Theologia Iuris Canonici: Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres [1 ed.] 9783428553396, 9783428153398

Die Vollendung des 65. Lebensjahres nehmen Kollegen und Schüler zum Anlass, Ludger Müller, Professor für Kirchenrecht an

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German Pages 891 Year 2017

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Theologia Iuris Canonici: Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres [1 ed.]
 9783428553396, 9783428153398

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Theologia Iuris Canonici Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres

Herausgegeben von Christoph Ohly, Wilhelm Rees und Libero Gerosa

Duncker & Humblot . Berlin

OHLY/REES/GEROSA (Hrsg.)

Theologia Iuris Canonici

Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn sowie von Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz und Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz herausgegeben von Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Dr. C h r i s t o p h O h l y Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier

Band 67 OHLY/REES/GEROSA (Hrsg.)

Theologia Iuris Canonici

Theologia Iuris Canonici Festschrift für Ludger Müller zur Vollendung des 65. Lebensjahres

Herausgegeben von Christoph Ohly, Wilhelm Rees und Libero Gerosa

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: MEDIALIS Offsetdruck GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-15339-8 (Print) ISBN 978-3-428-55339-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85339-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 25. August 2017 vollendet Univ.-Prof. Dr. theol. Dr. iur. can. habil. Ludger Müller sein 65. Lebensjahr. Dieses bedeutungsreiche Ereignis nehmen Kollegen, Schüler und Freunde zum Anlass, dem akademischen Lehrer des Kanonischen Rechts mit der vorliegenden Festschrift ihren Dank und ihre Mitfreude zum Ausdruck zu bringen. Sie verbinden damit zugleich die besten Wünsche für viele weitere gesegnete und erfüllte Jahre im Sakrament der Ehe mit seiner geschätzten Frau Prof. Dr. Petra Ritter-Müller, im Dienst als Ständiger Diakon sowie in der Kanonistik und der kirchlichen Rechtspraxis. Theologia Iuris Canonici – Unter diesem Leitwort möchte die Festschrift das bestimmende kanonistische Anliegen des Jubilars verbalisieren und würdigen. Überzeugt von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlegung des Kirchenrechts, wie sie insbesondere von Klaus Mörsdorf (1909 – 1989) mit dem kerygmatisch-sakramentalen Ansatz aufgewiesen und von seinen Schülergenerationen fortgeführt wurde, versteht Ludger Müller das Kirchenrecht und mit ihm die Kanonistik als eine theologische Disziplin, die im Glauben der Kirche ihr Fundament und zugleich ihren inneren, die kanonistische Methode prägenden Maßstab findet. Da dem Glauben in der unlösbaren Verbindung mit der Vernunft zugleich eine rechtliche Dimension eignet, liegt darin für den Kanonisten nicht nur der Auftrag begründet, diese freizulegen und für die kirchliche Sendung zu entfalten. Wer sich diesem Ansatz verpflichtet weiß, wird vielmehr jeden Normenbereich des Kanonischen Rechts in Gestalt theologischer Durchdringung und Erkenntnis konsequent zu beleuchten sich bemühen. Glaube und Recht stehen somit in einem konstitutiven, folglich unlösbaren Zusammenhang. Wer mit diesem theologischen Paradigma kanonistischen Arbeitens die Lehr- und Forschungsschwerpunkte von Ludger Müller betrachtet, wie sie sich dem Leser des Schriftenverzeichnisses, das in diesen Festband aufgenommen wurde, eröffnen, der wird ohne Zweifel feststellen, wie konsequent der Jubilar diesen Ansatz in allen kanonistischen Spezialgebieten durchgetragen hat. Darin werden zweifelsohne Schwerpunkte im Arbeiten von Müller erkennbar, insbesondere zu den theologischen Grundlagenfragen, der Rechtsgeschichte und des Rechts der katholischen Ostkirchen. Doch werden ebenso Fragen des kirchlichen Verfassungsrechts und des Verkündigungs- und Sakramentenrechts in den Blick genommen wie die aktuellen Einforderungen kirchlichen Handelns im vermögens-, sanktions- und verfahrensrechtlichen Normenbereich. Wie praxisrelevant dieses Verständnis des Kanonischen Rechts für das Leben und die Sendung der Kirche ist, belegen darüber hinaus die vielfachen Aktivitäten von Müller in kirchlichen Gerichten, diözesanen Verwaltungen sowie übergeordneten In-

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Vorwort

stitutionen und Kommissionen. Ausnahmslos wurde und wird dort sein Rat und Handeln aus dem gläubigen und fachlichen Vollzug hoch geschätzt. Ludger Müller wurde am 25. August 1952 in Ratingen (Erzdiözese Köln) geboren. Herkunft und Verbundenheit mit seiner rheinischen Heimatstadt zeigen sich bis heute in seinen Grundhaltungen. Jeder, der ihm begegnet, kann die für das katholisch geprägte Rheinland charakteristische Fröhlichkeit und Gelassenheit wahrnehmen, die sich zugleich mit einem unerschütterlichen Lebensmut und einer unbedingten Einsatzbereitschaft verbinden. So ist dem Jubilar Witz und Humor ebenso wenig fremd wie das nüchterne Denken und der treue Vollzug des Glaubens, die allesamt das menschliche Wesen mit Verlässlichkeit und Herzlichkeit erfüllen. Nach seinem Abitur nahm Ludger Müller im Jahre 1972 das Studium der Katholischen Theologie und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn auf. Es folgten weitere Studien der Musikwissenschaft, Geschichte und des Kanonischen Rechts, die ihn nach Münster, Eichstätt und München führten. Nach einer kurzen Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dr. Hubert Müller (Bonn) wechselte er im Jahre 1981 in der gleichen Aufgabe an die Katholisch-Theologische Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Dort wurde er 1985 mit einer Arbeit zum Thema „Kirche, Staat, Kirchenrecht. Der Ingolstädter Kanonist Franz Xaver Zech SJ (1692 – 1772)“ unter der Begleitung von Prof. Dr. Peter Krämer zum Doktor der Theologie promoviert. Nach einer kurzen Tätigkeit als Offizialatsrat am Bischöflichen Offizialat Osnabrück (1986 – 1987) übernahm er im Jahre 1986 die Aufgabe als Wissenschaftlicher Angestellter am damaligen Kanonistischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München (heute Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik), eine Tätigkeit, die er bis zur Übernahme des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien am 01. September 2000 versah. In den Münchener Jahren absolvierte er das kanonistische Lizentiatsstudium und erlangte den Grad eines Lizentiaten des Kanonischen Rechts mit einer Arbeit zum Thema „Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung“. Im Jahre 1996 habilitierte Müller sich für das Fach Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte mit dem Erwerb des akademischen Grades eines habilitierten Doktors des Kanonischen Rechts. Die von Prof. Dr. Winfried Aymans betreute Habilitationsschrift trägt den Titel „Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht. Zur Abgrenzung von Recht und Moral in der deutschsprachigen Kirchenrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“. Als Privatdozent übernahm er in den Folgejahren Lehraufträge für Kirchenrecht in Regensburg und Eichstätt und versah in der Rektoratszeit von Prof. Dr. Alfred Hierold die Lehrstuhlvertretung für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. In der Zeit am Kanonistischen Institut fielen Müller zugleich wichtige Aufgaben im wissenschaftlichen Alltag des Instituts zu. So war er über viele Jahre hinweg als redaktioneller Mitarbeiter für das „Archiv für katholisches Kirchenrecht“ tätig und

Vorwort

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besorgte federführend und seinerzeit für die Fakultät bahnbrechend die erste Umstellung auf die computerunterstützte Herausgabe der international hoch angesehenen ältesten deutschen Fachzeitschrift. Einen bemerkenswerten Beleg für den Erfolg dieser herausfordernden Veränderung lieferte darüber hinaus die Durchführung des VI. Internationalen Kongresses für Kanonisches Recht, der vom 14.–19. September 1987 in München stattfand. Ludger Müller war hier in bewährter Weise zusammen mit Dr. Titus Lenherr im Kongresssekretariat und im Rahmen der nachfolgenden Publikation der Kongressakten tätig. Nach der Übernahme der Wiener Professur für Kirchenrecht sind Ludger Müller verschiedene Aufgaben in Wissenschaft und Praxis des Kirchenrechts angetragen worden, die er stets mit großer Bereitwilligkeit und bemerkenswertem Einsatz annahm. So wurde er am 08. Juni 2001 Gastprofessor an der Facoltà di Teologia di Lugano, mit der er in seiner Funktion als Vorstand des Instituts für Kirchenrecht der Universität Wien im Jahre 2002 ein Kooperationsabkommen unterzeichnete, das bis auf den heutigen Tag neben dem Lehraustausch reiche Früchte in gemeinsamen Forschungsprojekten, Fachtagungen, wissenschaftlichen Publikationen sowie in der Initiierung und Durchführung eines postgradualen Master-Studiums im Vergleichenden Kanonischen Recht trägt. Von 2006 – 2014 versah Müller die Aufgabe des Ehebandverteidigers und Kirchenanwalts am Bischöflichen Diözesangericht St. Pölten. Seit 2006 ist er im selben Gericht als Vernehmungsrichter, seit 2014 – nach seiner Weihe zum Ständigen Diakon der Diözese St. Pölten am 22. September 2013 – auch als Diözesanrichter tätig. Wie sehr sein fachlicher Rat auch universalkirchlich gesucht wird, bezeugt schließlich seine Ernennung im Jahre 2011 zum Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte (Pontificium Consilium de Legum Textibus). Erwähnt sei an dieser Stelle schließlich auch Müllers Gutachtertätigkeit für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung kanonischer Studiengänge in Deutschland e. V. (AKAST) sowie für den Akkreditierungsrat der Deutschen Bundesregierung. Wer Ludger Müller kennt, weiß, dass die Pensionierung für ihn keinen „Ruhestand“ mit sich bringen wird. Seine bisherige Publikationstätigkeit lässt darauf hoffen, dass er weiterhin in der Lehre, vor allem aber in der Forschung und mit Veröffentlichungen präsent bleiben wird. Die Überzeugung des theologischen Verständnisses des Kirchenrechts sowie die Bereitschaft, die nachkommenden Generationen von Kanonisten auf ihre Aufgaben in Wissenschaft und Praxis der Kirche bestmöglich vorzubereiten, lassen daran denken, die bereits begonnene Fortschreibung des renommierten Lehrbuchs „Kanonisches Recht“, begründet von Eduard Eichmann (1870 – 1946), fortgeführt von Klaus Mörsdorf und neu bearbeitet von Winfried Aymans, beherzt anzugehen. Nicht zuletzt deswegen soll dem Jubilar mit dieser Festschrift ein aufrichtiges und gedeihliches „Ad multos annos!“ zukommen! Ein solcher Festband hätte sich indes ohne die tatkräftige Mithilfe vieler Institutionen und Weggefährten des Jubilars nicht realisieren lassen. Daher sind wir vor allem den Autoren zu großem Dank verpflichtet. Sie haben sich neben ihren vielfäl-

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Vorwort

tigen Verpflichtungen der Mühe unterzogen, Forschungsbeiträge aus ihrem wissenschaftlichen Arbeiten zur Verfügung zu stellen, die sich zumeist an den Grundthemen des kanonistischen Œuvres von Ludger Müller orientieren. Unser verbindlichster Dank gilt sodann dem Erzbischof von Wien, Seiner Eminenz Christoph Kardinal Schönborn, dem Bischof von St. Pölten, Seiner Exzellenz Dr. Dr. Klaus Küng, und der Dekanin Frau Prof. Dr. Sigrid Müller für ihre Grußworte. Ein aufrichtiges Vergelt’s Gott sagen wir allen Institutionen, die uns aufgrund der Verbundenheit mit dem Geehrten großherzige Zuschüsse für die Drucklegung haben zukommen lassen, namentlich den Erzdiözesen Bamberg, Köln, München und Freising, Salzburg und Wien, den Diözesen Eichstätt, Osnabrück, Regensburg und St. Pölten, der Eupress-FTL (Editrice della Facoltà di Teologia di Lugano) sowie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Alma Mater Rudolphina Vindobonensis unseres Jubilars. Als Herausgeber bedanken wir uns für die bewährte und zuverlässige Zusammenarbeit mit Herrn Dr. Klaus Zeller, dem Wissenschaftlichen Assistenten des Jubilars, sowie Frau Birgit Müller vom Verlag Duncker & Humblot in Berlin. Mit dankbarer Hochachtung würdigen wir schließlich die unermüdliche Mitarbeit an der Festschrift in Logistik und Korrekturlesung durch die Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchenrecht der Theologischen Fakultät Trier, Frau Silvia Marx im Sekretariat, Frau Dipl.-Theol. Anna Elisabeth Meiers als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Frau Nina Andrea Jungblut und Herrn Janik Jung als wissenschaftliche Hilfskräfte. Trier – Innsbruck – Lugano am Hochfest Christi Himmelfahrt 2017 Christoph Ohly – Wilhelm Rees – Libero Gerosa

Inhaltsverzeichnis Grußwort (Christoph Kardinal Schönborn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grußwort (Bischof Dr. Dr. Klaus Küng) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grußwort (Prof. Dr. Sigrid Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundfragen des Kirchenrechts und Allgemeine Normen Arturo Cattaneo Die Erwägungen Ludger Müllers zur Analogie zwischen kanonischem und weltlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Gänswein Neuevangelisierung. Weg und Herzmitte der Kirche in unserer Zeit . . . . . . . . . .

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Libero Gerosa Mitbürger der Heiligen (Eph 2,19). Das Fördern der Heiligkeit der Kirche als Verpflichtung: Ein Paradigma für die kanonistische Hermeneutik? . . . . . . . . . .

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Martin Grichting „Die Säkularisierung kommt der Kirche zu Hilfe“. Drei Beispiele und eine Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Judith Hahn Wieviel an Recht verträgt die Kirche? Eine theoretische und theologische Problemanzeige zur Reichweite des kirchlichen Regelungsanspruchs . . . . . . . . . . .

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Elisabeth Kandler-Mayr Fachwissen als Grundlage rechtskonformen Handelns. Ein Plädoyer für die kirchenrechtliche Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Mückl In der Welt, nicht von der Welt. (Staats)Kirchenrechtliche Implikationen einer Entweltlichung der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Thomas Schüller Auslegung von Gesetzen im Kirchenrecht. Ein rechtshistorischer und antekanonistischer Beitrag zur Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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Inhaltsverzeichnis

Klaus Zeller Die Terminologie der kirchlichen Gesetzbücher. Versuch einer Bestandsaufnahme zur kirchlichen Rechtssprache des CIC und des CCEO . . . . . . . . . . . . . . 139

Kirchliches Verfassungsrecht Anna Egler Papa emeritus. Anmerkungen zum Titel eines Papstes post renuntiationem . . . . 169 Johann Hirnsperger Kollegiatkapitel und neue Strukturen in der Seelsorge. Ein Vorschlag . . . . . . . . 185 Andreas Kowatsch Die Reform der Wirtschafts- und Finanzverwaltung des Heiligen Stuhls durch Papst Franziskus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Georg May Der Ruf nach mehr Synodalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Martin Rehak Das kanonische Territorium in der kirchlichen Rechtspraxis. Ein Vergleich der Regelungen des CIC/1917 und des CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Ulrich Rhode 100 Jahre persona in Ecclesia Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Grundvollzüge der Kirche und ihre rechtliche Ordnung Reinhild Ahlers Tote bestatten. Das kirchliche Begräbnis zwischen Rechtsanspruch und Werk der Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Hans-Jürgen Feulner Divine Worship. Liturgierechtliche Anmerkungen zu einem neuen Usus des Römischen Ritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Stefan Ihli Geht zu allen Völkern und tauft sie. Kirchenrechtliche Überlegungen zur Taufe von Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Yves Kingata Das Phänomen der Basilica minor im 21. Jahrhundert. Relevanz und Mehrwert 393

Inhaltsverzeichnis

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Christoph Ohly De celebratione sacramenti paenitentiae. Die Rechtsnormen zur Feier des Bußsakraments im Licht ihrer theologischen Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Beatrix Laukemper-Isermann Aktuelle tauf- und gliedschaftsrechtliche Fragen am Beispiel von Muslimen und Christen des Ostens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Andreas Weiß „Wir haben genügend Priester. Nur, wir weihen sie nicht.“. Für mutige Vorstöße in der Zulassungsfrage zum amtlichen Priestertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Kirchliches Sanktions- und Verfahrensrecht Michael Benz Zum Verhältnis von Gerichts- und Generalvikar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Burkhard Josef Berkmann Maßnahmen der Österreichischen Bischofskonferenz bei Missbrauch und Gewalt. Zivilrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Konrad Breitsching Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Stephan Haering Strafe oder Sanktion? Überlegungen zum ordensrechtlichen Institut der auferlegten Exklaustration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Heribert Hallermann Ne bis in idem. Kanonistische Überlegungen zu einem alten Rechtssprichwort angesichts problematischer Aspekte der Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Alfred E. Hierold Mitis Iudex. Anmerkungen zum Handeln des kirchlichen Richters . . . . . . . . . . . 561 Lotte Kéry Burchard von Worms (1000 – 1025) und die Entwicklung des kirchlichen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Gotthard Klein „Soll etwa nur Hochhuth den ehrwürdigen Priester Bernhard Lichtenberg für sich in Anspruch nehmen dürfen?“. Die Seligsprechungs-Initiative aus dem Erzbischöflichen Amt Görlitz 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599

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Inhaltsverzeichnis

Reinhard Knittel Besitzt die Kirche das Recht zu strafen? Der c. 1311 CIC/1983 und das Postulat einer theologischen Begründung des Strafanspruchs der Kirche . . . . . . . . . . . . . 625 Wilhelm Rees Katholische Kirche und Menschenrechte. Erwartungen an ein künftiges Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Nikolaus Schöch Die Anrufung eines staatlichen Gerichts mit dem Ziel, den kirchlichen Rechtsweg zweck- und wirkungslos zu machen, als mögliche Straftat in der kirchlichen Rechtsordnung gemäß c. 1375 CIC/1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Markus Walser Fragen zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

Recht der orientalischen Kirchen und ökumenische Fragestellungen Jirˇí Dvorˇácˇ ek Die Rechtsstellung der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik 701 Hanns Engelhardt Eherechtliche Verfahrensvorschriften im anglikanischen Kirchenrecht . . . . . . . . 721 Thomas Mark Németh Die Disziplinarordnung für den Klerus der griechisch-orientalischen Metropolie der Bukowina und von Dalmatien (1908). Ein unveröffentlichter Dokumentenentwurf aus der Endzeit der Habsburgermonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Helmuth Pree Der „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“. Sein Ort im katholischen Kirchenrecht und im ökumenischen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Rudolf Prokschi Ist ein kirchlicher Eheabschluss orthodoxer Gläubiger mit Christen anderer Bekenntnisse (Mischehe) möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

Vergleichendes Religionsrecht und das Verhältnis von Staat und Kirche Claudius Luterbacher-Maineri Religionsverfassungsrechtliche Entwicklungen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . 801

Inhaltsverzeichnis

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Thomas Meckel „Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts“. Die Konfessionalität des Religionsunterrichts aus der Sicht des Kirchenrechts und des Religionsrechts 825 Arnd Uhle Schulische Integration und elterliches Erziehungsrecht. Die Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen nach den „Burkini-Entscheidungen“ von BVerwG, BVerfG und EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Bibliographie Ludger Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885

KARDINAL DR. CHRISTOPH SCHÖNBORN ERZBISCHOF VON WIEN

Wien, am 13. Juni 2017

Grußwort zum 65. Geburtstag von Univ.-Prof. Dr. Dr. Ludger Müller Seit siebzehn Jahren vertritt Univ.-Prof. Dr. Dr. Ludger Müller an der KatholischTheologischen Fakultät der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis das Fach Kanonisches Recht. Als Magnus Cancellarius unserer Fakultät sage ich dem Jubilar dafür meinen herzlichen Dank. Professor Müller ist aber auch Konsultor des Päpstlichen Rates für Gesetzestexte, Richter am Diözesangericht St. Pölten, ständiger Diakon der Diözese St. Pölten und Gutachter und Berater verschiedener kirchlicher Einrichtungen. Die Vollendung des 65. Lebensjahres ist freilich auch für einen Universitätsprofessor ein einschneidendes Datum: die Pensionierung steht an. So wünsche ich dem Jubilar auch für den nächsten Abschnitt seines Lebens, befreit von den täglichen Verpflichtungen, viel Schaffenskraft und einen neuen „Gelehrtenfrühling“. Die Erzdiözese Wien ist ihm daher zu besonderen Dank für seine langjährigen und großen Verdienste verpflichtet. Mit meinen besten Grüßen und Segenswünschen für die kommenden Jahre, ad multos annos!

DER BISCHOF VON ST. PÖLTEN

Grußwort Es ist mir eine große Freude, zum 65. Geburtstag von Univ.-Prof. DDr. Ludger Müller meine besten Glückwünsche zu übermitteln. Ich tue das nicht nur deshalb sehr gerne, weil ich Univ.-Prof. Müller seit langem kenne und schätze, wie durch seine wertvolle Arbeit am Diözesangericht, sondern auch, weil der Jubilar in seiner Persönlichkeit für etwas steht, was mir für Kirche und Gesellschaft grundlegend erscheint: Wissenschaft und Pastoral sind in beispielgebender Weise gemeinsame Elemente seines Lebens, er lebt die Wissenschaft und er lebt den Glauben. Theorie und Praxis streben nicht auseinander, sondern bilden eine fruchtbare Symbiose, ein kräftiges und kräftigendes Beispiel. Univ.-Prof. Müller verbindet seine Verankerung mit einem hohen Exzellenzanspruch und mit einem universalen und weiten Blick. Daher ist auch sein Tätigkeitsfeld vielfältig, sei es als Universitätsprofessor für Kirchenrecht an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Wien, als Berater des Päpstlichen Rates für Kirchentexte, als langjähriger Richter am Diözesangericht St. Pölten, als Gutachter und Berater, und nicht zuletzt als Ständiger Diakon und Organist. Zahlreiche Veröffentlichungen und Arbeiten begleiten dieses Wirken, das auch im vielfältigen Dienst für die Diözese reiche Frucht entwickelt hat. Dafür sei ihm herzlich Dank gesagt.

Grußwort Prof. Dr. Sigrid Müller Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien1 Eminenz, sehr geehrter Herr Nuntius Zurbriggen, sehr geehrte internationale Gäste, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ehemalige und derzeitige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, liebe Studierende, eine Abschiedsvorlesung ist etwas Schönes und hat dennoch auch etwas Zwiespältiges an sich: etwas Schönes, weil man Rückblick halten kann auf ein erfülltes Berufsleben und dabei im Rückgriff auf die lange Erfahrung aufzeigen kann, wo man selbst die aktuellen Herausforderungen sieht, mit denen sich die Jüngeren, die nachrücken, werden auseinandersetzen müssen. Zugleich können aber auch zwiespältige Gefühle mit einer Abschiedsvorlesung verbunden sein, weil man in der Regel ja doch nicht weiß, wie der aus dem Regelbetrieb ausscheidende Kollege mit der veränderten Situation zurande kommen wird. Die Abschiedsvorlesung stellt ja gleichsam ein Übergangsritual dar – den Schritt von der aktiven Teilnahme am universitären Professorenleben zum Dasein eines geschätzten Kollegen im Ruhestand. Doch habe ich im konkreten Fall von Kollegen Ludger Müller, dessen Einladung zur Abschiedsvorlesung wir gefolgt sind, in dieser Hinsicht wenig Sorgen. Er hat, so scheint es mir im Rückblick, auf seinen Lebensweg keine Angst vor Neuem gehabt und den Übergang in neue Situationen nicht gescheut. Schon während des Studiums der katholischen Theologie, Philosophie, Musikwissenschaft, Geschichte und des Kanonischen Rechts (1972 – 1985) hat er vielfach den Ort gewechselt: Bonn, Münster, Eichstätt und München waren dabei die Stationen. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bonn und dann in Eichstätt, wo er 1985 in der Theologie bei Prof. Peter Krämer im Hauptfach Kirchenrecht mit der Arbeit „Kirche, Staat, Kirchenrecht. Der Ingolstädter Kanonist Franz Xaver Zech SJ (1692 – 1772)“ promovierte. Nach der Promotion folgte ein Jahr (1985 – 1986) als Offizialatsrat am Bischöflichen Offizialat Osnabrück. Von dort aus ging es dann nach München ans Kanonistische Institut, wo Ludger Müller mit der Arbeit „Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung“ (publiziert 1991) den akademischen Grad des kanonistischen Doktorats (Dr. iur. can.) erlangte, unter der Betreuung durch Prof. Dr. Winfried Aymans 1996. Aufgrund seiner Habilitation mit der Arbeit „Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht. Zur Abgrenzung von Recht und Moral in der deutschsprachi1 Ansprache anlässlich der Abschiedsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Dr. Ludger Müller in Wien am 28. 06. 2017.

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Grußwort (Sigrid Müller)

gen Kirchenrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“ (publiziert 1999) erlangte Ludger Müller ebenso in München die Lehrbefugnis für das Fach Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte und wurde zum Privatdozenten in München ernannt. Er nahm Lehraufträge für Kirchenrecht in Regensburg und Eichstätt wahr. 1998 – 2000 wirkte er als Lehrstuhlvertreter für Kirchenrecht in Bamberg, ehe er nach Wien berufen wurde. Am ersten September 2000 wurde er zum Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien ernannt. Man hätte vermuten können, dass er, einmal am Ziel angelangt, etwas sesshafter geworden wäre. Ganz im Gegenteil! Aufgrund seiner internationalen Kontakte wurde er am 08. Juni 2001 zum Gastprofessor an der Facoltà di Teologia di Lugano ernannt. Diese Verbindung in die Schweiz hatte seitdem eine besondere Bedeutung ihn, und die Kooperation mit den Luganer Kolleginnen und Kollegen hat ihn bis heute in seiner Arbeit stimuliert. Gemeinsam mit dem dortigen Kollegen Libero Gerosa gibt Ludger Müller mehrere Zeitschriften, Reihen und Jahrbücher heraus: Kirchenrecht im Dialog (Paderborn), Kirchenrechtliche Bibliothek (Münster), Annuario DiReCom (Lugano), Veritas et Jus (Lugano/Gavirate), Kirchenrecht konkret (Münster). Auch für die Belange der Fakultät und Universität setzte sich Ludger Müller ein. Er vertrat die Katholisch-Theologische Fakultät im Senat in der dritten Funktionsperiode von Juni 2009 bis September 2010. Bereits 2003 wurde Ludger Müller in die mit dem UG 2002 neu gegründete Rechtsmittelkommission des Senats der Universität Wien berufen und gehörte ihr seither an. Schon ab der zweiten Periode, d. h. seit 2006, war er stellvertretender Vorsitzender der Kommission und folgte in dieser Funktion Professor Potz nach. Ebenso engagierte er sich im Kontakt mit der Juristischen Fakultät und kooperierte mit den dortigen Kolleginnen und Kollegen. Ab 2004 wirkte er als Dozent beim Lehrgang Kanonisches Recht für Juristen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien mit. Wie mir zu Ohren gekommen ist, ist er dort als recht strenger Prüfer bekannt. Doch auch dieses Engagement war ihm noch nicht genug: Da er nicht in Wien, sondern in St. Pölten seinen Wohnort hatte, wusste auch der dortige Bischof seine Dienste anzuwerben. So wirkte Kollege Ludger Müller von 2006 – 2014 als Ehebandverteidiger und Kirchenanwalt am Bischöflichen Diözesangericht St. Pölten. Ebenso übernahm er 2006 die Funktion eines Vernehmungsrichters am Bischöflichen Diözesangericht St. Pölten. 2011 wurde er zum Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte ernannt. Ludger Müller besiegelte seine kirchlichen Dienste, indem er 2013 zum Diakon geweiht wurde. Seit 2014 ist er als Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht St. Pölten tätig. In den ganzen Jahren war er im Auftrag der Österreichischen Bischofskonferenz in der Steuerungsgruppe für die theologischen Studienpläne tätig sowie als Gutachter für die DFG, die deutsche Akkreditierungsagentur AKAST und für zahlreiche kirchliche Belange.

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Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Universitätslehrer in Wien wurde Kollege Müller 2013 Dozent für Kirchenrecht an der Sankt Pöltener Hochschule. 2016 schließlich verknüpfte er die bereits bestehenden Fäden und wurde zum Initiator und Leiter des Postgradualen Master-Lehrganges Master im vergleichenden kanonischen Recht, den er in Zusammenarbeit mit der Phil.-Theol. Hochschule St. Pölten und dem Internationalen Institut für Kirchenrecht und vergleichendes Religionsrecht (Istituto di DiReCom) der Facoltà di Teologia di Lugano anbietet. In der Forschung blieb Ludger Müller einer Linie treu, die er von seinem Lehrer Aymans und dieser von seinem Lehrer Klaus Mörsdorf, dem Begründer des Kanonistischen Instituts der Universität München, das diesem zu Ehren im Jahr 2001 in Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik umbenannt wurde, übernommen hat. Kollege Müller wirkte mit an der Neubearbeitung des von Eduard Eichmann begründeten und von Klaus Mörsdorf fortgesetzten Lehrbuchs des Kirchenrechts unter dem Titel „Kanonisches Recht“ (vier Bände). Gemeinsam mit Winfried Aymans und unter Mitarbeit von Christoph Ohly entstand Band IV: Vermögensrecht, Sanktionsrecht und Prozeßrecht, und nun in überarbeiteter Auflage (2017) der Ergänzungsband über „Das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren nach der Reform 2015“. Durch seine Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Organisationen wie der Görres-Gesellschaft, der Österreichischen Gesellschaft für Kirchenrecht, der Europäischen Gesellschaft für Kirchenrecht in Österreich und als Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kirchenrecht e. V. (Deutschland) hat Ludger Müller sich für das Fach Kirchenrecht stark eingesetzt und es insbesondere in den Feldern der kirchenrechtlichen Grundlagenfragen (inklusive der kirchlichen Rechtssprache), in der Rechtsgeschichte, im orientalischen Kirchenrecht und im Recht des Heiligungsdienstes besonders vertieft. Die gute Verbindung mit den Fachkollegen ist ein Zeichen der Anerkennung für dieses Engagement. Im Namen der gesamten Fakultät darf ich Dir, Ludger, meine Anerkennung für Deine Arbeit und meinen Dank aussprechen: Du hast Dich ganz für dein Fach eingesetzt und viel gelehrt. Du warst, so meine ich sagen zu können, für Deine Mitarbeiter am Lehrstuhl immer ein guter Chef. Du warst stets bereit, Ämter an der Universität Wien und in der Selbstverwaltung der Fakultät zu übernehmen. Du hast auch bei allen Umstrukturierungen an der Fakultät, die nicht immer Deiner Meinung entsprochen haben, Sachlichkeit, ein klares Bewusstsein für die Dir wichtigen Dinge, aber auch Flexibilität und Humor gezeigt, was ich sehr an Dir schätze. Für alle diese Arbeit in den vergangenen 17 Jahren danke ich Dir von Herzen. Ich wünsche Dir, dass Du die Tätigkeiten, die Dich erfüllen: kirchenrechtliche, aber auch musikalische als Organist und pastorale als Diakon, noch lange mit Freude und in Gesundheit ausführen kannst. Dafür wünsche ich Dir insbesondere im Namen der Fakultät alles Gute und Gottes Segen!

Grundfragen des Kirchenrechts und Allgemeine Normen

Die Erwägungen Ludger Müllers zur Analogie zwischen kanonischem und weltlichem Recht Von Arturo Cattaneo

I. Zur Problemstellung Das Zweite Vatikanische Konzil hat bekanntlich eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Eigenart des Kirchenrechts und seine Verankerung in der Natur der Kirche gefördert. Vor dem Konzil war die Lehre von der Kirche als societas perfecta nach dem Prinzip ubi societas ibi ius für eine philosophische und soziologische Begründung der Existenz von Kirchenrecht maßgebend. In der nachkonziliaren Zeit, während der Kodifikationsarbeiten, spielten die Reden Pauls VI. zum kanonischen Recht eine wichtige Rolle. Bedeutungsvoll sind seine Ansprachen zum Anlass der ersten beiden Internationalen Kanonistenkongresse (in Rom und Mailand). Um ihre Tragweite richtig einschätzen zu können, sollte berücksichtigt werden, dass zu jener Zeit in der wissenschaftlichen Welt rege Debatten über die Beziehungen zwischen der Kanonistik, der Theologie und der Rechtswissenschaft in vollem Gange waren. In der Rede vom 19. Januar 1970 unterstrich Paul VI., „dass das Konzil den der Kirche eigenen mystischen Aspekt hervorhob, und es hat daher den Kanonisten darauf verpflichtet, noch grundsätzlicher in der Heiligen Schrift und in der Theologie die Fundamente seiner eigenen Lehre zu erforschen. […] Das Konzil führt euch gezwungenermaßen zu dieser neuen, tieferen und realistischen Sicht. Wer dem Vorwurf des Juridismus und Formalismus entgehen will, muss vielmehr die alten Positionen eines rechtlichen Positivismus und Historizismus aufgeben.“1 Anlässlich des Zweiten Internationalen Kongresses unterstrich der Papst am 13. Dezember 1972 unmissverständlich die Wichtigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen Theologen und Kanonisten und erinnerte sie daran, „dass das Konzil durch die Vertiefung der Lehre der Kirche und durch die Hervorhebung des ihr eigenen mystischen Aspektes den Kanonisten verpflichtet hat, auf vertiefte Weise in der Heiligen Schrift und in der Theologie die Gründe der eigenen Doktrin zu suchen. Nach dem Konzil ist es für das Kirchenrecht schlicht unmöglich, nicht in immer en1 Veröffentlicht in: OR vom 19./20. 01. 1970 und in: Insegnamenti di Paolo VI, 8 (1970), S. 56 f.

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gerer Beziehung zur Theologie und zu den anderen heiligen Wissenschaften zu stehen, weil auch es eine heilige Wissenschaft ist, und es ist sicher nicht, wie es einige gerne hätten, jene ,praktische Kunstfertigkeit‘, deren einzige Aufgabe es wäre, die theologischen und pastoralen Schlussfolgerungen mit den dazugehörigen rechtlichen Formeln auszustatten. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist die Zeit endgültig vorbei, während der einige Kanonisten es ablehnen konnten, den theologischen Aspekt der studierten Disziplinen oder der von ihnen angewandten Gesetze zu beachten. Heute ist ein Studium des kanonischen Rechtes ohne eine seriöse theologische Ausbildung unmöglich. […] Der innere Zusammenhang zwischen Kirchenrecht und Theologie stellt sich mit Dringlichkeit: Die Zusammenarbeit zwischen Kanonisten und Theologen muss enger werden; kein Bereich der Offenbarung darf außer Acht gelassen werden, wenn man im Glauben das Geheimnis der Kirche ausdrücken und vertiefen will, deren institutioneller Aspekt von ihrem Gründer gewollt wurde und der wesentlich zu ihrem grundlegend sakramentalen Charakter gehört (vgl. LG 1).“2 Eine weitere bedeutsame Rede hielt Paul VI. bei der Begegnung mit den Teilnehmern des zweiten Fortbildungskurses für kirchliche Gerichtspersonen am 13. Dezember 1972. Unter anderem sagte er: „Das kanonische Recht ist nun zwar das Recht einer sichtbaren Gesellschaft, aber einer übernatürlichen, die durch das Wort und die Sakramente auferbaut wird, und deren Ziel es ist, die Menschen zum ewigen Heil zu führen. […] Daraus folgt, dass die rechtliche Ordnung und das rechtliche Gefüge der Kirche zur Offenbarung gehören und überhaupt nicht abgeschafft werden können, und dass die Kanonistik sehr eng mit der Theologie verbunden ist. […] Das kanonische Recht ist also ein heiliges Recht und ist vom Zivilrecht völlig verschieden. Es ist nämlich ein Recht eigener Art, ein hierarchisches Recht, und zwar weil Christus selbst es so wollte. Es ist ganz eingefügt in das Heilshandeln, mit dem die Kirche das Erlösungswerk fortführt. Darum kann man die Rechtsinstitute der bürgerlichen Gesellschaft nicht unbesehen auf die Kirche übertragen.“3 Christian Huber ist in seiner Untersuchung über Paul VI. und das Kirchenrecht zum Schluss gekommen, dass der Papst sich „durchgehend und ohne Einschränkung zur theologischen Qualität des Rechts in der Kirche bekannt hat. Dieses Bekenntnis, verbunden mit der Forderung an die Kanonisten, ihre Bemühungen um eine Theologie des Kirchenrechts zu verstärken, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Phasen der Entwicklung im Denken des Papstes.“4 Dieser verstärkte Akzent auf den theologischen Aspekt des Kirchenrechts hat sich in ganz verschiedenartigen Bereichen bemerkbar gemacht, wie Johannes Paul II. in 2

Paul VI., Allocutio, in: Com 5 (1973), S. 123 – 131, hier S. 123 f. Paul VI., Allocutio (13. 12. 1972), in: AAS 64 (1972), S. 780 – 782, hier S. 781. Der bedeutendste Satz lautet in der lateinischen Originalsprache folgendermaßen: „Ius canonicum est ius sacrum, prorsus distinctum a iure civili. Ius societatis visibilis quidem, sed supernaturalis, quae verbo et sacramentis aedificatur et cui propositum est homines ad aeternam salutem perducere.“ 4 Christian Huber, Papst Paul VI. und das Kirchenrecht (= BzMK 21), Essen 1999, S. 211. 3

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der Apostolischen Konstitution zum CIC/1983 bemerkte: „Der Codex entspricht voll dem Wesen der Kirche, wie es vom Lehramt des Zweiten Vatikanischen Konzils ganz allgemein und besonders in seiner Ekklesiologie dargestellt wird. Ja, dieser neue Codex kann gewissermaßen als ein großes Bemühen aufgefasst werden, die Ekklesiologie des Konzils in die Sprache des Kirchenrechts zu übersetzen. Wenn es auch unmöglich ist, das von der Lehre des Konzils gezeichnete Bild der Kirche vollkommen in die kanonistische Sprache zu übertragen, so muss der Codex doch immer in diesem Bild, soweit das möglich ist, seinen festen Bezugspunkt haben.“5 Auch Johannes Paul II. hat bedeutungsvolle Ansprachen über das Kirchenrecht gehalten. Für das hier behandelte Thema besonders interessant ist seine Rede vom 21. November 1983 an die Teilnehmer an einem Kurs über den neuen Codex. Zum Abschluss sagte der Papst: „Paul VI. hat richtigerweise den Unterschied zwischen kirchlichem und staatlichem Recht betont. Das Kirchenrecht ist nämlich ein Recht der Gnade, wenn es ein Recht der communio ist. Ich zitiere gerne Paul VI., weil er für die Kanonisten ein Lehrer, ein Theologe des Rechtes war; er hat Wert darauf gelegt, dass sich in der Betrachtung des einmaligen Kirchengeheimnis Theologie und Kanonistik wieder vereinen.“6 Klaus Mörsdorf war einer der Kanonisten, die dieses Verständnis der Kirchenrechtswissenschaft wahrscheinlich am meisten gefördert haben. Unter anderem bemerkte er in einer seiner letzten Schriften: „Wenn der theologische Charakter des Kirchenrechts verneint wird, so folgt daraus unweigerlich, dass kanonisches Recht mit dem weltlichen Recht auf gleicher Ebene liegt und sich lediglich durch seinen Bezug auf die Kirche als Gesellschaftsrecht eigener Art darstellt und im Grunde nichts anderes ist als das Sonderrecht einer gesellschaftlichen Gruppe.“7 Es wird somit leicht verständlich, warum mehrere Kanonisten diese tiefsinnigen und gehaltvollen Unterschiede zwischen kirchlichem und weltlichem Recht durch die Kategorie der Analogie zu erfassen versucht haben. Dabei wurde zwar das Thema oft mit etwas unklaren Ausdrücken meistens nur angedeutet. Dies besonders in der Rede des kanonischen Rechtes als analoges Recht.

5 Johannes Paul II., ApK „Sacrae disciplinae leges“ (25. 01. 1983), in: AAS 75/2 (1983), S. VII – XIV, hier S. XII (dt. in: Codex Iuris Canonici, Lat.-dt. Ausgabe, Kevelaer 20096, S. X – XIII, hier S. XIV). 6 Johannes Paul II., A Vescovi e sacerdoti ricevuti in udienza (21. 11. 1983), in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II 6/2 (1983), S. 1143 – 1146, hier S. 1145: „Paolo VI ha giustamente sottolineato che il diritto della Chiesa differisce da quello dello Stato. Esso infatti è un diritto della grazia, se è un diritto di comunione. Amo citare Paolo VI, perché egli è stato per i canonisti un maestro di pensiero, un teologo del diritto; egli ha voluto che si riunissero di nuovo, nella contemplazione del mistero unico della Chiesa, scienza teologica e scienza canonistica.“ 7 Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht als theologische Disziplin, in: AfkKR 145 (1976), S. 45 – 58, hier S. 45.

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II. Begründen die tiefgehenden Unterschiede zwischen kirchlichem und weltlichem Recht eine Analogie? Die meisten Kanonisten, die sich darüber geäußert haben, bejahen die Analogie. Es gibt aber auch Kanonisten, die entschlossen behaupten, dass das Wort Recht im kirchlichen und im weltlichen8 Recht univok ausgesprochen wird. Dabei findet man kaum schlüssige Beweise. Es entsteht eher der Eindruck, dass die Bejahung der Univozität einfach aus der Bestrebung erfolgt, das Recht in der Kirche im Vergleich mit dem weltlichen Recht nicht auf ein zweitklassiges Recht zu reduzieren. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist diesbezüglich die Lizentiatsarbeit von Ludwig Müller „Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung“9. Eine Arbeit, die ein erstaunliches wissenschaftliches Niveau aufweist, umso mehr wenn man im Auge behält, dass es sich um eine Lizentiatsarbeit handelt! Eine durchdachte, scharfsinnig erarbeitete Untersuchung zu einer der komplexeren Grundfragen der Kanonistik und der Rechtsphilosophie. Es sei vorausgeschickt, dass es sich um ein komplexes und schwierig zu lösendes Problem handelt. Dies aus mehreren Gründen. Einerseits gibt es keine allgemein anerkannte und klare Definition des Rechtsbegriffs. Je nachdem wie abstrakt der Rechtsbegriff angenommen wird, kommt man zu verschiedenen Antworten. Anderseits findet man bei den Philosophen verschiedene Interpretationen der Analogie und – wie die Philosophen selbst zugeben – ist der Analogiebegriff selbst analog. Sogar bei den sog. Thomisten gibt es über die verschiedenen Arten und Merkmale der Analogie keine Einigung.10 Dies ist wahrscheinlich eine Konsequenz davon, dass Thomas keine umfassende Darstellung der Analogie dargelegt hat und bei ihm selbst hat der Analogiebegriff Wandlungen erfahren.11 Darüber hinaus ist das Problem deswegen schwierig, weil die Autoren ihre Aussagen oft kaum präzisieren. Auf Italienisch12 wird oft der Ausdruck analogo nicht im technischen Sinn benutzt, sondern bloß als Synonym von ähnlich. Somit kann man durchaus sagen, dass Kirchenrecht und weltliches Recht ähnlich (auf Italienisch analoghi) sind, ohne dabei behaupten zu wollen, dass der Rechtsbegriff in den zwei Bereichen analog ausgesprochen wird. 8

Oft auch staatliches Recht genannt. Ludger Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung (= DiKa 6), St. Ottilien 1991. Der Verfasser hat die Hauptgedanken dieser Arbeit im folgenden Artikel zusammengefasst: ders., Der Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung. Überlegungen zur These vom analogen Wesen des Kirchenrechts, in: AfkKR 159 (1990), S. 3 – 18. 10 Nach Wolfgang Kluxen ist die berühmte Thomasdeutung von Kardinal Cajetan (dem wichtigsten Vertreter des orthodoxen Schulthomismus) bzgl. der Analogielehre mit der Auffassung des späteren Thomas kaum „in Einklang zu bringen“ (Wolfgang Kluxen, Art. Analogie, in: HistWbPhil 1, S. 214 – 227, hier S. 225). 11 Vgl. Kluxen, Art. Analogie (Anm. 10), S. 221 – 225. 12 Dasselbe kann man aber auch von anderen lateinischen Sprachen sagen. 9

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III. Die Einwände Müllers zur Analogie zwischen kirchlichem und weltlichem Recht In seiner Lizentiatsarbeit analysiert Müller zuerst die Aussagen der Kanonisten Hubert Socha und Reinhold Schwarz. Dabei – bemerkt er – wird das Wort Recht nur im Bezug auf das weltliche Recht univok verwendet. Außerdem sind ihre Argumentationen nicht schlüssig, weil sie dazu neigen, das Recht der Kirche dem Bereich des „unsichtbaren göttlichen Geheimnisses“ oder der „Ordnung der Gnade“ zuzuweisen. Folgerichtig bemerkt Müller, „dies widerspräche dem sakramentalen Charakter der Kirche“.13 Die meisten Kanonisten – die dann zur Sprache kommen – sind der Auffassung, dass der Rechtsbegriff als analoger Begriff erscheint, insofern der Rechtsbegriff im kanonischen und weltlichen Recht je wesentliche Veränderungen erfährt. Unter diesen Kanonisten werden der Reihe nach analysiert: Wilhelm Bertrams, Georg May und Viktor Steininger, die sich zu sehr an die Seinsanalogie anlehnen (das Recht gehört nämlich nicht zu diesem Bereich). Weiter werden die Aussagen von Eduardo Molano überprüft. Dieser Kanonist betrachtet das objektive Recht (res iusta) als analogatum princeps. Demzufolge bemerkt Müller: Wenn der Begriff Recht vom objektiven Recht im univoken Sinn ausgesagt wird, so kann man daraus schließen, dass „der Rechtsbegriff nicht als solcher analog ist“14. Der nächste Kanonist, der zur Sprache kommt, ist der Unterzeichnete. An meinen Ausführungen15 beanstandet Müller zuerst meine Äußerung, die Analogie sei nicht nur eine Eigenschaft von Wörtern, sondern auch von Begriffen.16 Es ist zwar üblich, nicht nur von analogen Wörtern sondern auch von analogen Begriffen zu sprechen. Ich muss jedoch zugeben, dass es streng genommen richtiger ist, nur von der analogen Verwendung von Wörtern und nicht von Begriffen zu sprechen. So tut es auf jeden Fall Thomas v. Aquin. Im Kapitel VI werde ich auf diese Frage etwas näher eingehen. Zweitens bemerkt er, dass meine Bemühungen wesentliche Unterschiede zwischen kirchlichem und weltlichem Recht zu erkennen, noch kein Beweis sind, „dass das Kirchenrecht nur im analogen Sinn bezeichnet werden kann“17. Auch 13

Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 19. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 32. 15 Müller bezieht sich auf mein Buch: Questioni fondamentali della canonistica nel pensiero di Klaus Mörsdorf, Pamplona 1986. Er konnte die deutsche Übersetzung dieses Buches nicht berücksichtigen, weil sie zur gleichen Zeit wie seine Arbeit erschienen ist: Arturo Cattaneo, Grundfragen des Kirchenrechts bei Klaus Mörsdorf. Synthese und Ansätze einer Wertung (= KST 40), Amsterdam 1991. Später habe ich meine Äußerungen zum hier behandelten Thema kurz, aber etwas präziser dargestellt: vgl. ders., Fondamenti ecclesiologici del diritto canonico, Venezia 2011, S. 99 f. 16 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 32. 17 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 33. 14

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hier hat Müller recht. Vermutlich habe ich mein Ansinnen nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Ich wollte nämlich darauf aufmerksam machen, dass in der Verwendung des Wortes Recht (oder des allgemeinen Rechtsbegriffs) im kirchlichen und weltlichen Bereich wesentliche Unterschiede im Rechtsbegriff selbst zu erkennen sind. Darauf werde ich im Kapitel V zurückkommen. Immer unter den Befürwortern des Rechtsbegriffs als ursprünglich analog, analysiert Müller die Ausführungen des Juristen und Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann. Auch hier macht Müller darauf aufmerksam, dass es dank der Abstraktion möglich sei, einen Begriff zu bilden, der keine individuierende Merkmale enthält. Z. B Mensch kann durchaus eindeutig ausgesprochen werden, auch wenn dadurch ganz verschiedene Menschen bezeichnet werden.18 Mit besonderer Aufmerksamkeit überprüft Müller die Aussagen von Eugenio Corecco19 und von Remigiusz Soban´ski.20 Corecco hat oft die Analogie des Kirchenrechts in Bezug auf das weltliche Recht betont. Müller kritisiert bei ihm ein bestimmtes Verständnis der analogia proportionalitatis. Für Corecco handelt es sich bei dieser Frage um die Beziehung zwischen zwei Wirklichkeiten vermittelt durch ein Drittes, „wobei dieses Dritte als der Rechtsbegriff als solcher bestimmt wird“. Nach Müller ist das, „was die analogia proportionalitatis ausmacht, […] nicht der Verweis auf einen gemeinsamen Begriff, sondern die Identität und zugleich Verschiedenheit zweier Verhältnisse. […] Zwischen diesen Verhältnissen besteht eine Beziehung, nicht unmittelbar zwischen den Wirklichkeiten selbst, die analog bezeichnet werden.“21 Wenn man eine analogia proportionalitatis erkennen möchte, sollte man also nach Müller zwei Beziehungen vergleichen, z. B. Kirche – kirchliches Recht, Staat – staatliches Recht. Er behauptet auch: „Die thomistische Tradition aber hat die ursprüngliche Lehre des hl. Thomas umgebildet zum Problem einer speziellen Art Begriffe, deren Bedeutung teilweise dieselbe und teilweise verschieden wäre.“22 Auf die Frage, ob die analogia proportionalitatis im Sinne von Corecco verstanden werden kann, werde ich im Kapitel V eingehen. Soban´ski ist der Ansicht, dass das Kirchenrecht bislang zu sehr nach dem Vorbild des staatlichen Rechtes ausgestaltet wurde, und zu sehr von ihm abhängig erscheint. Deswegen kritisiert er die Auffassung, wonach das staatliche Recht als „Prototyp“, als „erstes Analogat“ des Kirchenrechts, betrachtet wird. Er neigt eher dazu, das Recht als einen analogen Begriff anzusehen. Im Unterschied zum staatlichen Recht sieht er im Rechtsbewusstsein der Kirche eine „neue Gerechtigkeit“, die Glau-

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Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 35 f. Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 43 – 60. 20 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 61 – 94. 21 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 59. 22 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 111. 19

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be, Hoffnung und – vor allem – Liebe zum debitum des Christen macht.23 Deswegen lehnt er die Trennung von Recht und Liebe ab, und so bezeichnet er das Kirchenrecht als Recht des Glaubens und der Liebe.24 Dazu bemerkt Müller, dass Recht und Liebe wohl nicht getrennt werden dürfen. D. h. aber nicht, dass sie identisch sind.25 Bei Soban´ski findet man hingegen eine gewisse Verwirrung, besonders in einer engen Verbindung von Recht und Moral, eine Verbindung, die bisweilen zu einer bedenklichen Verwischung von Recht und Moral führt.26 Müller kritisiert auch die von Soban´ski vertretene zu enge Verbindung zwischen Recht und Glaube.27

IV. Die Bejahung der Univozität Müller erwähnt die Argumente einiger Kanonisten, die sich für eine univoke Aussage des Rechtsbegriffs zwischen dem kirchlichen und dem weltlichen Recht aussprechen. Gaetano Lo Castro, Velasio De Paolis und Javier Hervada unterstreichen, dass diese Frage nicht durch die Untersuchung der Unterschiede zwischen den Inhalten beider Rechtsinstitute gelöst wird. Nach de Paolis muss hingegen erkannt werden, „ob es Unterschiede eben im Rechtsbegriff selbst gibt, damit von einer Analogie die Rede sein kann“28. Richard Bäumlin hat in der Behauptung der Analogie zwischen kirchlichem und weltlichem Recht eine Gefahr für das Gespräch zwischen beiden Wissenschaften gesehen.29 In dieselbe Richtung geht auch die Bemerkung von Javier Hervada, wonach die Aussage, Kirchenrecht sei Recht nur im analogen Sinn, vor allem bedeuten würde, dass es nicht wirklich, nicht im eigentlichen Sinne Recht ist. Dementsprechend wäre die Kanonistik keine juristische Wissenschaft. Für Hervada ist es hingegen entscheidend, dass der Kanonist ein Jurist sei.30 Müller ist mit Hervada einverstanden, nicht jedoch mit dieser letzten Behauptung. Er äußert seine Bedenken mit folgender Frage: Bringt die Erkenntnis der Univozität „notwendigerweise mit sich, dass das Kirchenrecht nicht zu einem Gegenstand theologischer, sondern nur noch juristischer Art wird? Muss, wer die Kirchenrechtwissenschaft als eine theologische Disziplin ansieht, die These vom analogen Charakter des Kirchenrechts teilen?“31 23

Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 65. Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 66. 25 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 68. 26 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 76. 27 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 81 – 85. 28 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 40. 29 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 37. 30 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 41. 31 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 42. 24

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Im letzten Kapitel nimmt Müller Stellung zur behandelten Frage. Seine Antwort lautet: Der Rechtsbegriff kann32 prinzipiell so definiert werden, dass er ohne Abstriche als Gattungsbegriff für alle Arten von Recht dient. Er „darf nicht Spezifika der einen oder anderen Art von Recht beinhalten, muss aber für diese Spezifika offen sein“33. Er beschreibt folgendermaßen die wesentlichen Merkmale des allgemeinen Rechtsbegriffs: Recht hat mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, die einer äußeren Feststellbarkeit zugänglich sind, und unter dem Anspruch der Gerechtigkeit stehen.34 Für Müller ist also das Kirchenrecht ein eigengeartetes35 Recht, und – so beendet er seine Lizentiatsarbeit – „nur ein Kirchenrecht, das in diesem Sinn Recht ist, und dies im eigentlichen, univoken Sinn, ist von Bedeutung für den Aufbau der kirchlichen communio und damit letztlich für die Vermittlung des Heils.“36

V. Gibt es wesentliche Unterschiede im allgemeinen Rechtsbegriff, wenn er im kirchlichen und weltlichen Bereich ausgesprochen wird? Wie eingangs bemerkt, kommt man zu verschiedenen Antworten auf die Frage der Prädikation (univok oder analog) des Rechtsbegriffs, je nachdem wie abstrakt der Rechtsbegriff verstanden wird. Ohne damit zu rechnen, dass eine Definition des Rechts von allen geteilt wird, werde ich zuerst das klassische und grundlegende Verständnis des Rechts als Objekt der Gerechtigkeit abwägen. Danach werde ich das Analogieproblem nach der heute am meisten verbreiteten Auffassung erörtern, d. h. das normative oder objektive Verständnis des Rechts als Gesamtheit der verbindlichen Normen, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln. 1. Rechtsbegriff im klassischen Sinn (als Objekt der Gerechtigkeit) Der Rechtsbegriff der klassisch römischen Epoche ist die res iusta. Es handelt sich um das Recht, das jemandem zugehörig ist, und infolge dessen das, was gerecht ist,

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Müller gibt zwar zu, dass es schwierig sei, eine Definition zu geben (insbesondere in Sinne einer vollständigen Ableitung des Begriffes), und dass es bislang nicht gelungen sei (vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? [Anm. 9], S. 116). 33 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 120. 34 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 122 f. 35 Er nennt es auch „ein eigengeprägtes Recht, ein Recht sui generis. Vorausgesetzt wird ein allgemeiner Rechtsbegriff, der in der Lage ist, das und nur das auszudrücken, was allen rechtlichen Ordnungen gemeinsam ist“ (Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? [Anm. 9], S. 76 u. 118). 36 Vgl. Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 126.

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dem Besitzer zu geben, weil er einen Anspruch darauf hat.37 Thomas v. Aquin hält in einer bekannten Definition fest: ius est ipsa res iusta. Man spricht also von einem „realistischen Rechtsverständnis“. Das Recht begründet demnach eine Eigenschaft der res (dies kann eine Sache unterschiedlichster Natur, ein geistliches oder zeitliches Gut oder auch eine Berechtigung sein): Was sich als res erweist steht jemandem zu und deshalb ist es gerecht, dass er dieses besitzt und dass dies respektiert, ihm gegeben oder zurückerstattet wird. Dies ist das Recht in seiner tieferen Bedeutung und welches sein wesentliches Verhältnis mit der Gerechtigkeit besser ausgedrückt. Bei anderen Definitionen von Recht ist dieses Verhältnis weniger klar und kann schnell getrübt wenn nicht sogar vergessen werden. Es ist also abzuklären, welche Unterschiede bestehen, wenn eine solche Auffassung von Recht auf beide Bereiche (kirchlich und weltlich) angewandt wird. Der Sinngehalt von Recht (von dem was gerecht ist) ist von der Natur des Rechtsanspruches (Rechtstitels) bestimmt. Dem zufolge sagt man, dass ein Gut gerecht sei. Es ist genau der Rechtstitel, der etwas gerecht, d. h. geschuldet, macht. Man kann unschwer den wesentlichen Unterschied zwischen der Natur des Rechtsanspruches der beiden Bereiche erkennen. In der Kirche stammt der Anspruch aus dem Erlösungswerk Christi: Für alle Gläubigen entsteht der Anspruch aus ihrer Gotteskindschaft. Sie sind von Christus erlöst und in seinen mystischen Leib eingegliedert worden. Dank ihrer Identifizierung mit Christus sind die Sakramente und das Wort Gottes „Wirklichkeiten, die ihnen zustehen“38. Bei den Priestern stammt ihr Rechtsanspruch aus ihrer besonderen Teilhabe am Priestertum Christi, usw. All diese Rechtstitel sind natürlich von einer ganz anderen Art wie diejenigen, welche das Recht in der Zivilgesellschaft begründen.39 Als Beispiel möge angeführt werden, dass die Tragweite von gerecht oder ungerecht sehr variiert, wenn wir z. B. von einer Ungerechtigkeit wegen Diebstahl reden, oder aber von einem Priester, der im kirchlichen Bereich ohne Grund eine Sakramentsspendung verweigert.

37 Dies kommt bei der berühmten Definition der Gerechtigkeit von Ulpian klar zum Ausdruck: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ (Digesten 1, 1, 10). 38 Carlos José Errázuriz, Il diritto e la giustizia nella Chiesa. Per una teoria fondamentale del diritto canonico, Milano 2000, S. 88. 39 Auch in der Zivilgesellschaft gibt es verschiedene Arten von Rechtsansprüchen, welche zu analogen Anwendungen des Begriffes Recht, oder wenn man will von gerecht führen: Es gibt Rechtsansprüche, die eine Grundlage in der Natur haben (deshalb spricht man von Naturrecht); Rechtsansprüche, welche die Verhältnisse zwischen den einzelnen Personen regeln und so die Tauschgerechtigkeit bilden; Rechtsansprüche, die den Einzelnen gegenüber dem Staat verpflichten (soziale und kontributive Gerechtigkeit) oder die staatliche Autorität gegenüber den Bürgern (politische und juristische Gerechtigkeit). In all diesen Fällen spricht man von gerecht, aber sicher nur in einem analogen Sinn.

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2. Rechtsbegriff im normativen Sinn Wie oben gesagt, ist heute der meistverbreitete Sinn von Recht derjenige, der sich auf die Normen bezieht, welche die Rechtsverhältnisse des menschlichen Zusammenlebens regeln. Der Kern dieser Rechtsauffassung findet sich im Gesetz. Wir müssen daher eine eventuelle Analogie des Gesetzesbegriffs im kirchlichen und weltlichen Bereich untersuchen. Dazu bedarf es der Analyse und des Vergleichs der Begriffe beider Rechte, die man anhand ihrer vier Ursachen vornehmen kann. Ein solider Ausgangspunkt kann die thomistische Rechtsdefinition sein, sowohl weil in ihr die vier Ursachen des Gesetzes – und folglich der Kern dessen, was Recht im normativen Sinn genannt wurde – enthalten sind, wie auch deswegen, weil eine Abstraktion von den weiteren Bestimmungen des kirchlichen und weltlichen Gesetzes vorgenommen wird. Gemäß Thomas40 ist das Gesetz „quaedam rationis ordinatio (Formalursache) ad bonum commune (Zielursache) ab eo (hauptsächliche Wirkursache) qui curam communitatis (Materialursache ex circa) habet, promulgata (instrumentale Wirkursache)“. Jede der Ursachen soll nun aufgrund dieses allgemeinen Rechtsbegriffs untersucht werden, um abzuklären, ob sie sich im einen wie im anderen Recht nur auf akzidentelle Weise unterscheiden oder ob zwischen ihnen ein wesentlicher Unterschied besteht. Die Zielursache kann im bonum commune angesiedelt werden; es handelt sich aber um ein wesentlich verschiedenes Gemeinwohl: der kirchlichen oder der zivilen Gesellschaft. Es gibt also einen Unterschied, entsprechend der Verschiedenheit zwischen übernatürlicher und natürlicher Ordnung. Die hauptsächliche Wirkursache ist in erster Linie Gott selbst, in der weltlichen Gesellschaft als Urheber des Naturrechts und in der Kirche als Urheber der lex gratiae. An zweiter Stelle ist die Wirkursache jene, der mit legitimer Vollmacht ausgestattet ist. Dabei ist aber anzumerken, dass in der Leitung der Kirche eine besondere Gegenwart Christi durch den Heiligen Geist besteht (vgl. LG 21). Außerdem wurden in der Kirche die Struktur und die Zuweisung der heiligen Gewalt grundsätzlich von Christus selbst bestimmt. Die Verschiedenheit der Wirkursachen ist auf die entsprechenden unterschiedlichen Zielursachen zurückzuführen (finis est causa omnium causarum). Vor der Formalursache soll kurz auf die Materialursache eingegangen werden. Im Kirchenrecht liegt sie bei der kirchlichen Gemeinschaft – die wegen ihrer Besonderheit communio genannt wird – und in ihr die mit der Würde und Freiheit der Kinder Gottes (vgl. LG 9) ausgestatteten Gläubigen. Im weltlichen Recht ist die Materialursache die weltliche Gemeinschaft, und in ihr sind es ihre mit der dem Menschen eigenen Würde ausgestatteten Mitglieder. Das Recht regelt vor allem die gesellschaftlichen und äußeren menschlichen Handlungen. Der wesentliche Unterschied 40

Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 90, a. 4.

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zwischen den beiden Gemeinschaften scheint somit ausreichend dargestellt zu sein. Die zwischen der kirchlichen und der menschlichen Sozialität bestehende Analogie wurde von zahlreichen Kanonisten und Ekklesiologen hervorgehoben. Schwieriger wird die Klärung der Formalursache. Deswegen überraschen die diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskussionen nicht.41 Bevor erwähnt wird, worin der wesentliche Unterschied besteht, der auch hinsichtlich der Formalursache zwischen den beiden Rechten anzutreffen ist, wird es wohl angebracht sein, zu klären, was der Ausdruck ordinatio rationis bedeutet. Erstens muss berücksichtigt werden, dass der Begriff ordinatio eine vis directiva (seitens des Intellekts) und eine vis coactiva (seitens des Willens) beinhaltet. Der Akzent liegt auf letzterer, weil sie dem Recht die Eigenschaft verleiht, bindende Kraft, Befehlscharakter zu haben. Der Begriff ratio zeigt an, dass das Gesetz vom Verstand ausgeht (praktische Vernunft). Diese ist die Potenz, welche die Mittel im Verhältnis zum Ziel ordnet. In diesem Sinn bezieht sich das Recht auf die Ordnung der Mittel; nach Thomas v. Aquin ist das imperare eine Handlung des Verstandes unter Voraussetzung eines Willensaktes, der auf das Ziel hingeordnet ist. Diese kurzen Anmerkungen gelten sowohl für das kirchliche wie für das weltliche Recht, wobei bei ersterem der Ausdruck rationis eine andere Dimension erwirbt dank des positiven göttlichen Rechts, aufgrund dessen die Kirche Volk Gottes, Leib Christi, universales Heilssakrament ist. Deshalb könnte man sagen, dass das Fundament und der ausschlaggebende Kern des Kirchenrechts in einer ordinatio rationis Dei secundum beneplacitum besteht.42 Wenn man die Einheit im Kirchenrecht zwischen göttlichem und menschlichem Recht berücksichtigt, wird es verständlich, warum der Glaube auch im menschlichen (mere ecclesiasticum) Recht eine ausschlaggebende Rolle spielt und man folglich von einer ordinatio ratiortis fide illustratae sprechen muss. Zum Abschluss dieser Bemerkungen zur Formalursache sei noch darauf hingewiesen, dass, obwohl beiden Rechten eine ordinatio rationis und eine Verbindlich41 Anlass dazu war ein Artikel von Eugenio Corecco, „Ordinatio rationis“ oder „ordinatio fidei“?, in: IKaZ 6 (1977), S. 481 – 495; zum Thema vgl. auch Arturo Cattaneo, La necessità del metodo teologico per la canonistica nel pensiero di Eugenio Corecco, in: Juan Ignacio Arrieta/Gian Piero Milano (Hrsg.), Metodo, fonti e soggetti del diritto canonico, Roma 1999, S. 78 – 94. 42 Bzgl. Gott kann man natürlich von ratio nur in einem metaphorischen Sinn sprechen (vgl. die augustinische Definition der lex aeterna: ratio divinae sapientiae). In diesem Sinn kann der von Corecco vorgeschlagene Ausdruck ordinatio fidei verstanden werden: sowohl im objektiven Sinn (fides quae), wie auch im subjektiven (fides qua oder Tugend des Glaubens), weil der Glaube den Verstand nicht verdrängt, sondern erhebt. Für eine Interpretation der ordinatio fidei als ordinatio revelationis, d. h. also auf Grundlage der fides quae, sprach sich Winfried Aymans aus: Erwägungen über die inneren Wesensmerkmale eines kanonischen Gesetzesbegriffes, in: Schambeck, Herbert (Hrsg.), Pro fide et iustitia. FS Kardinal Casaroli, Berlin 1984, S. 197 – 204, hier S. 197. Andere vorgeschlagene Formeln sind: „Ordinatio rationis lumine fidei et gratia Spiritus Sancti informata“ (Gianfranco Ghirlanda, De recta iuris ecclesialis methodo semper servanda, in: PerRCan 68 [1979], S. 715 – 731, hier S. 720) und „Ordinatio rationis fide illuminatae“ (Joseph Listl, Die Rechtsnormen, in: HdbKathKR2, S. 102 – 118, hier S. 107).

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keit zu eigen ist – und beide folglich wahres Recht sind –, der Glaube (fides quae) dem Kirchenrecht eine Dimension verleiht, die es auch innerlich simpliciter vom weltlichen Recht unterscheidet. Eine Gleichheit zwischen ihnen besteht nur secundum quid. All dies deutet auf eine analoge Rechtlichkeit (Juridizität) der beiden Rechte hin.

VI. Eine Arbeitshypothese: Das Wort Recht wird im kirchlichen und weltlichen Bereich mit Proportionalitätsanalogie verwendet Je nachdem wie der Rechtsbegriff definiert wird, kann man von einem univoken Gattungsbegriff Recht ausgehen, dem sich weltliches und kanonisches Recht als Arten mit ihrer jeweiligen spezifischen Differenz zuordnen, oder von einem allgemeinen Rechtsbegriff, der in den zwei Bereichen wesentliche Unterschiede erfährt, so dass man von Proportionalitätsanalogie sprechen kann. Ludger Müller hat sich die Mühe gegeben, die Analogielehre des Thomas v. Aquin zusammenzufassen. Richtigerweise erinnert er daran, dass Thomas die Analogie nicht als eine Eigenschaft von Begriffen versteht, sondern als „eine Weise der Prädikation“43. Die Analogie besagt, „dass der Begriff sich in der Aussage, im Kontext je anders artikuliert“44. Dadurch wird „die unmittelbare Bedeutung modifiziert“45. Wolfgang Kluxen hat die thomistische Analogielehre, die in den späteren Schriften (vor allem in den Summen) geprägt wird, folgendermaßen dargestellt: „Nur zwei Arten der Analogie werden unterschieden: Zwei (oder mehrere) sind gemeinsam anzusprechen, weil sie auf ein Drittes, beiden vor- und übergeordnetes bezogen sind (Analogie duorum respectu tertii); oder eines von ihnen ist dem anderen schlechthin vorgeordnet (Analogie unius ad alterum).“46 Im ersten Fall handelt es sich um die sog. Proportionalitätsanalogie, im zweiten um die Attributionsanalogie. Ich lege hier gleich meine Hypothese vor: Der allgemeine Rechtsbegriff erhält innerhalb der beiden Bereiche eigene Charakteristika, welche wesentliche Unterschiede entstehen lassen. Man kann sagen, dass sich die Juridizität in beiden Bereichen dem jeweiligen Charakter entsprechend vollzieht. Man muss also zugeben, dass der allgemeine Rechtsbegriff als totum potestativum analog zugesprochen wird. Genauer gesagt handelt es sich dabei um eine eigene (oder innere) Proportionalitätsana-

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Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 111. Kluxen, Art. Analogie (Anm. 10), S. 223. 45 Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? (Anm. 9), S. 110. 46 Kluxen, Art. Analogie (Anm. 10), S. 222. 44

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logie (analogia proportionalitatis propria), weil die Juridizität eine ratio bildet, die beiden Rechten eigen oder innewohnend ist.47 Nach Thomas v. Aquin kommt eine analoge Zusprechung zustande, wenn ein „Ganzes als totum potestativum prädiziert wird, das heißt in der Mitte zwischen totum universale und dem totum integrale steht. Das totum universale nämlich, welches dem allgemeinen Begriffe entspricht, ist jedem Teile gegenwärtig gemäß seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Kraft und Bedeutung; wie das Sinnenwesen (animal) im Menschen und im Pferd gegenwärtig ist: dieses Ganze ist in jedem Teil wirklich gegenwärtig.48 Das totum vero integrale aber wird weder dem ganzen Wesen noch der ganzen Kraft nach von jedem der Teile ausgesagt, sondern – und selbst dann noch uneigentlich – von allen Teilen zusammen; wie wenn ich sage, dass die Mauern, das Dach und das Fundament das Haus sei. Das totum potestativum nun ist jedem Teile gemäß seinem ganzen Wesen aber nicht seiner ganzen Kraft und Bedeutung gegenwärtig. Und deshalb kann dieses Ganze auch von den einzelnen Teilen ausgesagt werden, freilich nicht so allseitig nach Wesen und Kraft, wie das Ganze, welches dem Allgemeinen entspricht.“49 Das totum potestativum bildet also eine Gesamtheit bei der weder eine perfekte noch eine formale Abstraktion vollzogen wird. Es wird somit auf zwei oder mehr Subjekte angewandt, indem es durch innere Eigenschaften bestimmt wird, welche 47

Zum Verständnis des Gesagten mögen weitere Beispiele für Fälle von innerer Proportionalitätsanalogie helfen: Gesellschaft, Gemeinschaft, Gewalt, Kollegialität (anzuwenden sowohl im kirchlichen wie im weltlichen Bereich); das Gesetz (anzuwenden auf das menschliche Gesetz, auf das Naturgesetz und auf das positive göttliche Gesetz); das Priestertum (angewandt auf das allgemeine und das ministerielle Priestertum); die Wissenschaft (angewandt auf die Sozial- und Naturwissenschaften, Mathematik, Philosophie und Theologie); zum letztgenannten vgl. Evandro Agazzi, Analogicità del concetto di scienza, in: ders., Epistemologia e scienze umane, Milano 1979, S. 57 – 76. 48 Die Gattung Sinnenwesen kann so definiert werden, dass sie sowohl dem Pferd wie auch dem Menschen univok zugesprochen werden kann. Sie unterscheiden sich durch eine Spezifikation, die den Begriff Sinnenwesen nicht beeinflusst. Die univoke Zusprechung beinhaltet also eine vollkommene, totale und formale Abstraktion eines allgemeinen Begriffes, der auf identische Weise auf zwei oder mehrere Objekte angewendet wird. Solch ein Universalbegriff ist die Gattung, welche die spezifischen Unterschiede der beiden Subjekte nicht mit einschließt. 49 Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I, q. 77, a. 1. Im Originaltext: „Verificatur secundum modum quo totum potestativum praedicatur de suis partibus, quod medium est inter totum universale et totum integrale. Totum enim universale adest cuilibet parti secundum totam suam essentiam et virtutem, ut animal homini et equo, et ideo proprie de singulis partibus praedicatur. Totum vero integrale non est in qualibet parte, neque secundum totam essentiam, neque secundum totam virtutem. Et ideo nullo modo de singulis partibus praedicatur; sed aliquo modo, licet improprie, praedicatur de omnibus simul, ut si dicamus quod paries, tectum et fundamentum sunt domus. Totum vero potentiale adest singulis partibus secundum totam suam essentiam, sed non secundum totam virtutem. Et ideo quodammodo potest praedicari de qualibet parte; sed non ita proprie sicut totum universale.“

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das eigentliche Wesen jedes Analogaten ausmacht. Das analoge Ganze (totum potestativum) wird auf verschiedene Analogate angewendet nicht durch das Hinzufügen von äußeren Unterschieden, sondern einfach durch die Entfaltung und die Entwicklung der inneren und wesentlich unterschiedlichen Modalitäten, die in impliziter und konfuser Weise schon im totum potestativum gegenwärtig sind.50 Die Analogate haben demzufolge eine gemeinsame Wesensbestimmung (ratio), wie das Leben in der Pflanze, im Tier, im Menschen, aber je proportional verschieden. Aus diesem Grund – anders als bei der Attributionsanalogie – bedarf es bei der Proportionalitätsanalogie nicht unbedingt eines analogatum princeps.51 Bei der Proportionalitätsanalogie findet sich eine Bedeutung oder Definition (ratio) die keine begriffliche Übergeordnetheit gegenüber den Analogaten besitzt, in denen sie sich konkretisiert.52

VII. Müsste man daraus schließen, das Kirchenrecht sei kein wahres Recht? Der Hauptgrund der Bejahung der Univozität des Rechtsbegriffs mag in der Befürchtung liegen, dass sonst das Kirchenrecht kein wahres Recht wäre oder seine Rechtlichkeit verlieren würde. Das würde stimmen, wenn man eine Attributionsanalogie behaupten möchte, bei der natürlich das analogatum princeps (Recht im Vollsinn) das weltliche Recht wäre53. Es scheint jedoch, dass es sich hier nicht um eine Attributionsanalogie, sondern um eine innere Proportionalitätsanalogie handelt, bei der es kein analogatum prin50

Vgl. Jesús García López, La analogía en general, in: Anuario filosófico 7 (1974), S. 193 – 223, hier S. 222. 51 Analogatum supremum vel maior. Ludger Müller scheint damit nicht einverstanden zu sein. Gestützt auf Gonsalvus Scheltens behauptet er: „Analog wird stets in Bezug auf jenes gesprochen, von dem die betreffende Benennung in eigentlicher, univoker Weise ausgesagt wird, d. h. in Bezug auf das analogatum primum oder analogatum princeps“ (Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? [Anm. 9], S. 111); vgl. Gonsalvus Scheltens, Die thomistische Analogielehre und die Univozitätslehre des J. Duns Scotus, in: Franziskanische Studien 47 (1965), S. 315 – 338, hier S. 320. 52 Santiago Ramírez, Verfasser der vertieftesten Untersuchung der Analogie bei Thomas v. Aquin, hat bemerkt: „In huiusmodi analogia formaliter loquendo non datur aliquod supremum analogatum unum numero, sicut in analogia attributionis, sed loco eius stat forma communis analoga una ratione, quae ideo non habet nisi superioritatem rationis analogicae supra omnia analogata sub ipsa contenta.“ (Santiago Ramírez, De Analogia, 4. Bd., Madrid 1972, S. 1692 f.). 53 So kritisiert z. B. Carlos José Errázuriz an den Befürwortern der Analogie, dass danach der Rechtsbegriff „nur noch in analoger Weise auf das Kirchenrecht angewendet werden könnte“: Il diritto e la giustizia nella Chiesa. Per una teoria fondamentale del diritto canonico, Milano 2000, S. 133. Das beinhaltet die Vorstellung, dass der Rechtsbegriff nur auf das weltliche Recht im Vollsinn und auf das Kirchenrecht nur im analogen Sinn angewendet werden könnte.

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ceps gibt. Kirchliches und weltliches Recht sind zwei unterschiedliche Ausformungen des allgemeinen Rechtsbegriffs, und in dieser Sichtweise kann man von beiden sagen, dass sie wahre Rechtsformen sind. Etwas Ähnliches geschieht mit dem Wort Wissenschaft. Es wird in unterschiedlicher (analoger) Weise auf verschiedene Bereiche wie Geistes- und Naturwissenschaft, Mathematik, Philosophie und Theologie angewandt. Das bedeutet nicht, dass einige dieser Fächer nicht wirklich Wissenschaft wären, sondern dass sie es in teils unterschiedlicher Art sind. Ein weiterer Grund für die Bejahung der Univozität könnte der Wunsch sein, die Integrität des Kirchenrechts vor gewissen Tendenzen zu bewahren. Gemeint sind die Bemühungen, das Kirchenrecht als Recht der Liebe, der Barmherzigkeit und der Gnade zu konzipieren. Damit würde man tatsächlich die rechtliche Natur des Kirchenrechts aufs Spiel setzen. Folge davon wäre die Versetzung juridischer Fachbegriffe mit vagen, missverständlichen Ausdrücken. Eine weitere Folge wäre das Missverständnis, der theologische Charakter des Kirchenrechts würde verlangen, die Gesetzestexte mit ausführlichen Ermahnungen zu begleiten. Angesichts solcher Risiken nicht nur für das Kirchenrecht, sondern auch für die Kirche, ist der Einsatz zu würdigen, mit dem einige Kanonisten den juristischen Charakter des Kirchenrechts unterstreichen. Die Anerkennung der Analogie, wie sie in dieser Arbeitshypothese dargestellt wurde, bedeutet jedoch keineswegs eine Minderung der rechtlichen Eigenart oder der bindenden Kraft des kirchlichen Rechts. Nur eine Kanonistik, die es versteht, ihre zwei Dimensionen, die theologische und die juristische, miteinander zu vereinen, wird fähig sein, dem Kirchenrecht sowohl in seiner kirchlichen Natur als auch in seinem juristischen Charakter gerecht zu werden.54

54 Vgl. Arturo Cattaneo, Die Kanonistik im Spannungsfeld von Theologie und Rechtswissenschaft, in: AfkKR 162 (1993), S. 52 – 64, hier S. 64.

Neuevangelisierung Weg und Herzmitte der Kirche in unserer Zeit Von Georg Gänswein Soll ein Bischof ein Doktorat in Theologie oder in Kirchenrecht gemacht haben?1 Eine wunderliche Frage! Sie stammt nicht von einem modernen Katholiken, der sich eine heute nicht selten anzutreffende Aversion gegen alles Rechtliche in der Kirche angeeignet hat. Diese Frage hat der große Kommentator des hl. Thomas v. Aquin im 16. Jahrhundert und ein wichtiger Kontrahent Martin Luthers in den Auseinandersetzungen in der Reformationszeit gestellt, nämlich Kardinal Cajetan. Und er hat darauf eine überraschende, aber hellsichtige Antwort gegeben. Zunächst referierte er eine damals weit verbreitete Position: „Zu dieser Frage sagen einige Folgendes: Wenn auch den Bischöfen in alter Zeit theologisches Wissen eher anstand als rechtliches Wissen, weil man damals gegen die Ketzer mit dem Schwert der Theologie vorgehen musste, so empfiehlt es sich heute eher, dass die Bischöfe rechtskundig sind, weil mehr Fragen auftauchen, die das Recht betreffen, als solche, die den Glauben betreffen.“ Kardinal Cajetans Urteil über diese Auffassung ist unmissverständlich: „Die Vertreter dieser Meinung irren sich gründlich. Schon deswegen, weil das Amt der Bischöfe, das ihnen bei der Weihe auferlegt wird, die Predigt ist. Gegenstand der Predigt ist aber nicht das Recht, sondern die frohe Botschaft, da der Herr sagt: ,Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen‘ (Mk 16,15); darunter wird die Heilige Schrift verstanden, die wahrhaftig und eigentlich theologisches Wissen ist.“2 Kardinal Cajetan vertrat entschieden die Überzeugung, dass die Bischöfe zu allen Zeiten verpflichtet sind, Theologen zu sein, weil sie in erster Linie Prediger sind und im Dienst am Wort Gottes stehen: Die Verkündigung des Wortes Gottes muss im Leben und Wirken der Bischöfe und Priester immer und überall den Vorrang haben. Das ist nicht nur die Auffassung von Kardinal Cajetan im 16. Jahrhundert, es ist auch die Überzeugung von Papst Benedikt XVI. – fast 500 Jahre später: „Die ganze Welt mit der Schönheit des Evangeliums bekannt zu machen, indem 1

Der Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung meines Vortrags vom 10. 09. 2016 in Altötting anlässlich der 10-jährigen Wiederkehr der Reise von Papst Benedikt XVI. nach Bayern vom 09.–14. 09. 2015. 2 Kurt Kardinal Koch, Entweltlichung und andere Versuche, das Christliche zu retten, Augsburg 2012, S. 139 – 180, hier S. 139. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die dort vorgetragenen Überlegungen.

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sie Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen verkündet, das ist und bleibt die hohe Pflicht und der hohe Auftrag der Kirche zu allen Zeiten.“3

I. Neuevangelisierung als Antwort auf die gegenwärtigen pastoralen Herausforderungen An diesem großen Auftrag – der Neuevangelisierung – mitzuwirken sind alle Getauften berufen, denen das unschätzbare Geschenk des Glaubens zuteil geworden ist und die deshalb in sich den sehnlichen Wunsch spüren, dieses kostbare Geschenk weiterzugeben und mit anderen Menschen zu teilen. Die Evangelisierung ist in besonderer Weise dem geweihten Amt in der Kirche aufgetragen, das in der Nachfolge der Apostel steht, die die Botschaft Jesu Christi in die Welt getragen haben. Ihre Sendung muss auch heute weitergehen. Es wäre kein Zeichen eines dankbaren Glaubens, würde man annehmen, der Auftrag zur Evangelisierung habe sich nur bis zu den Aposteln erstreckt und mit ihnen habe sich die Quelle der Gnade Gottes erschöpft. Demgegenüber hat der hl. Augustinus entschieden betont, dass sich die Quelle der Gnade Gottes nur offenbare, wenn sie fließe, nicht hingegen, wenn sie aufhöre zu strömen: „Auf diese Weise erreichte die Gnade durch die Apostel auch andere, die ausgesandt wurden, das Evangelium zu verkünden […] ja, sie hat bis in diese letzten Tage den gesamten Leib seines eingeborenen Sohnes genährt, also seine über die ganze Erde verbreitete Kirche.“4 Daraus folgt, dass die Verkündigung des Wortes Gottes im Leben und Wirken der Bischöfe und Priester die elementare Voraussetzung ist für das Voranbringen der Neuevangelisierung. Sie legt sich aber auch und gerade in der pastoralen Situation der Kirche heute aus mehreren Gründen besonders nahe. 1. Auftrag zur Verkündigung des Wortes Gottes Der Auftrag der Verkündigung des Wortes Gottes muss in einer Welt wahrgenommen werden, in der wir von Wörtern geradezu überschwemmt werden und die Wörter der Inflation anheimgegeben sind, so dass wir immer wieder zu sagen pflegen: Dies sind nichts als Worte. Die Zahl der Worte hat in der heutigen Welt unermesslich zugenommen; aber ihr Wert ist ebenso unermesslich abgesunken. Bei dieser Wortinflation besteht die große Gefahr, dass auch jene Wörter, die im Mittelpunkt der christlichen Verkündigung stehen, als bloße Wörter vernommen werden, die nichts mehr kosten. Damit verbunden ist die Versuchung, sich statt am Wort Gottes zu orientieren, auf menschliche Wörter zu setzen und damit jener Krankheit zu verfallen, die ein 3 Benedikt XVI., MP „Ubicumque et semper“ (21. 10. 2010), in: AAS 102 (2010), S. 788 – 792, hier S. 788. 4 Augustinus, Sermo 239,1 (zitiert nach Koch, Entweltlichung [Anm. 2], S. 140).

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Theologe einmal als „Wortdurchfall“5 bezeichnet hat. Von daher will es manchmal nur noch schwer gelingen, in den vielen Wörtern des täglichen Lebens das eine Wort herauszuhören, das das Wort Gottes ist. Die Kirche erscheint dann nur noch als Gemeinschaft menschlicher Wörter und nicht mehr als Kirche des Wortes Gottes. In dieser Situation sind die Verkünder des Wortes Gottes berufen und verpflichtet, mit ihrem ganzen Wirken und zuvor mit ihrer eigenen Existenz zu dokumentieren, dass es im Leben der Menschen nicht einfach um Wörter geht, sondern um das „Wort des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Auf diese gewichtige Bedeutung weist bereits der ursprüngliche Sinn des Wortes Evangelium hin. Damals, als mit Jesus Christus das Evangelium in die Welt gekommen ist, hatte es keineswegs den etwas niedlichen und harmlosen Klang, den wir heute aus ihm herauszuhören pflegen, wenn wir beispielsweise von der Guten Nachricht sprechen. Das Wort Evangelium war in der Zeit Jesu vielmehr ein elementar politisches Wort und gehörte zur politischen Theologie von damals. Als Evangelium wurden nämlich alle Erlasse des Kaisers bezeichnet, und zwar selbst im schlechtesten Fall, in dem sie für die Betroffenen keine gute Nachricht enthielten. Evangelium hieß – einfach übersetzt – Kaiserbotschaft. Frohe Botschaft war sie nicht in erster Linie wegen des Inhalts, sondern weil sie vom Kaiser und damit von jenem Menschen stammt, der angeblich die Welt in Händen hält. In diesem gewichtigen Sinn ist auch Jesu Botschaft Evangelium. Freilich nicht, weil uns diese Botschaft auf Anhieb gefällt oder weil sie bequem oder vergnüglich wäre, sondern weil sie von dem kommt, der sich nicht mehr wie der Kaiser anmaßt, Gott zu sein und daher seine Botschaften als Evangelien zu deklarieren, der vielmehr der Sohn Gottes selbst ist und in seinem Evangelium den Schlüssel zur Wahrheit und damit zur wahren Freude hat. Auch wenn uns Christen die Wahrheit des Evangeliums nicht allzeit als bequem erscheint – und in der Tat auch nicht ist –, ist es doch nur seine Wahrheit, die frei und froh macht, weil in diesem Wort der Königsbotschaft das Wort des ewigen Lebens ertönt. 2. Katechumenale Situation in der Kirche Eine der großen Herausforderungen, die sich in der heutigen pastoralen Situation stellt, besteht darin, dass die Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation zur Überlebensfrage des Christentums geworden ist. Wir müssen immer mehr die Erfahrung machen, dass selbst die geschichtlich gewachsenen traditionellen Wege der Glaubensweitergabe und der Hinführung zum Glauben und kirchlichen Leben und die damit verbundenen Lernorte des Glaubens – Familie und Pfarrei, Religionsunterricht und Schule – zunehmend schwächer werden und ganz ausfallen. Nicht nur findet in vielen Familien die Primärsozialisation im kirchlichen Leben nicht mehr statt, sondern auch in der Schule wird die Weitergabe des Glaubens zunehmend prekärer; 5

Vgl. Koch, Entweltlichung (Anm. 2), S. 141.

