkeit zur Kirche auch denen nahezubringen, für die sie verantwortlich sind, insbesondere für ihre Kinder23. In den meisten Fällen wird eine christlich-islamische Ehe von einer katholischen Frau und einem muslimischen Mann geschlossen. Das ergibt sich aus der koranischen Vorschrift, dass ein Muslim zwar eine Christin (oder Jüdin) heiraten darf24, es aber einer Muslima verwehrt ist, einen Christen zu ehelichen. Eine solche Ehe ist einer Muslima nicht nur streng verboten 25, sondern auch nichtig, 23 Erläuterung der ÖBK zum Dekret über die rechtliche Ordnung religionsverschiedener Eheschließungen nach dem neuen kirchlichen Gesetzbuch (1. Juni 1984), in: ABl. ÖBK 2/1984, S. 16–18, hier 17. 24 Koran 5:5: „Heute sind euch die köstlichen Dinge erlaubt … (Erlaubt sind) auch die unter Schutz gestellten gläubigen Frauen und die unter Schutz gestellten Frauen aus den Reihen derer, denen vor euch das Buch zugekommen ist, wenn ihr ihnen ihren Lohn zukommen lasst und mit ihnen in der Absicht lebt, (sie) unter Schutz zu stellen, nicht Unzucht zu treiben und (sie) nicht als heimliche Konkubinen zu nehmen …“ (Der Koran. Arabisch – Deutsch, Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar von Adel Th. Khoury, Bd. 3, Gütersloh 1992). Dazu bemerkt Adel Th. Khoury (Der Koran, Bd. 3, S. 62): „Solche Ehen sind nach der Meinung der großen Mehrheit der Rechtsgelehrten erlaubt, sie werden jedoch von ihnen nicht empfohlen“. 25
Koran 2: 221: „Und heiratet nicht polytheistische Frauen bis sie gläubig geworden sind. Wahrlich, eine gläubig gewordene Sklavin ist besser als eine polytheistische Frau, auch wenn sie euch gefallen sollte. Und lasst die Polytheisten nicht zur Heirat zu, bis sie gläubig geworden sind. Wahrlich, ein gläubiger Sklave ist besser als ein Polytheist, auch wenn er euch gefallen sollte. Jene rufen zum Feuer. Gott ruft zum Paradies und zur Vergebung mit seiner Erlaubnis. Und er macht den Menschen seine Zeichen deutlich, auf dass sie es bedenken“. Diesen Vers erklärt Adel Th. Khoury so: „Eine muslimische Frau darf keinen Juden bzw. Christen heiraten … Der Grund für dieses Verbot und diese In terpretation des Koranverses wird darin gesehen, dass in einer solchen Ehe der islamische Glaube der Frau gefährdet erscheint. Wenn aber darauf hingewiesen wird, dass
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es sei denn, der Mann konvertiert zum Islam. Gleichwohl gibt es in Europa Eheschließungen muslimischer Frauen mit katholischen Männern26 eben weil die Religionsfreiheit eigentlich auch Musliminnen zusteht, heißt es doch im Koran: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2:256). Daher wäre im Vorfeld der Trauung eines katholisch-islamischen Brautpaares zu klären, wo sie nach der Heirat leben wollen. Sollte früher oder später die Wohnsitznahme in einem afrikanischen oder asiatischen Land erwogen werden, wären die dortigen Verhältnisse, insbesondere für eine katholische Frau, kritisch in den Blick zu nehmen. In der Türkei und in Tunesien ist die Einehe geboten 27, aber man hört immer wieder von Christenverfolgungen. Dies gilt auch für islamisch geprägte Länder in Afrika und im mittleren Orient. Außerdem hat der katholische Partner das aufrichtige Versprechen zu geben, alles zu tun, damit seine Kinder in der katholischen Kirche getauft und erzogen werden. Damit ist ein schwieriges Thema angesprochen, insbesondere wenn es um eine Ehe zwischen Katholiken und Muslimen geht. Denn sie setzt eine Entscheidung der Ehepartner voraus, in welcher Religion die Kinder erzogen werden sollen. Schließlich ist die Erziehung der Kinder Aufgabe beider Ehepartner. Einerseits folgen nach islamischem Verständnis alle Kinder aus Ehen mit musnach dem islamischen Recht ein Muslim eine Jüdin bzw. Christin heiraten darf, dann wird der Unterschied in der Situation folgendermaßen erläutert: ‚Der muslimische Gatte, der ja der Hüter der Familie ist, hat von seiner Religion den Befehl erhalten, für seine Frau, die Schriftbesitzerin, zu sorgen und ihre Glaubensüberzeugung und ihre Frömmigkeit nicht anzugreifen; dabei glaubt er an das Prophetenamt Moses und Jesu. Dies ist aber nicht der Fall für einen Schriftbesitzer (im Hinblick auf eine muslimische Frau), denn er glaubt überhaupt nicht an den Propheten des Islam und das Siegel des Prophe ten, Muhammad, so dass dies einen Grund darstellt, ihr Unannehmlichkeiten zu bereiten und sie von ihrer Religion abzubringen‘“. 26
Josef Prader, Die religionsverschiedene Ehe zwischen Katholiken und Muslimen, in: People on the Move 22 (1992), S. 35–67, hier 43. 27 Kernstück des türkischen Ehe- und Kindschaftsrechts ist der Grundsatz der Zivilehe, die als Einehe konzipiert ist (Art. 134 ZGB Nr. 4721 vom 22. 11. 2001, zit. nach: Alexander Bergmann / Murad Ferid / Dieter Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht (Loseblattsammlung), Frankfurt a. M. seit 1938, Länderteil Türkei, Stand: 25. 1. 2013, S. 27 und 66; Das Personalstatut der Republik Tunesien vom 13. 8. 1956 verbietet ausdrücklich die Mehrfrauenehe, sieht kein Verstoßungsrechts des Mannes vor und erlaubt es dem Vater nicht, seine Tochter gegen ihren Willen zu verheiraten. Vielmehr erfordert die Eheschließung die Zustimmung beider Verlobter und ist nur als Zivilehe gültig (Art. 3 und 9 des Personalstatuts), zit. nach: Bergmann / Ferid / Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Tunesien S. 16 und 43.
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limischer Beteiligung der Religion des muslimischen Partners 28, andererseits ist Taufe und katholische Kindererziehung eine Forderung göttlichen Rechts. Kirchlicherseits hat inzwischen die Auffassung Geltung erlangt, vom katholischen Partner nur mehr den aufrichtigen und ernsthaften Willen zu verlangen, nach Kräften alles zu tun, damit seine Kinder katholisch getauft und erzogen werden29. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Durchsetzung einer unbedingten Verpflichtung oder die Sicherstellung eines Ergebnisses, die im Falle der Erfolglosigkeit nicht dazu führt, dass diese Ehe unerlaubt oder der Katholik im Gewissen verpflichtet wäre, auf diese Ehe zu verzichten 30. Vielmehr reicht das Bemühen des katholischen Partners für eine Dispensgewährung aus 31. Damit ist die Kirche im Rahmen eines länger währenden Erkenntnisprozesses offensichtlich an die Grenze des Vertretbaren gestoßen, will sie das göttliche Recht nicht verletzen. Jedoch sollte sich der Partner der anderen Religion darum bemühen, dass die Kinder Wesen und Werte seiner Religion kennenlernen und auf diesem Wege der anderen Religion respektvoll begegnen32.
28 Vgl. Elisabeth Kandler-Mayr (Rechtliche Fragen im Zusammenhang der Eheschließung zwischen Muslimen und Katholiken – aus der Praxis des Kirchengerichts, in: AfkKR 174 [2005], S. 50–74, hier 61, Anm. 48) erwähnt staatliche Gesetze, wonach Kinder generell der Religion des Vaters folgen. 29 Gian P. Montini, Le garanzie o „cauzioni“ nei matrimoni misti, in : QDE 3 (1992), S. 287–295, hier 290. 30 Vgl. Urbano Navarrete, L’impedimento di „disparitas cultus“, in: I matrimoni misti, S. 133; Bernhard Beck, De cautionibus sincere praestandis in matrimoniis quibus obstat impedimentum mixtae religionis aut disparitatis cultus, Roma 1956, S. 60. 31 Geraldina Boni, Disciplina canonica universale circa il matrimono tra cattolici ed i islamici, in: Il matrimono tra cattolici ed islamici (Studi giuridici 58), hrsg. von der As sociazione Canonistica Italiana, Città del Vaticano 2002, S. 21–117, hier 84. Die Deutsche Bischofskonferenz (Partikularnormen zur Ehevorbereitung, Eheschließung und Registrierung von Eheschließungen sowie des Ehevorbereitungsprotokolls vom 1. November 2005, in: KABl. Münster 139 [2005] 194–205, Anmerkungstafel zum Ehevorbereitungsprotokoll, Nr. 15) hält hierzu fest: „Bei religionsverschiedenen Brautleuten: Wenn die Kinder nicht getauft und katholisch erzogen werden, beinhaltet das Versprechen, das der katholische Partner ablegt, u. a. – dass er durch seine beispielhafte Lebensführung den Kindern den katholischen Glauben nahe bringt; – dass er durch religiöse Fortbil dung seinen Glauben vertieft, um mit seinem Ehepartner ein fruchtbares Glaubensgespräch führen und die Fragen der Kinder beantworten zu können“. 32 Murest Multireligiöse Studiengruppe (Hrsg.), Handbuch Interreligiöser Dialog. Aus katholischer, evangelischer, sunnitischer und alevitischer Perspektive, Köln 2006, S. 169.
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Zusammenfassend wird man festhalten können, dass eine Erziehung in der muslimischen Religion oder im katholischen Glauben besser ist als eine religiös indifferente Erziehung, einer häufigen Gefahr religionsverschiedener Ehen. Falls Eltern die Kinder selber entscheiden lassen sollen, ob und in welcher Religion sie leben möchten, dann entziehen sich die Ehepartner ihrer Verantwortung für eine religiöse Kindererziehung33. Schwierig ist auch die Absicht der Eltern, ihre Kinder in beiden Religionen gleichzeitig aufwachsen zu lassen 34. Möglich wäre, dass die Eltern ihre spezifische Religiosität beibehalten, aber für das Kind eine Option treffen, in einer bestimmten Religion aufzuwachsen. Mit der zweiten Bedingung wendet sich der Gesetzgeber dem ungetauften Partner zu. Dieser ist rechtzeitig über das vom Katholiken abzugebende Versprechen in Kenntnis zu setzen, so dass feststeht, dass er wirklich um die mit dem gegebenen Versprechen verbundenen Verpflichtungen seines katholischen Partners weiß. Damit soll der Ungetaufte klar darüber informiert sein, worauf er sich bei einer Heirat mit einem Katholiken / einer Katholikin einlässt. Hierzu weisen verschiedene Autoren35 darauf hin, dass der Ungetaufte in c. 1125, 2° CIC nur passiv angesprochen wird, so dass er zwar unterrichtet wird, aber nicht bestätigen muss, dass er diese Informationen zur Kenntnis genommen bzw. den Versprechungen seines katholischen Partners zustimmt. Das wäre unzweifelhaft möglich, erklärt Christoph Ohly, denn „das von der Kirche anerkannte Menschenrecht der Religions- und Gewissensfreiheit setzt einer Zustimmungserklärung des muslimischen Partners zwar Grenzen, doch vermag eine ausdrückliche, d. h. auch schriftliche Kenntnisnahme dieses Versprechens insbesondere 33 Sehr treffend formulierte diesbezüglich Fuad Kandil (Ehen zwischen Christen und Muslimen in Deutschland. Religiöse, kulturelle und soziale Problemaspekte einer gemischt – religiösen Heirat, in: Ludwig Hagemann / Adel. Th. Khoury / Werner Wanzura (Hrsg.), Auf dem Weg zum Dialog, FS für Muhammad Salim Abdullah zum 65. Geburtstag, Würzburg 1996, S. 126–162, hier 157): „Und es behagt mir keinesfalls zu beobachten, dass die Kinder in diesen Ehen vielfach religiös neutral bzw. religiös indifferent aufwachsen, gewissermassen als Kompromisslösung, die keinem der Partner wehtut, was mir jedoch als nichts anderes erscheint als eine Verlegenheitslösung. Und zwar ist dies schon deshalb keine Lösung des anstehenden Problems, weil die religiöse Sozialisation früh genug erfolgen muss und später nicht nachgeholt werden kann. Keine Lösung auch deshalb, weil es keine ‚allgemeine Religiosität‘ jenseits spezifisch christlicher oder spezifisch islamischer oder auch sonstiger konkreter Religiosität geben kann“. 34
Vgl. Freitag, Ehen zwischen Katholiken und Muslimen (Anm. 21), S. 115–116; Referat für Interreligiösen Dialog des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln (Hrsg.), Katholisch-islamische Ehen. Eine Handreichung, Köln ³2006, S. 57. 35
Freitag, Ehen zwischen Katholiken und Muslimen, ebd., S. 78; Ganster, Religionsverschiedenheit als Ehehindernis (Anm. 15), S. 296.
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im Zusammenhang mit der in c. 1125, 3° CIC geforderten Darlegung des katholischen Eheverständnisses problemlos zusammengehen“36. Wenn der ungetaufte Partner nicht zum Brautleutegespräch erscheinen will, dann hat der katholische Seelsorger die Angelegenheit dem Ortsordinarius zur Entscheidung vorzulegen37. In einem solchen Fall wäre zu prüfen, auf welche Weise sichergestellt werden kann, wie er über die Wesenseigenschaften der katholischen Ehe zu informieren ist, sodass er über den Gehalt des Versprechens seines katholischen Partners Bescheid weiß. Diese Information über das katholische Eheverständnis sollte dem islamischen Partner rechtzeitig gegeben werden. Dabei ist es unmöglich, einen angemessenen Zeitpunkt anzugeben38, jedoch dürfte es anlässlich der näheren Ehevorbereitung beim zuständigen Seelsorger bereits zu spät sein. Abschließend nimmt der kirchliche Gesetzgeber in c. 1125, 3° CIC beide Ehewilligen in den Blick. Sie sollen über die Ziele 39 und wesentlichen Eigen36 Christoph Ohly, Die Eheschließung zwischen Katholiken und Muslimen. Kirchenrechtliche Erwägungen zu einem aktuellen Problem, in: Mittler und Befreier. Die christologische Dimension der Theologie. Für Gerhard Ludwig Müller, hrsg. von Christian Schaller u. a., Freiburg i. Br. 2008, S. 549–564, hier 557. Entsprechend ihrem Auftrag zur näheren Gestaltung des Versprechens des Katholiken und der Unterrichtung des un getauften Partners (c. 1126 CIC), hat die ÖBK zum Versprechen des katholischen Partners folgende Erklärung des ungetauften (hier muslimischen) Partners hinzugefügt: „Ich werde meinem katholischen Ehepartner in seiner Religionsausübung volle Freiheit lassen. Der katholischen Taufe und der katholischen Erziehung der aus unserer Ehe hervorgehenden Kinder werde ich nichts in den Weg legen. Unterzeichnet dieser die Erklärung nicht, so soll festgestellt werden: Der ungetaufte Partner ist von der Gewissenspflicht und dem Versprechen des katholischen Partners unterrichtet. Er unterzeichnet das Versprechen nicht aus folgenden Gründen: ...“ (ABl. ÖBK 2/1984, S. 16–17 Nr. 2b). 37
Dekret der ÖBK über die rechtliche Ordnung religionsverschiedener Eheschließungen, Nr. 3c. 38
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christen und Muslime in Deutschland (Arbeitshilfen 172), Bonn 2003, S. 196: „Gespräche mit dem katholischen und muslimischen Partner sollen möglichst früh vor einer Eheschließung geführt werden, damit Entscheidungen nicht unter Zeitdruck, sondern wohlüberlegt getroffen werden können. Spätestens im notwendigen Ehevorbereitungsgespräch werden die spezifischen Probleme einer katholisch-islamischen Ehe und die unterschiedlichen Vorstellungen von Katholiken und Muslimen in Bezug auf das Eheverständnis (Einehe, Unauflöslichkeit) und die Ehepraxis (Rolle der Frau, Kindererziehung) angesprochen werden müssen“. 39
Die im Auftrag der DBK erfolgte Übersetzung des CIC gibt finis in c. 1125, 3° CIC mit Zweck wieder. Auch mehrere Kommentatoren (Sebott, Das neue kirchliche Eherecht [Anm. 7], S. 193; Hans Heimerl / Helmuth Pree, Kirchenrecht, Allgemeine Normen und Eherecht, Wien / New York 1983, S. 252; Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. 2, Paderborn u. a. 1997, S. 37) und Autoren (Ganster, Religionsverschieden-
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schaften der Ehe unterrichtet werden, die von keinem Partner ausgeschlossen werden dürfen40. Diese Aufgabe fällt dem vorbereitenden Seelsorger zu, der als Theologe über die notwendigen theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen verfügen muss41. Zunächst wäre darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren die Eheschließungen zwischen Christen und Muslimen zwar zugenommen haben, aber auch deutlich wurde, dass religionsverschiedene Ehen stärkeren Belastungen ausgesetzt und im höheren Maße vom Scheitern bedroht sind als andere Eheschließungen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich zugleich um binationale interkulturelle Ehen handelt42. Sodann wären die diesbezüglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Religionen darzulegen. Schließlich ist das nach c. 1096 CIC (c. 819 CCEO) verlangte Mindestwissen über die Ehe zu vermitteln, nämlich dass die Ehe eine dauerhafte Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau ist, die auf Nachkommenschaft durch coitus hingeordnet ist43. Damit ist lediglich der naturrechtliche heit als Ehehindernis [Anm. 15], S. 296; Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslimen [Anm. 21], S. 117) sprechen bezüglich dieses Kanons von Zwecken. Das mag richtig übersetzt sein, ist aber insoweit unglücklich, weil Zweck die Ehezweckhierarchie des can. 1013 § 1 CIC/1917 in Erinnerung bringt, diese aber durch das gewandelte Eheverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils überholt ist. Angemessener wäre es hier sicherlich von Zielen zu sprechen. 40 Alle, die in der katholischen Kirche eine Ehe schließen wollen, müssen die wesentli chen Elemente oder Ziele sowie die wesentlichen Eigenschaften der Ehe bejahen, weil der Ausschluss auch nur eines nach c. 1101 § 2 CIC zur Ungültigkeit der Ehe führen würde. 41 Als Informationsmaterial stehen u. a. zur Verfügung: Thomas Angehrn / Werner Weibel, Christlich-islamische Partnerschaften. Pastorale Handreichung der katholischen Kirche in der Schweiz, hrsg. von der Schweizerischen Katholischen Arbeitsgemeinschaft für Ausländerfragen (SKAF), Luzern 1999; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christen und Muslime in Deutschland (Arbeitshilfen 172), Bonn 2003; Ausschuss „Islam in Europa“ des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), Die christlich-islamische Ehe, dt. in: CIBEDO. Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 11 (1997), S. 1–24; Referat für Interreligiösen Dialog des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln (Hrsg.), Katholisch-islamische Ehen. Eine Handreichung, Köln ³2006. 42
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christen und Muslime in Deutschland, S. 186; Cosmo Francesco Ruppi, Art. Religionsverschiedene Ehe, in: Lexikon Familie. Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fra gen, hrsg. vom Päpstlichen Rat für die Familie, Paderborn 2003, S. 651–657, hier 652. 43 Ohly (Die Eheschließung zwischen Katholiken und Muslimen [Anm. 36], S. 554) bezweifelt, dass „aufgrund des islamischen Eheverständnisses, Einheit und Dauercharakter der Ehe von einem Muslim allgemein gewusst und im konkreten Fall anerkannt werden, insbesondere da, wo Vielehe und jederzeitige Ehescheidung möglich sind. Sinn -
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Grundbestand dessen, was Ehe nach dem Kirchenrecht wesentlich ausmacht, umschrieben, wie Karl-Heinz Selge festhält44. Aber dieses Wissen allein kann in einer katholisch-islamischen Ehe nicht ausreichend sein. Insbesondere sind die Wesenseigenschaften der Ehe (c. 1056 CIC) deutlich hervorzuheben 45. Für das Zustandekommen einer Ehe ist unabdingbar wichtig, dass der Konsens (JaWort) die Ehe konstituiert, der durch keine menschliche Macht ersetzt werden kann (c. 1057 § 1 CIC) sowie, dass dieser Ehekonens ein Willensakt ist, indem sich Mann und Frau in einem unwiderruflichen Bund gegenseitig schenken und annehmen, um eine Ehe zu gründen (c. 1057 § 2 CIC). Dabei ist das Wissen un erlässlich, dass eine religionsverschiedene Ehe nicht sakramental ist, woraus sich liturgische Folgerungen ziehen lassen. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass diese Ehen kanonische Ehen sind, die unbestreitbar eine religiöse und kirchliche Bedeutung haben und sich dadurch von reinen zivilen Verbindungen abheben 46. Gelegentlich wird vorgeschlagen, dass bireligiöse Paare einen notariellen Ehevertrag schließen sollen47. Das kann insbesondere bei bikulturellen Ehen sinnvoll sein. Darin kann z. B. die Religionsfreiheit der Ehegatten, Treue und Monogamie, Kinder, wirtschaftliche Beziehungen, Kleidervorschriften, berufliche Tätigkeit, Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod sowie Erbschaft, Tod und Begräbnis geregelt werden48. Sollte das Paar in ein muslimisch geprägtes Land ziehen, dann kann es, trotz einer Bezugnahme auf das internationale Privatrecht, manchmal schwierig sein, dass Rechte bzw. Pflichten aus einem solchen Vertrag eingefordert oder geleistet werden können, insbesondere was voll erscheint es deshalb vom muslimischen Partner eine verbindliche Erklärung einzufordern, mit der er die bevorstehende Ehe in ihrer Einheit und als Verbindung auf Dauer bejaht sowie gleichzeitig die Polygamie für sich ausschließt.“ 44
Karl-Heinz Selge, Art. Ehemindestwissen, in: LKStKR I, S. 521–522, hier 521.
45
Paulo Barbero, Il matrimonio tra Christiani e Musulmani. Fenomenologia di un incontro e di confronto tra diritto canonico e diritto islamico, in: Veritas et Ius 1 (2010) S. 77–105, bes. 93–97. 46 Alberto Perlasca, La sacramentalità del matrimonio contratto con dispensa dall’impedimento di disparitas cultus, in: QDE 24 (2011), S. 286–302, hier 301. 47
Sami Aldeeb, Ehen zwischen schweizerischen und muslimischen Partnern. Konflikte erkennen und ihnen vorbeugen (mit Mustervertrag in fünf Sprachen), Lausanne 42003. Der Autor weist daraufhin, dass in einigen muslimischen Staaten z. B. Ägypten die Eheschließung in einem Dokument festzuhalten ist bzw. von einer Behörde registriert wer den muss. Auch der Koran (Sure 2:282) empfiehlt ausdrücklich, Vereinbarungen schriftlich festzuhalten. 48
Aldeeb, Ehen zwischen schweizerischen und muslimischen Partnern, Muster-Ehevertag, deutsch S. 42–44.
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die Frage des religiösen Bekenntnisses der Kinder und deren Erziehung angeht. Auch eine kirchenrechtliche Problematik ist mit einem Ehevertrag bei katholisch-islamischen Ehen verbunden, denn er kann als ein Indiz gegen die Unauflöslichkeit der Ehe betrachtet werden. Aber immerhin trägt eine solche Vereinbarung dazu bei, die Brautleute auf die Problematik aufmerksam zu machen 49. Sind alle der in c. 1125 CIC genannten Bedingungen erfüllt, kann der Ortsordinarius vom Hindernis der Religionsverschiedenheit dispensieren. IV. Die kanonische Eheschließungsform In c. 1129 CIC wird geregelt, dass die unmittelbar vorausgehenden Bestimmungen cc. 1127 und 1128 CIC auch auf Ehen anzuwenden sind, denen das Hindernis der Religionsverschiedenheit entgegensteht (c. 1086 § 1 CIC). Damit gilt für diese Ehen nichts anderes als für jede andere Eheschließung, an der Katholiken beteiligt sind, nämlich die Bindung an die kanonische Eheschließungsform. Kanon 1127 § 1 CIC (c. 834 § 2 CCEO) verweist seinerseits auf c. 1108 CIC (c. 828 CCEO) zurück, wonach nur jene Ehen gültig sind, die unter Assistenz des Ortsordinarius oder des Ortspfarrers oder eines von den beiden delegierten Priesters oder Diakons sowie vor zwei Zeugen geschlossen werden. Die Gründe, die für die Formpflicht sprechen, sind im Wesentlichen dieselben, die für die Formpflicht im Falle der Eheschließung zwischen Katholiken angeführt werden können. Denn durch die kanonische Eheschließungsform wird die Ehe in ihren Wesenseigenschaften und in ihrem sakramentalen Charakter geschützt50. Außerdem wird durch die Formpflicht nicht nur die Beteiligung der Seelsorger bei der Eheschließung erleichtert, sondern auch das Wesen der Ehe zum Ausdruck gebracht. Sollten große Schwierigkeiten der Beachtung der kanonischen Eheschließungsform auftreten, kann der Ortsordinarius im Einzelfall davon dispensieren (c. 1127 § 2 CIC)51. Allerdings wird in dieser Norm die Einhaltung irgendeiner 49
Aldeeb, Ehen zwischen schweizerischen und muslimischen Partnern, ebd., S. 6.
50
Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslimen (Anm. 21), S. 118–119; Giuseppe Terraneo, Dispensa dalla forma canonica e celebrazione dei matrimoni misti, in: QDE 3 (1992), S. 296–308, hier 297. 51
Das Ehevorbereitungsprotokoll der DBK gibt unter Nr. 23 f. einige Dispensgründe vor, die allgemein als schwerwiegend anerkannt sind, z. B. schwerer, auf andere Weise nicht lösbarer Gewissenskonflikt der Partner; unüberwindlicher Widerstand des nichtkatholischen Partners gegen die kanonische Eheschließung; Ablehnung der kanonischen Eheschließung seitens der Angehörigen eines Partners; Gefahr, dass die Partner in kirchlich ungültiger Ehe zusammenleben. Es können in einer speziellen Zeile noch weitere
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öffentlichen Form verlangt. Darunter wird man jene Eheschließungsformen zu verstehen haben, die später beweisbar sind. Das geltende Ehevorbereitungsprotokoll der DBK sieht hier die Heirat in einem Gotteshaus einer anderen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft sowie nur eine standesamtliche Trauung vor52. Wenn die kirchliche Eheschließung nicht in der Diözese des Ortsbischofs des katholischen Partners stattfindet, muss der Ortsordinarius des Ortes, an dem die Trauung erfolgt, angehört werden (c. 1127 § 2 CIC) 53. Ob diese Anhörung zur Gültigkeit gefordert ist, ist momentan noch strittig54. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass verschiedene kirchliche Institutionen vorschlagen, dass bei katholisch-islamischen Ehen unter Berücksichtigung von örtlichen und personellen Gegebenheiten anstelle einer Gründe vorgebracht werden. Darüber hinaus nennt die ÖBK (ABl. ÖBK Nr. 11/1994, S. 4) noch: „verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehung zum akatholischen Amtsträger; der Umstand, dass die Ehe im nichtkatholischen Umfeld geschlossen wird“. Die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) anerkennt noch folgenden Dispensgrund: „Wenn es für den nicht-katholischen Partner schwer ist, einer katholischen Eheschliessung zuzustimmen und wenn eine Dispensgewährung gleichzeitig eine Erleichterung für den katholischen Partner bedeutet, seiner Kirche treu zu bleiben und seinen Einfluss in der Ehe gemäß seiner Verpflichtung auszuüben“ (SKZ 158 [1990], S. 53). 52 Ehevorbereitungsprotokoll der DBK Nr. 23 f.; Die ÖBK (ABl. ÖBK 11/1994, S. 4), hat folgende Regelung getroffen: „Es ist darauf zu drängen, daß die Trauung nach gegebener Dispens in einem Gotteshaus stattfindet, und zwar, sofern ein Gotteshaus der anderen Religionsgemeinschaft vorhanden ist, in diesem Gotteshaus und vor dem Seelsorger der anderen Glaubensgemeinschaft“. Kurz und knapp dekretiert die SBK in ihrer Partikularnorm aus dem Jahre 1990 (SKZ 158 [1990], S. 53) zu c. 1127 § 2 CIC: „Die Dispens wird nur erteilt, wenn die Eheschliessung in öffentlicher Form geschieht (religiöse nicht-katholische Trauung – Ziviltrauung)“. Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 39), S. 254; Sebott, Das neue kirchliche Eherecht (Anm. 7), S. 198. 53
Die Schweizerische Bischofskonferenz hat mit Wirkung vom 26. Februar 1990 zum Zusammenwirken der Ordinarien eine Erklärung zu c. 1127 § 2 CIC verfasst: „Nachdem die Kriterien für die Dispenserteilung geregelt sind, wird sich auch die in c. 1127 § 2 CIC geforderte Befragung des Ordinarius des Eheschliessungsortes im Einzelnen gestalten lassen. Die praktische Handhabung dieser in c. 1127 § 2 CIC geforder ten Anhörung des Ordinarius wird von Fall zu Fall unter den Ordinarii entschieden. Eine diesbezügliche Regelung in der Form einer Partikularnorm wird von der Bischofskonfe renz als nicht notwendig erachtet“ (Schweizerische Kirchenzeitung 158 [1990], S. 53). 54 Vgl. Martin Brunnbauer, Ist die Anfrage an den Ordinarius des Eheschließungsortes zur Gültigkeit des Dispens gemäß c. 1127 § 2 CIC erforderlich?, in: Salus Animarum Suprema Lex, FS für Offizial Max Hopfner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Kaiser / Ronny Raith / Peter Stockmann (AIC 38), Frankfurt a. M. 2006, S. 101–115.
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kirchlichen Trauung eine zivile Eheschließung ohne Wahrung der Bedingungen von c. 1127 § 2 CIC oder ein faktisches Zusammenleben vorzuziehen sei. Hier ist die Note einer Kommission der Belgischen Bischofskonferenz zu erwähnen. Darin wird einem Katholiken vorgeschlagen, der seinen Glauben nicht mehr praktiziert und auch nicht bereit ist, die Charakteristika der christlichen Ehe anzuerkennen, bloß eine Zivilehe einzugehen55. Die Bischöfe der nordafrikanischen Region erteilen in einem Dokument der in kirchlichen Kreisen vorherrschenden Tendenz eine Absage, nach der bireligiösen Ehen wegen der bestehenden Schwierigkeiten die Zivilehe als ein einfacherer Weg empfohlen wird, der offen bleibt für eine spätere kirchliche Heirat. Die Bischöfe heben hervor, dass diese Ehen der Unterstützung und Begleitung bedürfen. Denn in einem muslimischen Umfeld wie in Algerien, Tunesien und Marokko, wo der katholische Partner einen Muslim heiraten will, kommt es nicht selten vor, dass dieser die shahada aussprechen muss; wo in sehr vielen Fällen die Kinder islamisch erzogen werden und gesellschaftlich als Muslime gelten; wo die kirchliche Heirat die Nichtigkeit der Ehe aus muslimischer Sicht mit sich bringen kann, da muss den Ehepartnern mit einer Aufmerksamkeit begegnet werden, die von einer evangeliumsgemäßen Haltung geprägt ist56. Im Hinblick auf die Entscheidung eines Paares gegen die Eheschließung mit Dispens vom Hindernis der Religionsverschiedenheit ist dem Guide pastorale de mariages islamo-chrétiens des kanadischen Zentrums für Ökumene zu entnehmen, dass die Partner gegenwärtig nur mit der zivilen Heirat vorlieb nehmen oder an ein einfaches Zusammenleben denken. Auch wenn dieser Weg nicht dem von der Kirche dargelegten Ideal entspricht, kann ein Begleiter dem Paar helfen, für eine spätere kirchliche Trauung offen zu bleiben, sollten sich die Bedingungen ändern57. 55 Conférence Episcopale de Belgique, Commission interdiocesaine pour les relations avec l’Islam, Note Les mariages islamo-chrétiens (Brüssel 1983) Nr. III, C, 2, p.11: „Il peut arriver que le mariage religieux ne soit pas indiqué, en particulier lorsque la partie chrétienne a abandonné toute pratique religieuse et se montre peu disposée à reconnaître les caractéristiques du mariage chrétien. Dans pareils cas, où les échecs s’avèrent nom breux, il est préférable de se contenter du seul mariage civil“ (zit. nach: Il matrimonio tra cattolici ed islamici, S. 211–222, hier 219). 56 Conférence des Evêques de la Rêgion de l’Afrique, Pastorale des foyers mixtes, Algier 14–17 novembre 1998, p. 3, zit. nach: Agostino Montan, Disciplina canonica particolare circa il matrimonio tra cattolici ed islamici, in: Il matrimonio tra cattolici ed isla mici, S. 119–157, hier 145–146. 57 Centre Canadien d’Oecuménisme, Guide pastorale des mariages entre islamo-chrétiens, p. 36, n. 114 : „Alors si le couple désire quand même vire ensemble, il serait souhaitable que l’accompagnateur continue à cheminer avec eux, s’il le désirent, et pourrai-
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Auch Urbano Navarrete favorisiert die Ansicht, bireligiösen Partnern aus pastoralen Gründen nur eine Zivilehe nahezulegen 58. Ohne Zweifel bedürfen religionsverschiedene Ehen in besonderer Weise der pastoralen Begleitung. Den Verzicht auf eine kirchliche Trauung offiziell zu befürworten, ist problematisch und löst das Problem nicht, sondern verlagert es nur von der kirchenrechtlichen auf die pastorale Ebene. Deshalb ist mit Elke Freitag kritisch zu fragen, „ob der katholische Partner in der unbefriedigenden Situation einer nach kanonischem Recht nicht gültigen Ehe zurückgelassen werden kann, in der man sich kirchlicherseits außerdem der Möglichkeit beraubt, ihm pastoral (beispielsweise innerhalb der Ehevorbereitung), die Hilfe zu geben, die er gerade in dieser Lage benötigt und zu der die Bischofskonferenzen auch auffordern. Denn gerade die bireligiösen Eheleute werden im Verlauf der Ehevorbereitung, aber auch später in der Ehe lernen müssen, was es heißt, „seinen Glauben in einer Ehe zu leben“59. Ob eine reine Zivilehe oder ein faktisches Zusammenleben dazu beiträgt, die Glaubenspraxis in einer religionsverschiedenen Ehe zu bewahren und
ent par exemple considérer pour le moment un mariage civil, sans bénédiction officielle de l’Église ou encore penser à une simple cohabitation sans mariage officiel. Même si ces autres voies ne correspondent pas à l’Idéal évangélique présenté par l’Église, l’accompagnateur pourra aider le couple à rester ouverts à une bénédiction officielle de l’Église plus tard, si les conditions changent“ (zit. nach: Il matrimonio tra cattolici ed islamici, S. 357–443, hier 383). 58 Navarrete, L’impedimento di „disparitas cultus“ (Anm. 30), S. 107–137, hier 131: „Alle volte sarà pastoralmente preferibile tollerare il matrimonio civile piuttosto che concedere il matrimonio canonico che metterebbe la parte cattolica in una situazione coniugale irreversibile.“ 59 Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslime (Anm. 21), S. 136; dies., Donne e diritti. In caso di matrimoni tra cattolici e musulmani, in: Annuario DiReCom 5 (2006), S. 153–171, bes. 168–171. Zum Leben des Glaubens in der Ehe schreibt Papst Johannes Paul II. in dem Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute vom 22. November 1981: „Es bedarf einer fortgesetzten, ständigen Bekehrung, die, obwohl sie die innere Loslösung von allem Bösen und die Annahme des Guten in seiner Fülle erfordert, sich konkret in Schritten voll zieht, in einem dynamischen Prozeß von Stufe zu Stufe entsprechend der fortschreitenden Hereinnahme der Gaben Gottes und der Forderungen seiner unwiderruflichen und absoluten Liebe in das gesamte persönliche und soziale Leben des Menschen. Ein erzieherischer Weg des Wachsens ist also nötig, damit die einzelnen Gläubigen, die Familien und die Völker, ja die ganze Kultur von dem, was sie vom Geheimnis Christi bereits angenommen haben, geduldig weitergeführt werden, um zu einer reicheren Kenntnis und einer volleren Einbeziehung dieses Geheimnisses in ihr Leben zu gelangen“ (FC Nr. 9, in: AAS 74 [1982], S. 82–191, hier 90; VApSt 33, S. 13).