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und selbst der Religionsunterricht, der immer nur subsidiär zu wirken vermag, kann nur mehr auf bereits vorhandenen Glaubensgrundlagen aufbauen. Trotz dieser gravierenden Veränderungen steht heute noch immer im dominierenden Mittelpunkt der pastoralen Arbeit die Sakramentalisierung des menschlichen Lebens und gerade nicht die Evangelisierung, die in einer missionarischen Situation die entscheidende Leitperspektive der kirchlichen Pastoral sein müsste. Dieser Situation kann die Kirche nur entsprechen, wenn die herkömmliche Pastoral ihre ursprüngliche, nämlich evangelisierende Dimension zurückgewinnt. Es wird zu Recht betont, dass die traditionelle Kategorie des praktizierenden Katholiken in der heutigen kirchlichen Situation kaum mehr aussagekräftig ist, jedenfalls nur noch auf eine kleine Minderheit zutrifft, dass die Mehrheit vielmehr als Pilger und Konvertiten zu betrachten sind. Dies sind Menschen, die nicht einfach Christen sind, sondern auf dem Weg, Christen zu werden. Pilger und Konvertiten sind noch nicht überzeugte Christen, es sind Menschen, die sich auf der Suche nach ihren Lebensüberzeugungen befinden und Christen nur werden in der Begegnung mit überzeugten christlichen Persönlichkeiten und christlichen Gemeinschaften. In dieser weithin diffus gewordenen Situation muss die Kirche von der „pastoralen Prävalenz des Wortes vor dem Sakrament“ ausgehen.6 Damit ist ein pastoraler Paradigmenwechsel angesagt, und zwar dahingehend, dass nicht mehr, wie in den vergangenen Jahrhunderten einer volkskirchlichen Situation, eine flächendeckende Sakramentenversorgung die dominierende Leitlinie der Pastoral sein kann, dass an deren Stelle und zugleich als Voraussetzung für die Sakramentenpastoral vielmehr die „pastorale Priorität der Evangelisierung“ und damit der Weitergabe des Glaubens treten muss. 3. Verkündigung als Teil des sakramentalen Geschehens Der Priestermangel, der in unseren Breitengraden inzwischen alarmierende Ausmaße angenommen hat, führt immer mehr dazu, dass der Priester die besondere Priorität seiner Sendung nicht im Dienst am Evangelium erblickt, sondern sein Wirken stets mehr auf die Feier der Sakramente, vor allem der Eucharistie, konzentriert, während demgegenüber der Dienst am Wort Gottes vornehmlich an andere Dienste in der Kirche delegiert wird, und zwar bis hin zur Predigttätigkeit in der Eucharistiefeier. Diese Praxis bietet dann kein Problem, wenn man die Predigt in der Eucharistiefeier unter rein funktionalen Gesichtspunkten betrachtet. Sie wird aber dann zum Problem, wenn man der Weisung der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, „Sacrosanctum Concilium“, folgt, die die Homilie in der Eucharistiefeier als „Teil der liturgischen Handlung“ (SC 35) qualifiziert hat. Wenn nämlich die Homilie nicht einfach eine Unterbrechung der Liturgie mit einem eigenen Redeteil ist, sondern ins sakramentale Geschehen selbst hineingehört, dann ist sie wesentlich an 6

Koch, Entweltlichung (Anm. 2), S. 144.

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den geweihten Amtsträger gebunden, der das Wort Gottes in die feiernde Gemeinde hinein trägt, auch in der Verkündigung des Wortes Christus repräsentiert und das verkündete Wort Gottes anschließend mit dem Opfer Christi verbindet, das im Eucharistischen Hochgebet dem dreifaltigen Gott dargebracht wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist in der heutigen pastoralen Situation die Rückbesinnung der Bischöfe und Priester auf ihre primäre Sendung der Verkündigung des Evangeliums besonders gefordert.

II. Das Wort Gottes im Lebensraum der Kirche Bei einem derart grundlegenden Thema erhebt sich natürlich unweigerlich die Frage, was unter Wort Gottes konkret zu verstehen ist. Ein auch nur summarischer Blick in die heutige theologische Landschaft zeigt, dass sich zwei verschiedene Antwortrichtungen einander gegenüberstehen. Die eine Seite pflegt das Wort Gottes sogleich mit der Heiligen Schrift zu identifizieren, woraus sich sehr schnell eine gewisse Vereinseitigung des Wortes und in der Folge das reformatorische Prinzip des sola scriptura ergeben. Die andere Seite geht demgegenüber von einem umfassenderen Verständnis aus und betont, dass das Wort Gottes in erster Linie nicht nur Schrift, sondern personale Wirklichkeit ist, dass nämlich Jesus Christus selbst das lebendige Wort Gottes ist. In diesem grundlegenden Sinn geht das Wort Gottes der Heiligen Schrift voraus und ist in erster Linie eine Person, nämlich der Fleisch gewordene Sohn Gottes. In ihm hat sich Gott selbst offenbart; und diese Offenbarung hat ihre authentische Bezeugung in der Heiligen Schrift gefunden. Dem Apostolischen Schreiben Benedikts XVI. über das Wort Gottes, „Verbum Domini“, liegt eindeutig die zweite Positionsbestimmung zugrunde. Wenn demgemäß Gottes Offenbarung in seinem Wort nicht einfach mit der Heiligen Schrift identisch ist, dann ist unter ihr jedenfalls mehr zu verstehen als das Geschriebene. Gottes Offenbarung liegt vielmehr der Heiligen Schrift voraus „und schlägt sich in ihr nieder, ist aber nicht einfach mit ihr identisch“.7 Denn Offenbarung bezeichnet das Handeln Gottes, der sich in der Geschichte zeigt. Sie ist ein lebendiges, personales und gemeinschaftliches Geschehen und kann erst zur Vollendung kommen, wenn sie bei ihrem Adressaten gläubige Annahme findet. Weil eine Offenbarung, die nicht angenommen wird, auch niemandem offenbar werden kann, gehört zum Begriff der Offenbarung immer auch das sie empfangende Subjekt, „ein Jemand, der ihrer inne wird“.8 Demgemäß hat die Offenbarung Gottes eine konkrete Zielrichtung: Sie zielt auf das empfangsbereite Hören des Wortes Gottes. Die Konsequenzen, die sich aus diesem Verständnis für die Neuevangelisierung ergeben, sind von großer Bedeutung. Denn die Hervorhebung der besonderen Würde 7 Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927 – 1977), München 1998, S. 84. 8 Ratzinger, Aus meinem Leben (Anm. 7), S. 84.

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des Wortes Gottes als Person stellt eine wichtige Leitmarke im interreligiösen Dialog dar. Im allgemeinen Trend von heute, in dem die verschiedenen Religionen als gleichermaßen gültige Beziehungen der Menschen zu Gott betrachtet werden, pflegt man auch unumwunden von den Heiligen Schriften zu reden. An dieser Sprachregelung ist gewiss viel Wahres. In Vergessenheit droht freilich zu geraten, dass das Christentum nicht – wie beispielsweise das Judentum und in anderer Weise der Islam – eine Buchreligion ist, sondern eine innere Freundschaftsbeziehung mit Jesus Christus als dem lebendigen Wort Gottes, ohne die letztlich auch das Papier der Heiligen Schrift wirkungslos bliebe. Das Spezifische lässt sich in der zentralen Aussage verdichten: „Das Christentum hat eine Heilige Schrift, ist aber keine Buchreligion. Im Mittelpunkt des Christentums steht der Gottmensch: Jesus Christus. Durch ihn wird das Menschliche mit dem Göttlichen verbunden und Gott mit dem Menschen.“9 Die analoge Verwendung des Begriffs Wort Gottes bringt eine bis heute bestehende Grunddifferenz zwischen der katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften zum Ausdruck: Die reformatorische Theologie definiert die Kirche allein vom pure et recte verkündeten Wort Gottes und der evangeliumsgemäßen Verwaltung der Sakramente her und fasst das Wort Gottes als eine der Kirche gegenüberstehende Größe und als Korrektiv des kirchlichen Amtes auf. Gegenüber dieser Auffassung des Wortes Gottes bezeichnet die katholische Kirche das Amt nicht nur als ein wichtiges Kriterium des Kircheseins, sondern betrachtet vor allem Gottes Wort und Kirche in wechselseitiger Bezogenheit: „Sie kennt nicht ein der Kirche gegenüber stehendes selbständiges Wort, sondern das Wort lebt in der Kirche, wie die Kirche vom Wort lebt – eine Relation gegenseitiger Abhängigkeit und Beziehung.“10 1. Die Heilige Schrift als Werk der kirchlichen Überlieferung Weil der einzelne Christ nicht aus seinem Eigenen, sondern nur mit der ganzen Kirche mitglaubend glaubt, und weil das Ich des Credo das Wir der Kirche ist, ist das Volk Gottes der eigentliche Adressat der Offenbarung Gottes und ihrer authentischen Artikulation in der Heiligen Schrift. Dies zeigt sich bereits an dem grundlegenden Sachverhalt, dass schon das Entstehen der Heiligen Schrift ein Ausdruck des Glaubens der Kirche und die Heilige Schrift ein Buch der Kirche ist, das aus der kirchlichen Überlieferung hervorgegangen ist und durch sie weitergegeben wird,

9 Thomas Söding, Gotteswort durch Menschenwort. Das Buch der Bücher und das Leben der Menschen, in: Karl-Heinz Kronawetter/Michael Langer (Hrsg.), Von Gott und der Welt. Ein theologisches Lesebuch, Regensburg 2008, S. 212 – 223, hier S. 219. 10 Joseph Ratzinger, Das geistliche Amt und die Einheit der Kirche, in: ders., Künder des Wortes und Diener Eurer Freude. Theologie und Spiritualität des Weihesakramentes (= JRGS 12), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 51 – 69, hier S. 52 (erstmals in: Cath[M] 17 [1963], S. 165 – 179).

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so dass das Werden der Schrift und das Werden der Kirche als ein einziges Geschehen zu betrachten ist. Ohne die Kirche könnte man gar nicht von Heiliger Schrift reden. Ohne die Kirche wäre sie nichts anderes als eine historische Sammlung von Schriften, deren Entstehung sich durch ein ganzes Jahrtausend hindurchgezogen hat. Aus dieser Literatursammlung ist die Bibel als ein Buch, und zwar als Heilige Schrift mit Altem und Neuem Testament, erst und nur durch das in der Geschichte wandernde Volk Gottes geworden: „Die Heilige Schrift ist nicht ein Paket von 73 Büchern, das nachträglich zusammengeschnürt worden ist, sondern sie ist gewachsen wie ein Baum. Am Ende wurden in diesen Baum noch einmal ganz neue Zweige eingepfropft: das Neue Testament. Aber auch diese Zweige nähren sich von dem Saft des einen Baums und werden von seinem Stamm getragen.“11 Wenn wir diesem Sachverhalt Rechnung tragen, können wir nicht einfach einzelne Bücher der Heiligen Schrift isoliert für sich betrachten; wir müssen die Heilige Schrift vielmehr gleichsam als Fortsetzungsroman der Erfolgsautorin, genannt Kirche, lesen. Die Heilige Schrift im Sinne der Zusammenfügung der verschiedenen Schriften ist das Werk der kirchlichen Überlieferung, zu der gerade bei diesem Prozess als konstitutives Element die herausragende Bedeutung des römischen Bischofsstuhles gehört hat. Insofern lässt sich auch historisch zeigen, dass die Anerkennung Roms als „Kriterium des rechten apostolischen Glaubens“ älter ist als der Kanon des Neuen Testaments, als ,die Schrift‘.“12 Ein katholischer Ökumeniker hat von daher das protestantische Schriftprinzip im Sinne des sola scriptura mit Recht als „das ökumenische Kernproblem“ diagnostiziert, weil es faktisch auf einer frühkirchlichen Entscheidung beruht und eine solche theoretisch doch gerade ausschließen will.13 Diese Paradoxie bringt es an den Tag, dass die Kirche als Schöpferin, Überlieferin und Auslegerin des biblischen Kanons nicht umschifft werden kann, wie es reformierte Theologie und teilweise auch katholische Exegeten zu tun pflegen. Die Heilige Schrift ist und bleibt nur ein lebendiges Buch mit dem Volk Gottes als jenem Subjekt, das es empfängt und sich aneignet. Und umgekehrt kann dieses Volk Gottes ohne die Heilige Schrift gar nicht existieren, weil es in ihr seine Lebensgrundlage, seine Berufung und seine Identität findet. Von daher versteht es sich auch von selbst, dass der Lebensraum, in dem das Volk Gottes dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift in besonderer Weise begegnet, der Gottesdienst der Kirche ist. Die Liturgie ist 11 Gerhard Lohfink, Bibel Ja – Kirche nein? Kriterien richtiger Bibelauslegung, Bad Tölz 2004, S. 117. 12 Joseph Ratzinger, Primat Petri und Einheit der Kirche, in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene (= JRGS 8/1), Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2010, S. 610 – 628, hier S. 625 (erstmals auf Deutsch in: ders., Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1991, S. 43 – 71, hier S. 65). 13 Heinz Schütte, Protestantismus heute. Ökumenische Orientierung, Paderborn 2004, S. 70.

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der bevorzugte Ort, an dem das Wort Gottes verkündet wird. „Jeder Gottesdienst ist von seinem Wesen her von der Heiligen Schrift durchdrungen.“14 So betont es ausdrücklich Benedikt XVI. in seinem Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“. Da der Gottesdienst der wichtigste Ort ist, an dem das Wort Gottes verkündet und der Glaube bekannt wird, gehört die Liturgie zu den Grundvollzügen der Kirche und stellt einen wichtigen Ort dar, den die kirchliche Tradition mit der Weisheit zum Ausdruck gebracht hat, dass das Gesetz des Betens auch das Gesetz des Glaubens ist: lex orandi – lex credendi. 2. Der Verkündigungsauftrag des geweihten Amtes Das Wort Gottes, das im Gottesdienst der Kirche verkündet wird, findet seine primäre Gestalt im Zeugen. Da es in der Kirche nicht nur die Gemeinschaft der von Gott gewirkten Geschichte seines Volkes gibt, sondern auch die persönliche Verantwortung, gehören Wort Gottes und persönlicher Zeuge zueinander, und zwar in dem Sinn, dass nicht nur der Zeuge vom Wort Gottes her und für das Wort Gottes lebt, sondern auch das Wort Gottes durch den persönlich verantwortlichen Zeugen lebt: „Das Bekenntnis gibt es nur als persönlich verantwortetes, und daher ist das Bekenntnis an die Person gebunden.“15 Aufgrund dieser martyrologischen Dimension des Glaubens hat sich in der frühen Kirche die Überzeugung von der apostolischen Sukzession im Bischofsamt herausgebildet, das im Dienst der treuen Überlieferung des Wortes Gottes und der apostolischen Tradition steht. Die Herausbildung, die theologische Begründung und die institutionelle Stärkung des Bischofsamtes sind als eines der wichtigsten Ergebnisse der nachapostolischen Entwicklung zu verstehen.16 Sie dokumentiert die erstaunliche Tatsache, dass es bereits kurze Zeit nach dem Tod der Apostel – im Westen wie im Osten – nur noch eine, nämlich bischöfliche Ordnung der kirchlichen Ämter gegeben hat, und vor allem, dass die Verkündigung des Wortes Gottes und seine authentische Auslegung an der Bischofsamt gebunden sind. Der Kanon der Heiligen Schrift, das Glaubensbekenntnis, der Gottesdienst und die apostolische Sukzession im Bischofsamt sind die vier Grundgegebenheiten der frühen Kirche. Sie verdeutlichen, dass man die Heilige Schrift nicht aus dem Gesamtgefüge des kirchlichen Glaubenslebens herauslösen kann, sondern dass sie in diesem Kontext zu interpretieren ist. Dafür Sorge zu tragen, ist die besondere und indisku14 Benedikt XVI., Nachsynodales Ap. Schr. „Verbum Domini“ (30. 09. 2010), in: AAS 102 (2010), S. 681 – 787 (dt: VApSt 187), Nr. 52. 15 Joseph Ratzinger, Der Primat des Papstes und die Einheit des Gottesvolkes, in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene (= JRGS 8/1), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 660 – 678, hier S. 666 (erstmals in: ders. [Hrsg.], Dienst an der Einheit. Zum Wesen und Auftrag des Petrusamtes [= SKAB 85], Düsseldorf 1978, 165 – 179). 16 Vgl. Ernst Dassmann, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Bonn 1994, S. 230.

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table Aufgabe des kirchlichen Lehramtes. Seine Verantwortung liegt darin, in der Kirche die Unversehrtheit, die Identität und Integrität der Heiligen Schrift zu garantieren und dafür zu sorgen, dass die Auslegung der Heiligen Schrift im Dienst des Glaubens der Kirche und seiner Verkündigung geschieht. Die Begegnung mit der Heiligen Schrift ist immer auch ein geistliches Geschehen und damit wirkliche Begegnung mit dem Wort des lebendigen Gottes. Hier leuchtet der tiefste Grund auf, weshalb bereits schon ein Theologe im fünften Jahrhundert die Verfasser der biblischen Schriften selbst als Theologen im strengen Sinn des Wortes bezeichnet hat. Denn sie sind Menschen gewesen, die nicht aus ihrem Eigenen heraus geredet, sondern sich Gott so geöffnet haben, dass er selbst durch ihr Wort zu den Menschen sprechen kann. In einem ähnlichen Sinn verdienen auch heute getaufte Menschen umso mehr die Ehrenbezeichnung Theologen, als im Menschenwort Gottes Wort durchklingen kann. Dies bedeutet, dass der Theologe zunächst ein hörender, ein glaubender und betender Mensch sein muss, der Gott reden lässt und ihm zuhört, um aus diesem Schweigen heraus glaubwürdig von Gott sprechen zu können. Dies ist allerdings nur möglich, wenn wir dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift nicht nur als einem Wort der Vergangenheit begegnen, mit dem man sich intellektuell beschäftigen kann, sondern als Wort der Gegenwart, das in unser Leben hineinspricht und unser Herz berührt. Nur wer als Theologe gegenüber dem Wort Gottes gehorsam ist und nicht einfach den Beifall der Leute sucht, kann Überbringer der Wahrheit Gottes sein und Diener der Neuevangelisierung. Die Theologie ist folglich erst in ihrem Element, wenn sie nicht nur intellektuelle Kenntnisse, sondern einen intelligenten Glauben selbst vermittelt, „so dass Glaube Intelligenz und Intelligenz Glaube“17 wird. Diese Brückenbau-Funktion zwischen Vernunft und Glaube muss die Theologie in der heutigen kirchlichen Situation gerade im Blick auf die Neuevangelisierung mit besonderem Ernst wahrnehmen, da vielen Getauften in der Zwischenzeit nicht nur die Glaubenssprache der Kirche, sondern auch die Welt der Bibel fremd geworden ist. Die Menschen werden in der Bibel letztlich nur das finden, was sie in ihr suchen: Wenn sie in ihr nichts suchen, werden sie in ihr auch nichts finden. Wenn sie in ihr nur nach historischen Gegebenheiten suchen, werden sie auch nur Historisches finden. Wenn sie in ihr Gott suchen, werden sie ihn finden, wie ein Dichter einmal mit Recht festgestellt hat: „Mit Fug nennt man die Bibel auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wieder finden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes.“18

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Benedikt XVI., Eröffnungsansprache beim Ad Limina-Besuch der Schweizer Bischöfe am 7. November 2006, in: Cattaneo, Arturo (Hrsg.), Gott ins Zentrum stellen. Worte von Papst Benedikt XVI. an die Kirche in der Schweiz, Freiburg (Schweiz) 2007, S. 19 – 26, hier S. 21. 18 Heinrich Heine, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Vorrede zur 2. Auflage, in: ders., Sämtliche Schriften, 5. Bd., München 1976, S. 511 (zitiert nach Koch, Entweltlichung [Anm. 2], S. 167).

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3. Neuevangelisierung im Dienste der Erneuerung der Kirche Angesichts dieser großen Herausforderung ist die Neuevangelisierung nicht Kür, sondern Pflicht. Dazu gehört nicht nur die Entfaltung einer tragfähigen Theologie des Wortes Gottes, sondern auch die Erkundung neuer Zugangswege zum Wort Gottes, damit es den Menschen als ein Wort der Gegenwart begegnet, in dem Christus selbst zum Menschen heute spricht. Denn er, Jesus Christus, ist das lebendige Wort Gottes. Die Frage nach dem richtigen Verständnis der Heiligen Schrift und die Christusfrage hängen aufs Engste zusammen, wie dies der hl. Hieronymus, der große Exeget der Kirchenväterzeit, mit der prägnanten Formel zum Ausdruck gebracht hat: „Wer die Schriften nicht kennt, kennt weder die Macht Gottes noch seine Weisheit. Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen.“19 Um Christus zu kennen, muss man sich mit der Heiligen Schrift abgeben und sich mit ihr vertraut machen. Und umgekehrt bleibt ohne persönliche Begegnung mit Christus auch das heilige Papier der Schrift profan und sprachlos. Es beginnt nur zu sprechen, wenn man in einer Freundschaftsbeziehung zu Christus in der Glaubensgemeinschaft der Kirche lebt. Zur Nachfolge Jesu anleiten kann nur derjenige, der selbst in dieser Nachfolge lebt. Sonst wären die Verkünder des Wortes Gottes, wie Augustinus einmal hellsichtig gemeint hat, mit Wegweisern zu vergleichen, die bekanntlich den Weg zeigen, ihn aber selbst nicht gehen. Damit leuchtet auch der existentielle Ernstfall des Verkündigers auf. Den Menschen, die ihm in seiner Verkündigung anvertraut sind, kann er das Wort Gottes nur zumuten, wenn er es sich selbst zumutet, und zwar auch und gerade dann, wenn es als schwer verdaubar erscheint. Dieses Empfinden hatten freilich bereits die Jünger Jesu, die angesichts seiner Verkündigung in eine tiefe Krise geraten sind. Nach der großen Rede Jesu in Kafarnaum über das Himmelsbrot hatten selbst die Jünger den Eindruck, dass seine Worte hart sind: „Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?“ (Joh 6,60). Jesus aber unternahm nicht den leisesten Versuch, die enttäuschten Jünger in kundenfreundlicherer Art und Weise mit dem Angebot einer bequemeren Auslegung des Wortes Gottes bei sich zu halten. Er stellt im Gegenteil seinen Jüngern nur eine, aber alles entscheidende Frage: „Wollt auch ihr weggehen?“ In diesem Moment spürt Petrus den hohen Anspruch Jesu, dass in seiner Nachfolge stehen nicht einfach eine billige Zugabe zum Alltag ist, die nichts kostet, dass der Herr vielmehr eine kostbare Nachfolge erwartet. Wir kennen die Antwort des Petrus: „Herr, zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes“ (Joh 6,68 – 69). Petrus war dessen inne geworden, das es zum Evangelium Jesu Christi schlechterdings keine Alternative gibt. Dieser Einsicht kann man in der Kirchengeschichte immer wieder begegnen. In krisenhaften Situationen hat sich die Kirche stets darauf zurückbesonnen, dass der 19 Hieronymus, Prolog zum Jesajakommentar, in: PL 24,17 (zitiert nach Koch, Entweltlichung [Anm. 2], S. 166).

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Verkündigung des Wortes Gottes im Leben der Kirche der Primat zukommen muss. Denken wir nur an die beiden Gründer der Bettelorden, den hl. Franziskus und den hl. Dominikus. Beide wollten in erster Linie nicht neue Orden gründen, sondern die Kirche von Grund auf, nämlich vom Evangelium her, erneuern. Sie wollten das Evangelium wörtlich leben, und zwar in Gemeinschaft mit der Kirche und dem Papst. Indem sie auf diese Weise das Volk Gottes von innen her erneuern konnten, haben sie der Kirche bleibend ins Stammbuch geschrieben, dass die echten Reformatoren der Kirche die von Gottes Wort erleuchteten und geführten Heiligen sind. Den Primat des Wortes Gottes in der Sendung des Bischofs und Priesters in den Mittelpunkt zu rücken, ist ein zentrales Anliegen von Benedikt XVI. gewesen. Bereits in einer seiner ersten Homilien, die er als junger Priester bei einer Primizfeier im Jahre 1954 gehalten hat, hob er die Predigt als erste und wichtigste Aufgabe hervor.20 Als er im Jahre 1977 zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde, hat er als Wappenspruch das dem dritten Johannesbrief entnommene Wort „Cooperatores veritatis“ (Mitarbeiter der Wahrheit) gewählt. In seiner Predigt bei seiner Amtseinführung als Papst im April 2005 hat er kein Regierungsprogramm im weltlichen Sinn vorgelegt, sondern eindringlich betont: „Das eigentliche Regierungsprogramm aber ist, nicht meinen Willen zu tun, nicht meine Ideen durchzusetzen, sondern gemeinsam mit der ganzen Kirche auf Wort und Wille des Herrn zu lauschen und mich von ihm führen zu lassen, damit er selbst die Kirche führe in dieser Stunde unserer Geschichte.“21 Mit der Errichtung des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung im Jahre 2010 hat Benedikt XVI. dieses Grundanliegen konkretisiert und deutliche Akzente gesetzt. Damit die Neuevangelisierung wirklich Fuß fassen und Feuer fangen kann, damit sie zur Herzmitte der Kirche wird, müssen die Bischöfe und Priester ihre primäre Aufgabe in der Verkündigung des Wortes Gottes erblicken und diesen Dienst mit ganzem Herzen wahrnehmen. Als glaubwürdige Stimme des Evangeliums können sie aber nur dann überzeugen, wenn sie sich selbst vom Wort Gottes treffen lassen und sich von ihm nähren. Sie müssen zunächst aufmerksame Hörer des Wortes sein, damit sie dann auch glaubwürdige Diener des Wortes sein können. Dies schulden sie allen Menschen, denen sie das Wort Gottes als „Wort des ewigen Lebens“ (Joh 6,68) verkünden. Das göttliche Wort erfahrbar zu machen, ist das innerste Anliegen der Neuevangelisierung.

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Joseph Ratzinger, Menschenfischer. Primizpredigt für Franz Niegel in Berchtesgaden am 4. Juli 1954, in: ders., Künder des Wortes und Diener Eurer Freude (= JRGS 12), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 664 – 669 (erstmals in: PrKat 98 [1959], S. 361 – 366). 21 Benedikt XVI., Omelia durante la solenne concelebrazione eucaristica per l’assunzione del ministero petrino il 24 aprile 2005, in: Benedikt XVI., Insegnamenti di Benedetto I, Città del Vaticano 2005, S. 20 – 26, hier S. 22.

Mitbürger der Heiligen (Eph 2,19) Das Fördern der Heiligkeit der Kirche als Verpflichtung: Ein Paradigma für die kanonistische Hermeneutik? Von Libero Gerosa Die Heiligkeit ist das älteste theologische Attribut der Kirche. Als solches ist es bereits in den ersten Formeln des Taufbekenntnisses belegt.1 Von Beginn weg wurde es aber nie als abstrakte Größe verstanden, denn die Heiligen waren schon immer Symbole einer konkreten Aktualisierung des Christentums.2 So haben die Heiligsprechungen – zwar im Laufe der Jahrhunderte auf unterschiedliche Weise, doch immer und intensiv – mit den kanonischen Gesetzen der Kirche interagiert.3 Im Codex, den der hl. Johannes Paul II. promulgierte, zeigt sich die Verbindung zwischen dem Verständnis von Heiligkeit und dem kanonischen Recht noch auffälliger. Denn es ist ausdrücklich in der größten Neuheit im Bereich des Verfassungsrechts der lateinischen katholischen Kirche eingebettet, nämlich im Katalog der Rechte und Pflichten aller Gläubigen.4 Ist diese Tatsache für die kanonistische Hermeneutik von Bedeutung?

1

Vgl. z. B. die Epistola Apostolorum (DS 1 – 5) und den Kommentar von Johann Auer, Die Heiligkeit der Kirche und ihre Bestimmung als „Gemeinschaft der Heiligen“, in: ders./Joseph Ratzinger, Die Kirche – Das Allgemeine Heilssakrament (= KKD 8), Regensburg 1983, S. 379 – 391, hier S. 379 – 381. 2 Josef Sudbrack, hier zitiert nach Klaus Nientiedt, Neue Heilige – immer zahlreicher und umstrittener. Zur Selig- und Heiligsprechungspraxis unter Johannes Paulus II, in: HK 45 (1991), S. 572 – 577, hier S. 577. 3 Vgl. Libero Gerosa, Santità e diritto canonico. Note sui fondamenti teologici delle procedure di canonizzazione e sul loro significato per il diritto processuale canonico, in: ders. (Hrsg.), Sacro e diritto, Milano 2014, S. 391 – 403. 4 Für eine präzise Einschätzung dieser Neuheit im Lichte des Zweiten Vatikanischen Konzils vgl. Eugenio Corecco, Der Katalog der Pflichten und Rechte des Gläubigen im CIC, in: Ordinatio fidei. Schriften zum Kanonischen Recht, hrsg. v. Libero Gerosa/Ludger Müller, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 190 – 219.

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I. Einleitung: Heiligung, communio und Hauptziele des kanonischen Rechts Die Aufzählung der Rechte und Pflichten aller Gläubigen beginnt in c. 210 CIC/ 1983 wie folgt: „Alle Gläubigen müssen je nach ihrer eigenen Stellung ihre Kräfte einsetzen, ein heiliges Leben zu führen sowie das Wachstum der Kirche und ihre ständige Heiligung zu fördern.“ Darüber, ob es angemessen ist oder nicht, eine derartige Norm in einen Codex aufzunehmen, kann lange diskutiert werden.5 Ein Zweifaches kann man jedoch nicht verneinen: Erstens spiegelt diese Norm getreu die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils betreffend die Tatsache, dass „in der Kirche alle zur Heiligkeit berufen sind“ (LG 32), wider. Zweitens stellt ihre systematische Eingliederung eine absolut notwendige Klärung gegenüber c. 593 CIC/1917 dar, wo eine derartige Pflicht nur für Geweihte festgelegt war. Außerdem zeigt die detaillierte Analyse des c. 210 CIC/1983, die unser lieber Kollege und Freund Ludger Müller äußerst präzis und gekonnt erstellt hat,6 einerseits, dass die in dieser Norm enthaltenen Pflichten zwar keine juristischen Pflichten sind.7 Doch handelt es sich um Werte, welche die Grundlage zahlreicher Codexnormen bilden. Als wollte Ludger Müller aus den Worten, welche der Apostel Paulus an die Christen von Ephesus richtete, um sie in ihrer Einheit und Gemeinschaft zu stärken – „ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen“ (Eph 2,19) – die endgültigen Folgerungen ziehen, stellt der Autor zurecht fest, dass die Norm aus c. 210 CIC/1983 letztlich folgende Bedeutung hat: „Lebe so, dass du deiner Berufung als gläubigem Christ in der communio sanctorum gerecht wirst!“ Eine direkte Folge der von c. 210 CIC/1983 festgelegten Pflicht, zu dem Wachstum der Kirche beizutragen, findet sich gleich im Anschluss in c. 211 CIC/ 1983. Er spricht, ebenfalls mit einer sehr allgemeinen Formulierung, allen Gläubigen die Pflicht und das Recht zu, das Evangelium zu verbreiten – eine Pflicht und ein Recht, die in den cc. 756 – 759 CIC/1983 konkretisiert werden. Dem Recht, gemäß c. 213 CIC/1983 die geistigen Güter zu empfangen, steht die Pflicht, sich selbst und die Kirche zu heiligen, gegenüber. Dasselbe gilt für das Recht zur Feier von Gottesdiensten gemäß c. 214 CIC/1983 sowie für das Recht zur Zulassung zu den Sakramenten, das die Grundlage für die in c. 843 § 1 CIC/1983 vorge5

Die postkonziliare Kanonistik kennt hierzu verschiedene Positionen. Für eine rasche Übersicht vgl. Remigiusz Soban´ski, Can. 210 als Rechtssatz, in: Winfried Aymans/KarlTheodor Geringer (Hrsg.), Iuri Canonico Promovendo. FS Schmitz (65), Regensburg 1994, S. 57 – 73. 6 Vgl. Kap. 10 von Ludger Müller, Fede e diritto. Questioni fondamentali del diritto canonico, Lugano 2006, S. 211 – 222. 7 Zu diesem Schluss gelangt Ludger Müller indem er für c. 210 CIC/1983 die Kriterien anwendet, mit denen man üblicherweise die moralischen von den juristischen Normen unterscheidet, nämlich: die Zwischenmenschlichkeit, die äußere Wahrnehmung, die reale Möglichkeit der Beachtung sowie die Richtbarkeit (Müller, Fede e diritto [Anm. 6], S. 218 – 220).

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sehene Regelung bildet. C. 1364 CIC/1983 formuliert eine Norm in Bezug auf die Verstöße gegen die Religion – d. h. die Apostasie, die Häresie und das Schisma. Auch diese Bestimmung kann als Konsequenz der in c. 210 CIC/1983 festgelegten Pflichten interpretiert werden.8 Kurzum: C. 210 CIC/1983 erfüllt einen doppelten Zweck. Einerseits bestimmt er die endgültige, theologische Grundlage vieler anderer Codexnormen. Zugleich ist er „ein hermeneutischer Kanon des gesamten kanonischen Rechts“9. Die bedeutet, dass die Förderung des Wachstums und der Heiligung der Kirche ein grundlegendes Element des télos ist, der alle ihre juristischen Strukturen prägt. Mit anderen Worten: Die konkrete Umsetzung des höchsten Ziels des kanonischen Rechts, nämlich die communio, bedingt eine besondere und durchgängige Achtung des salus animarum. C. 1752 CIC/1983 – der letzte Canon des CIC/1983 – nennt dieses Gut „suprema lex“ der Kirche. Diese Achtung ist besonders wichtig, wenn es gilt, die realen normativen Inhalte eines Gesetzes der Kirche zu erheben – ausgehend vom „Text“ und vom „Kontext“, wie auch von den „Parallelstellen“ oder von den „Umständen des Gesetzes“ (c. 17 CIC/1983); sie ist aber ebenso wichtig, wenn es darum geht, die eigentliche „Absicht des Gesetzgebers“ (c. 17 CIC/1983) zu bestimmen. Die zweifache Pflicht, „ein heiliges Leben zu führen sowie das Wachstum der Kirche und ihre ständige Heiligung zu fördern“ (c. 210 CIC/1983), gehört somit zu den grundlegenden Prinzipien einer korrekten Hermeneutik wie sie Papst Johannes Paul II. auf sehr bedeutsame Weise erneuert hat. Welche sind diese Prinzipien? Und welche sind die wichtigsten Neuerungen, die dieser große Gesetzgeber – heute als Heiliger verehrt – einführte?

II. Grundlagen und allgemeine Prinzipien der von Johannes Paul II. bewirkten Erneuerung im Bereich der kanonistischen Hermeneutik Der Beitrag des hl. Johannes Paul II. zur Erneuerung des kanonischen Rechts ist in zweifacher Hinsicht zu untersuchen: Es geht einerseits um die gesetzgeberische Tätigkeit, anderseits um seinen Beitrag an die methodologische und epistemologische Entwicklung der kanonischen Wissenschaft.10 8

Müller, Fede e diritto (Anm. 6), S. 221. Die Bezeichnung stammt von Giuseppe Dalla Torre (vgl. ders., Santità e diritto. Sondaggi nella storia del diritto canonico, Torino 1999, S. 2 [hier eigene Übersetzung]), der sie sogar unmittelbar auf LG 8 anzuwenden wagt – an jener Stelle, wo das Zweite Vatikanische Konzil feststellt, dass „die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten sind, sondern [sie] bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit.“ 10 Beide Dimensionen der Erneuerung gründen in der Mystik des hl. Johannes Paul II. Papst Franziskus sagt: „Es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine ,Mystik‘, die uns beseelt.“ (Franziskus, Enz. „Laudato si“ [24. 05. 9

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1. Die wichtigsten Neuerungen in der gesetzgeberischen Tätigkeit von Johannes Paul II. Es handelt sich um mindestens sechs Neuheiten: Zuerst gilt es hervorzuheben, dass Johannes Paul II. der erste Papst war, der zwei Codices des kanonischen Rechts promulgierte – einen für die lateinische katholische Kirche (CIC/1983) und einen für die 21 orientalischen Kirchen (CCEO). Denn – so die Überzeugung von Johannes Paul II. – um tatsächlich katholisch, universal zu sein, „muss die Kirche zwei Lungenflügel haben, nämlich den östlichen und den westlichen“11. Zweitens hat Papst Johannes Paul II. nicht einmal theoretisch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es innerhalb der sog. communio Ecclesiarum eines Tages zur Promulgation verschiedener kanonischer partikularrechtlicher Textsammlungen kommen könnte, eine für jeden einzelnen Kontinent. Wir finden die Bestätigung dafür in der prophetischen Intuition, mit der Papst Johannes Paul II. die Bischöfe der verschiedenen Kontinente zu spezifischen Synoden über die Evangelisierung versammelte, nicht nur in Bezug auf Europa sondern auch für die anderen vier Kontinente.12 Drittens ist zu unterstreichen, dass der erste Codex, den Papst Johannes Paul II. im Jahre 1983 promulgierte, einhellig als echter Meilenstein auf dem von ihm begonnenen Weg zu einer vollständigen Erneuerung des Rechts der katholischen Kirche anerkannt wird. Gerade deshalb darf er nicht als Abschluss sondern als „Startpunkt“13 verstanden werden. In der Tat ist die Liste der Dokumente oder Gesetzestexte, welche auf ihn folgten, sehr lang. Unter ihnen sticht besonders die Apostolische Konstitution über die Römische Kurie hervor, die 198814 veröffentlicht wurde. Diese Gesetzestexte bilden in ihrer Gesamtheit einen eigentlichen „Corpus Iuris Canonici“. Nach Aussage von Papst Johannes Paul II.15 muss diese Gesamtheit an Gesetzen als Werkzeug 2015], in: AAS 107 [2015], S. 847 – 945 [dt.: VApSt 202], Nr. 216); vgl. Libero Gerosa, Dove nasce l’uomo vero? Per un esercizio autentico della Misericordia, Siena/Lugano 2016, S. 24 – 40. 11 Anlässlich seiner Apostolischen Reisen und in seinen Schriften spricht Papst Johannes Paul II. oft von einem Europa, das mit zwei „Lungenflügeln“ atmet; vgl. Andrea Riccardi, Giovanni Paolo II. La biografia, Cinisello Balsamo 2011, S. 160. 12 Vgl. hierzu Eugenio Corecco, Prospettive per la „Lex Ecclesiae fundamentalis“ e la revisione del diritto canonico nel documento di Puebla, in: Il diritto ecclesiastico (gennaiomarzo 1980), S. 1 – 23; Libero Gerosa, Grundlagen und Paradigmen der Gesetzesauslegung in der Kirche. Zukunftsperspektiven für die katholische Kanonistik, Münster/Hamburg/London 1999, S. 49 – 64. 13 Julián Herranz, Il Codice di Diritto canonico e il successivo sviluppo normativo, in: La legge canonica nella vita della Chiesa. Indagine e prospettive nel segno del recente magistero pontificio. Atti del Convegno di studio tenutosi nel XXV anniversario della promulgazione del Codice di Diritto Canonico, Città del Vaticano 2008, S. 47 – 59, hier S. 50 u. 48. 14 Der offizielle Text der ApK „Pastor bonus“ findet sich in: AAS 80 (1988), S. 841 – 934. 15 Vgl. Johannes Paul II., ApK „Sacrae disciplinae leges“, in: AAS 75/2 (1983), S. VII – XIX, hier S. XI (dt. in: Codex Iuris Canonici, lat.-dt. Ausgabe, Kevelaer 20178, S. X – XXIII);

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betrachtet werden, das „mit der Natur der Kirche vollständig übereinstimmt“ und deshalb als „Werkzeug der Communio“ „im Dienste eines tieferen Gnadengeheimnisses“ sowie der Heiligkeit der gesamten Kirche zu erachten ist. Der vierte Punkt: Zwar hat die Erneuerungskraft eines Gesetzgebers wenig oder gar nichts gemeinsam mit der Inflation oder der Vermehrung der Gesetze, welche er promulgiert hat. Doch fast als wollte er jeden Zweifel ausräumen und die „Lebendigkeit und Dynamik“ bestätigen, „die dem Gesetzeskörper innewohnt“16, welchen er ständig erneuerte, vervollständigte und perfektionierte, unterlässt Papst Johannes Paul II. es nicht, expressis verbis Folgendes zu präzisieren: „In Wirklichkeit hat die authentische Auslegung des Wortes Gottes, die vom Lehramt der Kirche vorgenommen wird, rechtliche Bedeutung in dem Maß, in dem sie den Rechtsbereich betrifft, und sie benötigt keinen weiteren formellen Übergang, um rechtlich und moralisch bindend zu werden.“17 Mit anderen Worten haben nicht nur kanonische Gesetze eine juristische Bedeutung, welche als solche promulgiert werden, sondern auch Verlautbarungen des päpstlichen Magisteriums mit vorwiegend pastoralem oder magisterialem Charakter können eine nicht zu vernachlässigende juristische Bedeutung haben. Letztere trägt mit den eigentlichen kirchlichen Gesetzen, Dekreten und Instruktionen zur Gestaltung jener normativen Gesamtheit oder des „Corpus Iuris Canonici“ bei, welcher den „Kurs des Bootes Petri“ zu bestimmen vermag.18 Fünftens ist daran zu erinnern, dass die unbestreitbare und imponierende gesetzgeberische Tätigkeit von Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit einem ebenso großen und innovativen Bemühen um Erneuerung und Vervollständigung der kodifizierten kanonischen Gesetze steht. Dies erfolgte hauptsächlich aufgrund der Rezeption wichtiger theologischer Kategorien des Zweiten Vatikanischen Konzils: Die Kategorie des Volkes Gottes – sie umschreibt die verfassungsmäßige Struktur der Kirche, die Kategorie des Dienstes – sie klärt die Rolle der Hierarchie, die Kategorie der Gemeinschaft – sie legt einerseits die Teilnahme aller Gläubigen an der Sendung der Kirche fest, andererseits nimmt sie die juristische Einordnung des Gläubigen (Christifidelis) im Allgemeinen und insbesondere der Laien vor. Außerdem erscheinen

ders., Ansprache vor dem „Common Law Society of Great Britain and Ireland“ (22. 05. 1992), in: Com 24 (1992), S. 10; Art. 2 PastBon; vgl. auch die übereinstimmenden Einschätzungen von Julián Herranz, Il Codice di Diritto canonico e il successivo sviluppo normativo (Anm. 13), S. 53 – 55 und Péter Erdo˝ , Rigidità ed elasticità delle strutture normative nel dialogo ecumenico, in: La legge canonica nella vita della Chiesa (Anm. 13), S. 149 – 178, hier S. 167. 16 Vgl. Julián Herranz, Il Codice di Diritto canonico e il successivo sviluppo normativo (Anm. 13), S. 56. 17 Johannes Paul II., Discorso alla Rota Romana (29. 01. 2005), in: AAS 97 (2005), S. 166 (hier eigene Übersetzung). 18 Julián Herranz, Il Codice di Diritto canonico e il successivo sviluppo normativo (Anm. 13), S. 53.

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Wort und Sakrament gerade in den zentralen Büchern des neuen Codex als bedeutende Elemente der gesamten kirchlichen Struktur.19 Schließlich zeichnen sich die von Johannes Paul II. promulgierten Codices gegenüber jenem von 1917 durch zwei derart bedeutende Neuigkeiten aus, die zumindest teilweise und post factum ihre Realisierung rechtfertigen – trotz des Widerstandes jener, welche während den Reformarbeiten die Meinung vertraten, die katholische Kirche müsse eine Dekodifizierung ihrer Gesetze beschließen. Die erste Neuigkeit besteht in der Tatsache, dass die neue Kodifizierung der kanonischen Gesetze nicht mehr vom Bemühen um eine rationale Formulierung und Einordnung der Normen geleitet wird. Vielmehr steht der Wille im Vordergrund, die Normen gemäß ihren Zusammenhängen mit den Glaubensinhalten oder mit der kirchlichen Tradition zu entwickeln.20 Daher überwiegt letztlich das Prinzip der theologischen Gewissheit gegenüber jenem der juristischen Gewissheit. Die zweite Neuigkeit ergibt sich aus der geänderten Identität des Hauptsubjekts der gesamten juristisch-kirchlichen Struktur: nicht mehr der Kleriker, sondern der Christifidelis! Der Getaufte als solcher stellt die ursprüngliche Gestalt dar, die jener des Laien, des Klerikers und der Ordensperson zu Grunde liegt. Somit ist sie das eigentliche Subjekt, dem Rechte und Pflichten zukommen im Mysterium der Kirche als Communio. All diese Neuigkeiten sind von entscheidender Bedeutung auch hinsichtlich der Auslegung und der Anwendung des geltenden kanonischen Rechts. Und just auf der Ebene der Interpretation und der Applikation der kanonischen Gesetze ist die Genialität von Johannes Paul II. am deutlichsten zu erkennen. 2. Die von Johannes Paul II. festgelegten Koordinaten für eine neue kanonistische Hermeneutik Während der Reform des CIC stand das Bemühen im Vordergrund, die theologischen und grundlegenden Ansprüche der kanonischen Normen gründlich zu erforschen. Unmittelbar nach der Promulgation des CIC/1983 verschob sich das Interesse der Kirchenrechtler hin zu den Fragen der Interpretation und der Anwendung der Ge19 Für eine detaillierte Auswertung der Systematik des neuen Codex vgl. Heribert Schmitz, De ordinatione systematica novi Codicis Iuris Canonici recogniti, in: PerRCan 68 (1979), S. 171 – 200. Zu dem materiellen Aspekt und zu den Problemen, die eine neue Kodifizierung der kirchlichen Gesetze mit sich bringt, vgl. Eugenio Correco, Presupposti culturali ed ecclesiologici del nuovo Codex, in: Silvio Ferrari (Hrsg.), Il nuovo Codice di Diritto Canonico. Aspetti fondamentali della codificazione postconciliare, Bologna 1983, S. 37 – 68. 20 „Die Verbindung zu dem eben erwähnten Thema – die rechte Auslegung des Glaubens – ist natürlich nicht auf eine rein semantische Übereinstimmung beschränkt, da das Kirchenrecht in den Glaubenswahrheiten seine Grundlage und seinen Sinn hat und die ,lex agendi‘ stets die ,lex credendi‘ widerspiegelt.“ (Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres des Gerichtshofes der römischen Rota [21. 01. 2012], online verfügbar unter: https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2012/january/documents/hf_ben-xvi_ spe_20120121_rota-romana.html [Stand: 29. 10. 2016]).

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setze der Kirche.21 Mit der sofortigen Einsetzung des Päpstlichen Rates für die Interpretation von Gesetzestexten kam Johannes Paul II. den neuen Fragestellungen nicht nur chronologisch zuvor. Denn durch diese Handlung zeigte er, der große Kommunikator, zwei Dinge. Zuallererst bewies er so sein Bewusstsein dafür, dass es für die Kirche grundlegend ist, eine solide und berechtigte Interpretationstechnik zu haben. Denn jede Botschaft, auch eine juristische, „erlangt ihre wirkliche Substanz durch die Vermittlung an die Betroffenen“22. Zweitens zeigte Johannes Paul II. damit, dass er an seiner Seite ein Dikasterium wünschte, welches in der Lage war, „die Disziplin, welche der gesamten Kirche eigen ist, zu fördern“. Dies stand in Analogie zur Aufgabe der Glaubenskongregation, welche für die Pflicht und den Willen einstand, „die Einheit des Glaubens zu fördern und zu verteidigen“23. Diese deutliche ekklesiologische Grundlegung, welche Johannes Paul II. dem neuen Dikasterium gab, zeigt einerseits, dass sich seine Funktion nicht ausschließlich auf die rein technische Phase der eigentlichen Interpretation beschränkt. Das Dikasterium hat auch Aufgaben in der Grundlegung des komplexen kanonischen Systems.24 Die Hauptaufgabe dieses neuen Dikasteriums besteht in der authentischen Interpretation durch das Recht (per modum legis).25 Dabei handelt es sich um eine spezifische Form der Interpretation von Gesetzestexten, für welche in den zivilen Rechtsordnungen26 keine angemessene Entsprechung besteht. Mit der Errichtung des neuen Dikasteriums beweist Johannes Paul II. auch sein überaus klares Bewusstsein über die Eigenheiten des Kirchenrechts. Ebenso weiß er um die Notwendigkeit, durch die Interpretation des kanonischen Rechts eine echte Verbesserung sowohl der gesetzgeberischen Technik als auch der Verwirklichung der Gemeinschaft – auch auf der Ebene der Leitung der Kirche – herbeizuführen. Damit belebt Johannes Paul II. die kanonische Tradition der

21 Vgl. Julián Herranz Casado, L’interpretazione autentica: il Pontificio Consiglio per l’interpretazione dei testi legislativi, in: AA.VV., Il diritto della Chiesa. Interpretazione e prassi, Città del Vaticano 1996, S. 65 – 93, hier S. 65. 22 Vittorio Frosini, Lezioni di teoria dell’interpretazione giuridica, Roma 1989, S. 108 (hier eigene Übersetzung). 23 Diesen erhellenden Parallelismus macht der damalige Präsident des Päpstlichen Rates für die Interpretation von Gesetzestexten gestützt auf LG 23; vgl. Julián Herranz Casado, L’interpretazione autentica (Anm. 13), S. 66. 24 Seit dem AnPont 2000 verweist die Bezeichnung der neuen Einrichtung, Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, nicht mehr auf die Auslegung. Im Wesentlichen bleiben ihre Funktion und ihre Kompetenzen aber unverändert; vgl. dazu Giacomo Incitti, L’interpretazione e il Pontificio Consiglio per (l’interpretazione dei) i testi legislativi, in: Associazione Canonistica Italiana, Fondazione del diritto. Tipologia e interpretazione della nuova canonistica, Milano 2001, S. 153 – 178, hier S. 155. 25 Zu den verschiedenen Kategorien der Interpretation vgl. Ludger Müller, Authentische Interpretation – Auslegung kirchlicher Gesetze oder Rechtsfortbildung?, in: AfkKR 164 (1995), S. 353 – 375. 26 Dazu vgl. Julián Herranz Casado, L’interpretazione autentica (Anm. 13), S. 68 sowie Rosalio José Castillo Lara, De iuris canonici authentica interpretatione in actuositate Pontificiae Commissionis adimplendae, in: Com 20 (1988), S. 267.

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Gesetzesinterpretation neu und liefert neue Grundlagen für die kanonistische Hermeneutik insgesamt. Der Parallelismus zwischen der Aufgabe des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte und jener der Kongregation für die Glaubenslehre hat tiefe Wurzeln. Sie sind im steten Interagieren von theologischer Dogmatik und kanonischem Recht zu suchen.27 Denn bereits im fernen Jahre 1980 hob Eugenio Corecco28 in Freiburg (Schweiz) hervor, dass den vier wichtigsten Entwicklungsetappen der dogmatischen Theologie ebenso viele Entwicklungsetappen für die Entwicklung des kanonischen Rechts gegenüber stehen. Die methodologische Richtungsweisung des Zweiten Vatikanischen Konzils erlaubt es also, einen interessanten Parallelismus zwischen der von der nachkonziliären Kanonistik erfahrenen epistemologischen Erneuerung und dem vorwiegend sapientiellen Charakter des kanonischen Rechts des ersten Jahrtausends festzustellen. Darunter leiden weder die neuen ekklesiologischen Grundlagen, welche die Lehre des Konzils über die Kirche als communio hervorgehoben hat, noch das bei der Wissenschaft des kirchlichen Rechts wieder erwachte Interesse für die Schlüsselbedeutung der Anthropologie. Auf diese Entwicklungen hat die leitende, gesetzgeberische und interpretative Tätigkeit von Johannes Paul II. während seines langen und fruchtbaren Pontifikats sicherlich Einfluss geübt. Dass die katholische Kirche als communio Ecclesiarum nunmehr über zwei Codices des kanonischen Rechts verfügt, ist ein absolutes Novum. Es zeigt auf, dass der Rechtspluralismus eine unleugbare, von der höchsten kirchlichen Autorität anerkannte Tatsache ist. Dieser epochalen Anstrengung für die Kodifizierung des eigenen Rechts durch die katholische Kirche liegen Prinzipien zu Grunde, welche in der Apostolischen Konstitution zur Promulgation des ersten der beiden Codices mit höchster Klarheit festgehalten wurden. Natürlich sind diese Prinzipien für eine korrekte Auslegung der geltenden kanonischen Gesetze unumgänglich. Doch worin besteht diese Anstrengung in erster Linie? Wiederum findet sich bei Johannes Paul II. eine Präzisierung: Vor allem könnte diese zweifache Kodifizierungsarbeit „gewissermaßen als ein großes Bemühen aufgefaßt werden, die Ekklesiologie des Konzils in die Sprache des Kirchenrechts zu übersetzen.“29 Um auf die Frage nach der eigentlichen Natur der beiden Codices des kanonischen Rechts zu antworten, muss man weiter „im Geist jenes ferne Rechtserbe wieder hervorholen, das in den Büchern des Alten und des Neuen Testaments enthalten ist und in dem 27 Francisco Suárez, De legibus, Lib. VI: De interpretatione, mutatione et cessatione legis, in: ders., Opera Omnia, Paris 1856, vol. V-VI, auf ihn verweist Julián Herranz Casado, L’interpretazione autentica (Anm. 13), S. 67. 28 Dazu vgl. Eugenio Corecco, Considerazioni sul problema dei diritti fondamentali del cristiano nella Chiesa e nella Società. Aspetti metodologici della questione, in: ders., Ius et communio. Scritti di Diritto canonico, hrsg. v. Graziano Borgonovo/Arturo Cattaneo mit einem Vorwort von Angelo Scola, 1. Bd., Casale Monferrato 1997, S. 245 – 278, hier bes. S. 246 – 253. 29 Johannes Paul II., Sacrae disciplinae leges (Anm. 15), S. XVIII.

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die gesamte juridisch-gesetzgeberische Überlieferung der Kirche gleichsam als erster Quelle ihren Ursprung hat“. Im Lichte dieser Betrachtung scheint es ziemlich offensichtlich, dass der Sinn der doppelten kanonischen Kodifizierung keinesfalls darin besteht, „im Leben der Kirche den Glauben, die Gnade, die Charismen und vor allem die Liebe zu ersetzen. Im Gegenteil, Ziel des Kodex ist es vielmehr, der kirchlichen Gesellschaft eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma den Vorrang einräumt und zugleich ihren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert. Als das vorrangige gesetzgeberische Dokument der Kirche, das sich auf das juridische und gesetzgeberische Erbe der Offenbarung und der Überlieferung stützt, ist der Kodex als unerläßliches Instrument anzusehen, mit dessen Hilfe die erforderliche Ordnung im persönlichen wie gesellschaftlichen Leben wie in der Leitung der Kirche selbst sichergestellt wird.“30 Offenbarung, Überlieferung und Codex sind somit die unerlässlichen Grundlagen, welche in der Definition der komplexen und spezifischen Struktur der Kirche zusammenwirken. Papst Johannes Paul II. hat anlässlich der offiziellen Vorstellung des CIC/1983 am 03. Februar 1983 erläutert, woher „jenes Wesensmerkmal herrührt, aufgrund dessen der Kodex als Vervollständigung der vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgestellten Lehre angesehen wird“31. Aufgrund der engen Verknüpfung des Glaubenslebens mit dem kirchlichen Rechtsgefüge vergleicht er nämlich das methodologische und hermeneutische Prinzip, das für die Anwendung und Interpretation des kanonischen Rechts vorbehaltlos einzuhalten sei, mit einem Dreieck: „Neben dem Buch, das die Konzilsakten enthält, gibt es nun das neue kirchliche Gesetzbuch, und das erscheint mir eine recht wirksame und bedeutsame Koppelung. […] [Ich] möchte vor Ihnen als Hinweis und Erinnerung so etwas wie ein ideales Dreieck zeichnen: oben die Heilige Schrift, auf der einen Seite die Dokumente des Zweiten Vatikanums, auf der anderen Seite der neue Kodex des kanonischen Rechts. Und um geordnet, kohärent von diesen beiden Büchern der Kirche des 20. Jahrhunderts zu jenem höchsten und unveränderlichen Gipfel aufzusteigen, wird man die Seiten dieses Dreiecks entlanggehen müssen, ohne Vernachlässigungen und Auslassungen und unter Berücksichtigung der notwendigen Beziehungen: das ganze Lehramt – möchte ich sagen – der vorangegangenen ökumenischen Konzilien und auch (natürlich unter Weglassung der hinfälligen und aufgehobenen Bestimmungen) jenes Erbe juridischer Weisheit, das der Kirche gehört.“32 30

Johannes Paul II., Sacrae disciplinae leges (Anm. 15), S. XVI. Johannes Paul II., Sacrae disciplinae leges (Anm. 15), S. XX; über die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils als „Kontext“ der Codexnormen vgl. Ludger Müller, Die Lehre des zweiten Vatikanischem Konzils als Kontext zum Interpretation kirchenrechtlicher Normen, in: AfkKR 169 (2000), S. 469 – 481. 32 Johannes Paul II., Ansprache zur Präsentation des neuen Codex Iuris Canonici (03. 02. 1983), in: AfkKR 152 (1983) S. 148 – 156, hier S. 155; vgl. auch Heribert Schmitz, Wertungen 31

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III. Folgerungen: Katechismus und Codex im Dienste der Würde und Heiligkeit jedes Gläubigen Gewiss gehört zur „juridischen Weisheit“, auf die sich Papst Johannes Paul II. anlässlich der Promulgation des CIC/1983 bezieht, das Bewusstsein dafür, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kirchenrecht in erster Linie „interpretatio“ ist und sein muss33 – und dies nicht nur im Mittelalter sondern umso mehr zu Beginn des dritten Jahrtausends. Weiter beinhaltet die „juridische Weisheit“ die Einsicht, dass diese „interpretatio“ eine regelrechte Kunst darstellt. Schon der hl. Ambrosius fragte bezüglich des menschlichen Lebensweges auf der Suche nach der Wahrheit über sich selbst: „Was ist die Gerechtigkeit anderes als Barmherzigkeit?“34 Oder, wenn man so will: Was ist die menschliche Gerechtigkeit ohne die göttliche Barmherzigkeit? Erst nach langen Auseinandersetzungen gelangte man zu Beginn des zweiten Jahrtausends zu einer fruchtbaren und innovativen Synthese zwischen dem Konzept der aequitas (Gerechtigkeit, Recht) des römischen Rechts und dem neutestamentlichen Konzept der misericordia, also zur sog. aequitas canonica. Der CIC/1983 rechnet sie zu den grundlegenden Kriterien zur Auslegung und Anwendung der kirchlichen Gesetze (c. 19 CIC/1983). Die aequitas canonica besteht in der Kunst, die Strenge des kanonischen Rechts mit der von der Liebe abgemilderten Gerechtigkeit zu verbinden. Sie steht somit für eine vernünftige oder gerechte Anwendung der Gesetze durch die Kirche. Deshalb wurde die lex canonica auch iustitia dulcore misericordiae temperata35 genannt. So wurde die aequitas canonica zum fundamentalen Prinzip der kanonischen Tradition. Besser als alle anderen hebt es hervor, wie das gesamte kanonische Recht im Dienste des salus animarum steht.36 Selbstverständlich ist das kanonische Recht keine Heilsgarantie – nur Jesus Christus beschenkt den Menschen mit dieser Gnade! Das Kirchenrecht schützt ausschließlich die objektive Anwesenheit in Zeit und Raum der substantia Verbi et Sacramenti: Es geht um die

des Codex Iuris Canonici. Versuch einer ersten Bilanz, in: AfkKR 154 (1985), S. 19 – 57; Libero Gerosa, La nuova ermeneutica canonistica di Giovanni Paolo II, in: ders. (Hrsg.), Giovanni Paolo II: Legislatore della Chiesa. Fondamenti, innovazioni e aperture, Città del Vaticano 2013, S. 33 – 48. 33 In der Rechtsordnung des Mittelalters gilt: „Die scientia iuris ist interpretatio“ (Paolo Grossi, L’ordine giuridico medioevale, Roma/Bari 2003, S. 163 [eigene Übersetzung]). Dasselbe Axiom kann auch in der zeitgenössischen Kanonistik angewendet werden – v. a. wenn man den missionarischen Charakter der kirchlichen Strukturen vollumfänglich zum Ausdruck bringen möchte; vgl. dazu Libero Gerosa, Dove nasce l’uomo vero? (Anm. 10), S. 41 – 56. 34 „Quae est iustitia nisi misericordia?“ (Ambrosius, Expositio evangelii); Walter Kasper, Misericordia. Concetto fondamentale del Vangelo – Chiave della vita cristiana, Queriniana, Brescia 2013, S. 150 – 158. 35 Zu diesem Grundsatz vgl. Hubert Müller, Art. Aequitas canonica, in: LThK3 1, Sp. 185. 36 Vgl. c. 1752 CIC/1983.

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wichtigsten Kommunikationskanäle der Heilsgnade und als solche um die primären Quellen der communio Ecclesiae sowie um deren juridischer Struktur.37 Zu besagter „juridischer Weisheit“ gehört drittens die Fähigkeit, einen spezifischen und partikulären Aspekt in das Gesamtgefüge des formellen Zwecks des kanonischen Rechts als Ganzes einzubetten.38 Zeitgenössische Kirchenrechtler tun sich schwer damit, die althergebrachte Kategorie des salus animarum mit dem weiteren, konziliären Begriff der communio in Einklang zu bringen. Hierzu können wir im Lichte der obigen Erörterungen nur feststellen: Es trifft wohl zu, dass das sog. salus animarum eine meta-juridische Kategorie darstellt, und dass sie darüber hinaus möglichen individualistischen Vereinfachungen ausgesetzt ist.39 Gleichzeitig ist ihr realer und objektiver Inhalt eine unleugbare Dimension der communio Ecclesiae selbst – also des eigentlichen Zwecks des ganzen kanonischen Rechts. Dies lässt sich nicht nur aufgrund des romanistischen Ursprungs dieser Kategorie erahnen;40 vor allem können wir es klar von der – später durch den CIC/1983 aufgenommene – Konzilslehre betreffend den objektiven Inhalt der Heiligkeit, um die sich jeder Gläubige und jeder Mensch bemühen muss, ableiten. So stellt der Katechismus der Katholischen Kirche in Nr. 27 fest: „Ein besonderer Grund für die menschliche Würde liegt in der Berufung des Men schen zur Gemeinschaft mit Gott“ (GS 19, 1). Unter anderem bedeutet dies, dass gerade das theologische Konzept der Heiligkeit (also der Gemeinschaft mit Gott) eins mit der anthropologischen Größe der „menschlichen Person“ ist. 41 Als solches ist es absolut zentral und grundlegend für jegliche Rechtsordnung, einschließlich des Kirchenrechts. Der vierte und letzte Punkt gehört nun gleichermaßen und endgültig zur „juridischen Weisheit“, an die Johannes Paul II. durch das Promulgieren des neuen CIC/ 1983 erinnert: Es ist das Bewusstsein darüber, dass die gemeinschaftliche Natur des Menschen ihren vollständigsten Ausdruck in der grundlegenden Figur des Christifidelis hat. Es handelt sich dabei um das wichtigste juristische Subjekt der gesamten 37 Dazu vgl. Libero Gerosa, Introduzione al diritto canonico, Istituzioni generali, 2. Bd., in Zusammenarbeit mit A. Stabellini, Città del Vaticano 2012, S. 20 – 23. Zum Zusammenhang zwischen diesen Quellen mit der „kirchlichen communio“ und der „Heiligkeit der Menschen“ vgl. Libero Gerosa, Sacro e diritto (Anm. 3), S. 256 ff. 38 Letzteres ist zweifellos Schutz und Umsetzung der kirchlichen communio, vgl. dazu Hubert Müller, Utrum „communio“ sit principium formale-canonicum novae codificationis Iuris Canonici Ecclesiae Latinae?, in: PerRMCL 74 (1985), S. 85 – 108. 39 Vgl. Aymans – Mörsdorf, KanR I, S. 149. 40 Die Quelle, aus der die christliche Tradition die Kategorie des salus animarum gewinnt, um damit den Hauptzweck des kanonischen Rechts zu umschreiben ist Ciceros Ausspruch: Salus populi suprema lex esto; dazu vgl. Thomas Schüller, Salus animarum, in: LKStKR 3, S. 491 – 492; Peter Erdö, Die Funktion der Verweise auf das „Heil der Seelen“ in den zwei Gesetzbüchern der katholischen Kirche, in: ÖARR 49 (2002), S. 279 – 292. 41 Vgl. Johannes Paul II., Enz. „Redemptor hominis“ (04. 03. 1979), in: AAS 71 (1979), S. 516 – 575 (dt.: VApSt 6), Nr. 13. Dort wird der Konzilstext von GS 22 wörtlich übernommen.

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kanonischen Ordnung. Der Grund: Jedem Status des kirchlichen Lebens ist es immanent, oder besser; es „liegt stets zugrunde“ – angefangen bei den Laiengläubigen über die Ordensleute bis hin zu den Klerikern. Unter Priestern, Ordensleuten und Laien gilt ein und dieselbe christliche Würde (c. 208 CIC/1983), weil alle zur „universellen Heiligkeit in der Vollkommenheit der Liebe“42 berufen sind. Diese Berufung muss sich auch in ihrer Art zu Handeln widerspiegeln. Darauf macht der kirchliche Gesetzgeber in c. 209 § 1 CIC/1983 ausdrücklich aufmerksam: „Die Gläubigen sind verpflichtet, auch in ihrem eigenen Verhalten, immer die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren.“ In der Kirche als communio besteht somit ein tiefer Einklang zwischen allen strukturellen und allen operationellen Dimensionen – genauso wie es zwischen der Pflicht, die kirchliche communio zu bewahren und jener, ein heiliges Leben zu führen sowie die Heiligkeit der gesamten Kirche zu fördern eine tiefe Feinabstimmung gibt.43 Der Einklang ist vorhanden, muss aber stets verfeinert werden. Und: Er bildet für Kanonisten und für alle, die die kirchlichen Gesetze anzuwenden haben, einen durchaus interessanten und in hermeneutischer Hinsicht nicht zu vernachlässigenden Blickwinkel.

42 Johannes Paul II., Lit. Ap. „Maestro della fede“ (14. 12. 1990), in: AAS 83 (1991), S. 561 – 575, Nr. 55 . 43 Auf die Frage „In welchem Sinn ist die Kirche heilig?“ gibt der KKK im Kompendium bei Nr. 165 folgende Antwort: „Die Heiligkeit ist die Berufung aller ihrer Glieder und das Ziel aller ihrer Tätigkeiten.“

„Die Säkularisierung kommt der Kirche zu Hilfe“ Drei Beispiele und eine Hoffnung Von Martin Grichting Mit seiner Freiburger Konzerthaus-Rede vom 25. September 20111 hat Papst Benedikt XVI. weit über den Kreis kirchlicher Amtsträger hinaus für Aufsehen gesorgt. Seine Forderung nach der Entweltlichung der Kirche hat Zuspruch und Widerstand hervorgerufen, abgebildet in einer Fülle von Medienberichten und wissenschaftlichen Publikationen.2 Für oder wider die von der Kirche selbst aktiv zu leistende Entweltlichung zu argumentieren, ist dabei das eine. Im Verlauf der Kirchengeschichte hat sich aber immer wieder auch ein Phänomen manifestiert, das man passive Entweltlichung nennen könnte. Benedikt XVI. hat auch diese durch die Welt vorgenommene Entweltlichung der Kirche in seiner Rede gewürdigt: „Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.“3 Natürlich bestraft die Geschichte diejenigen nicht, welche zu spät kommen. Und sie ist auch kein handelndes Subjekt der Entweltlichung. Gemeint sind mit der handelnden Geschichte vielmehr weltanschauliche, gesellschaftliche, politische sowie wirtschaftliche Wandlungen und Umbrüche, welche auch die Kirche betroffen und sie in ihrer irdischen Erscheinungsweise tangiert haben. Solchen Prozessen soll im Folgenden an drei Beispielen nachgegangen werden sowie der Art und Weise, wie sich die Kirche ihnen gestellt hat. Die Kirche angesichts der Französischen Revolution (1789), des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) und des Endes des Kirchenstaats (1870): Es sind Momente der passiven Entweltlichung der Kirche, die „zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben“. Studiert man die Vorgeschichte dieser Umbrüche, tritt zu Tage, dass es nicht immer so dramatisch hätte kommen müssen. Das berechtigt, der Hoffnung Aus1

Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft im Freiburger Konzerthaus (25. 09. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 674 – 679 (ebenso abgedruckt in: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [= VApSt 189], Bonn 2011, S. 145 – 151). 2 Erinnert sei lediglich an Jürgen Erbacher (Hrsg.), Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2012; Kurt Koch, Entweltlichung und andere Versuche, das Christliche zu retten, Augsburg 2012; Christoph Ohly/Anna Elisabeth Meiers (Hrsg.), Entweltlichung der Kirche. Dimensionen eines Auftrags, Oberhaching 2013. 3 Benedikt XVI., Ansprache (Anm. 1), S. 677.

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druck zu geben, die Kirche möge sich in Zukunft dem weltanschaulichen und politischen Wandel konstruktiver stellen, so dass Entweltlichung nicht mit Plünderung gleichzusetzen ist.

I. Drei Beispiele 1. Die Gallikanische Kirche vor der Französischen Revolution Die Gallikanische Kirche ist ein klassisches Beispiel dafür, wie die Kirche von der Staatsgewalt beherrscht und wie ihr dadurch zugleich zur Herrschaft verholfen werden kann.4 In der Tat war die Kirche in Frankreich seit dem Spätmittelalter ein ideologisches Machtinstrument des absolutistischen Königtums. Die Pragmatische Sanktion von Bourges (1438), das Konkordat von Bologna zwischen Papst Leo X. und König Franz I. von 1516 sowie die Gallikanischen Artikel (1682)5 sind dafür die Stichworte. So war die Kirche eine zentrale Stütze der Macht, indem sie dem Königtum die sakrale Legitimation verschaffte.6 Und sie war durch das 1516 verbriefte Recht des Königs, die Besetzung der Bistümer zu bestimmen, eng verbunden mit der französischen Aristokratie, die ihrerseits politisch den Ton angab. 27 Familien besetzten in der Zeit vor der Französischen Revolution etwa 90 % der 136 Bischofsstühle.7 Dagegen waren im rund 60.000 Priester umfassenden Pfarrklerus weniger als 5 % dem adligen Stand zuzurechnen.8 Aristokratie und Kirchenhierarchie verschmolzen so zu einem Amalgam, das sich gegenseitig den Genuss von Privilegien sowie

4 Vgl. für diese Beobachtung Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (= Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7), Stuttgart 1936 (ND Stuttgart/Berlin/Köln 1996), S. 86; vgl. auch Hans Maier, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg i. Br. 19652, S. 92 – 98. 5 Vgl. dazu Francis Rapp, Art. III. Frankreich, in: Jean-Marie Mayeur/Luce Pietri/André Vauchez/Marc Venard (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums. Religion @ Politik @ Kultur, 7. Bd., Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995, S. 345 – 373, hier S. 348 – 355; vgl. die „Declaratio cleri Gallicani de ecclesiastica potestate“, in: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, hrsg. v. Carl Mirbt, Tübingen 19345, S. 389 f. 6 Vgl. Guy Lemarchand, L’Eglise catholique, appareil idéologique d’Etat dans la France d’Ancien Régime (XVIe-XVIIe siècles)?, in: Cahier des Annales de Normandie 30 (2000), S. 47 – 72, hier S. 62; vgl. auch Claude Langlois/Timothy Tackett, A l’épreuve de la Révolution (1770 – 1830), in: François Lebrun (Hrsg.), Histoire des catholiques en France du XVe siècle à nos jours, Paris 1980, S. 215 – 289, hier S. 220. 7 Vgl. Bernard Plongeron, Das gallikanische System, in: Jean-Marie Mayeur/Luce Pietri/ André Vauchez/Marc Venard (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums. Religion @ Politik @ Kultur, 10. Bd., Freiburg i. Br./Basel/Wien 2000, S. 9 – 15, hier S. 10; vgl. auch Lemarchand, L’Eglise (Anm. 6), S. 52. 8 Vgl. Lemarchand, L’Eglise (Anm. 6), S. 52; vgl. für weitere Zahlen auch Pierre Pierard, L’Église et la Révolution (1789 – 1889), Paris 1988, S. 15 f.

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den maßgeblichen Einfluss auf Kirche und Staat sicherte.9 Im Übrigen stützte sich die Gallikanische Kirche besonders auf ihre wirtschaftliche Macht. Sie besaß rund 10 % des Landes10 und verfügte in der Zeit vor der Revolution über jährliche Einkünfte von rund 150 Millionen Livres @ gleich viel, wie der Staat aus direkten Steuern einnahm.11 Trotz dieser komfortablen Lage war die Kirche gewarnt: Bereits im Jahr 1560 hatte der Dritte Stand angesichts angespannter Staatsfinanzen die Veräußerung des gesamten Kirchenguts verlangt. Die Kirche vermochte damals ihren Kopf mittels des Vertrags von Poissy vom 21. Oktober 1561 aus der Schlinge zu ziehen. Sie verpflichtete sich @ zuerst vorläufig @ auf freiwillige Zahlungen an den Staat.12 Der Vertrag bildete schließlich die Grundlage für die finanzielle Unterstützung des Staates bis zum Ende des Ancien Régime. Die Kirche sicherte sich durch diesen sog. Don gratuit nicht nur die neuerliche Anerkennung ihrer Steuerfreiheit. Es gelang ihr auch, durch die „freiwillig“ übernommene Verpflichtung, den Staat finanziell zu unterstützen, politisch Kapital zu schlagen: Die im Klerus aufzutreibende Summe machte eine landesweite Organisation des Klerus erforderlich, um die Last verteilen zu können. Aus der dafür geschaffenen Assemblée du Clergé wurde bald mehr: eine Art Selbstregierung der Kirche, ein robust mandatierter Interessenvertreter gegenüber dem König und damit eine potente pressure-group in eigener Sache.13 Wie zäh die Kirche @ in Tat und Wahrheit deren adlige episkopale Oberschicht @ ihre Privilegien zu verteidigen wusste, zeigt dabei gerade der Don gratuit, die freiwillige Schenkung. Diese stellte durchschnittlich gerade einmal etwa 2 % der Einnahmen der Kirche dar, was zwischen 1,15 % und 2,7 % der Staatsausgaben deckte, wobei noch anzufügen ist, dass der Don gratuit in den letzten Jahren vor der Revolution noch rückläufig war.14 So wenig die Revolution König und Adel unvorbereitet traf, so wenig traf sie die Kirche wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Denn bereits Ende des 17. Jahrhunderts setzte eine oft heimlich verbreitete, radikale Religionskritik ein, die vom Offenba-

9 Vgl. Roger Aubert, Die katholische Kirche und die Revolution, in: HKG(J), 6/1. Bd., S. 3 – 99, hier S. 16 f.; vgl. auch Lemarchand, L’Église (Anm. 6), S. 56 u. 61; vgl. Joseph Lortz, Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung, 2. Bd., Münster 196421, S. 220 – 222. 10 Vgl. Bernard Plongeron, La vie quotidienne du clergé français au XVIIIe siècle, Paris 1974, S. 172; vgl. auch Aubert, Die katholische Kirche (Anm. 9), S. 18. 11 Vgl. Karl Dietrich Erdmann, Volkssouveränität und Kirche, Köln 1949, S. 64 f. 12 Vgl. Claude Michaud, L’Église et l’argent sous l’Ancien Régime. Les receveurs généraux du clergé de France aux XVIe et XVIIe siècles, Paris 1991, S. 12 f. 13 Vgl. Lemarchand, L’Eglise (Anm. 6), S. 59; vgl. auch Michaud, L’Église (Anm. 12), S. 13. 14 Vgl. Michaud, L’Église, (Anm. 12), S. 540 – 542; vgl. auch Plongeron, Das gallikanische System (Anm. 7), S. 10; Erdmann, Volkssouveränität (Anm. 11), S. 63 f.; Lemarchand, L’Eglise (Anm. 6), S. 57.

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rungsgehalt des christlichen Glaubens schon damals nicht viel übrig ließ.15 Mitte des 18. Jahrhunderts radikalisierte sich diese Religionskritik im Geiste der Aufklärung weiter, die sich bekanntlich vor allem mit Namen wie Voltaire, Rousseau, Diderot und dem Materialisten Baron d’Holbach16 verbindet. Adel und die adelig geleitete Kirche wurden von den Aufklärern gemeinsam bekämpft, da die Dogmen der Kirche vielen letztlich nur als religiös getarnte Verschleierung des Absolutismus galten. In dieser Situation ging die Kirche sogar so weit, dass sie sich ihre „freiwillige“ finanzielle Unterstützung des Staates für eigene Zwecke zunutze zu machen gedachte. Sie nötigte den mit ihr verbündeten Staat, aufklärerisches Gedankengut zu unterdrücken, indem das Erscheinen der Encyclopédie und vergleichbare Werke verboten werden sollte.17 Zweifellos war der Episkopat in den Jahrzehnten vor der Revolution nicht durchweg Reformen abgeneigt. So wurde versucht, durch Provinzialsynoden die kirchliche Disziplin zu heben. Auch sollten die ungerechte Entlohnung des Klerus saniert und dabei die wirtschaftliche Lage des niederen Klerus verbessert sowie das Benefizialsystem überhaupt reformiert werden. Aber genauso wie ein unentwirrbares Geflecht von Interessen und Privilegien den Staat in seinem Bereich daran hinderte, wirksame Reformen umzusetzen, blieben bis zur Revolution die meisten kirchlichen Reformversuche im Morast von Klientelwirtschaft und Partikularinteressen stecken.18 Gerade die den Bischöfen wohlbekannte, aber von ihnen vernachlässigte Verbesserung der materiellen Stellung des Pfarrklerus sollte sich auf dem Höhepunkt der Revolution bitter rächen.19 Nicht nur finanzielle Interessen verhinderten Reformen, auch problematisches Beharren auf althergebrachten Rechten, die aus der Zeit gefallen waren. Noch im Jahr 1788 verteidigte der Erste Stand, in Verkennung der sich wandelnden weltanschaulichen und politischen Lage, seine korporativen Vorrechte mit theologischen Argumenten. Die Assemblée du Clergé wandte sich erfolgreich gegen eine auch die Kirche treffende Grundsteuer, indem sie dem König mitteilte: „Unsere Immunitäten haben ihren Ursprung in der Konsekration, der Bestimmung und ursprünglichen Lastenfreiheit unserer Güter; diese Güter sind Gott gestiftet und geweiht

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Vgl. Antony McKenna, Die philosophischen Clandestina, in: Johannes Rohbeck/Helmut Holzhey (Hrsg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2. Bd., Basel 2008, S. 47 – 69. 16 Zu Letzterem vgl. Günther Mensching, Paul Henri Dietrich Thiry, baron d’Holbach, in: Johannes Rohbeck/Helmut Holzhey (Hrsg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2. Bd., Basel 2008, S. 559 – 574. 17 Vgl. Plongeron, La vie quotidienne (Anm. 10), S. 38; zur Enzyklopädie vgl. Rolf Geissler, Der historische Hintergrund und die wichtigsten Inhalte der ,Encyclopédie‘, in: Johannes Rohbeck/Helmut Holzhey (Hrsg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2. Bd., Basel 2008, S. 265 – 282, zur Religion vgl. bes. S. 271 – 274. 18 Vgl. Langlois/Tackett, A l’épreuve (Anm. 6), S. 233 f. 19 Vgl. Lemarchand, L’Eglise (Anm. 6), S. 54 f.; vgl. auch Maier, Revolution (Anm. 4), S. 97 f.

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unter Ausschluss jeder Belastung, die ihrer Bestimmung fremd ist.“20 In diesem Geist wehrte sich die adlige Kirchenhierarchie bis zuletzt.21 Und dann war es zu spät. Der Erste Stand, nach außen als mächtige Korporation erscheinend, brach auseinander, als der niedere Klerus anlässlich der Generalstände mehrheitlich zum Dritten Stand überlief, der sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung erklärte.22 Der niedere, zum überwiegenden Teil aus dem gemeinen Volk stammende Klerus verbündete sich zu einem guten Teil mit den Volksvertretern.23 Der Rest der Geschichte ist bekannt. Am 04. August 1789 entschied sich die Nationalversammlung @ mit tatkräftiger Unterstützung des (niederen) Klerus @ für die Ablösung, später für die Abschaffung der Zehnten. Und am 02. November 1789 wurde @ auf Antrag des Bischofs von Autun, Charles-Maurice de Talleyrand, der rechtzeitig die Seiten gewechselt hatte @ beschlossen, das gesamte Kirchengut der ehemals stolzen Gallikanischen Kirche der Nation zur Verfügung zu stellen. Zweifellos herrscht in der heutigen Beurteilung der damaligen Ereignisse nicht mehr eine verlustgeschichtliche Deutung vor, wie das verständlicherweise in einer ersten Phase der Fall gewesen war. Zu deutlich ist geworden, dass die Entaristokratisierung der französischen Kirchenhierarchie, der neue Vorrang des Religiösen vor dem Politischen und Wirtschaftlichen, die damit von neuem ermöglichte Zuwendung zu den seelsorglichen Bedürfnissen der Gläubigen sowie die Zerschlagung einer die Einheit mit der Universalkirche gefährdenden Nationalkirche die Voraussetzungen für eine neue Blüte kirchlichen Lebens geschaffen haben. Freilich @ und wie noch an anderen Beispielen zu zeigen sein wird: Die Verweigerung von Reformen und das sträfliche Unterlassen der von der Kirche selbst zu leistenden Anpassung ihrer weltlich-rechtlichen Seite an sich wandelnde politische und gesellschaftliche Verhältnisse hat zu überschießenden Reaktionen geführt. Und damit sind nicht nur die Totalsäkularisation sowie die „Verstaatlichung“ der Kirche durch die Zivilkonstitution (1790) und in abgeschwächter Form durch die Napoleonische Kirche des 19. Jahrhunderts gemeint. Der nachhaltige Schaden, welcher der Weltkirche durch die Reformverweigerung der vorrevolutionären Kirche entstanden ist, ist dieser: Noch heute muss sich die katholische Kirche @ leider zu Recht @ vorhalten lassen, die Ideale der Aufklärung, mit denen sie sich erst durch das Zweite Vatikanische Konzil versöhnt hat, seien gegen sie durchgesetzt worden. Allzu vielen erscheint deshalb die katholische Kirche auch heute noch als Gegnerin der Menschenrechte. Dies hat sie in erster Linie der vorrevolutionären Kirchenhierarchie 20 „Nos immunités prennent leur source dans la consécration, la destination, et l’affranchissement primitif de nos biens; ces biens sont voués, consacrés à Dieu, avec exemption de toute charge étrangère à leur destination“, in: Réimpression de l’Ancien Moniteur depuis la Réunion des États-Généraux jusqu’au Consulat. Introduction Historique, Paris 1843, S. 384. 21 Vgl. dazu Michaud, L’Église (Anm. 12), S. 543 – 545. 22 Vgl. Aubert, Die katholische Kirche (Anm. 9), S. 22 f.; vgl. dazu auch Maier, Revolution (Anm. 4), S. 109 f. 23 Vgl. dazu Pierard, L’Église (Anm. 8), S. 21 – 30.

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in Frankreich zu verdanken. Diese ging mit einer monarchischen und aristokratischen Staatsform eine Allianz ein, die den Aufklärern keine andere Wahl ließ, als Staat und Kirche gemeinsam anzugreifen und niederzuwerfen. Auch wenn vieles von dem, was die Aufklärer vorangebracht haben (individuelle Freiheit, Gewissensfreiheit, Gleichheit) im Kern christliche Werte waren, wurden diese als wirkmächtige politische und moralische Grundsätze faktisch und tragischerweise gegen die Kirche durchgesetzt. Am Erbe der vorrevolutionären Kirche in Frankreich und ihrem Unwillen sowie ihrer Unfähigkeit, sich zur rechten Zeit zu reformieren, leidet die katholische Kirche weltweit bis zum heutigen Tag.24 2. Die Reichskirche vor dem Reichsdeputationshauptschluss Was mit Otto I. († 973) begann, hatte ein langes Leben. Und in einer vormodernen, feudalistisch geprägten Gesellschaft hatte es wohl auch jahrhundertelang seine Berechtigung: das Reichskirchensystem, die Tatsache also, dass Bischöfe nicht nur Hirten ihrer Gläubigen waren, sondern auch politische Herrscher über ihre Untertanen.25 Wenn nicht in den Bereich des Anekdotischen, so doch ins Reich des Utopischen musste es im Jahr 1111 @ mitten im Investiturstreit @ gehören, wenn Papst Paschalis II. gegenüber Heinrich V. die Überzeugung vertrat, die Regalien seien dem Kaiser zurückzugeben und Bischöfe sollten sich nicht mehr in weltliche Angelegenheiten einmischen. Mit diesem Ansinnen stand der Papst einer geeinten Phalanx von Bischöfen gegenüber, die sich bereits gut in ihre Doppelrolle als Hirten und Fürsten eingelebt hatten.26 Mit dem Wormser Konkordat von 1122 konsolidierte sich die Reichskirche dann vollends. Noch Niccolò Machiavelli, der nie im Ruf stand, an mangelndem Realismus zu leiden, attestierte in seinem 1513 verfassten „Il principe“ den geistlichen Staaten einen glücklichen und soliden Bestand: „Sie beruhen […] auf althergebrachten Einrichtungen der Religion, die so mächtig und von solcher Natur sind, dass sie ihre Fürsten an der Macht halten, wie diese auch immer handeln oder leben mögen. Nur diese Fürsten haben Staaten, die sie nicht verteidigen, und Untertanen, die sie nicht regieren; aber obgleich ihre Staaten wehrlos sind, werden sie ihnen nicht genommen; und obgleich ihre Untertanen nicht regiert werden, kümmern sich diese weder darum, noch wollen oder können sie von ihnen abfallen. So sind nur diese Fürstenherrschaften sicher und glücklich.“27 24 Vgl. dazu Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, Stuttgart 20162, S. 433 – 450. 25 Zu Ursprüngen und Gestalt der Reichskirche vgl. Karl Hausberger, Reichskirche – Staatskirche – ,Papstkirche‘. Der Weg der deutschen Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 2008, S. 17 – 21. 26 Vgl. MGH Legum sectio, IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, I, Hannover/Leipzig/Berlin/Zürich/München/Dublin 1893, S. 141, Z. 2 – 4 u. 23 ff.; vgl. dazu Stefan Beulertz, Das Verbot der Laieninvestitur im Investiturstreit, Hannover 1991, S. 142 f. 27 Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übers. u. hrsg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1996, Kap. XI, S. 87 u. 89.

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Auch wenn dann die Reformation gravierende Einbußen mit sich gebracht hatte, rettete sich das Reichskirchensystem in die Neuzeit. Kritische Stimmen zum Kirchenstaatstum blieben vereinzelt. Als erster Rufer in der Wüste gilt Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels. Mitte des 17. Jahrhunderts warnte er davor, dass durch Konstantin die Welt in die Kirche gekommen sei. Die Kirche brauche keine geistlichen Fürstentümer, sondern Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ihrer Hirten. Papst und Bischöfe sollten auf weltliche Macht verzichten. Mit einem Wort: Freiwillig solle die Kirche dem Kaiser geben, was des Kaisers sei. Vergebliche Ideen seien das, entgegnete ihm ein zeitgenössischer Kardinal.28 In der Tat: Auch nach den Umwälzungen der Religionskriege stellte die Reichskirche immer noch einen stattlichen Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation dar: 23 Fürstbistümer und 44 Fürstabteien mit rund 10.000 km2 Territorium und über 3 Millionen Einwohnern.29 Im 18. Jahrhundert geriet dann jedoch die aus dem Früh- und Hochmittelalter stammende Reichskirche ohne ihr Zutun in ein sich fundamental veränderndes weltanschauliches und politisches Umfeld. Wenn man diesen Wandel, den man gemeinhin das Zeitalter der Aufklärung nennt, in Rechnung stellt, kann niemand behaupten, der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 sei ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen.30 Veränderungen zeichneten sich auf zwei Ebenen ab: Einmal schwanden zusehends die Hemmungen, Kirchengut zu säkularisieren. In den Jahren 1742/43 und 1761 konnte die Säkularisation von jeweils mehreren Fürstbistümern nur mit knapper Not abgewendet werden. Die vom Papst selbst vorgenommene Aufhebung des Jesuitenordens 1773 und die massiven Säkularisationen unter Joseph II., dem als Kaiser die Reichspolitik in besonderer Weise anvertraut war, verhießen dann umso mehr nichts Gutes.31 Das Erdbeben, welches die Kirche in Frankreich 1789 erschüttert hatte, ließ dann bei den maßgeblichen politischen Kräften jede Zurückhaltung gegenüber der Reichskirche schwinden, auch wenn das nicht sogleich offen zu Tage trat. Die andere Ebene, auf der das Ende der Kirchenstaaten betrieben wurde, war die Publizistik. Rückblickend wird man sagen müssen: „ohne Säkularisierung keine Sä-

28 Vgl. dazu, mit weiterer Literatur, Heribert Raab, Geistige Entwicklungen und historische Ereignisse im Vorfeld der Säkularisation, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Säkularisierung und Säkularisation vor 1800, München/Paderborn/Wien 1976, S. 9 – 41, hier S. 15 – 17; vgl. auch Bettina Braun, Princeps et episcopus. Studien zur Funktion und zum Selbstverständnis der nordwestdeutschen Fürstbischöfe nach dem Westfälischen Frieden, Göttingen 2013, S. 26 – 29. 29 Vgl. Klaus Schatz, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 15. 30 Vgl. Kurt Andermann, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz (= Kraichtaler Kolloquien 4), Epfendorf 2004, S. 7 – 12, hier S. 7. 31 Vgl. Hausberger, Reichskirche (Anm. 25), S. 44 – 47.

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kularisation“32. Gemeint ist damit, dass seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer vehementer gegen die Existenz der Fürstbistümer in aufklärerischem Geist polemisiert wurde. Unter diesen „literarischen Sturmzeichen“33 ragten bekanntlich hervor die vom Fuldaer Domkapitular Philipp Anton von Bibra 1786 ausgesetzte Preisfrage, welche die Mängel der Staaten der geistlichen Reichsfürsten seien und wie diese zu beheben wären, sowie die darauf eingegangenen sieben Antworten.34 Die von einem hohen Repräsentanten der Reichskirche ausgeschriebene Preisfrage an sich war schon ein Indiz, dass man sich seiner Sache kirchlicherseits nicht mehr sicher war. Die eingereichten Preisschriften befeuerten dann ihrerseits die Diskussion und die öffentliche Meinungsbildung. Ins Auge der damaligen Publizisten stach dabei selbstverständlich die aus ihrer Sicht nicht kompatible Kombination von Bischof und Fürst, von geistlichem Leiter und weltlichem Herrscher. Ebenso wurde teilweise unbarmherzig die wirtschaftliche und administrative Rückständigkeit der Kirchenstaaten kritisiert. Einzelne zeitgenössische Stimmen waren allerdings zurückhaltender @ eine Position, die von der jüngeren Forschung wieder geteilt wird:35 In Bezug auf Bildung, Landwirtschaft, Steuerlast oder Verwaltung waren die geistlichen Staaten nicht rückständiger als vergleichbare weltliche Pendants.36 Es gab durchaus in vielen Bereichen Reformwillen und auch wirksame Reformen. Insgesamt war @ so wird von der jüngeren Forschung wieder betont @ unter dem Krummstab tatsächlich gut leben, verglichen mit den Lebensbedingungen in den weltlichen Fürstentümern.37 Und auch von einem kirchlichen Standpunkt aus betrachtet, wird anerkennend vermerkt, dass die letzte Bischofsgeneration vor der Säkularisation wieder mehr Bischof als Fürst war.38 Die getätigten Reformen waren jedoch keine Antwort auf die eigentlichen Herausforderungen, vor denen die geistlichen Staaten standen: Wie konnten sie sich als geistliche Kleinstaaten in einem sich anbahnenden Konflikt zwischen großen Territorialstaaten militärisch einbringen? Wie konnte überhaupt ein Bischof Krieg führen? Wie war dem Dilemma des geistlichen Hirten, der zugleich oberster weltlicher 32 Ulrich Andermann, Säkularisationen vor der Säkularisation, in: Kurt Andermann (Hrsg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz (= Kraichtaler Kolloquien 4), Epfendorf 2004, S. 13 – 29, hier S. 29. 33 Vgl. Raab, Geistige Entwicklungen (Anm. 28), S. 37. 34 Vgl. zur Fragestellung von Bibras sowie zu einer Analyse der sieben eingegangenen Antworten: Peter Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik (= Historische Studien Heft 396), Lübeck/Hamburg 1966, S. 9 f. u. 10 – 47; vgl. dazu auch Braun, Princeps (Anm. 28), S. 9. 35 Vgl. Wende, Die geistlichen Staaten (Anm. 34), S. 43 f.; vgl. Andermann, Vorwort (Anm. 30), S. 11. 36 Vgl. Braun, Princeps (Anm. 28), S. 10; vgl. Andermann, Vorwort (Anm. 30), S. 8 f.; vgl. Hausberger, Reichskirche (Anm. 25), S. 40 – 43. 37 Vgl. Peter Hersche, Intendierte Rückständigkeit: Zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 133 – 149. 38 Vgl. Hausberger, Reichskirche (Anm. 25), S. 38 – 40.

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Gesetzgeber war, zu begegnen? Wie konnte ein katholischer Staat in einer Zeit bestehen, in welcher die Toleranz zum obersten Gebot erklärt wurde und in der sich eine konfessionelle Durchmischung der Bevölkerung abzuzeichnen begann?39 Für diese Aporien gab es im Korsett des katholischen geistlichen Staates keine Lösung. Letztlich aber waren dies realpolitisch betrachtet nicht die entscheidenden Fragestellungen. Diese lauteten nämlich viel grundlegender: Waren geistlich geleitete Kleinstaaten in einem Umfeld überhaupt noch denkbar, in welchem hochgerüstete Flächenstaaten immer mehr den Ton angaben? War es nicht absehbar, dass die Zeit des Feudalismus unweigerlich zu Ende ging, mit dem die geistlichen Fürstenstaaten unlöslich verbunden waren?40 Zudem hatte sich im 18. Jahrhundert ein aufgeklärtes Denken verbreitet, gemäß welchem alle geistliche Herrschaft notwendigerweise einer weltlichen Herrschaft unterworfen sein müsse. Dass geistliche Würdenträger weltlichen Herrschaften vorstanden, musste in einem aufgeklärten Zeitalter deshalb als Anachronismus erscheinen.41 Die Zeit der geistlichen Staaten, die sich auf eine tausendjährige Tradition und die sakrale Weihe abstützten, war, auch wenn sie beachtliche kulturelle Leistungen hervorbrachten und passabel wirtschafteten, abgelaufen.42 Die Reichskirche und ihre noblen Vertreter freilich hielten bis zuletzt dagegen. Wohl nicht besser lässt sich das illustrieren als an der anonym 1801 erschienenen Flugschrift „Die Folgen der Säkularisationen“. Deren Verfasser war kein geringerer als der an sich aufklärerischem Gedankengut aufgeschlossene Generalvikar des Bistums Konstanz, Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg.43 Vehement und mit Dutzenden von Argumenten aus den Disziplinen Geschichte, Theologie, Politik, Moral und Recht versuchte er noch in der letzten Stunde, das Unabwendbare abzuwenden: Die geistlichen Stände des Reichs hätten stets die unerschütterlichste Anhänglichkeit an die Reichsverfassung gezeigt. Zudem seien sie die „treuesten Freunde und Stützen des Kaiserthrons“ gewesen. Und ohne diese Unterstützung hätte die Kaiserkrone zukünftig wenig Einfluss. Würden die geistlichen Staaten verschwinden, würde Preu39 Vgl. Wende, Die geistlichen Staaten (Anm. 34), S. 30; vgl. auch Hersche, Intendierte Rückständigkeit (Anm. 37), S. 136 – 138; vgl. auch Braun, Princeps (Anm. 28), S. 17 f. 40 Vgl. Uwe Zuber, Auf der Höhe der Zeit? Aspekte moderner Staatsbildung in geistlichen Territorien, in: Kurt Andermann (Hrsg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz (= Kraichtaler Kolloquien 4), Epfendorf 2004, S. 133 – 158, hier S. 158. 41 Vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landeshoheit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln/Wien 1975, S. 233 u. 247. 42 Vgl. Georg Schwaiger, Das Ende der Reichskirche und die Säkularisation in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Kirche und Theologie im 19. Jahrhundert. Referate und Berichte des Arbeitskreises Katholische Theologie, Göttingen 1975, S. 11 – 24, hier S. 12; vgl. Manfred Weitlauff, Der Staat greift nach der Kirche. Die Säkularisation von 1802/03 und ihre Folgen, in: ders. (Hrsg.), Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 1998, S. 15 – 53, hier S. 26. 43 In Auszügen abgedruckt in: Die Säkularisation 1803. Vorbereitung @ Diskussion @ Durchführung, eingeleitet und zusammengestellt v. Rudolfine Freiin von Oer, Göttingen 1970, S. 24 – 30.

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ßen gegenüber Habsburg das Übergewicht erhalten. Das „katholische System“ sei im Übrigen „gegen den im jetzigen Zeitgeist vorherrschenden Freytheits-Schwindel der bewährteste, kräftigste Zügel“. Und wieder auf die rechtliche Ebene zurückkehrend, meinte von Wessenberg, wenn durch eine Säkularisation das Eigentumsrecht der Kirche verletzt werde, so würde dieses Recht bald im bürgerlichen Bereich auch nicht mehr viel gelten. Die am 25. Februar 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss geschaffenen Fakten sind bekannt:44 Es kam zu der durch die Säkularisierung vorbereiteten Säkularisation der Reichskirche. Und auch in Deutschland fiel man von einem Extrem ins andere: Der Kirche wurde nicht nur genommen, was sowieso dem Kaiser gehörte, also die Territorialherrschaft. Zu dieser Herrschaftssäkularisation gesellte sich die Vermögenssäkularisation, durch welche die Staatsgewalt den Bischöfen und Domkapiteln auch die materiellen Güter nahm, derer sie für die Erfüllung ihrer ureigenen religiösen Aufgaben auch zukünftig bedurft hätten.45 Die Kirche wurde also radikal entfeudalisiert. Sie verlor außer den pfarrlichen Gütern alles, was sie hatte. Fortan wurde sie vom Staat salariert, auch wenn eine Redotierung der Bistümer und Domkapitel im Reichsdeputationshauptschluss (§ 35) versprochen worden war. Auch hier zeigte sich somit, dass ein Beharren bis zuletzt auf einstmals durchaus legitim erworbenen Rechten, die aber aus der Zeit gefallen waren, eine überschießende Reaktion gegen die Kirche begünstigte, welche zumindest in einer ersten Phase nach dem Reichsdeputationshauptschluss zu sehr prekären kirchlichen Verhältnissen führte.46 Die Kirche rappelte sich dann im 19. Jahrhundert wieder auf. Und mit der Zeit erkannte man, dass die Geschichte der Kirche durch die Säkularisation zu Hilfe gekommen war. Es kam in Deutschland zu einer Blüte der Kirche, die, von der barocken Reichskirche aus betrachtet, schlechterdings undenkbar erscheinen musste. Mit den starken Worten von Georg Schwaiger gesagt: „Der Reichdeputations-Hauptschluss hat die Kirche auch von einem Reichtum befreit, der für sie vielfach nichts anderes bedeutet hatte als eine glänzende Knechtschaft, jahrhundertelange Hörigkeit im Dienst unkirchlicher Interessen einer macht-, länder- und geldgierigen Aristokratie. Durch die Säkularisation verschwand mit einem Schlag eine Anzahl feudaler und sonstiger Missstände, deren Beseitigung schon das Tridentinum vergebens erstrebt 44 Vgl. den Text in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1. Bd., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 19783, S. 1 – 28. 45 Vgl. Hans-Wolfgang Strätz, Die Säkularisation und ihre nächsten staatskirchenrechtlichen Folgen, in: Albrecht Langer, Säkularisation und Säkularisierung im 19. Jahrhundert, München/Paderborn/Wien 1978, S. 31 – 62, hier S. 52; vgl. auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 1. Bd., ND der 2. verbesserten Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1975, S. 52 f.; vgl. Rudolf Lill, Die Säkularisation und die Auswirkungen des Napoleonischen Konkordats in Deutschland, in: Armgard von Reden-Dohna (Hrsg.), Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons, Wiesbaden 1979, S. 91 – 103, hier S. 100. 46 Vgl. Martin Grichting, Das Verfügungsrecht über das Kirchenvermögen auf den Ebenen von Diözese und Pfarrei (=MThSt.K 62), St. Ottilien 20122, S. 291 – 300.

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hatte.“47 Der Preis, den die Kirche für diese Befreiung und für den Neuanfang zu zahlen verpflichtet wurde, war allerdings sehr hoch. Und die von der Vermögenssäkularisation erfassten Güter der Bischöfe und Domkapitel schaffen in der Gestalt der Staatsleistungen noch heute, nach über 200 Jahren, Probleme, weil sie das Bild einer nach wie vor an den Staat geketteten Kirche in einer Gesellschaft präsent halten, die dafür immer weniger Verständnis aufbringt. 3. Der Kirchenstaat vor der Einigung Italiens Auch das Ende des Kirchenstaats im Jahr 1870 brach nicht als unvorhersehbares Verhängnis über die Kirche herein.48 Es hatte eine Vorlaufzeit von über 70 Jahren. Denn bereits in den Jahren 1798 und 1799 bot die im Zuge der Eroberung Roms durch französische Truppen entstandene Römische Republik einen Vorgeschmack für das Ende weltlicher päpstlicher Herrschaft.49 Die Wirren der Zeit verhinderten jedoch, dass man über das Ventilieren von Ideen über die zukünftige rechtliche Stellung des Papstes hinauskam.50 So sollten im Stile der französischen Zivilkonstitution der Papst und die Bischöfe zukünftig vom Volk gewählt werden. Auch erhoffte man sich auf diese Weise, dem Papst die Jurisdiktion über die Weltkirche nehmen zu können und ihm einen rein moralischen Vorrang zu belassen.51 Die mit der liberalen Revolution von 1848 anhebende Einigungsbewegung Italiens (Risorgimento) brachte dann von neuem die Frage des Kirchenstaats auf die Tagesordnung. Denn im Zuge der europäischen Revolutionen von 1848 wurde die päpstliche Herrschaft im Jahr 1849 ein zweites Mal überrannt und eine kurzlebige Republik errichtet.52 Auch wenn der Papst 1850 wieder in sein Reich zurückkehren konnte, wurde nun Italien Stück für Stück dem tonangebenden Königreich PiemontSardinien einverleibt: die Lombardei 1859, Umbrien 1860, die Marken und NeapelSizilien 1861. Als auch Venetien 1866 zum italienischen Einheitsstaat geschlagen

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Schwaiger, Das Ende der Reichskirche (Anm. 42), S. 22. Vgl. zur aufklärerischen Kritik des 18. Jahrhunderts am Kirchenstaat Veit Elm, Die Moderne und der Kirchenstaat. Aufklärung und römisch-katholische Staatlichkeit im Urteil der Geschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne, Berlin 2001, S. 31 – 60. 49 Vgl. Veit Elm, Die Revolution im Kirchenstaat. Ein Literaturbericht über die jüngste Forschung zur Vorgeschichte und Geschichte der Repubblica Romana (1798 – 1799), Bern/ Frankfurt a. M. 2002; vgl. die von Frankreich diktierte Verfassung von 1798/1799 in: Alberto Aquarone/Mario d’Addio/Guglielmo Negri (Hrsg.), Le Costituzioni Italiane, Milano 1958, S. 229 – 257. 50 Vgl. dazu Carlo Ghisalberti, Le Costituzioni ,giacobine‘ (1796 – 1799), Milano 1957, S. 189 f. 51 Vgl. Daniele Menozzi, L’organizazzione della chiesa italiana in età napoleonica, in: CrSt 14 (1993), S. 69 – 97, hier S. 80 f. 52 Vgl. Roger Aubert, Die ersten Jahre des Pontifikats Pius’ IX, in: HKG(J), 6/1. Bd., S. 482 – 488. 48

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wurde, fehlte nur noch das, was zu diesem Zeitpunkt vom Kirchenstaat übriggeblieben war.53 Dabei war es keineswegs so, dass im italienischen Einigungsprozess nur die Waffen sprachen. Vielmehr war die Lösung der Römischen Frage von einer jahrzehntelangen Publizistik begleitet. Der Standpunkt der Päpste war dabei klar: Die weltliche Herrschaft des Papstes diene dazu, die Freiheit und Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls zu verteidigen. Das Wohl der Religion erfordere die freie Ausübung der geistlichen Gewalt des Papstes, welche dadurch garantiert sei, dass er keines Fürsten Untertan sei.54 Die Gläubigen würden den Anordnungen des Papstes leichter folgen, wenn sie sicher sein könnten, dass sie nicht mittelbar dem Willen eines weltlichen Fürsten unterworfen seien.55 Papst Pius IX. war hier das Echo seines Vorgängers Pius VII., welcher bereits 1809 festgehalten hatte, die Trennung der Aufgaben des Hirten und des Fürsten bedeute die Vernichtung des Werkes Gottes. Durch den Entzug der weltlichen Herrschaft des Papstes werde der Kirche ihr wirksamstes Mittel entzogen, durch welches der oberste Hirte und Stellvertreter Gottes auf Erden den Katholiken ungehindert geistliche Hilfe gewähren könne.56 Diesen Argumenten konnte man zweifellos so lange zustimmen, als der Papst ein Herrscher unter anderen Herrschern war, wie es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Fall war. In einer feudalistischen und von der Aristokratie beherrschten Welt war kaum anderes vorstellbar, als dass auch der Papst faktisch ein Aristokrat war, der seine Bedeutung durch Territorialgewalt unterstrich und dadurch zugleich seine Unabhängigkeit und Wirksamkeit absicherte. Nunmehr, 80 Jahre nach der Französischen Revolution und den Umwälzungen, die sie in Europa angestoßen hatte, war jedoch betreffend Staatsformen und Verständnis der Souveränität ein derart starker Wandel eingetreten, dass die Argumente Pius IX. wie aus einer anderen Welt kommend erscheinen mussten. Es war kein Geringerer als der Ministerpräsident des sich einigenden Italiens, Camillo Benso di Cavour, der dies dem Papst in einer Rede vor dem Parlament am 25. März 1861 auch öffentlich vorhielt. Vor allem aber konnte er zeigen, dass sich inzwischen, bedingt durch die Umwälzungen seit der Französischen Revolution, auch der Charakter des Kirchenstaates grundlegend verändert hatte: Von einer Garantie der politischen Unabhängigkeit des Papstes war er gerade zur Ursache seiner politischen Abhängigkeit geworden. Die Freiheit und Unabhängigkeit des Papstes sei nunmehr besser geschützt durch 26 Millionen katholische Italiener als durch ei-

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Vgl. Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt 19863, S. 168 – 192. Vgl. für die einzelnen Stellungnahmen: Stefan Gatzhammer, Der Souveränitätsanspruch des Apostolischen Stuhles in päpstlichen Lehraussagen und in der Kanonistik von 1846 bis 1978, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2001, S. 15 – 41. 55 Vgl. Pius IX., Allocutio (29. 10. 1866), in: ASS 2 (1866), S. 261 – 267, hier S. 264. 56 Vgl. Pius IX., Enz. „Respicientes ea“ (01. 11. 1870), in: ASS 6 (1870), S. 136 – 145, hier S. 144. 54

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nige im Vatikan sich aufhaltende Söldner und durch ausländische Truppen.57 Und so rief Cavour aus: „Heiliger Vater, die weltliche Herrschaft ist für Euch nicht mehr Garantie der Unabhängigkeit.“58 Cavour sprach damit das Offensichtliche aus, dass der Kirchenstaat nicht mehr aus eigenen Kräften seine Unabhängigkeit zu verteidigen vermochte, sondern nur noch so lange bestehen bleib, als eine fremde Macht, das Frankreich Napoleons III., schützend die Hand über ihn hielt.59 In dieser Phase gedachte man seitens der italienischen Einheitsbewegung im Allgemeinen noch nicht, den Kirchenstaat kurzerhand militärisch zu überrennen. Vielmehr versuchte Cavour, eine Verhandlungslösung mit Pius IX. zu finden, um einen friedlichen Übergang Roms und des Kirchenstaats an das sich einigende Italien zu ermöglichen.60 Allein der Papst weigerte sich, nicht nur 1861, sondern noch 1870, als er Rom, wenn auch nur symbolisch, militärisch bis zuletzt verteidigen ließ. Denn immerhin sollte es nach einem kriegerischen Akt aussehen, wenn der Kirchenstaat unterging, und danach, dass der Papst sein Territorium bis zur letzten (französischen) Patrone verteidigt hatte.61 Dass in den ersten Jahren nach dem dramatischen Ende des Kirchenstaats keine Einigung mit dem nun vollendeten Nationalstaat zustande kam, ist verständlich. Dieser definierte deshalb die rechtliche Stellung des Papstes durch das Garantiegesetz vom 13. Mai 1871 einseitig.62 Und der Papst verwarf das Gesetz postwendend als Ansammlung von nichtigen Immunitäten und Privilegien63, nachdem er sich schon zuvor als „Gefangenen“ im Vatikan bezeichnet hatte.64 57 Die Rede ist in Auszügen abgedruckt bei Zaccaria Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche, Tübingen 1926, S. 662 – 665, hier S. 663. 58 Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche (Anm. 57), S. 665. 59 Schon zeitgenössische Stimmen wiesen darauf hin, vgl. Wolfgang Altgeld, Das Ende des Kirchenstaates im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, in: Titus Heydenreich (Hrsg.), Pius IX. und der Kirchenstaat in den Jahren 1860 – 1870. Ein deutsch-italienisches Kolloquium, Erlangen 1995, S. 27 – 39, hier S. 31 f.; vgl. auch Pier Giovanni Caron, Corso di storia dei rapporti fra Stato e Chiesa, 2. Bd., Milano 1985, S. 157. 60 Vgl. Zaccaria Giacometti, Die Genesis von Cavours Formel libera Chiesa in libero Stato, Aarau 1919, S. 65 – 76; vgl. auch Caron, Corso (Anm. 59), S. 158. 61 Vgl. Lill, Geschichte Italiens (Anm. 53), S. 193. 62 Vgl. den Text bei Francesco Scaduto, Guarantigie Pontificie e relazioni tra Stato e Chiesa (Legge 13 maggio 1871). Storia, esposizione critica, documenti, Torino 1884, S. 472 – 479; vgl. dazu Pier Silverio Leicht, La legislazione ecclesiastica liberale italiana (1848 – 1914), in: Chiesa e Stato. Studi storici e giuridici per il decennale della Conciliazione tra la Santa Sede e l’Italia, 1. Bd., Milano 1929, S. 409 – 428, hier S. 425. 63 Vgl. Pius IX., Enz. „Ubi nos arcano“ (15. 05. 1871), in: ASS 6 (1870), S. 257 – 263, hier S. 259. 64 Vgl. Pius IX., Enz. „Respicientes ea“ (Anm. 56), S. 143; Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli bezeichnete den Papst gar als „politischen Gefangenen des Staates, in dem der lebt“, in: ASS 6 (1870), S. 223 f.; vgl. dazu auch Gatzhammer, Der Souveränitätsanspruch (Anm. 54), S. 28 – 34.

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Auch hier zeigte sich, dass das Festhalten bis zum bitteren Ende an einstmals zweifellos rechtmäßig erworbenen Rechten und Privilegien eine umso heftigere Gegenreaktion verursachte. Das Klima zwischen dem jungen Italien und dem brüskierten Papsttum war so vergiftet, dass es eines „Heilungsprozesses“ von fast 60 Jahren, bis zum Jahr 1929, bedurfte, bis schließlich durch die Lateranverträge eine Entente gefunden werden konnte.65 Dazwischen lag die Zeit des Non expedit, des vom Papst den italienischen Katholiken abverlangten Boykotts des Staates, das sie ihrem Heimatland entfremdete und sie vom politischen Leben für Jahrzehnte faktisch ausschloss.66

II. Eine Hoffnung Mit den drei angeführten Beispielen soll nicht behauptet werden, die Kirche habe sich in ihrer Geschichte ausschließlich so verhalten. Es gibt andere Beispiele, wofür wohl an erster Stelle die Kirche in Italien zu nennen ist. Nach langjährigen Verhandlungen mit dem Staat hat sie im Jahr 1989 eine Reform erreicht, die sowohl die vom II. Vatikanum gewünschte Überwindung des Benifizialsystems (vgl. PO 20) umgesetzt wie auch eine nicht mehr angebrachte Form der Staatsfinanzierung erheblich modernisiert hat. Stattdessen wurde ein Kirchenfinanzierungssystem gefunden, das dem inzwischen zum Faktum gewordenen religiösen Pluralismus Rechnung trägt. Dieses System ist wieder tragfähig, weil es bald ein Dutzend Religionsgemeinschaften einbezieht und so für die absehbare Zukunft eine breite und damit sichere Basis schafft.67 Gleichwohl ließen sich die drei angeführten Beispiele leider auch vermehren. Immer wieder hat es die Kirche versäumt, sich verändernde weltanschauliche, politische und gesellschaftliche Großwetterlagen rechtzeitig zu erkennen und dann angemessen darauf zu reagieren. Klug wäre es stets gewesen, sich als Kirche bzw. Hierarchie an die Spitze der Entwicklung zu stellen und die Veränderung von dort aus mitzugestalten. Stattdessen ist immer wieder zu beobachten gewesen, dass die Vertreter der Kirche, nicht nur als ihre Repräsentanten, sondern auch in ihrer Eigenschaft als „Privatpersonen“, politisch, wirtschaftlich oder kulturell so eng mit einer zu Ende gehenden Epoche und ihren Maximen verbunden waren, dass sie nicht die Kraft hatten, das Neue zu erkennen. Oder, wenn sie es sehr wohl erkannt hatten, besaßen sie nicht die Kraft, die neue Konstellation proaktiv anzugehen im Sinne einer Reform der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Situierung der Kirche.

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Vgl. das Vertragswerk in: AAS 21 (1929), S. 209 – 295. Vgl. Lill, Geschichte Italiens (Anm. 53), S. 194. 67 Vgl. dazu Martin Grichting, Kirche oder Kirchenwesen? Zur Problematik des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Schweiz, dargestellt am Beispiel des Kantons Zürich, Fribourg 1997, S. 281 – 325. 66

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Ergebnis dieses bis zuletzt geleisteten Widerstands war dann nicht ein geordneter Übergang in eine erneuerte Art und Weise der Kirchlichkeit. Vielmehr kam es @ um ein Bild aus der Geologie zu bemühen @ durch das Anstauen einer Spannung zwischen gewandelter gesellschaftlicher Realität und erstarrter Form konkreter Kirchlichkeit zu ruckartigen tektonischen Verschiebungen, verbunden mit Erdbeben, Eruptionen und massiven Kollateralschäden. Und immer wieder hat die Kirche in solchen Situationen dann ideell und materiell weit mehr verloren, als sie hätte hingeben müssen, wenn sie kooperiert statt „gemauert“ hätte. Nun zitiert man bekanntlich gerne das sarkastische Bonmot, das einzige, was man aus der Geschichte lerne, sei das, dass man nichts aus ihr lerne. Nichtsdestotrotz sei hier die Hoffnung ausgesprochen, dass die stets tragischen Folgen explosionsartiger staatskirchenrechtlicher Umbrüche der Kirche zukünftig erspart bleiben mögen. Das erwähnte Beispiel Italiens aus dem späten 20. Jahrhundert ist ein Beweis dafür, dass es sehr wohl möglich ist, nicht länger Haltbares rechtzeitig zu erkennen und dann mit dem Staat eine neue Lösung zu suchen, statt sich ihm in den Weg zu stellen und dann alles zu verlieren @ jedenfalls viel mehr als nötig gewesen wäre, wenn man rechtzeitig Hand zu einer Reform geboten hätte. Zweifellos stellen sich viele derjenigen, welche von einer absehbaren Reform betroffen sein könnten, instinktiv gegen sie, weil sie ihnen Unannehmlichkeiten, geminderte Einkünfte oder den Verlust von Privilegien bringen könnte. Und das gilt in erster Linie gerade für das „Personal“ der Kirche, dem das Hemd leider allzu oft näher ist als der Rock. Denn wie in den drei Beispielen gezeigt, kann man in einer solchen sich anbahnenden Umbruchsituation @ gemäß dem Motto Nach mir die Sintflut @ tatsächlich dem Gang der Dinge für eine Weile etwas entgegenstellen. Aber man tut es in der Regel auf Kosten der nächsten oder übernächsten Generation, die dann von der vollen Wucht des Unmuts umso härter getroffen wird. Dass solches nicht nur im Reich des Politischen immer wieder geschieht, sondern auch in der Kirche Gottes, gehört wohl zu den Geheimnissen der von den Folgen der Erbsünde gezeichneten Natur des Menschen. Gleichwohl ist diese Natur nicht so verdorben, dass sie nicht auch fähig wäre, der Stimme der Vernunft mindestens so weit zu folgen wie der Neigung, zuerst für sich zu schauen. Zu den Erträgen des Pontifikats von Franziskus wird es in diesem Zusammenhang einmal zweifellos gehören, dass er eine „arme Kirche für die Armen“ angemahnt hat.68 Diese Botschaft ist eine bleibende Gewissenserforschung für die Kirche der Zukunft, ihrer Amtsträger im Besonderen. Und sie kann helfen, im Zweifelsfall bereit zu sein, über den eigenen Schatten zu springen und der Neigung, den persönlichen Interessen den Vorzug zu geben, zu widerstehen. 68

Vgl. Franziskus, Allocutio (16. 03. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 379 – 381, hier S. 381; vgl. dazu Christoph Ohly, Eine arme Kirche für die Armen. Das kirchliche Vermögensrecht im Licht einer päpstlichen Herausforderung, in: Michaela Christine Hastetter/Michael Hettich (Hrsg.), An der Bruchlinie von Kirche und Welt. Pastoral im Heute. FS Windisch, Regensburg 2014, S. 153 – 173.

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Zugleich scheint die Beherzigung einer Aussage von Papst Benedikt XVI. ebenfalls unumgänglich zu sein, wenn die Hoffnung, die Kirche könne doch aus der Geschichte ihres Staatskirchenrechts etwas lernen, nicht eine leere Hoffnung sein soll. In seiner Weihnachtsansprache vom 22. Dezember 2005 an die Römische Kurie erinnerte Benedikt XVI. nämlich an die Natur wahrer Reform, die immer ein Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen sei: „Innerhalb dieses Entwicklungsprozesses des Neuen unter Bewahrung der Kontinuität mußten wir lernen – besser, als es bis dahin der Fall gewesen war – zu verstehen, daß die Entscheidungen der Kirche in Bezug auf vorübergehende, nicht zum Wesen gehörende Fragen […] notwendigerweise auch selbst vorübergehende Antworten sein mußten, eben weil sie Bezug nahmen auf eine bestimmte in sich selbst veränderliche Wirklichkeit. Man mußte lernen, zu akzeptieren, daß bei solchen Entscheidungen nur die Grundsätze den dauerhaften Aspekt darstellen, wobei sie selbst im Hintergrund bleiben und die Entscheidung von innen heraus begründen. Die konkreten Umstände, die von der historischen Situation abhängen und daher Veränderungen unterworfen sein können, sind dagegen nicht ebenso beständig. So können die grundsätzlichen Entscheidungen ihre Gültigkeit behalten, während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann.“69 Dies zu beherzigen wird die Kirche davor bewahren, zeit- und gesellschaftsgebundene staatskirchenrechtliche Traditionen, auch wenn sie ein hohes Alter erreicht haben mögen, als gottgegeben zu betrachten oder sie zu verabsolutieren. Im Falle des Gallikanismus, des Deutschen Reichskirchensystems und auch im Falle des Kirchenstaats scheint aber genau diese notwendige Unterscheidung in kirchliche Grundentscheidungen und vorläufige Antworten im Bewusstsein vieler Beteiligter in den Hintergrund getreten zu sein. Ein neues Bedenken der Natur wahrer Reform wird deshalb zu den Bedingungen der Möglichkeit gehören, in Zukunft nicht wieder an Vorläufigem festzuhalten und dadurch das zukünftige Gedeihen der Kirche zu präjudizieren. Sollte sich die Hoffnung, die Kirche möge aus der Geschichte ihres Staatskirchenrechts etwas lernen, schließlich in Zukunft doch nicht erfüllen, so bleibt immerhin fraglos ein Trost: „Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.“

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Benedikt XVI., Allocutio (22. 12. 2005), in: AAS 98 (2006), S. 40 – 53, hier S. 49 f.

Wieviel an Recht verträgt die Kirche? Eine theoretische und theologische Problemanzeige zur Reichweite des kirchlichen Regelungsanspruchs Von Judith Hahn Als scharfem Denker, der seine Gegner mit Polemik zu attackieren wusste, kommt dem Religionsphilosophen Blaise Pascal in der Geschichte des posttridentinischen Ringens um eine moderne Gnadentheologie und Rechtfertigungslehre kein unbedeutender Platz zu. In seinen 18 „Briefen an einen Freund in der Provinz“ kämpft er als anonymer Schreiber um den Ruf und die akademische Integrität seines Freundes Antoine Arnauld, der sich aufgrund seiner jansenistischen Überzeugung häresieverdächtig gemacht hatte. Der Nachwelt hierüber bekannt sind gleichwohl weniger die argumentativen Spitzen als vielmehr die rhetorischen Spitzfindigkeiten, die Pascal einsetzte, um seinen Argumenten Kraft zu verleihen. An seine fiktiven Adressaten richtet er in diesem Sinne im 16. Brief folgende, eher nicht ganz ernst gemeinte Erklärung für die Umfänglichkeit und Weitschweifigkeit seiner Ausführungen: „[M]eine Briefe pflegten nicht so schnell aufeinander zu folgen und auch nicht so lang zu sein. Die wenige Zeit, die ich hatte, ist Ursache von dem einen wie von dem andern. Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich nicht die Muße hatte, ihn kürzer zu machen.“1 Diese Bemerkung, die Ausführlichkeit und Wortreichtum als rechtfertigungsbedürftig ausweist, fasst einen Gedanken, der aus der Alltagsweisheit bekannt ist. In der Kürze, liegt die Würze, besagt der Volksmund, um ihn ins Bild zu bringen. Hierdurch setzt er der Intuition Viel hilft viel das Denkmoment entgegen, es gebe ein Zuviel, das eine Angelegenheit nicht nur nicht besser mache, sondern ihr sogar abträglich sein könne. Es könne daher ein Gebot der Angemessenheit sein, sich kurz zu fassen und auf Nebensächlichkeit zu verzichten. Beschränkung oder Reduktion, das Zurückführen einer Materie auf ihren Kern, die Zurücknahme eines Anspruchs auf das Wesentliche, sei ein wertvoller Prozess, der durch Ausscheiden unbedeutender Elemente einen Gegenstand besser mache, angemessener werden lasse, passender gestalte. Diesem Gedanken will ich folgen, und zwar in Bezug auf eine fundamentale Fragestellung der Kanonistik: der Frage, wie umfangreich, wie regelungsreich, wie dicht das Kirchenrecht sein müsse, um einer Heilsgemeinschaft wie der Kirche eine ange1 Blaise Pascal, Sechszehnter Brief: Verläumdungen der Jesuiten gegen fromme Priester und Nonnen vom 04. Dez. 1656, in: Pascal’s Briefe an einen Freund in der Provinz (= Pascal’s sämmtliche Schriften über Philosophie und Christentum 2), übers. v. Karl Adolf Blech, Berlin 1841, S. 335 – 365, hier S. 364.

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messene Rechtsgestalt zu verleihen. Ist weniger Kirchenrecht mehr? Oder bedarf es opulenter Rechtsstrukturen, die die Rechtsgemeinschaft Kirche konsolidieren? Wieviel an Recht braucht eigentlich die Kirche? Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich dazu verhalten, welchen Dienst das Recht der Kirche leistet, welchen Zweck es in einer Glaubensgemeinschaft erfüllt – oder erfüllen müsste.

I. Theologische Kontur der kirchlichen Rechtsordnung Vergleicht man Rechtsordnungen miteinander, fällt vorab zu inhaltlichen Abweichungen deren unterschiedliche Regelungsdichte auf. Gemeint ist, dass der Normbestand rechtlicher Ordnungen unterschiedlich umfangreich und detailliert gestaltet ist. Während einige Rechtsordnungen menschliches Zusammenleben in all seinen Facetten gesetzlich zu regulieren trachten – zu denken ist hierbei z. B. an das deutsche Recht, das eine hohe gesetzliche Regelungsdichte aufweist –, sind andere vergleichsweise regulierungsarm, und das aus unterschiedlichen Gründen. Manche Gesetzgeber erzeugen allein einen Rechtsrahmen und überlassen den Gerichten die Ausgestaltung: Die case law-Kulturen des anglo-amerikanischen Rechtskreises kommen so ohne ausführliches Gesetzesrecht aus. Regelungsarm sind diese Rechtsordnungen deshalb aber keineswegs, nur entfalten sie ihre normative Dichte nicht auf der Ebene des Gesetzesrechts, sondern in den üppigen Strukturen eines gewachsenen und wachsenden Richterrechts. Bei anderen Normgebern ist der Grund ihrer gesetzgeberischen Zurückhaltung kein struktureller, sondern ein inhaltlicher: Sie halten sich nicht für zuständig, alle Aspekte des menschlichen Zusammenlebens ordnend anzugehen. Einen materiell-umfänglichen Regelungsanspruch erhebt auch der kirchliche Gesetzgeber nicht: Er ist nicht an allen Aspekten der menschlichen Sozialgestaltung rechtlich interessiert, sondern berücksichtigt in seiner gesetzlichen Ordnung vorrangig Materien, die in der Rechtsgemeinschaft Kirche geregelt werden müssen, um den Glauben und das kirchliche Wirken zu sichern. 1. Heilsgemeinschaft – Rechtsgemeinschaft Während es dem weltlichen Recht darum bestellt ist, in einer Gesellschaft eine grundlegende Ordnung, Frieden und Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu organisieren, will das Kirchenrecht weniger – und gleichzeitig mehr: Ihm geht es um die Ordnung, den Frieden und die Freiheit in der Kirche, und dies unter dem profilierten Vorzeichen, dass Ordnungserzeugung, Friedenssicherung und Freiheitsgarantie dem Heil der Gläubigen zu dienen habe. Der letzte Halbsatz, der das gesammelte Normmaterial des geltenden Gesetzbuchs der lateinischen Kirche beschließt, zäumt retrospektiv das gesamte kirchliche Recht von der Programmatik der Heilsordnung her auf. Er unterstellt das Recht der Kirche dem Paradigma, „das Heil der Seelen vor Augen [zu haben], das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss“ (c. 1752 CIC/1983).

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Indem sich die genuine Eigenart des kirchlichen Rechts aus seiner Heilsperspektive heraus behauptet, werden in der kirchlichen Rechtstheorie Heil und Recht in einen Begründungszusammenhang gestellt. Zwischen der communio der Gläubigen, die eine Heilsgemeinschaft ist, und der Rechtsgemeinschaft Kirche wird eine unhintergehbare Verklammerung gesehen. Rechtsstruktur und Heilsgemeinschaft gehörten untrennbar zusammen, insoweit die Rechtsgestalt der Kirche die irdische Konkretion der Heilsgemeinschaft sei. Dieses in der kirchlichen Rechtsbegründung postkonziliar ausgeprägte Selbstverständnis führt sich auf das in Nr. 8 der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ niedergelegte Kirchenbild zurück. Die hier skizzierte Verhältnisbestimmung zwischen der himmlischen und der irdischen Kirche besagt den Ineinsfall, in dem sich die diesseitige und die jenseitige kirchliche Realität miteinander verbinden: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Die kanonistische Relektüre dieser Passage, die himmlische und irdische Kirche in ein Entsprechungsverhältnis setzt, nimmt in den irdischen Kirchenbegriff die Rechtsgestalt der sichtbaren Versammlung auf. Bei allem Noch-Nicht, das es als Konsequenz des eschatologischen Vorbehalts zu berücksichtigen gelte, sei Kirche in ihrer wahrnehmbaren irdischen Gestalt, die sich durch Recht Struktur gibt, als Antizipation der himmlischen communio zu bewerten. Von einer Rechtsgestalt der irdischen Kirche ist in LG 8 gleichwohl gar keine Rede. Die irdische Kirche wird als „compago visibilis“, als „socialis compago“ sowie als „societas organis hierarchicis instructa“ bezeichnet. Hierdurch werden Strukturfragen angesprochen, diese jedoch nicht näherhin als Rechtsstrukturen qualifiziert. Indes wird der Gedanke der Kirche als hierarchisch strukturierter Religionsgesellschaft, wie ihn „Lumen gentium“ präsentiert, in der nachkonziliaren Rechtstheorie mit der Idee einer Rechtskirche gleichgesetzt. Die irdische Konkretisierung der Kirche, wie sie der Konzilstext beschreibt, wird als eine rechtsgestalthafte Konkretion erfasst. Die „compago visibilis“ kennzeichne in diesem Sinne die Kirche als Glaubensgemeinschaft in Rechtsgestalt. Indem man die in „Lumen gentium“ als notwendige Erscheinungsmodi der irdischen Kirche ausgewiesenen Strukturfragen als rechtliche Struktur versteht, wird die Rechtsgestalt von Kirche nicht als eine fakultative Form kirchlicher Organisation, sondern vielmehr als notwendige – und zwar theologisch erforderliche – Erscheinungsform der in der Welt verfassten Kirche verstanden. Ulrich Rhode formuliert den Ertrag dieser Relektüre des Konzilstexts in einer Absage an alternative ekklesiologische Strukturmodelle: „Wäre die katholische Kirche anders, wenn sie kein Kirchenrecht hätte? Ich glaube, sie wäre nicht anders, sondern sie wäre überhaupt nicht. Ohne ihre rechtliche Dimension würde es die katholische Kirche nicht geben.“2 2

Ulrich Rhode, Als Jesuit lehren, in: Georg 2 (2013), S. 39 – 40, hier S. 39.

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Die Rechtsgestalt der Kirche wird so in einer rechtstheoretischen Relektüre des Konzilstexts zum Konkretionsmoment des geheimnisvollen Leibes Christi. Hierdurch entdeckt sie ihren Grund in einer christologischen Ekklesiologie. Seine Zuspitzung erfährt das christologische Motiv in „Lumen gentium“ in einer Inkarnationsanalogie mit pneumatologischer Anschärfung, die das Zueinander von irdischer und himmlischer Kirche mit dem Bild der Menschwerdung Christi begreiflich zu machen sucht: Die Kirche sei „in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes“ (LG 8). Liest man den in dieser Passage präsentierten irdischen Ineinsfall von himmlischer und irdischer Kirche als chalkedonensisch relevanten Zusammenfall von Geistkirche und Rechtskirche, begründet dies die Annahme, die Konzilsväter attestierten dem Recht der Kirche eine christologische wie pneumatologische Dignität. 2. Begründungstheoretische Konsequenz Dies hat begründungstheoretische Folgen: Denn ein Recht, das Ausdrucksform der Heilswirklichkeit ist, ist von seinem theologischen Grund her zu fundieren und zu legitimieren. Die gesetzliche Ausgestaltung der Rechtsordnung muss die ihr zugrundeliegende Heilsordnung widerspiegeln. Als kirchliche Gesetze kommen folglich nur solche Anordnungen in Frage, die sich unmittelbar oder mittelbar aus theologischen Gründen für die Kirche als erforderlich und zweckmäßig erweisen. Der Regelungsanspruch des kirchlichen Gesetzgebers lässt sich durch diese Kriteriologie bestimmen: Er bezieht sich auf die Materien, deren Regelung es bedarf, um dem Heil der Gläubigen zur Verwirklichung zu verhelfen. Ein Kirchenrecht, das dem nicht standhalte, kennzeichnet Thomas Green als „etwas Unfruchtbares und der Glaubensgemeinschaft Unwürdiges.“3 Diesen Gedanken konkretisiert Ladilas Örsy unter Bezugnahme auf den christologischen Grund des kirchlichen Rechts und zieht hierbei einen ersten Schluss mit Blick auf den kirchlichen Regelungsumfang: „The purpose of every bit of canon law is to specify what service is to be rendered to the Risen Christ. (Therefore the church should always avoid legislating about trivial matters: they are unbefitting for such a service).“4 Nun ist nicht jede Norm des Kirchenrechts gleichermaßen theologisch zentral: Während sich die Heilsbedeutsamkeit sakramentenrechtlicher Kernnormen leicht erschließt, lassen sich andere Rechtsmaterien nicht unmittelbar mit Fragen der Heilsordnung in Beziehung setzen. Ein Beispiel aus den allgemeinen Normen: Das kirch3

Thomas Green, Eine lebendige Rechtsprechung, in: Conc 13 (1977), S. 453 – 459, hier S. 456. 4 Ladilas Örsy, The Theological Task of Canon Law, in: CLSA Proceedings 58 (1996), S. 1 – 23, hier S. 21.

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liche Wahlrecht (vgl. cc. 164 – 183 CIC/1983), das die Wahl zu Kirchenämtern ordnet, kann für sich genommen keine spezifisch religiöse Relevanz beanspruchen. Indem es jedoch zur Reorganisation einer funktionsfähigen kirchlichen Amtsstruktur beiträgt, die im Dienst an der Heilsgemeinschaft steht, erweist es sich als mittelbar auf die Heilsordnung verwiesen. Wenn auch nur indirekt ergibt sich seine Legitimität aus seiner Dienstfunktion für die kirchliche Gemeinschaft, ihren Glauben und ihr Heil. Für diese abgestufte Hinordnung der kirchlichen Normen auf das Heil wählte Ludger Müller ein in der Ekklesiologie nicht unvertrautes Bild. Er unterscheidet zwischen einem Kernbereich der kirchlichen Rechtsordnung, in dem unmittelbar Fragen des Glaubens und der kirchlichen Disziplin berührt seien, und der um diesen Kernbereich in konzentrischen Kreisen herum angeordneten kirchlichen Rechtsmaterie, die nur mittelbar mit kirchlichen Glaubens- und Sittenfragen in Verbindung stehe.5 Der kirchliche Gesetzgeber sieht sich folglich für die Regelungsmaterien als zuständig an, die entweder unmittelbar oder mittelbar mit Heilsfragen in Verbindung stehen. Andere Angelegenheiten, die das gesellschaftliche Leben und die bürgerlichen Rechte und Pflichten der Gesellschaftsglieder – einschließlich der christlichen – betreffen, überlässt er zur Ordnung dem Staat. Dieses Selbstverständnis ist ein vergleichsweise neues. In der homogen christlichen Gesellschaft der europäischen Vormoderne trat die Kirche durchaus mit dem Anspruch auf, mit ihrer rechtlichen Ordnung die Gesamtgesellschaft zu strukturieren – und zwar bis in die Details des sozialen Zusammenlebens und der individuellen Lebensgestaltung hinein. In den neuzeitlichen Ablösungsprozessen von Staat und Kirche war es zunächst der neuzeitliche Nationalstaat, der die kirchliche Regelungskompetenz auf die rein binnenkirchlichen Angelegenheiten zurückschnitt und die Wirksamkeit des Kirchenrechts auf den kirchlichen Rechtsraum beschränkte.6 Nach zunächst heftiger Gegenwehr der Kirche bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde diese Entwicklung kirchlicherseits angenommen. Diesem Akzeptanzprozess eignet, so sieht es zumindest der Rechtshistoriker Willibald Plöchl, ein Moment der „Selbstbesinnung“7; denn er erlaubte der Kirche, sich des eigentlichen Grunds ihres Rechts zu erinnern und sich zu vergewissern, dass religiöse Fragen mit Heilsrelevanz im Zentrum des Kirchenrechts zu stehen haben. Die kirchliche Rechtsentwicklung des vergangenen Jahrhunderts – mit unter anderem drei großen Kodifikationsprojekten: 1917, 1983 und 1990 – kann man daher zum einen als Erkenntnisprozess verstehen, in dem sich die Kirche ihres begrenzten Einflusses in der Sphäre der sich säkularisierenden Gesellschaft und der staatlichen Rechtsordnung bewusst wurde – und angesichts dieser „norma-

5 Vgl. Ludger Müller, Rechte in der Kirche. Die Begründung kirchlichen Verfahrensrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Münster 2011, S. 9 – 24, hier S. 15 – 16, 20. 6 Vgl. u. a. Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Gerichtsbarkeiten und Instanzenzüge (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 61), Köln/Weimar/Wien 2012, S. 223. 7 Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 4. Bd., Wien/München 1966, S. 63.

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tiven Kraft des Faktischen“8 mit reduziertem Regulierungsanspruch auftrat. Man kann diesen Prozess jedoch auch zum anderen als einen Selbsterkenntnisprozess lesen, in dem es sukzessive gelang, diesen eigentlichen – nämlich theologischen – Kern des Kirchenrechts wiederzuentdecken und aus diesem theologischen Grund einen reduzierten kirchlichen Regelungsanspruch zu entwickeln. Ob dieser Gedanke im historischen Lernprozess eine zentrale Rolle spielte oder eher ein nachträgliches Deutungsmoment im Sinne einer theologischen Reinterpretation der historischen Ereignisse ist, sei vorliegend dahingestellt: In einer rechtstheologischen Relektüre der Transformation des Kirchenrechts von der Vormoderne in die Moderne kommt ihm zumindest einiges an Plausibilität zu. Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle freilich, dass auch das geltende kirchliche Recht Elemente enthält, die deutlich machen, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist. Noch immer bezieht sich die kirchliche Rechtsordnung auf das Selbstbild der Kirche als societas perfecta und damit auf eine Ekklesiologie, die die Kirche als vollkommene Gesellschaft versteht – als unabhängige, souveräne politische Größe, die mit allen Machtmitteln ausgestattet ihre politischen Ziele verfolgt und hierin wie ein Staat und damit quasi-staatlich agiert. An einem Normbeispiel aus dem Gesetzbuch der lateinischen Kirche sei dies belegt: Den Auftakt des Strafrechts leistet hier die Norm des c. 1311 CIC/1983, die die Begründung des kirchlichen Strafanspruchs wie folgt beschreibt: „Es ist das angeborene und eigene Recht der Kirche [nativum et proprium Ecclesiae ius], straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurechtzuweisen.“ Eine theologische Qualifizierung des Strafgedankens ist das nicht, vielmehr eine quasi-staatliche Inszenierung der kirchlichen Eigenberechtigung, aus eigenem Jurisdiktionspotential heraus strafend aufzutreten. Ganz anders liest sich die Eingangsnorm zum Strafrecht des wenige Jahre später in Kraft gesetzten Codex für die katholischen Ostkirchen.9 Warum die Kirche strafe? Dies wird in c. 1401 CCEO wie folgt begründet: „Da Gott jede Bemühung unternimmt, um ein irrendes Schaf zurückzuführen, müssen jene, die von ihm die Vollmacht zu lösen und zu binden erhalten haben, für die Krankheit derer, die straffällig geworden sind, die entsprechende Medizin bereiten, indem sie sie beschwören, zurechtweisen, tadeln in aller Geduld und Belehrung, ja sogar Strafen auferlegen, so dass die von der Tat erzeugten Wunden geheilt werden, damit weder die Täter in die Abgründe der Verzweiflung getrieben werden, noch die Zügel zur Auflösung des Lebens und zur Verachtung des Gesetzes gelockert werden.“ Die Norm zitiert leicht verkürzt c. 102 des Trullanischen Konzils aus dem Jahr 692 und beruft sich somit auf eine genuin ostkirchliche Straftheologie.10 Inspiriert von dieser Tradition setzt sie theologisch an: Sie nimmt auf die Hirtenfunktion der Bischöfe Bezug, deren 8 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, unter Verwertung des handschriftlichen Nachlasses durchgesehen und ergänzt von Walter Jellinek, Berlin 19293, S. 338. 9 Vgl. hierzu George Nedungatt, A Guide to the Eastern Code. Commentary on the Code of Canons of the Eastern Churches (= Kanonika 10), Rom 2002, S. 788 – 790. 10 Vgl. Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, hrsg. v. Joannes Dominicus Mansi u. a., 11. Bd., Florenz 1765, S. 987.

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jurisdiktioneller Aspekt aus der jesuanisch zugesagten Binde- und Lösegewalt (vgl. Mt 18,18; Joh 20,23) heraus entwickelt wird. Mit dem christologischen Hirtenmotiv verbindet sich ein bestimmter Leitungsstil, der strafpraktisch konkretisiert wird: Strafe hat in der Kirche keinen Selbstzweck, sondern immer einen Besserungszweck. Sie dient der Herde, soll heilen und helfen; daher ist sie moderat einzusetzen, nur dann, wenn nichts anderes mehr hilft – als ultima ratio. Dieser heilsame Zweck der Disziplinierung findet sich ebenso in der Straftheorie des westkirchlichen Strafrechts. Gleichwohl wird er allein im Ostkirchencodex konsequent versprachlicht. Interessanterweise bezog sich c. 2214 § 2 CIC/1917, in dem aus der sess. XIII, de ref. c. 1 des Konzils von Trient zitiert wurde,11 in vergleichbarer Weise auf eine spezifisch westkirchlich entwickelte Straftheologie. Es ist bedauerlich, dass das geltende Recht diese Parallelstruktur von konziliarer Straftheologie und rechtlicher Straftheorie durchbricht. Während das Westkirchenrecht in der Strafbegründung (quasi)staatstheoretisch argumentiert, bestimmt sich das Ostkirchenstrafrecht nicht aus einer gesellschaftstheoretischen Vergleichung heraus, sondern setzt auf Genuinität: auf den theologischen Grund des kirchlichen Strafens. Es steht in dieser Frage für einen Zugang zum Recht, das sich über seinen theologischen Grund Rechenschaft gibt.

II. Theologisch begründete Rechtsreduktion Der seit dem vergangenen Jahrhundert beobachtbare Transformationsprozess des kirchlichen Rechts, in dem sich dieses von einer Rechtsordnung mit quasi-staatlichem Regelungsanspruch in ein zurückgenommenes Rechtssystem verwandelt, das um seine theologische Begründung bemüht ist, geht mit einem Reduktionsprozess einher, bei dem die kirchliche Rechtsordnung nach und nach Merkmale der quasi-staatlichen societas perfecta verliert. Auf der Normebene zeigt sich dies in einem Verlust an Regelungsmaterie, insoweit die Kirche seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker von dem Anspruch Abstand nahm, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens regulierend aufzutreten. Dies setzt das Kirchenrecht im Vergleich mit dem weltlichen Recht in eine konträr verlaufende Entwicklungslinie. So beschreibt der Historiker Paolo Prodi mit Blick auf die staatliche Rechtsgeschichte einen Zuwachs normativer Verdichtung des staatlichen Rechts: Es „hat der Staat immer mehr Räume erobert, die zuvor der positiven Norm entzogen waren: vom Gefühlsleben bis zum Sport, von der Gesundheit bis zur Schule. Weite Bereiche des täglichen Lebens, die einstmals von ethischen oder gewohnheitsmäßigen Normen reguliert wurden, treten nun ein in das Feld des positiven Rechts.“12 Während das weltliche Recht eine Zunahme an Rechtsmaterie erlebt, ist in der Kirche ein sukzessiver 11

Vgl. Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, hrsg. v. Johannes Dominicus Mansi u. a., 33. Bd., Paris 1902, S. 86. 12 Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003, S. 13.

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Rückzug aus Bereichen der individuell-menschlichen Lebensgestaltung zu konstatieren. Dies lässt sich mit Blick auf die Rechtsentwicklung der vergangenen hundert Jahre belegen. Ein quantitatives Signal, das für ein Abschmelzen des rechtlich-regelnden Zugriffs der Kirche auf ihre Mitglieder spricht, setzte an erster Stelle der CIC/1917, der eine Vielzahl an Regelungsgegenständen aufgab, die das vorkodikarische Recht im Corpus Iuris Canonici enthielt. Ein zweiter Reduktionsschritt erfolgte mit dem CIC/1983, der im Vergleich zu seinem Vorgängerwerk abermals Normmaterial und insgesamt 662 Canones verlor. Dass diese regulative Zurücknahme des kirchlichen Gesetzgebers theologisch begründet ist, lässt sich freilich anhand dieser quantitativen Beobachtung nicht belegen. Vor allem im Transformationsprozess vom Corpus zum Codex ist zur Kenntnis zu nehmen, dass vor allem die Umstellung des kirchlichen Rechtssystems von einem kasuistischen, die Einzelfallkonstellationen bedenkenden case law zum abstrakt gesatzten Recht für den gravierenden Anteil der Mengenreduktion verantwortlich zeichnet. Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch ekklesiologische Motive für eine Zurücknahme in manchen Angelegenheiten den Ausschlag gaben. Hier helfen nur qualitative Studien weiter, in denen man die Einzelmaterien und ihre Veränderungen einer Analyse unterzieht, die die Motivlage der Rechtsveränderung aufdeckt. Die Zeiten, in denen die Kirche als „oberste[r] Hüterin der mittelalterlichen sittlichen Ordnung“13 auch für Mord, Hochverrat, Sexualdelikte, Raub, Diebstahl und Münzfälschung nicht zuletzt aufgrund der häufig weltlich-richterlichen Untätigkeit strafrechtliche Zuständigkeit zu beanspruchen müssen glaubte,14 sind heute vorbei. Und während die Kirche noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert das Selbstverständnis lebte, eine societas perfecta mit einem quasi-staatlichen Regelungsanspruch zu sein – und dementsprechend auch in Strafsachen wie ein Staat umfänglich strafen zu müssen –, kann sie sich heute theologisch begründet mit einem Strafrecht begnügen, dessen es bedarf, um Ordnung, Frieden und Freiheit in der Kirche zu schützen, indem es ein heilsabträgliches Verhalten einzelner Kirchenglieder unterbindet. Ein beispielhafter Blick ins Strafrecht zeigt in Folge eine starke Straffung der Strafdelikte im geltenden kodikarischen Recht an.15 Während das altkodikarische Recht 101 Canones mit Deliktsnormen kennt (vgl. cc. 2314 – 2414 CIC/1917), sind es im geltenden Recht nur noch 36 (vgl. cc. 1364 – 1399 CIC/1983). Das Strafrecht kennt heute weder die Straftat der Grabschändung, der Beschimpfung kirchlicher Würdenträger oder des Selbstmordversuchs mehr; es verzichtet auf das Drohpotential des Verlusts

13 Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 2. Bd., Wien/München 19622, S. 382. 14 Vgl. Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (= EThSt 2), Leipzig 1956, S. 187 – 210. 15 Vgl. Matthias Conrad, Zum Verhältnis von Kirchenrecht und Moral unter besonderer Berücksichtigung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit, in: AfkKR 166 (1997), S. 353 – 400, hier S. 374.

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der kirchlichen Ehrenrechte wegen Mord, Menschenhandel, Raub oder Ehebruch.16 Auch heute ist unstreitig, dass sich die vorgenannten Taten nicht mit einer christlichen Lebensweise vereinbaren lassen; dennoch verzichtet der Gesetzgeber auf eine strafrechtliche Sanktionierung. Er folgt hierin den Empfehlungen der Leitlinien zu Codexreform, in denen die Rechtsreform dem Grundsatz unterstellt wird, keine Normierungen vorzunehmen, wenn auch außerrechtliche Mittel ausreichen, um ein Wohlverhalten in der Gemeinschaft zu erreichen: „Ne igitur normae canonicae officia imponant, ubi instructiones, exhortationes, suasiones aliaque susidia, quibus communio inter fideles foveatur, ad finem Ecclesiae facilius obtinendum sufficientia appareant.“17 In diesem Sinne weist das Gesetzgebungsprojekt von 1983, so qualifiziert es Heribert Schmitz, eine „pro-liberale oder rechtsrezessive Tendenz“18 auf. Es ist geprägt vom „Rückzug rechtlicher Bestimmungen aus den Bereichen, die der freien Gestaltung der/des Einzelnen überlassen bleiben.“19

III. Proliberalität als theologische Kategorie Doch stellt dieser regulative Rückzug des kirchlichen Rechts aus der privaten Lebensgestaltung der Gläubigen einen theologisch begründbaren Schritt dar? Ist eine proliberale Entwicklung der Rechtsordnung, wie sie sich anhand des kirchlichen Strafrechts nachzeichnen lässt, theologisch relevant? Ich meine ja, insoweit sich der im Begriff der Proliberalität intonierte Freiheitsgedanke als theologisch anschlussfähig erweist. Dass die Freiheitsicherung im Zeitalter der Postaufklärung Zweck jeder Rechtsordnung ist, wurde bereits angedeutet. Kants Annäherung an den Rechtsbegriff stellt die vielleicht berühmteste Aussage dar, die den Freiheitsgedanken der Moderne mit der Rechtsidee verbindet: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“20 In einem vergleichbaren Bezug auf die Freiheit als anthropologischem Zentralparadigma der Moderne, das 16 Für eine umfängliche Listung der im geltenden Recht nicht mehr präsenten Straftaten des CIC/1917 vgl. Conrad, Kirchenrecht und Moral (Anm. 15), S. 393 – 394. 17 PCR, Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, in: Com 1 (1969), S. 77 – 85, hier S. 79. 18 Heribert Schmitz, Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, in: AfkKR 146 (1977), S. 381 – 419, hier S. 382; für Beispiele einer Proliberalisierung in der nachkonziliaren Gesetzgebung vgl. ebd., S. 406 – 417. 19 Sabine Demel, Einführung in das Recht der katholischen Kirche. Grundlagen – Quellen – Beispiele (= Einführung Theologie), Darmstadt 2014, S. 50; weitere Beispiele für eine proliberale Entwicklung des kodikarischen Kirchenrechts ebd.; vgl. auch Conrad, Kirchenrecht und Moral (Anm. 15), S. 394. 20 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften „Akademieausgabe“, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 6. Bd., Berlin 1907, S. 203 – 493, hier S. 230.

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auch als Fundament des rechtlich-normativen Denkens dient, begegnen sich kirchliches und weltliches Recht. Hierin liegt vielleicht das überzeugendste Potential von Analogiefähigkeit beider Rechte auf der Begründungsebene, wie der Philosoph Gerhard Luf formuliert: „Die Beziehungen zwischen Kirchenrecht und weltlichem, philosophisch fundiertem Rechtsdenken können […] nicht auf formale normlogische bzw. strukturelle Entsprechungen reduziert, sondern müssen in gemeinsamen anthropologischen Grundlagen menschlicher Praxis aufgewiesen werden. Die Frage nach diesen Grundlagen ist in den Horizont eines spezifischen geschichtlichen Begründungsdenkens, nämlich den der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte zu stellen. In dieser wird ein Prinzip zum anthropologisch maßgeblichen Ausgangspunkt normativer Begründung: die Freiheit als transzendentale Bestimmung des Menschen.“21 Dass diese Erkenntnis auch in der Kanonistik bearbeitet wird, verdeutlichen Ansätze, die das Kirchenrecht, gerade weil es bis heute Begründungsstrukturen der Vormoderne mit sich trägt, vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte auf seinen freiheitstheoretischen Grund verweisen, indem sie die Grenzen des geltenden Rechts in der materialen Ausgestaltung einer Freiheitsordnung ermitteln. Der Sammelband „Kirchliches Recht als Freiheitsordnung“ – eine Ende der 90er Jahre erschienene Gedenkschrift für Hubert Müller – leistet z. B. genau dies: Er stellt mit der ökumenischen Sakramentengemeinschaft, der Gleichstellung der Geschlechter in der Kirche oder der Mitbestimmung der Laiinnen und Laien Themen in den Vordergrund, bei denen sich das moderne Freiheitsverständnis und die kirchlichen Regelungen in eklatantester Weise reiben. Überdies könnte jedoch eine freiheitstheoretische Rechtsbegründung selber, die den Freiheitsbezug der kirchlichen Rechtsordnung geltungstheoretisch reflektiert, sich im kirchlichen Rechtsdenken als modernetheoretisch relevant sowie als theologisch bedeutsam erweisen. Ihre modernetheoretische Bedeutung kommt einer freiheitsbezogenen Rechtsbegründung mit Blick auf das Projekt der „nachholenden Selbstmodernisierung“22 der Kirche im Feld ihres Rechts zugute. Denn auch wenn man das II. Vatikanum in seiner Leistung der kirchlichen Einholung der Moderne als erfolgreich bewertet, zeigt doch der Blick in das Recht der Kirche eine Zurückhaltung in der Rezeption des Nachgeholten. In diesem Sinne bewertet auch Georg Essen die Rezeptionsprozesse als die eigentlichen Faktoren, von denen her sich das Projekt der kirchlichen Selbstmodernisierung als geglückt oder gescheitert er21

Gerhard Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, in: HdbKathKR3, S. 42 – 56, hier S. 54. 22 S. hierzu die Gabriel-Graf-Kontroverse: vgl. Karl Gabriel, Die Interpretation des II. Vatikanums als interdisziplinäre Forschungsaufgabe, in: Peter Hünermann (Hrsg.), Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen (= Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 1), Paderborn/München/Wien/ Zürich 1998, S. 35 – 47; Friedrich Wilhelm Graf, Die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus? Kritische Anmerkungen zu Karl Gabriels Vorschlag einer interdisziplinären Hermeneutik des II. Vatikanums, in: Hünermann, Peter (Hrsg.), Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen (= Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 1), Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, S. 49 – 65.

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weise. Er schreibt: „Meines Erachtens wagte die römisch-katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil tatsächlich den Aufbruch in die Moderne. Allerdings entscheidet die Rezeptionsgeschichte darüber, ob die römisch-katholische Kirche nun auch tatsächlich in der Moderne angekommen ist.“23 Zu diesen Rezeptionsprozessen, die die Modernität von Kirche bewertbar machen, gehört nicht zuletzt ja auch die Rezeption der konziliaren Lehre durch das Recht und ihre Transformation in rechtliche Normen. Dass es bisher nicht durchgängig gelang, die neuscholastisch-naturrechtliche Fundierung des kirchlichen Rechts, die erkennbar positivistische Züge trägt, durch modernitätstheoretisch tragfähige Denkansätze abzulösen, die den Freiheitsgedanken konstruktiv verarbeiten, habe ich in diesem Beitrag zumindest indirekt mit dem Hinweis auf die Relikte des societas perfecta-Denkens auf der Ebene der Rechtsbegründung indiziert. Von bis heute im Recht der Kirche auf der Begründungsebene präsenten „freiheitsdefizitären Positionen“24 spricht Gerhard Luf im „Handbuch des katholischen Kirchenrechts“. Neben diese modernetheoretische Bedeutung einer freiheitstheoretischen Begründung des Kirchenrechts tritt eine theologische Dimension, die den Freiheitsbezug der kirchlichen Rechtsordnung als theologisch relevanten ausweist. Denn die Freiheitsperspektive allen Rechts erhält im kirchlichen Rechtsraum eine spezifisch theologische Zuspitzung. Indem die Kirche ihre Rechtsgestalt als Konkretion der Heilsgemeinschaft zu verstehen vermag, bezieht sie ihre Rechtsordnung auf die Heilsordnung, in die sich die Christin bzw. der Christ im Glauben einordnet. Im Dienst des Glaubens steht folglich jegliches kirchliche Recht. Insoweit jedoch der „Glaubensakt […] seiner Natur nach ein freier Akt“ (DH 10) ist, wie in der Erklärung zur Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ des II. Vatikanums entfaltet wird, ist er notwendig auf die menschliche Freiheit verwiesen. Er ist ein Akt freier Menschen, die sich bewusst und frei für die Christusnachfolge entscheiden. Hiermit verbunden sieht Gerhard Luf einen unmittelbaren Denkauftrag für die kirchliche Rechtstheorie: „Die fundamentaltheologische Diskussion hat gerade im Zusammenhang mit dem II. Vatikanum mit großer Intensität den notwendigen Zusammenhang von Glaube, Geschöpflichkeit und Freiheit in den Vordergrund gestellt und damit auch die kirchliche Rechtsbegründung herausgefordert: Auch dem kirchlichen Recht ist ein der Glaubenserfahrung als einer spezifischen Freiheitserfahrung entsprechender kommunikativer Freiheitsbegriff zugrunde zu legen, der als ein für die Ordnung der Glaubensgemeinde konstitutives Prinzip fungiert.“25 Das Recht der Kirche steht im Dienst der communio, die eine Gemeinschaft von freien Individuen ist. Dies muss sich in der kirchlichen Rechtsordnung spiegeln. Als Ordnung, die auf das freie Ja der bzw. des Einzelnen setzt, muss das Recht der Kirche mit dem Zwang, der dem Begriff des Rechts einwohnt, naturgemäß fremdeln. Das Junktim zwischen Recht und Zwang 23

Georg Essen, Nachholende Selbstmodernisierung? Katholische Kirche und politische Öffentlichkeit, Vortrag vom 18. 10. 2012, Bistumsakademie Katholisches Forum, online verfügbar unter www.bistum-erfurt.de/front_content.php?idart=21484, S. 4 (Stand: 22. 04. 2016). 24 Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 55. 25 Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 55.

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verliert in der Kirche angesichts der Zentralität des freien Bekenntnisses seine Überzeugungskraft, wie Peter Huizing betont: „Das ,Auferlegen‘ und ,Erzwingen‘ des äußerlichen Haltens oder Nichtübertretens einer Vorschrift, ohne Berücksichtigung der inneren Haltung ihr gegenüber, ist in der Kirche sinnlos. Kirchenrecht muß von allen Gliedern als Recht erfahren werden, aber nicht als erzwingbares Recht. Seine Geltung beruht auf seiner freien Bejahung durch die Gemeinschaft im Glauben.“26 In Konsequenz beantwortet Ladislas Örsy die Frage nach dem theologischen Sinn des kirchlichen Rechts mit der Freiheit – und das in einer zweifachen Weise, insoweit dem Recht zum einen die Aufgabe zufalle, den Glaubensvollzug behindernde Faktoren zu beseitigen, zum anderen der Gestaltungsauftrag zukomme, Strukturen zu erzeugen, die die Glaubenspraxis förderten. Örsy stellt die Frage „What can then be the theological task of canon law? It is […] to protect the free and easy access of people to the mysteries. Or, to create an environment of freedom for the mysteries to reach the people. We say often that the purpose of law is liberty […], that is, the liberty of the people. In the church, however, we can go further and say the law is also for the liberty of the mysteries: it assures that the mysteries (gifts from God) encounter no obstacle in reaching the people.“27 Hierin verleiht Örsy zwei Dynamiken Ausdruck, die das Recht im Dienst einer theologisch begründeten Freiheitssicherung bestimmen: Zum einen einer rechtlich zu garantierenden negativen Freiheit, die als Freiheit von, nämlich von Hindernissen – auch rechtlicher Art –, die der göttlichmenschlichen Gnadenkommunikation im Weg stehen, konkret zu werden habe. Zum anderen einer positiven Freiheit – einer Freiheit zu –, die durch Erzeugung eines freien Zugangs zu den heilsbedeutsamen Angeboten der Kirche den Rechtsadressatinnen und -adressaten ermögliche, sich zum Gnadenangebot der Kirche affirmativ zu verhalten und den Glaubensakt als freien Akt zu setzen. Vor allem mit der negativen Freiheit, die auf den Abbau von freiheitshemmenden Schranken zielt, verbinden sich im kirchlichen Rechtsraum gleichwohl manche Vorbehalte, insoweit, so die Sorge, mit der Freiheit von die Neigung einhergehe, Freiheitlichkeit und Autonomie individuell-liberalistisch zu deuten. Die Vorsicht, mit der Gerhard Luf z. B. im „Handbuch des katholischen Kirchenrechts“ die Freiheit als gemeinsame anthropologische Basis modernen Rechts säkularen wie religiösen Ursprungs beschreibt, reagiert auf dieses Unbehagen, mit einer positiven Bezugnahme auf die negative Freiheit als Dynamik der kirchlichen Rechtsordnung einen radikalen Individualismus und Liberalismus zu stützen: „Bei diesem Freiheitskonzept handelt es sich nicht um ein […] liberalistisches Freiheitsverständnis, das die Forde26

Peter J. M. Huizing, Die Kirchenordnung, in: Johannes Feiner/Magnus Löhrer (Hrsg.), Mysterium Salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik, 4/2 Bd., Einsiedeln/Zürich/Köln 1973, S. 156 – 184, hier S. 170; vgl. auch den Hinweis von Georg Essen, dass „die kirchliche Kultur nicht mehr als Zwangskultur realisierbar ist“. Dies sei im Übrigen nicht allein theologisch begründet, sondern überdies – „vorgängig zu normativen Thesen und theologischen Forderungen – eine deskriptive Aussage, eine Beschreibung jener Selbstverständlichkeit, mit der der katholische Christenmensch in der Moderne beheimatet ist.“ (Essen, Nachholende Selbstmodernisierung? [Anm. 23], S. 7). 27 Örsy, Theological Task (Anm. 4), S. 6.

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rung nach maximaler Freisetzung individueller Willkür bei möglichstem Abbau hindernder Schranken, also das bloße Nebeneinander isolierter und egozentrischer Individuen zum Inhalt hätte.“ Und er fügt an, wie man Freiheit in ihrer negativen wie positiven Entfaltung in einer Weise zu denken habe, die das Nebeneinander pluraler Freiheiten ermögliche: „Im Gegensatz zu einer solchen liberalistischen Engführung handelt es sich […] um ein Freiheitsverständnis, das vom Gedanken der Autonomie als kommunikativer Selbstbindung geprägt ist. Gemäß diesem kommunikativen Begriff der Freiheit ist der Mensch vor die unbedingte sittliche Verpflichtung gestellt, die Freiheit aller anderen anzuerkennen, um im Mitsein mit ihnen selbst seine eigene Freiheit verwirklichen zu können.“28 Dass Freiheit an der Freiheit der Anderen ihre Grenze findet, wird in diesem Sinne als ihre Schranke betont, die die Gestaltung von Recht mit Blick auf die Gewährleistung negativer wie positiver Freiheit konturiert. Die Rechtsproduktion wird hierdurch vor die Herausforderung gestellt, Normen zu erzeugen, die ein freiheitliches Miteinander von Freiheiten ermöglichen, indem sie diesen die maximale Freiheit von freiheitsbehindernden Faktoren wie den maximalen Freiraum zur autonomen Lebensgestaltung zusagen – wobei die Maximalität von den Grenzen der Freiheit anderer her zu denken ist. Doch wie muss Recht beschaffen sein, das im Dienst an der Glaubensfreiheit steht? Die Radikalität des Ernstes menschlicher Freiheit, die der Aussage zugrunde liegt, der Glaubensakt sei naturgemäß frei – und damit notwendigerweise frei zu setzen –, beschreibt eine Rechtsordnung, die sich der Freiheit maximal verpflichtet weiß. Hieraus ergibt sich bezüglich der negativen Freiheit, dass rechtliche Einschränkungen jeglicher Freiheit in einer modernen Kirche gerechtfertigt werden müssen. Diesen Gedanken konkretisiert Jürgen Werbick in einem Beitrag mit Blick auf die freiheitsbeschränkende Funktion der kirchlichen Hierarchie gegenüber den Gläubigen und verbindet ihn in ähnlicher Weise, in der Ludger Müller zwischen Recht mit unmittelbarer oder mittelbarer Bedeutung für die kirchlichen Glaubens- und Sittenfragen unterscheidet,29 mit der Abstufungsidee. Nur in Angelegenheiten, in „denen die Identität der kirchlichen Sendung entscheidend ins Spiel kommt bzw. auf dem Spiel steht“30, sei eine Freiheitsbeschränkung fraglos gerechtfertigt, dürfe und 28 Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 54; vgl. auch Georg Essens Ausführungen: „Autonomie behauptet sich keineswegs als Autarkie, sondern ist ein relativer, ein kommunikativer Begriff, zu dessen Struktur es gehört, sich zu anderen Menschen und zu Gott ins Verhältnis zu setzen und dadurch selbst zu binden. Autonomie ist, mit anderen Worten, ,wesentlich kommunikative Selbstbindung‘. Ihr Anspruch zielt auf die Einsicht, ,nur in der Form gegenseitiger Selbstbindung‘ miteinander leben zu können und zu wollen.“ (Essen, Nachholende Selbstmodernisierung? [Anm. 23], S. 5, unter Bezugnahme auf und Zitat aus Hermann Krings/Eberhard Simons, Freiheit als Chance. Kirche und Theologie unter dem Anspruch der Neuzeit. Hermann Krings antwortet Eberhard Simons, Düsseldorf 1972, S. 41 – 42). Autonomie sei daher immer ein Produkt des Verhältnisses von Freiheit und Bindung. 29 Vgl. Müller, Rechte in der Kirche (Anm. 5), S. 15 – 16 u. 20. 30 Jürgen Werbick, Wie reformbedürftig und reformfähig ist die römisch-katholische Kirche nach dem 2. Vatikanum? Fundamentaltheologische Einwürfe zu einem kirchenrechtlichen Disput, in: Dominicus M. Meier/Peter Platen/Heinrich J. F. Reinhardt/Frank Sanders (Hrsg.),

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müsse die Freiheit der Gläubigen durch das restriktive Handeln der Autorität eine Grenze finden. In anderen Fragen müsse die Kirche pluralitätsfähiger werden und die aus der Freiheit der bzw. des Einzelnen resultierenden pluralen Antworten auf die Frage der christlichen Lebensgestaltung zu tolerieren lernen: „Man wird sich – wie auch im Zuge der neuzeitlichen Demokratisierungsprozesse geschehen – an die folgenreiche Unterscheidung von ,wahrheitsnahen‘ und ,interessen- bzw. einschätzungsnahen‘ Entscheidungsmaterien gewöhnen müssen; an die Unterscheidung von Entscheidungssituationen, in denen es vermutlich nur eine christlich bzw. kirchlich legitime Option geben kann, und solchen Entscheidungssituationen, in denen es mehrere legitime Optionen gibt. Wo Letztes anzunehmen ist, dürfte – theologisch gesehen – den Gliedern des Gottesvolkes die Partizipation an der Auswahl unter mehreren christlich möglichen Optionen nicht verweigert werden.“31 Diese Pluralität, die „Pluriformität der Zeugnisgestalten“ als „Normalfall“ zu begreifen, sei Lernauftrag der Kirche in der Moderne, die verinnerlichen müsse, dass dies der „Lebensdynamik des Zeugnisses entspreche[…]“32, das auf die Freiheit der Zeuginnen und Zeugen und ihres Zeugnisgebens verwiesen ist. In einer Gemeinschaft, die allein aus der Freiheit ihrer Glieder lebt, sich ungezwungen – aus freien Stücken – zum Glauben zu bekennen, erweist sich eine rechtliche Beschränkung von Freiheit folglich nur dann als legitim, wenn diese notwendig ist, um ein ebenso zentrales Gut zu wahren. Ein solches Gut, das das höchste Gut der um der Glaubensfreiheit willen geschützten Freiheit zu begrenzen vermag, kann daher nur eines sein: nämlich das der Freiheit selbst in ihrer positiven Entfaltung, die es durch Einschränkung der negativen Freiheit zu sichern gilt. In Werbicks Beitrag findet dies Ausdruck im Hinweis auf die „Identität der kirchlichen Sendung“33, die zu schützen sei. Die Grenzen, die das Kirchenrecht der negativen Freiheit in der Kirche legitimierweise setzt, sind daher solche, die der Sicherung der positiven Freiheit dienen – also Normen und Rechtsstrukturen, die den Glauben ermöglichen und die Glaubensidentität schützen. Ein solcher Eingriff bleibt im Angesicht der Freiheit gleichwohl stetig begründungsbedürftig, wie Werbick betont: „Wenn das Lehramt im konkreten Fall um der Identität der Überlieferung willen auf einer normativen Sprachregelung besteht, hat es eine theologisch einzulösende Beweislast für die Unerlässlichkeit seines Eingreifens.“34 Eine so erfolgte Grenzziehung erlaubt es, der im kirchlichen Rechtsdenken dauerhaft zu bearbeitenden Spannung von Freiheit und Bindung einen Ort zuzuweisen. Denn insoweit sich der vorliegend bemühte Freiheitsbegriff nicht als ein individualistisch-liberalistischer, sondern als ein communial-rückgebundener präsentiert, für den die kirchliche Hierarchie in ihrer Funktion einer um der communio und ihres Glaubens willen notwendigen Aufgabe der Freiheitsbegrenzung einsteht, löst er Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. FS Lüdicke (65) (= BzMK 55), Essen 2008, S. 695 – 710, hier S. 706. 31 Werbick, Fundamentaltheologische Einwürfe (Anm. 30), S. 706. 32 Werbick, Fundamentaltheologische Einwürfe (Anm. 30), S. 706. 33 Werbick, Fundamentaltheologische Einwürfe (Anm. 30), S. 706. 34 Werbick, Fundamentaltheologische Einwürfe (Anm. 30), S. 706 – 707.

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theologisch begründbare Bindungen, von denen sich der Glaube der Kirche her konturiert, nicht auf. So vermag ein freiheitstheoretisches Denken in der Kirche auch theonome Positionen zu integrieren, die der menschlichen Willkür entzogen sind.35 Mit Blick auf die positive Freiheit als Freiheit zum Glauben ist alsdann die Rückfrage fällig, ob es auch ein Zuwenig an Recht in der Kirche geben könne. Während eine proliberal begründete Rechtsreduktion die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft vom umfänglich bestimmenden Einfluss des Rechts verschont und ihre negative Freiheit als eine Freiheit vom Zwang des Rechts stark macht, muss sich jede Freiheitstheorie zugleich die Frage stellen, wieviel des Rechts es bedarf, um Freiheit wahrzunehmen – sie positiv zu leben. Schließlich beschränkt Recht nicht nur Freiheit, sondern gewährt sie zugleich, indem es sie in berechtigende Ansprüche übersetzt und diese gegen die Willkür der Obrigkeit und die Übergriffigkeit von Dritten schützt. Damit die pluralen Freiheiten in den Fällen, in denen ihre Freiheitsausübung kollidiert, Freiheiten bleiben und nicht die Willkür der einen die Freiheit der anderen zu unterdrücken beginnt, „bedarf es […] ermöglichender und schützender rechtlicher Institutionen, die in ihrer institutionellen Gestalt auf Freiheit hin zu legitimieren und im Hinblick auf diese Aufgabenstellung immer wieder auch zu kritisieren sind.“36 Es braucht Freiheitsrechte, die Freiheit rechtlich garantieren, materiell-rechtlich geschützte Rechtsgüter, auf die sich die Freiheit zu beziehen vermag, und prozedurale Strukturen, die der Durchsetzung berechtigter Ansprüche dienen. In diesem Sinne hielt Werner Böckenförde bereits Anfang der 90er Jahre in seinem vielzitierten Statement auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen den Bedarf an einem starken kirchlichen Recht fest, nicht ohne mit Blick auf das geltende Recht Quantität und Qualität in ein Spannungsverhältnis zu setzen: „Kirchenrecht ist unentbehrlich, um einen geordneten Austrag von Konflikten zu ermöglichen. Wir brauchen nicht weniger kirchliche Normen, sondern andere, welche die Bezeichnung Recht verdienen.“37 Eine Rechtsordnung, die als Freiheitsordnung gelten will, ist daher auf ein starkes und dichtes Recht in den Bereichen verwiesen, aus denen die Rechtsadressatinnen und -adressaten ihre positive Freiheit beziehen. In der Kirche, die positive Freiheit als Ermöglichung versteht, den Glaubensakt als freien Akt zu setzen und sich zum Gnadenangebot der Kirche zustimmend zu verhalten, müssen daher die Materien regelungsdicht geordnet werden, die freien Zugang zu den Heilsgütern der Kirche gewährleisten. Die in c. 213 CIC/1983 niedergelegte Zusage „Die Gläubigen haben das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen“, stellt zum Beispiel 35

Vgl. Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 55. Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 54. 37 Werner Böckenförde, Statement aus der Sicht eines Kirchenrechtlers auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen zum Thema „Der Glaubenssinn des Gottesvolkes“, in: Norbert Lüdecke/Georg Bier (Hrsg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. GS Werner Böckenförde (= FzK 37), Würzburg 2006, S. 161 – 166, hier S. 166. 36

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eine materielle Grundgarantie dar, die dergestalt der positiven Glaubensfreiheit der Kirchenglieder Rechnung trägt. Bei der Ausgestaltung des mit ihr verbundenen Anspruchs darf der Gesetzgeber nicht sparsam vorgehen: Um die Gläubigen von den geistlichen Gütern der Kirche umfänglich profitieren zu lassen, ist eine dichte Ordnung vonnöten, die materiell wie formell einen Zutritt zum Heilsangebot der Kirche organisiert.