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zu intensivieren oder ob sie nicht vielmehr dem Indifferentismus Vorschub leistet, steht zu fragen. Da die Dispens von der kanonischen Eheschließungsform vor allem mit Blick auf die konfessionsverschiedenen Paare eingeführt wurde, ist mit Susanne Ganster zu klären, ob im Falle einer bireligiösen Ehe die Trauung vor einem Kultdiener einer anderen Religion als öffentliche Form angesehen werden kann60. Eine Antwort auf diese Frage wird in jedem Land anders ausfallen, denn sie setzt voraus, dass ein Regelungsbedarf besteht, so dass es auf der teilkirchlichen Ebene entsprechende Regelungen gibt, die den jeweiligen Verhältnissen angepasst sind. Allerdings ist in Deutschland eine katholisch-islamische Heirat vor einem muslimischen Religionsdiener, nach gewährter Dispens von der kanonischen Eheschließungsform, noch nicht möglich. Denn gemäß dem Islamischen Zentrum Hamburg ist eine Bedingung für eine islamische Eheschließung, dass beide Partner Muslime sein müssen 61. Auch ist nicht klar, ob eine solche Eheschließung eine andere öffentliche Form darstellt, zumal die Bischofskonferenzen im deutschsprachigen Raum in ihren Partikularnormen andere Bestimmungen getroffen haben. Dagegen haben die französische, die italienische und die spanische Bischofskonferenz diesbezüglich spezielle Regelungen getroffen. Das Dossier sur les mariages islamo-chrétiens der französischen Bischofskonferenz spricht sich gegen die reine Zivileheschließung aus, weil sie dazu neigt, die gesellschaftliche Sichtbarkeit der Ehe zu vermindern und das Risiko mit sich bringt zu glauben, es handle sich um eine Ehe zum Rabattpreis, weil sie ohne Priester, ohne Kirche geschlossen wird und so der Wert der eingegangenen Verpflichtungen minimiert wird62. Daher sehen die französischen Bischöfe eigentlich nur zwei Möglichkeiten für eine solche Heirat: entweder die kirchli60
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Islamisches Zentrum Hamburg, Bedingungen und Unterlagen für eine islamische Eheschließung: 1. Beide Partner müssen Muslime sein, 2. Wenn es sich um eine erste Eheschließung handelt, muss das Einverständnis des Vaters vorhanden sein, 3. Falls einer der Partner bereits verheiratet war, muss das Scheidungsurteil vorliegen, 4. Vollmachtsformulare müssen ausgefüllt sein, 5. Unterschrift der Heiratsurkunde in zweifacher Ausführung (zit. nach: www.izhamburg.com/dienstleistungen/eheschliessung.php (Zugriff am 6. 12. 2013]). 62
Conférence Episcopale Française, Secrétariat pour les Relations avec l’Islam, Dossier sur les mariages islamo-chretiéns, Paris ³1995: La mariage civil „est à éviter. Elle tend à diminuer la visibilité social du mariage. Elle entraîne le risque de laisser subsister l’idée qu’il s’agit d’un mariage au rabais puisqu’il n’y a ni prêtre ni église, et, de ce fait, minimiser la valeur des engagements pris“ (zit. nach : Il matrimonio tra cattolici ed islamici, S. 271–315, 295.
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che Eheschließung oder die Heirat nach muslimischen Modalitäten 63. Sollte das Paar dennoch für eine nicht religiöse Eheschließung votieren, sieht die französische Bischofskonferenz vor, dass man in einer Gebetsversammlung die Religionsverschiedenheit noch einmal ins Gedächtnis ruft 64. Entsprechend der Regelung der Bischöfe Spaniens kann eine bireligiöse Ehe vor einem katholischen Geistlichen, vor einem muslimischen Religionsdiener oder in ziviler Form geschlossen werden65. In Italien führen die Gründe zu einer Dispens von der kanonischen Eheschließungsform, die die persönlichen Bedürfnisse des nichtkatholischen Teils betreffen, z. B. das Verwandtschafts- oder Familienverhältnis mit dem nichtkatholischen Amtsträger, die Einwände, die er im Familienkreis erfährt, die Tatsache, dass die Ehe im Ausland geschlossen werden muss, in nichtkatholischen Kreisen und ähnliches66. Anschließend legt die Italienische Bischofskonferenz fest, dass diese Ehen – unbeschadet spezieller Vereinbarungen mit christlichen Konfessionen – vor einem rechtmäßigen Religionsdiener geschlossen werden, aber es soll nicht einzig eine zivile Trauung stattfinden. Das geschieht, um den religiösen Charakter der Ehe hervorzuheben 67. Eine gewisse Ausnahmestellung nimmt offensichtlich die Istruzione I matrimoni tra 63 Montan, Disciplina canonica particolare circa il matrimonio tra cattolici ed islamici (Anm. 56), S. 119–157, hier 150. 64 Montan, Disciplina canonica particolare circa il matrimonio tra cattolici ed islami ci, ebd., S. 119–157, hier 150: „Nel caso non arrivi al matrimonio religioso, la Conferenza francese chiede che si provveda con una riunione di preghiera richiamando i diversi punti sottolineati per la celebrazione del matrimonio con disparità di culto.“ 65 Conferencia Episcopal Espagñola, Commission Episcopal de Relaciones Interconfesionales, Orientaciones para la celebraciones en Espagña vom 23. 9. 1987, Nr. V, 6: „Celebración del matrimonio con dispensa de la forma canónica, el matrimonio sea celebrado en la forma pública exigida poe el c. 1127 § 2, la celebración puede hacerse ante la autoridad competente tanto de la parte musulmana como de la parte católica o ante la autoridad civil, en la forma civilmente prescrita“ (zit. nach: Il matrimonio tra cattolici ed islamici, S. 223–239, hier 237). Vgl. dazu Javier Ferrer Ortiz, Libertad religioso canónico entre catolica y musulmán. Religious freedom and immigration: canonical Marriage between catholic woman and Muslim men, in: JC 51 (2011), S. 547–585. 66
Conferenza Episcopale italiana, Decreto generale sul matrimonio canonico vom 5. November 1990, Nr. 50: „Le motivazioni che giustificano la dispensa sono, particolarmente, quelle relative al rispetto delle esigenze personali della parte non cattolica, quali ad esempio, il suo rapporto di parentela o di amicizia con il ministro acattolico, l’opposizione che incontro nell’ ambito familiare, il fatto che il matrimonio dovrà essere celebra to all’ estero, in ambiente non cattolico, e simili ministro di culto, e non il solo rito civile, stante la necessità di dare risalto al carattere religioso del matrimonio“ (zit. nach: www.chiesacattolica.it/cci_new/documenti_cei/2009-01/29-26/decreto_matrimonio_can. pdf (Zugriff am 4. 7. 2013).
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cattolici e musulmani der Diözese Brescia68 ein. Nach dieser gilt als öffentliche Form (c. 1127 § 2 CIC) die Ziviltrauung, sei sie in Italien oder im Ausland geschlossen, die Feier der Eheschließung entsprechend der muslimischen Modalitäten, ob diese im Land, in der die Ehe geschlossen wird, anerkannt wird oder nicht und ob sie nach allen Normen des islamischen Rechts vollzogen wird oder nicht69. Damit dürfte die letzte wohl die weitgehendste Regelung sein. Sicherlich zu Recht rät Heinrich J. F. Reinhardt wegen unwägbarer Folgen von einem Eheabschluss ohne Ziviltrauung nur nach dem Religions- oder Gewohnheitsrecht des nichtkatholischen Partners ab70. V. Das Verbot der religiösen Doppeltrauung Das Verbot der religiösen Doppeltrauung wird in c. 1127 § 3 CIC (c. 839 CCEO) statuiert. Gemeint ist damit, dass vor oder nach der kanonischen Eheschließung eine weitere religiöse Feier mit Konsensleistung verboten ist. Dabei geht es dem kirchlichen Gesetzgeber darum, dass unmissverständlich klar ist, wo und wann das Brautpaar seine Ehe begründen will. Während sich für Ehen unter Christen die religiöse Doppeltrauung aus ökumenischen Gründen verbietet, denn sie würde das Trennende über Gebühr betonen bzw. die andere Konfession nicht ernst nehmen71, erwähnt Reinhild Ahlers hinsichtlich der bireligi67 Conferenza Episcopale italiana, Decreto generale sul matrimonio canonico vom 5. November 1990, Nr. 50: „Fermo restando quanto disposto dal can. 1127 § 2, di norma – salvo che sia disposto diversamente da eventuali intese con altre confessioni cristiane –, si richieda che le nozze siano celebrate davanti a un ligittimo ministro di culto, e non il solo rito civile, stante la necessità di dare risalto al carattere religioso del matrimonio“ (zit. nach: www. chiesacattolica.it/cci_new/documenti_cei/2009-01/29-26/decreto_matrimonio_can.pdf (Zugriff am 4. 7. 2013). 68 Wegen der zahlreichen Immigranten muslimischen Glaubens in der Diözese Brescia sah sich der Bischof veranlasst, gestützt auf Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (LG 16, NA 2 sowie Dignitatis humanae) spezielle Regelungen für die Ehen zwischen Katholiken und Muslimen zu erlassen. 69 Diocesi di Brescia, Istruzione I matrimoni tra cattolici e musulmani vom 24. Juni 1994: „Le celebrazioni che rispettano tale generica condizione apposta dal Codice possono essere: – la celebrazione ‚civile‘ del matrimonio di fronte all’ ufficiale di stato civile (il cosidetto ‚matrimonio civile‘) sia in Italia sia estero; – la celebrazione secondo la modalità musulmano, sia essa riconosciuta o no dallo Stato in cui si celebra, sia essa effettuata o no secondo tutte le norme del diritto islamico“ (zit. nach: Il matrimonio tra cattolici ed islamici (Anm. 31), S. 241–269, hier 254). 70
Reinhardt, Die kirchliche Trauung (Anm. 14), S. 103, Rdnr. 254.
71
Zapp, Kanonisches Eherecht (Anm. 11), S. 206.
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ösen Ehen einen möglichen Ausnahmefall. „Denn in diesen Fällen gibt es keinen Ritus für eine gemeinsame Trauung, so dass bei dem nichtkatholischen Partner einer solchen Ehe der Wunsch entstehen kann, seine Ehe auch vor seinem Religionsdiener schließen zu wollen. Aber auch hier gilt: Nur die in der kanonischen Form geschlossene Ehe ist eine gültige Ehe. Eine Dispens von der Eheschließungsform wäre möglich. Vor die Alternative gestellt, eine solche Ehe in der kanonischen Form zu schließen oder vor einen Religionsdiener, dessen Ritus möglicherweise vollkommen unbekannt oder aber der katholischen Kirche fremd ist, wäre jedoch die kanonische Form in jedem Fall vorzuziehen, was zur Folge haben könnte, dass vor oder nach der Eheschließung eine andere religiöse Feier stattfindet, wenn der nichtkatholische Partner darauf Wert legt oder dies zur Gewissensberuhigung braucht. Da dies in keinem Fall eine Eheschließung im kirchenrechtlichen Sinn ist und damit der katholischen Kirche auch nicht die Zuständigkeit für das Sakrament der Ehe nimmt, kann ein solches Vorgehen toleriert werden“72. Ebenfalls ist die Simultantrauung verboten, wonach bei gleichzeitiger Anwesenheit eines katholischen Assistens sowie eines nichtkatholischen Religionsdieners, jeder vom Partner seines Bekenntnisses den Konsens erfragt und entgegennimmt. Denn es muss klar bleiben, welcher Ritus zur Anwendung kommt. Auch wenn diese Norm eindeutig auf die konfessionsverschiedene Ehe gerichtet ist73, sind die religionsverschiedenen Ehen ebenfalls von c. 1127 § 3 CIC betroffen, da c. 1129 CIC auf c. 1127 CIC gesamthaft zurückverweist. Damit wäre es nicht nur denkbar, sondern auch möglich, dass anlässlich einer solchen Heirat, die im Rahmen eines Wortgottesdienstes in der katholischen Kirche stattfindet, ein Geistlicher einer anderen Religionsgemeinschaft anwesend ist, aber der katholische Amtsträger den Konsens erfragt und entgegennimmt. Mit Blick auf die Zukunft wäre für diese Ehen eine zu Nr. 157–158 des Ökumenischen Direktoriums74 analoge Regelung ein Desiderat.
72 Reinhild Ahlers, Das Verbot der Doppeltrauung. Anmerkungen zu c. 1127 § 3 CIC, in: Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. FS für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (BzMK 55), hrsg. von Dominicus M. Meier OSB u. a. Essen 2008, S. 1–11, hier 8. 73 74
Vgl. Friederike Schirmer, Art. Doppeltrauung, in: LKStKR I, S. 473–474.
Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus, in: AAS 85 (1993), S. 1040–1119, hier 1095: Nr. 157 handelt davon, dass es einem katholischen Geistlichen erlaubt werden kann, an einer religiösen Form der Eheschliessung in einer anderen christlichen Kirche und kirchlichen Gemeinschaft teilzunehmen. Im Gegenzug soll es möglich sein, dass ein Amtsträ-
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VI. Die liturgische Form der Eheschließung Was die liturgische Form der Eheschließung bei katholisch-islamischen Ehen angeht, ist wiederum festzuhalten, dass diese nichtsakramentale Ehen sind. Deshalb kann es bei diesen auch keine communicatio in sacris geben, wohl aber die weiter gespannte communicatio in spiritualibus. Das hat Auswirkungen auf die liturgische Form der Eheschließung. Denn es gibt keinen gemeinsamen Ritus, der bei einer bireligiösen Ehe Anwendung finden könnte. Möglich ist eine katholische Eheschließung eines religionsverschiedenen Paares. Hierfür steht das im deutschsprachigen Raum verwendete Rituale „Die Feier der Trauung“75 zu Verfügung, das unter der Überschrift „Die Trauung zwischen einem Katholiken und einem nichtgetauften Partner, der an Gott glaubt“ eine diesbezügliche Eheschließung in einem Wortgottesdienst vorsieht76. Als Ort einer halbchristlichen Eheschließung kommt eine Kirche oder ein anderer geeigneter Ort in Frage (c. 1118 § 3 CIC). Was mit einem anderen geeigneten Ort gemeint sein könnte, wird nicht näher spezifiziert. In der Regel findet eine solche Eheschließung im Rahmen einer Wortgottesfeier statt. Sollte eine Brautmesse gewünscht werden, dann ist das beim Generalvikariat / Ordinariat besonders zu beantragen77. Eine derartige Entscheidung wird die Disposition und die Situation der Brautleute zu berücksichtigen haben78. Wenn alle Bedingungen, die zur Erlaubtheit und Gültigkeit einer Eheschließung gefordert, erfüllt sind (c. 1066 CIC; c. 785 CCEO), dann steht auch der Trauung eines religionsverschiedenen Paares nichts mehr im Wege.
ger einer anderen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft an einer katholischen Trauung teilnehmen und dabei gewisse liturgische Aufgaben übernehmen kann (Art. 158). 75 Die Feier der Trauung in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg, Freiburg i. Brsg. u. a. 21993. 76 Die Feier der Trauung, S. 79–96; daneben gibt es eine Form für die Eheschließungen mit nicht an Gott glaubende Menschen (S. 97–111). 77 78
Vgl. Ehevorbereitungsprotokoll der DBK, Anmerkungstafel Nr. 19.
Vgl. Alessandro Giraudo, Rito del matrimonio tra una parte cattolica e una parte catecumena e non christiana, in: QDE 19 (2006), S. 261–271.
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VII. Zusammenfassende Thesen – Christen und Muslime sind vom Zweiten Vatikanischen Konzil eingeladen, einander mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen („cum aestimatione“, Vat. II., Nostra Aetate 4), miteinander zu kooperieren und auch den interreligiösen Dialog zu pflegen. – Das menschliche Grundrecht der Religionsfreiheit, das eigentlich auch im Koran (Sure 2:256 „In Sachen Religion gibt es keinen Zwang“) steht, aber in einigen islamisch geprägten Ländern nicht gewährt wird, ist einzufordern. Falls es Christinnen und Christen in bestimmten Ländern nicht gewährt wird, sollten sie diese Praxis berücksichtigen und in ihr Vorhaben einer Eheschließung einbeziehen, allenfalls davon absehen. – Als Anregung für eine informierende Erklärung islamischer Partner über den Gehalt einer christlichen Ehe sei das Beispiel der DBK angeführt: „Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes! Im Augenblick, in dem ich mich vor Gott anschicke, eine Ehe zu gründen, erkläre ich, dass ich Muslim bin. Am Tage meiner Hochzeit will ich vor allem in völliger Freiheit mit N. N. eine echte Lebensund Liebesgemeinschaft gründen. Ich will durch diesen Akt zwischen uns ein heiliges Band stiften, welches nichts während unseres Lebens zerstören kann. Ich weiß, dass mein(e) zukünftige Gattin (Gatte) sich gemäß ihres (seines) Glaubens und der Vorschrift der Kirche zu einer monogamen und dauerhaften Ehe verpflichtet. Ich meinerseits verspreche ihr (ihm) während unseres ganzen Lebens absolute Treue und wirklichen Beistand; sie (er) soll mein(e) einziger Gatte(in) sein. Ich nehme die Kinder an, die aus unserer Ehe geboren werden. Wir wollen sie zur Ehrfurcht gegen über Gott und Mitmenschen erziehen und ihnen unser Bestes weitergeben. Obwohl ich nicht Christ bin, erkenne ich doch für mich die Lebensgrundsätze an, die auch für Christen Geltung haben, wie die Treue gegenüber Gott, den Einsatz für das Gute, und das Teilen mit den Armen. Ich verpflichte mich, den Glauben und das religiöse Leben meiner zukünftigen Gattin (meines zukünftigen Gatten) zu achten. Ich werde mich bemühen, den Geist des Christentums, den sie (er) bekennt, näher kennen zu lernen, und ich werde meine Kinder ermutigen, das gleiche zu tun. Ich glaube, dass unsere Liebe uns dazu aufruft, mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten für mehr Liebe, mehr Gerechtigkeit und mehr Frieden unter den Menschen“ 79.
– Eine religionsverschiedene Ehe ist möglich und dann sinnvoll, wenn sich beide Partner im Glauben respektieren und unterstützen. Eine Konversion ist innerhalb der abrahamitischen Religionen nicht nötig, aber möglich. – Die Frage der Taufe und der religiösen Kindererziehung sollte der religiös aktivere Teil entscheiden dürfen. 79
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christen und Muslime in Deutschland (Arbeitshilfen 172), Bonn 2003, S. 201.
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– Wünschenswert wäre es, dass von kirchlicher und muslimischer Seite die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass bireligiöse Ehen, unter Wahrung der Formvorschriften, auch in einer Moschee vor einem islamischen Religionsdiener geschlossen werden können. – Nur eine (aber nicht zwei) liturgische Feier ist bei religionsverschiedenen Ehen zu empfehlen, weil sie eine religiöse und theologische Vertiefung der Ehe erbringt.
Libertas Ecclesiae und libertas episcopi – Kirchenfinanzierung in der Deutschschweiz aus kirchenrechtlicher Sicht Libertas Ecclesiae und libertas episcopi Von Claudius Luterbacher-Maineri Claudius Luterbacher-Maineri
I. Einleitung
Der Sinn der Kirche liegt nicht im Geld. Das führt der neu gewählte Papst Franziskus schon durch die Wahl seines Namens aber auch durch viele zeichenhafte Handlungen der ganzen Welt neu vor Augen. Das franziskanische Ideal der Eigentumslosigkeit bekommt von ungeahnter Seite Aktualität. Das fordert die Kirche im 21. Jahrhundert heraus, sich auf die wesentlichen Zwecke zu besinnen und diesen alles andere unterzuordnen. Geld ist Mittel zum Zweck, niemals einzig hinreichend für das kirchliche Leben, wohl aber notwendig. Diese aktuelle Herausforderung trifft in Teilen der Schweiz auf eine in den letzten Jahren lebhaft geführte Diskussion des Verhältnisses von Kirche zu Staat bzw. des Verhältnisses von Kirche zu staatskirchenrechtlichen Körperschaften (s. u.).1 Da letztere in den Kantonen der deutschsprachigen Schweiz massgeblich die materiellen Voraussetzungen für das Leben der Kirche schaffen, gerät in dieser Diskussion das Finanzierungssystem der katholischen Kirche in diesen Regionen in den Blick. Im vorliegenden Artikel wird dieses Finanzierungssystem unter dem Blickwinkel des katholischen Kirchenrechts beschrieben und beurteilt. Leitend ist dabei die kirchenrechtliche Definition von Kirchengut, auf welches sich das kanonische Vermögensrecht ausschliesslich bezieht. Dabei wird insbesondere die Frage nach der Legitimität des Finanzierungssystems der katholischen Kirche in der Deutschschweiz aus kirchenrechtlicher Sicht gestellt.
1 Diese Diskussion verbindet den Gefeierten als Vorsitzenden der Fachkommission „Kirche und Staat in der Schweiz“ mit dem Schreibenden, mit ein Grund für die Wahl des Themas dieses Artikels.
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II. Finanzierung der katholischen Kirche in den Kantonen der Deutschschweiz Es sind zwei Arten von finanziellen Mitteln zu unterscheiden, welche die materielle Grundlage für die Erfüllung der Aufgaben der katholischen Kirche in den deutschschweizer Kantonen bilden. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung orientiert sich am Liber V des CIC/1983, nämlich an der Definition von Kirchengut in c. 1257 § 1 CIC: „Jedes Vermögen, das der Gesamtkirche, dem Apostolischen Stuhl oder anderen öffentlichen juristischen Personen in der Kirche gehört, ist Kirchenvermögen, für das die folgenden Canones sowie die eigenen Statuten gelten.“ Auf der einen Seite kommt Kirchenvermögen nach dieser Definition zum Einsatz, also etwa das Vermögen von Pfarreien oder Diözesanvermögen.2 Darüber hinaus werden kirchliche Zwecke durch Güter finanziert, die nicht als Kirchengut nach der Definition des CIC/1983 zu bezeichnen sind und für die demgemäss das kirchliche Vermögensrecht in Liber V des CIC/1983 keine Anwendung findet. Es geht also in dieser zweiten Kategorie um den direkten Einsatz von finanziellen Mitteln, die keiner kirchlichen öffentlichen juristischen Person gehören, die aber eine klare kirchliche Zweckbestimmung aufweisen. 1. Finanzierung durch Kirchengut Eine Voraussetzung, dass kirchliche Aufgaben über Kirchengut nach der Definition von c. 1257 § 1 CIC finanziert werden können, ist die Vermögensfähigkeit kirchlicher öffentlicher juristischer Personen. Der CIC/1983 proklamiert: „Die katholische Kirche hat das angeborene Recht, unabhängig von der weltlichen Gewalt, Vermögen zur Verwirklichung der ihr eigenen Zwecke zu erwerben, zu besitzen, zu verwalten und zu veräußern.“ 3 Im Kontext der Schweiz wird diese kirchenrechtliche Selbstproklamation nur dann wirksam, wenn die entsprechenden Personen auch nach zivilem Recht juristisch existieren. Denn 2 Vgl. die Definition von öffentlichen juristischen Personen gemäss CIC in c. 116 CIC. 3 Helmuth Pree betont, dass die Vermögensfähigkeit der Kirche im ius divinum naturale verankert sei, „insofern die Kirche als verfaßte menschliche Gemeinschaft das fundamentale Recht – so wie jede andere menschliche Gemeinschaft – auf jene Güter besitzt, derer sie für ihren Bestand und für die Erreichung ihrer Ziele bedarf“ (Helmuth Pree, Grundfragen kirchlichen Vermögensrechts, in: HdbKathKR 2, S. 1041–1068, hier 1054). Mit dieser Formel der Vermögensfähigkeit proklamiere die Kirche eine Klarstellung nach innen und nach aussen, etwa gegen staatliche Übergriffe in Form von Säkula risierungen kirchlicher Güter.
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Vermögensfähigkeit nach zivilem Recht setzt die rechtliche Existenz voraus. Diese4 ist für natürliche Personen nach schweizerischem Privatrecht gegeben (vgl. Art. 11 ZGB). Für juristische Personen kennt das schweizerische Privatrecht einen numerus clausus: Nur diejenigen juristischen Personen existieren, welche explizit im Recht vorgesehen sind. Nebst den im Privatrecht vorgesehenen Formen der Existenz juristischer Personen können in der Schweiz juristische Personen nach öffentlichem Recht Existenz erlangen. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch macht hierzu einen Vorbehalt für das öffentliche Recht des Bundes und der Kantone (Art. 6 und Art. 59 ZGB). Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, ob die öffentlichen juristischen Personen nach Kirchenrecht auch tatsächlich Rechtspersönlichkeit nach schweizerischem Privatrecht oder nach öffentlichem Recht besitzen. Sicherlich ist es dem kirchlichen Gesetzgeber daran gelegen, die selber proklamierte Vermögensfähigkeit auch weltlich wirksam zu verwirklichen. Gerade das kirchliche Vermögensrecht verweist oft darauf, dass die vermögensrechtlichen Rechtsakte so gesetzt werden sollen, dass sie auch zivilrechtlich wirksam werden. 5 Für die Diözesen der Schweiz weist Philippe Gardaz die zivilrechtliche Existenz nach.6 Die gleiche Frage stellt sich allerdings auch bei den anderen öffentlichen juristischen Personen nach Kirchenrecht, also etwa bei den Pfarreien. Prinzipiell haben Pfarreien die Möglichkeit, sich eine der Rechtsformen nach dem Privatrecht anzueignen (also etwa die Form des Vereins oder der privatrechtlichen Stiftung). So existieren mancherorts „kirchliche Stiftungen“ als Vermögensträger. Ihnen kommt Rechtspersönlichkeit nach zivilem Recht (Art. 87 ZGB) 7 sowie öffentliche Rechtspersönlichkeit nach kirchlichem Recht (c. 1301 § 1 n. 1 i. V. m. c. 116 CIC) zu. Hier werden allerdings nicht die Pfarreien selber zu Rechtspersonen nach zivilem Recht.
4 Vgl. im Folgenden Philippe Gardaz, La personnalité juridique des diocèses catholiques romains de Suisse, in: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht / Annuaire suisse de droit ecclésial 16 (2011), S. 31–48. 5
Vgl. z. B. die cc. 1259, 1274 § 5, 1284 § 2; 1286, 1290, 1296, 1299 § 2, 668 § 4 CIC.
6
Vgl. Gardaz, La personnalité (Anm. 4), S. 39–46.
7
Der Begriff „kirchliche Stiftung“ wird in Art. 87 ZGB, also im zivilen Recht, verwendet und bezeichnet eine eigene Form von privatrechtlichen Stiftungen. Diese zivilrechtliche Rechtsform ist nicht zu verwechseln mit Stiftungen nach kanonischem Recht, und ebensowenig mit alten kirchlichen Vermögensträgern (Stiftungen), die nach kanto nalem öffentlichen Recht anerkannt wurden. Vgl. hierzu u. a. das Rechtsgutachten von Giusep Nay an die Verwaltungskommission der Katholischen Landeskirche Graubünden vom 12. Juni 2010.
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Eine allfällige Rechtsexistenz von Pfarreien im öffentlichen Recht müsste über den Kanton begründet werden, entsprechend der Kompetenzzuteilung zur Regelung des Verhältnisses von Kirche zu Staat durch die Kantone (vgl. Art. 3 und 72 BV). Eine solche kann beispielsweise für Pfarreien im Kanton Luzern 8 oder im Kanton St. Gallen9 angenommen werden. Es ist m. E. ein Gebot der korporativen Religionsfreiheit, welche durch den Bund und die Kantone gewährleistet wird, dass Pfarreien entsprechend dem kirchlichen Selbstverständnis Rechtspersönlichkeit auch nach zivilem Recht erhalten, wo das nicht der Fall ist. Dies kann im Rahmen des kantonalen öffentlichen Rechts geschehen, was – anders als bei der Annahme einer Rechtsform nach privatem Recht – auch die innere Funktionsweise nach kirchlichem Recht gewährleistet.10 8
Vgl. hierzu § 5 Abs. 2 der Verfassung der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom 25. März 1969 (genehmigt vom Grossen Rat des Kantons Luzern am 15. September 1969): „In innerkirchlichen Belangen anerkennen Landeskirche und Kirchgemeinden die Lehre und Rechtsordnung der römisch-katholischen Kirche.“ 9 Die rechtliche Existenz katholischer Pfarreien nach öffentlichem kantonalen Recht leitet sich aus Art. 109 der Kantonsverfassung des Kantons St. Gallen ab: „Das Bistum St. Gallen […] besteht nach seinem Selbstverständnis.“ Zudem bestimmt die Verfassung des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen vom 18. September 1979 (vom Grossen Rat des Kantons St. Gallen genehmigt am 26. Februar 1980, sGS 173.5) in Art. 3 Abs. 2: „Das Bistum St. Gallen ist als öffentlich-rechtliche juristische Person anerkannt.“ 10 Zu Recht weist Urs Josef Cavelti darauf hin, dass sich bei einer allfälligen privatrechtlichen Organisation einer Pfarrei als Verein (etwa bei Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Kirchgemeinden) ebenfalls ein Dualismus einstellen würde: „Gesetzt der Fall, in der Schweiz wäre die rechtliche Trennung von Kirche und Staat vollzogen und die Kirche und ihre Angehörigen müssten sich gemäss den Normen des Privatrechts konstituieren, so würden sich grundsätzlich die gleichen Probleme stellen, die heute vorhanden sind. Auch in einem solchen Fall vermöchte die Kirche ihre eigene Struktur nicht im Privatrecht zu verwirklichen. Diözese wie Pfarrei sind nach neuem Kirchenrecht zwar als Körperschaften konzipiert. Es wäre jedoch nicht möglich, Vereinsrecht auf sie anzuwenden. Für den Verein nach ZGB unabdingbar ist die Organstellung seiner Mitgliederversammlung; unabdingbar ist auch das Recht auf Abberufung des Vorstandes. All dies ist nicht vereinbar mit der kirchenrechtlichen Pfarrei. Die Konsequenzen, die der Codex im Rechtsbereich aus der Letztverantwortung des Bischos resp. des Pfar rers festgeschrieben hat, bedeuten einen Widerspruch zur korporativen Idee des Vereins; auch schon der generelle Vorbehalt einer Zustimmung des Bischofs oder Pfarrers zu allen Finanzbeschlüssen wäre eine unzulässige Bindung. […] Obwohl das Vereinsrecht sehr flexibel ist, könnte ein Pfarreiverein nicht identisch sein mit der kirchlichen Pfar rei.“ Urs Josef Cavelti, Das Schweizerische Staatskirchenrecht und das neue kirchliche Vermögensrecht, in: Moritz Amherd / Louis Carlen (Hrsg.), Das neue Kirchenrecht. Seine Einführung in der Schweiz, Zürich 1984, S. 129–162, hier 160.
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Wo kirchliche Zwecke über Kirchengut finanziert werden, sind prinzipiell alle Rechtsakte durch Beachtung des kirchlichen Vermögensrechts (Liber V CIC/1983) zu setzen. Dieses beinhaltet insbesondere Normen über den Vermögenserwerb, die Vermögensverwaltung und die Veräusserung. Gleichzeitig sind allfällige Normen seitens des zivilen Rechts zu beachten: Aus Sicht des Zivilrechts resultieren die entsprechenden Normen aus der zivilen Rechtspersönlichkeit des jeweiligen Rechtsträgers, aus der Sicht des Kirchenrechts sind die Normen des zivilen Rechts wegen der notwendigen Gültigkeit der Rechtsakte auch nach zivilem Recht zu beachten. So werden also beispielsweise die Mittel des Diözesanvermögens der Diözese St. Gallen11 entsprechend der Bestimmungen des kanonischen Vermögensrechts erworben, verwaltet und veräussert. Der Diözesanökonom verwaltet im Auftrag des Diözesanbischofs das Vermögen, wo es vom Recht her vorgesehen ist, tritt der Vermögensverwaltungsrat in Aktion oder wird das Konsultorenkollegium gehört. Diese Struktur (Bischof, Diözesanökonom, Vermögensverwaltungsrat, Konsultorenkollegium) und die entsprechenden vom Kirchenrecht festgelegten Kompetenzen sind durch die öffentlich-rechtliche Existenz der Diözese St. Gallen nach dem Recht des Kantons St. Gallen im weltlichen Recht genau abgebildet. Das kirchliche Vermögensrecht kann hier also vollständig eingehalten werden, die Beachtung allgemeiner Normen des weltlichen Rechts zur Gültigkeit von Rechtsakten im Vermögensbereich führen zu keinen Konflikten mit dem kirchlichen Recht. Zudem schreibt das kirchliche Vermögensrecht den Vermögensverwaltern ja vor, dass sie „die Vorschriften sowohl des kanonischen als auch des weltlichen Rechts sowie alle Bestimmungen beachten [müssen], die von dem Stifter, dem Spender oder der rechtmäßigen Autorität getroffen worden sind, besonders aber verhüten [müssen], daß durch Nichtbeachtung der weltlichen Gesetze der Kirche Schaden entsteht“ (c. 1284 § 2 n. 3 CIC). Die Diözese erwirbt beispielsweise durch Schenkungen, Legate oder Spenden Vermögen, verwaltet es nach den kirchenrechtlichen Normen und setzt es für ihre eigenen Aufgaben ein, dies ebenfalls unter Beachtung der kirchenrechtlichen Normen etwa hinsichtlich des Spenderwillens etc. Der Anteil des Einsatzes von Kirchengut für die Erfüllung kirchlicher Aufgaben ist verglichen mit demjenigen anderer finanzieller Mittel, die nicht als Kirchengut im kirchenrechtlichen Sinn zu bezeichnen sind, als klein bzw. subsidiär einzustufen.