IV. Fazit Was resultiert hieraus mit Blick auf die Fragestellung nach der Reichweite des kirchlichen Regelungsanspruchs? Ist ein Weniger an Recht in der Kirche ein Mehrwert – ein Raum der Freiheit, in dem der Geist weht, wo er will? Oder bedarf es überhaupt erst des Rechts, um Freiheit zu leben? Beides, möchte ich vorliegend behaupten. In der Ermittlung eines angemessenen Regelungsumfangs kirchlichen Rechts muss eine freiheitsbezogene Rechtsbegründung daher zwei Dynamiken berücksichtigen: Eine Begrenzung des kirchlichen Regelungsanspruchs auf die Angelegenheiten, die zur Ordnung der Kirche als Heilsgemeinschaft theologisch geboten sind, weil sie dem Schutz der Glaubensfreiheit dienen, ist die eine Dynamik. Sie geht mit der Aufgabe einher, die Regulierungsmaterien aus der kirchlichen Rechtsordnung zu entlassen, die nicht die Heilsordnung der Kirche, sondern vielmehr die Ständeordnung der societas perfecta konsolidieren. Eine Norm, die wie c. 1370 CIC/1983 den tätlichen Angriff auf den Papst mit einer geistlichen Strafe, nämlich der Exkommunikation bedroht, hat – ungeachtet der sittlichen Bewertung einer solchen Tat – in einer so begründeten kirchlichen Rechtsordnung keinen Platz mehr.38 Sie ist ebenso Ausfluss eines Kirchenverständnisses der Vormoderne wie Normen, die unter Berufung auf ein angeborenes Recht der Kirche quasi-staatliche Ansprüche formulieren. Das strafrechtliche Exempel des c. 1311 CIC/1983 wurde im Beitrag benannt, ähnliche Ansprüche durchziehen z. B. auch das kirchliche Vermögensrecht (vgl. cc. 1254 § 1, 1260 CIC/1983). Ist eine Materie hingegen, weil heilsbedeutsam, als regelungsrelevant erkannt, ist in ihrer Ausgestaltung nicht dem Gebot des weniger ist mehr, sondern dem Maßstab der Angemessenheit zu entsprechen. Angemessen ist in diesen Fällen die Regelungsdichte, die die Verteidigung und Förderung des zentralen in der kirchlichen Rechtsordnung geschützten Guts, nämlich der positiven Glaubensfreiheit, in maximaler 38 Hiermit ist aber noch nicht der eigentlich freiheitstheoretische Grund benannt, warum eine solche Norm in einer kirchlichen Rechtsordnung, die sich als Freiheitsordnung versteht, keinen Raum mehr hat. Diesen Grund erläutert Georg Essen, der angesichts des neuzeitlichen Freiheitsparadigmas die Legitimierungsbedürftigkeit von Macht betont: „Das Institut der Macht kann seinen Sinn allein darin haben, dass es die Bedingungen von Freiheit schafft und sichert, um das äußere Bestehen von individueller und politischer Freiheit zu ermöglichen. Also ist die Freiheit der Grund der Macht, und die Freiheit das zur Macht ursprünglich Ermächtigende. […] Allein die Herkunft der Macht aus der Freiheit schafft Freiheitsordnungen.“ (Essen, Nachholende Selbstmodernisierung? [Anm. 23], S. 6).

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Weise zu verwirklichen hilft. Gerhard Lufs Hinweis – „Legitimationsgrundlage wie zentrale Aufgabe des Rechts ist es […], in einem System von Ordnung und Freiheit in institutioneller Form Realbedingungen des Freiheitshandelns nach allgemeinen, schlechthin geltenden Prinzipien zu garantieren“39 – ist daher in der kirchlichen Rechtstheorie dergestalt zu interpretieren, dass das Recht als Realbedingung des Freiheitshandelns der Kirchenglieder vom Prinzip der freiheitlichen Glaubensermöglichung her gedacht werden muss.

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Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen (Anm. 21), S. 54.

Fachwissen als Grundlage rechtskonformen Handelns Ein Plädoyer für die kirchenrechtliche Ausbildung Von Elisabeth Kandler-Mayr Die berufliche Tätigkeit im Fachbereich Kirchenrecht in Praxis und Lehrtätigkeit konfrontierte mich in den vergangenen Jahren mit einer Fülle von Fragen, die sich früher nicht stellten, und zeigte auf, wie groß der Bedarf an Fachwissen und Fachbegriffen mittlerweile ist. Der Wandel der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Kirchen drückt sich z. B. auch dadurch aus, dass man ein zumindest grundsätzliches Verständnis für die spezielle kirchliche Situation und Sprache nicht mehr erwarten darf. Was im allgemeinen gesellschaftlichen Leben noch als nur bedauerlicher Verlust von Bedeutung getragen werden kann, stellt im Rechtsbereich ein zunehmend größer werdendes Problem dar. Dies zeigt sich vor allem bei der Frage der korrekten Regelung von Rechtsgeschäften für viele Mitarbeiter kirchlicher Organisationen. Viele angehende Juristen finden im Zuge ihres Studiums kaum mehr Bezüge auf das Kirchenrecht, geschweige denn ist tieferes Wissen zu erwerben. Theologen, vor allem Kleriker, stehen dagegen vor einer Fülle von administrativen Aufgaben, die nicht als pastoral begründet verstanden und oft als Überforderung gesehen werden. Wenn Theologen als Nicht-Juristen mit Rechtsgeschäften und Verträgen befasst sind, eben als Theologen, ergibt das Missverständnisse und im besten Fall einen Anlass zu klärenden Diskussionen mit Juristen, die nicht mit Grundwissen über theologische und kanonistische Grundbegriffe an die gemeinsame Aufgabe herangehen werden. Beide werden im Bereich des kirchlichen Vermögensrechts tätig werden, und hier müssen beide Seiten guten Einblick haben, damit ihre Entscheidungen und deren Abwicklung nach kirchlichem und nach zivilem Recht gültig sind und damit Bestand haben werden. Die Bedeutung dieses Lebens- und Rechtsbereiches ist daher in Österreich für die römisch-katholische Kirche nicht gering anzusetzen, wie im Folgenden anhand einiger Beispiele aufgezeigt wird.

I. Hinführung Als Grundnorm ist das angeborene Recht der Kirche zu berücksichtigen, Vermögen zur Verwirklichung der ihr eigenen Zwecke erwerben, besitzen, verwalten und veräußern zu dürfen (c. 1254 § 1 CIC/1983). Dies verweist auf den Bereich der inneren Angelegenheiten, der im Sinne der Religionsfreiheit der eigenen Regelung der jeweiligen Kirche überlassen bleibt. In Österreich ist das Staatsgrundgesetz aus

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18671 zu bedenken, das nicht nur für die römisch-katholische Kirche gilt, und das für die römisch-katholische Kirche in Österreich einschlägige Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich aus 1933/34.2 Eigens zu erwähnen ist § 867 ABGB,3 wobei nach herrschender Lehre unter die „Gemeinden, die unter der besonderen Vorsorge der öffentlichen Verwaltung stehen“, auch kirchliche juristische Personen einbezogen werden und so ein Verweis auf das kanonische Recht geboten ist: Was für die Gültigkeit eines Vertrags notwendig ist, muss demnach dem kanonischen Recht entnommen werden. Dies betrifft vor allem Vertretungsrechte sowie Form- und Gültigkeitserfordernisse und erfasst auch Orden und Gesellschaften des apostolischen Lebens und muss allfällige Rechte des Ortsordinarius bei einzelnen Rechtsgeschäften berücksichtigen, bis hin zur sog. Ordinariatsklausel, die den Abschluss bei intabulationspflichtigen Rechtsgeschäften darstellt.4 Eine häufig auftretende Frage ist z. B. die Frage nach der Qualität kirchlicher Rechtsträger als juristische Person – es ist nicht mehr selbstverständlich, dass bestimmte Organisationen wie Orden von allen als juristische Person verstanden werden, und man kann nicht mehr das generelle Wissen voraussetzen, dass Pfarren im Sinne des c. 515 § 3 CIC/1983 bereits mit ihrer Errichtung Rechtspersönlichkeit besitzen. Jedes bischöfliche Ordinariat muss daher häufiger denn je Bestätigungen über die Rechtspersönlichkeit auch für den zivilen Bereich sowie Vertretungs- und Zeichnungsrechte ausstellen. Zentrales Anliegen dabei ist es zunächst, die Vermögensfähigkeit als Recht der Kirche zu erklären. Dem schließt sich die Erklärung an, dass in Vermögensfragen der Kirche immer der Gedanke der Treuhandschaft zu bedenken ist – auch wenn Güter der Kirche oder einer ihrer Einrichtungen gehören, ist ihre Zweckbindung so, dass ein Verfügen darüber bloß nach der Ansicht und dem Gutdünken des jeweiligen Verwalters nicht möglich oder zulässig ist. Kirchenvermögen hat keinen Selbstzweck, sondern ist nur legitimiert durch die Verwendung für die Verwirklichung der kirchlichen Ziele, vor allem Durchführung des Gottesdienstes, Unterhalt der Kleriker und der anderen Bediensteten der Kirche und Werke des Apostolats und der Caritas,5 wobei der Bereich der Gemeinschaftsarbeit nicht übersehen sein soll. Fundiertes Wissen um diese Grundzüge kirchlichen Rechts darf man nicht mehr generell voraussetzen; von der früheren Annahme, im Geschäftsverkehr müsste ein ordentlicher Kaufmann wissen, dass z. B. ein Pfarrer oder ein Mesner nicht Verträge 1 Staatsgrundgesetz vom 21. 12. 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, StGG, RGBl. 142/1867; zu den Grundrechten in Österreich vgl. Walter Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium, Wien/New York 20082, RZ 1147 – 1180 u. 1430 – 1450. 2 Konkordat zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Österreich vom 05. 06. 1933, BGBl. II Nr. 2/1934. 3 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch vom 01. 06. 1811, JGS 1811/946 i. d. g. F. 4 Vgl. Zusatzprotokoll zu Art. XIII § 2 Konkordat. 5 Vgl. c. 1254 § 2 CIC/1983.

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über Kunstwerke einer Kirche abschließen kann, darf man mittlerweile nicht mehr ausgehen. Hier ist eine für kirchliche Organisationen schwerwiegende Verschiebung festzustellen, die neben dem Rechtsgeschäftsverkehr auch die Judikatur jedenfalls beeinflussen und prägen wird. Um Schaden zu vermeiden, der aus fehlerhaften Vorgängen innerhalb der kirchlichen Organisationen selbst und durch die eigenen Mitarbeiter entstehen kann, ist eine solide Kenntnis kirchlicher Vorschriften und des Partikularrechts unerlässlich. Dies gilt auch deshalb, da gerade im weltlichen Bereich, in dem die Kirche in der Verwaltung ihres Vermögens tätig wird, das Gefahrenpotential größer ist, weil unmittelbar Wirkung entsteht – schließt man einen Vertrag fehlerhaft ab, dann muss jemand die rechtlichen Folgen daraus tragen, sei das als Schadenersatz und Haftung oder weil eben ein Geschäft gar nicht zustande kam. Passiert dagegen im Innenbereich bei der Sakramentenspendung, z. B. bei Krankensalbung oder Eheschließung, ein Fehler, dann ist dies im konkreten Zusammenhang zwar bedauerlich und müsste je nach den Umständen und rechtlichen Möglichkeiten saniert werden, es ergeben sich aber für das Rechtsleben anderer Menschen keine unmittelbaren Folgen oder schwerwiegenden Auswirkungen. Das kirchliche Vermögensrecht soll keinen Vorrang gegenüber anderen Bereichen des Kirchenrechts beanspruchen oder erhalten, da im Blick der Kirche die Frage des Heiles der Seelen, die Pastoral, immer im Vordergrund stehen muss, während jede Form von Vermögen und seine Verwaltung einen zwar wichtigen, aber doch nur dienenden Charakter haben darf. Im Leben der Gemeinschaften aller Art spielt aber die korrekte Abwicklung von Rechtsgeschäften eine große und wesentliche Rolle, weil die Folgen einer falschen Vorgangsweise Auswirkungen auf die Betroffenen und Dritte haben werden. Die Bedeutung der Regelungen in Buch V, in den cc. 1254 – 1310 CIC/1983, ist für viele Lebensbereiche innerhalb der Kirche auf die eine oder andere Weise als groß anzusehen. Dazu werden im Folgenden einige Punkte angesprochen, die in letzter Zeit in der Praxis zu behandeln waren.

II. Vertragsabschlüsse Offene Fragen finden sich im Rechtsverkehr, wenn es um Besonderheiten bei Mietverträgen mit kirchlichen juristischen Personen geht; Aktuelles dazu findet sich immer wieder in Veröffentlichungen und in den Medien. Damit verbunden sind auch falsche Darstellungen, die durchaus verzerrend wirken, oder zu kurz zusammengefasste Erklärungen, die dadurch ein ebenfalls falsches Bild vermitteln. Ständige Klarstellungen sind im Grunde nicht denkbar, deshalb muss besonders darauf geachtet werden, dass in den eigenen Bereichen entsprechend klar strukturiert gearbeitet wird. Einen Überblick über die bisherige Rechtsprechung ziviler Gerichte mit Bezug auf § 867 ABGB und den Vergleich mit anderen Vertretern juristischer Personen

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ohne ausreichende Vertretungsmacht bot z. B. Nicole Blaschitz in ihrem Artikel „Kirchliches Vermögen im Rechtsverkehr“6. Unter Bezugnahme vor allem auf Helmuth Pree, Bruno Primetshofer und Helmut Schnizer legt die Autorin den kirchenrechtlichen Vermögensbegriff dar, wobei die Unterscheidung in frei verfügbares Vermögen und Stammvermögen, Vermögensverwaltung und Vertretungsbefugnisse erfasst ist, wenn auch ohne Zitation der einschlägigen Canones. Weiters erläutert sie die kirchenrechtliche Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Verwaltung, diesmal mit Zitierung der Canones. Richtig erwähnt wird, dass die Abgrenzung der Bereiche – Akte der ordentlichen Verwaltung gegenüber Akten der außerordentlichen Verwaltung – nicht im allgemeinen Recht des CIC/1983 zu finden ist, da man der Vielzahl der Sondersituationen so nicht gerecht werden könnte. Nötig ist aber der ergänzende Hinweis darauf, dass die Verpflichtung, im Eigenrecht und in den Statuten etc. eine Abgrenzung zu setzen, tatsächlich im CIC/1983 vorgegeben ist, konkret in c. 638 §4 CIC/1983 für die Orden und als Verpflichtung wiederholt in c. 1281 § 2 CIC/1983. Schweigen die Statuten darüber, kommt dem Diözesanbischof sogar ein weitreichendes Recht des Eingriffs und der Regelungsbefugnis zu, da er nach Anhörung des Vermögensverwaltungsrates derartige Akte für die ihm unterstellten Personen festzulegen hat. Nicht zutreffend ist die Feststellung im genannten Artikel, dass im Bereich der Ordensverbände „die Festlegung von Gültigkeitserfordernissen gänzlich dem Eigenrecht überlassen“ sei.7 Hier fehlt die nötige Unterscheidung zwischen Orden päpstlichen Rechts und bischöflichen Rechts,8 mit durchaus unterschiedlichen Folgen für die Anwendung partikularrechtlicher Vorschriften. So sind z. B. an die Einhaltung der sog. Romgrenze9 als regional einzuhaltende Obergrenze für bestimmte Rechtsgeschäfte i. S. v. c. 638 § 3 CIC/1983 auch Orden päpstlichen Rechts gebunden, selbst wenn sie im Übrigen nicht der Oberaufsicht der Diözesanbischöfe unterliegen. Orden bischöflichen Rechts sind von vornherein zu einer früher ansetzenden und weitergehenden Abstimmung mit dem Diözesanbischof gehalten, um gültige Rechtsakte zu setzen, da sie z. B. der vorausgehenden licentia10 für ein Rechtsgeschäft bedürfen, das ohne sie nicht gültig ist (vgl. c. 1291 CIC/1983). 6 Nicole Blaschitz, Kirchliches Vermögen im Rechtsverkehr. Besonderheiten beim Mietvertragsabschluss mit kirchlichen juristischen Personen, in: ZaK (Zivilrecht aktuell), Heft 14 vom 07. 08. 2012, S. 263 – 266. 7 Blaschitz, Kirchliches Vermögen im Rechtsverkehr (Anm. 6), S. 265. 8 Vgl. dazu Dominicus M. Meier, Art. Aufsichtsbefugnisse kirchlicher Stellen, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe zum Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 65 – 72; Bruno Primetshofer, Ordensrecht, Freiburg 19883, bes. S. 100 – 116; Helmuth Pree/Bruno Primetshofer, Das kirchliche Vermögen, seine Verwaltung und Vertretung. Handreichung für die Praxis, Wien/New York 20102, bes. S. 118 – 142. 9 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Romgrenze, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/ Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe zum Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 428 – 432. 10 Vgl. Josef Kandler, Art. Licentia, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/ Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe zum Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 291 – 294.

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In Abschnitt 5 des zitierten Artikels, überschrieben mit „Vermietung von kirchlichen Vermögenswerten“11, werden die Grundzüge grundsätzlich korrekt dargelegt, wenn auch mit einem falschen, weil veralteten Verweis – die angeführten cc. 1530 u. 1533 CIC/1983 beziehen sich auf das kirchliche Prozessrecht, nicht auf das Vermögensrecht, gemeint ist offensichtlich ein Zitat aus dem CIC/1917; korrekt wäre die Nennung des c. 1297 CIC/1983 mit einer Zuständigkeitszuschreibung an die Bischofskonferenz. Ein falscher Schluss findet sich schließlich in Abschnitt 612 des zitierten Artikels zu einem konkreten Rechtsstreit über ein Mietverhältnis in der Erzdiözese Salzburg: Es trifft zu, dass c. 503 CIC/1983 dem Domkapitel jene Aufgaben zuspricht, die ihm durch das Recht oder vom Diözesanbischof übertragen wurde.13 Korrekt zitiert wird auch aus den Statuten des Domkapitels der Erzdiözese Salzburg,14 dass das Domkapitel im Bereich der Vermögensverwaltung sowohl für die Verwaltung der Domkirche und ihres Vermögens als auch für die Verwaltung des Kapitelvermögens zuständig ist. Der folgende Schluss, „Sohin ist in Salzburg das Domkapitel, vertreten durch den Kapitelökonom, hinsichtlich der Vermögenswerte der Diözese vertretungsbefugt […]“, ist jedoch nicht zutreffend; diese Befugnis ergibt sich weder aus den allgemeinen Regeln für Kapitel (vgl. cc. 503 – 510 CIC/1983) noch aus dem Statut des Domkapitels. Die Befugnisse des Domkapitels in der Frage der Vermögensverwaltung sind nicht derart allgemein und auch nicht auf Diözesanvermögen bezogen, sondern vielmehr klar eingeschränkt ausschließlich auf die Vermögenswerte, die dem Domkapitel selbst gehören,15 wie dies auch für andere rechtlich selbständige Organisationen und Gemeinschaften gelten kann. Es trifft auch nicht (mehr) zu, dass die Befugnisse eines Ordinarius für gültige Vertragsabschlüsse bei Bestandsverträgen der Finanzkammer der Erzdiözese Salzburg übertragen wurden, konkret an deren Direktor. Korrekt ist vielmehr, dass auch hier ein Ordinarius tätig wird, verbunden mit der Gegenzeichnung durch den Direktor der Finanzkammer in seiner Funktion als erzbischöflicher Notar für den Bereich der Finanzkammer.16

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Blaschitz, Kirchliches Vermögen im Rechtsverkehr (Anm. 6), S. 265. Vgl. Blaschitz, Kirchliches Vermögen im Rechtsverkehr (Anm. 6), S 265 f. 13 Vgl. zur Rechtsstellung der Domkapitel Richard Puza, Die Dom- und Stiftskapitel, in: HdbKathKR3, S. 652 – 656. 14 Statuten und Direktorium des Domkapitels zu den Heiligen Rupert und Virgil an der Metropolitankirche zu Salzburg, approbiert von Erzbischof DDr. Karl Berg am 01. 01. 1984, Salzburg 1984. 15 Statuten und Direktorium des Domkapitels zu den Heiligen Rupert und Virgil (Anm. 14). Abschließende Regelungen zu Vermögenszuschreibungen, als Ergänzung zum Österreichischen Konkordat, traf der Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen vom 23. 06. 1960, BGBl. 195/1960, im Speziellen Art. V. 16 Vgl. Dekr. vom 26. 11. 2015 (Ord. Prot.N. 1473/15), über die Zeichnung von kurialen Akten und Verwaltungsakten in der Erzbischöflichen Finanzkammer der Erzdiözese Salzburg. Neben dem Kanzler, der gemäß c. 482 CIC/1983 für jede Kurie zu bestellen ist, können 12

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Es ist sicher Aufgabe der kirchlichen Organisationen, die Entscheidungsebenen und jeweiligen Zuständigkeiten klar bzw. klarer als bisher darzustellen, um Missverständnisse oder gar Fehler möglichst zu vermeiden, deren Folge im schlechtesten Fall die Ungültigkeit eines Rechtsgeschäfts mit den damit verbundenen Haftungsfragen sein kann. Diese Grundpflicht entlässt aber nicht andere handelnde Personen und Institutionen aus ihrer Pflicht, sich ebenfalls angemessen über die rechtlichen Grundlagen des kirchlichen Vertragspartners zu informieren. Die Möglichkeit dazu besteht ohne Weiteres, da Veröffentlichungen wie das Amtsblatt der Bischofskonferenz und die Verordnungsblätter der einzelnen Diözesen als Sammlung diözesanen Rechts durchaus gut zugänglich sind, sei es in der Staatsbibliothek und anderen öffentlichen Bibliotheken oder mittlerweile auch auf allen Homepages der Diözesen und Erzdiözesen Österreichs. Fragen, die sich auf diesen Themenbereich beziehen, bleiben aufgrund der Häufigkeit von Rechtsgeschäften mit kirchlichen Organisationen nicht Einzelfälle, sondern werden ihre Aktualität behalten. Umso wesentlicher ist eine fundierte Kenntnis der Rechtsbereiche,17 die sich auch aus dem Partikularrecht der einzelnen Diözesen ergeben; dies ist unverzichtbar.

III. Rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit kirchlichen Friedhöfen Im Bereich der Friedhöfe und Bestattungsfragen ist in den letzten Jahren eine große Veränderung festzustellen, nicht nur wegen der Abnahme der Bedeutung religiöser Bräuche, sondern mit dem Blick auf einen Markt und neue Bräuche, die sich rasant entwickelten. Trends und Varianten zeigen sich in diesem Bereich stärker als früher, während Bräuche der vergangenen Zeit, z. B. die Aufbahrung daheim und Bruderschaften, die für eine angemessene Begleitung der Verstorbenen sorgten, in den Hintergrund treten. Der Rahmen der Beerdigung für Getaufte war klar und vertraut, vom Gottesdienst und der Verabschiedung zur Beisetzung auf dem kirchlichen Friedhof mit Glockengeläut und Trauerzug, Kranzmessen, und dann ein Grab mit Kreuz, Namen und Rahmen. Das galt als Ablauf und Gestaltungsform oft auch für Kommunalfriedhöfe, die wegen der gesellschaftlichen Veränderungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. In den letzten Jahren war ein Ansteigen der Genehmigungen von Naturbestattungen merkbar. Schon lange bieten nicht mehr nur die Kirchen einen letzten Dienst an, sondern neben den Bestattern, die immer mehr Aufgaben übernehmen, auch Ritendesigner, freie Trauerredner usw., die für eine Entwicklung und den Trend zu einer von religiösen Riten freien Abschiedsfeier stehen, auch wenn sie auf Anleihen bei kirchlichen Riten und religiöse weitere Notare ernannt werden, deren Unterschrift öffentlichen Glauben genießt; dies erfolgt in der Praxis für einzelne Bereiche oder Rechtsgeschäfte (vgl. c. 483 § 1 CIC/1983). 17 Vgl. dazu Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 69 – 77.

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Symbole nicht unbedingt verzichten können. Für die Kirchen heißt das, sich wie ein Mitbewerber unter mehreren auf einem marktwirtschaftlich interessanten Feld bewegen zu müssen, das viele Konkurrenten kennt, auch wenn die Ausrichtung der kirchlichen Begleitung nicht als Geschäft und nicht unter merkantilen Gesichtspunkten gesehen werden kann, geht es doch in erster Linie um die Begleitung und den Ausdruck von Hoffnung und Zuversicht aus dem Glauben heraus. Das soll die kirchliche Feier ebenso wie die Gestaltung der Grabstätten aufzeigen. Zwei Aspekte bestimmen diesen Rechtsbereich, einerseits die Feier des Begräbnisses und andererseits der Ort und die Gestaltung des Grabes. Die cc. 1176 ff. CIC/1983 geben vor, dass für die verstorbenen Gläubigen18 das Begräbnis zu feiern ist.19 Nachdrücklich empfohlen wird nach wie vor die fromme Gewohnheit der Erdbestattung; die Feuerbestattung wird nicht verboten, außer sie wäre aus Gründen gewählt, die der christlichen Lehre widersprechen.20 Zuständig ist die Kirche der eigenen Pfarrei, wobei man frei eine andere Kirche für die Exequien wählen kann. Hat die Pfarre einen eigenen Friedhof, so ist die Beerdigung der Pfarrangehörigen hier vorgesehen, wenn sie nicht anderes bestimmt haben; diese Wahlfreiheit besteht immer (c. 1180 §§ 1 – 2 CIC/1983). Regelungen zu Friedhöfen finden sich unter dem Titel „Heilige Orte und Zeiten“ in den cc. 1240 – 1243 CIC/1983.21 Kirchliche Friedhöfe werden für die Bestattung bevorzugt; wo es möglich ist, soll es sie geben oder sonst wenigstens eigene Bereiche 18 Für Bischöfe und Ordensleute gelten Sonderregelungen, da Exequien für sie in der Kathedralkirche bzw. der Ordenskirche oder -kapelle zu feiern sind, vgl. cc. 1178 f. CIC/1983. Der Codex bietet auch Regeln zum Kreis derer, denen ein kirchliches Begräbnis zuteilwerden kann: Katechumenen sind hier den Gläubigen gleichzustellen, bisher ungetaufte Kinder, deren Eltern die Absicht der Taufe hatten, ebenfalls, und schließlich kann anderen Getauften ein kirchliches Begräbnis nach klugem Ermessen des Ortsordinarius gewährt werden, wenn ein eigener Amtsträger nicht erreicht werden kann und nicht ihr gegenteiliger Wille feststeht (c. 1183 §§ 1 – 3 CIC/1983). Versagt wird das kirchliche Begräbnis hingegen, wenn sie nicht vor dem Tod irgendwelche Zeichen der Reue gegeben haben, den Apostaten, Häretikern und Schismatikern, dann Menschen, die sich für die Feuerbestattung aus Gründen entschieden, die dem christlichen Glauben widersprechen, und anderen öffentlichen Sündern, wenn ein öffentliches Ärgernis daraus entstünde. Gibt es dazu Zweifel, ist der Ortsordinarius zu befragen, dessen Entscheidung befolgt werden muss. Wird ein kirchliches Begräbnis verweigert, dann kommt auch die Begräbnismesse nicht in Frage. Zu bedenken ist dabei das Dekret der ÖBK zur Möglichkeit der geistlichen Begleitung bei der Beisetzung von aus der Kirche ausgetretenen Katholiken, das ein klar pastoral begründetes Vorgehen für die Angehörigen aufzeigt, vgl. ABl. ÖBK, Nr. 56 vom 15. 02. 2012, II.1, S. 7 f. Der Priester begleitet und betet dabei mit den Angehörigen, ein Gottesdienst findet ebenfalls auf Wunsch statt, wenn auch nicht am selben Tag. 19 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis, in: HbdKathKR3, S. 1437 – 1441. 20 Vgl. dazu C DocFid, Instr. „Ad resurgendum cum Christo. Über die Beerdigung der Verstorbenen und die Aufbewahrung der Asche im Fall der Feuerbestattung“ (15. 08. 2016), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= VApSt 206), Bonn 2016. 21 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Geweihte Stätten, in: HbdKathKR3, S. 1107 – 1114.

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in weltlichen Friedhöfen, die für das Begräbnis von verstorbenen Gläubigen bestimmt sind. Beide sind ordnungsgemäß zu segnen, und wo dies nicht möglich ist, sind zumindest die einzelnen Gräber zu segnen.22 Pfarren und auch Ordensinstitute können einen Friedhof haben, ebenso andere juristische Personen oder auch Familien, d. h. eine Grabanlage, die nach dem Urteil des Ortsordinarius zu segnen ist (c. 1241 CIC/1983). Zur Wahrung der Friedhofsordnung, vor allem zum Schutz und zur Pflege des heiligen Charakters des Friedhofs, sind durch Partikularrecht auch geeignete Normen zu erlassen (c. 1243 CIC/1983). In Kirchen kann in der Regel eine Beisetzung nicht erfolgen, ausgenommen sind davon Päpste, Kardinäle oder Diözesanbischöfe, die in ihrer eigenen Kirche beizusetzen sind (c. 1242 CIC/ 1983). Zu berücksichtigen ist jeweils das staatliche Recht, wobei das Bestattungswesen gemäß Art. 15 B-VG Ländersache23 ist. In Rücksicht auf örtliche Gegebenheiten, Sanitätswesensfragen und Gewerbeordnung regeln die Landesgesetze zum Bestattungswesen immer die Vorgaben allgemeiner Art, z. B. hinsichtlich der Anlage der Gräber, der Wiederbelegung, aber auch der Zulassung von Arbeiten, der Gestaltung von Grabmälern, Pflege, Sicherung und Kosten. Jeder Verwalter eines Friedhofs hat eine Friedhofsordnung zu erlassen, für die ein Veröffentlichungsgebot gilt.24 Im Landesrecht Tirols regelt das Gemeindesanitätsdienstgesetz im II. Hauptstück, Leichen- und Bestattungswesen, in den §§ 33 – 41 die Ordnung der Friedhöfe. Im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Friedhofszwang bei Beisetzungen regelt § 33 (3) auch, dass für jeden Friedhof eine Friedhofsordnung zu erlassen ist, die nähere Bestimmungen über die Einteilung, Ausgestaltung und Erhaltung von Grabstätten und Grabmälern, über die Benutzungsrechte an Grabstätten, sanitätspolizeiliche Vorschriften im Zusammenhang mit der Beerdigung, ortspolizeiliche Vorschriften über das Verhalten auf Friedhöfen sowie Bestimmungen über die Verwaltung des Fried22 Vgl. Die kirchliche Begräbnisfeier: Verbindliche Neuausgabe und Pastorale Einführung, zu verwenden ab 29. 11. 2009, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 232), Bonn 2009, die einen Ritus für die Segnung einzelner Grabstätten vorsieht. 23 Art 15 B-VG (Bundesverfassungsgesetz vom 01. 10. 1920, wiederverlautbart durch VO BGBl. 1/1930 i. d. g. F.); vgl. dazu auch Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht (Anm. 1), RZ 109 – 163 u. 189 – 202. Für die Erzdiözese Salzburg bedeutet dies wegen der Zugehörigkeit eines Teiles des Landes Tirol neben der Berücksichtigung des Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz 1986, LGBl. 84/1986 i. d. g. F.; auch die Beachtung des Tiroler Landesrechts im Gesetz vom 08. 10. 1952 über die Regelung des Gemeindesanitätsdienstes und des Leichen- und Bestattungswesens, LGBl. Nr. 33/1952 i. d. g. F., in dessen II. Hauptstück, Leichen- und Bestattungswesen, in den §§ 33 – 41 die einschlägigen Regelungen zu finden sind. 24 Vgl. dazu für Salzburg § 24 (3) Leichen- und Bestattungsgesetz, und für Tirol § 33 (3) GemeindesanitätswesenG (vgl. Anm. 23). Zum verpflichtenden und zum möglichen Inhalt von Friedhofsordnungen aus zivilrechtlicher und aus kirchenrechtlicher Sicht vgl. Elisabeth Kandler-Mayr, Friedhof – Recht und Ordnung. Kanonistische Erwägungen zu aktuellen Fragen des Friedhofsrechts, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. FS Paarhammer (65) (= KST 58), Berlin 2012, S. 603 – 617.

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hofs zu enthalten hat. § 35 legt zusätzlich fest, dass in konfessionellen Friedhöfen zur Beisetzung der Leichen von Personen, die dieser Konfession nicht angehören, denen jedoch nach den bestehenden Vorschriften die anständige Beerdigung auf dem Friedhof nicht verweigert werden kann, ein besonderer Platz zu schaffen ist. Im Landesrecht Salzburgs finden sich in den §§ 24 ff. des Leichen- und Bestattungsgesetzes sinngemäß gleichartige Vorschriften, d. h. die Vorgabe, dass eine Friedhofsordnung zumindest die Art und Beschaffenheit der Grabstellen und ihre Wiederbelegung zu regeln hat und zudem die Bestattung von Personen, die nicht der Konfession angehören, unter bestimmten Umständen zuzulassen ist. Bei kirchlichen Friedhöfen ist aus Sicht des Partikularrechts zu bedenken, dass die Errichtung ebenso wie die Erweiterung, sei sie örtlich oder hinsichtlich der Art der Bestattung, z. B. durch den Bau einer Urnenbeisetzungsanlage, als Akt der außerordentlichen Verwaltung qualifiziert wird und somit zu den genehmigungspflichtigen Akten gehört.25 Wie schon angesprochen, gibt es die Empfehlung für die Errichtung bzw. Beibehaltung eines kirchlichen Friedhofs. Nicht jede Pfarre kann oder will dem aber noch entsprechen, wobei neben rein praktischen Gründen wie den örtlichen Gegebenheiten auch der Verwaltungsaufwand eine Rolle spielen kann. Die Führung von Friedhöfen ist komplexer geworden, beginnend mit Fragen der Nutzung von Friedhöfen für Bestattungen anderer Konfessionen oder Konfessionsloser, dem Konkurrenzdruck durch den verstärkten Wunsch nach Urnen- oder Naturbestattungen, durch die nötigen Anpassungen von Friedhofsordnungen und deren Geltung bis hin zu Diskussionen und Konkurrenz zwischen Totengräbern und Bestattern und anderes mehr. Für Pfarren und Diözesen zeigt sich stärker als je, dass man sich in einer Phase der Veränderung befindet, die eine Neuorientierung erfordert. Bisher war klar, dass es neben der einzelnen pfarrlichen Friedhofsordnung26 auch eine diözesane Friedhofsordnung27 gibt, die für jeden kirchlichen Friedhof subsidiär gilt und das jeweilige Landesrecht berücksichtigt, und dies war für die Praxis ausreichend gut geklärt und akzeptiert. Nun führen aus Einzelfällen entstehende Rechtsstreitigkeiten in den letzten Jahre dazu, dass diese allgemeine Geltung und Verbindlichkeit der kirchlichen Friedhofsordnungen mittlerweile offen abgelehnt und bestritten wird. Dies hat zur Folge, dass jede Friedhofsverwaltung in jedem Fall der Grabnutzung nun Einzelvereinbarungen treffen müsste – ein Aufwand, den nicht jeder pfarrliche Friedhofs25

Vgl. cc. 1277 u. 1281 § 2 CIC/1983 und für die Erzdiözese Salzburg dazu die Verordnung Nr. 50 im VOBl. 1991, mit der für pfarrliche Rechtsträger in Nr. 2 verfügt ist, dass Errichtung, Erweiterung und Auflassung von kirchlichen Friedhöfen als Akte der außerordentlichen Verwaltung definiert sind; die Genehmigung wird durch das eb. Ordinariat erteilt (vgl. VOBl. der Erzdiözese Salzburg 1991, S. 78 – 90, hier S. 78). 26 Die pfarrliche Friedhofsordnung ist unter Bezug auf die PKR-Ordnung, § 28, dem Rechtsreferat der eb. Finanzkammer zur Überprüfung und Genehmigung vorzulegen; vgl. VOBl. der Erzdiözese Salzburg 2007, S. 58 – 69. 27 Friedhofsordnung für die kirchlichen Friedhöfe der Erzdiözese Salzburg vom 12. 12. 1989, in Kraft seit 01. 01. 1990, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg 1989, S. 173 – 179.

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verwaltungsausschuss auf sich nehmen will. Von den rund 150 Friedhöfen der Pfarren der Erzdiözese Salzburg werden etwas mehr als die Hälfte noch eigenständig verwaltet, die übrigen aber der jeweiligen politischen Gemeinde verpachtet. In diesem Fall muss die politische Gemeinde als der neue Betreiber die Friedhofsordnung erstellen, die dann alle Nutzer bindet. Um den bisherigen Charakter eines kirchlich geprägten Friedhofs nicht ganz zu verlieren oder zu stark zu verändern, findet für die Verfassung der Friedhofsordnung oft noch eine Abstimmung der politischen Gemeinde mit der Pfarre statt. Der Blick auf die Zahlen zeigt aber klar, dass trotz einiger Verpachtungen die praktische Bedeutung von Friedhofsfragen für die Erzdiözese Salzburg und ihre Pfarren nicht marginal ist. Anlassfall für eine mittlerweile zum Rechtsstreit wachsende Auseinandersetzung war die Neugestaltung einer Grabstätte auf einem kirchlichen Friedhof, die als Familiengrab seit Jahrzehnten bestand. Nach dem Tod des letzten Elternteiles übernahm ein Familienmitglied als Grabnutzungsberechtigter die Zahlung der Grabgebühr, wobei die Änderung der Gebühr von einem Familiengrab zum Einzelgrab in Anspruch genommen wurde, gemäß der im selben Jahr erlassenen Friedhofsgebührenordnung, die ebenso wie die Friedhofsordnung im Bereich des Friedhofs öffentlich ausgehängt und damit zugänglich war. Einige Monate nach der letzten Beisetzung änderte der Angehörige die Grabgestaltung in aller Stille an einem Morgen, an dem er die Abwesenheit des Friedhofsverwaltungsrates wegen einer Klausur nutzten konnte, da ihm nach eigener Erklärung klar war, die (nach der ebenfalls veröffentlichten Friedhofsordnung) nötige Genehmigung durch den Friedhofsverwaltungsausschuss für Arbeiten an einem Grabmal wäre wegen der Art der Ausgestaltung und der Vorgaben der Friedhofsordnung nicht zu erreichen gewesen. So war jedoch ein Faktum gesetzt, das prompt zu Unruhe und Streit in der Gemeinde führte. Der Urheber des neuen Grabes stellte sich auf den Standpunkt, mit ihm sei nie eine Vereinbarung über die Grab- bzw. Friedhofsnutzung eingegangen worden. Die Aushändigung der jüngsten Friedhofsordnung war nicht nachzuweisen. Das Argument, immerhin habe er die neue und günstigere korrekte Grabnutzungsgebühr einbezahlt, nicht mehr die frühere höhere Gebühr und müsse somit die Friedhofsordnung und die Gebührenordnung gekannt haben, wollte sein Rechtsvertreter ebenfalls nicht gelten lassen. Argumentiert wurde auch, da es sich bei der Vereinbarung einer Grabnutzung um ein privatrechtliches Geschäft handle, genüge weder der Aushang noch eine sonstige Veröffentlichung einer Friedhofsordnung; es hätte einer eigenen Vereinbarung bedurft, da die Friedhofsordnung nur wie eine Hausordnung oder Allgemeine Geschäftsbedingungen gelte, mehr nicht. Gestützt war diese Argumentation unter anderem auf ein Urteil des OGH aus 1990.28 Ausgehend von einer ganz anders gelagerten Situation finden sich darin Zitate der einschlägigen Friedhofsordnung, unter anderem, dass Streitigkeiten über Grabrechte, soweit sie nicht sanitätspolizeiliche Belange betreffen, privatrechtlicher Natur sind und daher vor ordentlichen Gerichten auszutragen sind. In diesem Verfahren war es um die Annahme gegangen, Friedhofs28

8 Ob 504/89 (29. 03. 1990).

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ordnungen müssten nach Maßgabe gesetzlicher Änderungen und auch wirtschaftlicher Veränderungen modizifiert werden können. Als herrschende Lehre und gängige Judikatur wurde zitiert, dass das Recht auf Benutzung einer Grabstätte ein dingliches Nutzungsrecht privatrechtlicher Natur sei und daher eine Friedhofsordnung eine von der Behörde genehmigte Vertragsschablone bzw. Allgemeine Geschäftsbedingungen auf privatrechtlicher Basis darstelle und demnach einseitige Änderungen nicht in Frage kämen. Im Sinne des Art. 15 StGG zulässigerweise erlassene Friedhofsordnungen seien auch nicht Verordnungen im Sinne des Art 139 B-VG.29 Es gelte, was zur Zeit der Begründung des Grabnutzungsrechts festgelegt war; eine Anpassung sei als Ausnahme nur möglich, wenn in der Friedhofsordnung oder der Friedhofsgebührenordnung der Passus „in der jeweils geltenden Fassung“ oder Gleichbedeutendes erfasst wäre. Im noch offenen konkreten Fall ging es jedoch nicht um die Gebühren, die im Übrigen der neuen Friedhofsgebührenordnung entsprechend bezahlt wurden, sondern ausschließlich um die Ausgestaltung des Grabmals und die Ordnungsregelung der Friedhofsordnung, dass Arbeiten nur nach vorheriger Genehmigung durch die Friedhofsverwaltung erlaubt seien. Wer dieser Anweisung zuwiderhandle, sei es durch eine nicht genehmigte Form, oder die spätere Veränderung des genehmigten Grabmals, dem könne der Auftrag zur Änderung oder Entfernung erteilt werden, bei Untätigkeit wäre schließlich die Friedhofsverwaltung auch zum Abtragen berechtigt. Dem schriftlichen Auftrag zur Änderung und zur Herstellung einer äußeren Gestaltung, die weder ein Sicherheitsrisiko darstellt noch der Friedhofsordnung widerspricht, wurde im konkreten Fall bis jetzt noch nicht entsprochen; der weitere Weg in diesem Disput ist noch offen. Abgesehen von der Frage, ob die nun zu sehende Gestaltung des Grabmals dem Betrachter gefällt, ob es sich um ein Werk der Kunst handelt und damit eventuell eine Berufung auf die Freiheit der Kunst möglich ist, stellt sich die generelle Frage der Respektierung von Friedhofsordnungen und deren Qualität, wenn es um einen kirchlichen Friedhof geht. Die österreichischen Ländergesetze sehen, wie bereits aufgezeigt, zum Bestattungswesen vor, dass derjenige, der einen Friedhof betreibt, auch eine Friedhofsordnung zu erlassen und zu verlautbaren hat, was in der Regel durch Aushang geschieht. Von örtlichen Besonderheiten abgesehen, weisen alle Friedhofsordnungen große Übereinstimmungen auf, wenn es um Ausmaße, Art der Gräber, Sicherheitsfragen etc. geht, ebenso bei der Pflicht zur Anmeldung von Arbeiten an Grabstätten und Grabmälern, wobei die Gestaltung bewilligungspflichtig ist. Unterschiedlich kann geregelt sein, ob es Einschränkungen auf bestimmte Materialien, Formen und Symbole gibt. Jeder Friedhofsbetreiber erhält damit die Möglichkeit, das Verhalten auf seinem Gelände angemessen zu regeln und Verstöße dagegen mit Folgen zu verse29 Der Verweis auf Art. 139 B-VG betrifft allerdings nicht die Definition oder Qualität einer Verordnung, sondern die Befugnis des Verfassungsgerichtshofs zur Überprüfung und zu Erkenntnissen über deren Gesetzwidrigkeit.

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hen; das Interesse an geregelten Abläufen wird allen Arten von Friedhofsbetreibern zugestanden und ihnen daher die Regelungskompetenz durch das jeweilige Landesgesetz übertragen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Judikatur dem Gesetzgeber mit dieser Argumentation tatsächlich unterstellt, er habe beabsichtigt, die konfessionellen Friedhofsbetreiber schlechter zu stellen als die Betreiber von Kommunalfriedhöfen. Kann der Gesetzgeber vorsehen, dass nach dem jeweiligen Landesrecht konfessionelle wie kommunale Friedhöfe zwar jeweils eine eigene Friedhofsordnung haben müssen, deren Qualität aber so unterschiedlich angesehen wird, dass eine Kirche als Betreiber eines Friedhofs damit massiv schlechter gestellt wäre, weil man hier Gleiches nicht gleich behandelt bekommt, sondern die Verbindlichkeit der eigenen Friedhofsordnung deutlich herabgesetzt wäre? Diese Ungleichbehandlung widerspricht auch der Wertung von Regelungen im Bereich der inneren Angelegenheiten, nicht nur im Blick darauf, dass die meisten kirchlichen Friedhöfe bereits lange vor Kommunalfriedhöfen entstanden. Kirchliche Friedhöfe30 zu errichten und zu führen ist ein Recht der Kirche, vor allem für ihre eigenen Angehörigen, aber nicht mehr eine Pflicht – hier ergab sich eine Verschiebung unter anderem mit der Säkularisierung. Ein Blick in unser Nachbarland zeigt, dass in der Bundesrepublik Deutschland Kirchen kraft Anstaltsgewalt als Friedhofs-Rechtsträger auch verbindliche Friedhofsordnungen erlassen und Gebühren festsetzen können. Für Bayern dagegen wird das Friedhofswesen als res mixta bezeichnet, bei der der Staat eine teilweise Regelungskompetenz hat, und die Kirchen auch als Körperschaften öffentlichen Rechts keine Sonderstellung im Rechtsverkehr genießen, soweit kirchliche Einrichtungen und Handlungen Außenwirkung entfalten und deshalb auch die staatliche Rechtssphäre tangieren, wie dies bei Friedhofswesen, Versammlungswesen und Denkmalschutz der Fall ist. In Österreich dagegen sind nur die (verpflichtend einzurichtenden) Gemeindefriedhöfe als öffentlich-rechtliche Anstalten gewertet. Kirchliche Friedhöfe sind – mit den schon erwähnten Ausnahmen31 – den Mitgliedern vorbehalten und ihre Errichtung und Führung wird als bloß innerkirchliche Angelegenheit angesehen. Bestimmte staatliche Rechtsvorschriften sind jedoch einzuhalten, z. B. Regelungen aus dem Sanitätsrecht.32 Die Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg33 wurde rechtskonform erlassen und publiziert, regelt einen Bereich der inneren Angelegenheiten und bindet alle, die eine Beisetzung auf einem kirchlichen Friedhof wünschen.34 Berücksichtigt sind darin auch die landesrechtlichen Vorgaben, die das Landesrecht Salzburgs 30

Vgl. Gerhard Fahrnberger, Art. Friedhof, in: LexKR, Sp. 306 – 308. Vgl. oben unter III. 32 Vgl. Heimerl/Pree, VermR, 1/211. 33 Friedhofsordnung für die kirchlichen Friedhöfe der Erzdiözese Salzburg (Anm. 27). 34 Vgl. dazu Johann Hirnsperger, Statuten und Ordnungen, in: ÖAKR 34 (1991), S. 313 – 329, bes. S. 322. 31

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und Tirols vorgibt. Auch wenn die Erzdiözese Salzburg oder eine ihrer Pfarren nicht die Qualität einer Behörde für sich beansprucht, erfüllen sie mit der Erlassung und Publizierung einer Friedhofsordnung doch genau die Anforderungen des einschlägigen Landesgesetzes. Dass diesen Friedhofsordnungen dann nicht dieselbe Wirksamkeit zugemessen wird wie z. B. der Friedhofsordnung einer Gemeinde, die eventuell auch von einer Friedhofsverwaltung herausgegeben wird, ist in Frage zu stellen. Auch eine kommunale Friedhofsverwaltung ist kein Verwaltungsorgan im Sinn der Bundesverfassung. Erfüllt ist jeweils die Veröffentlichungspflicht. Kommt es hier nicht zu einer Grundsatzklärung und Anpassung, dann werden in der Regel völlig gleichartige Anordnungen über das Verhalten auf Friedhöfen, insbesondere bei der Arbeit an Gräbern, ohne sachlich stichhaltige Begründung unterschiedlich behandelt – im Fall der kommunalen Friedhöfe würde die Friedhofsordnung für alle ohne Weiteres gelten, wenn sie vom Bürgermeister erlassen wurde, weil sie damit die Qualität eines Bescheides hat; im Fall kirchlicher Friedhöfe müsste die Geltung der Friedhofsordnung dagegen mit jedem Grabnutzungsberechtigten einzeln vereinbart werden, da der kirchlichen Friedhofsverwaltung zwar durch das einschlägige Landesgesetz die Aufgabe und Kompetenz zukommt, eine Friedhofsordnung erlassen zu müssen, allerdings dieser dann in der Folge nicht die gleiche Qualität und Bindungswirkung zugemessen würde. Dieses Ergebnis wird weder den aktuellen Umständen in der Friedhofslandschaft noch der Absicht des Gesetzgebers wirklich gerecht. Abzuwarten bleibt, wie sich die offenen Fragen im konkreten Fall klären lassen; vielleicht stellt dies dann einen Beitrag zu einer generellen Klarstellung dar.

IV. Weitere aktuelle Ansatzpunkte für Abstimmungsfragen Neben diesen beiden durchaus in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Fragenkomplexen gibt es weitere Berührungspunkte und Überschneidungsbereiche zwischen kirchlichem und weltlichem Recht, die der Klärung und Harmonisierung bedürfen, um zu sachlich gerechten und richtigen Lösungen zu gelangen. Zu nennen ist hier die Besteuerung der Einkünfte und Vergütungen für Priester, gelegentlich auch der Diakone. Aus Sicht der Steuerberechnung wurde in den vergangenen Jahren die Vergütung der Priester zunehmend mehr dem Gehaltsverständnis anderer Angestellter, d. h. Laien, gleichgesetzt, wobei manche Begriffe im kirchlichen Sprachgebrauch auch ihren Beitrag dazu leisteten, wenn z. B. neben den Gehaltsordnungen für Laien und parallel dazu auch Gehaltsordnungen für Priester35 veröffentlicht werden. Dass damit ein Beitrag zur Verwässerung von unterschiedlichen Kategorien geleistet wird, fällt erst auf, wenn die Folgen in der Interpretation nicht-kirchlicher Ämter zum Tragen kommen. Das Verständnis des priesterlichen Dienstes wie ein 35 So auch im VOBl. der Erzdiözese Salzburg vom Dezember 2016, S. 116 f., in dem das „Gehaltsschema 2017 für Priester in der Erzdiözese Salzburg“ veröffentlicht wurde.

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„Angestelltenverhältnis“ nach zivilem Recht trifft die kirchliche Intention gar nicht und entspricht auch nicht der kirchenrechtlichen Begründung für das Verhältnis zwischen Bischof und Priestern.36 Das Konzept der Inkardination37 ist so ganz offensichtlich in keiner Weise mehr allgemein bekannt oder verständlich. In der Frage der Besteuerung der Sustentation der Kleriker38 ist mittlerweile eine Lösung in der Weise erreicht, dass sie einheitlich der Einkommenssteuer unterliegen. Trotzdem muss das Rechtsinstitut der Inkardination im Sinne der cc. 265 ff. CIC/ 1983 immer wieder angesprochen werden, da andere Fragen durchaus noch der Klärung bedürfen, z. B. für Absetzbeträge oder Sachbezüge etc. Die Inkardination und ihre Folgen müssen als Erklärung dafür verstanden werden, dass zwischen einem Kleriker und einem Bischof ein besonderes Band und eine klare beiderseitige Verpflichtung bestehen39 – es darf keinen Kleriker ohne Zugehörigkeit zu einer Teilkirche oder einer Personalprälatur oder einem Institut des geweihten Lebens oder einer Gesellschaft mit den entsprechenden Befugnissen geben (c. 265 CIC/1983). Die für alle Kleriker verpflichtende Eingliederung in einen geistlichen Heimatverbund, damit auch die Unterordnung unter einen Pastor proprius bzw. Ordinarius beginnt bereits mit der Diakonenweihe. Als Gegenleistung erlangt der Kleriker durch die Inkardination für die Verpflichtung zum geistlichen Dienst dann gewisse Rechte gegenüber dem inkardinierenden Bischof bzw. Ordinarius bezüglich der dienstlichen Verwendung, der personalen Betreuung, aber auch der wirtschaftlichen Versorgung,40 bei der die staatliche Steuerpflicht ansetzt. Durch einen möglichen Wechsel, d. h. eine Umkardination,41 ändert sich nur die Zuständigkeit der Behörden, bezogen auf den neuen Aufenthaltsort, nicht aber die Grundlage an sich.

36

Vgl. Hugo Schwendenwein, Die Zugehörigkeit zu einem geistlichen Heimatverband, in: HdbKathKR3, S. 342 – 354; ders., Die Rechte und Pflichten der Kleriker, in: HdbKathKR3, S. 355 – 371; weiters Christoph Ohly, Das Kirchenamt, in: HdbKathKR3, S. 234 – 251. 37 Vgl. Johannes Martetschläger, Art. Inkardination, in: LexKR, Sp. 410 f. 38 Heribert Schmitz, Die Sustentation der Kleriker, in: Hans Paarhammer (Hrsg.), Vermögensverwaltung in der Kirche. Administrator bonorum, oeconomus tamquam paterfamilias. FS Ritter (70), Thaur/Tirol 1988, S. 177 – 191; Peter Platen, Die Sustentation der Kleriker. Der Neuansatz in der Versorgung der Kleriker mit Blick auf ausgewählte Problemstellungen (= BzMK 24), Essen 2000. 39 Dies benennt das Kapitel über die Pflichten und Rechte der Kleriker (cc. 273 – 289 CIC/ 1983). 40 Vgl. dazu auch c. 281 CIC/1983 mit der Feststellung, dass der Kleriker, der sich dem kirchlichen Dienst widmet, eine seiner Stellung angemessene Vergütung verdient, und c. 1274 § 2 CIC/1983 mit der Verpflichtung der Bischofskonferenz, wenn es noch nicht eine angemessene Einrichtung für die soziale Sicherheit der Kleriker gäbe, eine Ordnung dafür zu erlassen; vgl. dazu Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 48 f. 41 Eine Umkardination ist möglich, allerdings nur bei Zustimmung beider betroffener Diözesanbischöfe (c. 268 § 1 CIC/1983), wenn nach rechtmäßigem Aufenthalt in einer anderen Diözese über fünf Jahre ein Antrag gestellt wird. Denkbar ist auch ein Verwaltungsakt, wenn ein gerechter Grund im Nutzen der Kirche bzw. im Wohl des Klerikers das begründet. Die Exkardination wird jedenfalls erst mit der Aufnahme in die neue Teilkirche wirksam.

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Auf die besondere Begründung dieser persönlichen Beziehung geht auch das Priesterdienstrecht der Erzdiözese Salzburg ein, in etwas anderer Form ebenso das neue Priesterdienstrecht der Erzdiözese Wien.42 Weitere Auslegungsdifferenzen finden sich immer noch zu Fragen des Kirchenaustritts. Seit 2010 besteht die Regelung der ÖBK zum sog. schwebenden Austritt, einer Überlegungsfrist von drei Monaten zwischen der Meldung des Austritts durch die zuständige staatliche Behörde und dem Eintrag in das Taufbuch des Austretenden. Überdenkt man den Austritt innerhalb offener Frist, dann wird der Austritt im Taufbuch nicht eingetragen und der Betreffende gilt für die Kirche – nach wie vor – als Mitglied der Kirche; für den Staat und die Statistik wird diese Abfolge dagegen als Austritt und als bald danach erfolgter Neuzugang bzw. als Rückkehr gezählt.43 Diese Regelung ist offenbar nicht überall klar oder einsichtig, wie eine aktuelle Frage vor einem Bezirksgericht zeigte, wobei seitens des Gerichts ein Widerruf des Austritts in einer mittlerweile auftretenden Streitfrage zum Kirchenbeitrag als rechtlich unerheblich qualifiziert wurde. Diese Einschätzung entspricht der geltenden Rechtslage jedoch nicht: Aus der einschlägigen Regelung, dem Gesetz über die interkonfessionellen Verhältnisse,44 geht klar hervor, dass die Frage der Aufnahme von Gläubigen und damit auch die Rückkehr, ausschließlich nach kirchlichem Recht zu regeln ist. Hier handelt es sich definitiv um eine innere Angelegenheit, die auch im Sinne des Art. 15 StGG45 jede Einmischung staatlicherseits ausschließt. Es bleibt bei der Divergenz der Sichtweisen: Kirchen müssen berücksichtigen, dass eine Abwendung von der eigenen Konfession und ein Austritt aus Gründen der religiösen Neutralität des Staates, der dem Bürger zugesteht, nicht einer Kirche zugehören zu müssen, rechtlich ermöglicht wurde,46 und trotzdem das eigene kirchliche Selbstverständnis über den character indelebilis (vgl. c. 849 CIC/1983) und damit die Unauslöschlichkeit der Taufe erhalten bleibt. Dies ist seitens beider Beteiligten zu beachten und zu achten, und sollte nicht zu zusätzlichen Fehlerquellen führen; eine entsprechende Kenntnis der Rechtslage muss daher vorausgesetzt werden.

42

Vgl. Priesterdienstrecht der Erzdiözese Salzburg, 27. 03. 2000, Sonderbeilage im VOBl. der Erzdiözese Salzburg 2000; und Priesterdienstrecht für die Erzdiözese Wien, in Kraft gesetzt mit 01. 01. 2017, in: DiözBl. Wien, 155 (1/2017), S. 1. 43 Vgl. Heft 10, Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz, 2010. 44 Gesetz vom 25. 05. 1868 über die interkonfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger, RGBl. 49/1868 i. d. g. F., §§ 4 ff. 45 Vgl. Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht (Anm. 1), RZ 1446 f. 46 Art. 14 StGG (Anm. 1); vgl. Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht (Anm. 1), RZ 1431 – 1436.

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V. Plädoyer für eine kirchenrechtliche Ausbildung Wir erleben eine Phase rapider Änderung des Wissensstandes von Juristen, da in der universitären Ausbildung von Juristen die Bedeutung des Kirchenrechts absolut in den Hintergrund getreten ist. Von Ausnahmen abgesehen kommt Kirchenrecht vielleicht in der Darstellung der Rechtsgeschichte und eventuell noch in der Rechtsphilosophie mit seiner Geschichte und Entwicklung vor. Auch an den Theologischen Fakultäten tritt das Kirchenrecht gegenüber anderen pastoral orientierten Disziplinen in den Hintergrund. Das Bestreben müsste sein, nicht an der falschen Stelle das akademische Angebot zu kürzen und Mittel für Forschung und Lehre, und damit für den Erwerb von Sachkompetenz, zu streichen. Von der gegenseitigen Beeinflussung von Kirche und Staat im Lauf der Entwicklung des Rechts im Bereich Österreichs wird im Regelfall nicht mehr viel zu hören sein. Eingehenderes Wissen für die Rechtsverhältnisse von Kirche(n) und ihren Gliederungen und Organisationen kann man so nicht mehr generell voraussetzen, dies muss jeweils erarbeitet werden. Diese Begriffsklärungen beinahe nur mehr nur durch die Judikatur zu betreiben, und nicht im Vorfeld, in der Ausbildung, kann für beide Seiten nicht erstrebenswert sein. Die hier nur beispielhaft aufgeführten Anfragen aus der Rechtspraxis machen eines deutlich: Um rechtskonform handeln zu können, brauchen beide Seiten, Zivil- und Kirchenjuristen, ein notwendiges Grundwissen, um die gesetzlichen Regelungen der jeweils anderen Seite zu verstehen. Umso wesentlicher ist, dass kirchliche Organisationen selbst auf korrekte Bezeichnungen, korrekte Darstellungen und vor allem korrekte Vorgangsweisen achten. Das Vermitteln des nötigen Wissens bleibt eine wesentliche und spannende Aufgabe an der Schnittstelle zwischen staatlichem und kirchlichem Recht. Deutlich gesagt, solides kirchenrechtliches Wissen fördert das rechtskonforme Handeln und bietet damit Sicherheit für die Handelnden und Betroffenen im Rechtsleben.

In der Welt, nicht von der Welt (Staats)Kirchenrechtliche Implikationen einer Entweltlichung der Kirche Von Stefan Mückl In der Welt, nicht von der Welt – auf diese kurze Formel lässt sich die Aussage Jesu Christi im Hohepriesterlichen Gebet1 bringen, wenn er von der Stellung seiner Jünger spricht. Unter ausdrücklicher Berufung auf diese Schriftstelle hat Papst Benedikt XVI. in der Freiburger Rede auf seiner Deutschlandreise im September 2011, gerichtet an „engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“, zu einer Entweltlichung aufgerufen: „Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. […] Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. […] [Es] ist […] wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen.“2

Jene Rede fand in nicht wenigen innerkirchlichen Kreisen Deutschlands eine bestenfalls verhaltene Aufnahme,3 nach den Worten eines Beobachters wurde sie „geistreich totgelobt, eifrig totgeschwiegen oder halsbrecherisch uminterpretiert“4. Speziell der Begriff Entweltlichung und das dahinter stehende Anliegen des Papstes wurden auch kirchenintern als „nicht hilfreich“ apostrophiert.5 Manche gar sahen die 1

Joh 17. Benedikt XVI., Ansprache an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft im Freiburger Konzerthaus (25. 09. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 674 – 679 (ebenso abgedruckt in: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [= VApSt 189], Bonn 2011, S. 145 – 151). 3 Repräsentativ sind die Beiträge in Jürgen Erbacher (Hrsg.), Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes (= Theologie kontrovers), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2012. 4 Paul Josef Cordes/Manfred Lütz, Benedikts Vermächtnis und Franziskus’ Auftrag: Entweltlichung. Eine Streitschrift, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013, S. 109. 5 Peter Neher, Für eine diakonische Kirche mitten unter den Menschen, in: Jürgen Erbacher (Hrsg.), Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes (= Theologie kontrovers), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2012, S. 47 – 60, hier S. 47 f.; Burkhard Kämper, Kirchensteuer, in: Hanno Kube/Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Ulrich Palm/Thomas 2

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„vom Zweiten Vatikanischen Konzil gewollte Öffnung auf die Welt hin“ grundsätzlich in Frage gestellt.6 Gut ein halbes Jahrhundert nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils besteht hinreichend Anlass des Rückblicks und der Vergewisserung wie der Bestandsaufnahme und des Ausblicks: Welche sind die Leitvorstellungen der Konzilsväter über das Verhältnis von Kirche und ziviler Gewalt? Vor welchem tatsächlichen Hintergrund sind diese Aussagen zu sehen? Wie hat sich die soziologische Situation der Kirche in den letzten 50 Jahren verändert? Welches könnten Anwendungsfelder für eine von Papst Benedikt angemahnte Entweltlichung sein? Die nachfolgenden Überlegungen sind in dankbarer Verbundenheit einem Kollegen gewidmet, der sich immer wieder den Wechselwirkungen zwischen Zweitem Vatikanischen Konzil und dem kanonischen Recht zugewandt hat7 und dabei auch die in Deutschland gewachsenen Beziehungen zwischen Kirche und Staat einzubeziehen verstanden hat.8

I. Zentrale Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Verhältnis Kirche – zivile Gewalt In seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ betont das Zweite Vatikanische Konzil die Unterschiedenheit von Kirche und politischer Gemeinschaft: Sie „sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“, mehr noch, die Kirche dürfe „in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden“. Unterschiedenheit bedeutet aber nicht Beziehungslosigkeit: Da beide – Kirche wie politische Gemeinschaft – „wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen“ dienen, sollen sie ein „rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen“. Sodann fährt der Konzilstext fort: „die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten Puhl/Christian Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. FS Kirchhof (70), 2. Bd., Heidelberg 2013, S. 2103 – 2114, hier S. 2113. 6 Vgl. Cordes/Lütz, Benedikts Vermächtnis und Franziskus’ Auftrag (Anm. 4), S. 24; ferner Franz-Xaver Kaufmann, Entweltlichte Kirche?, in: F.A.Z., Nr. 23 vom 24. 01. 2012, S. 11. 7 Ludger Müller, Codex und Konzil. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils als Kontext zur Interpretation kirchenrechtlicher Normen, in: AfkKR 169 (2000), S. 469 – 491; ders., Das Zweite Vatikanische Konzil und das Kirchenrecht, in: Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2012, S. 317 – 332. 8 Ludger Müller, Freiheit, Kooperation, Vielfalt. Prinzipien des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.), Berechtigte Hoffnung. Über die Möglichkeit, vernünftig und zugleich Christ zu sein, Paderborn 1995, S. 275 – 290.

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werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, daß durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern.“9

Der Verzicht nicht nur auf Privilegien – nach allgemeinem wie juristischem Sprachgebrauch: ein Vor- und Sonderrecht –, sondern auch auf legitim erworbene Rechte wird also gerade in jenem Konzilsdokument thematisiert, welches „die engste Verbundenheit der Kirche mit der ganzen Menschheitsfamilie“ bekundet.10 Die Motivation wird unzweideutig benannt: Das Primäre ist die Sendung der Kirche sowie die Lauterkeit ihrer Sendung. Materielle und sonstige Mittel haben eine ihr dienende Funktion, sind aber nicht Selbstzweck. Ganz ähnliche Überlegungen waren schon sieben Jahre zuvor geäußert worden – publiziert im Oktober 1958, also in jenem Monat, als Papst Pius XII. starb und niemand die Einberufung eines Ökumenischen Konzils für eine notwendige, geschweige denn wahrscheinliche, Maßnahme hielt. Zunächst wurde noch als Frage formuliert, ob es nicht anzustreben ist, dass die Kirche „auf die noch vorhandenen weltlichen Positionen rigoros verzichtet, um einen Scheinbesitz abzubauen, der sich mehr und mehr als gefährlich erweist, weil er der Wahrheit im Wege steht“. Im weiteren Verlauf der Überlegungen gelangte der Autor dann zu der nüchternen Schlussfolgerung: „Es wird der Kirche auf die Dauer nicht erspart bleiben, Stück um Stück von dem Schein ihrer Deckung mit der Welt abbauen zu müssen und wieder das zu werden, was sie ist: Gemeinschaft der Glaubenden. Tatsächlich wird ihre missionarische Kraft durch solche äußeren Verluste nur wachsen können.“11 Diese Passage entspricht nicht nur der dem zitierten Konzilstext zugrundeliegenden Motivation, sondern auch einer weiteren Passage der eingangs erwähnten Freiburger Rede: „Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“12

Die Übereinstimmung der beiden Texte, die im Abstand von über 50 Jahren entstanden – der Artikel von 1958 und der Freiburger Rede von 2011 – ist kein Zufall, stammen sie doch aus der Feder desselben Autors: Joseph Ratzinger, seinerzeit am Beginn einer brillanten akademischen Karriere, in Freiburg Papst Benedikt XVI.

9

Sämtliche Zitate: GS 76. GS 1. 11 Joseph Ratzinger, Die neuen Heiden und die Kirche, in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene (= JRGS 8/2), Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2010, S. 1143 – 1158, S. 1146 u. 1148 – 1149 (erstmals in: Hochland 51 [1958/59], S. 1 – 11). 12 Benedikt XVI., Ansprache an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft (Anm. 2), S. 677. 10

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II. Ausgangspunkt im Tatsächlichen: Die Situation der Kirche in Deutschland 1965 Auf einen ersten Blick konnte erstaunen, weshalb das Zweite Vatikanische Konzil vom Verzicht auf Privilegien und legitim erworbene Rechte sprach. Dem äußeren Anschein nach war die Lage der Kirche (Vergleichbares galt damals auch für den protestantischen Bereich) bestens: Immer noch besuchten, wenngleich mit leicht rückläufiger Tendenz, vier von zehn Katholiken regelmäßig die hl. Messe (in manchen Diözesen immer noch über die Hälfte). Jährlich wurden über 500 neue Priester geweiht. Es gab eine Fülle von Krankenhäusern, die von Orden geführt wurden und an denen zu zwei Dritteln auch Ordensangehörige tätig waren. Auch materiell hatte die Kirche wenig Anlass zur Sorge: Allein die Kirchensteuer, jenes typisch deutsche Finanzierungsinstrument, brachte jährliche Einnahmen von 1,2 Milliarden Deutscher Mark.13 Bei genauerem Zusehen war freilich auch schon damals erkennbar, dass die Fassade zwar noch intakt, doch die Substanz bereits brüchig geworden war. Ein scharfsinniger Beobachter registrierte 1965, also am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, „besonders in Deutschland […] eine allgemeine Tendenz zur bourgeoisen Restauration. […] Auch der deutsche Klerus ist davon nicht frei.“ Sodann beschrieb er einen bestimmten Typus von Klerikern: „die ein gutes Gehalt beziehen, im Grunde von einer recht dicken Kirchensteuer ziemlich komfortabel leben, sich als Landräte Gottes fühlen und dementsprechend gewiß dafür sorgen, daß ihre Kirche, besonders deren Fassade, in Ordnung ist, die aber vor allem darauf bedacht sind, daß ihr Einfluß an der Öffentlichkeit, ihre politische Machtposition aufrecht bleiben.“14 Die Philippika gipfelte in der Befürchtung, „zu bloßen Funktionären der Kirche [zu] werden, anstatt Männer zu sein, die etwas vom pneumatischen Enthusiasmus an sich haben.“15 Doch bereits 20 Jahre vor diesen Beobachtungen von Karl Rahner hatte ein anderer Jesuit, der 1945 nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler von den Nationalsozialisten hingerichtete P. Alfred Delp, nüchtern konstatiert: „Wir sind Missionsland geworden. Diese Erkenntnis muß vollzogen werden. […] Aus dieser Einsicht ergeben sich notwendige und natürliche Konsequenzen für Art, Stil und Takt der Arbeit.“16 Nahezu zeitgleich, 1943, hatte Henri Godin sein Buch „La France pays de mission?“ veröffentlicht. Knapp ein halbes Jahrhundert später zog dann auch das kirchliche Lehramt Bilanz. In der Enzyklika „Redemptoris missio“ aus dem Jahr 1990 stellte der hl. Papst Johannes Paul II. trocken fest: „Schon vor dem Konzil 13 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 1969, S. 75; Katholische Kirche in Deutschland. Statistische Daten 1999, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1999, S. 10 u. 27. 14 Karl Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch, München 1965, S. 70 f. 15 Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (Anm. 14), S. 79. 16 Alfred Delp, Gesammelte Schriften, 1. Bd., hrsg. v. Roman Bleistein, Frankfurt a. M. 1982, S. 280.

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sagte man von einigen […] christlichen Ländern, sie seien ,Missionsländer‘ geworden. Die Situation hat sich in den darauffolgenden Jahren sicher nicht verbessert.“17

III. Die aktuelle Situation 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Diese Feststellung des Papstes gilt auch nach 25 Jahren unverändert, mehr noch, sie hat sich hinsichtlich ihrer tatsächlichen Grundlage mehr als bewahrheitet.18 Heute, 50 Jahre nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils, besucht gerade noch einer von zehn in Deutschland wohnenden Katholiken (womit schon angedeutet sein mag, dass es sich nicht zwingend um Deutsche handelt!) sonntags die hl. Messe. Keine drei von zehn Katholiken schließen noch die kirchliche Ehe (gegenüber sieben von zehn vor 50 Jahren). In absoluten Zahlen in etwa konstant geblieben sind allein die kirchlichen Bestattungen, die zudem seit Anfang der 1970er Jahre durchweg über der Anzahl der Taufen liegen. Schon aus demographischen Gründen sinkt also die Zahl der Kirchenglieder. Hinzu kommt, dass jährlich ein mittlerweile signifikanter Teil der Kirchenglieder aus eigenem Entschluss sich von der Kirche abwendet: Die jährlichen Zahlen von Kirchenaustritten haben sich vervierfacht. Bis Ende der 1960er Jahre waren es etwa 25.000 pro Jahr, seit Beginn der 1990er Jahre liegt der Wert bei konstant über 100.000 (mit Spitzen, wie etwa 2013, bis nahezu 180.000). Auf der positiven Seite verbleiben Wiedereintritte in und Konversionen zur katholischen Kirche konstant im jeweils unteren vierstelligen Bereich (gleiches gilt für die Taufen von Erwachsenen). Mehr noch: Vor 50 Jahren konvertierten mehr Menschen zur katholischen Kirche als heute. Um schließlich das Bild abzurunden: Weniger als 100 Männer empfangen jährlich das Sakrament der Priesterweihe. Die Zahl der (Welt- und noch dramatischer: Ordens-)Priester sinkt kontinuierlich, aber deutlich langsamer als die Zahl der Kirchenglieder sowie insbesondere derjenigen unter ihnen, welche den Glauben auch tatsächlich praktizieren. Im Ergebnis hat ein Priester heute deutlich weniger Gläubige zu „versorgen“ als noch vor 50 Jahren. Die gängige Floskel vom Priestermangel ist falsch, es gibt einen Gläubigenmangel. Wer nun gehofft hatte, diese soeben in groben Strichen skizzierten Entwicklungen ließen sich kurzfristig aufhalten oder gar umkehren, sieht sich enttäuscht. Der in anderen Teilen der Kirche beobachtete „Franziskus-Faktor“ lässt sich für Deutschland jedenfalls statistisch nicht erhärten, die aktuellen Zahlen liegen im langfristigen Trend. Die von Papst Franziskus seit seiner Erhebung auf den päpstlichen Stuhl 17 Johannes Paul II., Enz. „Redemptoris Missio“ (07. 12. 1990), in: AAS 83 (1991), S. 249 – 340 (dt.: VApSt 100), Nr. 32. 18 Die folgenden Daten entstammen folgenden Quellen: Katholische Kirche in Deutschland 1999 (Anm. 13); Joachim Eicken/Ansgar Schmitz-Veltin, Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland. Statistische Anmerkungen zu Umfang und Ursachen des Mitgliederrückgangs in den beiden christlichen Volkskirchen, in: Wirtschaft und Statistik 6/2010, hrsg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2010, S. 576 – 589, hier S. 589.

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im März 2013 mit beharrlichem Engagement angemahnte Mission und (Neu-)Evangelisierung19 hat also in Deutschland noch erhebliche Anwendungsfelder, wohlgemerkt in der Praxis (einschlägige Dokumente der Bischofskonferenz oder einer ihrer Kommissionen gilt es selbstredend seit langem20).

IV. Anwendungsfelder für eine Entweltlichung der Kirche Was hat nun der dargelegte Befund mit dem Thema Entweltlichung zu tun? Das bisher Gesagte hat vor allem deutlich gemacht, dass die gesellschaftliche Lage in Deutschland mit dem Begriff Entkirchlichung gewiss nicht zu hart charakterisiert ist (jedenfalls spricht Papst Franziskus von einer „Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland“21). Daran wird man auch dann festhalten müssen, wenn man andere gesellschaftliche Realitäten vergleichsweise einbezieht und – wie die Deutsche Bischofskonferenz – darauf verweist, dass sich die Zahl der Gottesdienstbesucher „neben Teilnehmerzahlen sonstiger Veranstaltungen wie Sport oder Museumsbesuch sehen lassen“ könne.22 Bezieht man aber weitere Bereiche des kirchlichen Lebens ein, so erweist sich, dass die Kurve nicht durchweg konstant abwärts verläuft (nochmals: im Vergleich zu 1965 ein Viertel des Messbesuchs, ein Fünftel der Priesterweihen, die Hälfte an kirchlichen Eheschließungen). Vor allem auf zwei Gebieten verläuft die Entwicklung exakt in die entgegengesetzte Richtung: beim Geld sowie bei den kirchlichen Einrichtungen und damit bei den kirchlichen Bediensteten.

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Programmatisch Franziskus, Adh. Ap. „Evangelii gaudium“ (24. 11. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137 (dt.: VApSt 194). 20 Etwa: „Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 68), Bonn 2000; Missionarisch Kirche sein. Offene Kirchen – Brennende Kerzen – Deutende Worte“, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 72), Bonn 2003. 21 Franziskus, Ansprache an die Deutsche Bischofskonferenz zu ihrem Besuch „Ad limina Apostolorum“ (20. 11. 2015) (online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/ de/speeches/2015/november/documents/papa-francesco_20151120_ad-limina-rep-fed-germa nia.html [Stand: 14. 07. 2017]). Seine Einschätzung stützte der Papst auf folgende Zustandsbeschreibung: „Wo in den Sechziger Jahren noch weiträumig fast jeder zweite Gläubige regelmäßig sonntags zur heiligen Messe ging, sind es heute vielfach weniger als 10 %. Die Sakramente werden immer weniger in Anspruch genommen. Die Beichte ist vielfach verschwunden. Immer weniger Katholiken lassen sich firmen oder gehen das Sakrament der Ehe ein. Die Zahl der Berufungen für den Dienst des Priesters und für das gottgeweihte Leben haben drastisch abgenommen.“ 22 Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2015/2016, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 287), Bonn 2016, S. 47. Dieser Topos gehört (wortgleich) bereits seit Jahren zum Repertoire kirchlichen Selbstzuspruchs, s. nur Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2010/2011, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 249), Bonn 2011, S. 17.

(Staats)Kirchenrechtliche Implikationen einer Entweltlichung der Kirche

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1. Kirchensteuer Allein die Einnahmen der Kirche aus der Kirchensteuer sind in den vergangenen 50 Jahren explosionsartig angestiegen, 2015 auf 6,1 Milliarden Euro23 (und damit auf mehr als das Zehnfache des Wertes von 1965). Selbstredend sind damit nicht wenige positive Seiten verbunden: Die vorteilhafte finanzielle Lage der Kirche in Deutschland ermöglicht es ihr auch, als in vielfältiger Hinsicht aktiv und sozial engagiert aufzutreten sowie fördernd und unterstützend in der Welt zu wirken, auch jenseits der nationalen und geographischen Grenzen. Reichtum ist freilich, was schon Lebenserfahrung und mehr noch die Heilige Schrift lehren, ein durchaus ambivalentes Phänomen. Er kann der materiellen Sorgen und Nöte entheben oder sie doch lindern, freilich auch Haltungen des Sich-Verschließens und des Sich-Selbst-Genügens hervorrufen. So wenig sich eine schlichte Gleichung materiell arm = spirituell reich aufstellen lässt, so sehr bleiben doch das biblische Gleichnis von der armen Witwe, die „mehr hineingeworfen“ hat „als alle anderen“24, sowie Aussage in der Offenbarung des Johannes25 ein Stachel für eine materiell wohlsituierte Kirche. Auch eine solche muss sich immer wieder dessen vergewissern, dass letztlich die Finanzen eine dienende Funktion haben: Die entscheidende Frage lautet, wie die Kirche ihre Sendung erfüllen kann. Vor genau diesem Hintergrund ist der Aufruf von Papst Benedikt XVI. zur Entweltlichung zu verstehen. Noch deutlicher hat sich in zahlreichen Äußerungen Papst Franziskus geäußert: er wünsche sich eine „arme Kirche“26. Denn wenn die Kirche sich „ihrer Quantität rühmt, Organisationen und Behörden schafft und so ein wenig bürokratisch wird, dann verliert sie ihr eigentliches Wesen und läuft Gefahr, sich in eine NGO zu verwandeln“. Doch, so der Papst weiter, „die Kirche ist keine NGO, sie ist eine Geschichte der Liebe […]. Alles ist notwendig, auch die Behörden. Aber sie sind notwendig bis zu einem gewissen Punkt: als Hilfe für diese Geschichte der Liebe. Doch wenn die Organisation die erste Stelle einnimmt, verschwindet die Liebe, und die arme Kirche wird zur NGO.“27 Auf gleicher Linie liegt es, wenn der Papst Anfang Dezember 2014 die Schweizer Bischöfe bei ihrem Ad limina-Besuch ermahnt hatte, sich nicht von den Gütern dieser Welt anziehen zu lassen. Mit Blick auf die Schweizer Besonderheit der öffentlich-recht-

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Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2015/2016 (Anm. 22), S. 59. Lk 21,1 – 4. 25 Offb 2,8 – 11: „Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut; und doch bist du reich.“ 26 Franziskus, Audienz für die Medienvertreter (16. 03. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 379 – 381, hier S. 381. 27 Franziskus, Tagesmeditation im Domus Sanctae Marthae (24. 04. 2013), in: OR (I), Nr. 95 vom 24./25. 04. 2013. Diese Meditation wurde nicht auf Deutsch publiziert, da die deutsche Wochenausgabe des „Osservatore Romano“ nach ihren eigenen redaktionellen Kriterien von den (ursprünglich fünf, nunmehr vier) Tagesmeditationen nur jeweils zwei für die Veröffentlichung auswählt. 24

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lichen Körperschaften28, welche die (quantitativ mindestens auf deutschem Niveau anzusiedelnde) Kirchensteuer einziehen, unterstrich er wiederum den Konnex zwischen Entweltlichung und missionsfähiger und missionswilliger Kirche: „Wenn die Kirche vermeidet, von Einrichtungen abzuhängen, die durch wirtschaftliche Mittel einen Stil des Lebens auferlegen könnten, der wenig mit Christus, der arm wurde, kohärent ist, wird sie in ihren Strukturen das Evangelium besser sichtbar werden lassen.“29 In der Summe: So sehr finanzielle Mittel die Sendung der Kirche erleichtern (können), muss sie sich doch immer wieder neu ins Bewusstsein führen, dass ihr eigentlicher Schatz nicht in Einnahmen und Vermögen liegen, sondern darin, auf den Herrn zu vertrauen, der der Kirche seinen dauerhaften Beistand, auch im Materiellen, verheißen hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“30 2. Kirchliche Einrichtungen und Mitarbeiter Nicht minder staunenswert verlief in den vergangenen 50 Jahren das Wachstum bei den kirchlichen Einrichtungen im Sozial-, Erziehungs- und Bildungswesen, und dementsprechend bei den in diesen Einrichtungen beschäftigten Mitarbeitern. Nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz selbst sind „[m]it insgesamt etwa 1,2 Millionen Arbeitnehmern die katholische Kirche und die evangelischen Kirchen in Deutschland der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst“31. Die Aussage trifft freilich schon auf die katholische Kirche allein zu, welche nach eigenen Angaben rund 650.000 hauptamtliche Kräfte beschäftigt, davon fast 560.000 im weiten Bereich der Caritas. Zum Vergleich: Der größte deutsche Arbeitgeber in der Privatwirtschaft – die Edeka-Gruppe – beschäftigte 2016 knapp 350.000 Menschen. Die hohe kirchliche Präsenz in nahezu allen gesellschaftlich relevanten Bereichen ist als solche ein Positivum. Freilich gilt auch hier, dass sie Mittel, nicht aber (Selbst-) Zweck ist. Dass kirchliche Einrichtungen den Staat entlasten, der seinerseits Aufwendungen für eigene Einrichtungen spart, darf Folge des kirchlichen Engagements 28 Allgemein zur Situation in der Schweiz Libero Gerosa/Ludger Müller (Hrsg.), Katholische Kirche und Staat in der Schweiz, 2010; Bestandsaufnahme zu den Körperschaften bei Libero Gerosa (Hrsg.), Staatskirchenrechtliche Körperschaften im Dienst an der Sendung der Katholischen Kirche in der Schweiz, Wien 2014; Problemanzeige und Plädoyer für eine Reform bei Martin Grichting, Zur Reformbedürftigkeit des Schweizer Staatskirchenrechts, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. FS Pree (65) (= KST 65), Berlin 2015, S. 1123 – 1136; grundlegend und umfassend dazu bereits ders., Kirche oder Kirchenwesen? Zur Problematik des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Schweiz, dargestellt am Beispiel des Kantons Zürich, Freiburg/Ue. 1997. 29 Franziskus, Ansprache an die Bischöfe aus der Schweiz zu ihrem Besuch „Ad limina Apostolorum“ (01. 12. 2014), online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/ de/speeches/2014/december/documents/papa-francesco_20141201_ad-limina-svizzera.html (Stand: 24. 07. 2017). 30 Mt 28,20. 31 Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2015/2016 (Anm. 22), S. 41.

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sein, nicht aber ihre primäre Rechtfertigung. Diese muss immer darin bestehen, (in den Worten von „Gaudium et spes“) ihrer eigenen Sendung zu dienen und von der Lauterkeit ihres Zeugnisses zu künden. Eben diese Zielsetzung steht und fällt mit den Mitarbeitern, welche die Kirche beschäftigt. Was leitet und treibt sie, verrichten sie „einen Job“ oder widmen sie sich einem Dienst, nämlich (gesprochen mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht) „ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen“?32 Wenn nun aber seit Jahrzehnten die Zahl der Kirchenglieder insgesamt wie derjenigen unter ihnen, die ihren Glauben ernsthaft praktizieren, kontinuierlich sinkt, gleichzeitig aber die Zahl der kirchlichen Arbeitnehmer sprunghaft steigt, bedeutet das zwangsläufig, dass sich der Charakter der kirchlichen Einrichtungen verändern muss. Noch vor 50 Jahren konnte man für die zu besetzenden Stellen ohne größere Probleme der Kirche angehörende und mit ihr auch durch ihre Lebenspraxis verbundene Mitarbeiter finden: die katholische Krankenschwester, den katholischen Lehrer, die katholische Kindergärtnerin. Schon wenige Jahre später konnte man bestenfalls noch die formale Kirchengliedschaft voraussetzen, und wiederum wenig darauf auch dies nur noch bei den leitenden Mitarbeitern oder denjenigen, welche durch ihre Stellung und Aufgabe die Einrichtung in besonderer Weise prägen. Mittlerweile kann vielfach selbst dieses Minimalerfordernis nicht mehr durchgehalten werden. Der Träger steht vor einem Dilemma: Stellt er den fachlich am besten Qualifizierten ein, der aber nicht der Kirche angehört oder durch sein Leben und Verhalten zum Ausdruck bringt, dass seine Kirchenbindung eine reine formale ist, oder hingegen einen weniger Qualifizierten, der immerhin katholisch ist und dem äußeren Anschein nach in regulären ehelichen Verhältnissen lebt? Im letzten Fall steht die fachliche Qualität der Einrichtung auf dem Spiel, im ersten Fall ihre inhaltliche Ausrichtung.33 In keinem der Fälle aber ist der primären Zielsetzung wirklich gedient, die Sendung der Kirche (was bedeutet: mit einem vom Glauben getragenen Leitbild) in der Welt (d. h.: mit größtmöglicher Professionalität und fachlicher Kompetenz) zu bezeugen. Juristische Brisanz gewinnt die Frage dadurch, dass die Kirche sämtlichen Arbeitsverträgen in ihren Einrichtungen rechtsförmig verfasste Anforderungen im Hin32

Klassische Formulierung: BVerfGE 46, 73 (85). Zur Gewährleistung der inhaltlichen Ausrichtung kirchlicher Einrichtungen an der Sendung der Kirche hält das kanonische Recht die einschlägigen Mechanismen bereit: Lehrer an kirchlichen Schulen müssen sich durch „Rechtgläubigkeit und rechtschaffenen Lebenswandel“ auszeichnen (c. 803 § 2 CIC/1983; die gleichen Kriterien gelten gem. c. 804 § 2 CIC/ 1983 für sämtliche Religionslehrer), ebenso wird von den Dozenten an den katholischen sowie den kirchlichen Universitäten „Rechtgläubigkeit und untadeliges Leben“ gefordert (cc. 810 § 1 u. 818 CIC/1983). Nicht anders verhält es sich für den zahlenmäßig noch bedeutsameren Bereich der karitativen Dienste: Die dort tätigen Mitarbeiter müssen „die katholische Identität dieser Werke teilen oder zumindest respektieren“ und zudem „ein Beispiel christlicher Lebensführung geben“ (so Art. 7 §§ 1 – 2 des von Papst Benedikt XVI. erlassenen MP „Intima Ecclesiae natura“ (11. 11. 2012), in: AAS 104 (2012), S. 996 – 1004 (dt: VApSt 195). Einführend zum MP über die karitativen Dienste Vincenzo Buonomo, Una prima lettura del m.p. „Intima Ecclesiae Natura“ sul servizio della carità, in: Apoll 86 (2013), S. 99 – 123. 33

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blick auf Kirchengliedschaft, persönliche Lebensführung und allgemeine Loyalität zugrunde legt.34 Diese gehen in ihrer Reichweite über die im allgemeinen Arbeitsrecht wie auch in anderen Rechtsordnungen anerkannte Figur des „Tendenzbetriebs“35 deutlich hinaus. Trotz gelegentlicher Anfechtungen durch Instanzgerichte36 sowie die Politik hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,37 bestätigt durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,38 die kirchliche Praxis stets als Ausfluss des verfassungsgesetzlich verankerten Rechts der kirchlichen Selbstbestimmung angesehen. Dieses umfasst auch die arbeitsrechtliche Sanktion eines Verstoßes des Mitarbeiters gegen seine vertraglich übernommenen Obliegenheiten (klassisch: Wiederheirat nach ziviler Ehescheidung, neuerdings: Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft), notfalls bis hin zur Kündigung. Erst im Oktober 2014 hat das Bundesverfassungsgericht seine ständige Rechtsprechung anhand des Falles eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus, dem infolge seiner neuerlichen zivilen Eheschließung nach Ehescheidung die Kündigung ausgesprochen war, ausdrücklich und in vollem Umfang bestätigt.39 Damit hat die Kirche juristisch einen eindrucksvollen Sieg erstritten. Doch es hat den Anschein, als wolle sie ihn nicht (mehr). Mittlerweile hat die Deutsche Bischofskonferenz ihre Anforderungen im Hinblick auf Kirchengliedschaft, persönliche Lebensführung und allgemeine Loyalität deutlich abgesenkt, in Teilen ganz aufgegeben.40 Als Begründung wird inzwischen freimütig genannt, andernfalls sei es nicht mehr möglich, den Stellenbedarf zu decken, mit anderen Worten: es gebe nicht mehr in ausreichendem Maß praktizierende Katholiken, die dem Profil einer kirchlichen Einrichtung gerecht werden. Neu daran ist nicht der Sachverhalt als solcher, aber der Umstand, dass er offen ausgesprochen wird. 34

Die Einzelheiten sind normiert in der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ (i. d. F. v. 20. 06. 2011), abgedruckt in: Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 95 A), Bonn 2011, S. 18 – 26. 35 Gesetzliche Regelung in § 118 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes. Dem sind andere Rechtsordnungen gefolgt, so etwa in Gestalt der in der französischen Rechtslehre und Rechtsprechung rezipierten entreprise de tendance. 36 BAGE 45, 250; zuletzt BAGE 139, 144. 37 Zentral BVerfGE 70, 138. 38 EKMR, Entscheidung vom 06. 09. 1989, in: Décisions et Rapports 62, S. 151; aus jüngerer Zeit die Urteile des EGMR in den Rechtssachen Schüth (Urteil vom 23. 09. 2010, in: NZA 2011, 279), Obst (Urteil vom 23. 09. 2010, in: NZA 2011, 279) und Siebenhaar (Urteil vom 03. 02. 2011, in: NZA 2012, S. 199; in ausdrücklicher Bestätigung von BVerfG, in: NJW 2002, S. 2771). 39 BVerfGE 137, 273. 40 Für die Einzelheiten s. die am 27. 04. 2015 durch Mehrheitsbeschluss neu gefasste „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“, abgedruckt in: Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, 4., völlig überarbeitete Neuauflage, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 95 A), Bonn 2015, S. 18 – 28.

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Damit stellt sich nun in aller Deutlichkeit die Frage, was die Kirche mit ihren Einrichtungen bezweckt, worin der Mehrwert eines kirchlichen Krankenhauses, einer kirchlichen Schule oder eines kirchlichen Kindergarten bestehen soll. Eine inhaltliche Prägung wird schließlich nicht durch den Träger, sondern durch die konkreten Personen vermittelt, die in der jeweiligen Einrichtung tätig sind. Folgerichtig wäre es im Sinne einer Entweltlichung, nur mehr in dem Umfang Einrichtungen vorzuhalten, die auch tatsächlich – dann aber konsequent – mit Mitarbeitern besetzt werden können, welche in ihrer Person die inhaltliche Ausrichtung im Sinne des kirchlichen Zeugnisses verbürgen. Von den anderen Einrichtungen müsste sie sich trennen. Gewiss: Es würde vergleichsweise wenige Einrichtungen übrigbleiben. Doch gerade diese könnten dann um so kraftvoller und überzeugungsstärker bezeugen, worin die Sendung der Kirche besteht und worin sich glaubensinspiriertes und -geleitetes Handeln ab- und hervorhebt. Es geht, wie Papst Benedikt in der Freiburger Rede, ausdrücklich hervorgehoben hat, „natürlich nicht [darum], sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil“. Denn so würde die Kirche tatsächlich wirken, nämlich in die Tiefe; all ihr Mühen würde nicht mehr in der Breite versickern.

V. Ausblick Die beiden gewählten Referenzgebiete Finanzen und kirchliche Einrichtungen – es gäbe noch weit mehr Beispiele – mögen aufgezeigt haben, was eine Entweltlichung für die Kirche in Deutschland konkret bedeuten könnte. Allerdings wäre es bei weitem zu kurz gegriffen, wollte man annehmen, strukturell-organisatorische Maßnahmen allein wären bereits das Allheilmittel. Entweltlichung betrifft nach dem Verständnis von Papst Benedikt (wie auch der anderen genannten Referenzen) in erster Linie die Einstellung der Personen, nicht das Agieren der Institutionen. Gerade hier liegt ein zentraler Aspekt der Kontinuität zum aktuellen Pontifikat mit seinen Leitbegriffen Hinausgehen und Mission. Was der Terminus im Kern bedeutet, wohl für Papst Benedikt wie für Papst Franziskus, hat Kardinal Kurt Koch in folgende Worte gefasst: „Entweltlichung heißt zuerst und zutiefst, wieder neu zu entdecken, dass Christentum im Kern Glaube an Gott und das Leben einer persönlichen Beziehung mit ihm ist und daß alles andere daraus folgt. Da neue Evangelisierung im Kern darin besteht, Gott zu den Menschen zu bringen und sie in eine persönliche Gottesbeziehung hinein zu begleiten, sind Neuevangelisierung und Entweltlichung zwei Seiten derselben Medaille.“41

41 Kurt Koch, Entweltlichung und andere Versuche, das Christliche zu retten, Augsburg 2012, S. 27.

Auslegung von Gesetzen im Kirchenrecht Ein rechtshistorischer und antekanonistischer Beitrag zur Debatte Von Thomas Schüller

I. Problemlage Ludger Müller hat sich nicht nur im Kontext seines Habilitationsverfahrens mit grundlegenden rechtstheoretischen Erwägungen zur kodikarischen Theorie der Norminterpretation befasst,1 sondern sich auch in aktuelle Debatten um die Verhältnisbestimmung von kirchlichem Gesetzbuch und II. Vatikanum2 eingeschaltet,3 in deren Hintergrund auch immer interpretationstheoretische Überlegungen eine Rolle spielen. Im Unterschied zu den weltlichen Rechtswissenschaften wird in der Kanonistik mehrheitlich die Debatte über unterschiedliche Methoden der Auslegung von Gesetzestexten anhand von c. 17 CIC/19834 geführt und nicht im Bereich der Rechtstheorie.5 Der päpstliche Gesetzgeber gibt selbst vor, „wie Gesetze auszulegen sind und wie viel ein Auslegungsergebnis gilt.“6 Dieses streng am Gesetzeswortlaut ausgerichtete Interpretationsverständnis wird von den Vertretern einer eher rechtspositivistisch bestimmten Normtheorie (Norbert Lüdecke und Georg Bier) besonders hervorgehoben, weil allein deren strenge Beachtung zu wahrscheinlich richtigen Auslegungsergebnissen führe. Die Vertreter der entgegengesetzten Auslegungsmethode orientieren sich an der von Otto Hermann Pesch konzipierten Methode zur 1 Vgl. Ludger Müller, Authentische Interpretation – Auslegung kirchlicher Gesetze oder Rechtsfortbildung?, in: AfkKR 164 (1995), S. 353 – 375. 2 Vgl. Judith Hahn, Kirchenrecht und II. Vatikanum. Kanonistische Diskurse im Spiegel des Konzilsjubiläums, in: ThRv 111 (2015), S. 265 – 280. 3 Vgl. Ludger Müller, Codex und Konzil. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils als Kontext zur Interpretation kirchenrechtlicher Normen, in: AfkKR 169 (2000) S. 469 – 491. 4 C. 17 CIC/1983: „Kirchliche Gesetze sind zu verstehen gemäß der eigenen Bedeutung ihrer Worte, die im Text und Kontext zu betrachten ist; wenn sie zweifelhaft und dunkel bleibt, ist zurückzugreifen auf Parallelstellen, wenn es solche gibt, auf Zweck und Umstände des Gesetzes und auf die Absicht des Gesetzgebers.“ 5 Zur Notwendigkeit einer kirchlichen Rechtstheorie vgl. Helmuth Pree, Kirchenrechtstheorie als eigenständige kanonistische Grundlagendisziplin, in: AfkKR 178 (2009), S. 52 – 67. 6 Norbert Lüdecke/Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, Stuttgart 2012, S. 31.

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Thomas Schüller

Auslegung der Texte des II. Vatikanums:7 Es gelte nicht das geschriebene Wort, sondern was eben nicht im Text explizit gesagt werde, aber implizit die Mehrheit des Konzils gemeint habe. Man beruft sich auf den Geist des Konzils8. In dieser Debatte über den Wortlaut des Normtextes auf der einen Seite und den Geist des Konzils auf der anderen Seite kann auf beiden Seiten eine bestimmte Art von Rechtspositivismus9 festgestellt werden: Die rechtstheoretischen bzw. antekanonistischen Überlegungen werden weitestgehend ausgeblendet, der Geltungsgrund des Gesetzes und die Konzeption eines Gesetzes werden nicht hinterfragt. Dabei droht die Gefahr, einerseits den Willen des Gesetzgebers in der Form der Doktrin oder andererseits den Geist des Konzils als absolut zu setzen. Beide Varianten sind weder in der praktischen Anwendung der Gesetze noch auf der wissenschaftlichen Ebene der Jurisprudenz zulässig, da der Kanonist das Gesetz nicht nur anwenden, sondern auch verstehen soll. Für die Frage nach der Auslegungsmethode ist die Auslegungsform zu berücksichtigen. Bartolus de Saxoferrato (1313 – 1357)10 entwickelte am Ende des 13. Jahrhunderts im Kontext der Kommentierung der wiederentdeckten Digesten die drei Grundformen der Auslegung: die authentische, die usuale und die doktrinelle Interpretation.11 Diese drei Grundformen sind bezüglich ihres Geltungsanspruches zu unterscheiden. Auf das Kanonische Recht angewendet kann die authentische Interpretation gemäß c. 16 CIC/1983 nur durch den Gesetzgeber oder von ihm Bevollmächtigte erfolgen und hat unter Umständen Gesetzesrang. Die usuale Interpretation bezieht sich auf Entscheidungen der Autorität im Einzelfall, also richterliche Urteile oder Verwaltungsdekrete, die nur für ihn Geltung beanspruchen. Die doktrinelle Interpretation erfolgt durch die Kanonisten und kann nur auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente bauen und hat zunächst keine rechtliche Verbindlichkeit. Sie folgt dem Grundsatz „tantum valet quantum probat.“12 Jedoch kann die doktrinelle Interpretation mit Verweis auf die probates auctores für Gesetzeslücken eine rechtliche Verbindlichkeit gemäß c. 19 CIC/1983 erhalten, in dem auf die gemeinsame und ständige Ansicht der Rechtsgelehrten verwiesen wird. Diese doktrinelle Auslegungsform ist der wesentliche Gegenstand der folgenden Ausführungen.

7 Vgl. Bernd J. Hilberath, Kontinuität oder Bruch? Für eine angemessene Hermeneutik des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: HK Spezial 50/2 (2012), S. 5 – 9. 8 Vgl. Winfried Schulz, Der „Geist des Konzils“ als Interpretationsmaxime der kanonischen Rechtsordnung, in: Apoll 55 (1982), S. 449 – 460. 9 S. zum Begriff Rechtspositivismus: Michael Moxter, Die Kirche und ihr Recht. Perspektiven einer theologischen Annäherung an den Rechtspositivismus, in: ZevKR 56 (2011), S. 113 – 139. 10 Zur Person s. Thomas Henkelmann, Art. Bartolus de Saxoferrato, in: LexMa 1, Sp. 1500 – 1502. 11 Vgl. Stephan Meder, Rechtsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 20145, S. 206. 12 Vgl. Georg May/Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 194.

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II. Geltende Rechtslage – Normen, die verstehen und auslegen helfen Im ersten Buch des CIC/1983 findet man verschiedene Normen, die die Interpretation kirchenrechtlicher Gesetze regeln. Es beginnt mit c. 6 § 2 CIC/198313, der als lex specialis zu den cc. 17 – 19 CIC/1983 „zugleich geltungstheoretisch das geltende Recht mit dem alten Recht in Verbindung setzt.“14 Dieser wird fortgeführt mit c. 16 CIC/198315, welcher von der authentischen Gesetzesauslegung16 handelt und mit den bereits angesprochenen Auslegungsregeln in c. 17 CIC/198317 und c. 18 CIC/1983 (enge Auslegung in Strafsachen) sowie c. 19 CIC/1983 (Ausfüllung von Gesetzeslücken) abgeschlossen wird. Im weiteren Sinne kann man noch c. 27 CIC/1983, der davon spricht, dass die Gewohnheit die beste Auslegerin des Gesetzes sei, zu diesem Normenkomplex hinzurechnen. Damit bietet der Gesetzgeber ein ganzes Tableau von Auslegungsmethoden, die helfen sollen, den Sinn eines Gesetzes zu verstehen. Für unseren Zusammenhang der antekanonistischen Voraussetzungen und der rechtshistorischen Rekonstruktion konzentrieren wir uns auf die Auslegungsmethoden im engeren Sinn, die c. 17 CIC/1983 auflistet. Er basiert auf c. 18 CIC/1917 und ist mit nur einer Veränderung im Normwortlaut gegenüber dem CIC/1917 in das Gesetzbuch von 1983 übernom13 C. 6 § 2 CIC/1983: „Die Canones dieses Codex sind, soweit sie altes Recht wiedergeben, auch unter Berücksichtigung der kanonischen Tradition zu würdigen.“ 14 Thomas Schüller, Optima regula interpretationis iuris?! C. 6 § 2 CIC und die Interpretation kirchlicher Rechtsnormen in der Spannung von geltendem Recht und traditio canonica, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. FS Pree (65) (= KST 65), Berlin 2015, S. 131 – 150, hier S. 133. 15 C. 16 CIC/1983: „§ 1 Gesetze interpretiert authentisch der Gesetzgeber und derjenige, dem von diesem die Vollmacht zur authentischen Auslegung übertragen worden ist. § 2 Die nach Art eines Gesetzes erfolgte authentische Auslegung hat dieselbe Rechtskraft wie das Gesetz selbst und muss promulgiert werden; wenn sie nur in sich klare Worte eines Gesetzes erläutert, gilt sie rückwirkend; wenn sie ein Gesetz einschränkt oder erweitert oder ein zweifelhaftes Gesetz erklärt, gilt sie nicht rückwirkend. § 3 Eine Auslegung aber nach Art eines Gerichtsurteils oder eines Verwaltungsaktes in einem Einzelfall hat nicht die Kraft eines Gesetzes und bindet nur die Personen und betrifft nur die Sachen, für die gegeben worden ist.“ 16 Vgl. Rosalio J. Castillo Lara, Die authentische Auslegung des Kanonischen Rechtes im Rahmen der Tätigkeit der Päpstlichen Kommission für die Authentische Interpretation des Ius Canonicum, in: ÖAKR 37 (1987/88), S. 209 – 228; Franz Kalde, Gesetzgebungstechnische Anmerkungen zu den authentischen Interpretationen „per modum legis“ zum CIC, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hrsg.), Iuri canonico promovendo. FS Schmitz (65), Regensburg 1994, S. 253 – 272; John M. Huels, Classifying Authentic Interpretations of Canon Law, in: Jurist 72 (2012), S. 605 – 640. 17 Vgl. Hubert Socha, c. 17, in: MK CIC (Stand: Februar 2012); vgl. auch Mattias Jestaedt, Auslegung nach kanonischem Recht, in: Christoph Grabenwarter/Norbert Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht. Ergebnisse eines interdisziplinären Seminars (= FKRW 33), Würzburg 2002, S. 100 – 116; Bernd Th. Drößler, Bemerkungen zur Interpretationstheorie des CIC/1983, in: AfkKR 153 (1984), S. 3 – 34 (ein Beitrag, der bis heute unübertroffen die innere Logik der kodikarischen Interpretationsnormen darlegt!).

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men worden. Diese Änderung betrifft die Streichung des Wortes Codicis, welches im CIC/1917 der exakteren Bestimmung der locos parallelos diente. In der ersten Sessio des Coetus studiorum de normis generalibus vom 24.–27. Mai 1966 schlägt ein Konsultor vor, den Passus ad locos Codicis parallelos um die Worte ad alias leges ecclesiasticas, de eadem materia, si quae sint zu ergänzen.18 Dies wäre eine Präzision der Auslegungsmethode gewesen. Die Mehrheit der Konsultoren lehnt diesen Vorschlag jedoch zugunsten der Verständlichkeit des Normtextes ab und der Zusatz Codicis wird gestrichen.19 Nach der weltkirchlichen Konsultation zu den Schemata von 1977 tagt der Coetus studiorum de normis generalibus erneut vom 07.–11. Mai 1979. Der Sekretär Castillo Lara schlägt vor, das Wort Codicis wieder einzufügen. Der achte Konsultor schlägt alternativ vor, das Wort iuris einzufügen.20 Ohne Angabe von Gründen stimmen die Konsultoren für den Verbleib des Textes in der Form des Schemas von 1977.21 Für die Frage nach der Interpretation allgemein ist der Vorschlag eines Konsultors in der ersten Sessio von 1966 zu beachten, der gerne alle Quellen und Prinzipien der Interpretation gemäß dem Recht in c. 18 Schema NormGen (1977) nennen möchte, auch wenn diese subsidiär sind.22 Wiederum mit dem Argument der Verständlichkeit des Normtextes wird dieser Vorschlag abgelehnt. Aus diesem Vorschlag ist jedoch zu erkennen, dass die Aufzählung der Auslegungsmethoden in c. 17 CIC/1983 nicht taxativ ist. Weiterhin spricht die Äußerung des Konsultors für das Verständnis der Auslegungsmethoden in c. 17 CIC/1983 im Konditionalsatz für ihren sekundären Charakter. In Bezug auf die Kanonisten, die eine Auslegung im Geist des Konzils präferieren, ist der Vorschlag des achten Konsultors in der Sessio vom 07.–11. Mai 1979 heranzuziehen, hinter legislatoris die Worte servata aequitate canonica einzufügen.23 Der erste und siebte Konsultor wenden sich gegen diesen Vorschlag, da es nicht um die Gesetzgebung, sondern die Interpretation von Gesetzen gehe und deswegen ein Verweis auf die aequitas canonica nicht sachgerecht sei.24 Analog zum Argument des ersten und siebten Konsultors ist gegenüber den oben genannten Vertretern festzustellen, dass die Gesetzgebung im Geist des Konzils steht, aber dies noch nicht rechtstheoretisch ausreicht, den Geist des Konzils einfachhin als Interpretationsmethode heranzuziehen. 18

Vgl. Com 16 (1984), S. 150. Vgl. Com 16 (1984), S. 150: „Contra eosdem plerique, scilicet alii omnes, aestimant textum esse clarum et optimumet servandum esse.“ 20 Vgl. Com 23 (1991), S. 157. 21 Vgl. Com 23 (1991), S. 157. 22 Vgl. Com 16 (1984), S. 150. 23 Vgl. Com 23 (1991), S. 157. 24 Vgl. Com 23 (1991), S. 157; zum Gesetzgeber als Adressaten der aequitas canonica vgl. Thomas Schüller, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie (= FKRW 14), Würzburg 1993. 19

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Der Dissens in der deutschsprachigen Kirchenrechtswissenschaft besteht schon bei der Auslegung der in c. 17 CIC/1983 vorgegebenen Interpretationsmethoden. Die Grundsatzfrage25 ist, ob der grammatikalisch-logischen Auslegung der Vorrang zukommt und somit nur, wenn diese Interpretation zu zweifelhaften und unklaren Ergebnissen führt, die weiteren Interpretationsmethoden subsidiär zur Anwendung kommen können. Während mehrheitlich die These vom methodischen Gefälle vertreten wird,26 „wächst aber unter den Kommentatoren die aus der Tradition, Reflexion und persönlichen Erfahrung gewonnene Einsicht, dass die in c. 17 CIC/1983 gewählte Ausdrucksweise lediglich ein sprachliches Stilmittel bildet: Alle hier erwähnten Verstehenshilfen sind – unbeschadet der fundamentalen Bedeutung des Gesetzeswortlautes (Satz 1) – weder inhaltlich noch zeitlich strikt voneinander trennbar, sondern miteinander verwoben.“27 Neben Hans Heimerl und Helmuth Pree28 haben auch Myriam Wijlens29 und Severin Lederhilger30, um nur einige zu nennen, in jüngerer Zeit diese These vertreten. Heimerl und Pree bringen die entscheidenden Argumente gegen die vermeintlich hermeneutisch naiv anmutende Vorstellung, in der Regel sei der Normtext klar und es reiche aus, die Bedeutung nach Text und Kontext zu ermitteln, wie folgt auf den Punkt: Dem ist aber entgegenzuhalten: „(1) Die significatio propria kann bereits eine mehrfache sein, nämlich eine etymologische, eine umgangssprachliche, eine juristische. (2) Auch wenn sie die einzige wäre, müßte sie nicht zwingend die vom Gesetzgeber beabsichtigte Bedeutung sein. (3) Auch wenn die significatio propria klar ist, kann Bedeutung und Sinn des Gesetzes unklar bleiben. (4) Eine uneigentliche (impropria) Bedeutung kann sich aus dem Textzusammenhang zwingend nahelegen; das wurde auch in der Lehre vor dem CIC 1917 aufgrund der genannten sekundären Kriterien anerkannt.“31 Dieser rechtssprachliche Einwand kann mit dem Verweis auf den Passus textu et contextu kritisch hinterfragt werden. Der lateinische Begriff contextus enthält die Bedeutung Zusammenhang und weist den kirchlichen Juristen an, die Begriffe und den Text der Canones im Zusammenhang des Gesetzbuches bzw. seiner Unterteilungen zu verstehen. Der Zusammenhang kann durch Legaldefinitionen hergestellt werden. 25

Vgl. Hubert Socha, c. 17, Rdnr. 7, in: MK CIC (Stand: Februar 2012). Vgl. für viele Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 182 – 183: „Wenn der Wortlaut klar ist, so ist bei ihm stehen zu bleiben; […] Wenn die Grundregel nicht zu einem vollen Verständnis des Gesetzes führt, stehen verschiedene Aushilfsregeln allgemeiner und besonderer Art zur Verfügung, um den Willen des Gesetzgebers zu erforschen.“ 27 Hubert Socha, c. 17, Rdnr. 7, in: MK CIC (Stand: Februar 2012). 28 Vgl. Heimerl/Pree, KR, S. 44. 29 Vgl. Myriam Wijlens, Das II. Vatikanum als Fundament für die Anwendung des Rechtes. Hermeneutische Reflexionen und praktische Konsequenzen, in: ThGgw 50 (2007), S. 2 – 14, hier S. 13. 30 Vgl. Severin Lederhilger, Repetition oder Innovation? Bemerkungen zu Interpretationsgrundsätzen für den CIC/1983, in: AfkKR 172 (2003), S. 58 – 83, bes. S. 73 – 75. 31 Heimerl/Pree, KR, S. 44. 26

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Z. B. bildet das fünfte Buch des CIC/1983 einen Zusammenhang, in dem das Wort ecclesiae jedwede öffentliche juristische Person in der Kirche bezeichnet. Außerhalb des fünften Buchs kann der Begriff ecclesiae etwas anderes bedeuten und ist entsprechend auszulegen. Das Kanonische Recht insgesamt bildet den Zusammenhang der Jurisprudenz.32 Die Aufgabe der Wissenschaft vom Kanonischen Recht ist es, die spezifische juristische Bedeutung eines Wortes zu erschließen. Der Gesetzgeber intendiert, weil er Recht erlässt, keine umgangssprachliche Bedeutung der Worte im Normtext. Andernfalls hätte der Gesetzgeber kein Recht erlassen wollen. Isidor von Sevilla verweist in seinen Etymologien zum Wort lex auf die Herleitung von legere, denn jedes Gesetz sei niedergeschrieben und damit ein manifestierter Wille.33 Aus der Definition Isidors ist zu schließen, dass der Gesetzgeber stets den Willen hat, ein Gesetz zu erlassen und daher auch die Rechtssprache benutzen wird und deswegen die Worte eines Gesetzes immer im Zusammenhang der Jurisprudenz zu verstehen sind. Mit Ludwig Wittgenstein ausgedrückt kann man also sagen: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“34 Die Kanonistik bildet diesem Diktum zufolge eine eigene Sprachgemeinschaft. Ein Beleg für die Sprachgemeinschaft Kanonisches Recht sind die Wörterbücher zu den Gesetzbüchern.35 Hermeneutisch ist zu Gesetzestexten festzuhalten, dass erstens Gesetze unter veränderten Umständen auf neue Lesarten der Gerichte und Verwaltung im Sinne der von der Gesetzgebung gewollten Regelungsziele angelegt sind. Zweitens steuert der judikative und administrative Anwender und auch der Jurist bei jeder Rechtsanwendung einen eigenen Anteil bei, der nicht im Gesetz enthalten ist. Drittens setzt die korrekte Anwendung eines Gesetzes voraus, dass der Jurist die Frage oder Problemlage verstanden hat, die das Gesetz bei der Entstehung regeln sollte.36 Der Jurist bzw. Kanonist ist im Vollzug dieser drei hermeneutischen Schritte jedoch niemals ganz frei, sondern an den Text des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG gebunden. Der Kanonist ist an c. 17 CIC/1983 und die kirchliche Lehre gebunden. Die sprachliche Bindung des Kanonisten erschließt sich aus den Worten textu et contextu, die lehrmäßige Bindung erschließt sich wiederum aus c. 218 CIC/1983 als Spezialnorm zu c. 212 CIC/1983. Festzuhalten ist, dass die primäre Methode der Ermittlung des Wortsinnes mit Hilfe philologischer Untersuchungen der erste Schritt einer jeden Interpretation 32 Vgl. zur Bedeutung der Jurisprudenz als Wissenschaft des Berufsstandes der Juristen im Römischen Recht und darauf allgemein abgeleitet Wolfgang Kunkel/Martin Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, Wien/Köln/Weimar 200514, S. 163 f. 33 Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae 5,3. 34 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 43, in: ders., Werkausgabe, 1. Bd., Frankfurt a. M. 1984. 35 Zum Gesetzbuch von 1917 vgl. Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München 1927; zum Gesetzbuch von 1983 vgl. beispielhaft für viele: Javier Otaduy/Antonio Viana/Joaquín Sedano (Hrsg.), Diccionario General de Derecho Canónico, Cizur Menor 2012. 36 Vgl. Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, München 20158, S. 111.

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ist. Damit ist zunächst allein der Normtext der Gegenstand der Auslegung, der in c. 17 CIC/1983 selbst als in textu et contextu beschrieben wird. Damit sind als Text die einzelnen Worte, Satzteile und das gesamte Satzgefüge eines Gesetzes gemeint, während der Kontext den größeren Gesamtrahmen meint, in dem das konkret auszulegende Gesetz steht.37 Die Einzelschritte dieser grammatisch-logischen Interpretationsmethode38 sind Einzelwortauslegung, Beschreibung syntaktischer, semantischer und sonstiger grammatikalischer Eigenarten des Gesetzestextes. In einem nächsten Schritt werden die weiteren subsidiären, in c. 17 CIC/1983 genannten Interpretationsmethoden erläutert. Der Verweis auf Parallelstellen, der durch den Wegfall auf die ausschließliche Beziehung auf kodikarische Normen auf alle anderen kirchenrechtlichen Normen ausgeweitet wurde, kann als systematische Interpretation verstanden werden. In ihren methodischen Einzelschritten setzt sie sich aus der „1. Einordnung eines Gesetzes in die Gesamtrahmenordnung des kirchlichen Gesetzbuches; 2. Einbeziehung grundlegender Rechtsprinzipien der Rechtsordnung sowie Einbindung an tragende Grundwertungen der Rechtsordnung“ und „3. Vergleich der zur Interpretation anstehenden kirchenrechtlichen Norm mit zum gleichen Rechtskreis vorhandenen Gesetzen“39 auseinander. Die nächsten drei in c. 17 CIC/1983 aufgeführten Interpretationsschritte – Zweck und Umstände, Absicht des Gesetzgebers – werden von nicht wenigen Autoren unter dem Stichwort historische Auslegung abgehandelt. Dafür spricht, dass diese drei Ansätze tatsächlich intendieren, die geschichtlichen Umstände der Entstehung einer kirchenrechtlichen Norm zu rekonstruieren, um zu einem besseren Normverständnis zu gelangen. Dennoch sind es unterschiedliche Ansätze, die in ihren Tiefendimensionen verschiedene Aspekte umfassen. So setzt die Suche nach der mens legislatoris genaue Kenntnisse der sog. „normativen Leitgedanken“40 des Gesetzgebers voraus, bei der beim CIC/1983 auf jeden Fall dort, wo es offenkundig ist – vor allem im Buch Volk Gottes – auch die entsprechenden lehramtlichen Texte des II. Vatikanums heranzuziehen sind. Von daher spricht man auch von genetischer Methode,41 da die Genese, die Entstehung einer kirchenrechtlichen Norm zurückverfolgt und analysiert wird.

III. Die antekanonistischen Voraussetzungen Fundamental für das Verständnis des Kanonischen Rechts ist das Verhältnis der Kirche bzw. Ekklesiologie zum kirchlichen Recht. „Aus der Ekklesiologie, also 37 38

S. 9. 39

Vgl. May/Egler, Einführung (Anm. 12), S. 202. Vgl. Schüller, Barmherzigkeit (Anm. 24), S. 226; Drößler, Bemerkungen (Anm. 17),

Schüller, Barmherzigkeit (Anm. 24), S. 228. Heimerl/Pree, KR, S. 44. 41 Vgl. Drößler, Bemerkungen (Anm. 17), S. 9 und Hubert Müller, Barmherzigkeit in der Rechtsordnung der Kirche?, in: AfkKR 159 (1990), S. 353 – 367, hier S. 365. 40

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dem Kirchenbegriff, ergibt sich der Kirchenrechtsbegriff […].“42 Unausgesprochen, aber wirkmächtig wird dies bei Markus Graulich deutlich, wenn er in einer Rezension Lüdecke und Bier ein veraltetes Kirchenbild vorwirft.43 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, ob das Gesetzbuch von 1983 das Kirchenbild der mehrheitlichen Interpretation des II. Vatikanums durch die Theologie oder das noch zu eruierende Kirchenbild des Gesetzgebers voraussetzt. Folgt man den Ausführungen Johannes Neumanns in seinem kirchenrechtlichen Lehrbuch von 1982, ist das Kirchenbild des Gesetzgebers von 1983 der Ekklesiologie des CIC/1917 treu geblieben.44 Hier soll nicht die Debatte um die Rezeption des II. Vaticanums ausführlich dargelegt werden, sondern die Bedeutung des Kirchenbegriffs für den Kirchenrechtsbegriff hervorgehoben werden. In der weltlichen Rechtswissenschaft wird eine Kodifikation als eine Matrix normativen Wissens, deren beide Seiten, Gesetzesrecht und System, sich gegenseitig stabilisieren, verstanden.45 Demzufolge ist das Kanonische Recht nicht nur in eine eigene Sprachgemeinschaft einzuordnen, sondern in ein eigenes Rechtssystem. Dieses System setzt sich nicht nur aus den leges zusammen, sondern auch aus dem entsprechenden ius, welches die Grundsätze der Kanonistik, wie etwa die Prinzipien zur Codexreform von 198346, enthält. Die Debatte um die Definition des Begriffs Recht (ius) kann im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht dargelegt werden. Der Definition des Rechts als Summe der geltenden Normen47 wird in dem Sinn für die Kanonistik widersprochen, denn m. E. ist die Summe der geltenden Normen um die Prinzipien des Rechts und das theologische Lehrgebäude zu ergänzen. Die zweite antekanonistische Voraussetzung ist das leicht abgewandelte Diktum Hans Barions: „auctoritas non veritas facit legem.“48 Keineswegs ist mit diesem Grundsatz ein unkritischer Kadavergehorsam gegenüber dem Lehramt unter Ablegung des Gewandes der Wissenschaft gemeint. Vielmehr geht es um den Charakter der Gesetze bzw. der Gesetzgebung. Die Autorität manifestiert ihren Willen in der Form eines Gesetzes. Papst Johannes Paul II. als Inhaber dieser Autorität beschreibt 42

Thomas Neumann, Konzil, System und Recht – Die Perpetuierung der hierarchischen Verfassung in der Ekklesiologie des Ordo Concilii Oecumenici Vaticani II Celebrandi, in: AHC 45 (2013), S. 83 – 114, hier bes. S. 86 mit weiteren Belegen. 43 Vgl. Markus Graulich, Rezension zu: Norbert Lüdecke/Georg Bier, Einführung in das römisch-katholische Kirchenrecht, Stuttgart 2012, in: ThQ 162 (2014), S. 213. 44 Vgl. Johannes Neumann, Grundriss des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1982, S. XVI. 45 Vgl. Inge Kroppenberg, Art. Kodifikation, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRGdigital), online verfügbar unter: https://www.hrgdigital.de/.download/_sid/HFFB998048-kDj9/pdf/kodifi kation.pdf (Stand: 20. 04. 2017). 46 Vgl. Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, Città del Vaticano 1963. 47 Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Anm. 36), S. 34. 48 Vgl. Hans Barion, Die gegenwärtige Lage von der Wissenschaft vom katholischen Kirchenrecht, in: ders., Kirche und Kirchenrecht. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Werner Böckenförde, Paderborn/München/Wien 1984, S. 341 – 403, hier S. 348 f.

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diesen Vorgang in der Apostolischen Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ zur Promulgation des CIC/1983 wie folgt: „Ja dieser Codex kann gewissermaßen als ein großes Bemühen aufgefasst werden, eben diese Lehre, nämlich die konziliare Ekklesiologie, in die kanonistische Sprache zu übersetzen. Auch wenn es unmöglich ist, das in der Lehre des Konzils beschriebene Bild der Kirche erschöpfend in die kanonistische Sprache zu übertragen, so muß doch der Codex sich immer auf dieses Bild wie auf ein vorrangiges Beispiel beziehen, dessen Züge er soweit wie möglich gemäß seiner Natur ausdrücken muß.“49 Der Papst selbst konstatiert die Unmöglichkeit einer erschöpfenden rechtssprachlichen Abbildung des Kirchenbildes und damit auch des Willens des Gesetzgebers als Kristallisationspunkt dieses Kirchenbildes. Die Autorität, die menschlich ist, und nicht die göttliche Wahrheit erlässt die Gesetze. Auf rechtstheoretischer Ebene hält Johannes Neumann hierzu fest: „Weil das Recht stets der Anwendung und das sittliche Gebot der Konkretion durch die gesetzliche Norm bedürfen, beides aber durch Menschen geschehen muß, ist jedes menschliche Recht ebenso wie seine Anwendung unvollkommen und kann sich – als positive Norm – nicht auf unwandelbare Grundsätze oder immerwährende Gebote berufen.“50 Die dritte antekanonistische Voraussetzung betrifft die Wahl der Auslegungstheorie. In den Rechtswissenschaften wird zwischen den beiden bekanntesten Auslegungstheorien, der voluntativen bzw. subjektiven und der gesetzesimmanenten bzw. sog. objektiven Theorie unterschieden.51 Gemäß der voluntativen Theorie geht es bei der Interpretation von Gesetzen darum, den Willen des Gesetzgebers zu rekonstruieren. Die sog. objektive Theorie löst das Gesetz vom Willen des Gesetzgebers und postuliert einen eigenen gesetzesimmanenten Sinn, der aus den Worten des Gesetzes geschlossen werden kann. Der kritische Blick auf die sog. objektive Theorie deckt ihre Mängel auf: Erstens kann ein Gesetz als manifestierter Wille des Gesetzgebers keinen eigenen von seiner Entstehung losgelösten Willen haben. Zweitens ist die Objektivität eine Chimäre, da der Wille des Rechtsanwenders bzw. Interpreten zum bestimmenden Element des Gesetzes wird. Drittens suggeriert die Chimäre der Objektivität, dass unter Anwendung dieser Theorie richtige bzw. wahre Ergebnisse erzielt werden könnten. Gegen diese Auffassung von durch Auslegung erzeugten Wahrheiten wendet sich der „Vater des Rechtspositivismus“ Hans Kelsen: „In der Anwendung des Rechts […] verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechts mit dem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“52 Auf das System des Kanonischen Rechts übertragen scheint m. E. die sog. objektive Theorie durch die Kodifikationsprozesse von 1917 und 1983 präferiert zu wer49 Johannes Paul II., ApK „Sacrae disciplinae leges“ (25. 01. 1983), in: AAS 75/2 (1983), S. VII – XIV. 50 Vgl. Neumann, Grundriss (Anm. 44), S. 13. 51 Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Anm. 36), S. 483 ff. 52 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 19602 (ND 1992), S. 351.

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den. Zweifelsohne hat die Kodifikation des Kanonischen Rechts die Gesetze von dem Willen des Gesetzgebers gelöst, der eine bestimmte Situation regeln wollte. Die Gesetze erscheinen nun als eine philosophisch-konzeptuelle Abstraktion mit allgemeiner Gültigkeit für möglichst viele Anwendungsfälle.53 Dies ist der alte nicht realisierbare Juristentraum von einem Gesetzeswerk, das das Recht abschließend regelt.54 Hinter der Objektivität verbirgt sich die Präferenz für eine kirchliche Doktrin, auf der einen Seite der Geist des Konzils und auf der anderen Seite die re-hierarchisierte Ekklesiologie in der Rezeptionsphase des II. Vatikanums. Beide vermeintlich objektiven ,Maßstäbe‘ der Interpretation ignorieren den voluntativen Charakter der Gesetze. Der Anlass für den Erlass eines Gesetzes ist immer eine soziale Situation als Triebfeder des gesetzgeberischen Willens, den die Situation betreffenden Sachverhalt zu regeln.55 Folglich ist ein Gesetz voluntativ auf die soziale Triebfeder ausgerichtet und nicht die Bestätigung oder Perpetuierung einer bestimmten durch den Rechtsanwender präferierten Doktrin des Systems. Die primäre Bindung des Kanonisten an den Text und Kontext des Gesetzes gemäß c. 17 CIC/1983 vermeidet die absolute Willkür des Rechtsanwenders und bindet ihn an den Text, um dem oben beschriebenen Willen des Gesetzgebers zu folgen. Aus diesem Grund ist die grammatisch-logische Auslegungsmethode primär gegenüber den in c. 17 CIC/1983 genannten weiteren sekundären Auslegungsmethoden.

IV. Der rechtshistorische Beitrag zur Interpretationsdebatte Gemäß der dritten antekanonistischen Voraussetzung ist die soziale Triebfeder für den Erlass eines Gesetzes conditio sine qua non für die Rekonstruktion des Willens des Gesetzgebers. Dies evoziert die Frage nach der Auslegung von Gesetzen vor der Kodifikation, also den rechtshistorischen Grundlagen der Interpretation von Gesetzen. In der annotierten Ausgabe des CIC/1917 werden für c. 18 CIC/1917 vier Quellen56 angegeben, von denen eine aus dem „Decretum Gratiani“ stammt, eine weitere aus dem „Liber extra“. Weiterhin wird auf ein Schreiben von Papst Eugen IV. und

53 Vgl. zur philosophischen Abstraktion des Kanonischen Rechts durch dessen Kodifikation: Stephan Kuttner, The Code of Canon law in Historical Perspective, in: Jurist 28 (1968), S. 129 – 148, hier S. 140. 54 Vgl. Kroppenberg, Art. Kodifikation (Anm. 45). 55 Vgl. Kuttner, The Code of Canon law in Historical Perspective (Anm. 53), S. 140; zum historischen Ansatz für die Auslegung von Gesetzen vgl. die Ausführungen Thomas Neumann, Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist – Die Lehre Papst Leos XIII. der potestas papae in temporalibus im Spannungsfeld zwischen kirchlicher Tradition und staatsrechtlicher Moderne des 19. Jahrhunderts (Manuskript der noch unveröffentlichten Dissertation 2017). 56 Hier relevant ist C. XXII, q. 5 c. 11 und Lib. Extra, V, 40, c. 6 u. 8; zitiert wird der Corpus Iuris Canonici nach der Edition von Friedberg: Corpus Iuris Canonici, bearb. v. Aemilius Friedberg/Emil Ludwig Richter, Leipzig 1881 (ND Graz 1955).

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eine Anweisung der Propaganda Fide verwiesen, die allerdings für den hier diskutierten Zusammenhang keine relevanten Aussagen enthalten.57 Gratian behandelt in C. XXII, q. 5, cap. 11 nicht direkt die Frage der Auslegung von Gesetzen, sondern den Zusammenhang zwischen dem Willen und dem gesprochenen Wort. Er konstruiert den Fall, dass jemand einen Meineid auf einen Stein und nicht auf das Evangelium schwört. Letztendlich kommt er zu dem Ergebnis, dass nicht der Sinn der Worte, sondern die hinter den Worten verborgene Intention entscheidend ist.58 In die gleiche Richtung weisen die beiden Stellen im „Liber Extra“, die auf die Autorität des Hilarius’59 und Papst Gregors I. (540 – 604)60 verweisen und auf die Intention hinter den Worten abstellen. Beide vermeintlich relevanten Stellen aus den Quellenangaben zu c. 18 CIC/1917 weisen keinen direkten Bezug zur Frage der Auslegungsmethode von Gesetzen auf. Der Verweis aller drei Quellen auf die Intention der Worte gibt lediglich den Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers als entscheidenden Aspekt für die Interpretation von Gesetzen. Folglich scheint in der Kanonistik die subjektive bzw. voluntative Auslegungstheorie präferiert zu werden. Weiterhin ist die Ablehnung gegenüber der starren Wortlautauslegung aufgrund der eigenen Bedeutung der Worte ein Hinweis auf eine Problematik des vorklassischen Römischen Rechts, den sog. Pontifikalen Rigorismus. Der Pontifikale Rigorismus ist eine unter dem XII-Tafelgesetz bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. angewandte Auslegungsmethode der Spruchformelklagen. Die Spruchformelklage – eine schriftlich fixierte archaisch-rituelle Gesetzesform – gab den römischen Bürgern die Möglichkeit, ihre Streitsache vor Gericht verhandeln zu lassen. Es kommt dabei jedoch auf die genaue Wortwahl an. So wird z. B. die Klage abgelehnt, wenn jemand wegen der Beschädigung seiner Weinstöcke klagt, im Gesetz aber das Wort Baum verwendet wird.61 Diese Praxis steht gegen die in 57

Es geht dabei um die Frage, ob in Missionsgebieten die Missionare erlauben können, dass die Einheimischen Statuen von einem dort lokal verehrten Drachen (sic!) in der Kirche aufstellen können und ob die bereits Bekehrten dann weiterhin mit Wilden zusammenleben dürfen. Die Kongregation ist sehr strikt hinsichtlich „Skulpturen oder Gemälden, welche Drachen, fremdartige Vögel oder Darstellungen von Reptilien“ zeigen, verweist aber sonst auf die bekannten Prinzipien „Odia sunt restringenda, favores ampliandi.“ 58 C. XXIII, q. 5 c. 11: „Certe nouerit ille, qui intentionem et uoluntatem alterius uariis uerbis explicat, qui non debet aliquis uerba considerare, sed uoluntatem et intentionem, quia non debet intentio uerbis deseruire, sed uerba intentioni.“ 59 X, V., 40, c. 6: „Intelligentia dictorum ex causis est assumenda dicendi, quia non sermoni res, sed rei est sermo subiectus.“ 60 X, V., 40, c. 8: „Propterea, si prolixam epistolam meam ad interpretandum accipere te fortasse contigerit, rogo, non verbum ex verbo, sed sensum ex sensu transferri, quia plerumque, dum proprietas verborum attenditur, sensus veritatis amittitur.“ 61 Vgl. Ulrich Manthe, Geschichte des Römischen Rechts, München 20165, S. 58; hier gibt Manthe folgende Episode aus den Institutionen des Gaius wieder (institutiones 4,11): „Daher wurde ein Rechtsgutachten erteilt, daß jemand, der wegen abgehauener Weinstöcke geklagt und dabei in der Klage ,Weinstöcke‘ gesagt hatte, seinen Prozeß verloren habe, weil er sie hätte ,Bäume‘ nennen müssen, denn im XII-Tafelgesetz, aus welchem ihm die Klage wegen der abgehauenen Weinstöcke zustehe, sei allgemein von ,abgehauenen Bäumen‘ die Rede.“

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den kanonistischen Quellen präferierte voluntative Auslegungstheorie und verdeutlicht zugleich ihren Sinn. Weitere Erkenntnisse bezüglich der Auslegungsmethoden können aus den Quellen des Kanonischen Rechts nicht gewonnen werden. Vor der ersten Kodifikation des Kanonischen Rechts herrschte ein anderes Rechtssystem, das Fallrecht, das andere Auslegungsmethoden erforderte als die grammatisch-logische, systemische oder historisch-genetische Methode. Die wesentliche Frage der Kanonistik vor der Kodifikation ist der Umgang mit sich widersprechenden Autoritäten. Die Differenz zwischen Autoritäten wird zumeist zugunsten der höheren Autorität aufgelöst. Eine Hermeneutik der kanonistischen Methode findet sich in Ansätzen im Prolog Ivo von Chartres. Hervorzuheben ist Ivo von Chartres Feststellung, dass die caritas (Liebe) das erste Auslegungsprinzip allen Rechts sein muss.62 Neben den behandelten rechtshistorischen Hinweisen finden sich die Auslegung leitende Rechtsprinzipien in den „Regulae iuris“ Papst Bonifaz’ VIII. (1235 – 1303), die nicht sekundär, sondern bei der grammatisch-logischen Interpretation hinzuzuziehen sind. Prägnant lautet die 88. Regel: „Certum est quod is committit in lege, qui legis verbum complectens, contra legis nititur voluntatem.“63 Papst Bonifaz VIII. geht hier nicht nur von der voluntativen Deutung der Gesetze aus, sondern unterstellt demjenigen, der nur die Worte berücksichtigt, ein rechtswidriges Handeln. Zur weiteren Präzision der grammatisch-logischen Auslegungsmethode könnte etwa die 34. Regel herangezogen werden, dass das spezielle Gesetz dem allgemeinen Gesetz vorzuziehen ist.64 Insgesamt können die Regulae Iuris als Rechtsprinzipien die Auslegung von Gesetzen erleichtern. Sie sind keine allgemeinen Rechtsprinzipien wie etwa die aequitas canonica, die der Gesetzgeber bei der Gesetzgebung zu beachten hat, sondern dem Kanonischen Recht immanente hermeneutische Prinzipien, ohne die eine adäquate Auslegung nicht erfolgen kann.

V. Fazit Dieser kleine Beitrag sollte aufzeigen, dass in den oft kontroversen Diskussionen um die richtige Art der Interpretation von kirchenrechtlichen Normen zu selten rechtstheoretisch und rechtsgeschichtlich die Grundlagen erarbeitet werden. Viele strittige Fragestellungen könnten so einer stimmigen Lösung zugeführt werden.

62 Vgl. Christof Rolker, Ivo of Chartres’ Pastoral Canon Law, in: Bulletin for Medieval Canon Law 25 (2002/03), S. 114 – 145. 63 VI, regulae iuris, 88. 64 Vgl. VI, regulae iuris 34: „Generi per speciem derogatur.“

Die Terminologie der kirchlichen Gesetzbücher Versuch einer Bestandsaufnahme zur kirchlichen Rechtssprache des CIC und des CCEO Von Klaus Zeller Die Beschäftigung mit der kirchlichen Rechtssprache ist für Ludger Müller, dem diese Festschrift gewidmet ist, ein zentrales Anliegen in seinem wissenschaftlichen Forschen und Lehren.1 Dabei wird ihm immer wieder, sobald er auf „Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici“ von Klaus Mörsdorf als ein nach wie vor unverzichtbares Hilfsmittel zurückgreift, das Desiderat nach einer Fortschreibung dieses Standardwerkes auf der Grundlage des CIC/1983, aber auch des CCEO bewußt. Das Faktum, daß es ein solches Nachfolgewerk bislang noch nicht gibt, läßt ansatzweise erahnen, daß es sich bei einem solchen Vorhaben um ein in verschiedener Hinsicht nicht leicht zu bewältigendes Unterfangen handeln dürfte. Das Thema kirchliche Rechtssprache umgreift sowohl die lateinische Ausgangssprache als auch deren äquivalente fachsprachliche Übertragung in die (deutsche) Zielsprache.2 Das rechtssprachliche Interesse des Festschriftempfängers aufgreifend, soll mit diesem Beitrag nun zumindest einmal der Versuch einer Bestandsaufnahme unternommen werden, wie es gegenwärtig um die Erforschung der kirchlichen Rechtssprache, wie sie in den geltenden Gesetzbüchern vorliegt, bestellt ist. Jüngst hat Helmuth Pree angemerkt, daß die „Theorie der Rechtssprache […] seit längerem vernachlässigt“ werde, wiewohl es dabei „aber um nicht unbedeutendere Probleme“ gehe, „als z. B. die Anforderungen an die Rechtssprache (etwa hinsichtlich Einheitlichkeit und Bestimmtheit); […] Fragen der Unbestimmtheit der Rechtssprache […]; authentische Sprache und Übersetzungen; spezifische Probleme der Übersetzung rechtlicher Texte; das Verhältnis der rechtlichen zur theologischen Sprache im kanonischen Recht […].“3 1 Vgl. Ludger Müller, Kirchenrecht – Vergewisserung und Neuorientierung in einer Zeit des Umbruchs, in: Johann Reikerstorfer/Martin Jäggle (Hrsg.), Vorwärtserinnerungen. 625 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Göttingen 2009, S. 173 – 193, hier S. 189 f.; ders., Die „Münchener Schule“. Charakteristika und wissenschaftliches Anliegen, in: AfkKR 166 (1997), S. 85 – 118, hier S. 93 f. 2 Vgl. Art. Übersetzung, in: Hadumod Bußmann (Hrsg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 20084, S. 758 f. 3 Helmuth Pree, Theorie des kanonischen Rechts, in: HdbKathKR3, S. 59 – 69, hier S. 67.

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Ganz allgemein ist ein kurzer Blick zunächst auf den Zusammenhang von Recht und Sprache (I.) zu richten, sodann die Bedeutung der lateinischen Sprache für das Kirchenrecht und deren terminologische Transformierung in eine deutsche Rechtssprache (II.) zu skizzieren und schließlich der gegenwärtige Forschungsstand (III.) auf dem Gebiet der kirchlichen Rechtssprache zu beschreiben.

I. Der Zusammenhang von Recht und Sprache Mit Paul Kirchhof ist davon auszugehen, daß das, was Recht ist, „zwar stets erkennbar, jedoch nicht immer sprachlich gefaßt sein“ muß.4 Immerhin gibt es auch so etwas wie nonverbales Recht, das durch „Gesten, Gebärden und Symbole“ zum Ausdruck gebracht werden kann.5 Die Grenzen solcher Rechtsmanifestationen sind aber allzu offenkundig, weshalb schnell deutlich wird, daß das Recht im wesentlichen „in der Sprache und durch die Sprache“ lebt.6 So ist die Sprache das Medium, in welchem sich das Recht als Gedankeninhalt objektiviert,7 um nach außen hin wirksam werden zu können. Reinhold Zippelius hält fest, daß „erst die Einkleidung in Worte“ rechtliche „Vorstellungen mitteilbar [macht] und […] ihnen eine feste Gestalt [gibt], die auch im Interesse der Rechtssicherheit liegt.“8 Ähnlich formuliert es Stephan Haering, daß „ohne Sprache […] rechtliche Begriffe und Tatsachen nicht vermittelt werden“ können.9 Ferner weist er darauf hin, daß, vom Gewohnheitsrecht einmal abgesehen, „Recht unmittelbar im Wort erzeugt“ wird.10 Das zeigt sich regelmäßig in Sprechakten wie in den vom Gesetzgeber formulierten Rechtssätzen, in der richterlichen Rechtsprechung sowie in sprachlich gefaßten Verwaltungsentscheiden.11 Haering verdeutlicht den Zusammenhang von Recht und Sprache anschaulich am Beispiel von rechtlichen Ausdrücken „wie Anspruch, Einspruch, Einrede, Verabredung“, mit denen subjektive Rechte oder Vertragsinhalte verbalisiert werden.12 Die seit frühester Zeit nachweisbare Bindung des Rechts an das Medium der Sprache13 verdichtet sich sodann in dessen Literalisie4

Paul Kirchhof, Deutsche Sprache, in: HStR 1, S. 753, Rdnr. 21. Kirchhof, Deutsche Sprache (Anm. 4), S. 753, Rdnr. 21. 6 Kirchhof, Deutsche Sprache (Anm. 4), S. 753, Rdnr. 19. 7 Vgl. Jürgen Weitzel, Schriftlichkeit und Recht, in: Hartmut Günther/Otto Ludwig (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung (= HSK 10.1), Berlin/New York 1994, S. 610 – 619, hier S. 611; vgl. Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, München 201211, S. 15; Stephan Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht, in: Seminarium 43 (2003), S. 237 – 256, hier S. 238 f. 8 Zippelius, Juristische Methodenlehre (Anm. 7), S. 15. 9 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 238. 10 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 238. 11 Vgl. Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 238. 12 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 238. 13 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Art. Rechtssprache. II. Rechtshistorisches, in: RGA2 24, S. 271. 5

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rung. Nach den Forschungsergebnissen zu den frühchristlichen Kirchenordnungen reichen die Anfänge der Literalisierung kirchenrechtlich relevanter Texte „vor allem“ in die „neutestamentlichen Schriften“ zurück, „welche die Anlage der ganzen kirchlichen Rechtsentwicklung enthalten.“14 Peter Bruns konstatiert, daß hieraus „zumindest hinsichtlich der obersten Normen […] die Kenntnis der juristischen Natur der Kirche, ihrer Verfassung, des Sakramentenrechtes und des Strafrechtes aus dem N[euen] T[estament] zu schöpfen“ ist.15 Spätestens seit den frühchristlichen Kirchenordnungen kann die Kirche auf eine „schriftliche Rechtskultur“16 zurückblicken. Somit besteht zwischen Recht und Sprache bzw. Schrift ein genereller, „funktional bedingter Konnex“17. Im Gegensatz zum mündlich praktizierten bzw. ungeschriebenen Recht gewährleistet das verschriftete Recht vor allem auf Dauer jenes hohe Maß an „Exaktheit im Sinne wörtlicher Genauigkeit“, wie sie für eine „konsistente Rechtskodifikation“ unabdingbar ist.18 Diese Erkenntnis gilt ohne weiteres auch für das kanonische Recht, denn das Kirchenrecht bedient sich wie jede Rechtsordnung „des sprachlichen Mediums, um ihre Regelungen zu formulieren. Dieses Medium der Kirche und ihrer Rechtsordnung ist die lateinische Sprache.“19

14 Peter Bruns, Frühchristliche Kirchenordnungen als Quellen des Kirchenrechts, in: Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. FS Hierold (= KST 53), Berlin 2007, S. 3 – 16, hier S. 4; vgl. auch Johannes Mühlsteiger, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung (= KST 50), Berlin 2006, S. 7. 15 Bruns, Frühchristliche Kirchenordnungen als Quellen des Kirchenrechts (Anm. 14), S. 4 f.; vgl. Onorato Bucci, Gesù il legislatore. Un contributo alla formazione del patrimonio storico-giuridico della Chiesa nel I millennio cristiano. Con un saggio introduttivo di Velasio De Paolis e alcune puntualizzazioni di Romano Penna, Città del Vaticano 2011; Ludger Müller, Das kanonische Recht zu Beginn des dritten Jahrtausends, in: AfkKR 170 (2001), S. 353 – 382, hier S. 355. 16 Peter Landau, Die Kirche als Vermittlerin schriftlichen Rechts, in: Gerhard Dilcher/EvaMaria Distler (Hrsg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, Berlin 2006, S. 219 – 221. 17 Ingo Warnke, Recht und Schrift. Zum rekursiven Bedingungsverhältnis von Literalität und juridischem Diskurs, in: Kirsten Adamzik/Gerd Antos/Eva Maria Jakobs (Hrsg.), Domänen- und kulturspezifisches Schreiben, Frankfurt a. M. 1997, S. 223 – 238, hier S. 230. 18 Warnke, Recht und Schrift (Anm. 17), S. 229 u. 236. 19 Georg May, Kirchenrechtswissenschaft und Kirchenrechtsstudium, in: HdbKathKR2, S. 90 – 101, hier S. 92; vgl. auch Franz Kalde, Art. Latein, in: LKStKR 2, S. 686 – 688, hier S. 686; zur Sprachgeschichte, insbes. des Lateins der Christen und des Mittel- und Neulateins vgl. Johannes Kramer, Geschichte der lateinischen Sprache, in: Fritz Graf (Hrsg.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 115 – 162, hier S. 148 – 155; Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 237 – 256; Hans-Jürgen Becker, Die Bedeutung der lateinischen Sprache für die Verfassung und das Recht der römischen Kirche, in: Jörn Eckert/Hans Hattenhauer (Hrsg.), Sprache – Recht – Geschichte, Heidelberg 1991, S. 25 – 36; außerdem Heinz-Lothar Barth, Latein – Universale Kultsprache der katholischen Kirche, in: August Doerner/Margarethe Kuppe/Ueli Köchli/ders. (Hrsg.), Latein. Sprache der Kirche und des christlichen Abendlandes, Jaidhof 20012, S. 117 – 155.

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II. Zur Bedeutung der lateinischen Sprache für das Kirchenrecht und deren Transformierung in eine deutsche Rechtssprache Latein ist als die offizielle Sprache der katholischen Kirche20 auch von den Päpsten der jüngeren Vergangenheit mehrfach bestätigt und durch lehramtliche und gesetzgeberische Akte praktiziert worden.21 Wie zuvor schon Papst Pius XI. erachtete auch Papst Johannes XXIII. die lateinische Kirchensprache in „Veterum Sapientia“, seiner letztlich toter Buchstabe gebliebenen Apostolischen Konstitution „De Latinitatis studio provehendo“ vom 22. Februar 1962, als ein „vinculum unitatis“22. Schließlich war Latein sodann auch die Sprache des Zweiten Vatikanischen Konzils.23 Der Charakter als offizielle Amtssprache der Kirche ist durch den obersten kirchlichen Gesetzgeber, seinerzeit Papst Johannes Paul II., in Art. 16 der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ über die Römische Kurie noch einmal

20 „Nihil adeo frequenter affirmatur in fontibus, quam linguam latinam esse linguam Ecclesiae.“ (Urbanus Navarrete, Commentarium historico-iuridicum in Const. Apost. „Veterum Sapientia“, in: PerRMCL 51 [1962], S. 318 – 402, hier S. 364); zur l’ufficialità del latino per la Chiesa vgl. Yorick Gomez Gane, „Pretiosus Thesaurus“. La lingua latina nella Chiesa oggi, Città del Vaticano 2009, S. 7, bes. S. 11 – 29 u. 121; Andreas Weckwerth, Lingua universalis, immutabilis, non vulgaris – Latein als theologische Wissenschaftssprache im 19. und 20. Jahrhundert, in: NlatJb 7 (2005), S. 257 – 281, hier S. 257; Georg Kretschmar, Art. Kirchensprache, in: TRE 19, S. 74 – 92, hier S. 80 f.; Markus Walser, Art. Latein, in: LexKR, Sp. 627 f., hier Sp. 627. 21 Vgl. z. B. Johannes Paul I., Iniziamo il nostro servizio sostenuti dalle vostre preghiere, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo I (1978), Città del Vaticano 1979, S. 40 – 44, hier S. 41: „[…] latino […] è la lingua ufficiale della Chiesa […].“, auch abgedruckt in: Yorick Gomez Gane, „Pretiosus Thesaurus“ (Anm. 20), S. 121; vgl. außerdem die abgedruckten „Documenti pontifici sul latino da Giovanni XXIII a Benedetto XVI“, in: ebd., S. 59 – 159. 22 Johannes XXIII., ApK „Veterum sapientia“, in: AAS 54 (1962), S. 129 – 135, hier S. 131, abgedruckt in: Gomez Gane, „Pretiosus Thesaurus“ (Anm. 20), S. 70 – 77; vgl. Navarrete, Commentarium historico-iuridicum (Anm. 20), S. 318 – 402; Weckwerth, Lingua universalis (Anm. 20), S. 265 – 267, 272 f. u. hier S. 270; zu den Hintergründen um „Veterum Sapientia“ außerdem Barth, Latein (Anm. 19), S. 124 f. mit Anm. 10 u. ders., Die Mär vom antiken Kanon des Hippolytos. Untersuchungen zur Liturgiereform, Köln 1999, S. 79 f.; Fundstellen bei Pius XI., Ep. Ap. „Officiorum omnium“ (01. 08. 1922), in: AAS 14 (1922), S. 449 – 458, hier S. 452 u. ders., Ep. Ap. „Unigenitus Dei Filius“ (19. 03. 1924), in: AAS 16 (1924), S. 133 – 148, hier S. 141. 23 S. Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II apparando. Series I (Antepraeparatoria): Vol. I – V, Indices, Typis Polyglottis Vaticanis 1960 – 1961; Series II (Praeparatoria): Vol. I – V, Typis Polyglottis Vaticanis 1964 – 1995; Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II. Vol. I – V, Indices. Typis Polyglottis Vaticanis 1970 – 1986; Konzilsdokumente, in: AAS 56 (1964) – 58 (1966); vgl. Aemilius Springhetti S. J., Latinitas Fontium Iuris Canonici (= Bibliotheca „Veterum Sapientia“. Series A. Textus – Documenta – Commentaria 7), Romae 1968, S. 9 f. u. 128 f. Für Kramer, Geschichte der lateinischen Sprache (Anm. 19), S. 155, „markiert“ dieses Konzil „im wesentlichen den Endpunkt der Verwendung [des Lateinischen] im Katholizismus […].“

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amtlich bekräftigt worden.24 Der Kurie steht beim Staatssekretariat eine eigene Stabsabteilung für die lateinische Sprache zur Verfügung.25 Zuletzt wurde der Bedeutung der lateinischen Sprache für die katholische Kirche durch Papst Benedikt XVI. Rechnung getragen, indem er mit dem Apostolischen Schreiben in Form eines Motu proprio „Latina Lingua“ vom 10. November 2012 die Päpstliche Akademie für die lateinische Sprache (Pontificia Academia Latinitatis) begründete.26 Mit Blick auf die Rechtsordnung der Universalkirche wird auf Anhieb deutlich, daß die lateinische Sprache in diesem Bereich von besonderer Bedeutung ist, so daß von einer spezifischen latinitas canonica gesprochen werden kann, als die sie beispielsweise in den sog. „Ordinationes zur richtigen Anwendung der Apostolischen Konstitution Sapientia christiana“27, d. h. in den Ausführungsbestimmungen zur Sondergesetzgebung über die Studien an kirchlichen Universitäten und Fakultäten bezeichnet wird. 1. Das Korpus lateinischsprachiger Gesetzgebung Außer den beiden Gesetzbüchern des CIC/1983 und des CCEO gehören weitere wichtige Rechtstexte zum derzeit geltenden Korpus universalkirchlichen Rechts, die in lateinischer Sprache erlassen worden sind. An erster Stelle ist hier die Spezialgesetzgebung zu c. 360 CIC/1983 durch die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“28 von 1988 über die Ordnung und die Zuständigkeit der Römischen Kurie zu nennen. Als weitere Beispiele außerkodikarischer päpstlicher Gesetzgebung in lateinischer Sprache seien hier genannt die bereits erwähnte Apostolische Konstitution „Sapientia christiana“29 samt „Ordinationes“30 über das kirchliche Hoch24

Vgl. hierzu auch Regolamento Generale della Curia Romana (RGCR), Città del Vaticano 1999, Art. 144 § 1; Jesús Bogarín Díaz, Art. Latín, in: DGDC 4, S. 977 – 980, hier S. 978 f. 25 Vgl. Art. 144 § 2 RGCR; Bogarín Díaz, Art. Latín (Anm. 24), S. 979. 26 Benedikt XVI., MP „Latina Lingua“ (10. 11. 2012), in: AAS 104 (2012), S. 991 – 995 (De Pontificia Academia Latinitatis condenda); vgl. AnPont 2016, „Pontificia Academia Latinitatis“, S. 1893. Präsident ist derzeit Prof. Ivano Dionigi (ebd., S. 1232). 27 Art. 56, 3a OrdSapChr. In der deutschen Übersetzung wiedergegeben als „die lateinische Sprache des kanonischen Rechts“, in: Katholische Theologie und Kirchliches Hochschulrecht. Einführung und Dokumentation der kirchlichen Rechtsnormen, lat.-dt., hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 100), Bonn 2011, S. 280 – 353, hier S. 325; Gero Weishaupt faßt den Begriff der latinitas canonica in den Ausführungen auf seiner Internetseite etwas weiter: „Unter Latinitas Canonica versteht man das Latein, wie wir es in Konzils- und Synodentexten, in kirchenrechtlichen Gesetzen, Interpretationen von kirchlichen Gesetzestexten und Mönchsregeln vorfinden.“ (online verfügbar unter: http://geroweishaupt.com/latein/ latinitas-canonica/ und http://geroweishaupt.com/latein/latinitas-canonica/latein-und-kirchen recht/ [Stand: 10. 11. 2016]). 28 Johannes Paul II., ApK „Pastor Bonus“ (28. 06. 1988), in: AAS 80 (1988), S. 841 – 934. 29 Johannes Paul II., ApK „Sapientia Christiana“ (15. 04. 1974), in: AAS 71 (1979), S. 469 – 499. 30 SC InstCath, Ordinationes, in: AAS 71 (1979), S. 500 – 521.

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schulwesen von 1979, die Apostolische Konstitution „Universi Dominici Gregis“ über die Wahl des Römischen Papstes31, die jeweiligen „Normae“ für die obersten Päpstlichen Gerichtshöfe der Apostolischen Signatur32 und der Rota Romana33, sowie die im Motu proprio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“34 promulgierten sanktionsrechtlichen Normen bei schwerwiegenderen Delikten. Auch die gesetzgeberischen Änderungen bzw. Fortschreibungen zum CIC/1983 bzw. CCEO durch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI.35 erfolgten in lateinischer Sprache wie ebenso die neueste Gesetzgebung durch Papst Franziskus mit den beiden Apostolischen Schreiben in Form eines Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ bzw. „Mitis et misericors Iesus“ vom 15. August 201536, mit welcher er die verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Ehenichtigkeitserklärung im CIC/1983 und CCEO tiefgreifend novelliert hat. Zu berücksichtigen ist außerdem die jüngste Novellierung zum CIC/1983 durch das vom 31. Mai 2016 datierte Apostolische Schreiben in Form eines Motu proprio „De concordia inter Codices“37, wodurch einige Normen von interritueller Bedeutung nun den entsprechenden Vorschriften des CCEO angepaßt wurden. Schließlich ist zum CIC/1983 die 2005 vom Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte veröffentlichte Instruktion „Dignitas Connubii“ hinzuzunehmen, „die von den diözesanen und interdiözesanen Gerichten bei Ehenichtigkeitsverfahren zu beachten ist“.38 Gemäß Art. 1 DC betrifft diese Instruktion „allein die Gerichte der lateinischen Kirche“. Eine „Instructio“ hat gemäß c. 34 § 1 CIC/1983 den Zweck, die Vorschriften von Gesetzen zu erklären und Vorgehensweisen zu entfalten und zu bestimmen, „die bei deren Ausführung zu beachten sind“ und „zum Gebrauch derer gegeben [werden], die dafür sorgen müssen, daß die Gesetze zur Ausführung gelangen“. Folglich gilt auch für die Instruktion „Dignitas Connubii“, daß nur ihr 31 Johannes Paul II., ApK „Universi Dominici Gregis“ (22. 02. 1996), in: AAS 88 (1996), S. 305 – 343. 32 Benedikt XVI., MP „Antiqua Ordinatione“, in: AAS 100 (2008), S. 513 – 538, abgedruckt in: AfkKR 177 (2008), S. 174 – 200. 33 RR, Normae, in: AAS 86 (1994), S. 508 – 540. 34 Johannes Paul II., MP „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“, in: AAS 93 (2001), S. 737 – 739. 35 Vgl. hierzu Heribert Schmitz, Codex Iuris Canonici, in: HdbKathKR3, S. 70 – 100, hier S. 96 – 99. 36 Franziskus, MP „Mitis et misericors Iesus“ (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015) S. 946 – 957; ders., MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015) S. 958 – 970; zur Novellierung des lateinischen Eheprozeßrechts vgl. Ludger Müller, Das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren nach der Reform 2015, in: Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 86 – 105 mit Abdruck der neukodifizierten cc. 1671 – 1691 CIC und einer eigenen deutschen Übersetzung im Anhang mit synoptischer Darstellung der bisherigen (1983) und der nun geltenden Fassung (2015). 37 Franziskus, MP „De concordia inter Codices“, in: AAS 108 (2016), S. 602 – 606, dt. in: ABl. Augsburg, Nr. 1 vom 13. 01. 2017, S. 6 – 11. 38 PCLT, Instr. „Dignitas Connubii“ (DC), lat.-dt., Città del Vaticano 2005.

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lateinischer Text als einzig verbindliche und authentische Fassung bei der Interpretation und Anwendung ihrer Bestimmungen zugrundezulegen ist. 2. Gute Gründe für die lateinische Rechtssprache Mit dieser Praxis der Kirche, sich nach wie vor des Lateins als ihrer universalkirchlichen Rechtssprache zu bedienen, sind, wie Stephan Haering dargelegt hat, erhebliche Vorteile verbunden.39 An erster Stelle hebt er plausibel hervor, daß ein weltweit geltendes Recht einer einzigen Sprache bedarf, „um die nötige Einheit zu wahren“, zumal „die gleichberechtigte Verwendung der wichtigen modernen Sprachen als Sprachen des kirchlichen Rechts […] die Gefahr einer unerwünschten Auseinanderentwicklung der Rechtsordnung mit universal einheitlichem Geltungsanspruch in sich“ trüge.40 Treffend stellt er fest, daß „die Verwendung nur einer modernen Sprache als Sprache der gesamtkirchlichen Gesetzgebung, etwa des Englischen oder des Spanischen, […] eine Bevorzugung einiger Völker, um deren Sprache es sich handelt, gegenüber den übrigen bedeuten“ würde.41 Eine solche Begleiterscheinung ist mit der Verwendung des supranationalen Lateins von vornherein ausgeschlossen. Denn nur eine Sprache, die – wie das Lateinische, „spätestens seit der Karolingerzeit“42 – nicht mehr durch sog. native speaker („Erstsprecher“43 oder „muttersprachliche Sprecher“44) bzw. Ethnien fortlebt, um nicht von einer „toten Sprache“ zu reden,45 bevorzugt folglich „niemanden und hält die Einflußnahme säkularer zeitgenössischer Rechtskulturen auf die Interpretation des kanonischen Rechts, die sich mit der Verwendung einer oder mehrerer moderner Sprachen stillschweigend ergeben würde, in Grenzen.“46 Ein nicht zu unterschätzendes Argument für die herausragende Bedeutung einer einheitlichen Kirchenrechtssprache ist schließlich die diachrone und synchrone Kontinuität des Kirchenrechts, die durch die lateinische Sprache dank ihrer Fixierung und der hieraus resultierenden „diachronen Kommunikationsfähigkeit“47 gewährleistet wird, die bis in die Orthographie hinein39

Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 244. Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 244. 41 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 244. 42 Udo Kindermann, Art. Latein, in: LThK3 6, Sp. 660 f., hier Sp. 660. 43 Jürgen Leonhardt, Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009, S. 19. 44 Art. Native Speaker, in: Hadumod Bußmann (Hrsg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 20084, S. 465. 45 Mauro Agosto, Il matrimonio canonico. Guida alla scrittura giurisprudenziale in latino, Lugano 2011, S. 12; nach Leonhardt, Latein (Anm. 43), S. 18 – 21, bes. S. 21, ist Latein „gegenüber dem Begriff der ,toten‘ Sprache“ als eine „fixierte Sprache“ genauer zu charakterisieren; ebd., S. 20: „Unter ,Fixierung‘ soll hierbei eine sprachliche Festlegung verstanden werden, die dem Anspruch oder der Sache nach für alle Zeiten irreversibel ist.“ Vgl. auch Wilfried Stroh, Art. Lebendiges Latein, in: Der Neue Pauly (DNP) 15/1, Sp. 92 – 99, hier Sp. 92. 46 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 244. 47 Leonhardt, Latein (Anm. 43), S. 16. 40

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reicht. Neben den klassischen Grundbedeutungen der einzelnen Begriffe ist aber stets auch mit kirchenrechtsspezifischen Erweiterungen des ursprünglichen semantischen Spektrums zu rechnen. Hierzu ist mit Springhetti festzuhalten, daß viele klassische Wörter zusätzlich eine neue, d. h. kirchenrechtliche Bedeutung angenommen haben, wie z. B. beneficium, ordinatio, capitulum etc. sowie auch, daß zahlreiche Begriffe aus dem Griechischen übernommen worden sind, wie beispielsweise episcopus, presbyter oder synodus.48 In diesem Zusammenhang ist schließlich anzumerken, daß das gewissermaßen nicht mehr veränderliche Medium der lateinischen Sprache auch noch heute sehr wohl die Bildung von Neuschöpfungen, sog. Neologismen49 nicht nur zuläßt, sondern dafür geradezu prädestiniert ist. Sprechende Belege hierfür sind das mittlerweile in seiner vierten Auflage von 1963 längst vergriffene „Lexicon vocabulorum quae difficilius Latine redduntur“ des berühmten römischen Kurienlatinisten und Kardinals Antonio Bacci (1885 – 1971)50 sowie das von seinem Nachfolger in der Leitung des Officium Latinum im Päpstlichen Staatsekretariat, Carolus Egger (1914 – 2003), in der Libraria Editoria Vaticana in zwei Bänden 1992 und 1997 herausgegebene „Lexicon recentis latinitatis“ mit „zirka 15000 Stichwörtern aus sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den Schwerpunkten Wissenschaft, Technik, Religion, Medizin, Politik und Sport sowie – last but not least – Umgangssprache.“51 1998 ist dieses Nachschlagewerk unter dem Titel „Wörterbuch des neuen Lateins“ und 2001 eine Lizenzausgabe „Deutsch – Latein“ erschienen. Der herausragenden Bedeutung der lateinischen Sprache für das Kirchenrecht und insbesondere für das Studium desselben wurde sogar durch eine Novellierung der Ausführungsbestimmungen (Ordinationes) zur Apostolischen Konstitution „Sapientia Christiana“ eigens Rechnung getragen. Dies geschah mit dem Dekret „Novo Codice“ der Päpstlichen Kongregation für das Katholische Bildungswesen vom 2. September 2002.52 Seitdem ist die lateinische Sprache bzw. die latinitas 48 Springhetti, Latinitas Fontium Iuris Canonici (Anm. 23), S. 20 f.; vgl. auch Kramer, Geschichte der lateinischen Sprache (Anm. 19), S. 149; Hubert Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO), in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. FS Pree (65), Berlin 2015, S. 221 – 245, hier bes. S. 226 – 239; Francisco R. Adrados, Geschichte der griechischen Sprache. Von den Anfängen bis heute (= UTB 2317), Tübingen/Basel 2002, S. 208 f., Nr. 298. 49 Vgl. Wilfried Stroh, Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache, Berlin 2007, S. 238 – 240; Leonhardt, Latein (Anm. 43), S. 21; Friederike Schmöe, Art. Neologismus, in: Helmut Glück/Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 459. 50 Vgl. die Einschätzung bei Stroh, Art. Lebendiges Latein (Anm. 45), Sp. 93; Martin Bräuer, Handbuch der Kardinäle. 1846 – 2012, Berlin/Boston 2014, S. 363. 51 Vorwort zur deutschen Ausgabe des „PONS Wörterbuchs des neuen Lateins“ (Lizenzausgabe), Stuttgart 2001. 52 C InstCath, Decr. „Novo Codice“ (02. 09. 2002), in: AAS 95 (2003), S. 281 – 285, auch abgedruckt in: Com 34 (2002), S. 196 – 200 sowie in: AfkKR 171 (2002), S. 488 – 491 mit dt. Übers., S. 491 – 495.

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canonica, d. h. „die lateinische Sprache des kanonischen Rechts“ ausdrücklich als Pflichtfach in allen drei Studienzyklen des Kirchenrechtsstudiums an weltweit allen Fakultäten des Kanonischen Rechts vorgeschrieben.53 3. Aspekte zur Transformierung der lateinischen Rechtssprache Für die Kirchenrechtswissenschaft stellt sich die unabdingbare Aufgabe, diese Fachsprache54 beständig zu erforschen, um dann auch deren Struktur und lateinische kirchenrechtliche Begrifflichkeit in moderne Rechtssprachen zu transformieren, was für den deutschen Sprachraum vor allem die Entwicklung einer deutschen Fachterminologie bzw. kirchlichen Rechtssprache bedeutet. Bereits Rudolf Köstler hatte vor einer deutschen Scheinbegrifflichkeit gewarnt, die keine wirkliche Transformierung lateinischer Begriffe in deutsche Äquivalente darstellt. Deswegen wollte er mit seinem „Versuch einer gut deutschen Übersetzung […] auch dem in der Kirche vielfach bestehenden Unfug gesteuert“ wissen, „die kirchlich-deutsche Rechtssprache oft vollends unnötig mit ganz oder halb-lateinischen Wörtern und Redewendungen zu mischen.“55 Köstler wendet sich gegen Ausdrucksweisen wie z. B. „,eine excommunicatio inkurrieren‘ statt ,sich den Kirchenbann zuziehen‘“56. Eine solche Redeweise sei zwar bequem und einfach, sie schädige aber das Verständnis, „da die lateinischen Ausdrücke nicht selten in verschiedener Bedeutung vorkommen, ein Umstand, dessen man sich oft erst bewußt wird, wenn man eine wirkliche Übersetzung zu geben versucht.“57 Nach dem Altphilologen Karl-Wilhelm Weeber kommt es beim Übersetzen darauf an, „einen angemessenen zielsprachlichen Ausdruck“ für den zu übersetzenden Begriff zu finden.58 Eine nicht geringe Schwierigkeit bereitet dabei „das semantische Spektrum des einzelnen Begriffs, d. h. die Bandbreite seiner Bedeutung – wobei die freilich im Einzelfall

53 Novo Codice zu Art. 56 OrdSapChr. Im dritten Studienzyklus ausdrücklich als „latinitas canonica“ bezeichnet; s. Anm. 27, S. 324; vgl. auch Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 250 f., hier S. 251. 54 Vgl. Ulrich Ammon, Art. Fachsprache, in: Helmut Glück/Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 195; Helmut Glück, Art. Terminologie, in: ders./ Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 706; Walther von Hahn (Hrsg.), Fachsprachen, Darmstadt 1981; Hans-Rüdiger Fluck, Fachsprachen. Einführung und Bibliographie (= UTB 483), Tübingen/Basel 1996; Thorsten Roelcke, Fachsprachen (= Grundlagen der Germanistik 37), Berlin 20103. 55 Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München/Kempten 1927, Vorwort, S. 5. 56 Ein weiteres Beispiel ist die, jedenfalls häufig für Nichtfachleute, unverständliche Redeweise die Ehe konsumieren, wobei das lateinische Verb consummare im Sinne von vollziehen, unübersetzt bleibt (vgl. Köstler, Wörterbuch [Anm. 55], S. 93). 57 Köstler, Wörterbuch (Anm. 55), S. 5. 58 Karl-Wilhelm Weeber, Mit dem Latein am Ende? Tradition mit Perspektiven, Göttingen 1998, S. 33; vgl. Jörn Albrecht, Art. Übersetzung, in: HWRh 9, Sp. 870 – 886.

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mehrere Wörterbuch-Seiten füllen kann.“59 Aber damit ist nur eine der Schwierigkeiten des Lateinischen angesprochen. Solche können außerdem bei Wortgleichheit von unterschiedlichen Wortarten aufkommen.60 Weeber weist ferner darauf hin, daß Latein aus linguistischer Sicht als eine Sprache beschrieben wird, „die im Vergleich mit den modernen europäischen Sprachen stark impliziert kodiert ist.“61 Das bedeute, daß Latein „auf der sprachlichen Oberfläche vieles unausgedrückt“ lasse, „das in anderen Sprachen ausgedrückt wird. Es verfügt über keine Artikel, es weist eine Reihe ,mehrdeutiger‘ Konjunktionen auf (klassisches Beispiel: cum, dessen semantisches Spektrum von ,weil‘ bis zu ,obwohl‘ reicht); es hat einen relativ geringen Wortschatz (und deshalb entsprechend größere Bedeutungsspektren), es hat eine Vorliebe für Partizipialkonstruktionen, deren Sinnrichtung sich erst aus dem Zusammenhang ergibt.“62 Weeber resümiert deshalb, daß sich Latein „– dem Mythos besonderer ,Klarheit‘ zum Trotz – durch eine Vielzahl von Mehrdeutigkeiten“ auszeichne.63 Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch die Idiomatik oder Phraseologie des Lateinischen.64 Gemeint ist damit die „Gesamtheit der Idiome“, d. h. der „eigentümlichen Ausdrucksweisen“ (Idiome), die eine „feste, mehrgliedrige Wortgruppe bzw. Lexikoneinheit“ bilden, deren „Gesamtbedeutung […] nicht aus der [wortwörtlichen] Bedeutung der Einzelelemente abgeleitet werden“ kann.65 Was Weeber im allgemeinen zum Umgang mit der lateinischen Sprache ausführt, gilt grundsätzlich auch für das kirchenrechtliche Latein. Damit „der Vorgang des ,Disambiguierens‘, des Eindeutigmachens von prinzipiell Mehr- oder Vieldeutigem“66 leichter vonstattengeht, bedarf es einer möglichst eindeutigen Begrifflichkeit sowohl in der lateinischen Ausgangssprache als auch in der jeweiligen Zielsprache. 59

Weeber, Mit dem Latein am Ende? (Anm. 58), S. 41. Wie z. B. bei adeo als finiter Verbform von adire einerseits und dem unveränderlichen mehrdeutigen Adverb adeo andererseits; vgl. Der Neue Georges. Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl-Ernst Georges, hrsg. v. Thomas Baier, bearb. v. Tobias Dänzer, 2 Bde., Darmstadt 2013, Sp. 87 – 89. 61 Weeber, Mit dem Latein am Ende? (Anm. 58), S. 16. 62 Weeber, Mit dem Latein am Ende? (Anm. 58), S. 16. 63 Weeber, Mit dem Latein am Ende? (Anm. 58), S. 16. 64 Vgl. bspw. Otto Schönberger, Lateinische Phraseologie, Heidelberg 20116 ; Christina Meckelnborg, Lateinische Phraseologie, begr. von Carl Meissner, unter Mitarbeit v. Markus Becker, Darmstadt 20156 ; außerdem Johanna Filip-Fröschl/Peter Mader, Latein in der Rechtssprache. Ein Studienbuch und Nachschlagewerk, 4., überarb. u. erw. Aufl., Wien 2014. 65 Artt. Idiom und Idiomatik, in: Hadumod Bußmann (Hrsg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 20084, S. 289 f.; Art. Phraseologie, in: ebd., S. 532. 66 Weeber, Mit dem Latein am Ende? (Anm. 58), S. 17; vgl. auch Art. Disambiguierung, in: Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft (Anm. 2), S. 139; Helmut Rehbock, Art. Disambiguierung, in: Helmut Glück/Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 153. 60

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Ganz allgemein betrachtet handelt es sich bei einer Rechtssprache um eine „spezifische Sprache, wie sie in Rechtstexten verwendet wird.“67 Das Spezifikum ist wegen des Vokabulars von Ausdrücken mit juristischer Bedeutung vor allem terminologischer Art. Jede Rechtssprache hat ihre semantischen, syntaktischen und stilistischen Besonderheiten, mitunter auch Schwierigkeiten. Eine allgemeine Beobachtung hierzu ist ferner, daß sich eine Rechtssprache als juristische Fachsprache aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades und ihrer eigenen Begriffe in aller Regel von der alltäglichen Normalsprache grundlegend unterscheidet.68 Allgemein geläufige Wörter der Umgangssprache können im juristischen Sprachgebrauch eine andere Bedeutung haben.69 Der Exaktheit halber sind Rechtssprachen im Gegensatz zur Alltagssprache idealerweise dadurch bestimmt, daß „Ausdrucksvarianz […] unterbleibt“70.

III. Zum Forschungsstand 1. Zum CIC/1917 Die erste Kodifikation des Kanonischen Rechts stammt aus dem Jahr 1917.71 Die Übersetzung dieses Gesetzbuches war ausdrücklich untersagt.72 Das ist durchaus verständlich angesichts der Erkenntnis, wonach sich „Gesetzestexte […] besonders schwer übersetzen lassen, weil es auf jede Nuance“73 und „größtmögliche terminologische Äquivalenz“74 ankommt. 67 Christian M. Piska, Art. Rechtssprache, in: ders./Jutta Frohner (Hrsg.), Fachwörterbuch Einführung in die Rechtswissenschaften, Wien 2009, S. 136. 68 Vgl. Gerhard Köbler, Das Studium des Rechts. Ein Wegweiser, München 19782, S. 204; Heike Simon/Gisela Funk-Baker, Einführung in die deutsche Rechtssprache, München 1999, S. 28 f. 69 Vgl. Piska/Frohner, Fachwörterbuch (Anm. 67), Vorwort, S. 3. 70 Hugo Steger, Art. Sprache. II. Institutionensprachen, in: StL7 5, Sp. 125 – 128, hier Sp. 126. 71 Codex Iuris Canonici. Pii X Pontificis Maximi iussu digestus, Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, praefatione, fontium annotatione et indice analytico-alphabetico ab Emo. Petro Card. Gasparri auctus, Romae 1917 (amtl. Ausg. in: AAS 9/2 [1917], S. 11 – 521). 72 Die Ausgaben des CIC/1917 enthalten folgenden Vermerk: „Nemini liceat, sine venia Sanctae Sedis, hunc Codicem denuo imprimere aut in aliam linguam vertere“; vgl. Heribert Schmitz, Rechtsschutz für amtliche Texte und Werke in der katholischen Kirche, in: Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. FS Hierold (= KST 53), Berlin 2007, S. 507 – 524, hier S. 510. Das gilt im übrigen auch für die in den AAS 1983 bzw. 1990 promulgierten amtlichen Ausgaben des CIC/1983 und des CCEO mit dem jeweils ausdrücklichen wortgleichen Vermerk: „Nemini liceat sine venia Sanctae Sedis hunc Codicem denuo imprimere aut in aliam linguam vertere“ (s. AAS 75/2 [1983], S. VI; ebenso in den lateinischen CIC-Ausgaben der Libreria Editrice Vaticana [LEV] 1983 in: AAS 82 [1990], S. 1364 und in den lateinischen CCEO-Ausgaben der LEV 1990, 1995). 73 Andreas Wacke, Lateinisch und Deutsch als Rechtssprachen in Mitteleuropa, in: NJW 43 (1990), S. 877 – 886, hier S. 886.