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Der Schreibende ist in dieser Diözese als Ökonom bestellt, weshalb auf Quellen hinweise bei diesem Beispiel verzichtet wird.
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2. Finanzierung durch Nicht-Kirchengut In den verschiedenen Kantonen der Deutschschweiz werden Zwecke der katholischen Kirche zu einem grösseren Teil direkt über Mittel finanziert, die nicht im Eigentum einer öffentlichen juristischen Person nach kanonischem Recht sind. Dies ist für eigentlich alle Bereiche des kirchlichen Lebens der Fall: Besoldung von kirchlichem Personal, Unterhalt und Renovation von Gebäuden, Ausgaben für den Gottesdienst und die Verkündigung, Ausgaben für karitative Aufgaben sowie für kirchliche Verwaltung. Der Grund hierfür liegt in den historisch gewachsenen staatskirchenrechtlichen Strukturen in diesen Kantonen. Diese seien im Hinblick auf die Finanzierung der katholischen Kirche in diesem Gebiet kurz beschrieben. Jeder Beschreibung dieser Art ist vorauszuschicken, dass der Bereich des Religionsverfassungsrechts und somit auch des Staatskirchenrechts wie oben bereits kurz erwähnt in der Kompetenz der Kantone liegt (vgl. Art. 3 und Art. 72 BV). Jeder der 26 Kantone der Schweiz regelt somit das Verhältnis von Religionsgemeinschaften zum Staat autonom und auch unterschiedlich. Das Staatskirchenrecht der deutschschweizer Kantone ist in einigen Grundsätzen ähnlich, die Unterschiede sind dennoch beträchtlich. Für die grundsätzliche Frage der Finanzierung reicht es vorläufig, die gemeinsamen Grundsätze zu beschreiben und gelegentlich auf ein konkretes Beispiel hinzuweisen. Die Kantone der Deutschschweiz anerkennen im öffentlichen Recht Körperschaften, welche alle Katholiken12 umfassen, die auf dem entsprechenden Gebiet wohnen. Auf kommunaler Ebene sind dies Spezialgemeinden, Kirchgemeinden genannt. In den meisten Kantonen existiert ebenfalls eine öffentlich-rechtliche Körperschaft auf kantonaler Ebene, die unterschiedlich benannt wird: Landeskirche (z. B. in den Kantonen Luzern, Aargau, Thurgau), Katholischer Konfessionsteil (Kanton St. Gallen) etc. Letztere umfassen also alle Katholiken, welche auf dem Gebiet des jeweiligen Kantons wohnhaft sind. Diese Körperschaften besitzen ein eigenes Recht, welches staatliches Recht darstellt. In der Regel wenden sie subsidiär, d. h. wo im eigenen Recht nichts Spezielles bestimmt ist, direkt das Recht der politischen Gemeinden und Kantone an. Aber auch das eigene Recht der Körperschaften übernimmt die Grundstruktur der politischen Gemeinden und Kantone. So sind die Gewalten getrennt: Das Legislativorgan ist für die Gesetzgebung zuständig, das Exekutivorgan für die Umsetzung der getroffenen Beschlüsse und die Repräsentation der Körperschaft gegen aussen, mancherorts existiert auch eine judikative Instanz. Die Nomenkla12
Der Lesbarkeit halber wird hier darauf verzichtet, jeweils auch die weibliche Form zu schreiben.
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tur ist im Vergleich der Kantone sehr unterschiedlich. 13 Die Mitglieder der jeweiligen Instanzen werden demokratisch gewählt. Auf kommunaler Ebene ist die Legislativinstanz entweder parlamentarisch organisiert 14 oder aber sie umfasst sämtliche Mitglieder der Körperschaft. Die Exekutive umfasst in der Regel zwischen drei und neun Mitgliedern. Auf kantonaler Ebene umfasst die legislative Instanz in der Regel zwischen 60 und 200 Mitglieder, welche von den Kirchgemeinden proportional zur Grösse gewählt werden. Die Legislativinstanz wählt das Exekutivorgan mit in der Regel fünf bis neun Mitgliedern. Die genaue Organisation ist in den grundlegenden Rechtstexten (Verfassung der kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaft, Gemeindeordnung der Kirchgemeinde) festgelegt. Diese demokratische Organisationsweise macht es möglich, dass den staatskirchenrechtlichen Körperschaften das Besteuerungsrecht vonseiten des jeweiligen Kantons zugestanden wird. 15 So besteuern Kirchgemeinden die eigenen Mitglieder, also die Katholiken, welche auf dem Gebiet der Kirchgemeinde wohnen, und zwar unter Anwendung der Normen des staatlichen Steuerrechts. Die Legislativinstanz der Kirchgemeinde legt einzig den Steuerfuss fest. In zahlreichen Kantonen der Deutschschweiz haben die Kirchgemeinden das Recht, auch von den juristischen Personen eine Steuer zu erheben. 16 Die kantonale staatskirchenrechtliche Körperschaft erhebt bei den Kirchgemeinden für ihre eigenen Aufgaben eine Abgabe, sofern ihnen nicht direkt das Besteuerungsrecht natürlicher oder juristischer Personen zukommt. Die Legislativinstanz der kantonalen Körperschaft, welche sich aus gewählten Vertretern der 13 Um hierfür zwei Beispiele auf kantonaler Ebene zu nennen: Im Kanton Luzern nennt sich das Legislativorgan der staatskirchenrechtlichen Körperschaft „Synode“, das Exekutivorgan „Synodalrat“. Im Kanton Graubünden heisst das Legislativorgan „Corpus Catholicum“, das Exekutivorgan „Verwaltungskommission“. 14 So zum Beispiel in der Kirchgemeinde der Stadt St. Gallen, vgl. die Gemeindeordnung der Katholischen Kirchgemeinde St. Gallen vom 13. März 2011. 15 Dies ist meist in der kantonalen Verfassung oder im kantonalen Steuergesetz geregelt. So bestimmt beispielsweise Art. 109 der Kantonsverfassung des Kantons Appenzell Ausserrhoden: Die kirchlichen Körperschaften regeln ihre inneren Angelegenheiten selbständig. Sie sind befugt, von ihren Mitgliedern Steuern zu erheben. Im Kanton Nidwalden zählt Art. 1 Abs. 1 al. 6 des kantonalen Steuergesetzes die „Kirchensteuern von natürlichen und juristischen Personen für die Kirch- und Kapellgemeinden öffentlichrechtlich anerkannter Kirchen“ unter die Steuerarten, die Art. 108 ff. regeln die Kirchensteuern. 16 Vgl. hierzu die Zusammenstellung von Raimund Süess / Christian R. Tappenbeck / René Pahud de Mortanges, Die Kirchensteuern juristischer Personen in der Schweiz, eine Dokumentation (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht 28), Zürich 2013.
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einzelnen Kirchgemeinden zusammensetzt, legt den entsprechenden Ansatz bzw. Steuerfuss fest. Über die Verwendung der durch die Erhebung der Steuern gewonnenen Mittel entscheidet wiederum die jeweilige legislative Instanz im Rahmen der geltenden Gesetzgebung. Dies entspricht einem Grundsatz schweizerischen Steuerrechts. Das Exekutivorgan entscheidet im Rahmen der gesetzlich festgelegten Ausgabenkompetenz selber über den Einsatz eines Teils der Mittel. Die Finanzen müssen vollständig offengelegt werden, die Rechnungen der Kirchgemeinden und der kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften sind öffentlich einsehbar.17 Diese Finanztransparenz bildet eine weitere Voraussetzung für das Steuerprivileg. Zu den Steuereinnahmen hinzu kommen weitere Beiträge der öffentlichen Hand an die staatskirchenrechtlichen Körperschaften. Solche Beiträge existieren nicht in jedem Kanton und sie sind auch in der Höhe sehr unterschiedlich. Während sich beispielsweise im Kanton Appenzell Ausserrhoden die Einnahmen der katholischen staatskirchenrechtlichen Körperschaften ausschliesslich auf die Steuereinnahmen der natürlichen Personen (selbstredend nur der Katholiken) beschränken, werden im Kanton Zürich jährlich rund 30 Mio. Franken vom Kanton für die katholischen staatskirchenrechtlichen Körperschaften zur Verfügung gestellt. Die kantonal unterschiedliche Organisationsweise und somit die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen bringen grosse Differenzen in der finanziellen Ausstattung der einzelnen Körperschaft mit sich. 18 Dies führt auf überkantonaler Ebene zu Absprachebedarf. Man denke nur an das Beispiel der Diözese Basel. Das Gebiet dieser Diözese umfasst zehn Kantone. Die zehn verschiedenen kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften finanzieren gemeinsam die Aufgaben der Diözese, sind aber von stark unterschiedlicher Finanzkraft. Hinzu kommt eine sehr ungleiche Verteilung der Steuermittel im vertikalen Sinn. Durchschnittlich 85 % der Steuermittel verbleiben auf der Ebene der Kirchgemeinde, während 14 % auf die Ebene der kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaft gelangt. Das letzte Prozent wird für gesamtschweizerische Aufga17 Vgl. beispielsweise: Katholische Kirche im Kanton Zürich, Jahresbericht 2012, S. 62 ff., online einsehbar in: http://www.zh.kath.ch/service/publikationen/jahresberichte/jahresbericht-2012/46543_Jahresbericht_2012_web.pdf, konsultiert am 24. 7. 2013. 18 Vgl. den Überblick in: Michael Marti / Eliane Kraft / Felix Walter, Dienstleistungen, Nutzen und Finanzierung von Religionsgemeinschaften in der Schweiz. Synthese des Projektes FAKIR (Finanzanalyse Kirchen) im Rahmen des NFP 58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“, Glarus 2010.
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ben eingesetzt. Hierfür haben die kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften mangels öffentlich-rechtlicher eidgenössischer Körperschaft einen privatrechtlichen Verein gegründet, welcher über den Einsatz dieser Mittel entscheidet. Dieser Verein nennt sich römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ).19 Die Katholiken finanzieren nun über diese staatskirchenrechtlichen Körperschaften mittels ihrer eigenen Steuergelder sowie durch das weitere Eigentum der Körperschaften die Aufgaben der Kirche. Meist besteht eine direkte Finanzierung, so beispielsweise bei der Besoldung des kirchlichen Personals. Die staatskirchenrechtliche Körperschaft begründet ein (privat- oder öffentlichrechtliches) Arbeitsverhältnis mit den Klerikern und Laien im kirchlichen Dienst.20 Darin sind der Lohn aber auch die Vorsorgeleistungen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber festgelegt. Auch der Unterhalt der Gebäude wird direkt durch die staatskirchenrechtlichen Körperschaften geleistet. Dies ist eine Aufgabe, welche an vielen Orten in der Schweiz von alters her bei den Kirchgenossen liegt.21 Auch die weiteren kirchlichen Aufgaben werden oft direkt durch die staatskirchenrechtlichen Körperschaften finanziert. Die Rechtsnormen, nach welchen die staatskirchenrechtlichen Körperschaften ihr Vermögen erwerben, verwalten und veräussern, sind einerseits im (staatlichen) Eigenrecht, andererseits im staatlichen Recht des Kantons und der Gemeinden zu finden. Dazu gehören die in den Verfassungen festgelegte demokratische Funktionsweise, weitere Normen des Steuerrechts, Finanzhaushaltsreglemente etc. Die Körperschaften sind somit, auch wenn sie ausschliesslich getaufte Katholiken umfassen, einzig im staatlichen Recht begründet. Sie sind nirgends von einer zuständigen kirchlichen Autorität per Dekret als öffentliche Rechtspersonen nach c. 116 § 2 CIC anerkannt worden, noch haben sie diese kanonische Rechtspersönlichkeit von Rechts wegen. Somit ist das Eigentum der staatskirchenrechtlichen Körperschaften nicht als Kirchengut im Sinne von 19
Vgl. www.rkz.ch.
20
Es sei hier darauf hingewiesen, dass die staatskirchenrechtlichen Körperschaften nicht autonom Personen in den kirchlichen Verkündigungsdienst anstellen können, sondern dass dabei die kanonisch-rechtlichen Instanzen, namentlich der Bischof, einbezogen werden müssen. Dies erfolgt wiederum auf kantonal unterschiedlicher Grundlage und Praxis. Da hier der Fokus auf der Finanzierung liegt, wird dieses Thema an dieser Stelle nicht weiter vertieft. 21 Anstelle eines ausführlichen Literaturverzeichnisses zu dieser Thematik sei einzig auf eine alte Studie hierzu verwiesen: Hans Beat Noser, Pfarrei und Kirchgemeinde. Studie zu ihrem rechtlichen Begriff und grundsätzlichen Verhältnis (Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat 13), Freiburg i. Ue. 1957.
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c. 1257 CIC zu werten. Die Normen des kanonischen Vermögensrechts kommen hier deshalb nicht zur Anwendung. Es ist rechtssystematisch aus kirchenrechtlicher (wie auch aus staatskirchenrechtlicher) Sicht richtig, dass ausschliesslich die Normen des weltlichen Rechts (sei es des eigenen Rechts der Körperschaften oder des allgemeinen staatlichen Rechts) hier Anwendung finden. Die gelegentlich zu hörende Kritik am Finanzierungssystem der katholischen Kirche in der Deutschschweiz, dass das kirchliche Vermögensrecht hier nicht zur Anwendung komme, ist aus rechtlicher Sicht (und zwar aus kirchenwie aus staatskirchenrechtlicher Sicht) zurückzuweisen. Wo es sich (wie in Kap. 2.1 ausgeführt) um Kirchengut handelt, kommt das kanonische Vermögensrecht zum Tragen und kann ohne Probleme eingehalten werden. Handelt es sich nicht um Kirchengut, sondern um das Eigentum anderer Rechtsträger, verlangt das Kirchenrecht selber keine Anwendung der kirchenrechtlichen Vermögensvorschriften. Die gleiche Überlegung kann aus der Sicht des staatlichen Rechts gemacht werden: Allfällige eigene vermögensrechtliche Vorschriften einer Religionsgemeinschaft sind im Rahmen der korporativen Religionsfreiheit zu schützen bzw. deren Umsetzung durch den Staat zu ermöglichen. 22 Da aber das Kirchenrecht hinsichtlich des Eigentums der staatskirchenrechtlichen Körperschaften keinen Anspruch auf die Durchsetzung eigener, kirchenrechtlicher Normen erhebt, kommen zu den staatlichen Vorschriften keine durch die Religionsfreiheit geschützten Normen hinzu. III. Kirchenrechtliche Überlegungen Der Einsatz von Nicht-Kirchengut für die Erfüllung der kirchlichen Zwecke ist an sich nichts Ausserordentliches. Das universale kanonische Recht der lateinischen Kirche verbietet dies nicht und lässt im Gegenteil weitgehend offen, in welcher Weise die konkrete Finanzierung der kirchlichen Aufgaben erfolgt. So beschränken sich die einleitenden Canones in Liber V des CIC/1983 auf den Hinweis, dass die katholische Kirche das angeborene Recht hat, Vermögen zu besitzen, zu erwerben, zu verwalten und zu veräussern (c. 1254 § 1; c. 1255 CIC) sowie dass die von der Kirche erworbenen Güter zur Verwirklichung der eigenen Zwecke dienen sollen. „Die eigenen Zwecke aber sind vor allem: die geordnete Durchführung des Gottesdienstes, die Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen“ (c. 1254 § 2 CIC). Helmuth Pree spricht in Bezug auf das kanonische Vermö22 Hieraus leitet sich der oben genannte Anspruch auf Anerkennung der öffentlichen kirchlichen juristischen Personen ab, damit diese vermögensrechtlichen Vorschriften ohne wesentliche Einschränkung erfüllt werden können.
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gensrecht von einer „betonten Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips“ 23, besonders im Vergleich zum CIC/1917, welcher das Benefizialsystem als Finanzierungssystem der kirchlichen Aufgaben vorschrieb. Das kanonische Vermögensrecht verwirklicht seit 1983 das Subsidiaritätsprinzip durch die breite „Berücksichtigung des Partikular- und Statutarrechts einschliesslich des Eigenrechts der Orden“24 sowie durch die zahlreichen Hinweise auf das Zivilrecht. „Hiermit und durch die Nichtfestlegung auf ein bestimmtes Wirtschafts- oder Kirchenfinanzierungssystem […] wie etwa seinerzeit das Benefizialsystem, erweist sich das Vermögensrecht des CIC von 1983 viel deutlicher als das Vermögensrecht seines Vorgängers als echtes gesamtkirchliches Rahmenrecht.“25 Mit diesem Befund darf davon ausgegangen werden, dass der kirchliche Gesetzgeber eine Finanzierung der kirchlichen Zwecke durch Nicht-Kirchengut keinesfalls prinzipell ausschliesst. 1. Unterstützungspflicht der Gläubigen Das kanonische Vermögensrecht erkennt, dass die Kirche auf Güter angewiesen ist, um ihre Zwecke verwirklichen zu können. Deshalb betont der CIC/1983 die Verpflichtung der Gläubigen, „für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten, damit ihr die Mittel zur Verfügung stehen, die für den Gottesdienst, die Werke des Apostolats und der Caritas sowie für einen angemessenen Unterhalt der in ihrem Dienst Stehenden notwendig sind. Sie sind auch verpflichtet, die soziale Gerechtigkeit zu fördern und, des Gebotes des Herrn eingedenk, aus ihren eigenen Einkünften die Armen zu unterstützen“ (c. 222 § 1 und 2 CIC). Der Diözesanbischof soll die Gläubigen an diese Verpflichtung erinnern „und in geeigneter Weise auf ihre Erfüllung drängen“ (c. 1261 § 2 CIC). Die Gläubigen sollen zudem „der Kirche durch erbetene Unterstützung Hilfe gewähren, und zwar gemäß den von der Bischofskonferenz erlassenen Normen“ (c. 1262 CIC). Innerhalb dieses breit gesteckten Rahmens steht es den Gläubigen frei, auf welche Weise sie ihre Pflicht aus c. 222 CIC erfüllen, und steht es dem Diözesanbischof frei, worauf er bei der Erfüllung dieser Pflicht drängt. In den deutschschweizer Diözesen haben sich Bischöfe und Generalvikare gerade auch in jüngerer Vergangenheit mehrmals deutlich dahingehend geäussert, dass sie die Erfüllung der Unterstützungspflicht durch die katholischen
23
Pree, Grundfragen (Anm. 3), S. 1044.
24
Pree, Grundfragen (Anm. 3), S. 1044.
25
Pree, Grundfragen (Anm. 3), S. 1045.
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Gläubigen durch das Entrichten der Kirchensteuer erfüllt sehen. 26 Dadurch nehmen die deutschschweizer Bischöfe in legitimer Weise ihre Pflicht innerhalb des kanonischen Rahmenrechts und innerhalb des vorgefundenen historisch gewachsenen kirchlich-gesellschaftlichen Umfelds wahr.27 2. Zweckbindung der Gelder Die o. g. Struktur und Funktionsweise der staatskirchenrechtlichen Körperschaften bringen es mit sich, dass die Steuerzahlenden selber über den Einsatz ihrer Steuergelder entscheiden. Somit sind es die Gläubigen selber, welche darüber bestimmen, wofür ihre Beiträge eingesetzt werden. Auch dieser Aspekt ist dem kanonischen Recht nicht fremd. „Es ist den Gläubigen unbenommen, zugunsten der Kirche vermögenswerte Zuwendungen zu machen“ (c. 1261 § 1 CIC). Solche Zuwendungen können beispielsweise in Form von „Gaben“ (oblationes) oder „frommen Stiftungen“ (piae fundationes) gemacht werden. Gaben von Gläubigen dürfen nur bei Vorliegen eines gerechten Grundes zurückgewiesen werden (vgl. c. 1267 § 2 CIC). Und besonderen Wert legt das kanonische Vermögensrecht darauf, eine allfällige Zweckbestimmung von Vermögenswerten, welche der Kirche übergeben werden, genau zu beachten. In Bezug auf Gaben normiert c. 1267 § 3 CIC: „Gaben, die von Gläubigen für einen bestimmten Zweck gegeben sind, dürfen nur zu diesem Zweck verwendet werden.“ Analog ist auch bei frommen Stiftungen der Stifterwille genau zu beachten: „Die Willensverfügungen von Gläubigen, die zu frommen Zwecken Schenkungen vornehmen oder etwas hinterlassen, sei es durch Verfügung unter Lebenden oder von Todes wegen, und die rechtsgültig angenommen wurden, sind auf das sorgfältigste zu erfüllen auch im Hinblick auf die Art ihrer Verwaltung und die Verwendung des Vermögens […]“ (c. 1300 CIC). Die zitierten Canones entstammen dem kirchlichen Vermögensrecht und sind strictu sensu nur auf Kirchenvermögen anzuwenden. Dennoch darf in Analogie der Schluss gezogen werden, dass es im Sinne des kirchlichen Gesetzgebers ist, eine Zweckbindung von 26 Vgl. beispielsweise Markus Büchel, Bischof von St. Gallen, Regelung über den Umgang mit Personen im Bistum St. Gallen, die aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft austreten, aber Glied der römisch-katholischen Kirche bleiben wollen, in: Bistum St. Gallen (Hrsg.), Hilfen – Regelungen – Weisungen für die Seelsorge, Dokument 3.3.5 vom 9. Februar 2010; für das Bistum Basel vgl. den Brief des Generalvikars des Bistums Basel vom 22. Oktober 2009, in: http://www.bistum-basel.ch/ressourcen/download/20091118150200.pdf, konsultiert am 25. 07. 2013. 27 Wenn sich jemand über den Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft der Steuerpflicht entzieht, stellen sich in dieser Konstellation eine Reihe von Fragen. Darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.
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Nicht-Kirchengut, welches für kirchliche Zwecke zur Verfügung gestellt wird, ebenso zu beachten. Als solches können die zur Erfüllung der kirchlichen Aufgaben zur Verfügung gestellten Kirchensteuergelder angesehen werden. Es sind die Gläubigen, welche diese Mittel für die Kirche aufbringen. Sie versehen sie – in Beachtung des staatlichen Rechts der staatskirchenrechtlichen Körperschaften – mit einer Zweckbindung. Die Kirche ihrerseits ist aufgrund staatlichen und kirchlichen Rechts daran gehalten, die Zweckbindung einzuhalten. Es ist angezeigt, hier zwei Differenzierungen vorzunehmen: (1) Aus kirchenrechtlicher Sicht kann unterschieden werden, ob die Kirchensteuergelder ins Eigentum einer öffentlichen juristischen Person nach Kirchenrecht übergehen oder nicht. Im ersteren Fall ist etwa an einen Unterstützungsbeitrag einer Kirchgemeinde für die Renovation eines Klostergebäudes zu denken. Die Kirchgemeinde beschliesst über die entsprechende Ausgabe nach den staatskirchenrechtlichen Regeln und versieht diesen Beitrag mit der Zweckbindung, ihn ausschliesslich für die geplante Renovation des Klostergebäudes einzusetzen. Der entsprechende Geldbetrag geht mit dieser Zweckbindung ins Eigentum des Klosters über. Sofern dieses eine öffentliche juristische Person nach Kirchenrecht darstellt, ist aus kirchenrechtlicher Sicht dieses Gut dann als Kirchengut anzusehen und nach den Normen des kirchlichen Vermögensrechts zu behandeln. Gleichzeitig ist das Kloster angehalten, die zivilen Normen einzuhalten, welche mit der nach weltlichem Recht gültigen Rechtsform einhergehen.28 In beiden Rechtssystemen ist das Kloster angehalten, die Zweckbestimmung zu beachten. Häufig gehen allerdings die Kirchensteuergelder nicht ins Eigentum einer juristischen Person nach Kirchenrecht über, sondern werden die kirchlichen Zwecke durch den Einsatz dieser Gelder direkt finanziert. Das ist beispielsweise bei der Besoldung kirchlichen Personals meist der Fall. Dieses hat mit der staatskirchenrechtlichen Körperschaft ein Arbeitsverhältnis nach zivilem Recht begründet, die Kirchensteuergelder werden dann direkt für die Verpflichtungen der Körperschaft verwendet, die sich aus diesem Arbeitsverhältnis ergeben. In diesem Fall wird keine Rechtsperson nach kirchlichem Recht Eigentümerin der entsprechenden finanziellen Mittel. Durch den direkten Einsatz ihres Eigentums zugunsten der Verfolgung kirchlicher Zwecke verwendet die betreffende staats28
Klöster in der Deutschschweiz sind im weltlichen Recht in verschiedenen Rechtsformen organisiert: zum Beispiel in privatrechtlichen Vereinen, in privatrechtlichen Stiftungen oder teilweise auch als öffentlich-rechtliche Körperschaften. Letzteres ist beispielsweise bei den in Art. 42 der Verfassung des katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen genannten Frauenklöstern der Fall.
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kirchenrechtliche Körperschaft die Mittel unmittelbar entsprechend der Zweckbestimmung. (2) Im Anschluss daran kann eine zweite Differenzierung hilfreich sein. Die von den Katholiken über die Struktur der staatskirchenrechtlichen Körperschaften zur Verfügung gestellten Mittel können eine enge oder eine weit gefasste Zweckbindung aufweisen. Zwei Beispiele mögen die enge und die weite Zweckbindung veranschaulichen, jede Zwischenstufe ist dabei ebenfalls denkbar. Als eng ist die Zweckbindung dann anzusehen, wenn beispielsweise für eine Firmreise pro teilnehmender Person 40 Franken pro Nacht für die Unterkunft, 15 Franken pro Tag für die Verpflegung, 150 Franken für die Reise etc. bezahlt werden. Weit ist eine Zweckbindung dann, wenn zum Beispiel für den Betrieb des Bischöflichen Ordinariats (abgesehen von den Lohnkosten und Kosten für Gebäude) pro Jahr im Sinne eines Globalkredits rund 400.000 Franken bezahlt werden und das Bischöfliche Ordinariat selber bestimmt, wieviel Geld wofür aufgewendet wird.29 Die Qualifizierung des Einsatzes von Kirchensteuergeldern für kirchliche Zwecke als Unterstützungsbeitrag der Gläubigen gemäss ihrer kirchenrechtlich festgelegten Unterstützungspflicht versehen mit einer Zweckbindung zeigt: Je grösser der Anteil der Mittel ist, der direkt für kirchliche Zwecke eingesetzt wird, und je enger die Zweckbindung gefasst wird, desto stärker erweist sich der Einfluss darauf, welche Zwecke mit wie viel Mitteln und gegebenenfalls in welcher Art und Weise verfolgt werden können. Zunächst bleibt festzuhalten, dass aus kirchenrechtlicher Sicht diese Finanzierungsweise nicht im Prinzip zu bemängeln oder gar als nicht rechtmässig anzusehen ist. Einige Bemerkungen sind hierzu aber dennoch angebracht. 3. Freiheit des Bischofs Dem Finanzierungssystem der katholischen Kirche in den deutschschweizer Kantonen wird gelegentlich vorgeworfen, der Bischof verliere dadurch seine Freiheit und seine Möglichkeit der Ausübung des munus regendi. 30 Es seien 29
Vgl. die entsprechende Summe in der Jahresrechnung des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen. 30
Vgl. beispielsweise die Aussage von Joseph M. Bonnemain: „Klar ist auch, dass dadurch die Freiheit der Hierarchie in der Wahrnehmung ihrer Hirtensorge sehr eingeschränkt, ja mitunter sogar behindert wird.“ Joseph M. Bonnemain, Die Schweizer Kantonalkirchen und die Mitverantwortung der Gläubigen bei der Verwaltung des kirchlichen Vermögens, in: Pontificium Consilium de Legum Textibus Interpretandis (Hrsg.), Ius in Vita et in Missione Ecclesiae. Acta Symposii Internationalis Iuris Canonici, Vati-
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staatliche Körperschaften, die darüber bestimmen, was in der Kirche gemacht werden kann und was nicht. Die bisherigen Ausführungen zeigen hierzu: – Zur Erreichung der kirchlichen Zwecke werden nicht ausschliesslich Mittel verwendet, die ausserhalb der Verfügungsgewalt des Bischofs oder anderer kirchenrechtlicher Instanzen liegen. Wo Kirchengut zum Einsatz kommt, ist der Einfluss kirchlicher Instanzen entsprechend kirchlichem Recht gegeben. Der Bischof, der Pfarrer etc. sind immer frei, auch andere Güter als Kirchensteuergelder für die Verfolgung ihrer Zwecke einzusetzen. – Wo staatskirchenrechtliche Körperschaften ihr Eigentum mit einer weiten Zwecksetzung zugunsten der Erfüllung kirchlicher Aufgaben von den staatskirchenrechtlichen Körperschaften zur Verfügung stellen, brauchen kirchliche Instanzen nicht um ihren Einfluss zu bangen. – Solange das kirchliche Recht zulässt, dass Gläubige für die Kirche Mittel zur Verfügung stellen und diese mit einer Zweckbestimmung versehen, an die sich die Kirche zu halten hat, ergibt sich daraus immer eine gewisse „Abhängigkeit“ des Empfängers vom Spender. Diese Problematik besteht unabhängig vom Mechanismus, der zu einer Zweckbestimmung führt. Es handelt sich also keineswegs um ein spezifisches Phänomen deutschschweizer Finanzierungsart der katholischen Kirche, sondern um ein Problem, das sich im Zusammenhang mit zweckgebundenen Geldern immer ergibt. Das Problem stellt sich m. E. mindestens so akzentuiert, wenn sich der betreffende kirchliche Amtsträger mit wenigen potenten Spendern konfrontiert sieht, wie wenn der massgebliche Teil der finanziellen Mittel über Kirchgemeinden oder über kantonale staatskirchenrechtliche Körperschaften zur Verfügung gestellt wird. kan 1994, S. 529–545, hier 537; Vitus Huonder, Bischof von Chur, äussert sich an einer Fachtagung zu den Auswirkungen der staatskirchenrechtlichen Organisation insgesamt: „Die konkreten Auswirkungen sind, dass der Bischof in den bestehenden Verhältnissen der Schweiz beim Ausüben des munus regendi stark eingeschränkt ist. Das kann sogar zur gänzlichen Handlungsunfähigkeit führen“ (Vitus Huonder, Votum: Die schweizerischen staatskirchenrechtlichen Strukturen im Lichte der katholischen Ekklesiologie, in: Libero Gerosa / Ludger Müller (Hrsg.), Katholische Kirche und Staat in der Schweiz (Kirchenrechtliche Bibliothek 14), Zürich / Berlin 2010, S. 349–350, hier 350. An der gleichen Tagung äussert sich der emeritierte St. Galler Bischof Ivo Fürer allerdings genau gegenteilig: „Wenn kirchliche und staatskirchenrechtliche Instanzen loyal miteinander zusammenarbeiten, bedeutet dies eine Chance für die katholische Kirche in der Schweiz. Eine loyale Zusammenarbeit habe ich während 25 Jahren als für die Pastoral zuständiger Bischofsvikar und während zwölf Jahren als Diözesanbischof als wertvolle Hilfe erfahren und bin dafür dankbar“ (Ivo Fürer, Besonderheiten der Teilkirchen in der Schweiz, in: Gerosa / Müller, Katholische Kirche (Anm. 30), S. 80–84, hier 84).
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– Einzig könnte man einwenden, dass es im Extremfall dem kirchlichen Amtsträger durch die Existenz und die Funktionsweise der staatskirchenrechtlichen Körperschaften nicht möglich ist, den Einsatz von Geldern für einen Zweck zu verhindern, den er nicht mittragen kann. In Analogie zu c. 1267 § 2 CIC31 würde der Einsatz von finanziellen Mitteln zurückgewiesen, wenn „ein gerechter Grund“ vorliegen würde, die entsprechende Gabe nicht anzunehmen, also wenn beispielsweise Angelegenheiten finanziert würden, die gegen den Glauben verstossen. In einer Weiterentwicklung des Staatskirchenrechts in den deutschschweizer Kantonen ist darauf zu achten, dass Rechtsgrundlagen dafür geschaffen werden, damit in Einzelfällen der Einsatz für solche Zwecke von den kirchlichen Verantwortungsträgern abgelehnt werden kann. – Je enger die Zwecksetzung der eingesetzten Kirchensteuergelder bestimmt wird und je stärker eine direkte Finanzierung kirchlicher Aufgaben durch die Mittel der staatskirchenrechtlichen Körperschaften stattfindet, desto grösser wird der Absprachebedarf mit den kirchlichen Verantwortungsträgern. Zahlreiche informelle und formelle (Verfahrens-)Vorschriften tragen dem bereits heute vielerorts Rechnung. Sei es durch einen Budgetierungsprozess, welcher kirchliche wie staatskirchenrechtliche Instanzen einbezieht, sei es durch Beispruchsrechte beispielsweise des Bischofs in wichtigen Vorgängen 32 oder anderes mehr. Wo dies noch nicht in genügender Weise der Fall ist, sollen entsprechende Rechtsgrundlagen oder informelle Mechanismen geschaffen werden. 4. Freiheit der Kirche Nun besteht die Kirche aber freilich nicht ausschliesslich aus dem Bischof oder anderen kirchlichen Amtsträgern, deren Freiheit in angemessener Weise zu wahren ist. Das gesamte Volk Gottes bildet die Kirche, also die Gemeinschaft aller getauften katholischen Gläubigen (vgl. Lumen Gentium Nr. 9–17; c. 204 CIC). Wie die kirchlichen Zwecke zu verfolgen sind, wann und in welcher 31
Analogie deshalb, weil Kirchensteuergelder kein Kirchengut darstellen, sich also dieser Canon nicht eigentlich darauf beziehen kann und weil die Kirchensteuergelder nicht unbedingt als „Gaben“ i. S. dieses Canons zu qualifizieren sind. Dennoch ist die Analogie vom Sinn dieser Norm des kanonischen Vermögensrechts her legitim. 32
Ein Beispiel hierfür ist die Genehmigungsbedürftigkeit gewichtiger Beschlüsse staatskirchenrechtlicher Instanzen im Kanton St. Gallen durch den Bischof von St. Gallen, etwa bei der Renovation einer Kirche, vgl. das Dekret über zustimmungsbedürftige Beschlüsse konfessioneller und kirchlicher Organe des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen vom 18. September 1979 (sGS 173.50).
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Form das genau gemacht wird, was die Nöte und Ängste, die Freuden und Hoffnungen der Menschen am konkreten Ort sind und wie die Kirche in ihren Grundvollzügen in der Verkündigung der frohen Botschaft, der Feier des Glaubens in der Liturgie und im Einsatz für die Bedürftigen darauf antworten soll, das ergibt sich aus dem Zusammenspiel aller Glieder des Volkes Gottes. Selbstverständlich haben nicht alle die gleichen Aufgaben und die gleiche Verantwortung. Es ist aber gemeinsame Aufgabe aller Gläubigen, an der Erfüllung des kirchlichen Auftrags mitzuwirken. „Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken“ (c. 208 CIC). Im Zweiten Vatikanischen Konzil zeigt sich die Ekklesiologie im Zusammenspiel aller Gläubigen, Laien wie Kleriker, mit unterschiedlichen Aufgaben und Kompetenzen aber mit Blick auf das gleiche Ziel. Auf diesem Hintergrund ist die Frage der Finanzierung zur Erfüllung der kirchlichen Aufgaben im Hinblick auf dieses gemeinsame Ziel zu stellen. Es ist zunächst prinzipiell klar, dass die dafür benötigten Mittel eben lediglich Mittel zum Zweck und nicht den Zweck selber darstellen. Somit rückt die Wirksamkeit der Beschaffung, Verwaltung und Verwendung der Mittel stärker in den Vordergrund als etwa die rechtliche Natur der Struktur, in welcher diese Mittel zur Verfügung gestellt werden oder die Frage, in wessen Eigentum sich die Güter befinden. Es geht, wie das kirchliche Vermögensrecht zu recht betont, besonders auch darum, dass das Finanzierungssystem am konkreten Ort zivilrechtlich gültig und somit wirksam sein kann. In den deutschschweizer Kantonen stellen die Katholiken über die beschriebene staatskirchenrechtliche Struktur namhafte finanzielle Beträge für die Erreichung der kirchlichen Aufgaben zur Verfügung. Die Wirksamkeit und zivilrechtliche Gültigkeit sind in kaum zu übertreffendem Mass gegeben. Diese Struktur hat sich historisch entwickelt und ist bestens ins gesellschaftliche, politische und kirchliche Umfeld dieser Regionen eingebettet. Die Kirche so und nicht anders finanziell zu organisieren, entspricht dem „Selbstverständnis des schweizerischen Staates und seiner Bürger“ 33. Die Struktur ist ein staatlich geschaffenes und nach staatlichem Recht funktionierendes System. Allerdings umfasst die Struktur ausschliesslich die katholischen Gläubigen des entsprechenden Gebietes. Diese handeln innerhalb dieser staatlichen Struktur immer als Gläubige, als Teil der Kirche. Als solche sind sie aufgerufen, ihre Rechte 33 Peter Henrici, Eine Problemanzeige: Das schweizerische Staatsverständnis in seiner Auswirkung auf das Verhältnis Staat – Kirche, in: Gerosa / Müller, Katholische Kirche (Anm. 30), S. 17–28, hier 17.
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und Pflichten als Gläubige wahrzunehmen. Das beinhaltet etwa im Hinblick auf die besondere (Leitungs-)Verantwortung der geistlichen Hirten oder im Hinblick auf die Kirche als Ganzes die Beachtung der Gesamtheit der kirchenrechtlichen Grundnormen, wie sie etwa in den cc. 208–223 CIC festgehalten sind. „Bei der Ausübung ihrer Rechte müssen die Gläubigen sowohl als einzelne wie auch in Vereinigungen auf das Gemeinwohl der Kirche, die Rechte anderer und ihre eigenen Pflichten gegenüber anderen Rücksicht nehmen“ (c. 223 § 1 CIC). Unter Einhaltung dieser grundsätzlichen Bestimmungen entspricht es aber der Freiheit der Kirche (als Gemeinschaft aller getauften Katholiken), sich hinsichtlich der Finanzierung und der Schaffung materieller Voraussetzungen für die Erreichung kirchlicher Ziele so zu organisieren, wie es zweckmässig erscheint. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, sich wie in den deutschschweizer Kantonen staatskirchenrechtlich zu organisieren, um so für die Kirche Mittel zu beschaffen.34 5. Engagement der Laien Es ist eine Tatsache, dass über die staatskirchenrechtlichen Organisationen katholische Laien in ein grosses Engagement und eine dementsprechende Verantwortung zugunsten der katholischen Kirche eintreten. Diese strukturelle Einbindung zahlreicher Personen trägt in einem nicht zu unterschätzenden Mass zur Verankerung der Kirche in der Bevölkerung bei. In vermögensrechtlicher Hinsicht ist aber auch hinsichtlich des Engagements der Laien die Differenzierung von Kirchengut zu Nicht-Kirchengut angezeigt. Im Bereich der Verwaltung von Kirchengut übernehmen Laien diejenigen Aufgaben, welche ihnen vom universalen und partikularen kanonischen Recht zukommen und zukommen können, beispielsweise als Vermögensverwalter von kirchlichem Vermögen. Die Verwaltungstätigkeit von katholischen Laien in den staatskirchenrechtlichen Körperschaften ist hingegen nicht als Engagement von Laien bei der Verwaltung kirchlicher Güter in einem kirchenrechtlichen Sinn anzusehen. Die dort verwalteten Güter sind eben nicht Kirchengut nach der Definition des Kirchenrechts, und, wie oben ausgeführt, folgt die Verwaltung dieses Gutes richtigerweise nicht den kirchenrechtlichen, sondern den staatlichen Normen. Insofern wäre es falsch, das Engagement der Laien in den staatskirchenrechtlichen 34
Es sei hier darauf hingewiesen, dass es sich je nach kantonaler Ausgestaltung als ziemlich komplex erweisen würde, dieses System grundsätzlich zu verlassen, wo dies von der Kirche gewünscht werden würde. Aus diesem speziellen Blickwinkel betrachtet ist die Freiheit der Kirche zum Teil eingeschränkt, wenn beispielsweise eine Volksab stimmung notwendig wäre, an der nicht ausschliesslich Katholiken teilnahmeberechtigt wären.
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Körperschaften als Hilfe der Laien den geistlichen Hirten gegenüber in einem kirchenrechtlich-vermögensrechtlichen Sinn zu qualifizieren. Die Autonomie, mit welcher die Güter der staatskirchenrechtlichen Körperschaften durch die jeweiligen Gremien verwaltet werden, würde in Konflikt mit kirchenrechtlichen Normen treten. Dieser Einsatz der Laien besteht nicht in der Verwaltung des Kirchenguts, aber durch ihren Einsatz in den staatskirchenrechtlichen Körperschaften tragen Laien massgeblich zur Ermöglichung der Erreichung kirchlicher Zwecke bei, indem sie (über Nicht-Kirchengut) materielle Voraussetzungen für das kirchliche Leben schaffen. Hierin ist aus kirchenrechtlicher Sicht das Engagement katholischer Laien in der Deutschschweiz zu sehen, insofern sie sich staatskirchenrechtlich organisieren und in den Körperschaften Aufgaben und Verantwortung übernehmen. Und die Wichtigkeit dieses Engagements ist für die katholische Kirche in den deutschschweizer Kantonen als erheblich einzuschätzen. IV. Schlussgedanken Die Finanzierung der katholischen Kirche in den deutschschweizer Kantonen geschieht auf verschiedene Weise. Aus kirchenrechtlicher Sicht ist die Differenzierung hilfreich, dass die Finanzierung zum (kleineren) Teil über Kirchengut geleistet wird, andererseits über Güter, die nicht Kirchengut im Sinne des kanonischen Rechts darstellen. Letztere sind besonders Güter, welche sich im Eigentum der staatskirchenrechtlichen Körperschaften befinden. Dieses Eigentum speist sich aus Kirchensteuern natürlicher und juristischer Personen, Beiträgen der öffentlichen Hand, Erträgen aus dem eigenen Vermögen etc. Aufgrund der Zuständigkeit der Kantone finden sich beträchtliche kantonale Unterschiede. Beide Formen der Finanzierung sind aus der Sicht des katholischen Kirchenrechts legitim. Bei der Verwendung von Kirchengut werden die vermögensrechtlichen kanonischen Normen zusätzlich zu allfälligen Normen des Zivilrechts (für die zivilrechtliche Gültigkeit der Akte) beachtet. Gegen die Verwendung von Nicht-Kirchengut für die Verfolgung kirchlicher Zwecke ist aus kirchenrechtlicher Sicht prinzipiell ebenfalls nichts einzuwenden. Werden die Güter, welche die Gläubigen über die staatskirchenrechtlichen Körperschaften zugunsten der Kirche einsetzen, als Mittel von Gläubigen angesehen, die eine Zweckbindung aufweisen, so trifft das eine Form der Finanzierung der Kirche, welche vom kanonischen Recht explizit vorgesehen ist. Es entspricht der Freiheit der Kirche als Gemeinschaft der Getauften, sich zur Beschaffung der materiellen Voraussetzungen wirksam am Ort zu organisie-
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ren. Wie in jedem anderen Bereich, sind alle Gläubigen auch im Bereich der Finanzierung der Kirche dazu aufgerufen, „ihrer Stellung gemäss“ als Laien oder als Kleriker und entsprechend ihren verschiedenen Aufgaben für das Wohl der Kirche und die kirchlichen Zwecke einzusetzen. Bei der Schaffung der materiellen Voraussetzungen für das kirchliche Leben übernehmen Laien über die staatskirchenrechtliche Organisation besondere Verantwortung. Diese Verantwortung beinhaltet auch die Berücksichtigung der (Leitungs-)Verantwortung geistlicher Amtsträger – letztere zu beachten sind die Gläubigen vom Kirchenrecht her in jedem Bereich aufgefordert. Die geistlichen Amtsträger und allen voran der Bischof werden ein so verstandenes und ausgeübtes Engagement dankbar annehmen und unterstützen. Es entlastet sie nämlich davon, dass sämtliche Güter in den Händen kirchlicher Rechtspersonen sind und von dort aus verwaltet und eingesetzt werden müssen, mit allen damit verbundenen Nachteilen und Gefahren. So sei zum Schluss die Frage erlaubt: Stellt denn ein solches System nicht gerade eine gelungene Umsetzung der eingangs erwähnten Herausforderung des Umgangs der Kirche mit dem Geld dar?
Das Verhältnis von Kirche und Staat im Spiegel des vergleichenden Religionsrechts Kirche und Staat im Spiegel des vergleichenden Religionsrechts Von Arnd Uhle Arnd Uhle Ebenso wenig wie vor ihm der Codex Iuris Canonici vom 27. Mai 1917 enthält der vom Zweiten Vatikanum geprägte neue Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 19831 ein zusammenhängendes Kapitel über das Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat2. Ihm fehlt daher ein eigenständiger Abschnitt über das nachkonziliare Ius Publicum Ecclesiasticum. Gleichwohl kennt er Rechtsnormen, die das kirchenrechtliche Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat determinieren3, das von der katholischen Kirche nicht zuletzt vertragsstaatskirchenrechtlich zu sichern gesucht wird4. Zu Entstehungsgeschichte, Perspektiven und Tendenzen sowie zur Systematik des in der lateinischen Westkirche geltenden Codex Iuris Canonici näher Heribert Schmitz, Der Codex Iuris Canonici von 1983, in: HdbKathKR2, S. 49–76 sowie Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht, Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, 13. Aufl., Bd. 1, Paderborn u. a. 1991, S. 49 ff.; vgl. auch Gerald Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, Berlin 1993, S. 67 ff. – In den katholischen Ostkirchen, die gegenüber der katholischen Kirche des la teinischen Rechtskreises eigenständige kirchenrechtliche Traditionen aufweisen, gilt der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, promulgiert am 18. Oktober 1990. Zu dessen Entstehungsgeschichte und Aufbau sowie zu weiteren Aspekten näher Richard Potz, Der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, in: HdbKathKR2, S. 77–89; hierzu auch Alfred E. Hierold, Die Systematik des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, in: AfkKR 160 (1991), S. 337–345. 1
2 Der erste Entwurf der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen genti um“ enthielt noch einen eigenständigen Abschnitt „De relationibus inter Ecclesiam et Statum“. Dieser wurde jedoch aufgrund der vorwiegend pastoralen Zielsetzung des Zweiten Vatikanums nicht in die Konzilsberatungen und auch nicht in die nachfolgenden Arbeiten an dem wesentlich vom Zweiten Vatikanum geprägten neuen Codex Iuris Ca nonici einbezogen. Der Wortlaut des Abschnitts „De relationibus inter Ecclesiam et Statum“ ist abgedruckt bei Giuseppe Alberigo / Franca Magistretti (Hrsg.), Constitutionis Dogmaticae „Lumen gentium“ Synopsis historica, Bologna 1975, S. 307 ff.
Früh so bereits Joseph Listl, Die Aussagen des Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 1983 zum Verhältnis von Kirche und Staat, in: EssGespr. 19 (1985), S. 9–32, hier 12. 3
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Arnd Uhle
In den einschlägigen Rechtsnormen des CIC berührt sich die das wissenschaftliche Œuvre von Libero Gerosa prägende Perspektive des kanonischen Rechts mit einem Gegenstand, der bis in die jüngste Zeit immer wieder das besondere Interesse des Jubilars gefunden hat: mit dem Verhältnis von Kirche und Staat. Ihm widmet sich Libero Gerosa nicht nur wissenschaftlich intensiv5, sondern auch beratend6. Das legt nahe, ihn mit einem Beitrag zu ehren, der das Verhältnis von Kirche und Staat aus der Perspektive des kanonischen Rechts rekonstruiert. Doch ein solcher, Libero Gerosa dedizierter Beitrag bliebe unvollständig, würde er mit der Sicht des kanonischen Rechts nicht die Perspektiven des vergleichenden Religionsrechts zu verbinden suchen, die der Jubilar in seinem institutionellen Lebenswerk, dem von ihm gegründeten „Institut für Kanonisches Recht und Vergleichendes Religionsrecht“ an der Theologischen Fakultät Lugano 7, wirkmächtig pflegt. Daher soll im Folgenden das Verhältnis von Kirche und Staat nicht nur aus der Perspektive des kanonischen Rechts untersucht, sondern exemplarisch mit dem evangelischen Verständnis, insbesondere mit den Aussagen und Sichtweisen evangelischer Kirchenverfassungen verglichen werden 8. 4
Analyse der jüngeren vertragsstaatskirchenrechtlichen Sicherungen der kirchenrechtlichen Vorstellungen in Deutschland bei Arnd Uhle, Codex und Konkordat – Die Lehre der katholischen Kirche über das Verhältnis von Staat und Kirche im Spiegel des neueren Vertragsstaatskirchenrechts, in: Stefan Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, Berlin 2007, S. 33–58. 5 Aus der wissenschaftlichen Befassung von Libero Gerosa mit staatskirchenrechtlichen Fragen sei hier stellvertretend nur auf seine Abhandlung „Die staatskirchenrechtliche Vielfalt in der Schweiz“ (AfkKR 156 [1987], S. 34–47) sowie auf den von ihm gemeinsam mit Ludger Müller im Jahre 2010 herausgegebenen Sammelband „Katholische Kirche und Staat in der Schweiz“ hingewiesen, in dem er u. a. einen Beitrag zum Kirchenaustritt publiziert hat (Libero Gerosa, „Kirchenaustritt“: Austritt aus der Kirche oder lediglich Austritt aus einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft?, in: ders. / Ludger Müller [Hrsg.], Katholische Kirche und Staat in der Schweiz [Kirchenrechtliche Bibliothek 14], Berlin / Münster / Wien / Zürich 2010, S. 147–168). 6
Verwiesen sei hier vor allem auf das Wirken von Libero Gerosa als Präsident der Fachkommission „Kirche und Staat in der Schweiz“ der Schweizer Bischofskonferenz. Die Fachkommission hat im Dezember 2012 ein vielbeachtetes „Vademecum für die Zusammenarbeit von katholischer Kirche und staatskirchenrechtlichen Körperschaften in der Schweiz“ verabschiedet, dessen Empfehlungen sich die Schweizer Bischofskonferenz im März 2013 zu eigen gemacht hat (siehe www.bischoefe.ch/dokumente/anordnungen/vademecum). 7
L’Istituto Internazionale di Diritto Canonico e diritto comparato delle religioni (DiReCom). Näher dazu im Internet unter www.istitutodirecom.ch. 8
Aus Gründen der Konzentration gilt die Sichtweise des nachfolgenden Beitrages hierbei den evangelischen Kirchenverfassungen in Deutschland, wo Libero Gerosa in
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Zu diesem Zweck beleuchten die nachfolgenden Ausführungen zunächst das Verhältnis von Kirche und Staat aus der Perspektive des Codex von 1983. Denn auch wenn dieser kein systematisch zusammenhängendes Kapitel über jenen Teilbereich des kanonischen Rechts enthält, der das Verhältnis von Kirche und Staat zum Gegenstand hat, gibt er doch, wie im Einzelnen zu zeigen sein wird, die wesentlichen Aspekte des katholischen Verständnisses von Kirche und Staat zu erkennen (dazu nachfolgend sub I.) 9. Hierzu gehören zunächst die Grundthese der Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat und das Postulat der Eigenständigkeit der kirchlichen Gewalt (dazu unten sub I. 1.), weiterhin die Pflicht des Staates zur Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit im Allgemeinen und religiöser Freiheit im Besonderen (hierzu unten sub I. 2.), die kirchliche Bejahung der staatlichen Neutralität (dazu unten sub I. 3.) sowie die kirchliche Bereitschaft zur Kooperation mit dem Staat (hierzu unten sub I. 4.). Der sich in diesen Grundsätzen manifestierende „Strukturplan“ der katholischen Kirche den Jahren von 1990 bis 2000 als Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fa kultät Paderborn gewirkt hat. 9
Für den Codex Iuris Canonici von 1917 hat das Fehlen eines derartigen eigenständigen Regelungsabschnitts zu dem Verhältnis von Kirche und Staat zu dem berühmten Diktum von Ulrich Stutz geführt, dass „das Verhältnis von Staat und Kirche […] von dem kirchlichen Gesetzbuch ausgeschlossen [sei], entsprechend der streng innerkirchlichen Aufgabe, in deren Dienst es [stehe]“; die Berührungen des Gesetzbuches mit dem Staat und seinem Recht seien daher, so Stutz, „nur gelegentliche, beiläufige, zum Teil mittelbare“ (Ulrich Stutz, Der Geist des Codex Iuris Canonici, 1918, Nachdruck, Amsterdam 1961, S. 109 ff.; dieser Auffassung seinerzeit zustimmend Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, 11. Aufl., Bd. 1, Paderborn 1964, S. 42). Gegen dieses Urteil haben bereits Hans Barion und Paul Mikat eingewandt, dass der Codex von 1917 nicht nur verstreute Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat enthalten, sondern einen in sich geschlossenen Strukturplan der Kirche entworfen habe, der das katholische Verständnis von Kirche und Staat zum Ausdruck bringe; namentlich statuiere der Codex einen unverzichtbaren Minimalbestand an Postulaten, mit dem dem Staat insbesondere die Aufgabe übertragen werde, sowohl die indivi duelle Religionsfreiheit der Gläubigen als auch die korporative Religionsfreiheit der Kirche als rechtlich verfasster Institution zu gewährleisten ( Paul Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: HdbStKirchR 2, Bd. 1, S. 111–155, hier 143 f.). In diesem Lichte ist der CIC von 1917 geradezu als die Zusammenfassung aller grundsätzlichen kanonischen Normen zum Verhältnis von Kirche und Staat bezeichnet worden (so seinerzeit Hans Barion, Art. Kirche und Staat, 6. a) katholische Lehre, in: RGG3, Bd. 3, Sp. 1336–1339, hier 1336). Dieser Befund gilt auch für den Codex Iuris Canonici von 1983, dessen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat nicht nur in Kontinuität zum Codex von 1917 stehen, sondern diese auch weithin wortgleich übernehmen.
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Arnd Uhle
über ihr Verhältnis zum Staat10 wird unterstrichen und ergänzt durch die „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ vom 24. November 2002 (dazu unten sub I. 5.). Auch wenn eine dem kanonischen Recht vergleichbare evangelisch-autoritative Ausformung des Verhältnisses von Kirche und Staat in einem einheitlichen kirchlichen Gesetzbuch fehlt und die Frage nach „der“ evangelischen Auffassung von Kirche und Staat nicht unproblematisch ist, wird im zweiten Teil des vorliegenden Beitrages der Versuch unternommen, die Grundsätze dieses Verhältnisses aus evangelischer Sicht darzustellen (hierzu unten sub II.). Hierzu wird zunächst neben der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 in den Blick genommen (dazu unten sub II. 1.), sodann die nach evangelischem Verständnis bestehende Verpflichtung des Staates zur Gewähr religiöser Freiheit analysiert (hierzu unten sub II. 2.) und hernach die protestantische Akzeptanz der weltanschaulichen Neutralität des Staates skizziert (dazu unten sub II. 3.). Erörtert wird zudem die sog. Demokratie-Denkschrift der evangelischen Kirche in Deutschland von 1985 (dazu unten sub II. 4.). Auf dieser Grundlage werden im Anschluss die kirchenrechtlichen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat rekonstruiert, auf denen namentlich die Grundordnung der EKD und die Verfassungen der Gliedkirchen basieren (hierzu unten sub II. 5.). Abgerundet wird die nachfolgende Rekonstruktion der dem katholischen wie dem evangelischen Kirchenrecht zugrunde liegenden Leitprinzipien des Verhältnisses von Kirche und Staat schließlich aus der Perspektive des vergleichenden Religionsrechts. Sie erhellt die große Nähe der verglichenen Sichtweisen und belegt, dass das Verhältnis von Kirche und Staat im Ergebnis in sehr weitgehendem Maße gleichen Anforderungen des kanonischen Rechts und des evangelischen Kirchenrechts unterliegt (hierzu sub III.)11.
10 11
Zum „Strukturplan“ des CIC von 1983 Mikat, Verhältnis (Anm. 9), S. 142 ff.
Die nachfolgenden Ausführungen entstammen der Untersuchung des Verfassers, Staat – Kirche – Kultur (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 43), Berlin 2004, S. 16 ff. Sie wurden für die vorliegende Publikation überarbeitet und aktualisiert.
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I. Das Verhältnis von Kirche und Staat im Spiegel des kanonischen Rechts 1. Die Grundannahmen von Wesensverschiedenheit, kirchlicher Eigenständigkeit und gegenseitiger Unabhängigkeit Ausgangspunkt des dem Codex Iuris Canonici von 1983 zugrunde liegenden kirchenrechtlichen Verständnisses von Kirche und Staat 12 ist der Umstand, dass im Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirche als Glaubens-, Heils- und Rechtsgemeinschaft in untrennbarer Einheit begriffen13 und sie damit zugleich als geistgewirkte Gemeinschaft wie auch als rechtlich verfasster, durch hierarchische Organe nach innen wie nach außen handelnder gesellschaftlicher Verband verstanden wird14; ihr Ziel und ihre auf Jesus Christus zurückgeführte Sendung gehören diesem Selbstbildnis zufolge der religiösen Ordnung an mit der sich hieraus ergebenden Konsequenz, dass sich die Kirche für den ausschließlich politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich – mithin für das „zeitliche Gemeinwohl“15 – grundsätzlich als unzuständig betrachtet 16. In der Konsequenz dieser Sichtweise werden Kirche und politische Gemeinschaft bzw. Kirche und Staat als wesensverschieden verstanden17 – ein Verständnis, das etliche Jahrzehnte vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil bereits in der berühmt gewordenen Enzyklika „Immortale Dei“ über die christliche Staatsordnung vom 1. Januar 1885 ausgeführt wird. Papst Leo XIII. formuliert dort, die bis zu Papst Gelasius I. und Papst Gregor VII. zurückreichende Lehre von den „zwei Ge12
Grundlegend hierzu und zum Folgenden: Göbel, Verhältnis (Anm. 1), passim; Mikat, Verhältnis (Anm. 9), S. 111 ff.; ders., Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, in: ders., Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hrsg. v. Joseph Listl, 1. Halbbd. (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 5), Berlin 1974, S. 217–235; im Überblick: Joseph Listl, Art. Kirche u. Staat, in: LThK3, Sp. 1497 ff. (1500 ff.). 13 Grundlegend Vatikanum II, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“ („Constitutio dogmatica de Ecclesia“), in: AAS 57 (1965), S. 5–71. 14 Joseph Listl, Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: HdbKathKR2, S. 1239–1255, hier 1239 ff. 15
Vatikanum II, Erklärung „Dignitatis humanae“ („Declaratio de libertate religiosa“), in: AAS 58 (1966), S. 929–946, hier 931 ff. (Nr. 3, vgl. auch Nr. 6 und 7). 16
Vatikanum II, Pastorale Konstitution „Gaudium et spes“ („Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis“), in: AAS 58 (1966), S. 1025–1120, hier 1060 f. (Nr. 42). 17
Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 18 und – zusammenfassend – 30; ders., Lehre (Anm. 14), S. 1242 ff.
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walten“ aufnehmend18: „So hat also Gott die Sorge für das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt, der kirchlichen und der staatlichen. Der einen obliegt die Sorge für die göttlichen Belange, der anderen für die menschlichen Belange. Jede ist in ihrer Art die höchste. Jede hat bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegt, Grenzen, die sich aus dem Wesen und dem nächsten Zweck jeder der beiden Gewalten ergeben“19. Aus diesem Wesensunterschied von Kirche und Staat resultiert nach kirchlicher Lehre die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der staatlichen Gewalt und die gegenseitige Unabhängigkeit beider Mächte. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht explizit davon, dass die „politische Gemeinschaft und die Kirche […] auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom [sind]“20, dass es daher grundsätzlich nicht Aufgabe der Kirche sein kann, politische Lösungen für zeitliche Fragen zu finden 21 und dass es umgekehrt der staatlichen Gewalt untersagt ist, in das religiöse Leben der Bürger wie auch der Kirche bestimmend einzugreifen 22. Aus der so verstandenen Unabhängigkeit der Kirche vom Staat wiederum folgt in der Konsequenz eine Absage an die Ideen von Staatskirchentum und Staatskirchenhoheit. Der Codex Iuris Canonici von 1983 zieht aus diesen Grundaussagen die kirchenrechtlichen Konsequenzen, die in ihrer Gesamtheit auf der Grundlage der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils zu interpretieren sind 23. So wird die Eigenständigkeit der Kirche und ihrer Rechtsordnung gegenüber dem Staat vielfältig hervorgehoben24, etwa dadurch, dass ausgeführt wird, dass sich der katholischen Kirche und dem Apostolischen Stuhl kraft göttlicher Anordnung 18
Zu ihr näher Uhle, Staat – Kirche – Kultur (Anm. 11), S. 67 ff. und 71 ff.
19
Enzyklika „Immortale Dei“, abgedruckt bei Emil Marmy (Hrsg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Dokumente, Freiburg / Schweiz 1945, S. 571–602. 20
Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1099 (Nr. 76 Abs. 3); vgl. hierzu auch Paul Mikat, Kirche und Staat, in: ders., Religionsrechtliche Schriften (Anm. 12), S. 265–301, hier 288. 21
Vgl. dazu Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1097 ff. (Nr. 75 i. V. m. Nr. 76) – Diese Feststellung verbindet das Konzil mit der Hervorhebung der Prinzipien des freiheitlichen und gewaltenteilenden Staates sowie mit der kirchlichen Anerkennung der Demokratie; vgl. hierzu Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 7), Berlin 1978, S. 232 f.; vgl. auch Dieter Grimm, Die Staatslehre der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Civitas 8 (1969), S. 11–30, hier 29 f. 22
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 931 ff. (Nr. 3, 4, 5, 6).
23
So auch Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 31.
24
Zur Eigenrechtsmacht der Kirche im Spiegel der Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils Listl, Kirche (Anm. 21), S. 222 ff.
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der Charakter einer moralischen Person eignet und ihr bzw. ihm Rechtsfähigkeit zusteht25. Die Kirche wird damit als Institution mit göttlich angeordneter Rechtspersönlichkeit begriffen26, die nicht lediglich unabhängig von jeder weltlichen Macht durch Jesus Christus errichtet, sondern von diesem auch mit allen Rechten ausgestattet ist, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt; hierbei geht der CIC davon aus, dass die detaillierte und verbindliche Bestimmung dieser Rechte auf Erden allein der Kirche obliegt27. Namentlich und ebenfalls unter Berufung auf göttliche Anordnung nimmt die katholische Kirche für sich das Recht in Anspruch, unabhängig von einer weltlichen Macht ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu regeln. Innerkirchlich wird das so postulierte Selbstbestimmungsrecht durch die – vom Codex so bezeichnete – Leitungsgewalt ausgefüllt 28, die in prinzipiell einheitlicher Weise beim Papst liegt; diese Leitungsgewalt wird zwar nach gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt unterschieden, ist indessen grundsätzlich nicht getrennten Organen zugeordnet. Freilich werden in der Praxis
25 So c. 113 § 1 CIC. Zur katholischen Kirche als „persona moralis“ eingehend und m. w. N. Göbel, Verhältnis (Anm. 1), S. 104 ff.; zum Verhältnis der Termini „persona moralis“ und „persona iuridica“ im CIC 1983 auch Helmut Schnizer, Kanonisches Recht und Theorie der juristischen Person? Zugleich eine Besprechung von Salinas, La nócion de persona juridica, in: ders., Rechtssubjekt, rechtswirksames Handeln und Organisationsstrukturen. Ausgewählte Aufsätze aus Kirchenrecht, Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht (Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, Bd. 42), hrsg. v. Louis Carlen, Freiburg / Schweiz 1995, 423–427; ders., Rechtssubjektivität und Konkordat, in: 60 Jahre Österreichisches Konkordat, hrsg. v. Hans Paarhammer / Franz Pototschnig / Alfred Rinnerthaler, München 1994, S. 485–504; vgl. zusammenfassend ders., Allgemeine Fragen des kirchlichen Vereinsrechts, in: HdbKathKR 2, S. 563–578, hier 565 mit Anm. 8 mit Verweis auf die Ausführungen in HdbKathKR 1, S. 454–476; vgl. auch Franz Pototschnig, Rechtspersönlichkeit und rechtserhebliches Geschehen, in: HdbKathKR 2, S. 136–149, hier 142 mit Anm. 27; vgl. auch Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 18. 26 Vgl. Joseph Listl, Die Rechtsnormen, in: HdbKathKR2, S. 102–118, hier 111 f.; zur Rechtspersönlichkeit nach kanonischem Recht näher Pototschnig, Rechtspersönlichkeit (Anm. 25). 27 28
Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 18.
C. 129 § 1 CIC; zur Ausübung der Leitungsvollmacht näher Helmuth Pree, Die Ausübung der Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR2, S. 156–175; zu den Trägern der obersten Leitungsgewalt siehe Libero Gerosa, Die Träger der obersten Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR2, S. 326–330; zum Papst als Träger der Primatialgewalt siehe c. 331 CIC; siehe dazu aus dem Schrifttum stellvertretend den Überblick bei Hugo Schwendenwein, Der Papst, in: HdbKathKR2, S. 330–346.
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überwiegend die verwaltende und die rechtsprechende Tätigkeit von verschiedenen Organen ausgeübt29. Ausfluss der kirchlichen Leitungsgewalt ist die beanspruchte uneingeschränkte Ämterhoheit der katholischen Kirche30, namentlich das explizit verankerte ausschließliche Recht, über die Ausbildung der Anwärter für den geistlichen Dienst zu bestimmen31. Ausdrücklich normiert ist das Recht des Papstes zur freien und alleinigen Ernennung der Bischöfe, wobei die Einräumung von Rechten und Privilegien an weltliche Autoritäten in Bezug auf Wahl, Präsentation oder Designation von Bischöfen für die Zukunft explizit ausgeschlossen wird32. Ferner steht dem Papst das unabhängige Recht zu, Gesandte zu ernennen und zu den Teilkirchen in den verschiedenen Nationen bzw. Regionen zu entsenden, zu versetzen oder abzuberufen33. Der Papst sowie das Bischofskollegium sind schließlich exklusiv berechtigt, die katholische Kirche nach außen, d. h. gegenüber der Staatenwelt, zu vertreten sowie in ihrem Namen Verträge zu schließen bzw. in sonstiger Weise rechtserheblich zu handeln34. Unabhängig von jeglicher staatlichen Gewalt steht der Kirche nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 ferner das Recht zu, zur Verwirklichung der ihr eigenen Zwecke Vermögen, sog. zeitliche Güter, zu erwerben, zu besitzen, zu verwalten und zu veräußern35; zu den kirchlichen Aufgaben, die einen derartigen Vermögensbesitz rechtfertigen, zählt das Kirchenrecht namentlich die geordnete Feier der Heiligen Messe, die Sicherung des angemessenen Lebensunterhalts der Kleriker und der übrigen Kirchenbediensteten sowie die Betreuung religiöser und karitativer Werke, insbesondere zum Zwecke des Dienstes an den 29
Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 19.
30
Zur Definition des kirchlichen Amtes vgl. c. 145 CIC; hierzu näher Georg May, Das Kirchenamt, in: HdbKathKR2, S. 175–187. 31 So c. 232 CIC; vgl. hierzu Rudolf Weigand, Die Ausbildung und Fortbildung der Kleriker, in: HdbKathKR2, S. 293–300.
So c. 377 § 5 CIC; zum bischöflichen Dienst aus der Sicht des kanonischen Rechts näher Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbKathKR2, S. 425–442. 32
33
So c. 362 CIC.
34
Vgl. cc. 331 und 336 CIC; zum päpstlichen Gesandtschaftsrecht siehe den Überblick bei Paul Mikat, Die päpstlichen Gesandten, in: HdbKathKR2, S. 386–393. 35
Hierzu jeweils m. w. N. eingehend Helmuth Pree, Grundfragen kirchlichen Vermögensrechts, in: HdbKathKR2, S. 1041–1068; Richard Potz, Der Erwerb von Kirchenvermögen, in: HdbKathKR2, S. 1068–1077; Richard Puza, Die Verwaltung des Kirchenvermögens, in: HdbKathKR2, S. 1093–1102; ders., Rechtsgeschäfte über das Kirchenvermögen, in: HdbKathKR2, S. 1102–1108.
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Armen und sozial Schwachen36. Ausdrücklich wendet sich der Codex gegen jede Diskriminierung kirchlicher Einrichtungen auf dem Gebiet des Kirchenvermögens37 und bezeichnet es nicht nur als das Recht der Kirche, für ihre Zwecke Kollekten abhalten zu dürfen, sondern auch, von den Gläubigen diejenigen Zuwendungen zu fordern, die ihr für die Verfolgung der Zwecke notwendig erscheinen 38. Das Kirchenrecht geht auf der Grundlage dieser Normen davon aus, dass im Regelfall der erforderliche Finanzbedarf der katholischen Kirche durch die Zuwendungen der Gläubigen gedeckt werden kann, wobei im Einzelnen die von der Bischofskonferenz erlassenen Normen maßgeblich sind 39. Für die Rechtsgeschäfte, die das Kirchengut betreffen, sind die zivilrechtlichen Bestimmungen der nationa-
36
So c. 1254 §§ 1 und 2 CIC.