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Für den deutschen Sprachraum wurde das lateinische Vokabular bzw. die Rechtssprache des ersten kirchlichen Gesetzbuches jedoch durch zwei verdienstvolle Publikationen erschlossen, denen heute noch ein äußerst bedeutender Nutzwert nicht nur für das Verständnis des CIC/1917, sondern auch des geltenden Kirchenrechts zukommt. An erster Stelle war dies das mit 379 Seiten handliche wissenschaftliche „Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici“, das der Wiener Universitätsprofessor für Kirchenrecht an der dortigen rechtswissenschaftlichen Fakultät, Dr. Rudolf Köstler (1878 – 1952)75, „mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und des Bundesministeriums für Unterricht in Wien“ im September 1927 im Kösel-Verlag zu München und Kempten herausbrachte, an dem er zehn Jahre76 gearbeitet hatte. Sodann ist die zehn Jahre später von Klaus Mörsdorf (1909 – 1989) als gekrönte Preisschrift der Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München bei Schöningh in Paderborn verlegte Monographie „Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici“ zu nennen. Dieses im Untertitel als „eine kritische Untersuchung“ bezeichnete Buch hat einen Umfang von 424 Seiten. Ein weiteres überaus verdienstvolles Werk ist der 1941 in Rom (Typis Polyglottis Vaticanis) von dem Heidelberger Juristen und „Schüler des bekannten Romanisten [und Lexikographen] Otto Gradenwitz“77 (1860 – 1935), Art(h)ur Lauer (Arcturus Lauer), herausgebrachte „Index Verborum Codicis Iuris Canonici“78 im Umfang von XXX + 936 Seiten. Als dieses umfangreiche lexikographische Werk niemand zu verlegen wagte, hatte Papst Pius XI. (1922 – 1939) dessen Druck durch die Vatikanische Druckerei verfügt, was dann von Pius XII. (1939 – 1958) bestätigt und zur Verbreitung angeordnet worden war.79 „Um das Zustandekommen dieses wertvollen kanonistischen Hilfsmittels“, das nach dem nicht unbedeutenden Urteil des renommierten Herausgebers des Archivs für katholisches Kirchenrecht, Nikolaus Hilling (1871 – 1960), ebenso wie das „Wörterbuch“ Köstlers und die „Rechtssprache“ Mörsdorfs den deutschen Kanonisten zur Ehre gereichte, hatten sich also sogar gleich zwei Päpste „verdient gemacht.“80 Das Urteil Hillings in puncto Rechtssprache ist insofern um so bedeutsamer, als er selbst – vor Köstler und 74

Helmut Glück, Art. Übersetzung, in: ders./Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 731. 75 Vgl. Nikolaus Hilling, Rudolf Köstler †, in: AfkKR 125 (1951/1952), S. 346 f.; Eva Synek, Art. Koestler, Rudolf, in: LKStKR 2, S. 588, wo sich aber kein Hinweis auf dieses wichtige Standardwerk findet. 76 So Hilling, Rudolf Köstler † (Anm. 75), S. 347; vgl. ders., Rezension, in: AfkKR 110 (1930), S. 684 f. 77 Nikolaus Hilling, Rezension zu Arcturus Lauer, Index Verborum Codicis Iuris Canonici, Typis Polyglottis Vaticanis 1941, in: AfkKR 122 (1947), S. 197; zu Gradenwitz vgl. Max Kaser, in: NDB 6, S. 702 f. 78 Vgl. hierzu Hilling, Rezension Lauer (Anm. 77), S. 197 f. 79 Vgl. Index Verborum Codicis Iuris Canonici. Digessit Arcturus Lauer Heidelbergensis, Typis Polyglottis Vaticanis MCMXXXXI, „Ad Lectores“; Hilling, Rezension Lauer (Anm. 77), S. 198. 80 Hilling, Rezension Lauer (Anm. 77), S. 198.

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Mörsdorf – bereits 1925 ein 50-seitiges Bändchen mit dem Titel „Codicis Juris Canonici Glossarium“ herausgebracht hatte. Dabei handelt es sich um eine lexikographische Zusammenstellung schwierigerer Wörter und Rechtsformeln, die unter Angabe der jeweiligen Referenzkanones von ihm ins Deutsche übertragen und erläutert wurden.81 Nach Erscheinen des Wörterbuchs von Köstler scheint Hillings rechtssprachliches Kompendium in Vergessenheit geraten zu sein. Gut zwei Jahrzehnte später meldete sich Hilling unter der Überschrift „Zum Sprachgebrauch des Codex Juris Canonici“ noch einmal kurz zu Wort. In dem zweieinhalbseitigen Beitrag im „Archiv für katholisches Kirchenrecht“ äußert er sich jedoch lediglich ergänzend zu Mörsdorfs „verdienstvollem Werke“, was den dort beschriebenen Gebrauch der „Bindewörter et und vel“ betrifft.82 Köstler hielt es für „um so dringender geboten, dem Benützer des päpstlichen Gesetzbuches ein Wörterbuch in die Hand zu geben, das ihm Übersetzung und Verständnis erleichtert“, zumal „das neue Gesetzbuch jede Veröffentlichung einer Übersetzung verbietet“.83 Aus diesem Bemühen ergab sich für ihn auch die Notwendigkeit, seinem Fachwörterbuch eine „Einführung in die Sprache des Gesetzbuches“ voranzustellen.84 Dabei spricht er auch einen zentralen Problempunkt der kirchlichen Rechtssprache an, wenn er bemerkt, daß „zahlreiche Redefiguren und vielfacher Wechsel im Ausdruck […] die Sprache“ zwar belebten, aber durch „die Freiheit und die Mannigkeit des Ausdrucks […] bisweilen die Deutlichkeit“ gefährdet sei.85 Neben philologischen Hinweisen zur Formen- und Satzlehre, zu Eigentümlichkeiten der Schreibung, Zeichensetzung und Datierung sind vor allem seine Ausführungen zum Wortgebrauch und zur Wortstellung sehr aufschlußreich. Zunächst stellt er fest, daß „der Wortgebrauch […] leider nicht immer feststehend und einheitlich“ sei. Illustrierend führt Köstler aus: „Einerseits werden mehrere Ausdrücke (oft, aber nicht immer) im gleichen Sinne verwendet, andererseits mehrdeutige Ausdrücke gebraucht. Beispiele für ersteres sind ius canonicum = ius ecclesiasticum; persona moralis = persona iuridica; denuntiationes = proclamationes; dissolutio vinculi = divortium; sacer = sanctus; delictum = crimen; Beispiele für letzteres: ordo, titulus, saecularis, civilis […] Geradezu verhängnisvoll für das Verständnis kann der Umstand werden, daß gewöhnlich im gleichen Sinne verwendete Wörter mitunter denn doch einen Bedeutungsunterschied aufweisen, dessen sich vielleicht nicht einmal der Gesetzgeber recht bewußt geworden ist (vgl. 81

Codicis Juris Canonici Glossarium. Verba difficiliora et formulas iuris, quae in Codice Juris Canonici continentur, in linguam germanicam vertit explanavit et notis instruxit (= Auxilia ad Codicem Juris Canonici exquirendum collecta et instructa 3), Friburgi Brisigavorum 1925 [im 88-Format 135 × 210 mm]; vgl. hierzu die von Hilling lateinisch formulierte Selbstanzeige, in: AfkKR 105 (1925), S. 689 f. 82 Nikolaus Hilling, Zum Sprachgebrauch des Codex Juris Canonici, in: AfkKR 122 (1947), S. 88 – 90. 83 Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici (Anm. 55), Vorwort, S. 5. 84 Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici (Anm. 55), S. 9 – 12. 85 Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici (Anm. 55), S. 9.

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consensus! […]), und daß ein und derselbe Ausdruck bald im fachlichen bald im gewöhnlichen Sinne (beneficium, eligere, postulare), bald mit Bedeutungswert bald bloß als schmückendes Beiwort (sacer, sanctus) verwendet wird. Bemerkenswert ist auch die – der älteren Urkundensprache geläufige – Häufung mehrerer gleichbedeutender oder sinnverwandter Wörter […] (z. B. ediximus et sanximus) […].“86 Ein ausführlicherer Problemaufriß findet sich bei Klaus Mörsdorf, dem das „von wissenschaftlicher Gründlichkeit zeugende Wörterbuch“ Köstlers „als wichtigste Vorarbeit […] zustatten“ kam.87 Im allgemeinen beschreibt Mörsdorf die sprachliche Fassung des CIC/1917 im Anschluß an Köstler als „meist ,klar, schlicht und einfach, kurz und bündig, klang- und ausdrucksvoll‘“, weswegen sie „,wohl geradezu als klassisches Neulatein bezeichnet werden‘“ könne.88 Die Mängel der Sprache des CIC/1917 hingegen ortet er vor allem in „fachsprachlichen (terminologischen) Unsicherheiten“, die Gegenstand seiner Untersuchung sind.89 „Zu der Uneinheitlichkeit des Wortgebrauchs“ komme „die Verwendung zahlreicher, juristisch unbestimmter Ausdrücke“ hinzu.90 Als ein sinnvolles „technisches Mittel zur Verdeutlichung des jeweiligen Wortgebrauchs“ erachtet Mörsdorf die Groß- und Kleinschreibung bestimmter Begriffe, wovon der CIC/1917 aber „nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht“ habe.91 Neben Gründen der Ehrerbietung eignet sich die Großschreibung zur Verdeutlichung begrifflicher Unterschiede, sofern dies konsequent durchgehalten wird.92 So ist beispielsweise mit Ecclesia die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen gemeint, während ecclesia der Bezeichnung eines Kirchengebäudes dient.93 Nach wie vor gelten die von Mörsdorf vorgetragenen Grundpostulate bezüglich der kodikarischen Rechtssprache. Demzufolge „ist eine festgefügte Fachsprache, die ihrerseits bedingt ist durch die Pflege, die die Wissenschaft ihr angedeihen läßt“, „die Hauptvoraussetzung für die Genauigkeit und Bestimmtheit eines Gesetzes.“94 Mörsdorf erhebt deswegen „an den Gesetzgeber die unerläßliche Forderung […], daß er gleiche Dinge mit gleichem Namen benennt und an dem einmal gewählten

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Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici (Anm. 55), S. 11. Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici. Eine kritische Untersuchung, Paderborn 1937 (= unv. ND Paderborn 1967), S. 4; vgl. auch ders., Zur Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, in: ThGl 32 (1940), S. 192 – 200; Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 80 – 83. 88 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 26; Zitat von Köstler, Wörterbuch (Anm. 55), S. 9. 89 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 26 u. 35. 90 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 35. 91 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 37. 92 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 37 f. 93 Vgl. Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 232 f. 94 Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 18 u. 33. 87

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Wortsinn unbeirrt festhält, mit anderen Worten, daß er die sogenannte Terminologie sicher und straff durchführt.“95 Beide Werke haben bis auf den heutigen Tag keine Nachfolge auf der Grundlage des geltenden Rechts gefunden,96 so daß aus diesem Umstand ein entsprechendes Desiderat offenkundig wird. Als ein nach wie vor unentbehrliches Hilfsmittel bei rechtssprachlichen Fragen und beim Übersetzen ist außerdem das von dem Bad Godesberger Studiendirektor i. R., Prof. Dr. theol. et phil. Albert Sleumer (1876 – 1964) „unter umfassendster Mitarbeit von Benefiziat Joseph Schmid“ 1926 in zweiter Auflage herausgebrachte „Kirchenlateinische Wörterbuch“ anzuführen, das sich unter anderem auch als „ausführliches Wörterverzeichnis […] zum Codex Iuris Canonici“ versteht. Auf dieses bewährte und mittlerweile im sechsten Nachdruck97 von 2015 aufgelegte Wörterbuch haben schon Köstler und Mörsdorf zurückgegriffen. Bereits 1922 hatte Sleumer im Taschenbuchformat einen „Wortschatz des neuen Codex Juris Canonci“ im Umfang von 71 Seiten veröffentlicht.98 Aus der italienischen Kanonistik ist das Werk von Pio Ciprotti (1914 – 1993), „Osservazioni sul testo del Codex Iuris Canonici“ anzuführen, welches 1944 in Rom99 erschienen ist. 1950 brachte es das Instituto San Raimundo de Peñafort in Salamanca mit Imprimatur des dortigen Bischofs in zweiter, neu bearbeiteter Auflage in spanischer Übersetzung von Tomás García Barberena heraus mit dem Titel „Observaciones al texto del Codex Iuris Canonici“100. Diese weicht in ihrem ersten Teil hinsichtlich der behandelten Kanones teilweise von der ersten Auflage ab, weil Ciprotti einige seiner „Bemerkungen“, die ihm inzwischen inakzeptabel oder unnütz erschienen, herausgenommen und dafür andere hinzugefügt hat.101 Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis genügt, um zu erkennen, daß der zweite Teil gegenüber der ersten Auflage gänzlich anders konzipiert ist.

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Mörsdorf, Die Rechtssprache (Anm. 87), S. 18 f. u. 23. Ähnlich auch Lothar Wächter, Art. Rechtssprache, in: LKStKR 3 (2004), S. 379 – 381, hier S. 379. 97 Albert Sleumer, Kirchenlateinisches Wörterbuch, Limburg 1926 (6. ND Hildesheim 2015). 98 Albert Sleumer, Wortschatz des neuen Codex Juris Canonici nebst einer Zusammenstellung der weniger bekannten Brevier- und Proprienvokabeln, Limburg/Lahn 1922. 99 Pio Ciprotti, Osservazioni sul testo del Codex Iuris Canonici, Città del Vaticano 1944; vgl. hierzu Lamberto de Echeverría, Las „observaciones“ de Ciprotti, in: RevEspDC 1 (1946), S. 837 – 840 u. ders., El lenguaje del „Codex Iuris Canonici“. Apostillas a las „Osservazioni“ de P. Ciprotti, in: EphIurCan 3 (1947), S. 429 – 456; span.: Pio Ciprotti, Observaciones al texto del Codex Iuris Canonici, Salamanca 19502 ; zu Pio Ciprotti, Professor an der Römischen Universität und am Pontificio Ateneo Lateranense Utriusque Iuris, Richter der I. Instanz am Gericht der Vatikanstadt: „Nota biografica“, in: Vitam impendere vero. Studi in onore di Pio Ciprotti. A cura di W. Schulz e G. Feliciani (= Utrumque Ius 14), Roma 1986, S. 13 – 16. 100 Vgl. hierzu die Rezension von Nikolaus Hilling, in: AfkKR 124 (1950), S. 568 f. 101 Vgl. Ciprotti, Observaciones al texto del Codex Iuris Canonici (Anm. 99), Vorwort. 96

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Ohne eine Einführung in die Thematik der lateinischen Kirchenrechtssprache oder über den Anlaß und den Zweck seines Buches zu geben, wendet sich Ciprotti in der italienischen Ausgabe von 1944 nach dem kurzen Hinweis auf den ersten Teil, der die Bemerkungen inhaltlicher Art enthalte,102 sogleich unvermittelt den einzelnen Kanones zu, wobei aber auch hier durchgehend die rechtssprachlichen Aspekte bei seinen Formulierungsvorschlägen im Fokus stehen. Mittlerweile ist bekannt, daß Ciprotti diese umfassende Studie („un ampio studio“) als Auftragsarbeit für die Redaktion des Codex Iuris Canonici Orientalis („per la Chiesa Orientale“) und für die Reform des Codex Iuris Canonici erarbeitet hatte.103 Sie wurde vom kirchlichen Gesetzgeber intensiv genutzt bei der Abfassung der vier von Papst Pius XII. motu proprio promulgierten ostkirchlichen Teilkodifizierungen104 „Crebrae allatae“105, „Sollicitudinem Nostram“106, „Postquam Apostolicis litteris“107 und „Cleri sanctitati“108. Gegliedert nach den fünf Büchern des CIC/1917 befaßt sich Ciprotti mit mehr als gut dreihundert Gesetzeseinheiten, beginnend bei c. 2 und endend mit c. 2414 CIC/1917. Im zweiten Teil sind es nicht weniger als 538 Gesetzeseinheiten, beginnend bei c. 3 und endend mit c. 2413 CIC/1917, zu denen er seine Bemerkungen ausschließlich (unicamente) zu Sprache und Terminologie vorlegt. Bis auf einige ganz wenige Ausnahmen handelt es sich im zweiten Teil um andere Kanones. Ciprotti weist darauf hin, mit diesen gelegentlichen linguistischen und terminologischen Anmerkungen keine Vollständigkeit zu beanspruchen.109 Die erste Auflage enthält am Schluß noch einen Anhang mit Bemerkungen zu Sprache und Terminologie, die sich auf mehrere Kanones beziehen. Der erste Teil der überarbeiteten spanischen Auflage läßt zwar eine große inhaltliche Übereinstimmung mit der italienischen Ausgabe nicht übersehen, weicht aber mitunter durch inzwischen weggelassene oder neu aufgenommene Gesetzeseinheiten mehr oder weniger ab. Der zweite Teil bietet eine Analyse des Lateins und der Terminologie des CIC/1917.110 Hierin geht es Ciprotti vor allem darum, Vorschläge zu machen, wie das Latein dieses Gesetzbuches in Form und Terminologie verbessert werden könnte.111 Unter Angabe der jeweiligen Kanones legt Ciprotti 102

Vgl. Ciprotti, Osservazioni (Anm. 99), S. 1. Vgl. „Nota biografica“(Anm. 99), S. 14. 104 Vgl. „Nota biografica“ (Anm. 99), S. 14 f. 105 Pius XII., MP „Crebrae allatae“ (22. 02. 1949), in: AAS 41 (1949), S. 89 – 117. 106 Pius XII., MP „Sollicitudinem Nostram“ (06. 01. 1950), in: AAS 42 (1950), S. 5 – 120. 107 Pius XII., MP „Postquam Apostolicis litteris“ (09. 02. 1952), in: AAS 44 (1952), S. 65 – 152. 108 Pius XII., MP „Cleri sanctitati“ (02. 06. 1957), in: AAS 49 (1957), S. 433 – 600. 109 Vgl. Ciprotti, Osservazioni (Anm. 99), S. 157. 110 Vgl. Springhetti, Latinitas Fontium Iuris Canonici (Anm. 23), S. 134; Mauro Agosto, Latino per il Diritto Canonico. Avvio allo studio della microlingua, Lugano 2007, S. 316. 111 Vgl. Ciprotti, Observaciones (Anm. 99), S. 155: „[…] para mejorar la forma latina y la terminología del Código.“ 103

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nach dem Hinweis „corr.“ akribisch seine Verbesserungsvorschläge vor. Diese ordnet er in die folgenden elf Kategorien: 1. Einheitlichkeit der Terminologie (Uniformidad de terminologia), 2. Lexik/Wortschatz (Léxico), 3. Eigenheit der Wörter (Propriedad de los vocablos), 4. Satzbau (Sintaxis), 5. Formenlehre (Morfologia), 6. Anmerkungen zu Ausdrucksweisen (Otras observaciones pertinentes al lenguaje), 7. Doppeldeutige Ausdrücke und Wendungen (Palabras y construcciones ambiguas), 8. Rechtschreibung (Ortografia), 9. Zeichensetzung (Puntuación), 10. Stil und Spracheleganz (Estilo y elegancia) und schließlich 11. Entbehrliche Normen oder Ausdrücke (Normas o expresiones superfluas). Ciprottis Bestreben zielt darauf ab, Konstruktionen und Begriffe, die nicht im klassischen Latein gebräuchlich sind, zu vermeiden, ausgenommen Fachbegriffe zur Umschreibung moderner Gegebenheiten sowie auch einige Konstruktionen, die mittlerweile als traditionell gelten.112 Er spricht sich klar dafür aus, daß im CIC Wortschatz und Wendungen des klassischen Lateins gegenüber nichtklassischen vorzuziehen sind, wenn nicht Beweggründe anderes angeraten sein lassen.113 Gegen diese vielleicht allzu sprachpuristischen Bestrebungen Ciprottis hat sich in überzeugender Weise Nikolaus Hilling ausgesprochen, weil „dadurch […] der Zusammenhang mit den älteren Quellen und der Literatur des kanonischen Rechts gelöst“ würde, „was sicherlich nicht im Interesse der kirchlichen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis liegen kann.“114 Zwei Jahre später legte Ciprotti noch einen kurzen Beitrag in lateinischer Sprache „De vocabulorum usu ad ius subjectivum designandum in Codice Iuris Canonici“115 vor. Eine weitere Untersuchung zur latinitas canonica stammt von dem Jesuiten Aemilius [Emilio] Springhetti (1913 – 1976), Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana und auch am Päpstlichen „Institutum Altioris Latinitatis“. Das 1968 in der Reihe „Pontificium Institutum altioris latinitatis. Bibliotheca ,Veterum Sapientia‘, Series A“ erschienene Werk trägt den Titel „Latinitas Fontium Iuris Canonici“116. Darin bietet Springhetti eine ausführliche Darstellung zur literarischen Entwicklung und Herausbildung der lateinischen Kirchenrechtssprache. Die „Latinitas Codicis Iuris Canonici“ wird jedoch nur kurz behandelt, zumal er ausdrücklich seine Aufgabe nicht darin sah, die Latinität des Codex Iuris Canonici von 1917 zu erforschen und zu erläutern. Hierfür verweist er an erster Stelle auf Cip-

112 Vgl. Ciprotti, Observaciones (Anm. 99), S. 155: „[…] evitar construcciones o vocablos no usados en el latín antiguo, exceptuando los términos técnicos, los que expresan cosas o conceptos modernos y, además, algunas construcciones hoy ya tradicionales.“ 113 Vgl. Ciprotti, Observaciones (Anm. 99), S. 155: „[…] si no hay motivos que aconsejen otra cosa, preferir las palabras y construcciones clásicas a las no clásicas […]“ 114 Hilling, Rezension zu Observaciones (Anm. 100), S. 569. 115 Pius Ciprotti, De vocabulorum usu ad ius subiectivum designandum in Codice Iuris Canonici, in: EphIurCan 8 (1952), S. 129 – 133. 116 S. o. Anm 23.

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rotti, aber auch auf zwei Aufsätze von Lamberto de Echeverría und Klaus Mörsdorf.117 2. Zu den geltenden kirchlichen Gesetzbüchern Das geltende universale kanonische Recht liegt derzeit in zwei Kodifikationen in lateinischer Sprache vor, die beide von Papst Johannes Paul II. promulgiert worden sind.118 Für den quantitativ weitaus größeren und weltweit sich umspannenden lateinischen Rechtskreis ist es der CIC/1983119 und für die gut 20 katholischen orientalischen Kirchen der CCEO aus dem Jahre 1990120. Aufgrund einschlägiger Bestimmungen des Päpstlichen Staatssekretariats gilt ausschließlich der lateinische Gesetzestext als die einzig verbindliche bzw. authentische Fassung beider Gesetzbücher.121 Das Urheberrecht bzw. die Herausgabe von Ausgaben des lateinischen Originaltextes liegt beim Apostolischen Stuhl, der sich auch das Recht „der Übersetzung an den gesamtkirchlichen Gesetzbüchern ausdrücklich vorbehalten“122 hat. Vorgesehen ist jedoch die Möglichkeit, den Bischofskonferenzen die „Vorbereitung und Drucklegung der Übersetzungen“ anzuvertrauen, wobei den jeweiligen Druckausgaben der lateinische Text „beigefügt werden soll,“ während die Übersetzungen „selbst keinen rechtsverbindlichen Wert besitzen.“123 Die Übersetzungen in den zweisprachigen Ausgaben, wie sie für beide Gesetzbücher124 in zahlreichen modernen Sprachen erschienen sind,125 können demnach nur, wie Winfried Aymans im Vorwort zur ersten Auflage der lateinisch-deutschen 117 Vgl. Springhetti, Latinitas Fontium Iuris Canonici (Anm. 23), S. 132 – 134, hier S. 134; de Echeverría, El lenguaje del „Codex Iuris Canonici“ (Anm. 99) u. Mörsdorf, Zur Rechtssprache (Anm. 87). 118 Vgl. Libero Gerosa/Ludger Müller (Hrsg.), Johannes Paul II. – Gesetzgeber der Kirche, Paderborn 2017. 119 Codex Iuris Canonici. Auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus. Fontium annotatione et indice analytico-alphabetico auctus, Città del Vaticano 1989 (amtl. Ausgabe in: AAS 75/2 [1983], S. I – XXX u. 1 – 317). 120 Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium. Auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus, Typis Polyglottis Vaticanis 1990, in: AAS 82 (1990), S. 1031 – 1044 u. 1046 – 1363. 121 SecrStat, Normae. De Latino textu Codicis Iuris Canonici tuendo eodemque alias in linguas convertendo, in: Com 15 (1983), S. 41 und dass., Normae. De Latino textu Codicis Canonum Ecclesiarum Orientalium tuendo eodemque alias in linguas vertendo, in: Com 22 (1990), S. 231 sowie in: Nuntia 31 (1990), S. 36; vgl. Schmitz, Rechtsschutz für amtliche Texte und Werke (Anm. 72), S. 512 122 Schmitz, Rechtsschutz für amtliche Texte und Werke (Anm. 72), S. 510 u. 513. 123 Schmitz, Rechtsschutz für amtliche Texte und Werke (Anm. 72), S. 512. 124 Codex Iuris Canonici. Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe, Kevelaer 20178 ; Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium. Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen. Lateinisch-deutsche Ausgabe, hrsg. v. Libero Gerosa/Peter Krämer (= AMATECA – Repertoria 2), Paderborn 1990. 125 Vgl. die Beispiele bei Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 245 f. mit Fußnoten 18 u. 19.

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Ausgabe des Codex Iuris Canonici klarstellt, als Verständnishilfen angesehen werden, die „einen raschen unmittelbaren Zugang zu den Rechtsnormen“ erlauben, aber „auch im Interesse einer breiten Rezeption […] im kirchlichen Leben“ unerläßlich sind.126 In den Normen des Staatssekretariats zum lateinischen Text des CIC/ 1983 werden die dort genannten „conversiones in alios sermones“ – rechtssprachlich nicht einheitlich – auch als „interpretationes vernaculas“ bezeichnet.127 Aymans führt weiter aus, daß „der ansonsten begreifliche Wunsch nach einer aus einem Guß entwickelten deutschen Kirchenrechtssprache und auch mancher sprachästhetische Gesichtspunkt zurückzustehen“ hatte, zumal die Übersetzung dem Grundsatz folgte „,so wörtlich wie möglich, so lesbar wie nötig‘“.128 Bei den Revisionsarbeiten zur Neukodifikation wurde bereits auf „die Sicherstellung ihrer teminologischen Einheitlichkeit, besonders unter technisch-juridischem Aspekt“129 großer Wert gelegt. Zur Rechtssprache des CIC/1983 stellte Joseph Listl deshalb fest, daß diese „durch ein modernes, einfaches und von der pastoralen Sprechweise der Dokumente des II. Vat[ikanischen] Konzils geprägtes Latein gekennzeichnet“ sei.130 Listl konstatiert ferner, daß der Gesetzgeber in terminologischer Hinsicht „erkennbar und im Ergebnis durchaus erfolgreich um eine präzise und durchgehend einheitliche und damit im Rahmen des Möglichen eindeutige kanonistische Begrifflichkeit bemüht“ war.131 Die an der Rechtssprache des CIC/1917 vor allem von Mörsdorf geübte Kritik „einer Vieldeutigkeit und einer ,bedrohlichen Unsicherheit in der Terminologie‘“ könne „gegenüber dem CIC von 1983 nicht mehr aufrechterhalten werden.“132 a) Wichtige Vorarbeiten und grundlegende Erkenntnisse Zum neueren Forschungsstand zur kirchlichen Rechtssprache, wie sie sich vor allem in den beiden Gesetzbüchern CIC und CCEO manifestiert hat, läßt sich feststellen, daß es bislang keine Gesamtuntersuchung, etwa nach Mörsdorf’schem Vorbild gibt, wohl aber etliche Einzeldarstellungen zu einzelnen Begriffen. Insbesondere kann hier auf rechtssprachliche Studien verwiesen werden, welche aufgrund des CIC/1983 aus der sog. „Münchener Schule“ hervorgegangen sind.133 Das 126 Haering, Lateinische Sprache und kanonisches Recht (Anm. 7), S. 246; vgl. Winfried Aymans, Vorwort zur ersten Auflage des lat.-dt. CIC/1983, Nr. 1. 127 Vgl. lat. Text bei Schmitz, Rechtsschutz für amtliche Texte und Werke (Anm. 72), S. 512. 128 Aymans, Vorwort CIC (Anm. 126). 129 Praefatio/Vorrede zum CIC (Anm. 124), lat. S. XLVI, dt. XLVII. 130 Joseph Listl, Art. Codex Iuris Canonici, in: StL7 1, Sp. 1152 – 1156, hier Sp. 1154. 131 Listl, Art. Codex Iuris Canonici (Anm. 130), Sp. 1154. 132 Listl, Art. Codex Iuris Canonici (Anm. 130), Sp. 1154. 133 Z. B. Lothar Wächter, Gesetz im kanonischen Recht. Eine rechtssprachliche und systematisch-normative Untersuchung zu Grundproblemen der Erfassung des Gesetzes im katholischen Kirchenrecht (= MThSt.K 43), St. Ottilien 1989; Joachim Eder, Der Begriff

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ist vor allem darauf zurückzuführen, daß am Münchener Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik (vormals Kanonistisches Institut) im Rahmen des kanonistischen Fachstudiums zum Lizentiat im kanonischen Recht seit jeher auf die kirchliche Rechtssprache besonderer Wert gelegt wird.134 Eine ausführlichere allgemeine Darstellung, worauf es bei der kirchlichen Rechtssprache ankommt, bietet Winfried Aymans in dem von ihm neubearbeiteten Lehrbuch „Kanonisches Recht“ im ersten Band von 1991 auf den Seiten 128 – 132. Als Grundpostulat findet sich dort, daß ein Gesetzbuch „in allem klar und bestimmt“ ist, wofür es einer „festgefügten, einheitlichen Rechtssprache“ bedarf.135 D. h., daß Gleiches „mit gleicher Bezeichnung belegt und an dem einmal gewählten Wortsinn […] unbeirrt festgehalten werden“ muß, denn „Bestimmtheit und Einheitlichkeit des Wortgebrauchs geben dem Gesetz die notwendige juristische Klarheit und bieten der Gesetzesauslegung einen festen Rückhalt.“136 Außerdem hebt Aymans hervor, daß der Wille des Gesetzgebers nicht nur einer klaren Begrifflichkeit, sondern auch eines klaren grammatisch-syntaktischen Ausdrucks bedarf, weshalb „Begriffs- und Satzbildung […] für die Rechtssprache gleichermaßen bedeutend“ sind.137 Dieser Erfordernisse waren sich auch die für die Neukodifikation Verantwortlichen der CIC-Reformkommission durchaus bewußt. Das ist je„foedus matrimoniale“ im Eherecht des CIC (= DiKa 3), St. Ottilien 1989; Franz Kalde, Die Paarformel „fides # mores“. Eine sprachwissenschaftliche und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung aus kanonistischer Sicht (= DiKa 5), St. Ottilien 1991; Elmar Güthoff, „Consensus“ und „consilium“ in c. 127 CIC/1983 und c. 934 CCEO. Eine kanonistische Untersuchung zur Normierung der Beispruchsrechte im Recht der Lateinischen Kirche und der Orientalischen Kirchen (= FzK 18), Würzburg 1994; Winfried Aymans, Vom Grundstatut zum Gemeinstatut aller Gläubigen. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechtssprache, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hrsg.), Iuri canonico promovendo. FS Schmitz (65), Regensburg 1994, S. 3 – 22; Ludger Müller, Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht. Zur Abgrenzung von Recht und Moral in der deutschsprachigen Kirchenrechtswissenschaft (= MThSt.K 52), St. Ottilien 1999; Thomas A. Amann, Gebot und Verbot in der Rechtssprache des CIC, in: KarlTheodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae Mysterio. FS Aymans (65), St. Ottilien 2001, S. 3 – 28; Christoph Ohly, Officium ecclesiasticum. Ein rechtssprachlicher Vorschlag, in: AfkKR 177 (2008), S. 56 – 72; in dieser Linie der Münchener Schule ist auch die Arbeit einzuordnen von Andrea Stabellini, Il „mandatum“ del can 812 CIC e la „missio canonica“ dell’art. 27 § 1 Sp. Ch., Roma 2014; zur „Münchener Schule“ vgl. Müller (Anm. 1); ders., Das kanonische Recht (Anm. 15), S. 367 – 370. 134 In der „Akademischen Prüfungsordnung zur Erlangung des Grades eines Lizentiaten und eines Doktors des Kanonischen Rechtes der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Katholisch-Theologische Fakultät vom 27. April 1982“ (i. V. m. der „Satzung zur Änderung der Akademischen Prüfungsordnung zur Erlangung des Grades eines Lizentiaten und eines Doktors des kanonischen Rechtes der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Katholisch-Theologische Fakultät“ vom 03. März 2003 ist für die Erlangung des Lizentiats an sprachlichen Voraussetzungen außer dem obligatorischen Latinum (§ 4, Abs. 2.4) insbesondere ein Leistungsnachweis aufgrund der erfolgreichen Teilnahme an einer rechtssprachlichen Übung (§ 4, Abs. 2.5) samt einer schriftlichen Arbeit vorgeschrieben. 135 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 128. 136 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 128. 137 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 128.

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denfalls der Praefatio/Vorrede zum CIC zu entnehmen, wo es heißt, daß nach Neubehandlung aller Schemata eine gewichtige Arbeit für das Sekretariat der Kommission und die Konsultoren darin bestand, die innere Koordination aller Schemata vorzunehmen und deren terminologische Einheitlichkeit („uniformitas terminologica“) sicherzustellen, „besonders unter technisch-juristischem Aspekt“. Zu achten war hierbei außerdem auf „die knappe und treffende Formulierung der Canones und schließlich“ war eine systematische Gliederung endgültig zu erstellen, „damit alle einzelnen, von den verschiedenen Arbeitsgruppen vorbereiteten Schemata zu einem einzigen und in jedem Teil zusammenhängenden Codex wurden.“138 Ausdrücklich wird auch erwähnt, daß der vollständige Text „in der lateinischen Sprache geglättet worden“ sei.139 Gegenüber dem CIC/1917 sieht Aymans insgesamt einerseits insofern eine Verbesserung, als manche der bei Köstler und Mörsdorf beschriebenen rechtssprachlichen Mängel und manche Unstimmigkeiten behoben worden sind. Andererseits seien aber im CIC/1983 neue Mängel und Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Rechtssprache hinzugekommen.140 Die neuen Probleme in der Rechtssprache des CIC/1983 sind nach Aymans daraus erwachsen, daß „man öfters als der Sache dienlich allzu nahe beim Wortlaut des Konzilstextes geblieben“ sei. Ebenso habe „es in der Vielzahl der Kommissionen naturgemäß verschiedene Sprachvorlieben gegeben“. Folglich bestehen weiterhin „Unsicherheiten in der Rechtssprache“.141 Wiewohl nicht in einem eigenen Kapitel „Rechtssprache“ behandelt, finden sich in dem von Georg May und Anna Egler 1986 herausgebrachten Grundlagenwerk zur „Einführung in die kirchenrechtliche Methode“ wichtige Ausführungen über den „Begriff“ (S. 108 – 114), die „Bildung und die Bestimmung von Begriffen“ (S. 115 – 120), die „Rechtstexte“ (S. 149 – 151), die „Arten der Rechtssätze“ (S. 170 – 173) sowie über die „Auslegung der Gesetze“ (S. 183 – 228). Eine weitere Einzeldarstellung bietet Péter Erdo˝ in seinem lateinischen Beitrag von 1987 für die Zeitschrift „Periodica de re morali canonica liturgica“ über die im CIC/1983 verwendeten Ausdrucksformen für Verpflichtungen und Ermahnungen.142 Die letzte Darstellung, die einen Gesamtüberblick zu Problematik und Fragen der Rechtssprache des CIC/1983 bietet, ist jene von Lothar Wächter im dritten Band des „Lexikons für Kirchen- und Staatskirchenrecht“ von 2004 im Umfang von vier Spalten. Bei diesen Darstellungen geht es im wesentlichen darum, zu beschreiben, worauf es beim sachgerechten Umgang mit der lateinischen Rechtssprache, wie sie sich in den geltenden Gesetzbüchern manifestiert hat, ankommt. Ferner ist zu er138

Praefatio/Vorrede zum lat.-dt. CIC/1983 (Anm. 119), S. XLVII. Praefatio/Vorrede zum lat.-dt. CIC/1983 (Anm. 119), S. IL. 140 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 129. 141 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 132. 142 Péter Erdo˝ , Expressiones obligationis et exhortationis, in: PerRMCL 76 (1987), S. 3 –

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wähnen, daß der von Klaus Lüdicke seit 1984 herausgegebene „Münsterische Kommentar zum Codex Iuris Canonici“ außer einer kurzen „Terminologischen Übersicht vor 573“ zu den einschlägigen Bezeichnungen der kanonischen Lebensverbände (Orden) sog. „Terminologische Einführungen“ zum Sanktions- bzw. Strafrecht („vor 1311“) wie auch zum Prozeßrecht („vor 1400“) enthält, in denen „die Wahl der deutschen Begrifflichkeit für bestimmte lateinische Termini“ erklärt wird. Lüdicke weist hier einleitend auf das schwierige Unterfangen hin, lateinische Gesetzestexte in eine Landessprache zu übersetzen bzw. Verständnishilfen zu formulieren in einer deutschen Begrifflichkeit, „die eine Verständigung auch im Sprachgebrauch der Kommentierung ermöglicht und dabei die Vorzüge der Juristensprache realisiert“, nämlich „größtmögliche Einheitlichkeit des Sprachgebrauchs“, „größtmögliche Eindeutigkeit der Begriffe“ und „größtmögliche Sparsamkeit des Vokabulars“143. Um bei einem solchen Übertragungsversuch eine konsequente sprachliche Linie wahren zu können, müssen gleiche Sachen gleich bezeichnet und ein einzelner Begriff darf nicht für verschiedene Dinge verwendet werden.144 Lüdicke betont, daß Schwierigkeiten ferner daraus entstünden, „daß ein lateinischer Begriff mehrere Inhalte bezeichnen kann, während umgekehrt für verschiedene lateinische Wörter dasselbe deutsche am Platze sein mag.“145 Der Münsterische Kommentar bietet aber auch bei der Kommentierung der Kanones immer wieder nähere Aufschlüsse und Erkenntnisse zu rechtssprachlichen Schwierigkeiten einzelner Begriffe,146 die für eine sachgerechte Interpretation einer kirchenrechtlichen Vorschrift unerläßlich sind. Derselbe Autor hat außerdem unter der Bezeichnung „Kanonistenlateinisch-deutsches Lexikon“147 im Internet eine Wortliste im Umfang von 124 Seiten veröffentlicht, mit deren Hilfe „das spezifische lateinische Vokabular des kanonischen Rechtes leichter zu verstehen“ ist. Lüdicke macht nämlich darauf aufmerksam, daß die kirchliche Rechtssprache „verschiedene Begriffe und Wendungen“ aufweist, „die sich in keinem üblichen Lexikon finden“. Grundlage dieser Wortliste ist der CIC/1983, welche ergänzt ist „um relevante Begriffe des CIC/1917 und alles, was im kanonistischen Sprachgebrauch der Rota Romana, der päpstlichen Verlautbarungen und jedweder lateinischer Gesetzestexte als bedeutungsspezifisch begegnet.“ Jesús Bogarín Díaz hat in der Zeitschrift „Ius Canonicum“ einen Beitrag zum Latein des CCEO vorgelegt, dessen Ergebnisse auf verschiedenen Vergleichsas-

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Klaus Lüdicke, Terminologische Einführung vor 1400, in: MK CIC (Stand: März 1988). Vgl. Lüdicke, Terminologische Einführung (Anm. 143). 145 Lüdicke, Terminologische Einführung (Anm. 143). 146 Z. B. Georg Bier, Kanzler, Notare und Archive, vor 482, in: MK CIC (Stand: Dezember 1999). 147 www.uni-muenster.de/imperia/md/content/fb2/d-praktischetheologie/kanonischesrecht/ service/lexikon.pdf (Stand: 05. 12. 2015). 144

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pekten mit dem CIC beruhen.148 Die exemplarisch aufgelisteten Unterschiede klassifiziert er – ähnlich wie seinerzeit Ciprotti – in acht, hauptsächlich sprachwissenschaftliche Kategorien, nämlich nach Orthographie/Interpunktion, Phonetik, Morphologie, Lexik, Syntax, Semantik, Stil und Systematik. Als ein wesentliches Forschungsergebnis ragt die Erkenntnis hervor, daß der CCEO rechtssprachlich stärker nach dem klassischen Latein geformt sei als der CIC/1983. Bogarín Díaz verdeutlicht dies unter anderem am Beispiel des im CIC/1983 gebrauchten „moderneren“ Verbs recipio, welches im klassischen Latein besser durch das Verb suscipio ausgedrückt werde, das der CCEO verwende.149 Zusammenfassend stellt er fest, daß der orientalische Gesetzgeber sich nicht der abendländischen Kirchensprache verpflichtet gefühlt und freiwillig auf die stärker spezifizierte Terminologie der juristischen Tradition der Lateinischen Kirche verzichtet habe.150 Ein solcher Befund läßt auf den Einfluß Ciprottis zurückschließen, der seine oben genannte Studie, wie bereits erwähnt, für die Redaktion des „Codex Iuris Canonici Orientalis“ sowie für die Reform des Codex Iuris Canonici ausgearbeitet hatte.151 Die neueste deutschsprachige Fachliteratur zum CCEO wird bereichert durch den Forschungsbeitrag von Hubert Kaufhold „Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO)“152. Exemplarisch werden dort Besonderheiten ostkirchlicher Rechtsbegriffe verdeutlicht. In den Blick kommen hier zunächst „Lateinische Fremdwörter aus dem Griechischen im CCEO“, wie z. B. episcopus, clericus, canon und myron, „die auch im Orient allgemein bekannt sind“, sodann solche, die dort „nur mit Einschränkungen […] üblich sind“, wie beispielsweise Patriarcha, Metropolita und Synodus.153 Ecclesia, presbyterus, diaconus, syncellus, protopresbyter, oeconomus, monachus und baptismus sind, wie Kaufhold herausarbeitet, „Begriffe, für die es […] Lehnübersetzungen gibt“ und schließlich jene, wie hierarcha, eparchia, exarchus, parochus und typica, die „im Orient weitgehend unbekannt sind“.154 Als weitere Kategorie stellt Kaufhold folgende „Lateinische Begriffe im CCEO“ exemplarisch vor, „die aus dem Griechischen übersetzt sind“: Divina liturgia, laudes divinae, chrismatio sancti myri und Synodus permanens.155 Als „rein lateinische Begriffe im CCEO“

148 Jesús Bogarín Díaz, El latín del CCEO (Resultados de una comparación con el CIC), in: IusCan 42 (2002), S. 161 – 193: vom selben Autor stammt außerdem der Art. Latín (Anm. 24), S. 977 – 980. 149 Vgl. Bogarín Díaz, El latín del CCEO (Anm. 148), S. 191. 150 Vgl. Bogarín Díaz, El latín del CCEO (Anm. 148), S. 193. 151 Vgl. „Nota biografica“,S. 14, u. „Advertencia preliminar“, (Anm. 99), Anm. 1. 152 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 221 – 245. 153 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 226 – 230. 154 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 230 – 236. 155 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 237 – 239.

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sind sacramentum, ordinatio und celebratio matrimonii zu charakterisieren.156 Die letzte Kategorie bilden „orientalische Begriffe, die im CCEO nicht vorkommen“, in der catholicus, chorepiscopus, hegumenus (superior), archidiaconus, hypodiaconus und lector in latinisierter Form benannt sind.157 Als aufschlußreichen Befund hält Kaufhold fest, daß „das Bild der orientalischen Rechtssprache […] sehr viel bunter“ ist, „als es nach den Äußerungen über die angeblich einheitliche ostkirchliche Tradition den Anschein haben könnte.“158 Für den Umgang mit dem CCEO ist vor allem die Erkenntnis von zentraler Bedeutung, daß „die im CCEO verwendeten Ausdrücke […] nicht unbedingt den Sprachgebrauch aller orientalischen Kirchen wieder[geben], ganz abgesehen von der Frage, ob die rechtlichen Regelungen“ dieses Gesetzbuches „mit denen der jeweiligen Kirchen inhaltlich übereinstimmen.“159 Ein weiterer neuerer Beitrag stammt von Judith Hahn, die in dem umfangreichen Aufsatz – „Recht verstehen. Die Kirchenrechtssprache als Fachsprache: rechtslinguistische Probleme und theologische Herausforderung“160 – „vor allem die im deutschen Sprachraum gepflegte kirchliche Rechtssprache“ aus hermeneutisch-sprachtheoretischer Sicht betrachtet. Mit Blick auf die von Helmuth Pree angesprochene Theorie der kirchlichen Rechtssprache161 ist hier vor allem die von Hahn herausgearbeitete grundlegende Erkenntnis hervorzuheben, daß die kirchliche Rechtssprache, „die nach katholischem Selbstverständnis genuine Aussagen über die Kirche in ihrer irdischen Gestalt ermöglicht“ […] „Medium von Kirchenkommunikation und als solche ,aus dem Wesen der Kirche selbst‘ heraus begründet“ sei.162 Weiter folgert Hahn, daß „das Deutungssystem des Kirchenrechts“, aus dem „sich die kirchliche Rechtssprache entwickelt und verstehen lässt, […] nicht ein rechtswissenschaftlicher und -praktischer Spezialfall des allgemeinen Rechtsdiskurses [ist], sondern ein rechtssystemisch paradigmatisierter Spezialfall des Kirchendiskurses, […] der die rechtlich organisierte Wirklichkeit der gesellschaftlich verfassten Heilsgemeinschaft Kirche verbalisiert.“163 „Diese ,(theonome) Fundamentierung‘ des kirchlichen Rechts“ schlage „sich in den kirchlichen Rechtsbegriffen nieder.“164 Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der kirchlichen Rechtssprache muß folglich immer die Erkenntnis berücksichtigen, daß „bei der inhaltlichen Annäherung an kirchenrechtli156

Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache(Anm. 48), S. 239 f. Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 239 f. 158 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 242. 159 Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache (Anm. 48), S. 242. 160 Judith Hahn, Recht verstehen. Die Kirchenrechtssprache als Fachsprache: rechtslinguistische Probleme und theologische Herausforderung, in: Thomas Schüller/Martin Zumbült (Hrsg.), Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. FS Lüdicke (= BzMK 70), Essen 2014, S. 163 – 198, hier S. 177. 161 S. o. Anm. 3. 162 Hahn, Recht verstehen (Anm. 160), S. 184. 163 Hahn, Recht verstehen (Anm. 160), S. 184. 164 Hahn, Recht verstehen (Anm. 160), S. 184. 157

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che Begriffe nach einem in ihnen gefassten theologischen Begriffsgehalt zu fragen bzw. die Begriffsauslegung im Licht eines theologischen Denk- und Referenzsystems zu vollziehen“ ist.165 Damit dürfte vor allem auch jener Aspekt angesprochen sein, den Stephan Haering mit seinem Aufsatz über die „Konziliare Ekklesiologie und kanonische Sprache“166 aufgegriffen und entfaltet hat. b) Lexika und Hilfsmittel Bei einer Skizzierung des Forschungsstandes zur kirchlichen Rechtssprache dürfen schließlich auch kirchenrechtliche Fachlexika nicht unbeachtet bleiben, wie z. B. das von Axel Frhr. von Campenhausen, Ilona Riedel-Spangenberger und Reinhold Sebott unter Mitarbeit von Michael Ganster und Heribert Hallermann herausgegebene dreibändige „Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht“ (2000, 2002, 2004)167 oder das von Stephan Haering und Heribert Schmitz in der Reihe „Lexikon für Theologie und Kirche kompakt“ 2004 herausgegebene „Lexikon des Kirchenrechts“, in denen die wesentlichen kirchenrechtlichen Begriffe erschlossen sind, wobei spezifisch rechtssprachliche Gesichtspunkte nicht unbedingt im Vordergrund stehen. Für die spanischsprachige Fachwelt ist das siebenbändige Werk „Diccionario General de Derecho Canónico“ von 2012 zu nennen.168 Die jüngste Erscheinung auf begriffslexikalischem Gebiet, 2015 herausgegeben von Dominicus M. Meier, Elisabeth Kandler-Mayer und Josef Kandler, erschließt „100 Begriffe aus dem Ordensrecht“. Eine wichtige Funktion kommt den verschiedenen Hilfsmitteln169 zu. An erster Stelle ist hier der von Xaverius Ochoa (1923 – 1989)170, seinerzeit Professor an der Päpstlichen Lateranuniversität, in der Libreria Editrice Vaticana herausgebrachte „Index Verborum ac locutionum Codicis Iuris Canonici“ zu nennen, der zur Erschließung des kirchlichen Gesetzbuches von 1983171, insbesondere in rechtssprachlicher Hinsicht, gleichzeitig bereitstand. 1986 legte der Freiburger Kirchenrechtler Hartmut Zapp sein Stichwortverzeichnis zum Codex Iuris Canonici vor.172 165

Hahn, Recht verstehen (Anm. 160), S. 184. Stephan Haering, Konziliare Ekklesiologie und kanonische Sprache, in: Elmar Güthoff/ ders. (Hrsg.), Ius quia iustum. FS Pree (65), Berlin 2015, S. 61 – 80. 167 Das Nachfolgewerk mit geändertem Titel, „Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht – LKRR“ ist in Vorbereitung. 168 Diccionario General de Derecho Canónico (DGDC). Obra dirigida y coordinada por Javier Otaduy, Antonio Viana, Joaquín Sedano (Instituto Martín de Azpilcueta – Facultad de Derecho Canónico Universidad de Navarra), 7 Bde., Cizur Menor (Navarra) 2012. 169 Vgl. Heiner Grote, Was verlautbart Rom wie? Eine Dokumentenkunde für die Praxis (= Bensheimer Hefte 76), Göttingen 1995, S. 129 f. 170 Vgl. Aitor Jiménez Echabe, Art. Ochoa, Francisco Javier, in: DGDC 5, S. 681 f. 171 Editio secunda et completa, Libreria Editrice Lateranense, Città del Vaticano 1984. 172 Hartmut Zapp, Codex Iuris Canonici. Lemmata. Stichwortverzeichnis, Freiburg i. Br. 1986. 166

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Für den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium hat Ivan Zˇ uzˇ ek einen 1992 veröffentlichten „Index Analyticus“173 erarbeitet. Aufgrund der jüngsten Novellierungen der kirchlichen Gesetzbücher bedarf es mittlerweile auch einer Aktualisierung dieser Verzeichnisse selbst, insbesondere hinsichtlich veränderter Kanones-Fundstellen. Für die Forschungsarbeit zur kirchlichen Rechtssprache sind neben den bereits erwähnten Wörterbüchern von Sleumer und Köstler selbstverständlich auch sämtliche gängigen lateinischen Standardlexika, namentlich insbesondere „Der Neue Georges“174 und das zweibändige „Mediae Latinitatis Lexicon Minus“ bzw. „Mittellateinische Wörterbuch“ von Niermeyer/van de Kieft175 sowie die Klassischlateinischen Phraseologien von Schönberger und Meckelnborg176 wie schließlich auch die „Lateinische Synonymik“ von Menge/Schönberger177 von großem Nutzen. c) Ein Blick jenseits des deutschen Sprachraumes Ein exemplarischer Blick über den deutschen Sprachraum hinaus läßt vermuten, daß die Notwendigkeit einer landessprachlichen Begrifflichkeit zum Kirchenrecht sich dort möglicherweise nicht so dringend darstellt, zumal die Fachsprachen der italienischen, spanischen, portugiesischen, französischen, aber auch der englischsprachigen Kanonistik sehr stark vom Lateinischen bestimmt sind. Vor allem die aus dem sog. Vulgärlatein hervorgegangenen romanischen Sprachen sind in ihrem Wortschatz „im wesentlichen lateinisch geblieben.“178 Demgegenüber besteht „vor allem in den von der lateinischen Sprache entfernteren und daher weniger mitgeprägten Sprachen“179 eine größere Notwendigkeit für eine jeweilige kirchenrechtliche Fachsprache. In diesen nämlich „werden die rechtssprachlichen Probleme auch des authentischen Textes dann besonders deutlich, wenn im lateinischen Text

Ivan Zˇ uzˇek, Index Analyticus Codicis Canonum Ecclesiarum Orientalium (= Kanonika 2), Roma 1992. Unter der Leitung von Ludger Müller wurde im Wiener Institut für Kirchenrecht eine Datenbank zum Vokabular des CCEO erstellt, die aber noch nicht öffentlich zugänglich ist. 174 S. Anm. 60. 175 Jan Frederik Niermeyer/Co van de Kieft (Hrsg.), Mediae Latinitatis Lexicon Minus. Lexique latin medieval – Medieval Latin Dictionary – Mittellateinisches Wörterbuch, 2 Bde., überarb. v. J. W. J. Burgers, Leiden/Darmstadt 20022. 176 Wie Anm. 64 u. außerdem ebd. auch Filip-Fröschl/Mader, Latein in der Rechtssprache. 177 Hermann Menge, Lateinische Synonymik, überarb. von Otto Schönberger, Heidelberg 20109. 178 Rainer Nickel, Lexikon zum Lateinunterricht, Bamberg 2013, Romanische Sprachen, S. 243 f.; vgl. auch Bernhard Hurch, Art. Romanische Sprachen, in: Helmut Glück/Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 573 f.; ders., Art. Vulgärlatein, in: ebd., S. 760. Zu diesem unscharfen Begriff vgl. Kramer, Geschichte der lateinischen Sprache (Anm. 19), S. 156. 179 Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 130. 173

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ein und derselbe Begriff für verschiedene Sachverhalte Verwendung findet, für die die jeweilige Landessprache verschiedene Begriffe bereithält.“180 Dieser Zusammenhang könnte vielleicht eine Erklärung dafür sein, daß in kirchenrechtlichen Lehr- und Handbüchern sowie Kommentaren in vom Lateinischen stärker geprägten Sprachen, soweit ersichtlich, auf die Problematik der kirchlichen Rechtssprache nicht eingegangen wird.181 Einschlägige Ausführungen finden sich jedoch bei Paolo Gherri, der in seiner methodologischen Monographie „Canonistica, codificazione e metodo“ unter der Überschrift „il linguaggio“ auf die Rechtssprache eingeht und nach kurzen grundsätzlichen Erwägungen deren Problematik am Beispiel des Begriffes Legge darstellt.182 Für das Erlernen des Lateins als Fachsprache des kanonischen Rechts hat Mauro Agosto eine in italienischer Sprache verfaßte „Einführung in das Studium der Fachsprache“ vorgelegt.183 Ein weiterer Beitrag zur Pflege der latinitas canonica ist die vom selben Autor 2011 vorgelegte Anleitung für juristische Schriftsätze in Latein („Guida alla scrittura giurisprudenziale in latino“).

IV. Zusammenfassende Würdigung Aufgrund der bisherigen Darlegungen läßt sich feststellen, daß vor allem die Publikationen, die von Sleumer, Köstler und Mörsdorf, aber auch Ciprotti auf der Grundlage des CIC/1917 erarbeitet worden sind, auch mangels aktueller Fortschreibung sich bis heute als nützliche und unübertroffene Standardwerke zur kirchlichen Rechtssprache behaupten konnten. Sie sind nach wie vor unentbehrliche Hilfsmittel für das richtige Verständnis der lateinischen Rechtsbegrifflichkeit, zumal darin das Fundament der Kirchenrechtswissenschaft besteht.184 Wiewohl sich seitdem der lateinische kirchenrechtliche Wortschatz nicht grundstürzend verändert hat, besteht dennoch ein dringendes Desiderat, das im wesentlichen aus dem CIC und nunmehr seit 1990 auch dem CCEO bestehende kanonistische Sprachkorpus lexikographisch aufzubereiten. Die hiermit verbundenen Aufgaben ergeben sich aus dem Begriff der „Lexikographie (Wörterbuchschreibung)“, 180

Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 130. Exemplarisch seien genannt: José T. Martín de Agar, Elementi di Diritto Canonico, Roma 1996 (engl. Übers.: ders., A Handbook on Canon Law, Montréal 2007); Luigi Chiappetta, Il Codice di diritto canonico. Commento giuridico-pastorale (I – III), Bologna 20113 ; Gianfranco Ghirlanda, Introduzione al diritto ecclesiale. Lineamenti per una teologia del diritto nella Chiesa, Roma 2013. 182 Paolo Gherri, Canonistica, codificazione e metodo (= Quaderni di Apollinaris 14), Città del Vaticano 2007; vgl. ebd., S. 367 – 372, hier S. 368 – 372. 183 Agosto, Latino per il Diritto Canonico (Anm. 110). 184 Vgl. Hilling, Codicis Juris Canonici Glossarium (Anm. 81), Praefatio et Dedicatio: „In recta enim verborum et formularum iuris interpretatione omne fundamentum iuris canonici scientiae positum esse, nemo est qui nescit.“ 181

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wonach es hierbei um das wissenschaftliche Konzipieren, Verfassen, Bearbeiten und Herausgeben von Nachschlagewerken geht.185 Als grundlegende Hilfsmittel stehen für die Erarbeitung eines lexikographischen Werkes zur kirchlichen Rechtssprache bereits die Wörterverzeichnisse von Ochoa, Zapp und Zˇ uzˇ ek zur Verfügung, anhand derer die Basiseinheiten als aufzunehmende Lemmata186 festgelegt werden können. Die Verwirklichung eines solchen Projektes dürfte, um in einem zeitlich überschaubaren Zeitraum zu bleiben, wohl nur arbeitsteilig bewältigt werden können. Vielleicht bedarf es außerdem auch erst der ruhestandsbedingten Entpflichtung von der akademischen Lehre, um sich als Projektverantwortlicher an eine solche Aufgabe heranwagen zu wollen.

185 Nach Gregor Kalivoda, Art. Lexikographie, in: HWRh 5, Sp. 193 f., hier S. 193; Art. Lexikographie, in: Hadumod Bußmann (Hrsg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 20084, S. 405 f.; Helmut Glück, Art. Lexikographie, in: ders./Michael Rödel (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 20165, S. 401; Klaus Alpers, Art. Lexikographie I., in: DNP 15/1, Sp. 126 – 131; Dietfried Krömer, Artt. Lexikographie II. u. III., in: DNP 15/1, Sp. 131 – 142 u. 143 – 149. 186 Vgl. Kalivoda, Art. Lexikographie (Anm. 185), Sp. 193.

Kirchliches Verfassungsrecht

Papa emeritus Anmerkungen zum Titel eines Papstes post renuntiationem Von Anna Egler Der Verzicht Papst Benedikts XVI. auf das Petrusamt, ein Akt, der seit sieben Jahrhunderten nicht mehr erfolgte, hat Fragen um den künftigen Status des Resignierenden aufgeworfen. Regelungen und Normierungen für eine solche Situation gab und gibt es nicht, weder im Codex von 1917 noch in jenem von 1983. Die cc. 221 CIC/1917 und 332 § 2 CIC/1983 benennen nur die Möglichkeit eines päpstlichen Amtsverzichtes und das Erfordernis für dessen Gültigkeit. Benedikt XVI. hat nun für (sich) einige Details für die Zeit post renuntiationem festgelegt. Überraschend wie der Amtsverzicht des Papstes1 war, so ungewöhnlich ist auch der von ihm gewählte Titel Papa emeritus2. In den folgenden Überlegungen soll dieser Titel hinsichtlich seiner sprachlichen Formulierung betrachtet und gefragt werden, ob dieser von Papst Benedikt gewählte Titel für seinen Status nach der Resignation zutreffend ist und schließlich welche anderen Titel möglich und angemessener wären.

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Aus der Literatur zum Amtsverzicht eines Papstes allgemein und dem Benedikts XVI. werden nur die jüngsten Publikationen angeführt, in denen auf frühere Veröffentlichungen hingewiesen wird: Walter Brandmüller, Renuntiatio Papae. Alcune riflessioni storico-canonistiche, in: Stato, Chiese e pluralismo confessionale. Rivista telematica 26 (2016), S. 1 – 14; Sebastian Klappert, Der Amtsverzicht des Papstes. Kirchenrechtliche Anmerkungen aus Anlass des Amtsverzichts Papst Benedikts XVI., in: AfkKR 183 (2014), S. 57 – 75; Matthias Pulte, Der Amtsverzicht Papst Benedikts XVI. vom 11. Februar 2013. Erwägungen aus kirchenrechtlichem Blickwinkel, in: TThZ 123 (2014), S. 67 – 81; Bernd Eicholt, Einige Fragen zum Amtsverzicht Benedikt XVI. aus Sicht des kanonischen, vatikanischen und deutschen Rechts, in: KuR 19 (2013), S. 30 – 39; Gianfranco Ghirlando, Cessazione dall’ufficio di Romano Pontefice, in: La Civiltà Cattolica Nr. 3905 vom 02.03.2013, S. 445 – 462 (Text auch online verfügbar unter: http://www.chiesa.espresso.repubblica.it/articolo/1350455 [Stand: 22. 01. 2017]); Valerio Gigliotti, La tiara deposta. La rinuncia al papato nella storia del diritto e della Chiesa (= Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura religiosa. Studi XXIX), Firenze 2013. 2 Dieser Titel wurde – wohl im Rückgriff auf Äußerungen des Papstes Johannes Pauls II. in den Jahren 1994 und 2002 (s. u. IV. mit Anm. 60 u. 61) – im Juli 2004 vorgeschlagen von Markus Graulich, Die Vakanz des Apostolischen Stuhls und die Wahl des Bischofs von Rom. Zwei Rechtsinstitute in der Entwicklung, in: AfkKR 174 (2005), S. 75 – 95, hier S.78.

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I. Papa emeritus 1. Papa Der Titel Papa emeritus ist anscheinend in Anlehnung an die Bezeichnung Episcopus emeritus formuliert worden. Schon in dieser parallel angelegten Wortschöpfung scheint die Problematik auf. Der aus dem griechischen Bereich stammende Begriff Papa wurde in den ersten Jahrhunderten im Osten für Äbte, Bischöfe und Patriarchen gebraucht. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ist dieser Titel in Rom für Papst Liberius (352 – 366) bezeugt. Ab Mitte des 5. Jahrhunderts erhielt der Bischof von Rom gewohnheitsmäßig diesen Ehrentitel. Seit dem Ausgang des christlichen Altertums und schließlich der Festlegung durch Papst Gregor VII. (1073 – 1085) war der Titel in der lateinischen Kirche allein dem Bischof von Rom als dem regierenden Papst vorbehalten.3 Bei den Titeln für den Inhaber des Papstamtes, die in verschiedenen Epochen Servus servorum Dei, Pontifex Maximus, Vicarius Christi und seit Johannes Paul II. Pastore Universale della Chiesa verwendet bzw. bevorzugt wurden, ist Papst der allgemein bekannteste und auch gebräuchlichste. Mit ihm wird in der römisch-katholischen Kirche eindeutig der jeweilige Nachfolger des hl. Petrus, des ersten Papstes, bezeichnet. 2. Emeritus Das Partizip Perfekt emeritus des Verbs emerere, auch emereor, wurde in der Antike sowohl als Adjektiv wie als Substantiv gebraucht. Die Wortbedeutung ist reich an Facetten. Sie reicht von (hoch)verdient, verdienstvoll, ehrenvoll bis ausgedient, alt, betagt. Im Römischen Reich werden emerere/emereor und emeritus häufig im Bereich des Kriegs- bzw. Militärdienstes verwendet. Ein ausgeschiedener, ausgedienter Soldat, der Veteran, ist ein emeritus, ein emeritus stipendia. Allgemeiner kann emeritus verdienter Mann bedeuten, auch alt, mit negativem Anstrich unbrauchbar geworden.4 Im 19. Jahrhundert wird emeritus als Substantiv wie als Adjektiv im Zusammenhang mit den Versorgungsanstalten für alte, kranke und aus welchen Gründen auch immer dienstunfähige Geistliche verwendet. Emeriti sind im Gegensatz zu den Demeriti aus ihrem Amt geschiedene verdiente Priester.5 Diese Häuser, die entweder bestan3 Klaus Schatz, Art. Papst, Papsttum I. Begriff und Ursprung, in: LThK3 8, Sp. 1327; Georg Schwaiger, Art. Papst I. Name und Titel, in: LThK2 8, Sp. 36 – 37; Ludwig Kösters, Art. Papst I. Begriffsbestimmung, in: LThK 7, Sp. 928. 4 Thesaurus Linguae Latinae Vol. V, 2 Fasc. 1, Leipzig 1931, Sp. 469 – 472; Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel I, Basel/Stuttgart 19589, Sp. 2400 – 2401; Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, begründet v. Paul Lehmann/Johannes Stroux, hrsg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 3. Bd., München 2007, Sp. 1227 – 1228. 5 Emeriten-Anstalten, geistliche, in: Andreas Müller, Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie. In Beziehung auf Ersteres mit steter Rücksicht auf die neuesten Concordate, päpstlichen Umschreibungs-Bullen und die besonderen Verhältnisse der ka-

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den oder neu zu errichten waren – wie Art. LVI der Bulle „De salute animarum“ für das Königreich Preußen vom 16. Juli 1821 forderte – sollten „ad aliendos emeritos senes vel infirmos sacerdotes“ dienen.6 In Art. XIII der Zirkumskriptionsbulle „Provida solersque“ für die Oberrheinische Kirchenprovinz vom 16. August 1821 erscheinen neben den Emeriti auch die Demeriti, für die ein Haus zu errichten ist und nach Art. XIV derselben Bulle hat der Bischof die in der Diözese Mainz bestehende Domus Eremitorum im ehemaligen Kloster der Augustinerchorherren in Pfaffen-Schwabenheim weiterhin zu erhalten.7 Das Bayerische Konkordat vom 05. Juni 1817 bezeichnete in Art. VI die Bewohner eines Emeritenhauses als „senes Clerici benemeriti“8, als verdiente, in Ehren aus dem Amt geschiedene Geistliche. An die Stelle der Emeritenanstalten ist der Emeritenfonds getreten, eine Kasse, in die die diensttuenden Geistlichen Pflichtbeiträge für ein künftiges Ruhegehalt einzahlen.9 Das Deutsche Wörterbuch von Wahrig gibt das transitive Verb emeritieren – im Rückgriff auf das lateinische emeritus – mit in den Ruhestand versetzen, emeritiert werden wieder. Der Emeritus ist eine in den Ruhestand versetzte Person. Besonders Geistlichen und Hochschullehrern wird der Titel Emeritus zuerkannt.10 In diesem Sinne trifft die Bezeichnung emeritus auf Personen zu, die in Ehren entweder aufgrund der im Recht festgelegten Altersgrenze oder der Annahme des Verzichtes durch die zuständige Autorität aus dem Amt ausscheiden.

II. Die Emeritierung 1. Nach kirchlichem Recht a) Die Beratungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil Die Frage des Amtsverzichtes des Bischofs bei Erreichen eines bestimmten Alters wurde während der zweiten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (29. September – 04. Dezember 1963) einlässlich, lebhaft und kontrovers diskutiert. Das den Vätern zum Bischofsdekret vorgelegte Schema enthielt den Vorschlag eines tholischen Kirche in den verschiedenen deutschen Staaten, 2. Bd., Regensburg 18512, S. 705 – 716; Othmar Heggelbacher, Art. Emeriten, in: LThK2 3, Sp. 846. 6 Ferdinand Walter (Hrsg.), Fontes Iuris Ecclesiastici antiqui et hodierni, ND Aalen 1966, S. 239 – 262, hier S. 258 – 259. 7 Walter, Fontes (Anm. 6), S. 322 – 335, hier S. 328 u. 330. In Pfaffen-Schwabenheim bestand dieses Altersheim von 1811 – 1826; vgl. Pfaffen-Schwabenheim, in: Karl Johann Brilmayer, Rheinhessen in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichte der bestehenden und ausgegangenen Städte, Flecken, Dörfer, Weiler und Höfe, Klöster und Burgen der Provinz Rheinhessen nebst einer Einleitung, Gießen 1905, S. 385 – 388; https://de.wikipedia.org/wiki/ Augustiner-Chorherrenstift_Pfaffen-Schwabenheim (Stand: 22. 01. 2017). 8 Walter, Fontes (Anm. 6), S. 204 – 212, hier S. 207. 9 Mörsdorf, Lb II (11. Auflage), S. 109. 10 Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, neu hrsg. v. Renate Wahrig-Burfeind. Mit einem „Lexikon der deutschen Sprachlehre“, Gütersloh 1997, S. 416.

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solchen Verzichtes.11 In den Stellungnahmen der Konzilsväter in den Generalkongregationen vom 05.–15. November 1963 scheinen zwei Aspekte auf: grundsätzlich und immer den Amtsverzicht auf das Bischofsamt bei Erreichen eines bestimmten Alters zu ermöglichen, wobei in der Regel das 75. Lebensjahr als Altersgrenze favorisiert wurde, und die eindeutige Ablehnung eines Amtsverzichtes für Residenzialbischöfe.12 Diese Ablehnung wird mit der geistlichen Vaterschaft des Bischofs begründet;13 diese ist eine dauernde, weil das Bischofsamt ex natura sua ohne zeitliche Begrenzung verliehen und allein durch den Tod beendet wird.14 Schließlich besteht zwischen dem Bischof und seiner Diözese ein spirituelles Band, das einem Amtsverzicht entgegensteht.15 Gegen das Angebot eines Amtsverzichtes bzw. dessen Annahme durch den Papst wurde das Argument angeführt, dass die Bischöfe eine potestas propria haben, die ihnen von Christus verliehen ist. Sie sind keine Vikare des Papstes, ihre Potestas entspringt nicht dessen höchster und universaler Gewalt.16 Überraschend ist, dass die Konzilsväter in Redebeiträgen zur Frage eines Amtsverzichtes des Residenzialbischofs einen solchen des Papstes für ausgeschlossen hielten. Während der Tenor war, dem Bischof die Möglichkeit des Amtsverzichtes einzuräumen, wiesen die Konzilsväter diese für den Papst ab, obwohl ihnen klar war, auch er kann auf das Pontifikat verzichten.17 Denn das Argument, im Bischofsamt bis zum Lebensende wirken zu sollen, war ihnen für das Papstamt zu selbstverständlich. Daher ist es auch ungeziemend über eine Altersgrenze für den Papst zu diskutieren. Kardinal Suenens, der Erzbischof von Mecheln-Brüssel (1904 – 1994), der die Altersgrenze von 75 Jahren für die Bischöfe sehr befürwortete, äußerte zum Pontifex: „Patet ex natura rei has exigentias quoad limitem aetatis non competere Summo Pontifici cuius perpetuitas in munere requiritur ex ipso bono Ecclesiae universalis.“18 Konzilsväter, die einen Amtsverzicht des Residenzialbischofs befürworteten, schlugen auch den Titel vor. Nach der Annahme der Renuntiatio durch den Papst soll der Resignierende den Titel Episcopus emeritus seiner Diözese erhalten.19 Papst Paul VI. legte in Nr. 11 des Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ vom 06. August 11 Zu Details vgl. Klaus Mörsdorf, Einleitung und Kommentar zu CD, in: LThK2-K 2, S. 128 – 146, hier S. 130 u. 133 f. 12 Diese Ausführungen sollen „radicaliter“ getilgt werden (Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II, Vol. II, Pars IV, S. 723 [64. Generalkongregation. 11. 11. 1963]); vgl. auch Pars V, S. 112, 120, 133, 175. 13 ActSynVat Vol. II, Pars IV, S. 371, A. 13: Im Schema soll nichts festgelegt werden, was gegen die Würde und den väterlichen Charakter, die indoles paterna verstößt und unziemlich ist. 14 ActSynVat Vol. II, Pars V, S. 120; Pars IV, S. 730: „nominatur vel eligitur ad dies vitae“; Pars IV, S. 743: „episcopatus est aliquid stabile et perpetuum“. 15 ActSynVat Vol. II, Pars IV, S. 723. 16 ActSynVat Vol. II, Pars IV, S. 921; Pars V, S. 82. 17 Letzte maßgebliche Quelle vor dem Konzil: c. 221 CIC/1917 mit Fontes. 18 ActSynVat Vol. II, Pars V, S. 12 (12. November 1963 – Zitat), S. 63, 175. 19 ActSynVat Vol. II, Pars V, S. 17, 18 – 20, S. 126 (Beispiele). So in c. 402 § 1 CIC/1983.

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1966 die Altersgrenze für ein Ausscheiden des Bischofs aus dem Amt fest.20 Doch wie im Konzilsdekret „Christus Dominus“ fehlte auch im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ ein Titel für den Bischof, dessen Amtsverzicht angenommen worden ist.21 Aufgrund einer Entscheidung der Bischofskongregation vom 07. November 1970 erhält dieser den Ehrentitel Episcopus emeritus mit Anfügung des Namens seiner bisher innegehabten Diözese, nicht mehr jenen eines nicht mehr existierenden Bistums. Die fortbestehende geistliche Verbundenheit mit dem früheren Bistum kann dadurch ausgedrückt werden, dass der bisherigen Amtsbezeichnung Worte wie z. B. olim, quondam (già, ancien, former, alt, retirado, antiguo, o altre equivalenti) vorangestellt werden.22 Im Jahre 1980 sind in das Schema CIC 1980 der PCR in den zur Beratung vorgelegten cc. 368 § 1 und 369 § 1 die zwei von der Bischofskongregation 1970 festgelegten Anliegen, die Altersgrenze für einen Amtsverzicht und der Titel, den der Bischof erhalten soll, dessen Amtsverzicht angenommen wurde, eingegangen. Die Zählung der Canones und die sprachliche Fassung des Schema novissimum von 1982 sind identisch mit c. 401 § 1 CIC/1983 (Altersgrenze des 75. Lebensjahres) und c. 402 § 1 CIC/1983 (Titel Emeritus für den Bischof, dessen Renuntiatio vom Papst angenommen wurde).23 Der im Rahmen des Themas vor allem interessierende c. 402 § 1 CIC/1983 lautet: „Episcopus, cuius renuntiatio ab officio acceptata fuerit, titulum emeriti suae dioecesis retinet.“ D. h. die Annahme des Verzichtes durch den Papst,24 der das Amt verliehen hat, bewirkt, dass der Titel Episcopus emeritus geführt werden kann. Diesem Titel wird der Name der bisher geleiteten Diözese angefügt; der Bischof ist aber nun Titularbischof.25 Der Papst emeritiert, er entlässt aus dem Amt, genehmigt das Ausscheiden. b) CIC/1917 und CIC/1983 Die cc. 184 §§ 1 – 2 und 187 CIC/1983 treffen Festlegungen, die allgemein für die Erledigung eines Kirchenamtes gelten.26 Den Amtsverzicht des Bischofs regeln die im CIC/1983 neuen cc. 401 und 402. Die §§ 1 – 2 des c. 401 benennen die Gründe für das Angebot eines Amtsverzichtes an den Papst, die Vollendung des 75. Lebensjahres und gesundheitliche oder andere schwerwiegende Gründe. Nach c. 402 § 1 erhält der 20

AAS 58 (1966), S. 757 – 782; c. 402 § 1 CIC/1983 mit Fontes; C Ep, DirH, Nr. 225. Den Titel Episcopus emeritus dem Diözesanbischof zu verleihen, dessen Verzicht angenommen wurde, hatte Klaus Mörsdorf bereits in seinem Kommentar zu CD Art 21 (LThK2K 2, S. 187) angeregt. 22 Text: Ochoa, Leges V, Sp. 6392 – 6393, nrn. 4136, Sp. 7238 – 7239, nr. 4465; vgl. Hubert Socha, c. 185, Rdnr. 1, in: MK CIC (Stand: August 1988). 23 Schema CIC 1980, S. 89, 92; Schema CIC 1982, S. 74. 24 Vgl. c. 189 § 1, c. 377 § 1 u. c. 416 CIC/1983. 25 Zu c. 402 C Ep, DirH, Nr. 225; Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 339. 26 Christoph Ohly, Das Kirchenamt, in: HdbKathKR3, S. 234 – 251, hier S. 247 – 248; Norbert Witsch, Art. Emeritus, in: LKStKR 1, S. 590 – 591; Hubert Socha, c. 185, Rdnrn. 1 – 7, in: MK CIC (Stand: August 1988). 21

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aus dem Amt geschiedene Bischof den Titel „Emeritus“; ebenso kann dieser Titel nach c. 185 CIC/1983 bei (ehrenvoller) Amtserledigung verliehen werden. So ist z. B. in den Statuten des Mainzer Domkapitels i. d. F. v. 29. Februar 2000 festgeschrieben, dass der Dekan und ein Kapitular nach Annahme seines Verzichtes auf das Amt im Kapitel bei Vollendung des 70. bzw. 75. Lebensjahres durch den Diözesanbischof den Titel eines „emeritierten“ Dekans oder Kapitulars erhält.27 Der CIC/ 1917 kannte weder eine festgelegte Altersgrenze für den Verzicht auf ein Kirchenamt noch die Bezeichnung Emeritus, emeritiert.28 2. Das staatliche Recht Die Bestimmungen des weltlichen Rechtes und die daraus folgende Vorgehensweise, vor allem im Hinblick auf den Hochschulbereich, gleichen jenen in der Kirche. Der Vorgesetzte entpflichtet vom Dienst, z. B. einen Hochschullehrer, der sich dann Professor emeritus nennen kann. Im Hochschulrecht erscheint der Titel des emeritierten Professors im Kontext der Entpflichtung, die vorgängig ist, wie die betreffenden Gesetze des Landes Rheinland-Pfalz, das Landesbeamtenversorgungsgesetz und das Landesbesoldungsgesetz Rheinland-Pfalz erkennen lassen.29 Die These 13 Ziff. 2 Abs. 3 der Alternativthesen der Westdeutschen Rektorenkonferenz für ein Hochschulrahmengesetz des Bundes von 197030 beweist, dass eine Emeritierung erteilt wird: „Beamtete Professoren werden bei Erreichung der Altersgrenze emeritiert.“31 Die entscheidende Parallelität besteht darin, dass aufgrund der Entscheidung einer höheren Autorität die Emeritierung erfolgt: Der Professor wird entpflichtet und ist Professor emeritus, so kann auch vom Bischof gesagt werden, er wird von seinen Amtsaufgaben entpflichtet und ist Episcopus emeritus. Anders als beim Professor emeritus, in dessen Titel die Zugehörigkeit zu seiner Universität nicht vorkommt, ist in den Titel des Episcopus emeritus die 27 2. Kap. § 4, 2, 3, online verfügbar unter: http://downloads.bistummainz.de/10717 4516845098.pdf (Stand: 24. 04. 2017). 28 Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici. Eine kritische Untersuchung, Paderborn 1937 (= unv. ND Paderborn 1967), Reg. S. 412. Ein Amtsverzicht war aus den in c. 401 § 2 genannten Gründen auch in früheren Zeiten möglich. Vgl. die Bitten um die Annahme einer renuntiatio in: X I, 9; VI I, 7; Clem. I, 4. 29 Vgl. z. B. LBeamtVG Rheinland-Pfalz vom 18. 06. 2013 § 94 (3) (http://landesrecht.rlp. de/jportal/portal/t/197u/page/bsrlpprod.psml?pid [Stand: 22. 01. 2017]); Landesbesoldungsgesetz (LBesG) vom 18. 06. 2013 § 43 (http://landesrecht.rlp.de/jportal/?quelle=jlink&query= BesGRP&psml=bsrlpprod.psml [Stand: 22. 01. 2017]) mit HochSchG Rheinland-Pfalz in der Fassung vom 19. 11. 2010, § 124 (1), (2); vgl. auch Andreas Reich, Bayerisches Hochschulpersonalgesetz. Kommentar, Bad Honnef 2010, S. 362 – 368 (Art. 34: Entpflichtung und Altersgrenze). 30 Plenarsitzung vom 12. 05. 1970 (Dokumente zur Hochschulreform 1970). 31 Zitiert nach Hans Gerber, Forschung und Lehre. Bemerkungen zur derzeitigen Neugestaltung deutscher Hochschulen, in: Klemens Pleyer/Dietrich Schultz/Erich Schwinge (Hrsg.), FS R. Reinhardt (70), Köln-Marienburg 1972, S. 401 – 410, hier S. 404 (kursiv nicht im Original).

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von den Konzilsvätern gewünschte Betonung der spirituellen Verbindung des Bischofs mit seiner Diözese aufgenommen. Daher lautet der Titel z. B. Bischof em (eritus) von Mainz oder für den einstigen Erzbischof Ratzinger Arcivescovo emerito di München-Freising.32 Der ehemalige Papst Benedikt XVI. bezeichnet sich als Papa emeritus. Dieser Titel ist nicht angemessen, denn er entspricht nicht der Sache bzw. seinem nach dem Verzicht veränderten Status. Ein Papst kann nicht in gleicher Weise wie ein Bischof als Emeritus bezeichnet werden. Im Hinblick auf den Episcopus emeritus ist der Vorgang der Emeritierung zu bedenken. Wie bereits dargelegt, werden Bischöfe mit Vollendung des 75. Lebensjahres gebeten, dem Papst den Amtsverzicht anzubieten, der über diesen in Abwägung aller Umstände entscheidet (c. 401 § 1 CIC/1983) und diesen annimmt. Für einen solchen Akt eines Papstes kann weder auf kirchliche Normen zurück gegriffen noch eine Instanz für dessen Annahme benannt werden, weil er der Inhaber der höchsten Jurisdiktionsgewalt in der Kirche ist (vgl. c. 333 §1 CIC/1983). Die Annahme des Amtsverzichtes eines Bischofs, der nach dieser Episcopus emeritus wird/ist, und die Renuntiatio eines Papstes unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihres Wesens wie auch der erforderlichen Voraussetzungen bzw. Begründungen. Für den Amtsverzicht des Bischofs werden diese benannt. Es sind objektive vorhandene Tatsachen und Verhältnisse: Vollendung des 75 Lebensjahres, angegriffene Gesundheit oder ein anderer schwerwiegender Grund, der eine ordnungsgemäße Amtsführung unmöglich macht. Der Amtsverzicht eines Papstes ist nur gültig, wenn er in Freiheit vollzogen und hinreichend (öffentlich) kundgetan wird („ad validitatem requiritur ut renuntiatio libere fiat et rite manifestetur“: c. 221 CIC/1917; c. 332 § 2 CIC/1983).33 Das kirchliche Recht führt für einen solchen Schritt keine Gründe an, aber diese sollten besonders gewichtige sein, damit dieser als erlaubt, moralisch verantwortet, gelten kann. Die Gründe für eine Renuntiatio müssen am „bonum commune Ecclesiae“ Maß nehmen und auf dieses ausgerichtet sein.34

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S. AnPont 2005, S. 75* (Kardinal Joseph Ratzinger). Die Bestimmungen über den Verzicht auf ein Kirchenamt gemäß c. 189 CIC/1983 sind für den Papst nur bedingt heranzuziehen (Hugo Schwendenwein, Der Papst, in: HdbKathKR 3, S. 447 – 468, hier S. 459); Georg Bier, c. 332, Rdnr. 10, in: MK CIC (Stand: Januar 2008). 34 Franz Gillmann, Die Resignation der Benefizien. Historisch-dogmatisch dargestellt, in: AfkKR 80 (1900), S. 50 – 79, 346 – 378, 523 – 569, 665 – 708, hier S. 350; Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 4 u. 10 wirft daher die Frage auf, ob „motivi personali“ zur Begründung eines Amtsverzichtes ausreichend und moralisch zu verantworten sind („Tale rinuncia è considerata un factum inauditum“ [kursiv im Original]). 33

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III. Der Amtsverzicht des Papstes 1. Regelung des kirchlichen Rechtes Seit der Renuntiatio Cölestins V. ist es unbestritten, dass ein Papst auf das Papstamt verzichten kann.35 Resignationen waren in der Kirche schon vor 1294 üblich. Im „Liber Extra“ z.B. finden sich viele von Bischöfen an den Papst gerichtete Bitten den Amtsverzicht zu gewähren.36 Die allgemein herrschende Überzeugung, dass der Papst zurücktreten kann, wurde in c. 221 CIC/1917 und c. 332 § 1 CIC/1983 festgeschrieben: „Si contingat ut Romanus Pontifex renuntiet/muneri suo renuntiet […]“. Allerdings lassen die die Canones einleitenden Worte „Si contingat“ erkennen, wie gering die Wahrscheinlichkeit einer Renuntiatio angesehen und eigentlich als sich nicht ereignend eingeschätzt wurde bzw. wird. D. h., der Amtsverzicht des Papstes war im Recht festgeschrieben, theoretisch immer denkbar, aber als in der Realität nicht vorkommend angesehen. Mit dem freiwilligen Verzicht, der kundgegeben wird, endet das Amt des Papstes, die Bischofsweihe, die der oberste Hirte der Kirche empfangen haben muss (c. 332 §1 CIC/1983), kann nicht erlöschen. Diese im Amt des Pontifex vereinigten Gewalten des Papstes und des Bischofs erschließen einen differenzierenden Blick auf den Status eines Papstes, der auf das Amt verzichtet hat. 2. Die Renuntiatio Papst Benedikts XVI. Am 11. Februar 2013 verlas Benedikt XVI. in Anwesenheit von Kardinälen, die zu einem Konsistorium versammelt waren, seine Declaratio,37 in der er seinen Verzicht auf das Petrusamt ankündigte, der am 28. Februar desselben Jahres um 20 Uhr in Kraft treten sollte. Die Declaratio enthielt die in c. 332 § 2 CIC/1983 erforderlichen Bedingungen für die Gültigkeit einer Renuntiatio Papae:38 sie wurde in Freiheit vollzogen und hinreichend (öffentlich) kundgetan.39 In Benedikts Declaratio heißt es: Nach wiederholter Gewissensprüfung vor Gott vollziehe er in voller Freiheit den Amtsverzicht („Conscientia mea iterum atque iterum coram Deo explorata

35 Zur Diskussion der Frage vor 1294: Martin Bertram, Die Abdankung Papst Cölestins V. (1294) und die Kanonisten, in: ZRG.K 56 (1970), S. 1 – 101, hier S. 2 – 47; Konst. „Quoniam aliqui“ (1294); in: VI 1, 7, 1. 36 X I, 9: De renunciatione. 37 De muneris Episcopi Romae, Successoris Sancti Petri abdicatione , in: AAS 105 (2013), S. 239 – 240, hier S. 239. 38 Schwendenwein, Der Papst (Anm. 33), S. 459; Georg Bier, c. 332, Rdnr. 10, in: MK CIC (Stand: Januar 2008). 39 Vgl. Markus Graulich, „Declaro me ministerio Episcopi Romae renuntiare“. Kanonistische Reflexionen zum Amtsverzicht Papst Benedikts XVI., in: AfkKR 184 (2014), S. 479 – 487.