37
So c. 1259 CIC.
38
So c. 1260 CIC. – Zu Kollekten, Spenden und sonstigen Zuwendungen der Gläubigen als Instrumenten der Kirchenfinanzierung zuletzt Arnd Uhle, Kirchenfinanzierung in Europa: Erscheinungsformen, Eignung, Zukunftsperspektiven, in: Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europäischer Staaten, hrsg. v. Wilhelm Rees / María Roca / Balázs Schanda, Berlin 2013, S. 743–788, hier 762 ff. und 783 f. 39 Überblick über die kirchlichen Finanzierungsinstrumente bei Uhle, Kirchenfinanzierung (Anm. 38), S. 744 ff., 771 ff.; ausführlich auch Heiner Marré, Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart (BzMK 4), 4. Aufl., Essen 2006, S. 13 ff.; Andreas Mösenthin, Systeme der Kirchenfinanzierung in der Europäischen Union und ihre europarechtlichen Rahmenbedingungen, in: KuR 2000, S. 139–156; Felix Hammer, Kirchenfinanzierung in ausländischen Staaten, in: Aktuelle Rechtsfragen der Kirchensteuer (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft n. F. 16), hrsg. v. Dieter Birk / Dirk Ehlers, Baden-Baden 2012, S. 65–84; vgl. dazu auch Alexander Hollerbach, Kirchensteuer und Kirchenbeitrag, in: HdbKathKR2, S. 1078–1092. – Speziell zur Kirchensteuer vgl. aus der Fülle der Literatur näher Peter Axer, Die Kirchensteuer als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche, in: Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Stefan Muckel, Berlin 2003, S. 13–31; Paul Kirchhof, Die Kirchensteuer im System des deutschen Staatsrechts, in: Kirchensteuer. Notwendigkeit und Problematik, hrsg. v. Friedrich Fahr, Regensburg 1996, S. 53–82; ders., Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des deutschen Kirchensteuersystems, in: Bochumer Kirchensteuertag, hrsg. v. Roman Seer / Burkhard Kämper, Frankfurt a. M. 2004, S. 11–25; Josef Jurina, Die Kirchensteuer als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche, in: Bochumer Kirchensteuertag, hrsg. v. Roman Seer / Burkhard Kämper, Frankfurt a. M. 2004, S. 27–42; Heinrich List, Kirchensteuer. Rechtsgrundlagen und neuere Rechtsprechung, in: BB 1997, S. 17–24; Heiner Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 1101–1147; Uhle, Kirchenfinanzierung (Anm. 38), S. 757 ff., 779 ff.; siehe auch Wolfgang Ockenfels / Bernd Kettern (Hrsg.), Streitfall Kirchensteuer, Paderborn 1993.
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len Rechtsordnungen anzuwenden, die für den kirchlichen Bereich dieselbe Wirksamkeit entfalten, die ihnen auch im staatlichen Bereich zukommt. Auf dem Gebiet des kirchlichen Strafrechts beansprucht die katholische Kirche das „angeborene und eigene Recht“, straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen40; das im CIC von 1917 enthaltene Postulat, für die kirchliche Strafverfolgung auf staatliche Hilfe zurückgreifen zu können, hält der Codex Iuris Canonici von 1983 nicht mehr aufrecht. Hingegen hält er – auch jenseits des Strafrechts – an der Befugnis zu eigener Rechtsprechung, die als wesentlicher Bestandteil der kirchlichen Leitungsgewalt verstanden wird, fest. Die Kirche entscheidet daher aufgrund eigenen Rechts insbesondere über Streitigkeiten, die geistliche Angelegenheiten und solche Gegenstände betreffen, die mit diesen geistlichen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen, ferner über die Verletzung kirchlicher Gesetze sowie über alle sündhaften Handlungen, soweit es dabei um die Feststellung von Schuld im Zusammenhang mit der Verhängung von Kirchenstrafen geht 41. Zu der eigenen Rechtsprechungsgewalt der Kirche zählt der Codex auch die Entscheidung über die Gültigkeit oder Nichtigkeit der Ehen von Getauften42. Bezüglich der Glaubensverkündigung wie der Missionstätigkeit gilt es der katholischen Kirche gleichermaßen als ihr Recht wie ihre Pflicht, (auch) unter Einsatz eigener sozialer Kommunikationsmittel allen Völkern das Evangelium zu verkündigen43; sie erhebt den Anspruch, immer und überall ihre sittlichen Grundsätze, auch für die soziale Ordnung, zu verkünden und alle menschlichen Angelegenheiten ihrer Beurteilung zu unterziehen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person und das Heil der Seelen dies verlangen 44. Im Bereich des 40 So c. 1311 CIC; zu Kirchenstrafen näher Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR2, S. 1117–1125; ders., Straftat und Strafe, in: HdbKathKR2, S. 1125–1138; ders., Die einzelnen Straftaten, in: HdbKathKR2, S. 1138–1149. 41
So c. 1401 CIC. Hierzu m. w. N. Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 29.
42
So c. 1671 CIC; zum Eheverfahren näher Günter Assenmacher, Die Eheverfahren, in: HdbKathKR2, S. 1187–1208. Ungeachtet der staatlichen Ehegesetzgebung hält die katholische Kirche daher an ihrem Eherecht für ihre Gläubigen fest. Nach der kirchlichen Lehre ist der Ehebund zwischen Getauften eines der von Jesus Christus eingesetzten Sakramente, weshalb es keinen gültigen Ehevertrag geben kann, der nicht zugleich Sakrament ist (c. 1055 §§ 1 und 2 CIC). Die nach staatlichem Recht vor dem Standesbeamten erfolgende Trauung betrachtet das kanonische Recht grundsätzlich als eine Erklärung, die für Katholiken lediglich für die rein bürgerlichen Wirkungen der Eheschließung von Bedeutung ist, nicht aber den Abschluss einer kirchenrechtlich gültigen Ehe begründet. 43
So c. 747 § 1 CIC.
44
So c. 747 § 2 CIC.
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Bildungswesens45 spricht der Codex Iuris Canonici der Kirche unter Ablehnung eines staatlichen Schulmonopols das Recht zu, Schulen jeder Art sowie Universitäten zu gründen und zu leiten 46. Demgemäß betrachtet die katholische Kirche nicht die staatliche Einheitsschule, sondern ein plurales Schulwesen, in dem freie Schulen in Koexistenz und Konkurrenz zu den öffentlichen Schulen stehen, als den anzustrebenden und einer freiheitlich verfassten Gesellschaft angemessenen Zustand. Der Religionsunterricht und die katholische Erziehung, die in Schulen jeglicher Art vermittelt oder auf sonstige Weise geleistet werden, unterstehen der kirchlichen Autorität47; wer Religionsunterricht erteilt oder im Namen der Kirche eine Lehrtätigkeit ausübt – namentlich an einer Hochschule eine theologische Disziplin vertritt – bedarf dazu einer Sendungs- bzw. Lehrbeauftragung der zuständigen kirchlichen Autorität48. Aus den vorstehend nachgezeichneten sowie zahlreichen weiteren Bestimmungen des katholischen Kirchenrechts erhellen sich die Postulate der Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat, der Eigenständigkeit der kirchlichen Gewalt und der Unabhängigkeit der katholischen Kirche und ihrer Rechtsordnung von aller weltlichen Autorität. Diese Unabhängigkeit versteht der Codex Iuris Canonici von 1983 gleichermaßen als Voraussetzung für die Freiheit der Kirche wie als Fundament des kirchlichen Wirkens in dieser Welt – ungeachtet der jeweils bestehenden Herrschaftssysteme. Das Gefüge der kanonischen Normen ist für die Kirche zugleich die Grundlage eines in den einzelnen Staaten unterschiedlich ausgeformten, aus kirchenrechtlicher Sicht jedoch stets freiheitlich zu gestaltenden Verhältnisses von Kirche und Staat 49, dessen vertragsstaatskirchenrechtliche Sicherung sie anstrebt50. 2. Die Verpflichtung des Staates zur Gewähr religiöser Freiheit Besondere Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat kommt der Lehre der katholischen Kirche zufolge der staatlichen Gewähr von Religions45
Hierzu näher Franz Pototschnig, Das Bildungswesen, in: HdbKathKR2, S. 721–
734. 46
Vgl. cc. 800 § 1 und 807 CIC.
47
So c. 804 CIC.
48
So cc. 805 und 812 CIC; siehe hierzu näher den Überblick bei Wilhelm Rees, Der Religionsunterricht, in: HdbKathKR2, S. 734–749; Georg May, Die Hochschulen, in: HdbKathKR2, S. 749–777. 49 50
So ausdrücklich auch Listl, Lehre (Anm. 14), S. 1249 f.
Zu den jüngeren vertragsstaatskirchenrechtlichen Sicherungen in der Bundesrepublik Deutschland Uhle, Codex (Anm. 4), S. 33 ff.
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freiheit zu51. Die Aussagen des Codex Iuris Canonici setzen diesbezüglich einen Staat voraus, der auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Voraussetzung bürgerlicher Freiheitsrechte beruht und der seinen Bürgern die in der All gemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 enthaltenen Grund- und Freiheitsrechte nicht nur dem Buchstaben der Verfassung nach, sondern auch effektiv gewährt52. Entscheidend für das katholische Verständnis der Religionsfreiheit in der Gegenwart ist die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ des Zweiten Vatikanischen Konzils53. In dieser bekennt sich die katholische Kirche – ohne ihren dogmatischen Wahrheitsanspruch aufzugeben 54 – auf dem Fundament der Würde der menschlichen Person ihrerseits zur staatlichen Verbürgung des Menschen- bzw. Grundrechts der allgemeinen Religionsfreiheit 55 und betrachtet den Staat als verpflichtet, die volle Religionsfreiheit zu gewähren 56: „Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf 51
Vgl. hierzu Listl, Kirche (Anm. 21), S. 208 ff.
52
Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 31.
53
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15).
54
Vgl. diesbezüglich Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 930 (Nr. 1 Abs. 2 und 3): Die „einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der ka tholischen apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten“. […] Die Religionsfreiheit lässt „die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaft gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.“ 55
Zur Verankerung der Religionsfreiheit in der Menschenwürde vgl. Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 930 f. (Nr. 2) und 935 f. (Nr. 9): „Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet […].“ Zum (gegenläufigen) Freiheitsentwurf aus der päpstlichen Perspektive des 19. Jahrhunderts eingehend Josef Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Menschenrechte und Menschenwürde, Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, hrsg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde / Robert Spaemann, Stuttgart 1987, S. 138–174. – Zur kirchlichen Fundierung der Menschenrechte in der Menschenwürde Peter Krämer, Kirchenrecht II. Ortskirche – Gesamtkirche, Stuttgart 1993, S. 29 ff.; zum Verhältnis der katholischen Kirche zur Menschenrechtsidee ders., Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Tradition, in: ÖAKR 37 (1987), S. 229–239. 56 Hierzu näher Peter Krämer, Religionsfreiheit in der Kirche. Das Recht auf religiöse Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung, Trier 1981; Gerhard Luf, Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, in: HdbKathKR2, S. 700–708; vgl. auch Mikat, Verhältnis (Anm. 9), S. 135 ff.; zum Folgenden näher auch Listl, Lehre (Anm. 14), S. 1250 ff.
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religiöse Freiheit hat. […] Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird“57. In der Konsequenz dieser Sichtweise liegt, dass die Kirche die Religionsfreiheit nicht nur für Katholiken bzw. Christen, sondern für alle Menschen einfordert58. Das Konzil definiert die Religionsfreiheit wie folgt: „Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl vonseiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln“59. Bedeutsam ist, dass der dieser Erklärung zugrunde liegende Begriff der Religionsfreiheit zunächst die positive wie auch die negative Facette der Religionsfreiheit umfasst. Zudem beschränkt er sich nicht auf die individuelle und die kollektive Religionsfreiheit, sondern bezieht auch die korporative Religionsfreiheit mit ein. Zu den Einzelelementen des Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit rechnet das Zweite Vatikanische Konzil dabei sämtliche Lebensvollzüge der Kirche, zu denen u. a. die öffentliche Religionsausübung im Sinne der Kultusfreiheit, die Zulässigkeit der Erteilung von Religionsunterricht in den Schulen, das Recht der Ämterhoheit, die Missionsfreiheit, die Freiheit zur Verbreitung der katholischen Soziallehre, das Recht zur Betätigung auf dem Gebiet der Caritas und vieles mehr gehören60. Das Konzil betont bei alledem die Bedeutung des Umstands, dass „der Grundsatz der Religionsfreiheit nicht nur mit Worten proklamiert oder durch Gesetz festgelegt [werden soll], sondern auch ernstlich in die Praxis überführt ... und in Geltung [gesetzt werden soll]“ 61; nachhaltig weist es darauf hin, dass es erforderlich ist, „dass überall auf Erden die Religionsfreiheit einen wirksamen Rechtsschutz genießt und dass die höchsten Pflichten und Rechte 57
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 930 f. (Nr. 2).
58
Siehe Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 939 (Nr. 13 Abs. 3): Die Christen haben „wie die übrigen Menschen das bürgerliche Recht, dass sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und daran nicht gehindert werden. So steht also die Freiheit der Kirche im Einklang mit jener religiösen Freiheit, die für alle Menschen und Gemeinschaften als ein Recht anzuerkennen und in der juristischen Ordnung zu verankern ist.“ 59
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 930 f. (Nr. 2).
60
Vgl. dazu Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 932 f. (Nr. 4); Listl, Lehre (Anm. 14), S. 1251 f. 61
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 939 (Nr. 13 Abs. 3).
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der Menschen, ihr religiöses Leben in der Gesellschaft in Freiheit zu gestalten, wohl beachtet werden“62. 3. Die Anerkennung der religiösen Neutralität des Staates Mit der postulierten Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat und mit der kirchlichen Bejahung einer Pflicht des Staates zur Gewährleistung voller Religionsfreiheit wird schließlich zugleich die Auffassung der katholischen Kirche verdeutlicht, dass der moderne Staat kein konfessioneller Staat mehr sein kann, sondern ein religiös und weltanschaulich neutraler Staat zu sein hat 63. Das Konzil unterstreicht, dass die Kirche „ihre Hoffnungen nicht auf Privilegien [setzt], die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden“; vielmehr soll die Kirche „sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern“64. Gleichwohl bedeutet die religiöse Neutralität des Staates nach Auffassung des Zweiten Vatikanischen Konzils keine staatlich verordnete religiöse Indifferenz, sondern lässt – unter Wahrung des Grundsatzes religionsrechtlicher Parität – Raum für eine Förderung der Religion durch den freiheitlichen Verfassungsstaat, die als erforderlich betrachtet wird65. Damit unterscheidet sich die katholische Lehre der Gegenwart deutlich von den noch im 19. und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein artikulierten kirchlichen Verlautbarungen, die von der Vorstellung eines konfessionellen Staates geprägt waren. Hiernach war ein „katholischer Staat“ als solcher verpflichtet, die „wahre“, d. h. hier: die katholische Religion als die staatliche Re62
Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 941 (Nr. 15 Abs. 4).
63
Dazu Listl, Lehre (Anm. 14), S. 1251.
64
Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1099 f. (Nr. 76).
65
Vgl. Vatikanum II, „Dignitatis humanae“ (Anm. 15), S. 934 (Nr. 6 Abs. 2): „... Die Staatsgewalt muss also durch gerechte Gesetze und durch andere geeignete Mittel den Schutz der religiösen Freiheit aller Bürger wirksam und tatkräftig übernehmen und für die Förderung des religiösen Lebens günstige Bedingungen schaffen, damit die Bürger auch wirklich in der Lage sind, ihre religiösen Rechte auszuüben […]“; ausdrücklich so auch Listl, Kirche (Anm. 21), S. 216 ff.; ders., Lehre (Anm. 14), S. 1251. – Eingehend zur finanziellen Förderung der Religionsgemeinschaften durch den Staat Arnd Uhle, Die öffentliche Finanzierung der Religionsgemeinschaften im säkularen Verfassungsstaat. Anmerkungen zu ihrer Legitimität und ihren Erscheinungsformen, in: Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, hrsg. v. Libero Gerosa / Ludger Müller, Paderborn 2014, S. 191–218.
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ligion zur Grundlage der staatlichen Tätigkeit zu erheben; gefordert wurde eine umfassende katholische Identität des Staates, die in der Konsequenz darauf hinauslief, den Anhängern anderer Bekenntnisse lediglich mit Duldung zu begegnen. 4. Die kirchliche Bereitschaft zur Kooperation mit dem Staat Das Zweite Vatikanische Konzil und ihm nachfolgend der Codex Iuris Canonici von 1983 betonen indessen nicht lediglich die vorstehend erörterten Grundsätze der Wesensverschiedenheit von Kirche und Staat, der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche im Staat, der staatlichen Pflicht zur Gewähr von Religionsfreiheit und zur Wahrung religiöser Neutralität und Parität; gleichermaßen hervorgehoben wird auch die Bereitschaft der katholischen Kirche zur Kooperation mit dem Staat66. Diese Bereitschaft gründet maßgeblich in der Erwägung, dass sich Kirche und Staat aus denselben Menschen zusammensetzen und denselben Menschen zu dienen haben, wenngleich in je verschiedener Hinsicht sowie in Verfolgung unterschiedlicher Aufgabenstellungen und Zielsetzungen 67. Den besten Weg zur Regelung klärungsbedürftiger Fragen erblickt die katholische Kirche hierbei in der friedlichen Verständigung, verkörpert in dem Abschluss von Konkordaten, d. h. von zweiseitigen völkerrechtlichen Verträgen zwischen dem Heiligen Stuhl und einzelnen Staaten, die die dauernde Regelung der die Konkordatspartner gemeinsam tangierenden Angelegenheiten zum Gegenstand haben 68 – eine Sichtweise, die in Deutschland ihre Bestätigung in der neueren Entwicklung des Konkordatsrechts findet69 und sich insbesondere nach der deutschen 66 Vgl. Mikat, Verhältnis (Anm. 9), s: 137 ff., v. a. 140. Zur Notwendigkeit einer engen Kooperation zwischen Kirche und Staat im Spiegel der Aussagen des Zweiten Vati kanischen Konzils Listl, Kirche (Anm. 21), S. 228 ff. 67 Vgl. insoweit Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1099 f. (Nr. 76 Abs. 3); hierzu m. w. N. auch Listl, Lehre (Anm. 14), S. 1252. 68 Zur Geschichte und zum Begriff des Konkordates näher Paul Mikat, Konkordat, in: ders., Religionsrechtliche Schriften (Anm. 12), S. 445–458; zu Verträgen von Kirche und Staat unter besonderer Berücksichtigung des Konkordats näher Göbel, Verhältnis (Anm. 1), S. 146 ff. Nach wie vor grundlegend zum Vertragsstaatskirchenrecht: Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1965; ders., Die neuere Entwicklung des Konkordatsrechts, in: JöR, N.F. 17 (1968), S. 117–163; siehe auch Lothar Schöppe, Neue Konkordate und konkordatäre Vereinbarungen, Hamburg 1970. 69 Hierzu Alexander Hollerbach, Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 253–287, hier 254 ff.; Uhle, Codex (Anm. 4). Vgl. im Einzelnen: Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen
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Wiedervereinigung bewährt hat; dies spiegelt sich exemplarisch in den Verträgen zur Errichtung neuer Bistümer wider 70. Die hohe kirchliche Wertschätzung des Konkordatsrechts bringt der Codex Iuris Canonici von 1983 dadurch zum Ausdruck, dass dessen Regelungen die vom Heiligen Stuhl mit Staaten und anderen politischen Gemeinschaften geschlossenen Konkordate unberührt lassen. Der Codex statuiert damit den unbedingten Vorrang des Konkordatsrechts vor entgegenstehendem kirchlichen Recht71. 5. Exkurs: Die „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ vom 24. November 2002 Von Bedeutung für das katholische Verständnis von Kirche und Staat ist auch die von der Kongregation für die Glaubenslehre vorgelegte „Lehrmäßige vom 11. Juni 1997 (GVBl. 1997 S. 266); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern vom 15. September 1997 (GVBl. MV 1998, S. 2); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Sachsen-Anhalt vom 15. Januar 1998 (GVBl. LSA 1998, S. 161); Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. Juli 1996 (SächsGVBl. 1997, S. 18); dazu: Reiner Tillmanns, Staatskirchenverträge im Freistaat Sachsen. Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der Wiedervereinigung durch kodifikatorische Verträge, Leipzig 2001; Steffen Heitmann, Der Katholische Kirchenvertrag Sachsen, in: NJW 1997, S. 1420–1424; zu den Verträgen der neuen Länder mit der Jüdischen Gemeinschaft eingehend Axel Vulpius, Verträge mit der Jüdischen Gemeinschaft in den neuen Ländern, in: NVwZ 1996, S. 759–765. 70
Siehe hierzu den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und den Ländern Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Magdeburg vom 13. April 1994, AAS 87 (1995), S. 129–137; den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg sowie dem Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Görlitz vom 4. Mai 1994, AAS 87 (1995), S. 138–145; den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen über die Errichtung des Bistums Erfurt vom 14. Juni 1994, AAS 87 (1995), S. 145–154 sowie den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Land Schleswig-Holstein über die Errichtung von Erzbistum und Kirchenprovinz Hamburg vom 22. September 1994, AAS 87 (1995), S. 154–164. Zum Konkordatsrecht nach der deutschen Wiedervereinigung eingehend Hollerbach, Grundlagen (Anm. 69), S. 263 ff.; Hans Ulrich Anke, Die Neubestimmung des Staat-KircheVerhältnisses in den neuen Ländern durch Staatskirchenverträge. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des staatskirchenrechtlichen Gestaltungsinstruments (Ius ecclesiasticum, Bd. 62), Tübingen 2000; Uhle, Codex (Anm. 4), S. 35 ff. 71
So c. 3 CIC (wortgleich bereits der CIC von 1917). Hierzu näher Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 17 f.
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Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“ vom 24. November 200272. Gegenstand dieses Dokuments ist vorrangig die Teilnahme katholischer Laien am öffentlichen Leben in demokratisch verfassten Staaten. Zugleich mit diesen Anmerkungen zum Verhalten der Katholiken im politischen Leben werden indessen die vorstehend nachgezeichneten kirchenrechtlichen Grundzüge des Verhältnisses von Kirche und Staat mit neuer Aktualität erfüllt; zudem lässt die Note mittelbar die Haltung der katholischen Kirche zur demokratischen Verfasstheit des modernen freiheitlichen Staates erkennen. Das vorgelegte Dokument unterstreicht zunächst einmal mehr die katholische Auffassung von der Wesensverschiedenheit und Eigenständigkeit der geistlichen und der weltlichen Ordnung. Die „Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen […] Sphäre“ wird als ein umfassend akzeptierter und anerkannter Wert und damit als Selbstverständlichkeit betrachtet, die nach Auffassung der katholischen Kirche – so wörtlich – zu den „Errungenschaften der Zivilisation“ gehört 73. Die „Note“ wendet sich explizit gegen Formen der „Identifikation des religiösen Gesetzes mit dem Zivilgesetz“74. Hierbei unterstreicht sie, dass spezifisch religiöse Akte und Handlungen „außerhalb der Kompetenzen des Staates bleiben, der sich in diese nicht einmischen darf noch sie in irgendeiner Weise vorschreiben oder verhindern kann, mit Ausnahme begründeter Forderungen der öffentlichen Ordnung“ 75. Umgekehrt erkennt die katholische Kirche mit ihr einmal mehr an, dass es „nicht Aufgabe der Kirche [ist], konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat.“76 Auch die politisch engagierten katholischen Laien, deren Tätigkeit zum „Einsatz des Christen in der Welt“ ge72
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben vom 24. November 2002 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003. – Zur „Note“ vom 24. Nov. 2002 Gernot Facius, Vatikan: Politischer Pluralismus ist „Selbstverständlichkeit“, in: Die Welt vom 17. Jan. 2003, Nr. 14, S. 2; Robert Spaemann, Der gefährliche Irrtum des ethischen Relativismus, in: L’Osservatore Romano vom 7. Febr. 2003, Nr. 6, S. 12; Lothar Roos, Wahre und falsche „Laizität“. Zur „politischen Note“ der päpstlichen Glaubenskongregation, in: Die Neue Ordnung 2003, S. 223–227. 73
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 6 (S. 14 f.).
74
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 6 (S. 14).
75
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 6 (S. 14 f.).
76
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 3 (S. 9).
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rechnet wird, sind daher gehalten, „das Wesen und die legitime Autonomie der zeitlichen Ordnung zu respektieren“77. Die auf diese Weise erfolgende Hervorhebung der Autonomie der weltlichen gegenüber der religiös-kirchlichen Sphäre wird in der „Note“ verbunden mit einem Bekenntnis zur staatlichen Gewähr umfassender Religionsfreiheit; ausdrücklich wird auf die Gefahr für die Religionsfreiheit im Besonderen und für die anderen unveräußerlichen Menschenrechte im Allgemeinen hingewiesen, wenn die Autonomie der zeitlichen Ordnung missachtet wird bzw. verlorengeht78. Die Religionsfreiheit sowie die übrigen Freiheitsrechte werden darüber hinaus in dem Dokument mit der demokratischen Ordnung der pluralistischen Gesellschaft in Beziehung gesetzt, die ihrerseits in ihrem Dienst an der Freiheit begrüßt wird: Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil 79 wird explizit darauf hingewiesen, dass der politische Pluralismus kirchlicherseits akzeptiert ist80 und dass „der Weg der Demokratie […] die direkte Mitwirkung der Bürger in den politischen Entscheidungen am besten zum Ausdruck bringt“81. Mit diesen Aussagen unterstreicht und ergänzt die „Lehrmäßige Note“ vom 24. November 2002 das eingangs skizzierte Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat, wie es der Codex Iuris Canonici enthält bzw. zu erkennen gibt. Inhaltlich steht sie in voller Übereinstimmung mit den kirchenrechtlich ausgeformten Bestimmungen, die das Verhältnis von Kirche und Staat betreffen. 77
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 1 (S. 5 f.). – Allerdings sind die Laien der hier erörterten „Note“ zufolge hierbei an ihr christliches Gewissen und die damit übereinstimmenden Werte gebunden und nicht berechtigt, einem ethischen Relativismus zu folgen; der politische darf nicht mit einem ethischen Pluralismus verwechselt werden, da die Demokratie auf ethischen Prinzipien beruht, die nicht „verhandelbar“ sind; vgl. ebd., insbesondere sub 2 und 3 (S. 7 ff.). 78
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 6 (S. 13 f.).
79
Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1097 ff. (Nr. 75); vgl. hierzu m. w. N. Listl, Kirche (Anm. 21), S. 232 f.; vgl. auch Grimm, Staatslehre (Anm. 21), S. 19 ff.; vgl. ferner Hans Maier, Das Leben in der politischen Gemeinschaft, in: Die Autorität der Freiheit. Gegenwart des Konzils und Zukunft der Kirche im ökumenischen Disput, hrsg. v. Johann Christoph Hampe, Bd. 3, München 1967, S. 438–454, hier 451. 80 Vom politischen Pluralismus scharf abgegrenzt wird dabei ein ethisch-moralischer Pluralismus, vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 2 und 3 (S. 7 ff.); hierzu ausgezeichnet: Spaemann, Der gefährliche Irrtum des ethischen Relativismus (Anm. 72), Nr. 6, S. 12; Roos, „Laizität“ (Anm. 72). 81
Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note (Anm. 72), sub 3 (S. 10); vgl. auch Vatikanum II, „Gaudium et spes“ (Anm. 16), S. 1094 f. (Nr. 73).
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II. Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis Während die katholische Kirche mit dem Codex Iuris Canonici von 1983 auf ein umfassendes Gesetzbuch zurückgreifen kann, das die wesentlichen Aspekte des katholischen Verständnisses von Kirche und Staat zusammenfasst oder doch deutlich werden lässt, besteht ein vergleichbares, einheitliches Regelungswerk, das die evangelische Sicht des Verhältnisses von Kirche und Staat positiv-rechtlich ausgestalten würde, in Deutschland nicht 82. Vielmehr steht am Anfang der Betrachtungen zu diesem Verhältnis nach der Lehre der evangelischen Kirche regelmäßig der Zweifel, „ob es zu diesem Thema überhaupt eine staatskirchenrechtlich auswertbare Lehre gibt“83, genauer noch: die Feststellung, dass es „das“ evangelische Verständnis über das Verhältnis der Kirche zum Staat 84 bzw. eine protestantische „normative“ bzw. „autoritative“ Staatslehre in 82
Vgl. als Einführung Albert Stein, Evangelisches Kirchenrecht, 3. Aufl., Neuwied u. a. 1992; Adalbert Erler, Kirchenrecht, 5. Aufl., München 1983, S. 167 ff.; Werner Heun, Art. Kirchenrechtsquellen, Kirchengesetzgebung, in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 1216–1220, hier 1217 ff.; Gerhard Robbers, Art. Kirchenrecht (J). IV. K.squellen, in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 1198–1199. Aufgrund des Umstands, dass explizite kirchenrechtliche Bestimmungen zu der Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat weitestgehend fehlen, wird in diesen Darstellungen konsequenterweise auch die Erörterung der hiesigen Thematik ausgespart. Ausnahme: Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, 2. Aufl., Köln 2008, S. 54 ff. – Zu dem evangelischen Verständnis des Staates vgl. als Einführung Martin Schuck, Art. Staat (Th), in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 2283–2295. 83
So bereits Helmut Simon, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der evangelischen Kirche, in: HdbStKirchR1, Bd. I, S. 189–212, hier 189; hierzu eingehend auch Martin Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 157–208; vgl. auch Michael Basse, Art. Kirche und Staat (Th), in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 1157–1169, hier 1166 ff.; Martin Morlok / Sebastian Roßner, Art. Kirche und Staat (J), in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 1144–1157, hier 1154 f. 84
So explizit Heckel, Verhältnis (Anm. 83), S. 158 mit dem Hinweis auf Manfred Jacobs, Das Verhältnis von Staat und Kirche, in: Zwei Kirchen – Eine Moral?, hrsg. v. Oswald Bayer / Heinrich Döring / Antonellus Elsässer / Johannes Gründel / M. Honecker / dems. / Otto Hermann Pesch / Hans-Richard Reuter / Gregor Siefer, Regensburg 1986, S. 169–192, hier 175, der aus evangelischer Perspektive beschreibt, dass sich die Stellungnahmen der evangelischen Theologen zu dem Verhältnis von Kirche und Staat „anders als in der keilförmig angeordneten Flugformation unserer katholischen Mitchristen, die mehr der der Gänse oder der Schwäne gleicht, [...] mehr in der Formation wilder Krähenhaufen auf das Ziel zu[bewegt]“.
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Deutschland nicht gebe85, erst recht keine „kirchliche Staatslehre, die eine bestimmte Staatsform für theologisch allein erlaubt erklärte“ 86. Nach evangelischem Verständnis zählt die Beziehung zwischen Kirche und Staat als durchaus bedeutsamer, letztlich jedoch untergeordneter Teilaspekt zu dem Fragenkomplex, der das Wesen und den (Verkündigungs-)Auftrag der Kirche in der Welt betrifft87; der Sendungs- und Verkündigungsauftrag indessen ist unter den jeweiligen Bedingungen zu verwirklichen. Deshalb fühlt sich die evangelische Kirche immer wieder angespornt, sich als ecclesia semper reformanda zu begreifen – ein Selbstverständnis, das im Lichte der starken Situationsbezogenheit des evangelischen Verständnisses von Kirche und Staat den Entwurf einheitlicher evangelischer (staats-)kirchenrechtlicher Grundmodelle verhindert hat 88. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der geschichtlichen Wandlungen des Verhältnisses zwischen evangelischer Kirche und Staat hat Hans Liermann bereits 1933 festgestellt, die jeweils im Staatsrecht herrschenden Strömungen seien widerstandslos durch die evangelische Kirche hindurchgeflutet89. Gleichwohl bestehen auch nach evangelischem Verständnis Grundannahmen bezüglich des Verhältnisses von Kirche und Staat, die im Folgenden, ungeachtet vielfältiger Ausprägungen und Modifikationen90, in ihren Grundzügen nachzuzeichnen versucht werden. Sie liegen insbesondere den im Einzelnen zu betrachtenden Regelungen in den evangelischen Kirchenverfassungen zugrunde91. 85
Manfred Jacobs, Die evangelische Staatslehre (Quellen zur Konfessionskunde, Reihe B. Protestantische Quellen Heft 5), Göttingen 1971, S. 7; Martin Honecker, Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem, in: Vorträge G 254, hrsg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1981, S. 7–39, hier 8; Heckel, Verhältnis (Anm. 83), S. 176; Winter, Staatskirchenrecht (Anm. 82), S. 54. 86 Axel Frhr. v. Campenhausen, Wandel des Staatsverständnisses aus evangelischer Sicht, in: Schriften der Hermann-Ehlers-Akademie 28, Kiel 1991, S. 7–21, hier 7; zu den „Typen evangelischen Staatsverständnisses“ näher Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 15 ff. m. w. N. 87
Vgl. Wolfgang Huber, Art. Staat und Kirche – 2. Theologisch, in: EKL 3, Bd. 4, Sp. 456–461, hier 456; vgl. auch bereits Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 189. 88 So bereits die Feststellung von Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 189; zur Situationsbezogenheit wie hier auch Heckel, Verhältnis (Anm. 83), S. 176 f. 89 Hans Liermann, Deutsches Evangelisches Kirchenrecht (Bibliothek des Öffentlichen Rechts 5), Stuttgart 1933, S. 184; eingehend zu dem geschichtlichen Hintergrund der Thematik Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 7 ff. 90 91
Hierzu umfassend Heckel, Verhältnis (Anm. 83), S. 176–185.
Diese Regelungen entstammen der Grundordnung der EKD sowie den evangelischen Kirchenverfassungen; siehe hierzu näher unten sub 5.
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1. Die protestantische Unterscheidung von Kirche und Staat als Ausfluss der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers Am Anfang der evangelischen Grundannahmen steht zunächst Luthers Lehre von den zwei Reichen, die – von den biblischen Grundlagen und der bis zur Reformation ausgeprägten Lehre der Kirche ausgehend 92 – die für jedes christliche Staatsverständnis charakteristische „Gewaltenteilung zwischen Diesseits und Jenseits“ aufnimmt93. Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen institutionellen Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht führt die Reformation, die ihrem Selbstverständnis nach eine theologische Bewegung darstellt, unter dem Eindruck dieser Lehre zu einer Re-Aktualisierung der Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Macht – eine Re-Aktualisierung, die unter den herrschenden Umständen des Mittelalters seinerzeit wie auch in der Gegenwart nach evangelischem Verständnis als Rückführung zur ursprünglichen christlichen Wahrheit verstanden wird94. a) Luthers Lehre von den zwei Reichen Luther geht auf der Grundlage der christlichen Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt davon aus, dass Gott zwei Reiche eingesetzt hat: das weltliche und das geistliche Reich95. Beide bringen seinem Verständnis nach die Regierung Gottes zum Ausdruck, wenn auch in je unterschiedlicher Weise 96. Das weltliche Reich umfasst die menschlichen Ordnungen der Stände und Ämter und so auch die weltliche Herrschaft, das geistliche Reich ist das der wahr haft Glaubenden. Beide Reiche unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich ih92
Dazu eingehend Uhle, Staat – Kirche – Kultur (Anm. 11), S. 67 ff.
93
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 8; zu der „Zwei-Reiche-Lehre“ und ihren Fernwirkungen in historischer Hinsicht näher Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte (Schriften zum Staatskirchenrecht, Bd. 1), Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 12 ff.; Heinrich de Wall / Stefan Muckel, Kirchenrecht, 3. Aufl., München 2012, § 4 Rn. 3 und § 24 Rn. 10 ff.; zur „Zwei-Reiche-Lehre“ als Kurzformel kritisch Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 30 ff. 94
Ausdrücklich so etwa Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 9.
Eine Zusammenfassung findet sich in Martin Luthers Schrift: Von welltlicher Uberkeytt, wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11., Weimar 1900, S. 245–281. Vgl. zu dem Fragenkomplex auch Jacobs, Staatslehre (Anm. 85), S. 9 sowie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. Aufl., Tübingen 2006, S. 407 ff. 95
96
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), 11; Honecker, Theologie (Anm. 85), 31.
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rer Strukturen und Regierweisen (Regimenter)97: Im geistlichen Reich ist Gott unmittelbar durch Jesus Christus gegenwärtig und wirksam; in ihm gilt die iustitia christiana; es regiert Gottes Wort. Das weltliche Reich hingegen ist dem Menschen als cooperator dei anvertraut, der es mit seiner Vernunft nach dem bekundeten Willen Gottes wahrnimmt; in ihm gilt die iustitia civilis; es regieren Obrigkeit, Recht und Zwang, die als Anordnung der göttlichen Geduld eingesetzt sind, um Ordnung und Frieden in der von Chaos bedrohten Welt zu erhalten98. Auch das weltliche Regiment wird nachdrücklich als eine Funktion der göttlichen Herrschaft in der Geschichte verstanden 99. Weil nach Luther beide Reiche in Gott als ihrem gemeinsamen Herrn verbunden sind, bedeutet die weitergehende Annahme einer über diese Differenzierung hinausgehenden säkularisierten Eigengesetzlichkeit des weltlichen Lebensbereiches eine Verfremdung der Zwei-Reiche-Lehre; es gilt dem Protestantismus als Missverständnis der Positionen Luthers, wenn diese „im Sinne einer strikten Scheidung eines weltlichen und eines geistlichen bzw. kirchlichen Bereichs [begriffen würden], die zur säkularen Emanzipation der Welt von Gottes Gebot und Gnadenangebot und zum Rückzug der Kirche aus der Welt führen [würde]“100. Vor diesem Hintergrund lässt sich zunächst für das evangelische Verständnis von Kirche und Staat in der Gegenwart aus der Zwei-Reiche-Lehre die grundsätzliche Feststellung ableiten, dass civitas dei sowie civitas terrena voneinander geschieden sind und theoretisch eine Unterwerfung der einen unter die andere Gewalt ebenso wenig in Betracht kommt wie die Anerkennung echter Mischformen101. Weitergehende Schlussfolgerungen für die Ausgestaltung des Staates bzw. für das Verhältnis von Kirche und Staat können aus der Zwei-Reiche-Lehre indessen nur mit Vorsicht gezogen werden. Denn ihr zufolge stellt – worauf von evangelischer Seite explizit aufmerksam gemacht wird – das weltliche Regiment zwar in seiner Faktizität, d. h. bezüglich seines „Ob“, nicht hingegen hinsichtlich des „Wie“ seiner Herrschaftsformen eine Funktion der Herrschaft Gottes gegen die Sünde des Menschen und das als satanisch empfundene Chaos dar. Daher ist, was häufig übersehen wird, die Lehre Luthers vom weltlichen Regiment von der zeitgebundenen Form des Staates zu unterscheiden;
97
Dazu näher de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 4 Rn. 3 u. § 24 Rn. 10 ff.
98
Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 190.
99
Jacobs, Staatslehre (Anm. 85), 10; Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 31; vgl. auch de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 24 Rn. 10. 100
Heckel, Verhältnis (Anm. 83), S. 177 f.
101
Vgl. Jacobs, Staatslehre (Anm. 85), S. 17.
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hieraus gerade erklärt sich, dass eine Verfassungslehre bei Luther fehlt102. Das eigentliche Problem, das in der Zuordnung der beiden Reiche zu den menschlich-geschichtlichen Größen von Kirche und Staat besteht, bleibt damit zunächst ungelöst und wird in verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich beantwortet103; nicht zuletzt deshalb wird der Zwei-Reiche-Lehre auch entgegengehalten, sie beinhalte eine Legitimation des Bestehenden 104. Trotz ihrer fehlenden Festlegung der konkreten Zuordnung von Kirche und Staat verdeutlicht die Zwei-Reiche-Lehre verschiedene Grundanliegen des evangelischen Verständnisses des Verhältnisses von Kirche und Staat. So sind hierin die grundsätzliche Betonung der Eigenständigkeit der weltlichen und der geistlichen Aufgaben und die zu den letzteren zählende Anerkennung des – auch öffentlichen – Verkündigungsauftrags der Kirche angelegt; zugleich gilt dies auch für ein Festhalten an einer bei aller Unterscheidung im Grundsätzlichen bejahten Nähe von weltlichem und geistlichem Regiment, da Luther selbst angesichts der von ihm konstatierten Identität von Christenheit und Staatsvolk davon ausgeht, dass geistliches und weltliches Regiment in ihrem je verschiedenen Dienst eng zusammenarbeiten105. Hier findet das evangelische Verständnis der Gegenwart seine Grundlage, für das nicht nur die Hervorhebung der Eigenständigkeit von geistlicher und weltlicher Macht charakteristisch ist, sondern dem auch eine begrenzte Zusammenarbeit beider Mächte möglich erscheint, soweit die Eigenständigkeit der geistlichen Macht hiervon nicht tangiert bzw. hierdurch nicht behindert wird106 und die unterschiedlichen Regierweisen von weltlichem und geistlichem Reich unterschieden werden 107. Das konkrete Ausmaß von Trennung und Distanz und damit die exakte Zuordnung von Kirche und Staat bleibt als abstrakte Fragestellung indessen variabel und – in den vorstehend skizzierten Grenzen – disponibel.
102
Jacobs, Staatslehre (Anm. 85), S. 11; Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 32, spricht vom Fehlen einer politischen Theorie Luthers. 103
Hierzu Jacobs, Staatslehre (Anm. 85), S. 9 ff.
104
Näher Honecker, Theologie (Anm. 85), S. 29 ff.
105
Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 190.
106
Vgl. Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 211 f.
107
Zum Glauben führt in der Konsequenz alleine das Wort, nicht aber die weltliche Zwangsgewalt. Zutreffend so de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 4 Rn. 3.
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b) Insbesondere: Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934108 Wesentlich für das vorstehend skizzierte evangelische Verständnis von Kirche und Staat ist im 20. Jahrhundert die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 geworden109. Sie hat der beschriebenen fundamentalen Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Reich sowie der grundsätzlichen Unterworfenheit auch des weltlichen Bereichs unter Gottes Gebote auf den Bahnen der Zwei-Reiche-Lehre neue Aktualität zugeführt 110. Inhaltlich hat sie unterstrichen, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens unter Gottes Gebot stehen. Damit hat diese Erklärung die Hinnahme vermeintlicher Eigengesetzlichkeiten weltlicher Bereiche, etwa in Wirtschaft und Politik, zurückgewiesen111. Zugleich wird in ihr ausdrücklich die Abgrenzung der staatlichen Aufgaben von der kirchlichen Sendung thematisiert und die traditionelle evangelische Lehre von dem Staat als göttlicher Stiftung bekräftigt. Dem Staat wird die Aufgabe zuerkannt, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsichten und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dankbarkeit und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Ordnung an“112. Die Betonung, dass auch der weltliche Bereich unter Gottes Geboten steht, hat in der Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung häufig zu dem Missverständnis geführt, hier werde von der Zwei-Reiche-Lehre abgerückt. Dies indessen ist, worauf vor dem Hintergrund der vorstehenden Skizzierung der Zwei-Reiche-Lehre von evangelischer Seite nachdrücklich hingewiesen worden
108
Abgedruckt bei Dieter Kraus (Hrsg.), Evangelische Kirchenverfassungen in Deutschland. Textsammlung mit einer Einführung, Berlin 2001, S. 919–922; die offizielle Bezeichnung lautet: „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, Barmen 31. Mai 1934.“ 109
Vgl. hierzu in Kürze auch Huber, Art. Staat und Kirche (Anm. 87), S. 459 f.
110
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 15 f.
111
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 16.
112
Nr. 5 der Erklärung, abgedruckt bei Kraus (Anm. 108), S. 921; vgl. auch die Darstellung bei Hermann Weber, Art. Staat und Kirche – 1. Juristisch, in: EKL3, Bd. 4, Sp. 450–455, hier 455, der darauf hinweist, dass aus evangelischer Sicht die Respektierung der staatlichen Ordnung grundsätzlich nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden ist; zur gleichwohl klaren Bejahung der demokratischen Ordnung sogleich näher sub 4.
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ist113, nicht der Sinn dieser Erklärung. Auch Luther hat den Staat nicht in säkularer Eigengesetzlichkeit entworfen und den weltlichen Bereich nicht von der Unterwerfung unter die Herrschaft Gottes sowie von der Beachtung seiner Gesetze entbunden. Die Barmer Erklärung erinnert eben hieran und steht insoweit in Kontinuität zur der vorstehend behandelten Zwei-Reiche-Lehre. Dies hindert nicht die Anerkennung der unterschiedlichen Aufgaben und der Eigenständigkeit von Kirche und Staat, sondern fordert diese vielmehr; gehindert sieht sich ausschließlich die Entlassung des weltlichen Bereichs aus der Unterworfenheit unter Gottes Gebote. 2. Die Verpflichtung des Staates zur Gewähr religiöser Freiheit Zu den das Verhältnis von Kirche und Staat prägenden Grundannahmen zählt nach evangelischem Verständnis weiterhin die staatliche Anerkennung der individuellen wie korporativen Religionsfreiheit 114. Diese wird als eine unaufgebbare Forderung des Protestantismus verstanden115. Sie verpflichtet den Staat aus evangelischer Perspektive einerseits auf die Achtung der individuellen Freiheit, zu welcher der als vor Gott verantwortlich verstandene Mensch berufen ist; andererseits folgt aus der Anerkennung der Religionsfreiheit die Einräumung des erforderlichen Spielraums der Kirche, den diese für die Erfüllung ihres Sendungsauftrages benötigt116: Hiernach gehört es zur Freiheit der Kirche, ungehindert das Evangelium in Wort und Tat – auch öffentlich – zu verkündigen, über eigene Angelegenheiten des Glaubens, über dessen sozialethische Relevanz, über kirchliche Organisationsstrukturen und Ämterbesetzungen selbständig zu entscheiden. Die Religionsfreiheit stellt sich damit aus evangelischer Perspektive als eine Fundamentaldeterminante im Verhältnis von Kirche und Staat dar; sie ist nach den Grundaussagen der Zwei-Reiche-Lehre gleichsam der zweite Grundpfeiler des protestantischen Verständnisses dieses Verhältnisses. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Konsequenz der so begriffenen Religionsfreiheit aus evan113
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 16 f.
114
Hierzu schon Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 209 f.; Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 12 ff. 115 116
Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 14.
So bereits Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 209 f.; zum Öffentlichkeitsanspruch der Kirche in Kürze: Konrad Hesse, Art. Kirche und Staat, in: EvStL³ (Voraufl.), Sp. 1546– 1575, hier 1558 f.; Götz Klostermann, Art. Öffentlichkeitsanspruch der Kirche (J), in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 1661–1663; umfassend dazu Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR², Bd. 2, S. 131–180.
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gelischer Sicht die Einräumung derselben für alle Menschen ist. Die Religionsfreiheit hat daher nach protestantischer Auffassung ungeachtet des Inhalts der religiösen Überzeugung für alle Religionsgemeinschaften und deren Mitglieder in grundsätzlich gleicher Weise zu gelten. 3. Die Akzeptanz weltanschaulicher Neutralität des Staates Nicht zuletzt hieraus folgt die von evangelischer Seite in Deutschland bejahte Verpflichtung des Staates zu Neutralität und Parität gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Auch nach protestantischem Verständnis fordern Neutralität und Parität dabei keinesfalls eine kulturblinde und geschichtslose Indifferenz des Staates oder gar die Negation der für die eigene Kultur wesentlichen Gestaltungskräfte; vielmehr lassen diese Prinzipien nach evangelischer Auffassung Spielraum für eine am Grundsatz der Gleichbehandlung orientierte Zusammenarbeit sowie eine staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften117, soweit diese Identifizierungen vermeidet und die grundsätzliche Andersartigkeit und Distanz von Kirche und Staat achtet118. 4. Exkurs: Die sog. Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1985 Bedeutsam für das protestantische Verständnis des Verhältnisses von Kirche und spezifisch demokratisch verfasstem Staat ist schließlich die sog. Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1985119. 117
Vgl. hierzu eingehend die staatskirchenrechtliche Interpretation des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch Martin Heckel, Das Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Religion, in: HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 623–650. (S. 646 f.: „... die großen Kirchen [werden] zwar bevorzugt, wenn der Staat im Rahmen seiner kulturstaatlichen Pflicht zur Wissenschafts- und Kunstförderung die Theologie und die Sakralkunstwerke durch enorme Aufwendungen in staatlichen Institutionen pflegt. Aber diese Förderung geschieht nicht aus spezifisch religiösen Gründen [...], sondern wegen der eminenten Bedeutung dieser christlichen Kulturphänomene für die nationale und universale Kultur, die ihrerseits nicht aus religiösen oder politischen Gründen gem. Art. 3 Abs. 3 GG diskriminiert werden dürfen“.) 118 Vgl. Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 34), Tübingen 1972, S. 169 ff. und 236 f.; zusammenfassend hierzu Simon, Verhältnis (Anm. 83), S. 209 f. 119 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hrsg. v. Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, 4. Aufl., Gütersloh 1990; vgl. hierzu im Über -
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Sie knüpft insoweit an die Barmer Erklärung an, als auch sie zunächst hervorhebt, dass es „der von Gott gegebene Auftrag an jeden Staat ist [...], Recht zu schützen, Frieden zu wahren, dem Bösen zu wehren und das Gute zu fördern“120. Von diesem allgemeinen Ausgangspunkt wird sodann in spezifischer Weise Stellung zu dem freiheitlichen Verfassungsstaat westlicher Provenienz bezogen. Hierbei wird hervorgehoben, wie bedeutsam aus evangelischer Perspektive der Umstand ist, dass namentlich der Staat des Grundgesetzes die Eigengesetzlichkeit des Auftrags der Kirche anerkennt und religiös neutral ist. Zudem weist die Denkschrift nachhaltig auf die zentrale Bedeutung der Religionsfreiheit im Besonderen und die Freiheitlichkeit der staatlichen Ordnung im Allgemeinen hin. Weil sich aus evangelischer Perspektive in diesen Positionen zugleich die positive Einstellung des modernen Verfassungsstaates zur menschlichen Freiheit und damit zur Menschenwürde verdichtend widerspiegelt, wird der freiheitlich-demokratische Staat insgesamt als Staatsmodell bejaht 121. Betont wird hierbei, dass die Prinzipien der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie eine große Nähe zum Menschenbild des Christentums aufweisen. Das zeigt sich nach Auffassung der Denkschrift namentlich in der Anerk ennung und Achtung der unantastbaren Würde des Menschen als Person, die – vor dem Hintergrund der euro päischen Kulturgeschichte122 – inhaltlich als eine Konsequenz der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen betrachtet wird 123.
Damit greift auch die Demokratie-Denkschrift der evangelischen Kirche die Trias von grundsätzlicher Unterscheidung kirchlicher und staatlicher Sphäre, individueller und korporativer Religionsfreiheit sowie weltanschaulicher Neutralität des Staates bestätigend auf. Bezüglich dieser essentialia resümiert die Denkschrift indessen nicht nur die bereits vorstehend zusammengefasste evangelische Sichtweise, sondern geht über diese insoweit hinaus, als konstatiert wird, dass „nur eine demokratische Verfassung [...] heute der Menschenwürde entsprechen [kann]“124 und daher „keine heute bekannte Staatsform [...] eine bessere Gewähr [bietet], die gestellten Probleme zu lösen als die freiheitliche blick Traugott Jähnichen, Art. Demokratie (Th), in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 336–342, hier 340 f. 120
Evangelische Kirche (Anm. 119), S. 15.
121
Hermann Weber, Art. Staat und Kirche – 1. Juristisch, in: EKL 3, Bd. 4, Sp. 450– 455, hier 455; Frhr. v. Campenhausen, Wandel (Anm. 86), S. 18 f. 122 Eingehend zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln der Menschenwürde Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität (Ius Publicum, Bd. 121), Tübingen 2004, S. 120 ff. 123
Evangelische Kirche (Anm. 119), S. 13.
124
Evangelische Kirche (Anm. 119), S. 14.
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Demokratie“125. Demgemäß sieht die evangelische Kirche gerade den Christen dazu berufen, sich als Bürger eines solchermaßen verfassten Staates zu bewähren und diesem Staat den christlichen Dienst nicht zu versagen 126 – eine Einschätzung, die für die konkrete Bestimmung des Ausmaßes möglicher Zusammenarbeit von Kirche und Staat in der Gegenwart von erheblicher Bedeutung ist. 5. Insbesondere: Die kirchenrechtlichen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Grundordnung der EKD und in den Verfassungen der Gliedkirchen Vor dem Hintergrund der vorstehenden Skizze des evangelischen Verständnisses von Kirche und Staat sind im Wesentlichen drei Determinanten bestimmend: Die grundsätzliche Unterscheidung von Kirche und Staat, die freilich ein bereichsspezifisches Zusammenwirken beider Potenzen nicht grundsätzlich ausschließt; die Anerkennung individueller und korporativer Religionsfreiheit; die Neutralität des modernen Staates und seine Verpflichtung zu paritätischem Handeln gegenüber den Religionsgemeinschaften. Teilaspekte dieser Leitprinzipien des evangelischen Verständnisses von Kirche und Staat sind in verschiedenen kirchlichen Rechtsquellen, vor allem in den Kirchenverfassungen, normiert. Derartige Kirchenverfassungen beinhalten nach evangelischer Anschauung die rechtlichen Grundstatute der Kirchen bzw. die grundsätzlichen Regelungen eines institutionalisierten Zusammenwirkens verschiedener Kirchen und werden auch als Grundordnung, ferner auch als Ordnung oder Kirchenordnung bezeichnet127. Einzelregelungen zum Verhältnis von Kirche und Staat finden sich in zahlreichen dieser Verfassungen. Im Fokus der nachfolgenden Ausführungen steht aus Gründen der Konzentration zum einen das Verfassungsrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die kir125
Evangelische Kirche (Anm. 119), S. 40.
126
Vgl. Evangelische Kirche (Anm. 119), S. 14 und 40.
127
Wie hier de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 25 Rn. 4; vgl. auch Kraus (Hrsg.), Evangelische Kirchenverfassungen in Deutschland (Anm. 108), S. 13; zu der Gesamtheit evangelischer Kirchenverfassungen, zu ihren presbyterial-synodalen, episkopalen und konsistorialen Erscheinungsformen näher Christoph Link, Typen evangelischer Kirchenverfassungen, in: Kirche, Recht und Wissenschaft. Festschrift für Oberkirchenrat i. R. Prof. Dr. Dr. Albert Stein zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. Andrea Boluminski, Neuwied u. a. 1994/1995, S. 87–117; eingehend auch Herbert Frost, Strukturprobleme evangelischer Kirchenverfassung. Rechtsvergleichende Untersuchungen zum Verfassungsrecht der deutschen evangelischen Landeskirchen, Göttingen 1972, passim. Zur Ausgestaltung des Kirchenverfassungsrechts näher Dietrich Pirson, Kirchliches Verfassungsrecht. Eigenart und notwendiger Inhalt, in: ZevKR 45 (2000), S. 89–108.
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chenrechtlich die Gemeinschaft ihrer weithin selbständigen lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen darstellt128, zum anderen das Verfassungsrecht der ihr angehörenden Gliedkirchen. a) Die Grundordnung der EKD Maßgebliches Rechtsdokument für die EKD, die nach staatlichem Recht eine Körperschaft des öffentlichen Rechts bildet 129 und deren Ziele v. a. in der Festigung und Vertiefung der Gemeinschaft unter den Gliedkirchen 130, in der Stärkung eines einheitlichen Handelns der Gliedkirchen in den wesentlichen Fragen131 sowie in der Vertretung der gesamtkirchlichen Anliegen gegenüber den Inhabern öffentlicher Gewalt bestehen132, ist ihre Grundordnung133. Im Anschluss an die ersten beiden Artikel, die Fundamentalsätze der inneren Grundstruktur formulieren und hierbei – bedeutsam für die grundsätzliche Bejahung der Unterscheidung von Kirche und Staat durch die EKD – in Art. 1 Abs. 3 S. 1 ein ausdrückliches Bekenntnis zu der bereits skizzierten Barmer Theologischen Erklärung abgeben, ordnet Art. 3 Abs. 1 dieser Grundordnung als Bestandteil der dortigen „Grundbestimmungen“ an, dass die Evangelische Kirche in Deutschland „um ihres Auftrages willen unabhängig in der Aufstellung ihrer Grundsätze, in der Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten und in der Verleihung und Aberkennung ihrer Ämter [ist]“. Die Grundordnung 128 Vgl. Art. 1 Abs. 1 GO EKD; siehe dazu auch de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 44 Rn. 1. 129 Zur EKD ausführlich Otto Frhr. v. Campenhausen, Die Organisationsstruktur der evangelischen Kirche, in: HdbStKirchR 2, Bd. 1, S. 383–415, hier 396. Hermann Barth / Christoph Thiele, Art. Evangelische Kirche in Deutschland, in: EvStL (Neuausg. 2006), Sp. 525–536, hier 532 ff. 130 Vgl. Art. 6 Abs. 1 GO EKD. Überblick über die Aufgaben und Tätigkeitsbereiche der EKD bei de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 44 Rn. 3 ff. 131
Vgl. Art. 6 Abs. 2 GO EKD.
132
Vgl. Art. 19 GO EKD.
133
GO EKD in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. November 2003 (ABl. EKD 2004, S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 12. November 2013 (ABl. EKD S. 446). – Zur Grundordnung in ihrer 1948 geschaffenen Grundanlage Heinz Brunotte, Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Entstehung und ihre Probleme, Berlin 1954. Umfassend zur Einführung der GO EKD 1948 und den nachfolgenden Veränderungen Herbert Claessen, Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kommentar und Geschichte, hrsg. v. Burkhard Guntau, Stuttgart 2007, S. 122–157.
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der EKD statuiert damit den Grundsatz der kirchlichen Autonomie im Rechtsleben, nicht ohne sich hierbei deutlich an Art. 137 WRV anzulehnen, der gem. Art. 140 GG fortgilt134; sie formuliert ihn indessen ausführlicher als die geltenden staatskirchenrechtlichen Vorgaben und bezieht ihn explizit auf die „Aufstellung ihrer Grundsätze“, womit die Freiheit der inneren Ausrichtung der kirchlichen Arbeit an Schrift und Bekenntnis beschrieben werden soll, ferner auf die „Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten“, die das Regelungsrecht und die laufende kirchliche Verwaltung erfassen, schließlich auf die „Verleihung und Aberkennung ihrer Ämter“135. Die Formulierung des Prinzips kirchlicher Autonomie durch die Grundordnung der EKD deckt sich damit sehr weitgehend mit den geltenden Grundsätzen des deutschen Staatskirchenrechts, verdeutlicht hierbei jedoch mit der dem Staatskirchenrecht nicht explizit zu eigenen Wendung „um ihres Auftrages willen“ die Begründung für den Anspruch auf rechtliche Eigenständigkeit; damit wird zugleich implizit unterstrichen, dass die grundordnungsrechtlich geforderte Autonomie nicht schrankenlos ist, sondern sich auf die für die Verkündigung wesentlichen Rechtsbereiche beschränkt136. Auch wenn die so ausgestaltete Statuierung des Grundsatzes kirchlicher Autonomie als Bestandteil der Grundordnung der EKD selbstverständlich nicht den Staat binden kann, verpflichtet sie doch die kirchlichen Organe, ihrerseits gegenüber dem Staat auf die Wahrung dieser Grundsätze bedacht zu sein; insofern ermöglicht diese Regelung im Konfliktfall staatlichen Organen gegenüber den Hinweis auf entsprechende kirchenrechtliche Bindungen137. Im Anschluss an diese Festlegungen ordnet Art. 3 Abs. 2 der Grundordnung der EKD an, dass die Regelung des Verhältnisses der Evangelischen Kirche zum Staat einem Übereinkommen vorbehalten bleibt. Damit werden auch die Organe der EKD in einer der katholischen Sichtweise sehr nahestehenden Weise auf Abschlüsse eines derartigen zweiseitigen Vertrags und damit auf das Instrument des Staatskirchenvertrages verwiesen, dessen hohe Wertschätzung für den Codex Iuris Canonici von 1983 bereits oben hervorgehoben wurde138. 134
Brunotte, Grundordnung (Anm. 133), S. 136.
135
So bereits Brunotte, Grundordnung (Anm. 133), S. 137.
136
Brunotte, Grundordnung (Anm. 133), S. 137.
137
Wie hier Brunotte, Grundordnung (Anm. 133), S. 137.
138
Namentlich in den neuen Bundesländern wurden mit den jeweiligen evangelischen Landeskirchen derartige Staatskirchenverträge abgeschlossen: Vertrag zwischen dem Land Brandenburg und den evangelischen Landeskirchen in Brandenburg (Evangelischer Kirchenvertrag Brandenburg vom 8. November 1996 (GVBl. I 1997, S. 4 und 13); Vertrag zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Kirche vom
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b) Die Verfassungen der Gliedkirchen der EKD Einzelne Aspekte des evangelischen Verständnisses von Kirche und Staat erfassen neben der Grundordnung der EKD auch die Verfassungen ihrer Gliedkirchen. So unterstreichen die einzelnen Kirchenverfassungen bereits durch die Begründung ihrer gliedkirchlichen Zugehörigkeit zur EKD139 deren rechtliche Ordnung und damit – weil die gliedkirchliche Rechtsetzung gem. Art. 2 Abs. 2
20. Januar 1994 (GVBl. MV 1994, S. 559, 560); Vertrag des Freistaats Sachsen mit den Evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen (Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen) vom 24. März 1994 (SächsGVBl. 1994, S. 1252, 1253; dazu: Steffen Heitmann, Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen aus der Sicht der Verwaltung, in: LKV 1995, S. 93–97); Vertrag das Landes Sachsen-Anhalt mit den Evangelischen Landeskirchen in Sachsen-Anhalt (Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt) vom 15. September 1993, (GVBl. LSA 1994, S. 172, 173; dazu: Axel Vulpius, Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt aus Sicht der Verwaltung, in: LKV 1994, S. 277–280); Vertrag des Freistaats Thüringen mit den Evangelischen Kirchen in Thüringen vom 15. März 1994 (GVBl. 1994, S. 509); zu den unter der Geltung des Grundgesetzes abgeschlossenen evangelischen Kirchenverträgen zusammenfassend Link, Staat (Anm. 93), S. 161 ff. Für den Bereich der alten Bundesländer vgl. den Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Evangelischer Kirchenvertrag Baden-Württemberg – EvKiVBW) vom 17. Oktober 2007 (GBl. 2008, S. 1, 2, ber. 56). 139
Siehe hierzu Abs. 4 Satz 2 der Präambel der Verfassung der Evangelischen Landeskirche Anhalts vom 14. August 1920 (KABl. S. 41), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 3. Mai 2011; Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 28. April 2007 (GVBl. S. 81), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 20. April 2013 (GVBl. S. 109); Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in der Neufassung vom 6. Dezember 1999 (KABl. 2000, S. 10), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 1. April 2012 (KABl. S. 134); Art. 2 Abs. 1 der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21. / 24. November 2003 (KABl.-EKiBB S. 159, ABl.-EKsOL 2003/3, S. 7), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 26. Oktober 2013 (KABl. S. 235); Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig in der Neufassung vom 7. Mai 1984 (ABl. S. 14), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 13. November 2009 (ABl. EKD S. 94); § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung der Bremischen Evangelischen Kirche in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Januar 1971 (GVM Nr. 1 Sp. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 29. November 2006 (GVM S. 207); Art. 4 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers vom 1. Juli 1971 (KABl. S. 184), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Dezember 2013 (KABl. S. 184); Art. 2 Abs. 2 Satz 1 der Ordnung der
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der Grundordnung dem gesamtkirchlichen Recht nicht widersprechen darf140 – insbesondere die grundordnungsrechtlich verankerten bzw. bejahten essentialia des Verhältnisses von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis; dies betrifft namentlich die in der Barmer Theologischen Erklärung zum Ausdruck gelangende Fundamentalunterscheidung von Kirche und Staat nach der ZweiReiche-Lehre Luthers, den Grundsatz der kirchlichen Autonomie im Rechtsleben sowie die Bereitschaft zur Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat durch vertragliche Vereinbarung. Während hierbei die in der Grundordnung der EKD enthaltene Feststellung, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Staat Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in der Neufassung vom 20. Februar 2010 (ABl. S. 118), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 23. November 2012 (ABl. 2013, S. 5); Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck vom 22. Mai 1967 (KABl. S. 19), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 27. November 2012 (KABl. S. 321); Art. 6 Satz 1 der Verfassung der Lippischen Landeskirche in der Neufassung vom 23. November 1998 (GVBl. Bd. 11, S. 377), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 27. November 2012 (GVBl. Bd. 15, S. 186); Art. 6 Abs. 3 Satz 1 der Verfassung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland vom 5. Juli 2008 (ABl. S. 183); Art. 7 Satz 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2); Art. 2 Satz 2 der Kirchenordnung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg vom 20. Februar 1950 (GVBl. Bd. XIII, S. 135), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 18. November 2012 (GVBl. Bd. XXVII, S. 106); Art. 4 Abs. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10. Januar 2003 (KABl. 2004, S. 86), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Januar 2014 (KABl. S. 41); § 2 Abs. 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 (ABl. S. A 99) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 2007 (ABl. S. A 29); Art. 5 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe vom 13. November 2010 (KABl. 2011, S. 2); Art. 3 Abs. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 1999 (KABl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 22. November 2013 (KABl. S. 266). 140
Dieser Bestimmung wird trotz ihrer negativen Formulierung („nicht widersprechen“) weithin derselbe Gehalt zugesprochen wie Art. 6 Abs. 1 der Verfassung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 2007 (ABl. VELKD Bd. VII, S. 370), dessen Wortlaut anordnet, dass die Gesetze und Rechtsverordnungen der Vereinigten Kirchen den Gesetzen der Gliedkirchen vorgehen; vgl. Brunotte, Grundordnung (Anm. 133), S. 135. Zur Durchsetzung dieses Anspruchs vgl. Art. 12 der Grundordnung. Näher zur VELKD de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Anm. 93), § 45 Rn. 2 ff., zur Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und zur Evangelischen Kirche der Union (EKU) dies., a. a. O., § 45 Rn. 10 ff.; zur Integration von VELKD und UEK in der EKD dies., a. a. O., § 45 Rn. 17.
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vertraglicher Regelung zugänglich ist, in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Kirchenverfassungen nicht erneut aufgenommen wird – Ausnahmen bilden die Verfassungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie der Nordkirche, die bezüglich ihres Verhältnisses zum Staat und zu anderen Körperschaften die explizite Feststellung enthalten, dass dieses Verhältnis durch „vertragliche Vereinbarungen“ geregelt werden kann, die freilich die Erfüllung des kirchlichen Auftrages nicht beschränken dürfen141 –, bringen nahezu sämtliche Kirchenverfassungen ihre Bejahung der Theologischen Erklärung von Barmen142 und den Anspruch, ihre Angelegenheiten selbständig, d. h. unabhängig 141
Art. 7 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in der Neufassung vom 6. Dezember 1999 (KABl. 2000, S. 10), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 1. April 2012 (KABl. S. 134); ohne letztgenannte Einschränkung Art. 8 Abs. 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2). 142 Vgl. Abs. 5 des Vorspruchs der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 28. April 2007 (GVBl. S. 81), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 20. April 2013 (GVBl. S. 109); Vorspruch I Nr. 7 der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21. / 24. November 2003 (KABl.-EKiBB S. 159, ABl.-EKsOL 2003/3, S. 7), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 26. Oktober 2013 (KABl. S. 235); Art. 2 Abs. 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig in der Neufassung vom 7. Mai 1984 (ABl. S. 14), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 13. November 2009 (ABl. EKD S. 94); Grundartikel Abs. 4 der Ordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in der Neufassung vom 20. Februar 2010 (ABl. S. 118), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 23. November 2012 (ABl. 2013, S. 5); Präambel der Verfassung der Lippischen Landeskirche in der Neufassung vom 23. November 1998 (GVBl. Bd. 11, S. 377), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 27. November 2012 (GVBl. Bd. 15, S. 186); Nr. 5 Satz 1 der Präambel der Verfassung der Evangeli schen Kirche in Mitteldeutschland vom 5. Juli 2008 (ABl. S. 183); Abs. 1 Satz 2 der Präambel der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2); Art. 1 Abs. 4 Satz 3 der Kirchenordnung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg vom 20. Februar 1950 (GVBl. Bd. XIII, S. 135), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 18. November 2012 (GVBl. Bd. XXVII, S. 106); § 1 Abs. 4 der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche vom 9. Juni 1988 (GVBl. Bd. 16, S. 1) in der Fassung vom 29. September 2012 (GVBl. Bd. 19, S. 333); Grundartikel I Abs. 6 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10. Januar 2003 (KABl. 2004, S. 86), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Januar 2014 (KABl. S. 41); § 2 Abs. 2 der Verfassung der Evan gelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 (ABl. S. A 99) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 2007 (ABl. S. A 29); Grundartikel II Abs. 6
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von staatlicher Gewalt, zu ordnen, in verschiedenen Variationen explizit nochmals zum Ausdruck143. Zur Begründung des Autonomieanspruchs wird hierbei wiederholt darauf hingewiesen, dass die Kirche alleine an Gott gebunden sei 144. Ausnahmsweise wird diese Festlegung mit dem expliziten Hinweis verbunden, dass der Grundsatz der kirchlichen Freiheit und Autonomie „die Aufsichtsansprüche außerkirchlicher Stellen gegenüber der Kirche“ begrenze 145. In einer Vielzahl evangelischer Kirchenverfassungen wird der Autonomieanspruch schließlich systematisch eng mit der (deklaratorischen) Feststellung verknüpft, dass die betreffende Kirche in der staatlichen Rechtsordnung die Rechte einer der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 1999 (KABl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 22. November 2013 (KABl. S. 266). 143
Siehe hierzu Abs. 6 Satz 3 der Präambel sowie § 6 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung der Evangelischen Landeskirche Anhalts vom 14. August 1920 (KABl. S. 41), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 3. Mai 2011; Art. 57 Abs. 2 der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 28. April 2007 (GVBl. S. 81), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 20. April 2013 (GVBl. S. 109); Art. 3 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in der Neufassung vom 6. Dezember 1999 (KABl. 2000, S. 10), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 1. April 2012 (KABl. S. 134); Art. 1 Abs. 2 und 3 der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21. / 24. November 2003 (KABl.-EKiBB S. 159, ABl.EKsOL 2003/3, S. 7), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 26. Oktober 2013 (KABl. S. 235); Art. 5 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig in der Neufassung vom 7. Mai 1984 (ABl. S. 14), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 13. November 2009 (ABl. EKD S. 94); Art. 2 Abs. 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers vom 1. Juli 1971 (KABl. S. 189), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Dezember 2013 (KABl. S. 184); Art. 4 Abs. 1 der Grundordnung der Evangelischen Kirche von KurhessenWaldeck vom 22. Mai 1967 (KABl. S. 19), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengeset zes vom 27. November 2012 (KABl. S. 321); Art. 3 der Kirchenordnung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg vom 20. Februar 1950 (GVBl. Bd. XIII, S. 135), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 18. November 2012 (GVBl. Bd. XXVII, S. 106); § 3 Abs. 3 der Verfassung der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestanti sche Landeskirche) in der Fassung vom 20. November 1983 (ABl. S. 26), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 23. November 2013 (ABl. S. 142); vgl. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland vom 5. Juli 2008 (ABl. S. 183); Art. 5 Abs. 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2); § 4 Satz 2 Nr. 4 sowie § 6 Abs. 1 und 2 der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche vom 9. Juni 1988 (GVBl. Bd. 16, S. 1) in der Fassung vom 29. September 2012 (GVBl. Bd. 19, S. 333); Art. 1 Abs. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10. Januar
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Körperschaft des öffentlichen Rechts besitze146; vor dem Hintergrund, dass der staatskirchenrechtliche Körperschaftsstatus auf ein Mindestmaß an Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat baut 147, lässt sich die kirchenverfassungsrechtliche Bejahung dieses Status als Ausfluss einer grundsätzlichen Bereitschaft der evangelischen Gliedkirchen zur Kooperation mit dem Staat deuten.