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[…] plena libertate declaro me ministerio Episcopi Romae, Successoris Sancti Petri, […] renuntiare“).40 Da Einzelheiten, die den Status und das Leben eines Papstes post renuntiationem rechtlich nicht normiert sind, kann der Verzichtende über Details entscheiden. Benedikt XVI. hat für sich bemerkenswerte Festlegungen getroffen. Diese beziehen sich auf seinen künftigen Wohnsitz (Kloster Mater Ecclesiae im Vatikanstaat), die Kleidung (weißer Mantel), die Anrede (Eure Heiligkeit) und die Beibehaltung des Papstnamens mit dem Zusatz emeritus, also Papa emeritus. Den Titel Papa emeritus kennt das kanonische Recht nicht,41 Brandmüller wählt die Bezeichnung „ex-papa“ und die Kennzeichnung seiner Lage als „status dell’ex-papa“42. Die Regelungen, die Papst Benedikt für die Zeit nach dem 28. Februar 2013 für sich getroffen hat, sollen mit Renuntiationes der Vergangenheit verglichen werden. 3. Beispiele päpstlicher Amtsverzichte Aus den zahlreichen immer wieder angeführten Renuntiationen von Päpsten, die (angeblich auch) auf das Papstamt verzichtet haben,43 sollen nur der Verzicht Cölestins V. (05. Juli/29. August 1294 – 13. Dezember 1294) und jener Gregors XII. (1406 – 1415) betrachtet werden. Beide werden im Papstkatalog des „Annuario Pontificio“ als rechtmäßige Inhaber des Primates eingereiht. Nur bei Gregor XII. wird dem Datum des Pontifikatsendes dessen Grund hinzugefügt, die „rinunzia“44. Cölestin V. erklärte nach einem langen Prozess von Überlegungen und Beratungen vor allem mit Benedikt Caetani am 13. Dezember 1294 vor den versammelten Kardinälen, dass er das Papstamt freiwillig niederlege.45 Cölestin war zu diesem Akt im päpstlichen Ornat erschienen. Nachdem er den Text der Abdankung verlesen hatte, stieg er vom Thron und legte die päpstlichen Insignien ab: den Ring, die Tiara, den Mantel sowie die übrigen Gewänder. Nur mit der Albe bekleidet verließ er die Kardinalsversammlung. Im grauen Habit seiner Kongregation kehrte er zu den Kar40 De muneris Episcopi Romae (Anm. 37), S. 239. Zur formalen Seite der Verzichtserklärung, die Klappert „als mustergültig qualifiziert“, s. ders., Der Amtsverzicht (Anm. 1), S. 65. 41 Vgl. Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 5. 42 Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 13. 43 Auflistung z. B. Gillmann, Die Resignation der Benefizien (Anm. 34), S. 56 – 60; Bertram, Die Abdankung Papst Cölestins V. (Anm. 35), S. 2 – 4; zuletzt Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 1 – 4. 44 Serie dei Sommi Pontefici Romani z. B. AnPont 1981, S. 18*, 19*; 2016, S. 16*, 17*; 2014, S. 20* wird bei Benedikt XVI. zum Pontifikatsende am 28. 02. 2013 angefügt „Data della rinuncia“. 45 Peter Herde, Cölestin V. (1294). (Peter vom Morrone). Der Engelpapst. Mit einem Urkundenanhang und Edition zweier Viten (Päpste und Papsttum 16), Stuttgart 1981, S. 126 – 142; vgl. Konst. „Quoniam aliqui“, in: VIo 1, 7, 1 mit der entscheidenden Aussage, der römische Pontifex „posse libere resignare“ – ohne Zustimmung oder Annahme irgendeiner Instanz.

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dinälen ohne äußere Zeichen der päpstlichen Würde zurück und setzte sich auf die unterste Stufe des Thrones. Seine an die Kardinäle gerichtete Bitte um Erlaubnis bei der Zelebration der hl. Messe auch künftig die Pontifikalinsignien benutzen zu dürfen, wurde abgelehnt. Er war nun wieder der einfache Eremit Peter vom Morrone.46 Allerdings scheiterten seine Versuche, in die Einsiedelei auf dem Morrone zurückzukehren. Sein bereits am 24. Dezember 1294 gewählter Nachfolger, Bonifaz VIII. (bis 1303), vereitelte die Fluchtversuche aus Furcht, Peter könnte widerrufen und so ein Schisma auslösen. Daher hielt er ihn im Turm von Castel Fumone in Gewahrsam, wo der ehemalige Papst am 19. Mai 1296 verstarb.47 Der während des Konzils von Konstanz (1414 – 1418) auf das Papstamt verzichtende Gregor XII. besteht in seiner Bulle „Terrenas affectiones humanas“ vom 15. März 141548 darauf, aufgrund „canonica nostra electione“ der rechtmäßige Inhaber des Primates zu sein. Seine Bereitschaft auf diesen freiwillig zu verzichten, entspringt seinem Wunsch, „per viam renunciationis […] dimittere libere papatum“, um das Schisma der abendländischen Kirche zu beenden und die Einheit der Kirche herzustellen.49 Gregor wiederholte damit das in seiner Wahlkapitulation gegebene Versprechen.50 Allerdings sollte auch Johannes XXIII. Verzicht leisten.51 Am 04. Juli 1415 nahm das Konzil Gregors Angebot, das sein mit umfangreichen Vollmachten ausgestatteter Prokurator Carlo Malatesta52 vorgetragen hatte, an. Die Renuntiatio, die Malatesta vortrug, listete detailliert deren Inhalt auf: „[…] resigno nomine praefati domini nostri papatum, et omne jus papatus, titulum et possessionem, quod, quem et quam habet coram Domino nostro Jesu Christo.“53 Am 19. Juli erfuhr Gregor auf der Burg Montefiore bei Rimini von der Annahme seiner Resignation. Gelassen 46 Zu diesen Details Herde, Cölestin V. (Anm. 45), S. 140 – 141. Zur Geschichte der/des Texte/s der Renuntiatio vgl. Bertram, Die Abdankung Papst Cölestins V. (Anm. 35), S. 51 – 70, 66; Herde, Cölestin V. (Anm. 45), S. 136 – 140. 47 Herde, Cölestin V. (Anm. 45), S. 157 – 159. 48 Mansi, Collectio 27, Sp. 733. Das Konzil von Pisa hatte ihn jedoch 1409 widerrechtlich abgesetzt (Johann Baptist Villiger, Art. Gregor XII, in: LThK2 4, Sp. 1188). 49 Mansi, Collectio 27, Sp. 733; Walter Brandmüller, Das Konzil von Konstanz 1414 – 1418, 1. Bd. (= Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn/München/Wien/ Zürich 1991, S. 312 – 332; ders., Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 3 sah in Gregor XII. wie in Johannes XXIII. illegitime Päpste (anders AnPont 2016, S. 17*: Gregor XII. rechtmäßiger Papst). Die Verpflichtung Gregors, im Konklave, in dem er gewählt wurde, zur Erlangung der Einheit der Kirche zurückzutreten, spricht nicht gegen eine gültige Wahl; vgl. Hans-Jürgen Becker, Art. Wahlkapitulation, in: LThK3 10, Sp. 924 – 925, hier Sp. 925. 50 Etwa gegen Ende des 14. Jh. wurde in die Wahlkapitulationen die Verpflichtung aufgenommen, für die Beendigung des Schismas und die Einheit der Kirche zu wirken (Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 2. Bd., Wien/München 19622, S. 92); Becker, Art. Wahlkapitulation (Anm. 49), Sp. 924 – 925. 51 Er wurde am 29. 05. 1415 vom Konzil in Konstanz abgesetzt (Brandmüller, Das Konzil [Anm. 49], S. 281 – 311). 52 „[…] praesentium tenore de plenitudine Apostolicae potestatis plenam et liberam concedimus facultatem“ (Mansi, Collectio 27, Sp. 734). 53 Mansi, Collectio 27, Sp. 744 – 745.

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und würdevoll nahm er die Nachricht auf. Am folgenden Morgen legte er die päpstlichen Gewänder ab. Vor den herbeigeeilten Kardinälen erklärte er: „Einst war ich euer Vater und Oberhaupt, und ihr betrachtetet mich als Vater und Herrn. Nun aber, da Carlo in meinem Namen dem Papsttum entsagt hat, will ich euer Bruder und als solcher von euch aufgenommen sein.“54 Nach dem Verzicht („sessionem seu renunciationem de papatu“) wurde dem ehemaligen Papst vom Konzil die Kardinalswürde übertragen „emolumento, voce et aliis cardinalium privilegiis“55. Er wurde zum Legatus a latere für die Mark Ancona und das Territorium von Farfa und zum Kardinalbischof von Porto ernannt. Gregor nahm seinen Wohnsitz in Recanati, wo er am 18. Oktober 1417 starb und in der Kathedrale beigesetzt wurde.56 Der Tod Gregors vor der Wahl eines neuen Papstes, Martins V. am 11. November 1417, wurde dahin gedeutet, dass er der rechtmäßige Papst war. Cölestin V. und Gregor XII. vollziehen auch äußerlich erkennbar ihren Verzicht auf das Papstamt und treten in ihren vorherigen Status zurück: Cölestin ist wieder Mönch, Gregor Bischof und wieder Kardinal, weil ihm diese Würde vom Konzil verliehen wurde. Bedeutsam ist, dass Gregor XII. in den Text seiner Resignation als eines der Elemente ausdrücklich den Verzicht auf den Titel Papst aufgenommen hatte.57 4. Pläne eines Amtsverzichtes im 20. Jahrhundert Päpste des 20. Jahrhunderts, Pius XII. (1939 – 1958), Paul VI. (1963 – 1978) und Johannes Paul II. (1978 – 2005) haben die Möglichkeit einer Renuntiatio bedacht, diese aber schließlich nicht vollzogen.58 Papst Pius XII. hatte seinen Amtsverzicht für den Fall geplant, dass er nach der Besetzung des Vatikans durch deutsche Truppen von diesen nach Deutschland transportiert würde. Offensichtlich wäre der Amtsverzicht schon beim Eintreffen der deutschen Soldaten in den Vatikan wirksam geworden, denn Pius XII. hatte geäußert, man würde dort nicht den Papst antreffen, sondern Kardinal Pacelli.59 Papst Pius XII. sah anscheinend mit dem Ende des Pontifikates durch den vollzogenen Amtsverzicht das Aufleben des Kardinalats als gegeben an. Damit konstatierte er, dass gleichzeitig mit der Beendigung des Papstamtes auch äußerlich eine Änderung eintreten und sichtbar werden müsste.

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Brandmüller, Das Konzil (Anm. 49), S. 321 – 322. Mansi, Collectio 27, Sp. 741 – 742. 56 Brandmüller, Das Konzil (Anm. 49), S. 401; Villiger, Art. Gregor XII (Anm. 48), Sp. 1188; sein Grabmal in der Kathedrale von Recanati: Michael Borgolte, Petrusnachfolge und Kaiserimitation. Die Grablegen der Päpste, ihre Genese und Traditionsbildung, Göttingen 19952, S. 262; auch: http://www.vaticanhistory.depm/G_Gregor_XII1.jpg&imgrefurl (Stand: 22. 01. 2017). 57 Mansi, Collectio 27, Sp. 744 – 745: „Resigno […] omne jus papatus, titulum […]“. 58 Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 390 – 396; Graulich, Die Vakanz (Anm. 2), S. 77. 59 Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 391; Eicholt, Einige Fragen zum Amtsverzicht Benedikt XVI. (Anm. 1), S. 35. 55

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IV. Der Status nach dem Amtsverzicht Papst Johannes Paul II. hat sich anscheinend öfter zu einem Amtsverzicht geäußert. Im Jahre 1994 erwartete er die Wiederherstellung seiner Gesundheit, denn „[…] non c’è posto nella Chiesa per un Papa emerito“60. Weiter überliefert ist ein Gespräch mit ihm im Juli 2002 während des Weltjugendtages in Toronto. Der Papst äußerte sich deutlich: „A pope emeritus is impossible.“61 Johannes Paul II. hat für sich einen Amtsverzicht abgelehnt – auch in den schweren Jahren seiner Krankheit. Er hat die Beendigung seines Pontifikates allein Gott überlassen.62 Der Grund, eine Renuntiatio nicht zu vollziehen, war stets, keinen Präzedenzfall zu schaffen und die Einheit der Kirche nicht zu gefährden.63 Vielleicht war dem Teilnehmer des Zweiten Vatikanischen Konzils die Intervention von Kardinal Suenens zu präsent, der von der „perpetuitas“ des Papstamtes überzeugt war.64 Interessant ist, dass Papst Johannes Paul II. für einen ehemaligen Papst den Titel Papa emeritus vorsah. 1. Papstamt – Bischofsamt Mit dem Verzicht65 endet das Papstamt und die dem Primat einzigartige eigene Regierungsgewalt, denn „der römische Primat besteht in dieser Gewalt und identifiziert sich mit dieser“. Gänswein charakterisiert sie als „genuine Regierungsgewalt“66. Diese Höchstgewalt besitzt der zum Papst Gewählte vom Augenblick der Annahme der Wahl an (c. 332 § 1 CIC/1983; c. 219 CIC/1917). Sie gründet nicht im Ordo, wiewohl für den Inhaber des Petrusamtes die Bischofsweihe unerlässlich ist. Daher muss der Gewählte, wenn er nicht Bischof ist, sofort zum Bischof geweiht werden („Quod si caractere episcopali electus careat, statim ordinetur Episcopus“: c. 332 § 1 CIC/1983),67 um Handlungen des Ordo gültig spenden zu können. Die Bi60

Zitiert nach Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 399. http://www.katholisches.info/2016/06/21/johannes-paul-ii-ein-emeritierter-papst-ist-un moeglich/ (Stand: 22. 1. 2017). 62 Graulich, Die Vakanz (Anm. 2), S. 77, v. a. Anm. 17. 63 Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 395: Paul VI. unterließ den Amtsverzicht mit der Begründung, dieser würde für die Kirche ein Trauma sein („Sarebbe un trauma per la chiesa“). 64 ActSynVat Vol. II, Pars V, S. 12 (12. 11. 1963). 65 Im AnPont steht bei den Namen dieser Päpste: „Data della rinunzia“ (s. z. B. 1981, 2014). Renuntiatio ist das gebräuchliche Wort für den Verzicht auf ein Kirchenamt (Gillmann, Die Resignation der Benefizien [Anm. 34], S. 51 – 52); Beispiele in X und VIo. 66 Georg Gänswein, Um den Anfang der Primatialgewalt, in: ÖAKR 34 (1983/84), S. 47 – 95, hier S. 57; ebd., S. 94: „das Proprium des Bischofs von Rom eben nicht in der Weihe liegt, die er mit allen Bischöfen gemeinsam hat, daß seine plenitudo potestatis im wesentlichen Jurisdiktionsgewalt ist.“ 67 Die Frage der Zusammengehörigkeit bzw. des erforderlichen Zusammentreffens der Wahlannahme und der Erlangung der vollen primatialen Gewalt hat nach Georg Bier der Gesetzgeber des CIC/1983 „lediglich disziplinär geordnet“. Die „als offen angesehene doktrinelle Frage“ des Erlangens der Jurisdiktionsgewalt sofort mit Annahme der Wahl – wie im CIC/1917 normiert – oder erst nach Empfang der Bischofsweihe wurde durch die Formulie61

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schofsweihe gehört gewissermaßen zum vollen Umfang des Papstamtes. Im Pontifex sind die beiden Gewalten, die primatiale und das episkopale, in einer Person vereinigt. Während mit der Renuntiatio auf das Petrusamt die spezifische Regierungsgewalt erlischt, bleibt der Verzichtende kraft der sakramentalen Weihe Bischof. Er ist seinsmäßig Episcopus, aber durch die Resignation nicht mehr der Bischof von Rom, weil dieser Bischofsstuhl allein dem Papst zukommt, untrennbar mit diesem verbunden ist. Man kann sagen: Bischof von Rom und Papst existieren in Personalunion. Es ist nicht der Realität entsprechend, post renuntiationem papatus einen Titel zu führen, der das Wort Papa enthält, denn der Papa ist der regierende Papst.68 Deshalb ist die Aussage von Prälat Georg Ratzinger, des Bruders Papst Benedikts, „Einmal Papst ist immer Papst“ ebenso unzutreffend, wie die Bemerkung zum weißen Gewand, das er nicht ablegen wird, „weil er ja doch weiter als Papst Benedikt XVI. wahrgenommen wird“69. Auch wenn es nur Äußerlichkeiten sind, sind sie ein Widerspruch in sich zur freien und freiwilligen Resignation auf das Papstamt. Georg Gänswein will im „epochalen Rücktritt des Theologenpapstes“ die Einführung der neuen „Institution eines ,Papstes emeritus‘“ erkennen. Auch sein Versuch, für den gewesenen Papst eine Teilhabe am Amt des Papstes auszumachen, ist nicht möglich. In das Versprechen Papst Benedikts, durch sein Gebet seinen Nachfolger zu unterstützen, kann nicht „de facto ein erweitertes Amt“ interpretiert werden, das in einem „aktiven und kontemplativen Teilhaber“ existiert.70 2. Der Titel a) Episcopus emeritus Nach dem Verzicht auf das Petrusamt ist ein Papst nicht mehr Papst. Da er aufgrund der einmal empfangenen Weihe Bischof bleibt, sollte sein Titel in Anlehnung an jenen der aus dem Amt geschiedenen Bischöfe mit Episcopus formuliert werden, um so die neue nach der Renuntiatio eingetretene Wirklichkeit deutlich und erkennbar zu machen. Welches Bistum käme nun für einen ehemaligen Bischof von Rom im Titel in Frage? Der amtierende Papst ist Bischof von Rom: Episcopus ecclesiae Romae oder Catholicae ecclesiae episcopus. Würde der Titel für den aus dem Amt geschiedenen Papst, wenn er in Anlehnung an jenen der emeritierten Residenzialbischöfe Episcopus emeritus mit dem Zusatz ecclesiae Romae oder Archidioerung des c. 332 § 1 nicht entschieden (c. 332, Rdnrn. 5 – 7, Zitat: Rdnr. 7, in: MK CIC Stand: 2008); Schwendenwein, Der Papst (Anm. 33), S. 463, Anm. 137. 68 S. o. I.1. 69 Zum Folgenden: https://www.welt.de/politik/ausland/article113745083/Papst-will-offen bar-weiter-Benedikt-XVI-heissen.html (Stand: 22. 01. 2017). 70 Georg Gänswein, Der Papst der Zeitenwende. Wie Benedikt XVI. eine neue historische Epoche der Kirche eröffnet hat, in: Vatican-magazin, 10 (6/2016), S. 8 – 13, hier S. 12; http://de.catholicnewsagency.com/story/der-jahrtausendschritt-von-papst-benedikt0802 (Stand: 10. 01. 2017).

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cesis Romae formuliert würde,71 nicht die Einzigartigkeit des Bischofs von Rom, der der Papst ist, verunklaren? Könnte nicht an die Stelle von Rom der frühere Bischofssitz, im Falle von Benedikt XVI. einer der früheren Bischofssitze treten? Diese Wahl würde einerseits ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zum regierenden Pontifex sein und andererseits den dem früheren Inhaber des Primates unverlierbaren Ordo bezeugen? Im Falle von Benedikt XVI. könnte an das Erzbistum München-Freising gedacht werden, dessen Oberhirte er von 1977 bis 1982 war und der Titel könnte lauten Archiepiscopus emeritus Monacensis et Frisingensis. Dieser ist im Verzeichnis des Collegio Cardinalizio des „Annuario Pontificio“ 200572 bei den persönlichen Daten von Kardinal Joseph Ratzinger vermerkt (Arcivescovo emerito di München und Freising). Erst danach wird das Datum des Verzichtes auf diese Erzdiözese mit dem 15. Februar 1982 angegeben. . b) Kardinal – Kardinalbischof Am 05. April 1993 erhielt Kardinal Ratzinger als einer der sechs Kardinalbischöfe den Titel des suburbikarischen Bistums Velletri-Segni. Mit seiner Wahl zum Dekan des Kardinalskollegiums am 30. November 2002 wurde er noch Bischof von Ostia. Laut Pius’ X. Motu proprio „Edita a Nobis“ vom 05. Mai 191473 wird dem Dekan des Kollegiums der Titel des Bistums Ostia noch zu seinem früheren suburbikarischen Bistum anvertraut.74 Als Kardinal Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum Papst gewählt wurde, war er als Kardinaldekan Bischof zweier Bistümer. Denkbar wäre der Titel Episcopus emeritus des zuletzt innegehabten suburbikarischen Bistums Ostia. Dieses war trotz der Bestimmung Papst Johannes’ XXIII. nach Zuweisung an den Kardinaldekan nie mit einem Bischof besetzt worden. Damit wäre eine Alternative zum Titel seines ersten Bischofssitzes München-Freising gegeben. Mit der Annahme der Papstwahl, des höheren Amtes, erlosch das Kardinalat, denn Ausübung der primatialen Gewalt und eine gleichzeitige Tätigkeit als Mitglied im Kardinalskollegium, dem Beratungs- und Hilfsorgan des Papstes bei der Leitung der Universalkirche (cc. 349, 353, 354 CIC/1983), sind nicht kompatibel. Da nach der Resignation die Kardinalswürde nicht automatisch wieder auflebt – wie Papst Pius XII. dies anscheinend als mit dem Verzicht eintretend ansah,75 müsste Benedikt XVI. von seinem Nachfolger im Petrusamt wieder zum Kardinal kreiert werden. Das 71

Vorgeschlagen z. B. von Pulte, Der Amtsverzicht Papst Benedikts XVI. (Anm. 1), S. 80; Ghirlando, Cessazione dall’ufficio di Romano Pontefice (Anm. 1), S. 447. 72 Z. B. AnPont 2004, S. 81*; 2005, S. 75* (Ausgabe vor der Wahl zum Papst am 19. 04. 2005). 73 AnPont 2005, S. 97*. 74 AnPont 2005, S. 105*, 2005, S. 97*; c. 350 § 1, § 4 CIC/1983. 75 Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 392.

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erneut verliehene Kardinalat sollte aber nicht zur Teilnahme an einer vor der Vollendung des 80. Lebensjahres stattfindenden Papstwahl berechtigen. Eine Lex specialis sollte eine den ehemaligen Papst vom Konklave ausschließende Regelung treffen. Klarheit hatte das Konzil von Konstanz geschaffen. Nach der Annahme der Resignation Gregors XII. am 04. Juli 1415 übertrug es ihm das Bistum Recanati, erkannte ihm die Kardinalswürde zu und ernannte ihn zum Legaten. Der Papstname schien nicht mehr auf. Seinen Wohnsitz nahm er in Recanati. Papst Paul VI. hatte im Falle seines Amtsverzichtes das Verlassen Roms geplant. Sein künftiger Aufenthaltsort sollte die Benediktinerabtei Einsiedeln in der Schweiz sein.76 Solche Eindeutigkeit ist zu wünschen. Denn „Zwei Männer in weiß“77 sind nicht eine Erscheinung, an die man sich gewöhnen sollte. Da unbeschadet der Resignation vom Petrusamt Benedikt XVI. Bischof ist, wäre auch die außerliturgische Kleidung eines Bischofs, der schwarze Talar mit Schulterkragen und rotem Besatz, violettem Zingulum, Brustkreuz und violettem Pileolus,78 oder im Falle der Ernennung zum Kardinal der schwarze Talar und Schulterumhang mit Nähten und Säumen aus roter Seide, Zingulum und Pileolus in roter Farbe und einem Brustkreuz entsprechend.79 Der Papstname sollte abgelegt werden, denn der Name des Papstes ist eine Folge der angenommenen Papstwahl, er ist dem Papstamt eng verbunden, ihm zugeordnet. Mit dem Amtsverzicht sollte aufgrund dieser Zugehörigkeit des Namens zum Inhaber des Primates auch dieser aufgegeben und der bürgerliche Name wieder angenommen werden. Die Wahl der Anrede Eure Heiligkeit scheint auch nicht glücklich zu sein. Nach den diplomatischen Gepflogenheiten kommt sie nur dem jeweils regierenden Pontifex zu,80 dem sie auch reserviert bleiben sollte.

V. Schluss Die Beispiele aus dem kirchlichen wie dem weltlichen Bereich zeigen, dass die Kombination Papa emeritus für einen ehemaligen Inhaber des Papstamtes nicht der Realität entspricht. Zunächst: Der auf das Petrusamt Verzichtende ist nicht mehr Papst. Durch die enge Verbindung des Titels mit dem Amt geht mit der Aufgabe des Amtes auch der Titel Papa verloren: „[…] il Primato Petrino è – nonostante l’in76 77

S. 6.

Gigliotti, La tiara deposta (Anm. 1), S. 393. Guido Horst, Was nicht geht: Zwei Männer in Weiß, in: DT, Nr. 86 vom 21. 07. 2016,

78 Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbKathKR3, S. 593 – 611, hier S. 601 mit weiteren Details zur Kleidung eines Bischofs. 79 AAS 61 (1969), S. 334 – 340, hier S. 335 – 336. 80 Bundesministerium des Innern, Ratgeber für Anschriften und Anreden, S. 146 (Stand: Januar 2010), in der Ausgabe Stand 2016, S. 168 sieht das Diplomatische Protokoll die Anrede Eure Heiligkeit auch für den ehemaligen Papst Benedikt XVI. vor. Zu den von Benedikt XVI. gewählten Einzelheiten zu seinem Status: Eicholt, Einige Fragen zum Amtsverzicht Benedikt XVI. (Anm. 1), S. 35 – 39.

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stituzione divina – di natura giuridica, ,Papa‘ est nomen iurisdictionis“.81 Die sakramentale Bischofsweihe verbleibt dem Verzichtenden. Daher ist es sachentsprechend den früheren Papst wieder Bischof zu nennen und den Titel Episcopus emeritus mit Anfügung einer der letztinnegehabten Diözesen zu bilden. Unzutreffend ist in der Kombination Papa emeritus auch das Adjektiv emeritus, das besagt, eine Person wird/wurde aus dem Dienst entlassen. Ein Papst wird nicht wie ein Professor zum Ende seines Dienstes oder ein Bischof aufgrund eines angenommenen Amtsverzichtes durch eine höhere Autorität emeritiert. Ein Papst verzichtet frei auf das Amt und dieses erlischt mit der nicht annahmebedürftigen Kundgabe des Verzichtes. Dieser in Freiheit gesetzte Akt ist das Pendant zur nicht bestätigungsbedürftigen Annahme der rechtmäßig erfolgten Wahl (c. 332 § 1 CIC/1983). Die weitere mögliche Wortbedeutung von emeritus vor allem im Sinne von hochverdient, ehrenvoll für einen ehemaligen Papst wird damit nicht verneint. Aber diese eine Person auszeichnenden Adjektive werden auch verliehen, wie es z. B. Papst Benedikt XVI. tat. Er verlieh seinem und Johannes Pauls II. früheren Leibarzt Renato Buzzonetti nach dessen Pensionierung im Jahre 2009 den Ehrentitel „emeritierter päpstlicher Chefarzt“82. Selbst nachdem seit der Renuntiatio Papst Benedikts XVI. vier Jahre verstrichen sind, bleiben Unklarheiten nicht nur hinsichtlich des Titels. Die verschiedenen Vorschläge zur Gestaltung der Situation eines Papstes, der auf das Petrusamt verzichtet hat, lassen das deutlich erkennen. Daher scheint es notwendig, rechtliche Regelungen für eine künftig mögliche Renuntiatio Papae zu treffen.83 Es liegt nicht nur daran, dass der Amtsverzicht zeitlich überraschend kam, ungewöhnlich und neu ist. Man kann mit Graulich zu dem Schluss gelangen, dass ein solcher mehr Fragen offen lässt „als er Lösungen bereithält“84. Das scheint auch früheren Päpsten, die einen Amtsverzicht erwogen haben, aber nicht verwirklichten, bewusst gewesen zu sein. Kardinal Brandmüller schließt seine Untersuchung „Renuntiatio Papae“ vor dem Hintergrund des Schrittes von Benedikt XVI. mit folgendem Worten ab: „la rinuncia del papa è possibile e si è fatta. Ma è da sperare che non succeda mai più.“85 Das Fazit des letzten Satzes zeugt von der Sorge Brandmüllers um das Wohl der Kirche und um die Wahrung ihrer Einheit. Diese Sorge bezieht ihre Begründung aus seinen Studien zur Geschichte der Konzilien und des Papsttums.

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Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 4. http://www.kath.net/news/58252 (Stand: 22. 01. 2017). 83 Brandmüller sieht es als „necessaria e urgente“ an, das Recht zu ergänzen (Brandmüller, Renuntiatio Papae [Anm. 1)], S. 13; Pulte, Der Amtsverzicht Papst Benedikts XVI. (Anm. 1), S. 79 – 80; Graulich, „Declaro me ministerio Episcopi Romae renuntiare“ (Anm. 39), S. 487 spricht auch die liturgische Gestaltung des Amtsverzichtes an. 84 Graulich, Die Vakanz (Anm. 2), S. 78. 85 Brandmüller, Renuntiatio Papae (Anm. 1), S. 14. 82

Kollegiatkapitel und neue Strukturen in der Seelsorge Ein Vorschlag Von Johann Hirnsperger

I. Ein reguläres Element im diözesanen Verfassungsaufbau Die rechtsgeschichtlichen Wurzeln der Dom- und Kollegiatkapitel reichen bis in die frühe Zeit der Kirche zurück. Sie sind aus dem Klerus an den Bischofskirchen bzw. an bestimmten anderen bedeutenden Stadt- oder Landkirchen hervorgegangen.1 Seine wesentliche rechtliche Ausprägung erfuhr das Kapitelwesen in der fränkischgermanischen und in der klassisch-kanonischen Periode. Die Domkapitel erhielten bedeutende Rechte und Privilegien, wirkten bei der Diözesanleitung mit, waren die wichtigsten Beratungsorgane der Bischöfe und erlangten das Recht der Wahl des Bischofs. Der Codex von 1917 bezeichnet sie in c. 391 § 1 CIC/1917 als Senat und Rat des Bischofs. Die heutige Rechtsform leitet sich bei vielen Domkapiteln in den deutschsprachigen Gebieten von der Reorganisation bzw. Neubildung nach der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts her. 1

Vgl. Philibert Schmitz, Art. Kollegiatstift, in: LThK2 6, Sp. 373; Hermann Nottarp, Art. Stift, in: LThK2 9, Sp. 1073 f.; Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 438 – 451; Mosiek, Verf. III, S. 68 – 81; Paul Wesemann, Domkapitel nach dem II. Vatikanum. Abschaffung oder Reform?, in: Pontificia Università Gregoriana (Hrsg.), Investigationes theologico-canonicae. FS Bertrams, Roma 1978, S. 501 – 531; Heribert Schmitz, Die Beratungsorgane des Diözesanbischofs, in: GrNKirchR, S. 276 – 287, hier S. 279 f.; Eva Jüsten, Das Domkapitel nach dem Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland und Österreich (= EHS.R 1386), Frankfurt a. M. 1993; Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (= UTB 1395), Heidelberg 19932, S. 268 f. u. 271 – 275; Johann Hirnsperger, Art. Domkapitel, in: LThK3 3, Sp. 326 – 328; Stephan Haering/Burghard Pimmer-Jüsten/Martin Rehak, Statuten der deutschen Domkapitel (= SICA 6), Metten 2003; Wolfgang F. Rothe, Die Statuten der Kollegiatkapitel im deutschen Sprachraum. Rechtslage und Rechtspraxis (= AIC 41), Frankfurt a. M. 2007; Johann Hirnsperger/Stephan Haering, Statuten der österreichischen Kathedral- und Kollegiatkapitel (= SICA 8), Metten 2007; Franz Hasenhütl, Die Domkapitel in Österreich nach dem CIC/1983. Statutenreform und aktuelle Rechtsgestalt (= AIC 51), Frankfurt a. M. 2013; Johann Hirnsperger, Das Domkapitel von Brixen – eine Einrichtung im Dienst priesterlicher Lebensführung und Seelsorge an der Domkirche, in: Stephan Haering/ ders./Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees, In mandatis meditari. FS Paarhammer (= KST 58), Berlin 2012, S. 473 – 495 (Lit.); Richard Puza, Die Dom- und Stiftskapitel, in: HdbKathKR3, S. 652 – 656.

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Der CIC/1983 sieht vor, dass die Domkapitel weiterhin für die feierliche Liturgie in der Kathedralkirche zuständig sind, beschneidet aber ansonsten ihre Rechte vor allem zugunsten des nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu geschaffenen Priesterrats. Auf ihn sind gemäß c. 495 § 1 CIC/1983 Titel und Aufgaben des senatus episcopi übergegangen. Dennoch sind die Domkapitel in Deutschland und Österreich „ein wesentliches Element der Bistumsverfassung geblieben“2. Hier wirken sie nach dem Teilkirchenrecht, vor allem dem Konkordatsrecht, bei der Bestellung der Diözesanbischöfe mit und besitzen in vielen Diözesen das Bischofswahlrecht.3 Soweit die Rechte und Pflichten durch staatskirchenrechtliche Verträge abgesichert sind, werden sie vom Codex nicht tangiert, sondern gelten gemäß c. 3 CIC/1983 uneingeschränkt fort. Anders als z. B. die Italienische Bischofskonferenz haben die Deutsche, die Berliner und die Österreichische Bischofskonferenz von der in c. 502 § 3 CIC/1983 eingeräumten Kompetenz Gebrauch gemacht und die Aufgaben des Konsultorenkollegiums an die Domkapitel übertragen.4 In Österreich und Deutschland haben daher die Domkapitel ihre traditionelle Stellung auch nach der Rechtsreform weitgehend behalten. Viele Domkapitulare bekleiden traditionell führende Ämter in der Diözesanleitung. Was Rolle und Aufgabe im Leben der Kirche angeht, können sich die Kollegiatkapitel, die mancherorts als Stiftskapitel bezeichnet werden, mit den Domkapiteln nicht messen. Die Zahl dieser Kapitel ist stark zurückgegangen und sie sind in vielen Diözesen gänzlich verschwunden. Vor allem in Folge der Säkularisation verloren viele Kapitel die materielle Grundlage und sind untergegangen.5 Dennoch normiert der CIC/1983 so wie schon der Vorgänger von 1917 die Dom- und Kollegiatkapitel nicht getrennt, sondern gemeinsam in einem einzigen caput unter dem Titel „De canonicorum capitulis“ in den cc. 503 – 510 CIC/1983 (vgl. cc. 391 – 422 CIC/ 1917). Das geschieht m. E. nicht bloß aus redaktionell-praktischen Gründen, sondern ist dahingehend zu interpretieren, dass rechtssystematisch angezeigt werden soll, dass die Kollegiatkapitel als zweites Kanonikerinstitut in gewisser Weise auf einer Stufe mit den Domkapiteln stehen und dass ihnen auch im erneuerten Recht eine spezifische Rolle in der jeweiligen Ortskirche bei der Erfüllung ihrer Sendung zugedacht 2

Puza, Dom- und Stiftskapitel (Anm. 1), S. 654. Vgl. Art. 6 PreußK; Art. 14 Abs. 1 RK; Art. III BadK; Art. IV § 1 Abs. 3 ÖK (Salzburg). Bischofswahlrecht besitzen auch die Domkapitel in den neu errichteten Diözesen Erfurt, Görlitz, Magdeburg und Hamburg; vgl. Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbKathKR3, S. 593 – 611, hier S. 595 – 598. 4 Vgl. Schmitz/Kalde, 1990, S. 20 f. Zum Konsultorenkollegium s. Heribert Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs, in: HdbKathKR3, S. 620 – 637, hier S. 631 – 633. 5 Vgl. Schmitz, Kollegiatstift (Anm. 1), Sp. 373; Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 438; Helmut Schnizer, Schuldrechtliche Verträge der katholischen Kirche in Österreich (= GRSS 6), Graz/Köln 1961, S. 77; Hans Paarhammer, Das Kollegiatstift Seekirchen. Eine Institution bischöflichen Rechts im Dienste der Gemeindeseelsorge, Thaur/Tirol 1982. In Deutschland bestehen noch Kollegiatkapitel in Altötting, Landshut, Regensburg (zwei), in Österreich in Eisgarn, Mattsee, Seekirchen und in der Schweiz in Beromünster und Luzern, s. dazu Rothe, Statuten (Anm. 1). 3

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ist. Zudem reduziert der gesamtkirchliche Gesetzgeber die Zahl der einschlägigen Normen stark, legt die rechtliche Struktur der Kanonikerkapitel nur mehr in den markanten Eckpunkten fest und stellt so in den Kollegiatkapiteln ein Organisationsmodell für Priestergemeinschaften zur Verfügung, das in den Teilkirchen flexibel gestaltbar ist. Der CIC/1983 empfiehlt in c. 280 CIC/1983 den Klerikern nachdrücklich die Pflege der vita communis. Wo eine solche Lebensweise besteht, muss sie, wenn es möglich ist, beibehalten werden. Dieser Canon erhält dadurch besonderes Gewicht, dass ihn der Gesetzgeber in den Katalog der Pflichten und Rechte der Kleriker einreiht und so seine grundsätzliche Bedeutung hervorhebt. Bezüglich konkreter Organisationsformen des gemeinschaftlichen Lebens zeigt das universale Recht eine auffallende Zurückhaltung. Dies geschieht wohl aus der Überlegung heraus, dass die nach Ort und Zeit sehr unterschiedlichen Formen von Klerikergemeinschaften mit ihrem jeweiligen Charisma und in ihrer Buntheit gewahrt werden sollen bzw., sofern rechtliche Normierungen notwendig sind, diese besser auf lokaler Ebene erlassen werden können. Wenn das Kollegiatkapitel auch nach der jüngsten Rechtsreform ein universalrechtlich vorgesehenes Element in der Diözesanverfassung geblieben ist, so geschieht es offensichtlich deshalb, weil der gesamtkirchliche Normgeber dieses traditionsreiche Institut nach wie vor als ein geeignetes Modell für die vita communis von Priestern betrachtet, das auch in der Zukunft einen gebührenden Platz in den Teilkirchen haben bzw. wieder erhalten soll.

II. Zu den Vorgaben im CIC/1983 1. Begriff, Errichtung, Rechtspersönlichkeit Gemäß c. 503 CIC/1983 ist unter Kollegiatkapitel ein Kollegium von Priestern zu verstehen, dessen Aufgabe es ist, die feierlicheren Gottesdienste in der Kollegiatkirche durchzuführen. Während die Kathedralkapitel verpflichtet sind, über die gottesdienstlichen Funktionen hinaus die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen das Recht zuweist oder die vom Diözesanbischof übertragen werden, nennt der Codex bei den Kollegiatkapiteln keine weiteren Kompetenzen und Aufgaben. Dies hindert aber keineswegs, dass der Bischof bestimmte zusätzliche Agenden dem Kapitel und seinen Mitgliedern überträgt. Wie das Domkapitel ist das Kollegiatkapitel als Kollegium von Priestern (sacerdotum collegium) verfasst, also von Gläubigen, welche die Priesterweihe empfangen haben. Diakone und Laien können nicht Mitglieder im eigentlichen Sinn sein, dem Kapitel aber in einer gewissen Weise zugehören, vor allem wenn sie entsprechend den Statuten Aufgaben im Dienst des Kapitels und der Kanoniker übernehmen (vgl. c. 507 § 2 CIC/1983). Aus der Verfasstheit als Kollegium ergibt sich, dass ein Kapitel nur aus mindestens drei Personen errichtet werden kann und dass die Kanoniker das Handeln des Kapitels bestimmen, indem sie bei den Entscheidungen nach

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Maßgabe des Rechts und der Statuten zusammenwirken (vgl. c. 115 § 2 CIC/1983). Wahlhandlungen und sonstige kollegiale Akte geschehen nach den Vorschriften des c. 119 CIC/1983, sofern das Recht oder die Statuten nicht davon abweichende Bestimmungen enthalten. Eine obere Grenze bei der Anzahl der Kapitelmitglieder legt das Gesetzbuch nicht fest. Kanonikerkapitel bedürfen der amtlichen Errichtung. Während Errichtung, Änderung und Aufhebung von Kathedralkapiteln nach wie vor dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind, ist bei den Kollegiatkapiteln für diese Akte nach der Rechtsreform der Diözesanbischof zuständig (vgl. c. 504 CIC/1983; c. 392 CIC/1917). Da der Gesetzgeber ausdrücklich vom Diözesanbischof spricht, kann gemäß c. 134 § 3 CIC/1983 der Generalvikar oder Bischofsvikar diese Rechtsakte nur setzen, wenn er ein oberhirtliches Spezialmandat dafür erhalten hat. Die Initiative zur Errichtung muss dabei nicht unbedingt vom Diözesanbischof selbst ausgehen, sondern kann z. B. von einer Gruppe von Priestern, einer Pfarrei bzw. Gemeinschaft von Pfarreien oder von interessierten Gläubigen kommen. Da die Errichtung des Kanonikerkapitels ein Akt ist, der in besonderer Weise das Presbyterium der Diözese tangiert, erscheint es von der Sache her geboten, dass der Bischof die erforderlichen Vorgespräche führt, an der nach Möglichkeit das gesamte Presbyterium beteiligt werden soll. Ohne Zweifel ist die Gründung eines Kapitels eine Angelegenheit von größerer Bedeutung, sodass gemäß c. 500 § 2 CIC/ 1983 die gesetzliche Pflicht besteht, den Priesterrat anzuhören. Der Bischof handelt allerdings nicht ungültig, wenn er die Anhörung unterlässt, weil Errichtung bzw. Änderung und Aufhebung von Kollegiatkapiteln nicht zu den Akten zählen, bei denen der CIC/1983 die Konsultation des Priesterrates zur Rechtsgültigkeit vorschreibt.6 Die Errichtung kann durch ein bischöfliches Gesetz, was m. E. im Hinblick auf die Bedeutung des Aktes die angemessene Form ist, oder durch Dekret geschehen. Im Errichtungsdokument sind wenigstens festzuhalten: der Errichtungsakt als solcher mit Angabe von Ort und Zeit, der Name des Kollegiatkapitels, die Kollegiatkirche, die Anzahl der Kapitelstellen bzw. ob diese festgelegt oder variabel ist und gegebenenfalls die speziellen Zwecke und Aufgaben des Kapitels. Dem Bischof bleibt es allerdings unbenommen, bereits in der Gründungsurkunde weitere Vorgaben zum Rechte- und Pflichtenkreis zu treffen. Diesen bei der Errichtung erlassenen bischöflichen Anordnungen ist in den Statuten Rechnung zu tragen. Sie können nur vom Bischof selbst geändert werden und stellen insofern ein stabiles Element im Recht des betreffenden Kapitels dar. Der CIC/1983 äußert sich so wie schon das Rechtsbuch von 1917 nicht ausdrücklich zur Rechtsfähigkeit der Kanonikerkapitel. In Lehre und Praxis geht man jedoch davon aus, dass die Kathedralkapitel Rechtsfähigkeit besitzen, bei den Kollegiatkapiteln wird dies angenommen.7 Den Kanonikerkapiteln eignet daher Dauercharakter (vgl. c. 120 § 1 CIC/1983). Bei der Neuerrichtung eines Kollegiatkapitels sollte allein schon aus Gründen der Rechtssicherheit die Rechtsfähigkeit ausdrücklich zuerkannt 6

Zum Priesterrat s. Schmitz, Konsultationsorgane (Anm. 4), S. 626 – 630. Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 403; Helmut Schnizer, Schuldrechtliche Verträge (Anm. 5), S. 77 f.; Heimerl/Pree, VermR, bes. S. 95 u. 382 – 385. 7

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werden. Um Transparenz zu gewährleisten, erscheint es zweckmäßig, in den Statuten explizit festzuhalten, dass das Kapitel die kanonische bzw. staatliche Rechtsfähigkeit besitzt. Kanonikerkapitel zählen zu den öffentlichen juristischen Personen der Kirche, für die gemäß c. 116 § 1 CIC/1983 kennzeichnend ist, dass ihre Tätigkeit im Namen der Kirche geschieht und sie ihre Aufgaben im Hinblick auf das öffentliche Wohl der Kirche wahrnehmen. Aufgrund der öffentlichen kirchlichen Rechtstellung gilt der Besitz der Kanonikerkapitel als Kirchengut und unterliegt den Bestimmungen des kirchlichen Vermögensrechts (vgl. c. 1258 CIC/1983). Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen das Kollegiatkapitel die staatliche Rechtspersönlichkeit erhält, hängt von den staatlichen bzw. staatskirchenrechtlichen Vorschriften ab. Aufgrund des Konkordats von 1933/34 erlangten in Österreich die Kanonikerkapitel die staatliche Rechtspersönlichkeit von Rechts wegen, wenn sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Konkordats am 01. Mai 1934 bereits die kanonische Rechtsfähigkeit besaßen. Werden Kanonikerkapitel später errichtet, so erhalten sie die staatliche Rechtspersönlichkeit dadurch, dass der zuständige Diözesanbischof die Anzeige über die kanonische Errichtung bei der obersten staatlichen Kultusverwaltungsbehörde hinterlegt.8

2. Kompetenzen und Aufgaben Der Codex von 1983 ordnet in c. 503 CIC/1983 an, dass das Kollegiatkapitel die feierlicheren Gottesdienste (functiones liturgicas sollemniores) in der Kapitelkirche zu vollziehen habe. Die Feier der Gottesdienste ist daher die unverzichtbare und vornehmste Dienstpflicht der Kanoniker und darin kommt das Wesen des Kapitels als geistliche Körperschaft am deutlichsten zum Ausdruck. Um welche Gottesdienste es sich konkret handelt und wie sie zu feiern sind, ist in den Statuten und in den liturgischen Ordnungen zu normieren. Geht man vom Wortlaut des c. 503 CIC/1983 aus, so ist an eine Mehrzahl von Gottesdiensten zu denken, nicht jedoch an alle liturgischen Feiern, die in der Kapitelkirche feierlich begangen werden. Angesichts der Bedeutung des gottesdienstlichen Handelns verbietet sich jedoch jeder Minimalismus. Grundsätzlich kommen alle amtlichen Formen des Gottesdienstes in Frage, traditionell spielen jedoch die Feier der hl. Messen und der gemeinsame Vollzug des kirchlichen Stundengebetes eine zentrale Rolle. An sich sind die gottesdienstlichen Aufgaben und die Pflege des gemeinsamen Gebets allein schon hinreichende Zwecke, die rechtfertigen, ein Kollegiatkapitel zu errichten. Dennoch steht nichts entgegen, dass der Diözesanbischof dem Kapitel oder einzelnen Mitgliedern zusätzliche Aufgaben überträgt. Prinzipiell ist an alle Agenden zu denken, die kirchlichen Zwecken direkt oder indirekt dienen. Unter praktischen Gesichtspunkten wird es in der Regel sinnvoll sein, dass sich der Bischof 8 Vgl. Art. 8; 10 § 2; 15 § 7 ÖK; s. dazu Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (= BzMK 6), Essen 1992, S. 526 – 538; Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 458 f.

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bei der Zuweisung von Aufgaben an der amtlichen Tätigkeit der Kanoniker orientiert. Wenn z. B. die Kanoniker oder eine Mehrzahl von ihnen in der pfarrlichen Seelsorge tätig sind, liegt es nahe, die Förderung der pfarrlichen Seelsorge und damit zusammenhängende Agenden als spezielle Aufgaben vorzusehen. Beispielsweise sind in der Erzdiözese Salzburg die Kapitularkanoniker des Kollegiatstifts in Mattsee verpflichtet, nach Möglichkeit in der pfarrlichen Seelsorge von Mattsee und in Pfarrgemeinden der Diözesen Salzburg und Linz mitzuhelfen.9 Zu den Zwecken des Kollegiatstifts Seekirchen zählt neben der Liturgie die Pflege der Verehrung des heiligen Bischofs Rupert, von dem angenommen wird, dass er in Seekirchen einen ersten Stützpunkt für die Missionierung des Landes errichtet hat.10 3. Autonomie und Statuten Die Kanonikerkapitel sind nach c. 505 CIC/1983 verpflichtet, sich durch rechtmäßigen Kapitelbeschluss autonom Statuten zu geben, die zur Rechtsgültigkeit der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedürfen.11 Der Bischof darf die Bestätigung erst erteilen, nachdem er sich vergewissert hat, dass die Statuten rechtskonform sind und dem Geist und Sinn des Kanonikerwesens entsprechen. Die Bestätigung ist ein Akt, der rechtliche Wirkungen erzeugt, und muss daher nach c. 474 CIC/ 1983 in schriftlicher Form geschehen, unterschrieben und notarisiert sein. Ebenso sind bei der Abänderung oder Aufhebung von Statutenbestimmungen Kapitelbeschluss und oberhirtliche Approbation erforderlich. Das Rechtsbuch von 1917 sah in c. 410 § 3 CIC/1917 vor, dass der Bischof im Fall der Säumigkeit des Kapitels verpflichtet war, selbst die Statuten zu redigieren und zu erlassen. Diese Bestimmung findet sich im CIC/1983 nicht mehr, sodass davon auszugehen ist, dass die Kompetenz, die Statuten zu erlassen, nunmehr ausschließlich dem Kapitel selbst zusteht. Sollte das Kapitel säumig sein, ist der Bischof verpflichtet, den Erlass der Statuten anzumahnen und bei Nichtbefolgung den Apostolischen Stuhl in Kenntnis zu setzen. Den Statuten nachgeordnete Normierungen wie z. B. Geschäftsordnungen oder liturgische Ordnungen werden von den Kanonikern selbständig erlassen und bedürfen nicht der bischöflichen Genehmigung. Die Statuten der Kanonikerkapitel sind Statuten im eigentlichen Sinn, also nach c. 94 § 1 CIC/1983 Anordnungen, die in Gesamtheiten von Personen oder Sachen nach Maßgabe des Rechts zu erlassen sind und durch die deren Zielsetzung, Verfassung, Leitung und Vorgehensweise bestimmt werden. Statuten verpflichten gemäß § 2 nur jene Personen, die rechtmäßig Mitglieder der Gesamtheit sind, Statuten einer Sachgesamtheit diejenigen, die für die Leitung Verantwortung tragen. In 9

Vgl. Statut für das Insigne Kollegiatstift zum hl. Erzengel Michael in Mattsee vom 01. 02. 2016, Nr. 4. 4, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg 99 (2016), S. 39 – 46, hier S. 41. 10 Vgl. Statut für das Insigne Kollegiatstift Seekirchen vom 24. 09. 1979, Nr. 2, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg 62 (1979), S. 120 – 123, hier S. 120. 11 Zu den Statuten der Kollegiatkapitel s. v. a. Rothe, Statuten (Anm. 1), S. 19 – 73.

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einer Spezialnorm zu c. 94 CIC/1983 zählt c. 506 §§ 1–2 CIC/1983 die Materien auf, die in den Statuten der Kanonikerkapitel unter Beachtung der Stiftungsbestimmungen zu normieren sind. An erster Stelle nennt das Gesetzbuch die Kapitelverfassung. Lehre und Verwaltung gehen davon aus, dass die Statuten ausgehend von den Vorgaben des Codex Iuris Canonici und den Stiftungsbestimmungen die rechtliche Grundstruktur der Kanonikergemeinschaft umschreiben müssen. Vor allem ist zu definieren, was unter Kanonikerkapitel bzw. Kollegiatkapitel rechtsbegrifflich zu verstehen ist. Hinzu kommen in der Regel Bestimmungen, in denen Zusammensetzung, Mitgliedschaft, Ämter und organisatorische Strukturen sowie gegebenenfalls das Verhältnis von Kapitel und Pfarrei geregelt werden.12 Aus den Statuten muss sodann ersichtlich sein, über wie viele Kanonikate das Kapitel verfügt bzw. ob deren Zahl festgelegt oder variabel ist. Ferner sind die Aufgaben zu nennen, die das Kapitel und seine Mitglieder zu erfüllen haben. Gemeint sind sowohl Aufgaben, die von Rechts wegen oder durch oberhirtliche Weisung übertragen werden, als auch jene, die das Kapitel und die Kanoniker selbst bestimmen. Fragen des Chordienstes, die Feier des Konventamtes und sonstige liturgische Funktionen werden anders als im CIC/1917 im Gesetzbuch von 1983 nicht mehr normiert. Sie sind nunmehr in den Statuten zu klären oder, wenn sie den Vollzug der gottesdienstlichen Feiern selbst betreffen, in einschlägigen Ordnungen (vgl. c. 95 CIC/1983). Des Weiteren sind in die Statuten Normen aufzunehmen, die das Sitzungswesen ordnen, sowie Vorschriften, welche die Bedingungen benennen, die zur Erlaubtheit und Gültigkeit von Rechtsgeschäften einzuhalten sind. Sodann müssen sich die Statuten zu den Einkommen der Kanoniker äußern, wobei zwischen funktionsunabhängigen und funktionsbezogenen Einkünften unterschieden werden soll. Das vormalige Recht sah vor, bestimmte Teile des Einkommens an die Teilnahme am Chorgebet zu binden und als sog. Choranteile (distributiones quotidianae) zu reichen (vgl. bes. cc. 395, 418 – 422 CIC/1917). Regelungen dieser Art finden sich im erneuerten universalen Recht nicht mehr. Die Weiterführung in den Statuten wäre grundsätzlich möglich, würde aber wohl heutigem Empfinden widersprechen. Schließlich wird verlangt, dass die Statuten über die Insignien, d. h. die Gewänder und Abzeichen der Kanoniker, Auskunft geben mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die vom Heiligen Stuhl erlassenen einschlägigen Normen zu beachten sind (vgl. c. 506 § 2 CIC/1983).13 Der gesamtkirchliche Normgeber nimmt im CIC/1983 die eigenen Vorgaben zum Kapitelrecht auf ein Minimum zurück. Gleichzeitig stellt er mit den Kapitelstatuten ein rechtliches Instrument zur Verfügung, das es dem Kapitel ermöglicht, im Zusammenwirken mit dem Bischof seine Rechtsform und Aufgaben abgestimmt auf die jeweiligen Erfordernisse und Wünsche und im Hinblick auf Stellung und Sendung des Kapitels in der Diözese „maßgeschneidert“ zu gestalten. Die Vergrößerung der indi12

S. u. a. Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 438 – 442; Haering/Pimmer-Jüsten/Rehak, Statuten (Anm. 1), S. 25; Rothe, Statuten (Anm. 1), S. 31 – 37. 13 Zur geltenden Rechtslage bezüglich der Insignien der Kanoniker s. bes. Rothe, Statuten (Anm. 1), S. 46 – 49.

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viduellen Gestaltungsspielräume war einer der bestimmenden Leitgedanken bei der Reform des Rechts der Kanonikerkapitel.14 4. Ämter Der CIC/1983 sieht vor, dass die Ämter des Vorstehers (praeses capituli) und des Bußkanonikers (paenitentiarius canonicus) in den Kanonikerkapiteln verpflichtend einzurichten sind. Beide Ämter sind mit Mitgliedern des Kapitels zu besetzen (vgl. cc. 507 § 1 u. 508 § 1 CIC/1983). Die Bestellung des Vorstehers, die nach c. 509 § 1 CIC/1983 der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedarf, geschieht nach den einschlägigen Weisungen in den Statuten. Sie kann durch Kapitelwahl oder auf andere Weise erfolgen.15 Der Vorsteher besitzt keine Jurisdiktionsbefugnisse über die Kanoniker, sondern hat die Stellung eines primus inter pares. Seine Befugnisse und Kompetenzen werden in den Kapitelstatuten definiert. Er ist häufig Kapitelorgan mit weitreichenden Kompetenzen und Befugnissen wie z. B. Vorbereitung und Leitung der Sitzungen, Durchführung der Beschlüsse, Vertretung des Kapitels und Zeichnungsberechtigungen. Das Amt des Bußkanonikers, das zur Hilfe und Unterstützung des Bischofs bei der Buß- und Beichtseelsorge dient, bildet kein Element der Kapitelorganisation im eigentlichen Sinn, wird aber traditionell einem Kanoniker verliehen. Das vormalige Rechtsbuch ordnete in c. 398 § 1 CIC/1917 an, nach Möglichkeit in jeder Kathedralkirche das Amt des Bußkanonikers einzurichten, und sah in § 2 des Canons vor, dass das Amt auch an Mitglieder von Kollegiatkapiteln verliehen werden konnte. Die Nachfolgenorm in c. 508 § 1 CIC/1983 unterscheidet nicht in dieser Weise, sondern spricht vom Bußkanoniker „ebenso an der Kathedral- wie an der Kollegiatkirche“ (paenitentiarus canonicus tum ecclesiae cathedralis tum ecclesiae collegialis). Die Wortwahl lässt m. E. die Interpretation zu, dass das Amt sowohl an der Kathedralkirche als auch an Kollegiatkirchen eingerichtet werden soll. Diese Interpretation würde einen Grundzug des erneuerten Rechts des CIC/1983 aufgreifen, der die Seelsorger verpflichtet, den Heilsdienst der Kirche so anzubieten, dass den Bedürfnissen und Wünschen der Gläubigen bestmöglich entsprochen wird. Der Bußkanoniker besitzt gemäß c. 508 § 1 CIC/1983 vom Amts wegen Beichtvollmacht (vgl. c. 968 § 1 CIC/1983). Außerdem hat er die ordentliche Befugnis, die er aber an andere nicht delegieren kann, im sakramentalen Bereich von Beugestrafen zu befreien, sofern es sich um Tatstrafen handelt, die nicht festgestellt worden sind und wenn die Befreiung dem Apostolischen Stuhl nicht vorbehalten ist. Diese Befugnis ist territorial und personell determiniert und erstreckt sich innerhalb der Diözese auch auf Auswärtige, außerhalb des Bistums nur auf Diözesanangehörige. Wenn kein Kanonikerkapitel in der Diözese besteht, ist nach c. 508 § 2 CIC/1983 der Diözesanbischof verpflichtet, 14 15

Vgl. Com 5 (1973), S. 232 f. Vgl. PCI, Responsio vom 24. 01. 1989 (20. 05. 1989), in: AAS 81 (1989), S. 991.

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einen Priester zu bestellen, der die Aufgaben des Bußkanonikers erfüllt, und ihn mit den erforderlichen Vollmachten auszustatten. Der Generalvikar, die Bischofsvikare und Blutsverwandte des Bischofs bis zum vierten Grad dürfen das Amt des Bußkanonikers nicht ausüben (vgl. cc. 509 § 2 u. 478 § 2 CIC/1983).16 Die Vorschrift des c. 401 § 2 CIC/1917, wonach der Bußkanoniker in einem bestimmten Beichtstuhl in der Kapitelkirche zu einer für die Gläubigen geeigneten Zeit anwesend sein musste, scheint im erneuerten Codex nicht mehr auf. Seelsorgliche Gründe gebieten aber, durch geeignete Weisungen sicherzustellen, dass die Gläubigen den Dienst des Bußkanonikers unschwer in Anspruch nehmen können. Die Statuten sollten deshalb eine entsprechende Dienstanweisung enthalten und das Kapitel dazu verpflichten, die Gläubigen über das Amt des Bußkanonikers und seinen Dienst z. B. in diözesanen Printmedien oder auf der Homepage des Bistums zu informieren.17 Neben den nach allgemeinem Recht verpflichtend einzurichtenden Ämtern von Kapitelpräses und Bußkanoniker können gemäß c. 507 § 1 CIC/1983 auf Statutenbasis weitere Ämter vorgesehen werden. Da der Erlass der Statuten in die eigene Zuständigkeit fällt, ist grundsätzlich das jeweilige Kollegiatkapitel selbst befugt, darüber zu entscheiden, ob bzw. welche Ämter bestehen bleiben oder neu eingeführt werden sollen. Einschlägige rechtliche Vorgaben z. B. in Stiftungsbestimmungen, bischöflichen Weisungen oder staatskirchenrechtlichen Festlegungen sind zu befolgen. Rücksicht zu nehmen ist auf die regionalen Gebräuche. Im deutschen Sprachgebiet begegnen in den Dom- und Stiftskapiteln häufig folgende Ämter: Propst, Dekan (Dechant), Archidiakon, Kustos, Kantor, Scholastikus, Kapitelsenior, Notar, Kapitelsekretär. Sofern rechtlich nicht anderes vorgesehen ist, liegt es beim Kapitel, darüber zu entscheiden, ob die im CIC/1983 nicht mehr aufscheinenden Stellen für Würdenträger (Dignitäre, Dignitäten) auf Statutenbasis weitergeführt werden sollen oder nicht (vgl. c. 393 §§ 1–2 CIC/1917). Insgesamt scheint bei den Ämtern eine gewisse Zurückhaltung angebracht zu sein. Sie sollten nur eingerichtet bzw. weitergeführt werden, wenn Aufgaben damit verbunden sind, die wirkliche Bedeutung für das Kapitel und seine Sendung haben und der längerfristigen Betreuung bedürfen (vgl. c. 145 §§ 1–2 CIC/1983). Klerikern, die nicht dem Kapitel angehören, können gemäß c. 507 § 2 CIC/1983 Aufgaben anvertraut werden, durch die sie nach Maßgabe der Statuten die Kanoniker unterstützen. Der Codex spricht hier die Hilfsdienste und die zum Teil sehr traditionsreichen Hilfsämter an, die vor allem an den Domkapiteln eingerichtet sind und in denen Kleriker und auch Laien Aufgaben im Auftrag des Kapitels erfüllen. Bei der Feier der Gottesdienste unterstützen z. B. Chorvikare, Vorsänger und Psalteristen die Kanoniker, im außerliturgischen Bereich ist etwa an die Ämter von Ökonom, Sekretär und Archivar zu denken. 16

Vgl. C Ep, DirH, Nr. 185. Zu den Rechtsverhältnissen in Deutschland s. Stephan Haering, Bußkanoniker der deutschen Domkapitel. Can. 508 § 1 CIC und seine partikularrechtliche Anwendung, in: Andreas Weiß/Stefan Ihli (Hrsg.), Flexibilitas Iuris Canonici. FS Puza (= AIC 28), Frankfurt a. M./Bern 2003, S. 179 – 202. 17

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Die Verleihung der Kapitelämter und der Hilfsämter steht dem Diözesanbischof zu, sofern nicht eigene Regelungen gelten (vgl. c. 157 CIC/1983). 5. Emeritierte Kanoniker und Ehrenkanoniker Der CIC/1983 äußert sich nicht zu den Kanonikern, die aus dem Kapitel ausgeschieden sind, und erwähnt die Ehrenkanoniker nicht mehr (vgl. cc. 406 – 409 u. 411 CIC/1917). Die Statuten der Kapitel sehen jedoch auch nach der Rechtsreform regelmäßig einen speziellen rechtlichen Status für Kanoniker, die aus dem Amt geschieden sind (canonici emeriti), und für Ehrenkanoniker (canonici honorarii) vor. Die Emeritierung hat den Verlust von Sitz und Stimme im Kapitel zur Folge, belässt die ehemaligen Kapitelmitglieder aber zumeist im Besitz bestimmter, in den Statuten umschriebener Kanonikerrechte. Es handelt sich häufig um Wohnrechte und Begräbnisrechte oder um Ehrenrechte wie den Gebrauch der Insignien, Anrecht auf den Sitz im Chor und Regelungen zur Präzedenz. Anders als die wirklichen Kanoniker haben Ehrenkanoniker nicht Sitz und Stimme in der Kapitelsitzung. Nach Maßgabe der Statuten stehen ihnen bestimmte Kanonikerrechte, vor allem Ehrenrechte zu, sodass ihr Rechtsstatus in manchem dem der emeritierten Kanoniker ähnlich ist. In Österreich bedeutet die Ernennung zum Ehrenkanoniker eine hohe diözesane Auszeichnung, welche die Bischöfe nur wenigen verdienten Priestern verleihen.18 6. Verleihung der Kanonikate Für die Vergabe von Kapitelstellen an den Kathedral- und Kollegiatkapiteln ist gemäß c. 509 § 1 CIC/1983 der Diözesanbischof zuständig. Der Diözesanadministrator wird ausdrücklich von der Verleihungskompetenz ausgeschlossen. Gegenteilige Privilegien sind aufgehoben. Einschlägige Vorbehaltsrechte des Apostolischen Stuhls scheinen im erneuerten CIC/1983 nicht mehr auf (vgl. bes. c. 396 § 1 CIC/ 1917). In Staatskirchenverträgen abgesicherte Mitwirkungsrechte bei der Besetzung der Kanonikerstellen werden durch den Codex jedoch nicht tangiert (vgl. c. 3 CIC/ 1983).19 Der Bischof ist verpflichtet, vor der Ernennung eines Kanonikers das betreffende Kapitel zu befragen und dessen Meinung einzuholen. Er bleibt aber in seiner 18

Vgl. Johann Hirnsperger, Der Codex Iuris Canonici von 1983 und die „canonici honorarii“. Überlegungen zur künftigen Rechtsgestalt des Ehrenkanonikerwesens, in: ÖAKR 44 (1995 – 1997), S. 73 – 87; ders., Domkapitel von Brixen (Anm. 1), S. 483. 19 In Deutschland werden die Domkapitulare abwechselnd nach Anhörung und mit Zustimmung des Domkapitels vom Bischof ernannt; in Bayern geschieht die Besetzung der Stellen abwechselnd durch den Bischof nach Anhörung des Domkapitels und auf Grund von Wahl des Kapitels mit bischöflicher Bestätigung; vgl. Art. 8 Abs. 2 PreußK; Art. 14 RK; Art. II Abs. 6 BadK; Art. 14 § 2 BayK; Art. IV § 3 ÖK; s. dazu Puza, Dom- und Stiftskapitel (Anm. 1), S. 655.

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Entscheidung frei, die er nach amtlichem Ermessen zu treffen hat (vgl. c. 127 §§ 1 – 3 CIC/1983). Hinsichtlich der kanonischen Eignungsvoraussetzungen sieht das universale Recht vor, dass Kanonikate nur an Priester übertragen werden dürfen, die sich durch Rechtgläubigkeit und untadeligen Lebenswandel auszeichnen und die ihren Dienst in lobenswerter Weise ausgeübt haben (vgl. c. 509 § 2 CIC/1983). Im Teilkirchenrecht und in den Kapitelstatuten können die Eignungskriterien konkretisiert und ergänzt werden. Möglich wäre bei Kollegiatkapiteln z. B. anzuordnen, dass Priester zu Kanonikern nur ernannt werden, wenn sie in einem bestimmten Territorium in der Diözese tätig sind oder bestimmte kirchliche Ämter bekleiden, z. B. Pfarrer oder Religionslehrer sind. Sofern rechtlich nicht anderes vorgesehen ist, steht es dem Bischof frei, die Kanonikate auf Dauer oder für eine bestimmte Zeit, etwa ad tempus officii, zu verleihen. 7. Kapitel und Pfarrei Kanonikerkapitel und Pfarreien dürfen nach c. 510 § 1 CIC/1983 künftig nicht mehr vereinigt sein. Bestehen Vereinigungen dieser Art, dann sind sie vom Diözesanbischof aufzulösen. Da gemäß c. 520 § 1 CIC/1983 eine juristische Person nicht Pfarrer sein kann, ist es nicht mehr möglich, dass ein Dom- oder Kollegiatkapitel rechtlich als Pfarrer fungiert. Der erneuerte Codex Iuris Canonici orientiert sich hier am Grundsatz des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach die Pfarrei eine Einrichtung darstellt, die ganz auf die Seelsorge hin ausgerichtet ist, was geeignete rechtliche Strukturen voraussetzt und verlangt, dass nur physische Personen das Pfarreramt rechtsgültig erhalten können (vgl. CD 32). An einer Kapitelkirche, die zugleich Pfarrkirche ist, muss gemäß c. 510 § 2 CIC/1983 ein Pfarrer bestellt werden, der Pfarrer im Vollsinn mit allen Rechten und Pflichten ist. Der CIC/1983 ordnet nicht an, die Pfarrerstelle an einen Kanoniker zu verleihen. Dennoch sprechen gute Gründe dafür, dies nach Möglichkeit zu tun, vor allem deshalb, weil auf diese Weise die Koordinierung der Aufgaben zwischen Pfarrei und Kapitel erleichtert und Konflikten vorgebeugt wird. Gemäß c. 510 § 3 CIC/1983 ist es Sache des Diözesanbischofs, Regelungen zu erlassen, in denen die seelsorglichen Aufgaben des Pfarrers und die Agenden des Kapitels miteinander koordiniert und aufeinander abgestimmt werden, sodass man sich nicht gegenseitig behindert. Im Fall von Streitigkeiten entscheidet der Diözesanbischof, der stets darauf achten muss, dass die pastoralen Bedürfnisse der Gläubigen keinen Schaden nehmen. Der Vorrang von Pfarrei und pfarrlicher Seelsorge kommt schließlich auch in der Bestimmung des c. 510 § 4 CIC/1983 deutlich zum Ausdruck, der präsumiert, dass Spenden, die in der Kapitelkirche, die zugleich Pfarrkirche ist, gegeben werden, der Pfarrei zukommen, sofern nicht eine andere Intention des Gebers feststeht.

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III. Ein Vorschlag Anders als in der Vergangenheit, als der Pfarrer vielfach als der einzige Träger der pfarrlichen Seelsorge fungierte, geht das erneuerte Recht davon aus, dass dem Pfarrer zwar weiterhin die Leitung der Pfarrseelsorge und die Gesamtverantwortung zukommen, er aber den Seelsorgedienst gemeinsam mit anderen Klerikern und mit Laien in kooperativer Weise ausübt. Diese nehmen an der seelsorglichen Arbeit teil, wirken nach Amt und Funktion in jeweils eigener Zuständigkeit und abgestufter Verantwortung an der seelsorglichen Arbeit mit und sind so gemeinsam mit dem Pfarrer wirkliche Träger der Seelsorge in der Pfarrei (vgl. bes. c. 529 § 2 CIC/1983). Besonders deutlich treten Diakone und Laien als Träger der pfarrlichen Pastoral beim Modell des c. 517 § 2 CIC/1983 hervor, der dem Diözesanbischof die Möglichkeit einräumt, bei Priestermangel Personen, die nicht die Priesterweihe empfangen haben, an der Ausübung der Hirtensorge in der Pfarrei zu beteiligen. Zum pfarrlichen Seelsorgepersonal im weiteren Sinn gehören vor allem die Mitglieder in den amtlichen Ratsgremien sowie die Religionslehrer und -lehrerinnen, besonders im Bereich der Pflichtschulen, wo häufig enge Verbindungen und Kooperationen mit der Pfarrei wie etwa bei der Vorbereitung von Erstkommunion und Firmung oder bei der Spendung des Bußsakraments gegeben sind. Wegen des gegenwärtigen Priestermangels ist es so wie in anderen Ländern auch in vielen Diözesen des deutschen Sprachgebietes nicht mehr möglich, jede Pfarrei mit einem eigenen Pfarrer zu besetzen. Die Bischöfe sehen sich gezwungen, größere Seelsorgeeinheiten zu schaffen, z. B. in Form von Verbänden von Pfarreien oder Seelsorgeräumen eigener Art, und neue Organisationsstrukturen in der Seelsorge einzuführen. Für die neuen Modelle ist kennzeichnend, dass die Seelsorger in der Regel dazu verpflichtet sind, neben den Aufgaben in der eigenen Pfarrei nach Maßgabe der einschlägigen Weisungen bestimmte Dienste in anderen Pfarreien oder für die gesamte Seelsorgeeinheit zu erbringen bzw. einschlägige Ämter zu übernehmen. Immer öfter werden Priester und Laien dienstlich nicht mehr einer bestimmten Pfarrei zugeordnet, sondern dem größeren Seelsorgeverband. Mancherorts begegnet die Tendenz, an Hauptkirchen bzw. zentralen Orten seelsorgliche Schwerpunkte einzurichten, sie personell und materiell in der erforderlichen Weise auszustatten und nach Möglichkeit die kirchlichen Seelsorgedienste umfassend anzubieten, während die Gottesdienste und pastoralen Aktivitäten in anderen Orten reduziert werden. Neue Seelsorgestrukturen haben für die Mitarbeiter in der Pastoral beachtliche Auswirkungen, vor allem insofern, als sie als Glieder der größeren Gemeinschaft, die sie jetzt gemeinsam mit den anderen Trägern des pastoralen Dienstes in der betreffenden Seelsorgeeinheit bilden, ihre Aufgaben erfüllen bzw. sie sich ganz neuen Herausforderungen stellen müssen. Eine wesentliche Voraussetzung für den angemessenen Vollzug der Seelsorge in den größeren Einheiten ist nicht nur ein höheres Maß an Flexibilität und Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft, sondern grundlegend das Handeln aus dem Bewusstsein heraus, Träger einer von Gott in Taufe, Firmung und gegebenenfalls Weihe grundgelegten und durch bischöflichen Auftrag

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konkretisierten Sendung zu sein, die in gemeinsamem seelsorglichen Bemühen zum Heil der anvertrauten Menschen und in gemeinsam zu tragender seelsorglicher Verantwortung zu realisieren ist. Pastorales Tun umgreift so neben den sichtbaren und wahrnehmbaren Dimensionen des Dienstes wesentlich die unsichtbaren inneren geistlichen Wirklichkeiten wie z. B. Gebet und Opfer, die Sorge um das Heil der Menschen und die letztlich auch gemeinsam zu bewältigenden Erfahrungen von Enttäuschung und Misserfolg. Pastorale Arbeit ist vom Ursprung und von der Zielsetzung her von der Gnade Gottes ermöglichtes und gewirktes Communio-Geschehen, zielt es doch letztlich darauf ab zu erreichen, dass die Menschen den Glauben annehmen, die Taufe und die anderen Sakramente empfangen, so in die Gemeinschaft mit Gott eintreten und dadurch auch untereinander eine neue Gemeinschaft werden. Kooperatives pastorales Handeln unterscheidet sich daher im Wesen von der Tätigkeit einer bloßen Arbeitsgemeinschaft. Die Frage, auf welche Weise das neue seelsorgliche Bewusstsein in den größeren Seelsorgeeinheiten grundgelegt und gestärkt werden kann bzw. ob es konkrete Strukturen gibt, die geeignet sind, die in der pfarrlichen Seelsorge Mitwirkenden mehr und mehr zu einer Gemeinschaft pastoralen Handelns zusammenzuführen, kann m. E. allgemein gültig nicht beantwortet werden, weil die konkreten Gegebenheiten und Erfordernisse sehr unterschiedlich sind. Jedenfalls sollte man in diesem Zusammenhang das Kollegiatkapitel neu in den Blick nehmen. Denn dieses alte traditionsreiche Institut lässt sich so realisieren, dass sich darin gemeinsames gottesdienstliches Handeln, von Gottes Geist bewirkte Bildung von Gemeinschaft und Kooperation in den praktischen seelsorglichen Aktivitäten zu einer organischen Einheit verbinden. Die Errichtung eines Kollegiatkapitels ist nur angezeigt, wenn abzusehen ist, dass in der betreffenden Seelsorgeeinheit wenigstens drei Priester auf Dauer tätig sein werden, denen Kanonikate verliehen werden können. Grundsätzlich sollen alle Priester, nachdem sie ein seelsorgliches Amt eine bestimmte Zeit lang lobenswert ausgeübt haben, zu Kanonikern ernannt werden, weil so die Förderung der Gemeinschaft, die zu den vorrangigen Zwecken des Kanonikerkapitels zählt, am besten verwirklicht werden kann. Die Zahl der Kapitelstellen ist bei diesem Konzept nicht festgelegt, sondern variiert je nach der Zahl der in der Einheit tätigen Priester. Die Kanonikate werden grundsätzlich nur ad tempus officii verliehen, d. h. dass die Priester mit dem Verlust des Seelsorgeamtes im betreffenden Verband eo ipso aus dem Kapitel ausscheiden. Der Stand der emeritierten Kanoniker wie der von Ehrenkanonikern kann vorgesehen werden. Diakone und Laien, die Seelsorgeämter in der Einheit bekleiden, können zwar nicht Vollmitglieder im Kanonikerkapitel sein, sollen aber eine Mitgliedschaft sekundärer Art erhalten, die ihnen ein möglichst hohes Maß an Mitgestaltung und Teilnahme am Leben des Kapitels eröffnet. Aus praktischen Gründen wird es in vielen Situationen nicht möglich sein, alle in seelsorglichen Funktionen tätigen Personen zu beteiligen, hauptamtliche Mitarbeiter in der Seelsorge müssten jedenfalls dem Kapitel in dieser Weise zugehören. Die Mitgliedschaft endet auch bei den Diakonen

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und Laien von Rechts wegen mit dem Ausscheiden aus dem seelsorglichen Amt. Entscheidendes Stimmrecht bei den Kapitelsitzungen und damit die Leitungsverantwortung verbleiben bei den Kanonikern, in die Vorbereitung von Entscheidungen sind jedoch die Diakone und Laien so weit wie möglich einzubeziehen. Sitz des Kollegiatkapitels soll in der Regel die Hauptkirche oder eine der Hauptkirchen im jeweiligen Seelsorgegebiet sein. Alter kirchlicher Tradition entspricht es, das Kapitel unter den Schutz des Patrons der Kirche zu stellen und den Namen so zu wählen, dass die Zuordnung zur betreffenden Kirche eindeutig zum Ausdruck kommt. Das Amt des Vorsitzenden (praeses capituli) muss von einem der Kanoniker bekleidet werden, der durch Kapitelwahl ermittelt wird. Wichtig ist, dass die Diakone und Laien berechtigt sind, an der Bestellung gestaltend und damit verantwortlich mitzuwirken. Ob außer dem Amt des Vorsitzenden weitere Ämter eingerichtet werden, hängt vor allem davon ab, welche Aufgaben das Kapitel in seinen Statuten vorsieht. Bei den Aufgaben nehmen die Gottesdienste, welche die Kanoniker gemeinsam mit den Diakonen und Laien feiern, die zentrale Stelle ein. In Anbetracht des Umstands, dass die Kapitelmitglieder selbst regelmäßig pastorale Aufgaben zu erfüllen haben und großteils nicht am gleichen Ort wohnen, werden gemeinsame Gottesdienste nicht allzu häufig, vielleicht nur an wenigen Tagen im Jahr gefeiert werden können. Die Feier der hl. Eucharistie bildet den Mittelpunkt, hinzukommen das kirchliche Stundengebet und Wortgottesdienste. Gestaltung und Art der Feier, die vom Kapitel festzulegen und in den Statuten und Ordnungen zu normieren sind, müssen die Gottesdienste als Feiern des Kapitels ausweisen. Zu den liturgischen Feiern sollen weitere Aufgaben hinzukommen, die in den Statuten normiert werden, wobei konkrete Wünsche und Anliegen der Mitglieder zum Tragen kommen. Zu denken ist an regelmäßige Zusammenkünfte mit dem Ziel, den persönlichen Austausch zu fördern und die Gemeinschaft zu stärken, oder an konkrete Vorhaben und Projekte z. B. im Konnex mit Fragen der pfarrlichen Seelsorge oder des schulischen Religionsunterrichts. Die Kanonikerkleidung spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, besonders weil diese das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und der gemeinsam zu tragenden seelsorglichen Verantwortung stärkt und die Kapitelgemeinschaft nach außen hin sichtbar macht. Wünschenswert ist, dass die Diakone und Laien eine eigene Kleidung erhalten, die sich von jener der Kanoniker unterscheidet, aber ihr doch ähnlich ist, sodass die Zugehörigkeit zum Kollegiatkapitel deutlich wird. Ob Kollegiatstifte dieser Art tatsächlich eingerichtet werden, wird davon abhängen, wie weit Bereitschaft, Offenheit und wirkliche Möglichkeiten dafür gegeben sind, die Seelsorge in dieser Weise neu zu organisieren. Das erneuerte Recht des CIC/1983 lädt jedenfalls dazu ein, über neue und ungewohnte Wege nachzudenken.

Die Reform der Wirtschafts- und Finanzverwaltung des Heiligen Stuhls durch Papst Franziskus Von Andreas Kowatsch

I. Einleitung Der Vatikan und das Geld – diese Kombination beflügelt die Fantasie nicht weniger Zeitgenossen und bildet die Grundlage für Verschwörungsgeschichten und publizistische Veröffentlichungen unterschiedlicher, nicht immer hoher Qualität. Dass die ressourcenmäßige Ausstattung der zentralen Verwaltung der katholischen Weltkirche, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt an die 1,3 Milliarden Menschen angehören,1 kaum den Vergleich mit größeren europäischen Städten besteht, ändert daran wenig. Der Glanz der vatikanischen Prachtbauten und der Kunstschätze, die der Heilige Stuhl für die ganze Menschheit verwaltet, trübt einen realistischen Blick auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation des Heiligen Stuhls.2 Wirft man einen realistischen Blick auf die vatikanische Finanzpolitik, so erscheint diese im Unterschied zu den Volumina der weltweit tagtäglich abgewickelten Finanzgeschäfte als Marginalie. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Unregelmäßigkeiten oder gar Skandale auf wirtschaftlichem Gebiet die Glaubwürdigkeit der Kirche massiv beschädigen können. Dabei ist es im Ergebnis gleichgültig, ob Unregelmäßigkeiten die Organe des Heiligen Stuhls selbst oder andere Institutionen der Römischen Kirche betreffen. Besonders im Fokus der medialen Öffentlichkeit steht dabei spätestens seit dem Zusammenbruch der Banco Ambrosiano zu Beginn der 1980er-Jahre3 das Istituto per le Opere di Religione (IOR), allgemein besser bekannt als Vatikanbank.4 1 Laut dem aktuellen vom Staatssekretariat herausgegebenen Annuarium Statisticum Ecclesiae betrug die Zahl der Katholiken im Jahr 2014 in etwa 1,272 Milliarden Menschen, was 17,8 % der Weltbevölkerung entspricht. 2 Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Wirtschaftsverwaltung des Heiligen Stuhls und der mit ihm verbundenen Organe. Allerdings betreffen die darzustellenden Reformen auch die Verwaltung des Staates der Vatikanstadt. Wo dies notwendig ist, wird darauf ausdrücklich hingewiesen. 3 Einen seriösen Überblick bietet Hartmut Benz, Finanzen und Finanzpolitik des Heiligen Stuhls. Römische Kurie und Vatikanstaat seit Papst Paul VI. (= VSWG Beihefte 108), Stuttgart 1993, S. 149 – 169. 4 Dieses Institut ist in seiner heutigen Form eine Gründung Papst Pius’ XII. Dieser hatte die Amministrazione delle Opere di Religione, die von Papst Leo XIII. als Sammelstelle für

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Die Reform des IOR und der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung des Apostolischen Stuhls war der erste große Schritt einer von Papst Franziskus relativ bald nach seinem Pontifikatsbeginn in Angriff genommenen Reform der Römischen Kurie. Mag auch das Interesse der breiten Öffentlichkeit an den gegenwärtigen Reformen groß sein, der Gesetzgeber blieb auch in der Zeit vor dem Pontifikat von Papst Franziskus nicht untätig, die Römische Kurie immer wieder zu reformieren5 und dabei auch die Wirtschaftsverwaltung den Gegebenheiten der Zeit anzupassen. Neben innerkirchlichen Herausforderungen (Stichwort Vati-Leaks-Affären) sieht sich der Heilige Stuhl heute vor allem durch den internationalen Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismus herausgefordert, über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewachsene und großteils bewährte Usancen und Mentalitäten in Frage stellen zu lassen. Papst Benedikt XVI. veranlasste erste Schritte zur Reform der Wirtschaftsverwaltung des Heiligen Stuhls, indem er Maßnahmen zur Verhinderung von Geldwäsche bestimmte.6 Nach dessen Rücktritt konnte Papst Franziskus vieles aufgreifen und fortführen, was sein Vorgänger bereits in Angriff genommen bzw. zumindest als Problem erkannt hatte.

II. Die Wirtschaftsverwaltung des Heiligen Stuhls bis zur aktuellen Reform Eine Analyse und Beurteilung der gegenwärtigen Reform ist nur möglich, wenn man sich zuvor über zwei Dinge Klarheit verschafft hat: Erstens: Was ist das Ziel der Reform, mit anderen Worten, von welchem größeren Horizont her lassen sich einzelGelder aus frommen Stiftungen, Testamenten und Schenkungen geschaffen worden war, um mehrere Kompetenzen erweitert. Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 25 weist auf die wichtige Rolle hin, die das IOR nach dem Kriegseintritt Italiens 1941 einnehmen musste. Bis dahin hatten v. a. die Orden und Kongregationen große Teile ihrer Bankgeschäfte über italienische Institute abgewickelt. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Italien und den alliierten Westmächten, v. a. den USA, ließ den Kapitalfluss zwischen den Generalaten und den Tochterhäusern in aller Welt ins Stocken geraten. Diese historische Erfahrung zeigt die Bedeutung, die eine unabhängige Bank für die Freiheit der Kirche und ihrer Sendung haben kann. Der Verfasser vermutet, dass dies der Grund ist, warum Papst Franziskus das IOR zwar in seine Reformmaßnahmen einbezieht, an seiner Existenz aber festhält. Da das IOR keine Einrichtung der Römischen Kurie ist, genügt an dieser Stelle der Hinweis auf die bisherigen Reformschritte durch Papst Franziskus: Franziskus, Chirografo per l’istituzione di una Pontificia Commissione referente sull’Istituto per le Opere di Religione (24. 06. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 635 – 636; ders., Rescriptum ex audientia SS.mi respiciens quasdam quaestiones de Instituto Operum Religionis, in: AAS 105 (2013), addendum; ders., Rescriptum ex audientia SS.mi „In riferimento“ über die Änderung der Statuten des IOR, in: AAS 107 (2015), S. 286. 5 Vgl. zu den bisherigen großen Reformen der Kurie: Kurt Martens, The Reform of the Roman Curia at the Service of the New Evangelization, in: Jurist 75 (2015), S. 197 – 228, bes. S. 202 – 209; Norman Tanner, Die Reform der Römischen Kurie im Lauf der Geschichte, aus dem Englischen übers. v. Gabriele Stein, in: Conc 49 (2013), S. 520 – 529. 6 Benedikt XVI., MP „La Sede Apostolica“ (30. 12. 2010), in: AAS 103 (2011), S. 7 – 8; s. auch unten II.4.