2003 (KABl. 2004, S. 86), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Januar 2014 (KABl. S. 41); § 3 Abs. 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 (ABl. S. A 99) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 2007 (Abl. S. A 29); Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung der EvangelischLutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe vom 13. November 2010 (KABl. 2011, S. 2); Art. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 1999 (KABl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 22. November 2013 (KABl. S. 266); § 2 des Kirchlichen Gesetzes, betr. die Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 24. Juni 1920 (ABl. Bd. 19, S. 199), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchlichen Gesetzes vom 30. November 2006 (ABl. Bd. 62, S. 319). 144
Vgl. hierfür etwa Art. 1 Abs. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10. Januar 2003 (KABl. 2004, S. 86), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Januar 2014 (KABl. S. 41): „Gebunden an Jesus Christus, den Herrn der Kirche, und in der darin begründeten Freiheit erfüllt die Evangelische Kirche im Rheinland ihre Aufgaben, wacht über die Lehre, gibt sich ihre Ordnungen und überträgt Ämter und Dienste.“ Siehe ferner Art. 2 Abs. 1 der Verfassung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland vom 5. Juli 2008 (ABl. S. 183): „Die Evangelische Kirche in Mittel deutschland erfüllt ihre Aufgaben in der Bindung an den Auftrag ihres Herrn Jesus Christus und in der darin begründeten Freiheit.“ Vgl. ferner Art. 1 Abs. 2 der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21. / 24. November 2003 (KABl.-EKiBB S. 159, ABl.-EKsOL 2003/3, S. 7), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 26. Oktober 2013 (KABl. S. 235): „Allein an diesen [zuvor erläuterten] Auftrag [zum Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi in der Welt] gebunden, urteilt die Kirche frei über ihre Lehre und bestimmt selbständig ihre Ordnung. In dieser Bindung und Freiheit erfüllt sie ihre Aufgaben, überträgt sie ihre Dienste und gestaltet sie ihre Einrichtungen.“ Abs. 4 der Präambel der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2): „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland […] bleibt im Hören auf Gottes Weisung und in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit ihm verbunden.“ Vgl. schließlich Art. 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 1999
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III. Das Verhältnis von Kirche und Staat im Vergleich von kanonischem Recht und evangelischer Kirchenverfassung Im Lichte der vorstehenden Skizzen der katholischen Lehre wie des evangelischen Verständnisses über das Verhältnis von Kirche und Staat erhellt sich die große Nähe der verglichenen Sichtweisen. So unterschiedlich die Ansichten über Ausgangsbegriffe des Verhältnisses von Kirche und Staat auch sein mögen – erinnert sei hier nur an Unterschiede des Kirchenverständnisses 148 – und so sehr etwa die katholische Lehre eine kirchenrechtliche Ausformung gefunden (KABl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 22. November 2013 (KABl. S. 266): „Die Evangelische Kirche von Westfalen urteilt über ihre Lehre und gibt sich ihre Ordnung im Gehorsam gegen das Evangelium von Jesus Christus, dem Herrn der Kirche. [...] In dieser Bindung und in der darin begründeten Freiheit überträgt sie ihre Ämter, übt sie ihre Leitung aus und erfüllt sie ihre sonstigen Aufgaben.“ 145
So etwa Art. 3 Satz 2 der Kirchenordnung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg vom 20. Februar 1950 (GVBl. Bd. XIII, S. 135), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 18. November 2012 (GVBl. Bd. XXVII, S. 106). 146
Vgl. Abs. 6 Satz 2 der Präambel sowie § 6 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung der Evange lischen Landeskirche Anhalts vom 14. August 1920 (KABl. S. 41), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 3. Mai 2011; Art. 7 Abs. 1 der Grundordnung der Evange lischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21. / 24. November 2003 (KABl.-EKiBB S. 159, ABl.-EKsOL 2003/3, S. 7), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 26. Oktober 2013 (KABl. S. 235); Art. 20 lit. a der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig in der Neufassung vom 7. Mai 1984 (ABl. S. 14), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 13. November 2009 (ABl. EKD S. 94); § 1 Abs. 1 Satz 3 der Verfassung der Bremischen Evangelischen Kirche in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Januar 1971 (GVM Nr. 1 Sp. 1), zuletzt ge ändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 29. November 2006 (GVM S. 207); Art. 2 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers vom 1. Juli 1971 (KABl. S. 189), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Dezember 2013 (KABl. S. 184); Art. 2 Abs. 4 der Ordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in der Neufassung vom 20. Februar 2010 (ABl. S. 118), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 23. November 2012 (ABl. 2013, S. 5); Art. 4 Abs. 2 der Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck vom 22. Mai 1967 (KABl. S. 19), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 27. November 2012 (KABl. S. 321); Art. 5 der Verfassung der Lippischen Landeskirche in der Neufassung vom 23. November 1998 (GVBl. Bd. 11, S. 377), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 27. November 2012 (GVBl. Bd. 15, S. 186); Art. 7 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 der Verfassung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland vom 5. Juli 2008 (ABl. S. 183); Art. 4 Abs. 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) vom 7. Januar 2012 (KABl. S. 2, 127), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 7. Dezember 2013 (KABl. 2014, S. 2); § 3 Abs. 1 der Ver-
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hat, der ein evangelisches Pendant weithin fehlt mit der Folge, dass es „die“ umfassende und autoritative kirchenrechtliche evangelische Lehre über dieses Verhältnis nicht gibt, so sehr ähneln sich doch die Grundzüge des beiderseitigen Verständnisses vom Verhältnis von Kirche und Staat. Mag dabei auch das evangelische Verständnis tastender und unsicherer anmuten, mag es weniger grundsatz- und mehr situationsbezogen als die Lehre der katholischen Kirche sein, so sind bezüglich der Prinzipien dieses Verhältnisses doch wichtige Gemeinsamkeiten mit der katholischen Position erkennbar: Beide Auffassungen unterscheiden geistliche und weltliche Macht und stimmen darin überein, dass beide Gefassung der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) in der Fassung vom 20. November 1983 (ABl. S. 26), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 23. November 2013 (ABl. S. 142); Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 10. Januar 2003 (KABl. 2004, S. 86), zuletzt geändert durch § 1 des Kirchengesetzes vom 17. Januar 2014 (KABl. S. 41); § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 (ABl. S. A 99) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 2007 (ABl. S. A 29); Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe vom 13. November 2010 (KABl. 2011, S. 2); Art. 4 der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 1999 (KABl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 22. November 2013 (KABl. S. 266); § 2 des Kirchlichen Gesetzes, betr. die Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 24. Juni 1920 (ABl. Bd. 19, S. 199), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchlichen Gesetzes vom 30. November 2006 (ABl. Bd. 62, S. 319). Vgl. zum Körperschaftsstatus schließlich auch: Art. 57 Abs. 1 der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 28. April 2007 (GVBl. S. 81), zuletzt geändert durch Art. 1 des Kirchengesetzes vom 20. April 2013 (GVBl. S. 109); Art. 8 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in der Neufassung vom 6. Dezember 1999 (KABl. 2000, S. 10), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 1. April 2012 (KABl. S. 134); § 6 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche vom 9. Juni 1988 (GVBl. Bd. 16, S. 1) in der Fassung vom 29. September 2012 (GVBl. Bd. 19, S. 333). 147 Vgl. Paul Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 651–687, hier 668. 148
Einführender Überblick für die diesbezügliche evangelische Perspektive bei Gunter Wenz, Art. Kirche – VIII. Systematisch-theologisch, 2. Dogmatisch, a) Evangelisch, in: RGG4, Bd. 4, Sp. 1018–1021; für die Sicht der katholischen Kirche: Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 12 ff.; ferner die Zusammenfassung von Elmar Klinger, Art. Kirche – VIII. Systematisch-theologisch, 2. Dogmatisch, b) Katholisch, in: RGG 4, Bd. 4, Sp. 1021–1024, jeweils m. w. N.; siehe auch die Beiträge von Heinrich Döring, Art. Kirche – 3.2. Röm.-kath. Ekklesiologie, in: EKL3, Bd. 2, Sp. 1069–1073; Ulrich Kühn, Art. Kirche – 3.4. Luth. Ekklesiologie, in: EKL3, Bd. 2, Sp. 1075–1079; Alasdair I. C. Heron, Art. Kirche – 3.5. Ref. Ekklesiologie, in: EKL3, Bd. 2, Sp. 1079–1082.
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walten zwar jeweils auf ihre Weise denselben Menschen zu dienen bestimmt, gleichwohl selbständig sind. Kirche und Staat stehen hiernach vor Aufgaben, die sich fundamental voneinander unterscheiden. Hieraus folgt, dass zwischen ihnen sowohl nach kanonischem Recht wie nach evangelischem Verständnis Wesensverschiedenheit besteht und sich ihnen Eigenständigkeit eignet. Trotz dieser grundsätzlichen Unterscheidung von Kirche und Staat gehen beide Sichtweisen, die katholische wie die evangelische, davon aus, dass aufgrund der Identität der Menschen, zu deren Wohl die kirchlichen bzw. staatlichen Aufgaben wahrgenommen werden, keine feindliche Distanz zwischen Kirche und Staat geboten ist, sondern eine Zusammenarbeit, wo erforderlich und sachdienlich, grundsätzlich möglich ist. Freilich hängen aus kirchlicher Sicht Grad und Ausmaß dieser möglichen Zusammenarbeit von der Gestalt des jeweiligen Staates ab, insbesondere von der Achtung der Menschenwürde sowie der menschen- bzw. grundrechtlichen Freiheiten. Als ein wesentliches Instrument der Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche heben sowohl der CIC der katholischen Kirche von 1983 als auch die Grundordnung der EKD das Vertragsrecht hervor. Sowohl nach katholischem Kirchenrecht wie nach evangelischem Verständnis ist der Staat verpflichtet, Garant der Menschenwürde jedes einzelnen Bürgers und damit Garant der Freiheit zu sein. Namentlich gehört es nach diesem Verständnis zu den elementaren Aufgaben des Staates, sowohl in individueller wie auch in korporativer Hinsicht religiöse Freiheit zu gewährleisten; diese wird – pars pro toto – gleichsam als „Testfall“ betrachtet, ob und inwieweit der jeweilige Staat die kirchlich als unabdingbar betrachtete Würde des Einzelnen und seine Freiheit mit Schutz umfängt. Beide Auffassungen setzen in ihren Aussagen insoweit notwendig einen Staat voraus, der auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als der Voraussetzung der Ermöglichung bürgerlicher Freiheitsrechte beruht149. Schließlich trifft den Staat nach katholischer wie evangelischer Auffassung die Pflicht zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität sowie zur Gleichbehandlung aller Religionen und Religionsgemeinschaften (Grundsatz der Parität). Hierbei wird ein Neutralitäts- und Paritätsbegriff zugrunde gelegt, der nicht die Eliminierung alles Religiösen aus dem öffentlichen Leben zum Ge149
So die Feststellung von Listl, Aussagen (Anm. 3), S. 31, bezüglich des katholischen Kirchenrechts; für das evangelische Verständnis gilt insoweit nichts anderes. – Grundlegend zur Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft: ErnstWolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, in: Vorträge G 183, hrsg. v. der Rhei nisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1973, S. 7–46.
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genstand und die „Gleichschaltung“ aller Religionsgemeinschaften zum Ziel hat, sondern der den Staat verpflichtet, die religiösen Überzeugungen um der Freiheit willen auch in ihrer tatsächlichen Unterschiedlichkeit und gesellschaftlichen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und sich hieran bei seinem Handeln zu orientieren.
„Entflechtung“ von Kirche und Staat im Fürstentum Liechtenstein Von Markus Walser Markus Walser
I. Voraussetzungen 1. Historischer Kontext
Das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein gehörte seit der Christianisierung bis zum 2. bzw. 21. Dezember 1997 zum Bistum Chur, das zu den ältesten Bistümern nördlich der Alpen zählt. Im Jahre 1970 wurde das seit ca. 1810 bestehende bischöfliche Landesvikariat und das 1850 gegründete liechtensteinische Priesterkapitel in ein Dekanat umgewandelt. „Regierung und Priesterkapitel setzten sich in ihren Stellungnahmen für die Beibehaltung des Landesvikariats ein, um damit der Souveränität dieses Bistumsteils gerecht zu werden. Die darauf folgenden Verhandlungen der Regierung, mit derselben Begründung den Landesvikar mit den Vollmachten eines Generalvikars auszustatten, blieben erfolglos.“1 Kanonikus Johannes Tschuor äusserte in einem Leitartikel im Kirchenblatt für die Pfarreien des Fürstentums Liechtenstein In Christo im Jahr 1982 den Gedanken, ob es nicht angezeigt sein könnte, das Gebiet des Fürstentums Liechtenstein zu einem eigenen Bistum zu erheben. Es sei von der Einwohnerzahl mit dem Fürstentum Monaco vergleichbar und flächenmäßig bedeutend größer.2 15 Jahre später, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, trennte Papst Johannes Paul II. mit der Apostolischen Konstitution „Ad satius consulendum“3 vom 2. Dezember 1997 das Gebiet des bis anhin zum Bistum Chur gehörenden Dekanats Liechtenstein vom Bistum Chur ab und errichtete ebendort das Erzbistum Vaduz. Der neuernannte Erzbischof, der Landesfürst und die Regierung des Fürstentums Liechtenstein wurden von den Vertretern 1 Franz Näscher, Dekanat Liechtenstein, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd. 1, Vaduz 2013, S. 153. 2
Vgl. Johannes Tschuor, Bistum Liechtenstein? Utopie? Traum? Möglichkeit?, in: Kirchenblatt für die katholischen Pfarreien im Fürstentum Liechtenstein „In Christo“, 46 (1982), Nr. 21, 2. Oktober 1982, S. 1–2. 3
AAS 90 (1998), S. 8–9.
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des Apostolischen Stuhls ein paar Tage vor der Errichtung über diesen Schritt ins Bild gesetzt.4 Die förmliche Errichtung des Erzbistums Vaduz erfolgte am 21. Dezember 1997 durch den Apostolischen Nuntius im Fürstentum Liechtenstein, der in Personalunion der Apostolische Nuntius für die Schweiz ist. Die Besitzergreifung des neuernannten Erzbischofs erfolgte gleichentags im Anschluss an die Errichtung. Das neue Erzbistum Vaduz umfasst das Gebiet des früheren Dekanats Liechtenstein und ist gebietsmäßig identisch mit dem Fürstentum Liechtenstein. Die früheren Strukturen des Dekanats wurden durch diejenigen des neuen Erzbistums abgelöst. Die Zahl der Pfarreien blieb bei zehn. Es wurde ein Priesterrat eingerichtet. Ein Dom- bzw. Kathedralkapitel wurde – wie in den meisten jüngeren Diözesen – vom Apostolischen Stuhl nicht errichtet (vgl. c. 504 CIC). Die Errichtung des Erzbistums Vaduz, dessen Territorium sich mit demjenigen des Fürstentums Liechtenstein deckt, hat der im Fürstentum Liechtenstein schon seit Jahrzehnten vorhandenen Diskussion einer Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche neue Akzente und neuen Auftrieb gegeben, war aber keinesfalls der Grund einer vertieften Beschäftigung mit diesem Thema. So hielt beispielsweise Fürst Hans-Adam II. am 19. November 1997 – also vor der Errichtung des Erzbistums Vaduz – für die Dekanatsversammlung ein Referat zum Thema Staat und Kirche. Dabei wies er darauf hin, dass sich in den USA das Modell der völligen Trennung von Kirche und Staat zu bewähren scheint und das kirchliche Leben in großer Vielfalt blüht. Das Modell einer reinen Spendenfinanzierung wäre nach seiner Einschätzung für Liechtenstein aufgrund der andersartigen geschichtlichen Entwicklung wohl nicht umsetzbar. Deshalb plädierte er für eine Kirchenfinanzierung nach italienischem Vorbild, wobei der Prozentsatz höher sein müsste, als die in Italien vorgesehen 0,8 %.5 In der Diskussion nannte Fürst Hans-Adam als möglichen Prozentsatz für diese Kultussteuer 10 % der einfachen Landessteuer, was damals etwa 6 Mio. Franken pro Jahr für die Kirchen ergeben hätte. Er plädierte dafür, das Verhältnis mit der katholischen Kirche durch ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl zu regeln und schlug als Neufassung von Art. 37 der Landesverfassung folgenden Text vor: „Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. 4 Vgl. Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Errichtung einer Erzdiözese Vaduz (Nr. 44/1998) vom 12. Mai 1998, S. 5–8. 5 Vgl. Annemarie Högger, Protokoll der Aussprache S. D. Fürst Hans-Adam II. mit Leitungsgremien des Dekanates (Dekanatsversammlung, Landesseelsorgerat, Administrationsrat) zum Thema „Verhältnis von Kirche und Staat“. Mittwoch, 19. Nov. 1997 im Kapitelsaal des Pfarrhauses Bendern (Kopie in den Akten des Verfassers).
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Anerkannte Religionsgemeinschaften geniessen im Rahmen der gesetzlichen und vertraglichen Regelungen staatliche Unterstützung und Steuerfreiheit“.6 2. Religionssoziologischer Kontext Mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen erstmals Ausländer, von denen ein Teil nicht-katholischen Bekenntnisses war, in größerer Zahl in das bis anhin fast ausschließlich katholische Liechtenstein. Bis 2003 wurde die Religionszugehörigkeit der Einwohner im Einwohnerregister des Landes aufgeführt. Für die Zeit danach ist man für statistische Angaben zur Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit der Einwohner auf die alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung angewiesen. Die Volkszählung 2010 erbrachte folgendes Ergebnis: „Die ständige Bevölkerung Liechtensteins umfasste am 31. Dezember 2010 insgesamt 36.149 Personen.“ 7 „Am 31. Dezember 2010 gehörten in Liechtenstein 27.450 Personen der römisch-katholischen Kirche an. Dies entspricht einem Anteil von 75,9 % der ständigen Bevölkerung. An zweiter Stelle folgten die protestantischen Kirchen mit 3.062 Personen oder einem Anteil von 8,5 %. Dabei gehörten 2.343 Personen der evangelisch-reformierten Kirche (6,5 %), 461 Personen der evangelisch-lutherischen Kirche (1,3 %) und 258 Personen anderen protestantischen Kirchen (0,7 %) an. Islamischer Glaubenszugehörigkeit waren 1.960 Personen (5,4 %), dicht gefolgt von den 1.952 Personen ohne Religionszugehörigkeit (5,4 %). Den christlichorthodoxen Kirchen gehörten 415 Personen an (1,1 %). Auf die anderen christlichen Kirchen, die Buddhisten und die anderen Religionen entfielen jeweils weniger als 150 Personen. 925 Personen oder 2,6 % der Bevölkerung machten keine Angabe zur Religionszugehörigkeit.“8 Seit 1980 ist der römisch-katholische Bevölkerungsanteil von 85,8 % auf 75,9 % zurückgegangen. Absolut gesehen ist die Zahl der Katholiken in den letzten Jahrzehnten stets gestiegen, wenn auch der prozentuale Anteil, vor allem bedingt durch die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte und ihrer Familien, gesunken ist. Denn bei der ausländischen Wohnbevölkerung Liechtensteins ist der Prozentsatz der katholischen Konfessionsangehörigen bedeutend niedriger als bei den liechtensteinischen Staatsangehörigen. Die Zahl der „Austritte“ aus der katholischen Kirche ist im Vergleich zu den Nachbarstaaten sehr gering (weniger als 1 Promille pro Jahr) und wird durch die Zahl der Konversionen zum Teil aufgewogen. Das dürfte vor allem daran lie6
In der Dekanatsversammlung ausgehändigter Text (Kopie in den Akten des Verfassers). 7
Amt für Statistik, Volkszählung 2010, Bd. 1, Vaduz 2013, S. 8.
8
Amt für Statistik, Volkszählung 2010, Bd. 1, ebd., S. 12.
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gen, dass sich aus einem sogenannten „Kirchenaustritt“ in Liechtenstein keine unmittelbaren finanziellen Konsequenzen ergeben, weil es keine personen- oder konfessionsbezogene Kirchensteuer gibt. 3. Aktuell geltende staatskirchenrechtliche Regelung9 Die seit ihrem Inkrafttreten unveränderten staatskirchenrechtlichen Normen der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921 sind Ausdruck der damaligen tiefgreifenden Glaubensverbundenheit des Staates mit der katholischen Religion. Von einer Identifikation des Staates mit der römisch-katholischen Kirche konnte und kann jedoch nicht die Rede sein, wenn auch die jetzige Rechtsordnung noch von Elementen des Staatskirchentums und der staatlichen Kirchenhoheit geprägt ist. Im Zusammenhang mit der Auflösung des Zollvertrags mit Österreich im Jahr 1919 musste die Konformität der Rechtsordnung Liechtensteins mit derjenigen der Schweiz überprüft werden. Dabei traten gerade im Verhältnis von Kirche und Staat deutliche Unterschiede zu Tage. Ganz im Unterschied zur Schweiz ist aber gemäß Art. 38 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein hinsichtlich eines zu erlassenden Gesetzes zur Verwaltung des Kirchengutes „das Einvernehmen mit der kirchlichen Behörde zu pflegen“. 10 Dieses Einvernehmen kann wohl als Programmsatz der liechtensteinischen Staatskirchenordnung bezeichnet werden und „darf nicht allein auf Art. 38 letzter Satz der geltenden Verfassung beschränkt bleiben, wie man etwa auf den ersten Anblick aus dem Wortlaut dieser Verfassungsbestimmung zu schließen geneigt ist“ 11. Herbert Wille misst dem erwähnten Passus aus Art. 38 der Verfassung einen hohen Stellenwert bei, wenn er dazu weiter ausführt: „Von der systematischen Zuordnung zu Artikel 38 der Verfassung her gesehen, liegt es nahe, diese Formel auf gemischte Belange zugeschnitten zu belassen. Demzufolge beinhaltet sie die für den Staat grundsätzliche Norm – nach der sich selbstverständlich auch 9 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beschreiben den status quo bei Redaktionsschluss (31. März 2014). 10
Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, Art. 38: „Das Eigentum und alle anderen Vermögensrechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögenheiten sind gewährleistet. Die Verwaltung des Kirchengutes in den Kirchgemeinden wird durch ein besonderes Gesetz geregelt; vor dessen Erlassung ist das Einvernehmen mit der kirchlichen Behörde zu pflegen.“ 11
Herbert Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, Freiburg (Schweiz) 1973, S. 74; vgl. auch S. 167–169.
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die Kirche zu richten hat – wonach Angelegenheiten, die sowohl den staatlichen wie den kirchlichen Bereich berühren, im gegenseitigen Einvernehmen zu ordnen sind. Ein einseitiges gesetzgeberisches Vorgehen auf staatlicher Seite wäre verfassungswidrig, und das erlassene, verfassungsverletzende Gesetz nichtig. In dieser Bestimmung findet also die Superiorität des staatlichen Rechts ihre Schranken. So gesehen, käme dieser Formel eine über Art. 38 letzter Satz hinausreichende Bedeutung zu, und es wären damit die staatlichen wie die kirchlichen Ansprüche in den gemischten Angelegenheiten ausreichend, d. h. verfassungsmäßig geschützt.“12 Seit Inkrafttreten der jetzt geltenden Verfassung im Jahre 1921 ist es in der Praxis weitgehend gelungen, das Verhältnis von Staat und Kirche einvernehmlich zu regeln. Andererseits zeigt sich in verschiedenen, nicht erst seit Errichtung des Erzbistums Vaduz aufgetretenen Konflikten zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen, dass das Verhältnis von Kirche und Staat im Fürstentum Liechtenstein nicht durchgehend von Einvernehmlichkeit geprägt war bzw. ist. Das in Art. 38 der Landesverfassung erwähnte Gesetz wurde beispielsweise bisher gar nicht erlassen. Es gilt nach wie vor das „Gesetz vom 14. Juli 1870 über die Verwaltung des Kirchengutes in den Pfarrgemeinden“, das stark josephinistische Züge trägt und der in Art. 38 Landesverfassung geforderten „Einvernehmlichkeit“ nicht Rechnung trägt. Des weiteren fehlt in der rechtlichen Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein bisher das grundsätzlich geeignetste Instrument einer einvernehmlichen Lösung: eine Vereinbarung bzw. ein Konkordat zwischen Staat und Katholischer Kirche (bzw. Apostolischem Stuhl). Gemäß dem vom Rechtsdienst der Regierung des Fürstentums Liechtenstein herausgegebenen Register zur systematischen Sammlung der liechtensteinischen Rechtsvorschriften (LR) sind drei Verfassungsartikel die Grundlage der Rechtsbeziehung von Staat und Kirche: Artt. 16, 37 und 38. Art. 37 lautet: „Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. Die römisch-katholische Kirche ist die Landeskirche und genießt als solche den vollen Schutz des Staates; anderen Konfessionen ist die Betätigung ihres Bekenntnisses und die Abhaltung ihres Gottesdienstes innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet.“ Art. 38: „Das Eigentum und alle anderen Vermögensrechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögenheiten sind gewährleistet. Die Verwaltung des Kirchengutes in den Kirchgemein12
Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein (Anm. 11), S. 75.
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den wird durch ein besonderes Gesetz geregelt; vor dessen Erlassung ist das Einvernehmen mit der kirchlichen Behörde zu pflegen.“ Art. 16 der Verfassung befasst sich mit dem Erziehungs- und Unterrichtswesen, das „unbeschadet der Unantastbarkeit der kirchlichen Lehre“, „unter staatlicher Aufsicht“ steht (vgl. Abs. 1). „Der Religionsunterricht wird durch die kirchlichen Organe erteilt“ (Abs. 4). Die Grundlage des liechtensteinischen Staatskirchenrechts bilden zweifellos die in Art. 37 der Verfassung gewährleistete „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ (Bekenntnisfreiheit), sowie die Kultusfreiheit („die Betätigung ihres Bekenntnisses und die Abhaltung ihres Gottesdienstes“). Aus dem Kontext ist ersichtlich, dass es sich nicht nur um eine individuelle Bekenntnis- und Kultusfreiheit, sondern auch um eine korporative Religionsfreiheit oder religiöse Assoziationsfreiheit handelt: der Staat gewährleistet das Recht, sich in Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen und diese – innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung – nach eigenen Grundsätzen zu organisieren. Dafür, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht nur als individuelles, sondern auch als korporatives Freiheitsrecht zu verstehen ist, spricht auch Art. 38, der Eigentum und Vermögensrechte der Religionsgemeinschaften und religiösen Vereine als solche gewährleistet. Die Interpretation von Art. 37 Abs. 2 der Landesverfassung ist nicht ganz einfach. Denn in der Praxis ist schwer zu beschreiben, worin der in Art. 37 Abs. 2 erwähnte „volle Schutz des Staates“, den die katholische Kirche genießt, bestehen sollte. Die Formulierung, dass die Katholische Kirche die „Landeskirche“ ist, kann auch rein deskriptiv verstanden werden, da zur Zeit der Verfassungsgebung (1921) die Einwohner Liechtensteins fast ausschließlich katholisch waren. Sicher bedeutet diese Verfassungsnorm, dass der Gesetzgeber des Fürstentums Liechtenstein die katholische Kirche als solche, d. h. nach ihrem eigenen Selbstverständnis, anerkennt. Dabei ist zu beachten, dass „Verfassung und Organisation“ als „eigene kirchliche Angelegenheiten ersten Ranges“ gelten und sie dem Bereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zuzuordnen sind. „In den Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt die Errichtung und territoriale Gliederung der kirchlichen Teilverbände, die Errichtung und Supprimierung, Verleihung und Einrichtung von Ämtern. [...] Ein Ernennungs-, Wahlund Vorschlagsrecht ist nur im Rahmen eines besonderen Rechtstitels (Patronat, Vertrag, Indult) zulässig.“13 Mehrere Gemeinden beanspruchen Präsentations-
13
Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein (Anm. 11), S. 178–179.
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oder Wahlrechte für die Pfarrgeistlichkeit, während das Fürstenhaus auf das Präsentationsrecht der Pfarrer bezüglich der Pfarreien, bei denen ein fürstliches Patronat besteht, verzichtet hat. Im Bereich des Kirchenvermögens ist es im Fürstentum Liechtenstein teilweise zu einer Verstaatlichung gekommen. Gemäß Grundbucheintrag sind die Mehrheit der Pfarrkirchen und Pfarrhäuser in das Eigentum der politischen Gemeinden gelangt, obwohl sie früher nachweislich kirchliche Stiftungen waren und dieselben Stiftungen bisweilen mit dem Namen „Pfarrkirchenstiftung“ oder „Pfrundstiftung“ noch als Rechtsträger (z. B. von Sparkonten oder Grundstücken), aber nicht mehr als Eigentümer von Pfarrkirchen und Pfarrhäusern bestehen. Die Geistlichen werden gemäss Vereinbarungen des Bischöflichen Ordinariats Chur und den Gemeinden des Fürstentums Liechtenstein aus dem Jahr 1980 von den politischen Gemeinden angestellt und bezahlt. Zuvor bestand eine ähnliche Lösung auf gesetzlicher Grundlage. An sich wären in den Vereinbarungen die Gehälter an die Lehrergehälter gekoppelt, doch gibt es in der Praxis sehr große, objektiv nicht zu rechtfertigende Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden, welche im Gegenzug für die Besoldung der Pfarrgeistlichkeit meist die Pfrunderträge einbehalten. Auch das Budget der Pfarreien wird zu einem großen Teil von den politischen Gemeinden aus allgemeinen Steuermitteln bestritten. Eine Kirchensteuer oder einen Kirchenbeitrag gibt es nicht. Das „Gesetz vom 14. Juli 1870 über die Verwaltung des Kirchengutes in den Pfarrgemeinden“ sieht einen staatlichen Kirchenrat zur Kontrolle und sicheren Verwaltung der pfarrlichen Güter vor, wird seit Jahrzehnten nur selektiv eingehalten, erfreut sich aber dennoch formaler Rechtskraft. Gemäß dem „Gesetz vom 12. Februar 1868 über die Regelung der Baukonkurrenzpflicht bei vorkommenden Kirchen- und Pfrundbaulichkeiten“ liegt die Baulast für die genannten Gebäude unabhängig von den Eigentumsverhältnissen letztlich bei den politischen Gemeinden, was in jüngerer Zeit oft als Argument gebraucht wurde, dass auch das Eigentum dieser Gebäulichkeiten bei der Gemeinde liegen müsse. Somit ist die Rechts- und Tatsachenlage im Bereich des Kirchenguts unbefriedigend, weil auf Pfarreiebene faktisch weitgehend staatskirchliche Strukturen bestehen. Art. 16 der Verfassung legt fest, dass der Religionsunterricht durch die „kirchlichen Organe“ erteilt wird. Damit sind die konkreten Kompetenzen des Schulamtes (Land und Gemeinden) und der Kirche (Erzbistum und Pfarrei) für heutige Verhältnisse nicht hinreichend umschrieben. Vereinbarungen des Erzbistums Vaduz mit dem Fürstentum Liechtenstein (2003, abgeändert 2012) und mit einzelnen Gemeinden (2004) konnten teilweise Klärung schaffen. Drei Gemeinden haben sich der Vereinbarung nicht angeschlossen.
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Ungeklärt bleiben verschiedene Fragen betreffend die staatskirchenrechtlichen Normen zur Verwaltung des Kirchenguts. Es geht hier auch um die Interpretation des Begriffes „Kirchgemeinde“. Art. 38 der Verfassung bestimmt hinsichtlich der Verwaltung des Kirchengutes: „Die Verwaltung des Kirchengutes in den Kirchgemeinden wird durch ein besonderes Gesetz geregelt; vor dessen Erlassung ist das Einvernehmen mit der kirchlichen Behörde zu pflegen.“ Zutreffend ist es, wenn Herbert Wille schreibt, dass der Begriff Kirchengut „infolge unterschiedlicher staatlicher und kirchlicher Gesetzgebung [...] mehrschichtig ausgelegt wurde“14. Im Fürstentum Liechtenstein hat bisher eine klare Ausscheidung von Kirchengut, wenn überhaupt, nur teilweise stattgefunden. Auch klassisches Kirchengut wie Pfrundstiftungen und Kirchenstiftungen werden in der Regel von den Zivilgemeinden verwaltet. Manche Zivilgemeinden betrachten auf dem Hintergrund einer vielleicht sogar irrtümlichen Grundbucheintragung die Pfarrkirche als ihr Eigentum. Das in Art. 38 der Verfassung vorgesehene Gesetz wurde nie erlassen. Fraglich scheint jedoch, ob die These von Herbert Wille, dass Kirchengut und Kirchgemeindegut zu unterscheiden seien, dem Text und Sinn von Art. 38 der Verfassung gerecht werden. Die Aussage Willes lautet: „Eine klare Ausscheidung von Kirchengut und ‚Kirchgemeindegut‘ ist eine Tatfrage, die nur im Einzelfall geklärt werden kann. Daher gilt es de lege ferenda die Richtlinien wohl zu beachten: das ‚Kirchengut‘ verwaltet die Kirche, das ‚Kirchgemeindegut‘ die Kirchgemeinde. Auf dieser Grundlage hat auch die Schaffung von Kirchgemeinden zu erfolgen, die bis heute lediglich Programmsatz der Verfassung geblieben ist.“ 15 Aber ist die in Art. 38 gar nicht erwähnte Unterscheidung von Kirchengut und Kirchgemeindegut überhaupt verfassungskonform oder sachgerecht? Hier scheint Herbert Wille stark vom schweizerischen Staatskirchenrecht beeinflusst, welches in den meisten Kantonen die staatliche Einrichtung einer Kirchgemeinde kennt. Diese ist aber keine kirchliche Einrichtung, sondern eine staatliche Sondergemeinde. Sie ist eine Folge der Tatsache, dass nur die wenigsten Schweizer Kantone die katholische Kirche als solche anerkennen, sondern lediglich die von den Kantonen geschaffenen parakirchlichen Institutionen wie die kantonale kirchliche Körperschaft und die Kirchgemeinden. Insofern ergibt sich im Fürstentum Liechtenstein aufgrund seiner eigenen Tradition aber eine völlig andere Situation, indem der Staat in Art. 37 der Verfassung die katholische Kirche als solche anerkennt und ihr besonderen Staatsschutz verleiht. Auf diesem Hintergrund ist der Begriff „Kirchgemeinde“ als staatsrechtlicher Begriff für die gemäss kirchlichem Recht im Jahre 1921 noch 14
Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein (Anm. 11), S. 182.
15
Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, ebd., S. 182.
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nicht rechtsfähige Pfarrei zu betrachten, wie es im Übrigen auch im bundesdeutschen Staatskirchenrecht der Fall ist, wo die staatskirchenrechtlichen Begriffe „Kirchgemeinde“, „Kirchengemeinde“ und „Pfarrgemeinde“ dem kirchenrechtlichen Begriff „Pfarrei“ entsprechen, wofür übrigens auch die Wurzeln der erwähnten Norm sprechen; es handelt sich um den preussischen und bayerischen Rechtsbereich, von denen keiner eine Kirchgemeinde als staatliche Sondergemeinde kannte oder kennt. Im außerhelvetischen deutschen Rechtsbereich werden die Begriffe Pfarrgemeinde und Kirchgemeinde synonym verwendet. Auch hier liegt es nahe, dass der Verfassungsgeber mit dem Begriff „Kirchgemeinde“ dasselbe meinte, wie der Gesetzgeber beim Gesetz vom 14. Juli 1870 über die Verwaltung des Kirchengutes in den Pfarrgemeinden. Der Begriff „Kirchgemeinde“ wurde im Staatskirchenrecht verwendet, weil bis zum Inkrafttreten des CIC am 27. 11. 1983 die Pfarrei gemäß kirchlichem Recht nicht über Rechtspersönlichkeit verfügte (und somit auch nicht unmittelbar vermögensfähig war). Rechtsträger auf Pfarreiebene waren Benefizium (Pfarrpfründe) und Pfarrkirche (Pfarrkirchenstiftung, fabrica ecclesiae). Wollte der Staat aber neben den kirchlichen Stiftungen im zivilen Rechtsbereich der Pfarrei Rechtsfähigkeit gewähren, so nannte er sie Pfarrgemeinde, Kirchengemeinde oder Kirchgemeinde, ohne dass dadurch eine institutionelle Doppelung wie in der Schweiz erfolgte. Diese Deutung, nämlich dass der Begriff „Kirchgemeinde“ in Art. 38 der Verfassung der kirchenrechtlichen Pfarrei entspricht, wird auch dem Text der Verfassung besser gerecht. Denn dort ist der Träger des „Kirchengutes“ eindeutig als „Kirchgemeinde“ identifiziert. Von einem Kirchgemeindegut ist nicht die Rede. Eine Unterscheidung von Kirchengut und Kirchgemeindegut wird in Art. 38 der Verfassung nicht erwähnt und ist auch nicht verfassungskonform. Im Gegensatz zum Schweizer Staatskirchenrecht handelt es sich beim Begriff „Landeskirche“ in der liechtensteinischen Verfassung also nicht um eine vom Staat errichtete körperschaftliche Einrichtung, sondern um die Umschreibung der römisch-katholischen Kirche als Kirche des Landes und des Volkes, weil die römisch-katholische Kirche 1921, also zur Zeit der Verfassungsgebung ein Eckpfeiler der Gesellschaft war und auch künftig sein kann. Zu erwähnen ist, dass auch die evangelische und die lutherische Gemeinde in Vaduz sowie die islamischen Kultstätten vom Land und von den Gemeinden aus den allgemeinen Steuermitteln Beiträge erhalten, die in der Höhe etwa vergleichbar sind mit den Beiträgen an die katholische Kirche. Auf Primarschulstufe gibt es einen vom Land Liechtenstein als „Integrationsmaßnahme“ finanzierten islamischen Religionsunterricht, während der katholische Religionsunterricht von den Gemeinden finanziert wird.
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II. Projekte zur „Entflechtung“ von Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein Mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das Fürstentum Liechtenstein die konfessionelle Geschlossenheit seiner Wohnbevölkerung. Schon seit Jahrzehnten war eine formelle staatliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften ein immer wieder auftauchendes Thema. Mit der Errichtung des Erzbistums Vaduz hat die auch früher schon bisweilen erhobene Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche an Aktualität gewonnen. Verschiedene Regierungen beschäftigten sich mit dem Thema und setzten entsprechende Arbeitsgruppen ein. Unter Regierungschef Otmar Hasler (2001–2009) wurden Entwürfe einer Verfassungsänderung und eines Religionsgemeinschaftengesetzes erarbeitet, die jedoch nicht in den Landtag (Parlament) gelangten. Vorgesehen waren die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften auf Verfassungs- und Gesetzesebene sowie die Finanzierung der Religionsgemeinschaften über eine Teilwidmung der Steuer natürlicher Personen. Bei den Wahlen 2009 änderten sich die Mehrheitsverhältnisse, und es scheint, als wäre das Projekt nicht unmittelbar weiter verfolgt worden. Regierungschef Klaus Tschütscher scheint 2011 den Auftrag oder die Zustimmung für Gespräche mit dem Apostolischen Stuhl zum Abschluss einer Vereinbarung oder eines Konkordates gegeben zu haben. Der Botschafter des Fürstentums Liechtenstein beim Heiligen Stuhl, Prinz Nikolaus von und zu Liechtenstein, führte offensichtlich Gespräche mit dem Apostolischen Nuntius für das Fürstentum Liechtenstein, Msgr. Diego Causero, und mit Mitarbeitern des Staatssekretariats. Ab Herbst 2011 wurden auch Vertreter der Ortskirche zu einzelnen Besprechungen, die in wechselnder Zusammensetzung stattfanden, eingeladen. Das Projekt von Regierungschef Klaus Tschütscher sah eine Verfassungsänderung vor. Die katholische Kirche wäre nicht mehr „Landeskirche“, sondern wie die evangelische und die lutherische Kirche eine von der Verfassung staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft. Ein Religionsgemeinschaftengesetz soll unter anderem die Finanzierung der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften über eine Mandatssteuer, den Religionsunterricht an den staatlichen Grundschulen, das Religionsmündigkeitsalter und das Vorgehen zur Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften regeln. Eine Vereinbarung mit dem Apostolischen Stuhl würde neben den in einem Konkordat üblichen Punkten vor allem die konkrete Nutzung und die Baulast bei Kirchen, Kapellen und Pfarrhäusern bzw. Kaplaneien regeln und dadurch versuchen, Gemeinde und Pfarrei zu entflechten, ohne die Eigentumsverhältnisse grundsätzlich anzutasten. Im Weiteren würde konkret geregelt, welche kirchlichen Rechtspersonen
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auch über zivilrechtliche Rechtspersönlichkeit verfügen. Dabei war es eine Vorgabe des Fürstentums Liechtenstein, dass die bisherigen selbständigen kirchlichen Stiftungen künftig nicht mehr bestehen sollten und deren Vermögen nach Möglichkeit in das Vermögen der Pfarreien bzw. des Erzbistums Vaduz integriert wird. Allenfalls würden unselbständige kirchliche Stiftungen (wie z. B. Mess-Stiftungen) staatlicherseits noch zugelassen. Interessant ist, dass das Land Liechtenstein und die Gemeinden den Vorschlag der evangelischen Gemeinde in Vaduz ablehnten, ihre Kirche und das Pfarrhaus dem Land oder den Gemeinden zu überschreiben bzw. zu schenken, wenn für die Baulast dann die gleichen Regeln wie für die katholischen Kirchgebäude gelten würden. Ganz anders war der erste Vorschlag staatlicherseits zur „Regelung“ der Vermögensverhältnisse auf Pfarrei- bzw. Gemeindeebene: Die katholische Kirche solle die noch in ihrem Besitz befindlichen Kirchen und Pfarrhäuser den politischen Gemeinden schenken. Dann gäbe es im ganzen Land die gleichen Voraussetzungen. Offensichtlich besteht staatlicherseits noch keine Bereitschaft, alle staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln. Da sich einige Gemeinden der ausgehandelten Neuregelung widersetzten, hat das Fürstentum Liechtenstein im Vereinbarungsentwurf einseitig eine Ausstiegsklausel für diese Gemeinden eingefügt, was den Apostolischen Stuhl veranlasste, die bereits terminierte Unterzeichnung der Vereinbarung aufzuschieben, da es wenig opportun sei, in einem so kleinen Land noch unterschiedliche Regelungen für einzelne Gemeinden zu haben. Ohnehin wäre die konkrete güterrechtliche Entflechtung von Gemeinde und Pfarrei erst nach Inkrafttreten der Vereinbarung bis zu einem bestimmten Termin vorgesehen gewesen. Hätte es keine Einigung gegeben, hätte ein Schiedsgericht entschieden, was seitens der Ortskirche als suboptimale Vorgehensweise betrachtet wurde. Weil im Februar 2013 Neuwahlen anstanden, konnte der Landtag (Parlament) vor den Wahlen nicht mehr das gesamte Paket, an dem auch zunehmend unter Zeitdruck gearbeitet wurde, verabschieden. Das von der Regierung Tschütscher vorgeschlagenen Religionsgemeinschaftengesetz wurde mit Änderungen (unter anderem Reduktion des Mandatssteuersatzes von 2,6 % auf 2 %, Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts an den weiterführenden Schulen) verabschiedet und die Verfassungsänderung vom Parlament in seiner letzten Sitzung vor den Neuwahlen in erster Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit angenommen. 16 Für eine Verfassungsänderung bräuchte es Einstimmigkeit, die nicht erreicht wurde, oder in zwei aufeinanderfolgenden Arbeitssitzungen wenigstens eine Dreiviertelmehrheit (vgl. 16 Vgl. Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften vom 2. Oktober 2012.
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Liechtensteinische Landesverfassung Art. 112 Abs. 2). Die Wahlen im Februar 2013 brachten neue Mehrheitsverhältnisse, so dass der Ausgang des Projekts ungewiss ist. In der ersten Arbeitssitzung des Landtags nach den Wahlen wurde die an sich anstehende zweite Abstimmung über die Verfassungsänderung nicht auf die Traktandenliste gesetzt und nicht vorgenommen. Der neue Regierungschef Adrian Hasler hat den Willen bekundet, bis Ende 2013 die drei aneinander gekoppelten Vorlagen Verfassungsänderung, Religionsgemeinschaftengesetz und Vereinbarung mit dem Apostolischen Stuhl durch den Landtag zu bringen; in einer späteren Äußerung hat er eingeräumt, dass sich dieser Zeitplan wohl nicht einhalten lässt. Es ist ein ambitiöses Projekt mit ungewissem Ausgang. Selbst wenn im Landtag die erforderlichen Mehrheiten zustande kommen, ist ein Referendum mit anschließender Volksabstimmung möglich. Wohl nicht hinreichend berücksichtigt wurde in praktischer Hinsicht, dass Konkordatsverhandlungen erfahrungsgemäß meist länger als ein Jahr dauern, wenn eine umfassende Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Katholischer Kirche angestrebt wird. Im Fürstentum Liechtenstein bedeutet Entflechtung von Staat und Kirche primär Entflechtung von Gemeinde und Pfarrei. Auf Landesbzw. Bistumsebene kann strukturell von einer Trennung von Staat und Kirche gesprochen werden, da die Errichtung des Erzbistums Vaduz ohne Zutun staatlicher Stellen erfolgte und auch erst wenige Jahre zurückliegt, sodass noch keine weitreichenden institutionellen oder materiellen Verflechtungen zwischen dem Land und dem Erzbistum entstehen konnten, wie sie zwischen Pfarreien und Gemeinden festzustellen sind. Gerade bei der Entflechtung von Gemeinde und Pfarrei sind aber auch viele praktische Fragen zu lösen, deren seriöse Abklärung eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. So ist es beispielsweise relativ einfach, den Grundsatz festzulegen, dass hinsichtlich der Baulast bei den Pfarrkirchen künftig die politischen Gemeinden für die Gebäudehülle, die Pfarreien für das Innere zuständig sein sollen bzw. für die entsprechenden Kosten aufzukommen haben. Wenn nun jede Gemeinde autonom zu definieren versucht, was für sie unter „Gebäudehülle“ fällt, ist damit keine Rechtssicherheit erreicht. Hier bräuchte es einen landesweiten Konsens, der noch zu erreichen ist. In einzelnen Gemeinden sind kirchliche Stiftungen Eigentümerinnen von Kirchgebäuden oder Pfarrhäusern. In diesen Gemeinden regt sich Widerstand gegen die vom Land formulierte Vorgabe, alle selbständigen kirchlichen Stiftungen in das Eigentum der Pfarreien oder des Erzbistums zu überführen. Diese und weitere Differenzen zwischen Land und Gemeinden sind noch zu klären, damit das Gesamtprojekt „Entflechtung“ von Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein nicht scheitert bzw. erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann.
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III. Literatur David Beattie, Liechtenstein. Geschichte & Gegenwart, Triesen 2005. Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2013. Markus Walser, Die Errichtung des Erzbistums Vaduz. Kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Implikationen, in: Karl-Theodor Geringer / Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio In Ecclesiae Mysterio, Festschrift für Winfried Aymans zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 2001, S. 641–652. Herbert Wille, Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, Freiburg (Schweiz) 1973. Herbert Wille / Georges Baur (Hrsg.), Staat und Kirche. Grundsätzliche und aktuelle Probleme, Vaduz 1999.
VI. Anhang
Bibliographie Prof. Dr. Libero Gerosa I. Wissenschaftliche Monographien 01. La scomunica è una pena? Saggio per una fondazione teologica del diritto penale canonico, Fribourg 1984. 02. Charisma und Recht. Kirchenrechtliche Überlegungen zum „Urcharisma“ der neuen Vereinigungsformen in der Kirche, Trier / Einsiedeln 1989. 03. Carisma e diritto nella Chiesa. Riflessioni canonistiche sul “carisma originario” dei nuovi movimenti ecclesiali, Milano 1989. 04. Diritto ecclesiale e pastorale (Collana di Studi di diritto canonico ed ecclesiastico, Sezione canonistica), Torino 1991. 05. Kirchliches Recht und Pastoral (Extemporalia. Fragen der Theologie und Seelsorge, Bd. 9), Eichstätt / Wien 1991.0 06. Das Recht der Kirche (AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie, Bd. XII), Paderborn 1995. Übersetzungen: Italienisch (1995), spanisch (1997), französisch (1998), polnisch (1999), russisch (1998), ukrainisch (2001), englisch (2002), kroatisch (2004). 07. Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit der kanonischen Sanktionen, Paderborn 1995. 08. Diritto canonico. Fonti e metodo (EDO 94), Milano 1996. 09. Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche. Zukunftsperspektiven für die katholische Kanonistik (Kirchenrechtliche Bibliothek, Bd. 2), Münster 1999. Übersetzungen: Italienisch (2001), polnisch (2003), französisch (2004), portugiesisch (2009), ungarische Übersetzung in Vorbereitung. 10. Kirchenrecht (Theologie betreiben – Glaube ins Gespräch bringen, hrsg. von Michael Kunzler u. Libero Gerosa), Paderborn 2001. 11. Diritto canonico (Piccola Biblioteca Teologica 2), Lugano 2002. 12. Teologia del diritto. Fondamenti storici e sviluppi sistematici, Lugano 2005.
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Bibliographie
13. Introduzione al diritto canonico, 2 Bde., Città del Vaticano 2012. 14. Diritti e popoli in Giovanni Paolo II. Principi fondamentali e prospettive future, Lugano / Venezia 2013.
II. Populärwissenschaftliche Veröffentlichungen 01. All’ascolto di testimoni, Lugano / Castel Bolognese 2006. 02. L’ottavo giorno. Spunti di spiritualità cristiana, Lugano / Castel Bolognese 2007. 03. L’identità laica dei cittadini europei. Inconciliabile con il monismo islamico? Implicazioni giuridico-istituzionali del dialogo interreligioso, Bari 2009. Spanische Übersetzung (2010).
III. Artikel 01. La scomunica e la protezione dei diritti fondamentali del cristiano, in: Die Grund rechte des Christen in Kirche und Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Kongresses für Kirchenrecht, Freiburg / Schweiz 1981, 1095–1106. 02. Ist die Exkommunikation eine Strafe?, in: AfkKR 154 (1985) 83–120. 03. Strafrecht und kirchliche Wirklichkeit. Die Anwendbarkeit der vom neuen Codex vorgesehenen Strafen, in: Concilium 22 (1986) 198–204. 04. Il significato della nuova normativa codiciale sulla scomunica per la giustificazione teologica del diritto penale canonico, in: Actes du Ve Congrès International de Droit Canonique, dir. M. Thériault / J. Thorn, Ottawa 1986, I, 385–399. 05. Il dibattito di Friburgo sugli aspetti principali delle riforme istituzionali realizzate nella Chiesa Cattolica sotto la guida di Paolo VI. Sintesi e spunti di riflessioni critiche, in: Paul VI et les réformes institutionelles dans l’Eglise, Brescia 1987, 70–86. 06. Die staatskirchenrechtliche Vielfalt in der Schweiz, in: AfkKR 156 (1987) 34–47. 07. Carismi e movimenti nella Chiesa oggi. Riflessioni canonistiche alla chiu-sura del Sinodo dei Vescovi sui laici, in: Ius Canonicum 28 (1988) 665–680. 08. L’évêque dans les documents de Vatican II et le nouveau code de droit canonique, in: Visages de l’Église. Cours d’ecclésiologie, édité par P. De Laubier, Fribourg 1989, 73–89. 09. „Urcharisma“ und kirchliche Bewegungen, in: Regnum 23 (1989) 122–131.
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IV. Beiträge in Enzyklopädien und Lexika 01. Delitto e pena nel diritto canonico, in: Digesto, vol. IV (Torino 1989) 563–576. 02. Scisma e scismatici, in: Enciclopedia del Diritto, vol. XII (Milano 1989) 742–750. 03. Basisgemeinschaften, in: LThK³, Bd. II (1994) 75. 04. Charisma. VI. Kirchenrechtlich, in: LThK³, Bd. II (1994) 1017–1018. 05. Ministero della parola, in: Digesto, vol. IX Pubblicistico (Torino 1994) 528–533. 06. Parrocchia, in: Digesto, vol. X Pubblicistico (Torino 1995) 3–7. 07. Penitenza, in: Digesto, vol. XI Pubblicistico (Torino 1996) 47–50. 08. Krankensalbung. VI Kirchenrechtlich, in: LThK³, Bd. VI. (1997) 423–424. 09. Sacramenti e funzione di santificazione della Chiesa, in: Digesto, vol. XIII Pubblicistico (Torino 1998) 499–504. 10. Eugenio Corecco (1931–1995). Das Kirchenrecht als theologische Disziplin, in: Theologische Profile. Schweizer Theologen und Theologinnen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von B. Bürki u. St. Leimgruber, Freiburg/ Schweiz 1999, 423–437. 11. Die Träger der obersten Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR ²1999, 326–330. 12. Die kirchlichen Bewegungen, in: HdbKathKR ²1999, 586–590. 13. Unzione degli infermi, in: Digesto, vol. XV Pubblicistico (Torino 2000) 569–571.
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V. Herausgeberschaft 01. mit R. Ahlers / L. Müller: Ecclesia a Sacramentis. Theologische Erwägungen zum Sakramentenrecht, Paderborn 1992. 02. mit L. Müller: E. Corecco, Ordinatio fidei. Schriften zum kanonischen Recht, Paderborn 1994. 03. Antropologia, fede e diritto ecclesiale. Atti del Simposio Internazionale sugli studi canonistici di Eugenio Corecco (Lugano, 12 novembre 1994), Milano 1995. 04. mit P. Krämer / S. Demel / L. Müller, Universales und partikulares Recht in der Kirche. Konkurrierende oder integrierende Faktoren?, Paderborn 1999. 05. mit W. Aymans / L. Müller: A. Rouco Varela, Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung, Paderborn u. a. 2000. 06. mit P. Krämer, Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen. Lat.-dt. Ausgabe, Paderborn 2000. 07. mit E. Corecco / A. M. Rouco Varela / L. Müller: Chiesa e diritto. Un dibattito trentennale su fondamenti e metodo della canonistica, Lugano 2002. 08. Giovanni Paolo II. Legislatore della Chiesa. Fondamenti, innovazioni e aperture. Atti del Convegno di Lugano 22–23 marzo 2012, Città del Vaticano 2013. 09. mit L. Müller, Kirchenrecht im Dialog, Paderborn 1998 ff., darin: Heft 1: Antonio Rouco Varela und Eugenio Corecco, Sakrament und Recht – Antinomie in der Kirche?, Paderborn 1998. Heft 2: Stephan Leimgruber und Ludger Müller, Religionsunterricht zwischen Norm und Wirklichkeit, Paderborn 2000. Heft 3: Libero Gerosa und Ludger Müller, Kirche ohne Recht?, Paderborn 2003.
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10. mit L. Müller, Annuario DiReCom, Lugano 2002 ff., darin: Bd. 1: Diritto canonico e interpretazione, Anno I, 2002. Bd. 2: Matrimoni e disparità di appartenenza religiosa, Anno II, 2003. Bd. 3–4: Laicità dello Stato e libertà religiosa, Anno III–IV, 2004/2005. Bd. 5: Universalità dei diritti umani. Fra cultura e diritto delle religioni, Anno V, 2006. Bd. 6: Simboli religiosi, tolleranza e diritti, Anno VI, 2007. Bd. 7: Politica senza religione? Laicità dello Stato, appartenenze religiose e ordinamento giuridico, Anno VII, 2008. Bd. 8: Diritto e religioni nel mondo contemporaneo, Anno VIII, 2009. 11. mit Silvio Ferrari und Ludger Müller. Jetzt mit Vincenzo Pacillo und Gabriela Eisenring, Veritas et Jus, Lugano 2010 ff. 12. mit L. Müller, Kirchenrechtliche Bibliothek, 1999 ff., darin: Bd 1: P. Erdő, Theologie des kanonischen Rechts. Ein systematisch-historischer Versuch (Kirchenrechtliche Bibliothek 1), Münster 1999. Bd 2: Libero Gerosa, Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche, Zukunftsperspektiven für die katholischen Kanonistik (Kirchenrechtliche Bibliothek 2), Münster 2000. Bd 3: mit S. Demel / P. Krämer / L. Müller, Patriarchale und synodale Strukturen in den katholischen Ostkirchen (Kirchenrechtliche Bibliothek 3), Münster, u. a. 2001. Bd 4: P. Erdő, Geschichte der Wissenschaft vom kanonischen Recht. Eine Einführung, hrsg. von Ludger Müller (Kirchenrechtliche Bibliothek 4), Münster 2006. Bd 5: mit S. Demel / P. Krämer / L. Müller, Im Dienst der Gemeinde. Wirklichkeit und Zukunftsgestalt der kirchlichen Ämter (Kirchenrechtliche Bibliothek 5), Münster, u. a. 2002. Bd 6: K. Neimes, Alexander Müller (1784–1844) Kirchenrechtliche Positionen eines „protestantischen Katholiken“ (Kirchenrechtliche Bibliothek 6), Münster 2010.
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Bd 7: L. Wolf, Kirche und Denkmalschutz. Die päpstliche Gesetzgebung zum Schutz der Kulturgüter bis zum Untergang des Kirchenstaates im Jahr 1870 (Kirchenrechtliche Bibliothek 7), Münster 2003. Bd 8: B. Ries, Amt und Vollmacht des Papstes. Eine theologisch-rechtliche Untersuchung zur Gestalt des Petrusamtes in der Kanonistik des 19. und 20. Jahrhunderts (Kirchenrechtliche Bibliothek 8), Münster 2003. Bd 9: mit L. Müller / A. E. Hierold / S. Demel / P. Krämer, „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (Kirchenrechtliche Bibliothek 9), Münster 2006. Bd 10: mit S. Demel / P. Krämer / A. E. Hierold / L. Müller, Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand (Kirchenrechtliche Bibliothek 10), Münster 2007. Bd 11: E. Freitag, Ehe zwischen Katholiken und Muslimen Eine religionsrechtliche Vergleichsstudie (Kirchenrechtliche Bibliothek 11), Münster 2007. Bd 12: K. Schmitz-Stuhlträger, Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Eine kanonistische Untersuchung unter Berücksichtigung der weltlichen Rechtslage (Kirchenrechtliche Bibliothek 12), Münster 2009. Bd 13: W. Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte (Kirchenrechtliche Bibliothek 13), Wien / Berlin 2014. Bd 14: mit L. Müller (Hrsg.), Katholische Kirche und Staat in der Schweiz (Kirchenrechtliche Bibliothek 14), Zürich / Berlin 2010. Bd 15: L. Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (Kirchenrechtliche Bibliothek 15), Wien / Berlin 2011. Bd 16: mit L. Müller (Hrsg.): L. Gerosa (Hrsg.), Staatskirchenrechtliche Körperschaften im Dienst an der Sendung der Katholische Kirche in der Schweiz (Kirchenrechtliche Bibliothek 16), Zürich / Berlin 2014.
VI. Rezensionen 01. W. Henkel, Die Konzilien in Lateinamerika. I: Mexiko 1555–1897, in: Cristianesimo nella storia. Ricerche storiche esegeiche teologiche (Bologna 1986) 426–428. 02. A. Marzoa Rodríguez, La censura de excomunión. Èstudio de su naturaleza jurídica en SS. XIII–XV, Pamplona 1985, in: AfkKR 155 (1986) 299–301.
Bibliographie
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03. Les conférences épiscopales. Théologie, statut canonique, avenir. Actes du Colloque international de Salamanque (2–8 janvier 1988), éd. par H. Legrand / J. Manzanares – A. García y García, Paris 1988, in: Theologische Revue 87 (1991) 89–94. 04. A. Cattaneo, Questioni fondamentali della canonistica nel pensiero di Klaus Mörsdorf, Pamplona 1986, in: AfkKR 158 (1989) 301–304. 05. J. Gaudemet, Le droit canonique, Paris 1989, in: AfkKR 158 (1989) 307–309. 06. A. Carrasco, Le primat de l’évêque de Rome, Fribourg 1990, in: AfkKR 159 (1990) 664–668. 07. F. Kalde, Authentische Interpretation zum CIC. Responsiones authenticae PCI, Metten 1990, in: ThGl 81 (1991) 242. 08. R. Sebott, Das kirchliche Strafrecht. Kommentar zu den Canones 1311–1399 des CIC, Frankfurt a. M. 1992, in: ThGl 82 (1992) 493–495. 09. Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, hrsg. von W. Aymans / A. Egler / J. Listl, Regensburg 1991, in: ThGl 82 (1992) 493. 10. Die Kirchen und die deutsche Einheit. Rechts- und Verfassungsfragen zwischen Kirche und Staat im geeinten Deutschland, hrsg. von R. Puza u. A. P. Kustermann, Stuttgart 1991, in: ThGl 82 (1992) 495–496. 11. S. Berlingò, Giustizia e carità nell’economia della Chiesa. Contributi per una teoria generale del diritto canonico, Torino 1991, in: Il diritto ecclesiastico 1 (1993) 216– 218. 12. F. Kalde, Kirchlicher Finanzausgleich. Kanonistische Aspekte zu einem gesamtkirchlich neu entdeckten Mittel kirchlicher Finanzverteilung, Würzburg 1993, in: ThGl 84 (1994) 495–497. 13. G. Zannoni, Matrimonio e antropologia nella giurisprudenza rotale, Roma 1995, in: ThGl 86 (1996) 645–647. 14. „De sanctionibus in Ecclesia“. Kommentar von Klaus Lüdicke zum Buch VI, „(Straf-) Maßnahmen in der Kirche“, in: MKCIC (Loseblattsammlung, Essen), in: Theologische Revue 93 (1997) 144–146. 15. P. A. Bonnet, Comunione ecclesiale, Diritto e potere. Studi di diritto canonico, in: AfkKR 165 (1996) 284–285. 16. Kanonistische Hermeneutik und Schutz der Menschenrechte. Eine Auseinandersetzung mit wichtigen Folgen für das Staatskirchenrecht, in: AfkKR 179 (2010) 126–140.
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Bibliographie
VII. Weitere Veröffentlichungen 01. Jean Paul II aux universitaires et au monde culturel et scientifique. Recueil d’allocutions présentées par L. Gerosa / A. Carrasco Rouco, Paris 1984. 02. Synodalität und Meinungsbildungsprozeß in der Kirche. Ekklesiologische und kirchenrechtliche Erwägungen, in: Theologie im Wandel. Erfahrungen einer Seniorenakademie, hrsg. von J. Ernst, Paderborn 1997, 83–99. 03. „Intellectus fidei“ und „communio“ an der Theologischen Fakultät Lugano, in: Forum Katholische Theologie 20 (1/2004) 49–53.
Autorenverzeichnis Ahlers, Reinhild, Dr. theol., Lic. iur. can., Professorin für Kirchenrecht an der Phil.Theol. Hochschule Münster, Leiterin der Abteilung Kirchenrecht im Bischöflichen Generalvikariat Münster, Diözesanrichterin; D-Münster / Westf. Burghardt, Dominik, Dr. theol., Dipl.-Theologe, Dipl.-Caritaswissenschaftler, Germanist, Lehrer für Katholische Religion und Deutsch am Berufskolleg des Kreises Olpe; D-Olpe. Eisenring, Gabriela, Dr. iur. can., Lic. iur., Prof., Habilitation für Römisches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Eherechts, Dozentin am Istituto DiReCom an der Theologischen Fakultät Lugano (FTL); CH-Lugano. Engelhardt, Hanns, The Rev., Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof a. D.; D-Karlsruhe. Grichting, Martin, Dr. iur. can., Dipl. theol., Habilitation im Fach Kirchenrecht, Generalvikar des Bistums Chur, Moderator Curiae, Vizeoffizial, Prälat, Residierender Domherr, Konsultor der Kongregation für den Klerus; CH-Chur. Haering, Stephan OSB, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M. A., Univ.-Prof., Ordinarius für Kirchenrecht am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-MaximiliansUniversität München; D-München. Hierold, Alfred E., Dr. iur. can., em. Univ.-Prof. für Kirchenrecht, Rektor a. D. der Universität Bamberg, Vizeoffizial am Erzbischöflichen Offizialat und Metropolitangericht Bamberg, Richter am Kirchlichen Arbeitsgerichtshof in Bonn, Prälat; D-Bamberg. Koch, Kurt Kardinal, Dr. theol., Prof., Erzbischof, em. Bischof von Basel, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen; Città del Vaticano. Leimgruber, Stephan, Dr. theol. habil., Lic. phil., em. Univ.-Prof. für Religionspädagogik an der Kath.-Theol. Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Spiritual am Priesterseminar St. Beat des Bistums Basel; CH-Luzern. Luterbacher-Maineri, Claudius, Dr. theol., Kanzler und Diözesanökonom des Bistums St. Gallen, Diözesanrichter, Lehrbeauftragter am Institut für Ethik und Menschenrechte an der Universität Freiburg i. Ü. sowie am Istituto DiReCom an der Facoltà di Teologia di Lugano; CH-St. Gallen.
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Autorenverzeichnis
Marx, Reinhard Kardinal, Dr. theol., Dr. theol. h. c., Prof., Erzbischof von München und Freising, Magnus Cancellarius der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE), Vorsitzender der Bayerischen und der Deutschen Bischofskonferenz; D-München. May, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., em. o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz, Apostolischer Protonotar; D-Budenheim / Rhein. Müller, Ludger, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M. A., Univ.-Prof., Vorstand des Instituts für Kirchenrecht an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien, Diözesanrichter, Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte; A-Wien. Ohly, Christoph, Dr. theol., Lic. iur. can., Univ.-Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier; D-Trier. Ötker, Martin, Lic. iur. can., Lic. theol. et Dipl. theol., Ehebandverteidiger an den Bischöflichen Offizialaten Chur und St. Gallen; CH-Zürich. Rees, Wilhelm, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck; A-Innsbruck. Uhle, Arnd, Dr. iur., Univ.-Prof., Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht und Staatswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Universität Dresden, Leiter der an dieser Fakultät bestehenden Forschungsstelle „Recht und Religion“, Prodekan der Juristischen Fakultät; D-Dresden. Walser, Markus, Dr. iur. can., Lic. theol., B. A. phil., Prälat, Generalvikar und Gerichtsvikar des Erzbischofs von Vaduz, Diözesanrichter am Offizialat der Diözese Chur, Dozent für Kirchenrecht an der Theologischen Hochschule Chur, Konsultor der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung; FL-Vaduz. Werneke, Michael, Dr. theol., Lic. iur. can., Dipl. Rechtspfleger, Erzb. Notar, Leiter des Sekretariats Kirchenrecht im Erzbischöflichen Generalvikariat Paderborn; D-Paderborn. Zeller, Klaus, Mag., Dr. iur. can., LL.M., wissenschaftl. Mitarbeiter, Institut für Kirchenrecht an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien, Anwalt / Prokurator an kirchlichen Gerichten; A-Wien.