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ne, teilweise auch eher technisch-administrative Entscheidungen beurteilen? Zweitens: Was genau soll überhaupt reformiert werden? Die Beantwortung der ersten Frage stellt die gegenständlichen Reformen in den Kontext der Reform der Kurie überhaupt, die sich rechtlich in einer schrittweisen Novellierung bzw. unter Umständen auch einem schlussendlichen kompletten Ersatz der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ ausdrückt. Dieses Projekt zählt zu den großen Vorhaben des gegenwärtigen Pontifikats und muss daher im Licht der Grundlinien gesehen werden, die eben für dieses kennzeichnend sind. Die zweite Frage verlangt eine zumindest überblicksmäßige Darstellung der „vatikanischen“ Güterverwaltung, wie sie bis 2013, dem Jahr des letzten Pontifikatswechsels, organisiert war.

1. Die Vermögensverwaltung des Apostolischen Stuhls (APSA) Die Struktur der Wirtschaftsverwaltung des Heiligen Stuhls in der Form, wie sie Papst Franziskus am Beginn seines Pontifikates vorgefunden hat,7 geht in ihren wesentlichen Zügen auf die Kurienreform Papst Pauls VI. in der Apostolischen Konstitution „Regimini Ecclesiae Universae“ vom 15. August 19678 zurück. Diese fasste zwei ursprünglich selbständige Verwaltungseinheiten9 zusammen und begründete damit die Amministrazione del Patrimonio della Santa Sede (APSA).10 Deren erste, ordentliche Sektion (Sezione Ordinaria) sollte zuständig sein für die Verwaltung der Vermögenswerte, die den verschiedenen Dikasterien der Römischen Kurie, den Gerichten und den Ämtern gehören. Sie kam für die Ausgaben des Heiligen Stuhls auf und war zuständig für die Auszahlung der Löhne, der Pensionen sowie für die Instandhaltung der Gebäude. In die Zuständigkeit der zweiten, außerordentlichen Sektion (Sezione Straordinaria) der APSA fielen hingegen Aufgaben der Geldpolitik, sodass man diese als Zentralbank des Heiligen Stuhls bezeichnen 7 Während der Zeit der Sedisvakanz obliegt die Wirtschaftsverwaltung dem Camerlengo der Heiligen Römischen Kirche bzw. der von ihm geleiteten Camera Apostolica. Diese Einrichtung hat eine enorme historische Bedeutung; der Camerlengo bekleidete über Jahrhunderte eines der einflussreichsten Ämter der Römischen Kirche. Heute ist die Bedeutung aber nicht viel mehr als eine historische Reminiszenz, weshalb an dieser Stelle der Hinweis auf die bleibende Existenz dieser Institution genügen soll. 8 Paul VI., ApK „Regimini Ecclesiae Universae“ (REU) (15. 08. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 885 – 928. 9 Es handelt sich dabei zum einen um die Amministrazione dei Beni della Santa Sede, die das nach Untergang des Kirchenstaates verbleibende Vermögen verwalten sollte. Dieser Einrichtung folgte die Sezione Ordinaria der APSA nach. Die zweite Einrichtung, die in der neu errichteten APSA aufging, war die ehemalige Amministrazione Speciale della Santa Sede. Sie war gegründet worden, um die Stammausstattung an Kapital zu verwalten, das aufgrund des Finanzabkommens der Lateranverträge vom 11. 02. 1929 von Italien dem Heiligen Stuhl überwiesen worden war. Im Rahmen der APSA wurde sie in die Sezione Straordinaria umgewandelt; vgl. Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 19 – 23. 10 Art. 123 – 124 REU.

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kann. Als solche tritt die APSA bis heute im internationalen Finanzverkehr auf. Beide Sektionen standen unter der einheitlichen Leitung eines Kardinal-Präsidenten, der Teil eines aus Kardinälen zusammengesetzten Vorstandes ist. Die Reform der Wirtschaftsverwaltung durch Papst Franziskus betraf die APSA zweimal in besonderer Weise. In einem ersten Schritt griff Franziskus in die Struktur der Behörde ein, indem die Einteilung in Sektionen aufgelöst wurde. Durch das Motu proprio „Confermando una tradizione“ vom 08. Juli 201411 wurden die Kompetenzen der bisherigen Sezione Ordinaria zum neu errichteten Wirtschaftssekretariat12 transferiert. Die Aufgaben der bisherigen Sezione Straordinaria, also in erster Linie die Verwaltung des Finanzanlagevermögens und all jene Tätigkeiten, die den nationalen Zentralbanken zukommen, verblieben bei der APSA. Verkompliziert wurde dies durch einen neuerlichen Reformschritt: Durch das Motu proprio „I beni temporali“ vom 04. Juli 201613 wurde der Kompetenzübergang an das Wirtschaftssekretariat in Teilen wieder rückgängig gemacht, ohne allerdings die Einteilung der APSA in zwei Sektionen wieder einzuführen. Grob vereinfacht ist die APSA gegenwärtig für die operative Bereitstellung jener materiellen und personellen Ressourcen (externe Beschaffungen, Bezahlung der Löhne und Gehälter etc.) zuständig, die die Dikasterien der Kurie und die sonstigen mit dem Heiligen Stuhl verbundenen Einrichtungen für ihre tägliche Arbeit benötigen.14 2. Die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls Die zweite Institution, die nach der Kurienreform Papst Pauls VI. mit Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung betraut worden war, ist die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls.15 In seiner Darstellung der Römischen Kurie bezeichnete Niccolò del Re die Präfektur als das wichtigste durch „Regimini Ecclesiae Universae“ gegründete Amt.16 Kennzeichnend für diese Behörde war17 die 11 Franziskus, MP „Confermando una tradizione“ (08. 07. 2014), in: AAS 106 (2014), S. 618 – 620. Durch dieses Gesetz wurden die Art. 172 – 173 PastBon neu gefasst, die Art. 174 – 175 gelöscht. 12 S. u. IV.2. 13 Franziskus, MP „I beni temporali“ (04. 07. 2016), in: OR (I) vom 10. 07. 2016, S. 7. 14 Zu den diesbezüglichen Kompetenzen des Wirtschaftssekretariats s. u., IV.2.c. 15 Art. 117 – 121 REU. 16 Niccolò del Re, La Curia Romana. Lineamenti storici-giuridici, Rom 1970, S. 292. 17 Bis dato (30. 09. 2016) besteht die Präfektur formell fort. Im „Annuario Pontificio“ von 2016 wird sie nach wie vor unter den „Uffici“ erwähnt (ebd., S. 1243 u. 1843 f.). Da die wesentlichen Kompetenzen aber mittlerweile zum neuen Wirtschaftssekretariat bzw. zum Amt des Generalrevisors transferiert wurden, bleibt die formale Abschaffung dieses Dikasteriums aller Voraussicht nach nur eine Frage der Zeit. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, dass Papst Franziskus seit der Ernennung des bisherigen Präfekten Giuseppe Kardinal Versaldi zum Präfekten der Kongregation für das katholische Bildungswesen im Jahr 2015 auf die Neubesetzung des Präfektenamtes verzichtet hat. De facto ist die Behörde füh-

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Zusammenfassung der unterschiedlichen Aufgaben einer obersten Finanzbehörde, eines Schatzamtes und einer Revisionsstelle. Die Fülle an Kompetenzen mahnt zur Vorsicht, wenn es gilt, die Aufgabe der Präfektur begrifflich auf den Punkt zu bringen. Vom Konzept her war die Präfektur aber jedenfalls die Aufsichtsbehörde, währenddessen der APSA das operative Tun zukam. Mit aller Vorsicht könnte man mit einer Analogie aus dem weltlichen Gesellschaftsrecht die APSA als Mischung aus Vorstand und operativen Abteilungen sehen, wohingegen der Präfektur teilweise ebenfalls Vorstandsagenden, vor allem aber die Aufgaben des Aufsichtsrates und der Revision zukamen. Benz weist allerdings auf die geringe Weisungsbefugnis der Präfektur hin: „Ihre Kompetenzen beschränken sich auf Prüfung, Koordination und Einspruchsrechte.“18 Art. 121 REU ermächtigte die Präfektur, gegen Missstände gerichtlich vorzugehen. Diese Bestimmung war aber, trotz ihrer Übernahme ins geltende Recht (Art. 179 § 2 PastBon) weitgehend totes Recht geblieben.19 Sowohl die APSA als auch die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten wurden durch die Kurienreform von Papst Johannes Paul II. 1988 in ihrer Existenz bestätigt. Art. 172 – 175 PastBon übernahmen die in zwei Sektionen unterteilte APSA in die neue Ordnung der Römischen Kurie. Art. 176 – 179 PastBon handeln von der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten. Ihre Aufgabe besteht nach Art. 176 PastBon darin, „alle Güterverwaltungen, die vom Heiligen Stuhl abhängen oder die ihm unterstellt sind, verantwortlich zu leiten, wie autonom20 sie möglicherweise auch sind.“ Hinzu kommt eine Kontrollkompetenz gegenüber dem Governatorat für den Staat der Vatikanstadt.21 Nach Art. 178 PastBon prüft rungslos, da ihr Sekretär Lucio Ángel Vallejo Balda wegen Geheimnisverrates verurteilt wurde (s. u., Anm. 55) und in seinem Amt daher behindert ist. 18 Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 34. 19 Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 34. 20 Neben den Kongregationen, Gerichtshöfen, Päpstlichen Räten, Ämtern und sonstigen Einrichtungen des Heiligen Stuhls, deren Vermögen die APSA verwaltet, gab und gibt es eine Reihe von Einrichtungen, die die Wirtschaftsverwaltung autonom erledigen. Neben den vatikanischen Medien und der bereits erwähnten Apostolischen Kammer (s. Anm. 7) ist dies v. a. die Kongregation für die Evangelisierung der Völker. Diese verfügt über einen nicht unwesentlichen Bestand an Vermögen, das ihr im Laufe der Jahrhunderte durch Erbschaften, Schenkungen und auf andere Weisen zugewachsen ist; vgl. Pier Virginio Aimone Braida, Le finanze del Papa, Rom 2016 (= Quaderni di Ius Missionale 8), S. 40 – 41. In diesem Zusammenhang sind z. B. noch die vier päpstlichen Basiliken samt der Fabbrica di San Pietro, die Kardinalskommissionen der Heiligtümer Loreto, Pompej und Bari und die Pontificia Commissione di Archeologia Sacra zu nennen. Ein Organigramm bietet Aimone Braida, ebd., S. 279 – 281. 21 Damit unterstehen (bzw. unterstanden) der Präfektur vier Kategorien von Einrichtungen: 1. Das Governatorat und mit ihm verbundene Ämter und Einrichtungen (wie z. B. die Vatikanische Sternwarte und die Vatikanischen Museen); 2. die Einrichtungen der Römischen Kurie einschließlich der verschiedenen Medien und der Päpstlichen Akademien; 3. die Sozialdienste des Heiligen Stuhls (Päpstliche Missionswerke, der Obolo di San Pietro, Caritas Internationalis, die Elemosineria Apostolica, der Hilfsfonds für die Kirche in Bedrängnis u. a.)

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die Präfektur die Haushaltspläne (§ 1) und erstellt eine konsolidierte Bilanz, die dem Papst zur Approbation vorgelegt wird (§ 2). Nach Art. 179 § 1 PastBon wacht sie über die ökonomischen Vorhaben der einzelnen Verwaltungen und nimmt Stellung zu den Voranschlägen für Aufgaben von größerer Bedeutung. § 2 verpflichtet sie, als Aufsichtsbehörde Vermögensschäden nachzugehen, die dem Heiligen Stuhl in irgendeiner Weise entstanden sind, mit dem Ziel, sofern erforderlich, den zuständigen Gerichten strafrechtliche oder zivilrechtliche Maßnahmen vorzuschlagen. Ihre Arbeitsabläufe werden durch ein vom Staatssekretariat erlassenes „Regolamento“22 näher geregelt, welches die Mitarbeit von Juristen und Wirtschaftsexperten vorsieht. Insbesondere ist dort das Amt eines Obersten Rechnungsprüfers vorgesehen (Art. 15 Regolamento). Darüber hinaus arbeiten Rechnungsrevisoren und Hilfsrevisoren an der Bilanzprüfung mit (Art. 19 Regolamento). Gemäß Art. 20 Regolamento stützt sich die Präfektur auf die Mitarbeit von Konsultoren, Experten und internationalen Revisoren. Letztere sollen fünf besonders kompetente Fachleute auf dem Gebiet der Revision von Wirtschaftsrechnungen und der Analyse von Haushaltsbilanzen sein. Im Gegensatz zu dem von Papst Franziskus neu geschaffenen Amt des Generalrevisors ist der Oberste Rechnungsprüfer ganz in die Behördenstruktur der Präfektur unter der Leitung eines Kardinal-Präsidenten eingebaut.23 3. Der Kardinalsrat zur Beratung wirtschaftlich-organisatorischer Angelegenheiten Neben diesen beiden Ämtern wirkte seit 1981 noch ein 15-köpfiger Kardinalsrat zur Beratung der organisatorischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Apostolischen Stuhls24 im Bereich der Wirtschaftsverwaltung mit. Dieser wurde von Papst und 4. die im engeren Sinn pastoralen Einrichtungen des Heiligen Stuhls (die Heiligtümer von Loreto und Pompeji, die Basiliken San Antonio in Padua und San Nicolás in Bari, die „päpstlichen“ Pfarreien Castelgandolfo und Sankt Anna im Vatikan, das Monasterium Mater Ecclesiae, in dem der Papa Emeritus wohnt, etc.); vgl. zu dieser Kategorisierung Diego Zalbidea, La reorganización económica de la Santa Sede. Balance y perspectivas, in: IusCan 54 (2014), S. 221 – 251, hier S. 228 – 229. 22 Die letzte Fassung ist datiert auf den 22. 02. 2011 und online verfügbar unter: http:// www.vatican.va/roman_curia/uffici/prefettura/documents/rc_pref_20110222_regolamento_it. html (Stand: 01. 10. 2016). 23 Die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls ist gemäß der ausdrücklichen Erwähnung in Art. 2 § 1 PastBon ein Dikasterium. Dikasterien stehen gemäß Art. 3 § 1 PastBon unter der Leitung eines Kardinals als Präfekten bzw. eines Erzbischofs als Präsidenten, sofern sie nicht aufgrund ihrer besonderen Natur oder eines speziellen Gesetzes eine andere Struktur haben. Im Fall der Wirtschaftspräfektur obliegt die Leitung dem Kardinal-Präsidenten gemeinsam mit einem Rat von Kardinälen, der ihm dabei assistiert (Art. 10 § 1 Regolamento). Dieser leitende Kardinalsrat weicht in seiner Struktur von den Kongregationen der Römischen Kurie ab, weshalb die Bezeichnung des leitenden Kardinals als Präsident gerechtfertigt ist. 24 Consiglio dei Cardinali per lo studio dei problemi organizzativi ed economici della Santa Sede.

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Johannes Paul II. eingesetzt, nachdem auf dem Konsistorium des Kardinalskollegiums vom 05. – 09. November 1979 der Wunsch erklungen war, „einen Rat aus Vertretern des Weltepiskopats zu bilden, der gemeinsam mit der Prefettura und den von ihr koordinierten Organen Pläne für eine Effizienzsteigerung vatikanischer Wirtschaftspolitik“ erarbeiten sollte.25 Zweimal pro Jahr trifft sich dieser Rat, der ansonsten über keine weitere Infrastruktur verfügt. Den Sitzungen steht der Kardinalstaatssekretär vor, die Präsidenten der APSA und der Präfektur erstatten Bericht.26 Dabei beschränkt sich die äußere Kompetenz des Rates auf Informations- und Beratungsrechte. „Die Ratsmitglieder haben keinerlei Weisungsbefugnis, sondern dürfen lediglich unverbindliche Vorschläge unterbreiten. Sie haben auch nicht das Recht, die ihnen vorgelegten Zahlen in den einzelnen Institutionen zu überprüfen.“27 Die eigentliche Aufgabe des Rates besteht in der Einbindung der wirtschaftlichen Expertise der Vorsteher einflussreicher bzw. vermögender Teilkirchen.28 Damit ist dieser Rat auch im Licht von c. 1271 CIC/1983 zu lesen, der die Mitverantwortlichkeit der Bischöfe zur Besorgung der Mittel bestimmt, die der Apostolische Stuhl entsprechend den Zeitverhältnissen braucht, damit er seinen Dienst gegenüber der ganzen Kirche ordnungsgemäß zu leisten vermag. Mittlerweile wurde durch die Etablierung des Consiglio per l’Economia (s. u., IV.1.) dieser Kardinalsrat obsolet. Neben den erweiterten Kompetenzen des Wirtschaftsrates besteht die auffälligste Veränderung in der Zusammensetzung des neuen obersten Ratsgremiums. Dieses ist kein reiner Bischofsrat mehr, sondern verfügt über eine ausgewogene Zusammensetzung aus acht Kardinälen/Bischöfen und sieben Laien-Experten.

25 Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 36. Der entsprechende Chirograph von Johannes Paul II. findet sich in: AAS 73 (1981), S. 545 – 546. 26 Hinzu kommt die Berichterstattung durch den Präsidenten des Governatorates, in dessen Zuständigkeit die Güterverwaltung des Staates der Vatikanstadt liegt. 27 Benz, Finanzen und Finanzpolitik (Anm. 3), S. 37. Benz weist dort aber auch darauf hin, dass aus der geringen rechtlichen Kompetenz nicht geschlossen werden dürfe, der Rat sei in Wahrheit bedeutungslos. Seit seinem Bestehen hätten die Mitglieder durch eine Vielzahl von Eingaben an den Heiligen Stuhl fruchtbare Arbeit geleistet. In der Vorrede zum MP „Fidelis dispensator et prudens“, mit dem Papst Franziskus drei neue Organe der Wirtschaftsverwaltung errichtete (s. Anm. 59), wird ausdrücklich auf die Konsultation dieses Rates Bezug genommen. 28 Wenn Aimone Braida darauf verweist, dass allein die Bilanzsumme des Erzbistums Köln jene der konsolidierten, alle Organe umfassenden Bilanz des Heiligen Stuhls um das Vierfache übertrifft, ist dieser Effekt nicht schwer nachzuvollziehen; vgl. Aimone Braida, Le finanze del Papa (Anm. 20), S. 55.

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4. Die Autoritá di Informazione Finanziaria (AIF) und das Comitato di Sicurezza Finanziaria Am 17. Dezember 2009 schloss der Staat der Vatikanstadt mit der Europäischen Union ein neues Währungsabkommen ab.29 Auf den ersten Blick handelte es sich lediglich um eine Konsequenz aus vorangegangenen Abkommen mit der Republik Italien, die es dem Vatikanstaat ermöglicht hatten, eigene Lira-Münzen, bzw. ab dem Inkrafttreten des gemeinsamen Währungsraumes eigene Euro-Münzen, zu prägen und in Umlauf zu bringen. Um diese symbolisch eng mit der Eigenstaatlichkeit des Vatikanstaates verbundene Usance auch unter den europarechtlichen Vorgaben aufrechterhalten zu können, war der Abschluss eines Währungsabkommens unumgänglich geworden. Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Überweisungen auf Konten beim IOR hatten den kleinsten Staat Europas und damit auch den Heiligen Stuhl dem Vorwurf ausgesetzt, nicht ausreichende Maßnahmen zur Verhinderung von Geldwäsche zu ergreifen.30 Um die europarechtlichen Vorgaben umzusetzen, errichtete Papst Benedikt XVI. die Autoritá di Informazione Finanziaria (AIF).31 Dieses Büro hat im Wesentlichen die Aufgabe, Geldströme sowie die Ein- und Ausfuhr von Devisen zu überwachen. Seine Tätigkeit erstreckt sich in erster Linie auf die (ehemalige) Sezione Straordinaria der APSA als Zentralbank und auf das IOR. Die AIF ist nicht nur eine Rechtsperson nach dem weltlichen Recht des Vatikanstaates, sondern verfügt zugleich über die Rechtspersönlichkeit nach dem kanonischen Recht, die sie als Einrichtung, die mit dem Heiligen Stuhl gemäß Art. 186, 190 und 191 PastBon verbunden ist, qualifiziert. Die AIF wendete ursprünglich das Gesetz Nr. CXVII des Vatikanstaates an, das zur Umsetzung des Währungsabkommens erlassen worden war. Dieses Gesetz wurde am 25. Januar 2012 durch das „legge-decreto n. CLIX per urgente necessità“ ersetzt. Am 14. Dezember 2012 erließ schließlich die Pontificia Commissio per lo Stato della Città del Vaticano das Gesetz Nr. CLXXXV. In diesen Bestimmungen sind die Kompetenzen zwischen der AIF, dem Staatssekretariat, der Kardinalskommission für den Staat der Vatikanstadt und der Gendarmeria Pontificia aufgeteilt. Die Umsetzung der Maßnahmen gegen Geldwäsche wird vom zuständigen Gremium des Europarates (MONEYVAL) überwacht und bewertet.32 Nach einem ersten 29

ABl. der Europäischen Union 2010/C 028/05. Vgl. dazu Aimone Braida, Le finanze del Papa (Anm. 20), S. 65; vgl. auch das Buch von Francesco Peloso, La banca del Papa. Le finanze vaticane fra scandali e riforma, Venedig 2015, bes. S. 19 – 44. Es handelt sich dabei um eine gründliche Recherche, die aber freilich als journalistische Veröffentlichung weitgehend ohne Anmerkungsapparat auskommt. 31 Benedikt XVI., MP „La Sede Apostolica“ (Anm. 6), S. 7 – 8. Zur Genese der AIF im Bereich des Rechts des Vatikanstaates s. Aimone Braida, Le finanze del Papa (Anm. 20), S. 66 – 69. 32 Vgl. dazu die Resolution des Committee of Ministers des Europarates, CM/Res (2011) 5 on the participation of the Holy See (including the Vatican City State) in the mutual evaluation processes and procedures of the Committee of Experts on the Evaluation of Anti-Money Laundering Measures and the Financing of Terrorism (MONEYVAL). 30

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„Evaluation Report“ vom 04. Juli 2012, dem umfangreiche Überprüfungen vor Ort sowie zahlreiche Gespräche und Auswertungen von Dokumenten vorausgegangen waren, folgten mittlerweile zwei „Progress Reports“33, die insgesamt dem Heiligen Stuhl und dem Vatikanstaat große Anstrengungen und Fortschritte im Kampf gegen Geldwäsche und die Finanzierung des internationalen Terrorismus konzedieren.34 Kennzeichnend für die Aktivität der AIF ist, dass diese in voller Unabhängigkeit von anderen Organen des Heiligen Stuhls in direkter Verantwortung gegenüber dem Papst erfolgt. Papst Franziskus erweiterte am 08. August 201335 die Zuständigkeit der AIF, indem die mit dem Heiligen Stuhl verbundenen und auch sonstige Einrichtungen mit Sitz im Vatikanstaat in den Geltungsbereich mit einbezogen wurden. Betroffen davon ist in erster Linie eine Reihe von Stiftungen. Die Kompetenz der AIF erstreckt sich ausdrücklich auch auf die Einrichtungen des Heiligen Stuhls. Die Dikasterien der Römischen Kurie sind verpflichtet, die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen des Vatikanstaates zu beachten.36 Durch das Motu proprio vom 08. August 2013 (Art. 4) errichtete Franziskus eine neue Behörde zur Koordination all jener Einrichtungen, die für den Heiligen Stuhl und den Vatikanstaat zuständig sind für die Vorbeugung und den Kampf gegen Geldwäsche, gegen die Finanzierung des internationalen Terrorismus und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.37 Dieses Comitato di Sicurezza Finanziaria (CSF) erhielt im gleichen Motu proprio ein Statut. In einem weiteren Schritt setzte der Papst mit Wirkung vom 21. November 2013 ein neues Statut für die AIF in Kraft.38

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First Progress Report vom 09. 12. 2013 und Second Progress Report vom 08. 12. 2015. http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/moneyval/Countries/HolySee_en.asp (Stand: 01. 10. 2016). 35 Franziskus, MP „La promozione“ (08. 08. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 811 – 813. 36 Da die Gesetze des Staates der Vatikanstadt nicht ohne Weiteres die Organe des Heiligen Stuhls binden, bestimmte Benedikt XVI. im MP, mit dem er die AIF errichtete (s. Anm. 31), dass das entsprechende „weltliche“ Gesetz auch in der kanonischen Rechtsordnung verpflichtet. Mittels einer dynamischen Verweisung auf alle zukünftigen Modifikationen ist das Gesetz des Vatikanstaates zugleich auch eine lex canonizata i. S. v. c. 22 CIC/1983 mit der Besonderheit, dass es sich beim kanonisierten Gesetz hier nicht um das Recht eines beliebigen Staates, sondern um das Recht des Staates der Vatikanstadt handelt. Dieser ist zwar vom Rechtssubjekt Heiliger Stuhl rechtlich und weitgehend auch organisatorisch geschieden, hat mit dem Papst als Oberhaupt und souveränen Gesetzgeber aber dasselbe rechtliche Zuordnungssubjekt; vgl. Jesus Mifiambres, Riorganizzazione economica della Curia Romana: Considerazioni giuridiche „in corso d’opera“, in: IusE 27 (2015), S. 141 – 156, hier S. 150. 37 Letzteres ergibt sich eher aus einer Harmonisierung mit den entsprechenden Maßnahmen der Staaten des Europarates als aus einer konkreten Relevanz für den Heiligen Stuhl. 38 Franziskus, MP „Mediante il Motu Proprio“ (15. 11. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 1138 – 1144. 34

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III. Die Reform der Wirtschaftsverwaltung als Baustein der gegenwärtigen Kurienreform Stammte die AIF noch aus dem Pontifikat Papst Benedikts XVI., begegnen wir im CSF der ersten Einrichtung, die von Papst Franziskus geschaffen wurde. Auch wenn es sich dabei nicht um eine kuriale Behörde, sondern um ein Gremium handelt, in dem neben Vertretern der Kurie auch der Vatikanstaat und die AIF repräsentiert sind,39 lässt sich dessen Errichtung in den größeren Zusammenhang der Reform der Römischen Kurie einordnen, die von Papst Franziskus in Angriff genommen worden ist. Das Unternehmen, die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“ zu reformieren,40 reicht in seinen Wurzeln zurück in die Diskussionen der Kardinäle auf dem oft so bezeichneten „Vorkonklave“, also den Kongregationen der Kardinäle zur Vorbereitung der Wahl eines neuen Nachfolgers Petri, die nach dem Rücktritt Benedikts XVI. mit Wirkung vom 28. Februar 2013 notwendig geworden war. Nach der Wahl Jorge Mario Bergoglios zum Papst wurde recht bald deutlich, dass der ehemalige Erzbischof von Buenos Aires aktiv diese Zeit mitgestaltet hatte. Seine im Vorkonklave gehaltene Ansprache, die bereits Ende März 2013 durch den Erzbischof von Havanna veröffentlicht wurde,41 lässt eine deutliche Entschlossenheit erkennen, etwaige in eine Schieflage geratene Zustände der Kirche zu reformieren. Konkret wurde der Plan einer Kurienreform mit der Einsetzung42 eines Rats von acht, später neun43 Kardinälen, der den Papst einerseits ganz generell in der Leitung

39 Nach Art. 1 des Statuts setzt sich das SCF zusammen aus dem Assessor für die Allgemeinen Angelegenheiten im Staatssekretariat als Vorsitzenden, dem Untersekretär für die Beziehungen mit den Staaten, dem Sekretär der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten, dem Vize-Generalsekretär des Governatorates, dem Promotor Iustitiae beim Tribunal des Staates der Vatikanstadt, dem Direkter der AIF und dem Direktor für die Sicherheit und den Zivilschutz des Governatorates. 40 Die angekündigte Kurienreform wird von Anfang an auch durch die kirchenrechtliche Fachwelt interessiert begleitet; vgl. das Sonderheft „Zur Reform der Römischen Kurie“, Conc 49 (2013), S. 513 – 628; auch: Ulrich Ruh, Kurienreform auf dem Weg, in: HK 67 (2013), S. 547 – 549. 41 Die Ansprache findet sich u. a. in: KlBl 93 (2013), S. 98. Diese Veröffentlichung setzt aufgrund der strikten Geheimhaltungspflichten, die den Kardinälen und allen Personen, die mit der Papstwahl zu tun haben, durch die ApK „Universi Dominici Gregis“ (vgl. bes. Art. 58) auferlegt werden, wohl das Einverständnis des Papstes voraus. Schnell verbreitete sich die Rede und wurde von den Medien als Bewerbungsrede (Der Spiegel) bzw. Brandrede (Katholische Nachrichtenagentur) tituliert. 42 Franziskus, Chirograph „Tra i suggerimenti“ (28. 09. 2013), in: AAS 106 (2014) 875 – 876. Explizit wird dort zu Beginn auf die Eingaben (suggerimenti) der Kardinäle im Vorkonklave Bezug genommen. 43 Seit der zuerst informellen, später offiziellen Teilnahme des (neuen) Kardinalstaatssekretärs, sind es neun Kardinäle.

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der universalen Kirche unterstützen soll,44 andererseits aber auch speziell beauftragt wurde, mögliche Änderungen der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ zu studieren. Der Papst behält sich die Ernennung ad nutum vor. Tatsächlich repräsentieren die aktuellen Mitglieder alle fünf Kontinente sowie die Römische Kurie. Dieser K9-Rat traf bis zum September 2016 bereits 16 Mal zusammen. Die Aufgabe des Rates besteht einzig und allein in der Beratung des Papstes, verbindliche Entscheidungen vermag er keine zu fällen.45 Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass über die Arbeit des Rates nur das zu erfahren ist, was das Presseamt des Heiligen Stuhls bzw. Radio Vatikan jeweils nach den Sitzungen veröffentlichen. Auch Interviews mit den einzelnen Mitgliedern geben Aufschluss über den Stand der Arbeiten.46 Wenn auch an dieser Stelle kein Resümee gezogen werden braucht, lässt sich feststellen, dass der Papst eine Kurienreform in Etappen durchführt. Noch vor dem Erlass einer Nachfolgeregelung für die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“, bzw. zumindest einer integralen Novellierung der Konstitution, griff der Papst in deren Textbestand schon mehrfach ein. Anlässlich der Zusammenführung der Päpstlichen Räte für die Laien bzw. für die Familie zum neuen Dikasterium für die Laien, die Familie und das Leben wurden die Art. 131 – 134 und 139 – 141 PastBon gestrichen.47 Den bislang weitreichendsten Eingriff in die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“ bewirkte das Motu proprio „Humanam Progressionem“ vom 17. August 2016,48 mit dem das Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganz44 Dass diese Aufgabe tatsächlich wahrgenommen wird, zeigt u.a das Briefing (B [= Bollettino] 059 vom 13. 04. 2016) des Direktors des Vatikanischen Presseamtes nach dem 14. Treffen des K9-Rates im April 2016. Neben anstehenden Reformen der Dikasterien der Römischen Kurie berieten die Kardinäle den Papst auch über den Informativprozess und die Rolle der Nuntien im Verfahren zur Bischofsernennung. 45 Wenn da und dort die Rede von einem „Revolutionsrat“ oder gar einer „päpstlichen Junta“ sein mag, so erscheint dies angesichts der Souveränität, die Papst Franziskus in seinen bisherigen Entscheidungen zu erkennen gegeben hat, wohl übertrieben; vgl. Stephan Haering, Das erste Pontifikatsjahr von Papst Franziskus aus kirchenrechtlicher Sicht, in: KlBl 94 (2014), S. 146 – 152, hier S. 147. Bereits im Chirograf vom 28. 09. 2013 machte der Papst deutlich, dass die Aufgabe des Rates darin bestehe, ihm in der Ausübung der Leitung der universalen Kirche zu assistieren; in keiner Weise ist da die Rede von einer synodalen, kollegialen oder sonstigen bischöflichen Mitwirkung an der Leitung selbst. 46 Einen Überblick über die bisherigen Arbeiten bietet der KNA-Artikel vom 14. 04. 2015 von Johannes Schidelko, Der Kardinalsrat strukturiert seine bisherigen Ergebnisse. Kurienreform geht in eine neue Phase, online verfügbar unter: http://www.domradio.de/the men/papst-franziskus/2016 - 04 - 13/der-kardinalsrat-strukturiert-seine-bisherigen-ergebnis se (Stand: 01. 10. 2016). 47 Dies geschah einerseits durch das MP „Sedula Mater“ (15. 08. 2016), in: OR (I) vom 17./ 18. 08. 2016, S. 8, mit dem das neue Dikasterium offiziell gegründet wurde, andererseits mit dem Apostolischen Schreiben „Il dicastero“ (04. 06. 2016), in: OR vom 05. 06. 2016, S. 8, mit dem das Statut für das neu errichtete Dikasterium für Laien, Familie und das Leben in Kraft gesetzt wurde. Auffällig sind die verschiedenen Daten beider Texte. 48 Franziskus, MP „Humanam Progressionem“ (17. 08. 2016), in: OR vom 01. 09. 2016, S. 6; ebd. ist auch das Statut des neuen Dikasteriums publiziert.

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heitlichen Entwicklung des Menschen mit Wirkung vom 01. Januar 2017 errichtet wurde. Durch diese Zusammenfassung mehrerer bisheriger päpstlicher Räte49 wurde den Art. 142 – 153 PastBon derogiert. Auch die Errichtung des gleich zu besprechenden Wirtschaftssekretariates änderte die Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“, indem ein neuer Art. 173 formuliert und die Art. 174 – 175 ersatzlos gestrichen wurden.50 Die Reform der Römischen Kurie und jene der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung hängen insofern zusammen, als es gerade auch finanzielle Intransparenzen gewesen waren, die den Ruf nach einer erneuten Kurienreform laut haben werden lassen. Da die Kurie aber nur einen Teilbereich der Einrichtungen des Heiligen Stuhls abdeckt – und es sind teilweise nicht einmal die wirtschaftlich betrachtet bedeutenderen –, musste die Reform der Wirtschaftsverwaltung von Anfang an breiter angelegt werden. Während die Reform der Kurie sich nicht durchführen lässt, ohne diese in einem umfassenden ekklesiologischen Konzept zu verwurzeln,51 handelt es sich bei der Wirtschaftsverwaltung häufig um sehr technische Fragen, die als solche losgelöst von theologischen Vorentscheidungen und lehrmäßigen Bindungen behandelt werden können.52 Wohl aus diesem Grund liefen beide Reformvorhaben von Anfang an parallel. 49

Das neue Dikasterium mit diesem mächtigen Namen fasst folgende bisherige Einrichtungen zusammen: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden Iustitia et Pax, Päpstlicher Rat Cor Unum, Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Päpstlicher Rat für die Pastoral im Krankendienst. Nach Art. 4 § 4 des Statuts werden bei diesem Dikasterium drei Kommissionen eingerichtet: eine für die Caritas, eine für Fragen der Ökologie und eine für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Besonders auffällig ist, dass nach Art. 1 § 4 des Statuts des neuen Dikasteriums die dort zu errichtende „Sektion für Flüchtlinge und Migranten“ nicht dem Präfekten, sondern ad tempus direkt dem Papst untersteht, sodass der Präfekt in diesem Bereich eine ähnliche Stellung einnehmen wird, wie sie der Sekretär des Heiligen Offiziums bis zur Reform durch Papst Paul VI. durch das MP „Integrae Servandae“ (07. 12. 1965), in: AAS 57 (1965), S. 952 – 955 innegehabt hatte. 50 Franziskus, MP „Confermando una tradizione“ (Anm. 11), Art. 2 – 3. Bereits Benedikt XVI. hatte drei Mal die ApK „Pastor Bonus“ novelliert: Benedikt XVI., MP „Quaerit semper“ über die Zuständigkeit für Nichtvollzugsverfahren und Weihenichtigkeitsverfahren (30. 08. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 569 – 57; MP „Ministrorum institutio“ über die Zuständigkeit für Priesterseminare (16. 01. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 130 – 135/S. 828 – 833 u. MP „Fides per doctrinam“ über die Zuständigkeit für die Katechese (16. 01. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 136 – 139. 51 Bis jetzt freilich blieben angesichts der eher punktuell und scheinbar zusammenhanglos erfolgenden Reformschritte die ekklesiogischen Grundlinien noch recht unklar; vgl. den Beitrag des Präfekten der Glaubenskongregation Gerhard Kardinal Müller, Theologische Kriterien für die Kirchen- und Kurienreform, in: ders., Benedikt und Franziskus. Ihr Dienst in der Nachfolge Petri, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2015, S. 78 – 88; erstveröffentlicht in: OR (D) vom 07. 02. 2015. 52 Das bedeutet freilich nicht, dass die kirchliche Wirtschaftsverwaltung in einem „glaubensneutralen“ Raum stattfinden darf. Vielmehr handelt es sich beim Vermögen der Einrichtungen des Heiligen Stuhls vielfach um Kirchenvermögen i. S. d. c. 1257 § 3 CIC/1983, das insbesondere den strengen Zweckbestimmungen des c. 1254 § 1 CIC/1983 unterliegt. „Die eigenen Zwecke aber sind vor allem: die geordnete Durchführung des Gottesdienstes, die

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Bereits zwei Monate vor der rechtlichen53 Konstituierung des K8/9-Rates errichtete Papst Franziskus54 eine spezielle Kommission, die Vorschläge für die Reform der Wirtschaftsverwaltung erarbeiten sollte. Die Pontificia Commissione referente di studio e di indirizzo sull’organizzazione della struttura economico-amministrativa della Santa Sede (COSEA) war im Wesentlichen ein Laiengremium aus acht internationalen Experten, das von einem Präsidenten koordiniert wird, der ebenfalls Laie ist. Lediglich der Sekretär sollte ein Kleriker sein.55 Die Kommission sollte Vorschläge erarbeiten, um die betroffenen Einrichtungen zu vereinfachen und die Arbeitsabläufe zu rationalisieren. Zu diesem Zweck ermächtigte Franziskus die COSEA, umfassende Informationen zu sammeln und verpflichtete sie zur Zusammenarbeit mit dem Kardinalsrat zur Beratung wirtschaftlich-organisatorischer Angelegenheiten.56 Die Verzahnung mit der breit angelegten Reform der Römischen Kurie wird dadurch gewährleistet, dass die COSEA mit dem neuen K8/9-Rat, vor der offiziellen Errichtung noch als gruppo di lavoro bezeichnet, auf dessen Verlangen zusammenarbeiten soll. Konkret ging es darum, so der Papst in seinem Handschreiben, verbesserte Strategien zu erarbeiten, Maßnahmen zur Verhinderung von Ressourcenverschwendung zu setzen, die Vergabeverfahren transparenter zu gestalten, die Verwaltung der beweglichen und unbeweglichen Güter zu perfektionieren, die Anwendung aktueller Standards der Buchführung sicherzustellen und schließlich die Gesundheits- und Sozialfürsorge für die Mitarbeiter zu garantieren. Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen.“ 53 Faktisch hatte der Papst den Kardinalsrat bereits am 13. 04. 2013 eingerichtet, indem die Namen der acht Mitglieder in einer Mitteilung des Staatssekretariats öffentlich bekannt gemacht wurden (vgl. B[ollettino] 0223). Es handelte sich dabei um die Erzbischöfe von Santiago de Chile (hier wurde der Emeritus ernannt), Bombay, München und Freising, Kinshasa, Boston, Tegucigalpa und Sydney. Aus dem Kreis der Kurienkardinäle wurde der Präsident des Governatorates ernannt. Der Erzbischof von Tegucigalpa sollte als Koordinator fungieren. Dem Rat wurde Francesco Semeraro, Bischof von Albano, als Sekretär zugeordnet. Mit der Ernennung des Erzbischofs von Sydney, George Kardinal Pell, zum Präfekten des neuen Wirtschaftssekretariats und mit der Hinzuziehung des Kardinalstaatssekretärs verschob sich das Verhältnis zwischen Vertretern der Ortskirchen und der Römischen Kurie von ursprünglich 7/1 auf nunmehr 6/3. 54 Franziskus, Chirografo per l’istituzione di una Pontificia Commissione referente di studio e di indirizzo sull’organizzazione della struttura economico-amministrativa della Santa Sede („COSEA“) (18. 07. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 707 – 709. 55 Mit der Ernennung des Sekretärs der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten, Lucio Ángel Vallejo Balda, wählte der Papst persönlich jemanden aus, der sich in weiterer Folge wegen Geheimnisverrates strafbar gemacht hat, indem er gemeinsam mit dem italienischen COSEA-Mitglied Francesca Immacolata Chaouqui vertrauliche Unterlagen der Kommission in die Hände zweier Enthüllungsjournalisten spielte (sog. Affäre Vati-Leaks II). Diese Angelegenheit zeigt, dass es im Bereich der „vatikanischen“ Wirtschaftsverwaltung tatsächlich gewisse Gravamina gibt, die behoben werden müssen. 56 Zu diesem s. o., II.3.

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Die betroffenen Einrichtungen wurden zur Kooperation mit der COSEA verpflichtet, die freilich selber über keine Leitungsgewalt verfügt. Das Amtsgeheimnis galt gegenüber der COSEA ausdrücklich nicht, zu den Archiven und sonstigen Aufzeichnungen musste ein ungehinderter Zugang ermöglicht werden.57

IV. Die drei neuen Einrichtungen der Wirtschaftsverwaltung Aufbauend auf den Empfehlungen, die die COSEA nach ihrem Tätigwerden erarbeitet hatte,58 den Arbeiten im K8/9-Rat der Kardinäle und nach Konsultation des Kardinalsrates zur Beratung wirtschaftlich-organisatorischer Angelegenheiten setzte Papst Franziskus am 24. Februar 2014 den erwarteten großen Reformschritt. Mit dem Motu proprio „Fidelis disenpensator et prudens“59 wurde nicht nur das Amt des obersten Revisors aus der organisatorischen Einbindung in die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten herausgelöst und als eigenständiges und weisungsunabhängiges Amt des Generalrevisors neu errichtet. Gleichzeitig wurden auch zwei gänzlich neue Entitäten ins Leben gerufen. Der Wirtschaftsrat (Consiglio per l’Economia) sollte als oberstes Aufsichtsgremium vor allem die Kompetenz zur Erarbeitung verbindlicher Richtlinien erhalten und trat damit die Nachfolge des unter II.3 beschriebenen Kardinalsrates antreten. Das als neues Dikasterium60 der Römischen Kurie errichtete Wirtschaftssekretariat (Segretaria di Economia) stellt zweifelsfrei den bisher bedeutendsten Reformschritt da. Als eine neue Art Oberbehörde sollte es zuständig sein für alle Dikasterien, Gerichtshöfe, Ämter, Räte und sonstigen Einrichtungen der Curia Romana und des Staates der Vatikanstadt. Am 08. Juli 2014 bestimmte Papst Franziskus,61 dass die Zuständigkeiten der bisherigen Sezione Ordinaria der APSA62 ins Wirtschaftssekretariat transferiert werden sollten. Dadurch wurde das Sekretariat zu einer Art Superbehörde, die in sich weite Teile des operativen Geschäfts und der Wirtschaftsaufsicht vereinen sollte. Die damit entstandene Vermi57 Pkt. 3 u. 4 Chirograph 18.07. Gerade diese Fülle an Kompetenzen war aber wohl von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Einerseits kann man nur dann seriöse Reformvorschläge erwarten, wenn zuerst einmal im Sinne einer umfassenden Inventur alle Fakten auf dem Tisch liegen. Andererseits ist es nicht schwer nachzuvollziehen, dass gerade der ungehinderte Zutritt und die Suspension des Amtsgeheimnisses von Mitarbeitern, die bisher relativ eigenständig für ihr Dikasterium oder sonstige Einrichtung gehandelt haben, einen deutlichen Mentalitätswechsel erforderten. Gleichzeitig verfügten die Mitglieder der COSEA durch ihre Informationen in kurzer Zeit über einen Wissensvorsprung gegenüber allen anderen kirchlichen Mitarbeitern. Schlussendlich wurde die dadurch erlangte Machtposition von zwei Mitgliedern leider auch missbraucht. 58 Die Pressemitteilung des Heiligen Stuhls vom 24. 02. 2014 (B0136) spricht von einer „rigorosa revisione“. 59 Franziskus, MP „Fidelis dispensator et prudens“ (FDP) (24. 02. 2014), in: AAS 106 (2014), S. 164 – 165. Die authentische Fassung ist auf Italienisch verfasst. 60 Art. 4 FDP. 61 Zum MP „Confermando una tradizione“ s. Anm. 11. 62 S. o. II.1.

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schung zwischen Organen der Kontrolle und Tätigkeiten, die der Kontrolle unterliegen, korrigierte Franziskus in einem weiteren Motu proprio am 04. Juli 2016.63 Ein Jahr nach ihrer Errichtung erließ Franziskus in einem einheitlichen Rechtsakt die Statuten für den Wirtschaftsrat, das Wirtschaftssekretariat und das Amt des Generalrevisors.64 1. Der Wirtschaftsrat (Consiglio per l’Economia) Die Aufgabe des Wirtschaftsrates (lat. Consilium rebus oeconomicis praepositum) besteht darin, die Durchführung der wirtschaftlichen Angelegenheiten aufmerksam zu verfolgen und über die Strukturen und die administrativen und finanziellen Aktivitäten der Dikasterien der Römischen Kurie, der mit dem Heiligen Stuhl verbundenen Einrichtungen und des Staates der Vatikanstadt65 zu wachen (Art. 1 FDP; vgl. Art. 1 Statut). Damit ist der Wirtschaftsrat das oberste Aufsichtsorgan über alles, was mit der Verwaltung materieller Güter durch die genannten Organe zusammenhängt. Der Rat besteht aus 15 Mitgliedern, unter denen acht Kardinäle bzw. Bischöfe sind. Die restlichen sieben Mitglieder sollen Laien sein, deren fachliche Kompetenz und Professionalität anerkannt sind (Art. 2 FDP).66 Die Mitglieder werden vom Papst für die Dauer von fünf Jahren ernannt.67 Den Vorsitz im Wirtschaftsrat führt ein Kardinal als Koordinator (Art. 3 FDP).68 Ein Prälat-Sekretär unterstützt den Koordinator bzw. dessen Stellvertreter und leitet das Büro (Art. 5 § 4 63

S. Anm. 13. Franziskus, Statuti dei nuovi organismi economici (22. 02. 2015), in: COMM 47 (2015), S. 25 – 44. Die Promulgation nach c. 8 § 1 CIC/1983 erfolgte zugleich für alle drei neuen Einrichtungen in archaisch anmutender Weise durch Anschlag im Cortile di San Damaso im Apostolischen Palast. Darüber hinaus ist die Veröffentlichung in den AAS angeordnet. Da der Geltungsgbeginn mit 01. 03. 2015 festgesetzt wurde, dient diese Publikation nur mehr der Herstellung einer leichteren Zugänglichkeit. 65 Im Anhang zu den Statuten findet sich eine Liste mit all jenen Einrichtungen, die in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsrates fallen. Nach Anhörung des Staatssekretariats und des Wirtschaftssekretariats kann der Rat diese Liste modifizieren und besitzt damit eine Art Kompetenz-Kompetenz über die Reichweite seiner eigenen Zuständigkeit; vgl. Art. 1 § 2 Statut. 66 Mit der Bestimmung in Art. 2 FDP, dass die Laien-Mitglieder aus verschiedenen Nationen kommen müssen, und die ausgewählten Bischöfe die Universalität der Weltkirche widerspiegeln, ist ein Leitprinzip gegenwärtiger Kurienorganisation angesprochen; vgl. bereits Pkt. 9 der Einleitung zur ApK „Pastor Bonus“. Während die Repräsentanz von Bischöfen aus verschiedenen Nationen im Hinblick auf den Dienstauftrag der Kurie an der communio Ecclesiarum nachvollziehbar ist, erscheint das Kriterium mit Blick auf die Laien-Experten aber als künstlich. Hier muss wohl zuerst das Augenmerk auf die fachliche Kompetenz gelegt werden. 67 Vgl. die genaueren Bestimmungen zur idoneitas, zur Ernennung und zu möglichen Inkompatibilitäten Art. 6 Statut. 68 Dies ist zurzeit der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx. Dieser ist darüber hinaus auch Mitglied im K9-Rat der Kardinäle zur Beratung des Papstes. 64

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Statut). An den Sitzungen dürfen auch der Kardinalstaatssekretär und der Präfekt des Wirtschaftssekretariats ohne Stimmrecht teilnehmen. Die allgemeinen Regelungen des c. 119 CIC/1983 zur Willensbildung kollegialer Organe sind nicht anwendbar. Vielmehr bestimmt Art. 9 Statut eine eigene Abstimmungsregel. Demnach ist für die Gültigkeit eines Beschlusses zunächst ein Präsenzquorum von zehn Mitgliedern unter dem Vorsitz des Kardinal-Koordinators bzw. seines Stellvertreters69 notwendig. Für die Annahme eines Beschlusses sind mindestens acht Stimmen erforderlich, egal ob zehn oder mehr Mitglieder bei der Abstimmung anwesend waren. Die Aufsicht übt der Rat in erster Linie durch die Erarbeitung von verbindlichen, vom Papst zu approbierenden Richtlinien aus. Kern dieser Richtlinien sind einige Grundprinzipien,70 an denen sich die Wirtschaftsverwaltung der betroffenen Einrichtungen zu orientieren hat. Gem. Art. 2 § 1 Statut handelt es sich dabei um die Prinzipien der Risikominimierung (lit. b), der Rationalität (lit. c) und der Effektivität (lit. d).71 Der Wirtschaftsrat ist zuständig, verbindliche Kriterien und Wertgrenzen für Alienationsgeschäfte i. S. d. c. 1291 CIC/1983 und Akte der außerordentlichen Verwaltung (vgl. c. 1277 CIC/1983) festzusetzen. Fallen Verwaltungsakte in diesen so definierten Bereich, so ist zu ihrer Gültigkeit die Zustimmung des Präfekten des Wirtschaftssekretariats notwendig (Art. 2 § 4 Statut). Aufgabe des Wirtschaftsrates ist auch die Prüfung des Haushaltsplanes und der konsolidierten Jahresbilanz des Heiligen Stuhls bzw. des Staates der Vatikanstadt. Für deren Approbation durch den Papst bereitet der Wirtschaftsrat entsprechende Empfehlungen vor (Art. 3 § 1 Statut). In der Ausübung seines obersten Wächteramtes ist der Rat befugt, sich direkt an die einzelnen Einrichtungen zu wenden (Art. 3 § 3 Statut). Darüber hinaus kann er den Generalrevisor beauftragen, spezielle Revisionen durchzuführen (Art. 4 § 2 Statut). Auch kann er nach Rücksprache mit dem Wirtschaftssekretariat, bzw. wenn notwendig sogar direkt, externe Prüffirmen beauftragen, einzelne Einrichtungen oder Aktivitäten zu kontrollieren (Art. 4 § 3 Statut).

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Der Vorsitzende wird als primus inter pares mitgezählt. Als Grundprinzipien, die die gesamte Reform der Wirtschaftsverwaltung kennzeichnen, lassen sich die Professionalisierung, die Transparenz und die Effektivität aufzählen; vgl. Zalbidea, Reorganización (Anm. 21), S. 246 – 248. Nach Art. 8 § 4 des 2010 erlassenen „Regolamento“ der APSA hat die Güterverwaltung nach folgenden drei Prinzipien zu erfolgen: 1. Trennung der Funktionen, insbesondere von Verwaltung einerseits und Aufsicht andererseits; 2. Klare Kompetenzabgrenzungen und 3. Effektivität, d. h. Vermeidung unnötiger Verdoppelungen (online verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/uffici/apsa/docu ments/rc_apsa_20110218_regolamento_it.html [Stand: 07. 02. 2017]). 71 Das Wirtschaftssekretariat besitzt ein Vorschlagsrecht für den Erlass neuer Bestimmungen durch den Wirtschaftsrat. Ebenso können das Staatssekretariat, das Comitato di Sicurezza Finanziaria, die AIF sowie die einzelnen überwachten Einrichtungen selbst Eingaben an den Wirtschaftsrat machen (Art. 2 § 2 Statut). 70

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2. Das Wirtschaftssekretariat (Segreteria per l’Economia) a) Das Wirtschaftssekretariat als Dikasterium sui generis Die Errichtung des Wirtschaftssekretariats (lat. Secretaria Sanctae Sedis rebus oeconomicis praeposita) (WS) durch das MP „Fidelis dispensator et prudens“ bildet die auffälligste und folgenreichste Neuerung im System der „vatikanischen“ Wirtschaftsverwaltung. Das WS ist nach Art. 4 FDP ein Dikasterium der Römischen Kurie gemäß der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“. Der Vorsitzende ist wie bei den Kongregationen ein Kardinalpräfekt. Im Gegensatz zu den Kongregationen ist das WS allerdings nicht kollegial, sondern monokratisch organisiert. Auch steht dem Präfekten kein Erzbischof als Sekretär zur Seite, sondern (lediglich) ein Prälat als „Generalsekretär“ (Art. 5 FDP). Der Präfekt ist gehalten, mit dem Staatssekretariat zusammenzuarbeiten (Art. 6 FDP). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass das WS dem Staatssekretariat nachgeordnet ist.72 Ganz im Gegenteil bestimmt Art. 5 FDP, dass das WS zwar gebunden ist durch die Normen und Richtlinien, die vom Wirtschaftsrat erlassen und vom Papst approbiert wurden, innerhalb dieser Bindung aber allein und direkt dem Papst gegenüber verantwortlich ist. Ohne dessen herausragende Stellung im Organisationsplan der Kurie zu schmälern, ergibt sich somit eine gewisse Parallelität zum Staatssekretariat.73 Die Zuständigkeit des WS beschreibt Art. 5 FDP mit der Ausführung der wirtschaftlichen Kontrolle und Aufsicht über all jene Einrichtungen, die in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsrates fallen. Es führt auch die Politik bezüglich der Einkäufe und der Verteilung der personellen Ressourcen aus. Dabei greift es nicht in die Kompetenzen der Dikasterien und sonstigen Einrichtungen ein. Mit anderen Worten ist das WS nicht dazu bestimmt, Entscheidungen des alltäglichen Geschäfts

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Allerdings ist das Staatssekretariat gem. Art. 3 § 1 Statut für all jene Materien zuständig, die die Beziehungen mit den Staaten und sonstigen Personen des Internationalen Rechts berühren. 73 Das Staatssekretariat ist nach Art. 41 § 1 PastBon berufen, die Tätigkeit der verschiedenen Dikasterien zu koordinieren. Ob dies nach FDP auch für die wirtschaftlich relevanten Tätigkeiten gilt, oder ob dafür nunmehr das WS (allein) zuständig ist, ist eine noch endgültig zu klärende Frage. Gemäß dem bisherigen Organigramm der Römischen Kurie nimmt im „Annuario Pontificio“ 2016 das Staatssekretariat unter den Dikasterien der Römischen Kurie die erste Stelle ein. Bezüglich des WS entsteht der Eindruck einer gewissen Verlegenheit angesichts dieser neuen Struktur sui generis. So wird dieses nicht etwa gleich nach dem Staatssekretariat angeführt, sondern erst viel später unter der Rubrik „Uffici“. Der Struktur und der zugedachten Bedeutung des WS wird diese Einteilung nicht gerecht. Tatsächlich wurde die Parallelisierung mit dem Staatssekretariat bereits zur Quelle von Diskussionen über die Reichweite der Zuständigkeit beider Behörden; vgl. zur Diskussion zwischen dem Substituten des Staatssekretariats und dem Präfekten des WS: http://www.lastampa.it/2016/04/26/ vaticaninsider/ita/vaticano/il-vaticano-corregge-pell-il-contratto-con-pwc-va-rivisto-BjPAb5jg fOVDt4CAJflgIM/pagina.html und http://www.lastampa.it/2016/04/22/vaticaninsider/ita/vatic ano/la-segreteria-per-leconomia-corregge-il-sostitutobecciu-8dGGLtJTr3Lyv3GKRA3bNM/pa gina.html (Stand: 07. 02. 2017).

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an sich zu ziehen. Es hat aber eine Art Richtlinienkompetenz, die die einzelnen Institutionen in der Ausübung ihrer Wirtschaftsverwaltung bindet. In Angelegenheiten größerer Bedeutung ist das WS verpflichtet, den Wirtschaftsrat anzuhören.74 Gemäß Art. 4 § 2 besteht das WS aus zwei Sektionen: die Sektion für die Kontrolle und Aufsicht („sezione per il controllo e la vigilanza“) und die Sektion für die Verwaltung („sezione amministrativa“). Die Koordination beider Abteilungen obliegt einem Generalsekretär. Innerhalb der Sektionen kann es einen oder auch mehrere Subsekretäre geben. Besonders wichtig im Zusammenhang mit der Reform der Wirtschaftsverwaltung ist Art. 4 § 7 Statut. Demzufolge besteht eine strikte Trennung und Unterscheidung zwischen beiden Abteilungen. Es müssen Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass es zu keinen Vermischungen zwischen Aufsichtsfunktionen und administrativen, zu kontrollierenden Tätigkeiten kommen kann.75 b) Die Sezione per il controllo e la vigilanza Art. 6 – 14 des Statuts bilden den rechtlichen Rahmen für die Zuständigkeiten der (hier vereinfacht so genannten) I. Sektion des WS. Einige Aufgaben werden im Folgenden herausgegriffen, um die Aufsichtsfunktion dieser Behörde darzustellen. Der I. Sektion obliegt es, für den Präfekten Entwürfe für allgemeine Ausführungsdekrete und Instruktionen auszuarbeiten, die die Normen des Wirtschaftsrates spezifizieren (Art. 6 § 1 Statut).76 Diese Ausführungsbestimmungen richten sich an die einzelnen Einrichtungen. Inhaltlich handelt es sich um Verfahren der Beschaffung, der Rechnungslegung, der Personalplanung etc. Gemäß Art. 8 § 1 Statut überwacht die I. Sektion die Verwaltung der Dikasterien der Römischen Kurie und jene der sonstigen mit dem Heiligen Stuhl verbundenen 74 Es handelt es dabei um ein Beispruchsrecht gem. c. 127 CIC/1983 (arg. deve sentire). Bis zu einer allfälligen näheren rechtlichen Umgrenzung bleibt der Begriff der „größeren Bedeutung“ aber sehr unbestimmt. Zwar ist der Wirtschaftsrat im Rahmen der Kontroll- und Leitlinienfunktion dem WS übergeordnet, es besteht aber kein hierarchisches Verhältnis zwischen diesen beiden Institutionen. Stephan Haering weist in diesem Zusammenhang allerdings auf eine Unklarheit hin: „Man kann sogar eher von einer gewissen Abhängigkeit des Wirtschaftsrates vom Wirtschaftssekretariat sprechen, insoweit es in der Verantwortung des Kardinalpräfekten des Sekretariats liegt, die Statuten nicht nur für die Arbeiten des Sekretariats selbst zu formulieren, sondern auch jene für den Wirtschaftsrat“ (Haering, Das erste Pontifikatsjahr von Papst Franziskus [Anm. 45], S. 148). 75 Die Bedeutung dieses Prinzips wird noch durch die Verpflichtung unterstrichen, dem Wirtschaftsrat jährlich über alle diesbezüglichen Maßnahmen Bericht zu erstatten. Zu den mit der Frage der Unterscheidung von Aufsicht und Verwaltung zusammenhängenden Kompetenzverschiebungen durch das MP „I beni temporali“ (Anm. 13) s. gleich im Folgenden. 76 Auf der Ebene eines rechtlichen Stufenbaus besteht demgemäß eine Unterordnung des WS unter den WR; vgl. Anm. 74.

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Einrichtungen.77 Die Aufsicht richtet sich unter anderem auf die Effektivität der Abläufe, die Rationalität bei der Personalplanung, die Mittelverwendung gemäß den genehmigten Haushaltsplänen sowie die Gewissenhaftigkeit der Buch- und Archivführung. In Ausübung der Vigilanz besitzen die Mitarbeiter der I. Sektion die Möglichkeit, in loco Nachschau zu halten. Dies bedarf allerdings der vorherigen Genehmigung durch den Präfekten (Art. 8 § 2 Statut). Die I. Sektion erarbeitet sowohl den Haushaltsplan als auch die konsolidierte Bilanz des Heiligen Stuhls, die jeweils vom Präfekten dem Wirtschaftsrat vorgelegt werden müssen (Art. 10 lit. a Statut).78 Ihr obliegt es, eine jährliche Risikobewertung vorzunehmen, die ebenfalls über den Präfekten an den Wirtschaftsrat geleitet wird (lit. b). Werden die Wertgrenzen oder sonstige Kriterien für die Qualifikation eines Verwaltungsaktes als außerordentlich überschritten bzw. erfüllt, oder handelt es sich bei einem Rechtsgeschäft um eine Alienation, so obliegt es der I. Sektion, diese Akte zu prüfen und gegebenenfalls den Präfekten um seine Zustimmung zu bitten, die ad validitatem notwendig ist (Art. 11 Statut79). Besonders heikel erscheint Art. 12 Statut.80 Dort wird die I. Sektion für den Fall, dass sie Kenntnis von (möglichen) Schädigungen des Vermögens des Heiligen Stuhls erlangt, ermächtigt, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese abzuwenden. Ausdrücklich wird hier auch das Beschreiten des Rechtsweges erwähnt. Hierbei handelt es sich um eine sehr offen formulierte, inhaltlich weitreichende Kompetenz, deren Handhabung gravierende Auswirkungen auf das Verhältnis der beaufsichtigten Einrichtungen zum WS haben kann. Trotzdem ist eine ausdrückliche Genehmigung des Präfekten hier nicht vorgesehen.81

77 Nicht erwähnt wird hier allerdings die Gebarung der Organe des Vatikanstaates. Dies bedeutet angesichts der Tendenz der bisherigen Reformschritte, möglichst alle Einrichtungen des Heiligen Stuhls und des Vatikanstaates einem gemeinsamen Aufsichtsregime zu unterwerfen, einen Systembruch. 78 In diesem Punkt übernahm das WS eine der wichtigsten Kompetenzen der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls. Im Hinblick auf die Bilanzen ist ausdrücklich vorgesehen, dass auch jene des Staates der Vatikanstadt von der I. Sektion kontrolliert werden (Art. 10 lit. b). 79 Vgl. auch Art. 1 lit. f MP „I beni temporali“ (Anm. 13). 80 Vgl. auch Art. 1 lit. g MP „I beni temporali“ (Anm. 13). 81 In der Praxis ist es allerdings schwer vorstellbar, dass rechtliche Schritte gegen ein Dikasterium oder einen kurialen Mitarbeiter ohne vorherige Genehmigung des Präfekten ergriffen werden. Auch das Staatssekretariat wird in solchen Fällen wohl nicht übergangen werden können.

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c) Die Sezione Amministrativa Nach dem Motu proprio „Confermando una tradizione“82 wurde das WS noch vor Inkrafttreten der Statuten am 01. März 2015 mit den Aufgaben der (ehemaligen) Ordentlichen Sektion der APSA betraut, die gleichzeitig formal abgeschafft wurde.83 Bei diesen Zuständigkeiten handelt es sich in erster Linie um die Verwaltung des Immobilienvermögens und des Personals, aber auch ganz grundsätzlich um die Bereitstellung von Ressourcen und technischer bzw. verwaltungsmäßiger Dienste, die für die ordentliche Tätigkeit der Dikasterien notwendig sind.84 Das Statut des WS weist der Sezione Amministrativa neben der Aufgabe, bestimmte Richtlinien zu entwerfen (Art. 15), in erster Linie die Aufgaben eines oberstes Personalbüros zu (Art. 16 Statut).85 Im Bereich der Human Ressources hat aber nach dem „Regolamento Generale della Curia Romana“86 auch das Staatssekretariat eine Reihe wichtiger Kompetenzen.87 Die Frage der Abgrenzung der einzelnen Zuständigkeiten war in weiterer Folge nicht immer eindeutig zu beantworten. Durch das Motu proprio „I beni temporali“ von 04. Juli 201688 wurden die Kompetenzen der Verwaltungssektion daher schärfer gefasst und – in Beziehung zur APSA – teilweise wieder eingeschränkt. Die II. Sektion des WS ist nunmehr im Personalbereich nicht mehr für die operative Durchführung der Lohnbuchhaltung (inklusive Bezahlung) zuständig. „Herrin über die Löhne“ ist wieder die APSA. Das WS kümmert sich aber um die Anpassung von Lohnlisten u. ä. Es erarbeitet bzw. evaluiert Ausbildungs- und Fortbildungspläne, verhandelt mit Versicherungsgesellschaften über Unfallversicherungen und dergleichen. Es überwacht die Einhaltung arbeitsrechtlicher Normen ebenso wie die planmäßige Verteilung der Mitarbeiter.89 Nach dem nun geltenden Recht (Art. 3 MP „I beni temporali“) liegt die operative Vermögensverwaltung nicht mehr in erster Linie in den Händen der II. Sektion des WS. Vielmehr ist wieder die APSA berufen, das bewegliche wie das unbewegliche Vermögen des Heiligen Stuhls und der mit ihm verbundenen Einrichtungen zu verwalten. Ebenso ist die APSA zuständig, Einkäufe zu tätigen und Verträge über Güter 82

S. Anm. 11. S. o. II.1. 84 So ausdrücklich der mittlerweile wieder abgeschaffte Art. 17 Statut. 85 Darüber hinaus prüft sie Alienationsgeschäfte und Akte der außerordentlichen Verwaltung. Sie ist ermächtigt, den Generalrevisor um die Durchführung spezieller Revisionen zu ersuchen. Sie ist die zuständige Stelle für den Austausch steuerrechtlich relevanter Daten mit nationalen Behörden. 86 AAS 91 (1999), S. 629 – 699. 87 Dies betrifft nach Art. 12 – 22 z. B. die Ernennung der Büroleiter und die Erteilung des Nihil Obstat. 88 S. Anm. 13. 89 Art. 2 lit. b MP „I beni temporali“ i. V. m. Art. 16 Statut. 83

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abzuschließen, die für die Tätigkeiten der Römischen Kurie bzw. sonstiger Einrichtungen notwendig sind. Im Ergebnis wurden durch den letzten Reformschnitt die Kompetenzen der Sezione Amministrativa massiv beschnitten. Dies steht allerdings im Einklang mit dem Grundprinzip der Trennung von Aufsicht und operativer Tätigkeit. Nach der Rechtslage vor „I beni temporali“ waren unter dem Dach ein und derselben Behörde kontrollierende und ausführende Tätigkeiten vereint, wenngleich auch die Zuordnung zu zwei organisatorisch getrennten Sektionen erfolgt war. Art. 4 § 7 Statut schärft auch ein, dass alle Maßnahmen zu ergreifen sind, die die beiden Sektionen klar trennen und unterscheiden. Dies wird nach der erneuten Reform gewiss leichter möglich sein. Zusammengefasst hat sich der Charakter des WS durch die jüngste Reform verändert. Konnte man bisher im WS eine – weltlich gesprochen – Vereinigung von Wirtschafts- und Finanzministerium erblicken, das aufgrund seiner monokratischen Entscheidungsstruktur in die Hände des Präfekten eine kaum zu überbietende Bündelung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht legte, ist nunmehr wieder ein mehrpoliges System von Verantwortungen eingerichtet. Dieses folgt formal dem obersten Grundsatz der Trennung von Aufsicht und Verwaltung. Da jedoch mit dem Wirtschaftsrat ein oberstes Kontrollgremium errichtet wurde, das Staatssekretariat über weitreichende Aufsichtskompetenzen vor allem im Personalbereich verfügt, die AIF und das Comitato di Sicurezza Finanziaria Kontrollfunktionen in den ihnen zugewiesenen Bereichen ausüben und überdies innerhalb des WS die I. Sektion mit weitreichenden Kontrollfunktionen betraut ist, die auch den Einsatz externer international tätiger Wirtschaftsprüfer90 einschließt, stellt sich doch die Frage, ob zur Erreichung des Ziels klarerer Funktionentrennung nicht der hohe Preis bezahlt werden musste, nun unter Umständen doch wieder mehrere Verantwortliche für die konkrete Mittelverwendung zu haben. Dass die Kontrolle im reformierten System der „vatikanischen“ jedenfalls nicht zu kurz kommt, beweist auch das dritte durch FDP neu errichtete Amt. 3. Das Amt des Generalrevisors Vor der Reform der Wirtschaftsverwaltung des Heiligen Stuhls hatte die Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten die Aufgabe, die Aufsicht und Kontrolle der einzelnen Einrichtungen bzw. Verwaltungen zu besorgen. Das im Pontifikat Benedikts XVI. reformierte „Regolamento“ der Präfektur91 regelte ausführlich die diesbezüglichen Zuständigkeiten und Abläufe. Neben der Leitung durch den Präfekten und den Rat der Kardinäle war das Amt eines Obersten Rechnungsprüfers vorgesehen, der vom Papst für fünf Jahre ernannt wurde.92 Daneben waren Rechnungsrevisoren und Hilfsrevisoren vorgesehen, die über eine entsprechende Ausbildung ver90

S. dazu eine Aufzählung bei Zalbidea, La reorganización (Anm. 21), S. 245 – 246. S. Anm. 22. 92 Art. 10 Regolamento Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten.

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fügen mussten.93 Diese waren für die Erledigung des alltäglichen Geschäfts zuständig. Dazu kamen fünf „Internationale Revisoren“, die vom Papst direkt ernannt wurden.94 Diesen sollten nach Art. 31 Regolamento die Haushaltspläne und die konsolidierten Schlussbilanzen des Heiligen Stuhls sowie des Vatikanstaates zur Beurteilung vorgelegt werden. Durch Art. 7 des Motu proprio „Fidelis dispensator et prudens“ vom 24. Februar 201495 wurde das Amt des Generalrevisors (lat. Officium Recognitoris Generalis) errichtet. Das eigentlich Neue dieses Amtes besteht angesichts der breit angelegten Revisionstätigkeiten der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls nicht in der Einrichtung einer für jede ausgebaute Wirtschaftsverwaltung unumgänglichen Revision, sondern in der organisatorischen Trennung von Verwaltung (Wirtschaftssekretariat bzw. APSA) und Rechnungsprüfung. Während Art. 7 FDP sich damit begnügt zu bestimmen, dass der Generalrevisor Rechnungsprüfung (audit) all jener Einrichtungen durchzuführen hat, die nach Art. 1 FDP in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsrates fallen,96 nimmt das am 22. Februar 2015 gemeinsam mit den Statuten für den Wirtschaftsrat und das -sekretariat erlassene Statut97 eine genauere Kompetenzumschreibung vor. Das Amt des Generalrevisors ist eine Einrichtung des Heiligen Stuhls. Es ist vorgesehen, dass dem Generalrevisor zwei beigeordnete Revisoren zur Seite gestellt werden.98 Der Generalrevisor wird ad quinquennium vom Papst ernannt und muss über nachweisliche fachliche Kompetenzen verfügen. Er muss darüber hinaus frei sein von jedem möglichen Interessenkonflikt (Art. 5 Statut). Art. 2 Statut bestimmt, dass der Generalrevisor seine Tätigkeit in voller Autonomie und Unabhängigkeit vollzieht und dabei nach den jeweils anerkanntesten internationalen Standards für die öffentliche Verwaltung vorzugehen hat. Die Bilanzen der Einrichtungen werden jährlich routinemäßig geprüft. Wo dies als notwendig erscheint, kann der Generalrevisor auch spezielle Revisionen durchführen (Art. 2 § 2 Statut). Für den Fall, dass Unregelmäßigkeiten auftauchen, schlägt er der betreffenden Stelle geeignete Maßnahmen vor (Art. 2 § 1 Statut). Um seine Aufgabe auch tatsächlich effektiv erfüllen zu können, verfügt der Generalrevisor über das Recht, von den kontrollierten Einrichtungen all jene Informationen zu fordern, die für die Revision von Belang sind. Er ist darüber hinaus ermächtigt, in loco Nachschau zu halten, d. h. Durchsuchungen durchzuführen. Über eventuelle Irregularitäten informiert er den Wirtschaftsrat, sendet gegebenenfalls einen Bericht an die AIF und stellt den Strafverfol-

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Art. 19 Regolamento. Art. 23 Regolamento. 95 S. Anm. 59. 96 S. o. IV.1. 97 S. Anm. 64. 98 Die nähere personelle Ausstattung des Amtes des Generalrevisors regelt Art. 7 Statut. 94

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gungsbehörden die Prüfergebnisse als Beweismittel zur Verfügung.99 Um die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der einzelnen Dikasterien und Einrichtungen zu erleichtern und um Loyalitätskonflikten vorzubeugen, ist der Generalrevisor verpflichtet, jede Information vertraulich zu behandeln. Die Identität von Informanten ist jedenfalls geheim zu halten. Lediglich im Rahmen eines Strafprozesses muss der Generalrevisor diese auf begründeten richterlichen Befehl preisgeben. Mitarbeiter, die bona fide den Generalrevisor über mögliche Unregelmäßigkeiten informieren, sind nicht durch das Amtsgeheimnis gebunden. Sie unterliegen auch keinerlei arbeitsrechtlichen Sanktionen welcher Art auch immer (Art. 6 Statut).

V. Schlussbemerkung Im Rahmen des Symposiums, das anlässlich des 80. Geburtstags von Prof. Winfried Aymans am 05. Juli 2016 in München stattfand, widmete der Jubilar seinem Lehrer einen Festvortrag, in dem er die bisherigen großen Reformen der Römischen Kurie nachzeichnete. Für den Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte ist das Thema „Reform der Römischen Kurie“ von besonderem Interesse. Die bereits erzielten Reformschritte bilden zurzeit noch ein recht unübersichtliches Nebeneinander, wobei sich die Reform der Wirtschaftsverwaltung in diesem Zusammenhang dadurch auszeichnet, dass sie ein relativ geschlossenes Ganzes bildet. Inwieweit sich die neuen Organe der Wirtschaftsverwaltung in eine Nachfolgeregelung der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ einfügen werden, bleibt aus heutiger Sicht abzuwarten. Sie haben nicht nur die Aufgabe, die Wirtschaftsverwaltung der Dikasterien und sonstigen Einrichtungen des Heiligen Stuhls zu kontrollieren, sondern üben auch die Aufsicht über die Gebarung des Vatikanstaates aus. Jenseits aller technischen Einzelfragen der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung sind die im Zuge der jüngsten Reform ergangenen Normen ein unersetzlicher Baustein für einen nach innen wie nach außen glaubwürdigen Dienst der Curia Romana für den Nachfolger des heiligen Petrus in dessen Dienst an der communio Ecclesiarum. Dass ein juristisch präzises und zugleich theologisch verantwortetes Verständnis des Kirchenrechts nicht nur für Reformen der Kurie, sondern für den glaubwürdigen Dienst der Kirche insgesamt unerlässlich ist, war und bleibt dem Jubilar immer ein Hauptanliegen seiner kanonistischen Forschung und Lehre. Der Verfasser bedankt sich bei seinem Doktorvater nicht nur für diese Erkenntnis.

99 Unklar bleibt, ob hier lediglich die Strafjustiz des Vatikanstaates oder auch die Behörden anderer Länder gemeint sind. Gerade im Bereich der Finanzverwaltung hätte aber die Beschränkung auf die Zusammenarbeit mit der „eigenen“ Gerichtsbarkeit wenig Sinn. Da es sich hierbei aber u. U. um den Eingriff in die Kompetenz der Zweiten Sektion des Staatssekretariats handelt, ist in Zukunft von einer behutsamen gegenseitigen Information beider Behörden auszugehen. Grundsätzlich ist der Generalrevisor aber auch gegenüber dem Staatssekretariat unabhängig.

Der Ruf nach mehr Synodalität Von Georg May Seit geraumer Zeit wird von manchen Gliedern der Kirche die Forderung erhoben, mehr Synoden1 abzuhalten. Der Ruf nach häufigerem Zusammentritt von Synoden reicht von der Diözesansynode2 über die Plenarkonzilien3 bis zu einem (Dritten) Vatikanischen Ökumenischen Konzil.4 Das Verlangen nach stärkerer Synodalisierung der Kirche und des kirchlichen Lebens wird vorgebracht von Einzelpersonen, Verbänden und Versammlungen. Führend an dieser Forderung sind Theologen beteiligt. Karl Rahner forderte schon vor langer Zeit die Errichtung einer Nationalsynode aus Bischöfen, Priestern und Laien als oberstes Regierungsorgan einer Nationalkirche.5 Karl Forster wollte in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland „die starke Tendenz zu einer möglichst umfassenden Synodalisierung des kirchlichen Lebens“ erkennen.6 Für Peter Hünermann ist es „um der glaubwürdigen Darstellung 1

Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 3. Bd., Berlin 1883, S. 325 – 668; Albert Hauck, Synoden: RE3 19, S. 262 – 277; Winfried Aymans, Das synodale Element in der Kirchenverfassung (= MThSt.K 30), München 1970; ders., Konzil – Bleibendes und Veränderliches im kirchlichen Synodalwesen, in: Walter Brandmüller (Hrsg.), Synodale Strukturen der Kirche. Entwicklung und Probleme, Donauwörth 1977, S. 187 – 207; ders., Beiträge zum Verfassungsrecht der Kirche (= KST 39), Amsterdam 1991 – darin: Synode 1972. Strukturprobleme eines Regionalkonzils, S. 83 – 108; Synode – Versuch einer ekklesiologisch-kanonistischen Begriffsbestimmung, S. 167 – 180; Mitsprache in der Kirche, S. 259 – 280; Die nachkonziliare Synodalbewegung in Mitteleuropa, S. 281 – 300; ders., Gliederungs- und Organisationsprinzipien, in: HdbKathKR3, S. 430 – 440; Richard Puza, Das synodale Prinzip in historischer, rechtstheologischer und kanonistischer Bedeutung, in: Gebhard Fürst (Hrsg.), Dialog als Selbstvollzug der Kirche? (= QD 166), Freiburg i. Br./Basel/Wien 1997, S. 242 – 269; Stephan Haering, Autorität und Synodalität im Gesetzbuch der lateinischen Kirche, in: Christoph Böttigheimer/Johannes Hofmann (Hrsg.), Autorität und Synodalität. Eine interdisziplinäre und interkonfessionelle Umschau nach ökumenischen Chancen und ekklesiologischen Desideraten, Frankfurt a. M. 2008, S. 297 – 315. 2 Heribert Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs, in: HdbKathKR3, S. 622 – 626. 3 Wilhelm Rees, Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbKathKR3, S. 469 – 477. 4 Georg Bier, Ökumenisches Konzil, in: HdbKathKR3, S. 543 – 576. 5 Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance (= Herderbücherei 446), Freiburg i. Br. 1972. 6 Karl Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung. Rückblick auf die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, in: StdZ 194 (1976), S. 75 – 93, hier S. 87; ders., Synodale Mitverantwortung in der Bewährung. Rückblick auf die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, in: Walter Brand-

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und Entfaltung der römisch-katholischen Kirche selbst unabdingbar, ein tragfähiges gut arbeitendes Synodalwesen aufzubauen“7. Auf dem deutschen Katholikentag, der vom 04. – 08. September 1968 in Essen stattfand, wurde die Forderung erhoben, nach dem Vorbild des niederländischen Pastoralkonzils ein deutsches Nationalkonzil einzuberufen.8 Andere Gremien, wie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken9, betrieben die Angelegenheit weiter. Sie hatten Erfolg. Die deutschen Bischöfe beriefen die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland ein.10 Dabei blieb es nicht. Die letzten Jahrzehnte waren in Deutschland sowohl von Diözesansynoden11 als auch von synodenähnlichen Vorgängen wie Gesprächsforen o. ä.12 müller (Hrsg.), Synodale Strukturen der Kirche. Entwicklung und Probleme, Donauwörth 1977, S. 158 – 186, hier S. 176. 7 Peter Hünermann, Autorität und Synodalität – eine Grundfrage der Ekklesiologie, in: Christoph Böttigheimer/Johannes Hofmann (Hrsg.), Autorität und Synodalität. Eine interdisziplinäre und interkonfessionelle Umschau nach ökumenischen Chancen und ekklesiologischen Desideraten, Frankfurt a. M. 2008, S. 321 – 348, hier S. 346. 8 Thomas Grossmann, Art. Katholikentage, in: LThK3 5, Sp. 1339 – 1345; Mario von Galli, Der 82. Deutsche Katholikentag, in: HK 22 (1968), S. 440 – 473, hier S. 461 u. 473. 9 Stefan Voges, Konzil, Dialog und Demokratie. Der Weg zur Würzburger Synode (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B: Forschungen 132), Paderborn 2015; Thomas Grossmann, Art. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, in: LThK3 10, Sp. 1431. 10 Das Statut der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gemeinsame Synode. Offizielle Gesamtausgabe, 1. Bd., Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 856 – 861; Albin Nees, Die erste Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971 – 1975), Paderborn 1978; Heribert Hallermann, Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht – Bürge der Freiheit. FS Mühlsteiger (80) (= KST 51), Berlin 2006, S. 621 – 644. 11 Konrad Hartelt, Die Diözesan- und Regionalsynoden im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Vatikanum (= EThSt 40), Leipzig 1979; Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation. Beschlüsse der Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart 1985 – 86, hrsg. v. Bischöflichen Ordinariat Rottenburg-Stuttgart, Ostfildern 1986; Kirche und Gemeinde: Gemeinschaft mit Gott – miteinander – für die Welt, hrsg. v. Bistum Hildesheim, Hildesheim 1990; Diözesansynode Augsburg 1991. Die Seelsorge in der Pfarrgemeinde, hrsg. v. der Diözese Augsburg, Donauwörth 1991; Ronald Klein, Diözesansynode – Forum – Pastoralgespräch. Strukturen der Mitverantwortung in der Kirche im Wandel, in: Rudolf Weigand (Hrsg.), Kirchliches Recht als Freiheitsordnung. GS Hubert Müller (= FzK 27), Würzburg 1997, S. 117 – 141; Johann Hirnsperger, Die Diözesansynode. Bemerkungen zu den einschlägigen Normen des CIC unter besonderer Berücksichtigung der Instruktion vom 19. März 1997, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates ist – der Kirche, was der Kirche ist. FS Listl 70 (= SKRA 33), Berlin 1999, S. 855 – 873; Norbert Witsch, Synodalität auf Ebene der Diözese. Die Bestimmungen des universalkirchlichen Rechts der Lateinischen Kirche (= KStKR 1), Paderborn 2004; Dominik Burkhard, Diözesansynoden und synodenähnliche Foren sowie Kirchenvolksbegehren der letzten Jahrzehnte in den deutschsprachigen Ländern, in: RQ 101 (2006), S. 113 – 140. 12 Sabine Demel/Hanspeter Heinz/Christian Pöpperl, „Löscht den Geist nicht aus.“ Synodale Prozesse in deutschen Diözesen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005; Friedolf Lappen, Vom Recht zu reden und vom Recht gehört zu werden. Synoden und Foren als Mittel der Teilhabe der Gläubigen an den Leitungsfunktionen der Kirche in Deutschland (= BzMK 46), Essen 2007.

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geprägt. Der Ruf nach Synoden trifft sich grundsätzlich mit den Vorgaben der obersten kirchlichen Autorität. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach den Wunsch aus, „daß die ehrwürdigen Einrichtungen der Synoden und Konzilien mit neuer Kraft entstehen“13. Das Ziel dieser Versammlungen ist nach dem Konzil „das Wachstum des Glaubens und die Bewahrung der Disziplin in den verschiedenen Kirchen“. Der CIC/ 1983 legte im Anschluss daran Normen für das Ökumenische Konzil (cc. 337 – 341 CIC/1983), die Bischofssynode (cc. 342 – 348 CIC/1983), die Partikularkonzilien (cc. 439 – 446 CIC/1983) und die Diözesansynode (cc. 460 – 468 CIC/1983) vor. Synoden werden von den Theologen mehrheitlich als nützlich, von manchen sogar als notwendig angesehen. Der Ruf nach Synoden ist heute meist mit bestimmten Erwartungen verknüpft, deren Einlösung man von ihnen erhofft. Es handelt sich dabei gewöhnlich um gesetzgeberische Maßnahmen, die von der kirchlichen Disziplin über die kirchliche Sittenlehre bis zum Gefüge der Dogmen reichen. Die Forderung nach Einberufung von Synoden ist aus der jüngeren Geschichte der Kirche bekannt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erhob sich in Anlehnung an die politische Entwicklung der Ruf nach Demokratisierung und Mitbestimmung in der Kirche. Als Mittel zu seiner Durchführung wurden Synoden, vor allem Diözesansynoden,14 empfohlen. Damals erschienen eine beträchtliche Anzahl von Schriften über die kirchlichen Synoden, namentlich über die Diözesansynode.15 Der Kanonist Georg Phillips arbeitete den wesentlichen Unterschied der Diözesansynode von den Konzilien heraus.16 Von besonderem Gewicht war das wiederholte Eintreten des Freiburger Moralprofessors Johann Baptist Hirscher (1788 – 1865) für die Abhaltung von Diözesansynoden.17 Er dachte sich die Synode nach dem Muster des Landtags, die Synodalen als Deputierte, und wollte Priestern und Laien auf ihr eine entscheidende Stimme geben. Die Synode sollte den Bischof in seiner Verwaltung kontrollieren und „Reformen“ einführen. Sie sollte auch Propositionen machen, die einer höheren Behörde unterbreitet werden und die nach und nach einen Beschluss derselben hervorrufen konnten. Hirschers Zeitgenossen waren nicht allesamt von seinen Ideen begeis13

LG 36, 2. Anton Doeberl, Der Ruf nach Diözesansynoden in den Jahren 1848 und 1849, in: HPBl 171 (1923), S. 129 – 136. 15 Vgl. Maximilian V. Sattler, Die Diözesan-Synoden, Regensburg 1849; Joseph Amberger, Der Klerus auf der Diöcesansynode. Ein kirchliches Gemälde, Regensburg 1849; Moritz Filser, Die Diöcesansynode, Augsburg 1849; Ignaz Heinrich von Wessenberg, Die Bisthumssynode, Stuttgart 1849; Joseph Feßler, Die Provinzialconzilien und die Diöcesansynoden, Innsbruck 1849; Georg Phillips, Die Diöcesansynode, Freiburg 1849; Aloys Schmidt, Die Bisthumssynode. Auf- und Ausbau ihrer Verfassung, ihr Einsturz in der neuern Staatskirche, ihr Neubau in der freien Kirche, 2 Bde., Regensburg 1850/51. 16 Georg Phillips, Diöcesansynode, in: KL2 3, S. 1769 – 1774. 17 Johannes B. Hirscher, Die Bisthumssynode, o. O. 1849; ders., Die kirchlichen Zustände der Gegenwart, o. O. 1849; ders., Antwort an die Gegner meiner Schrift: „Die kirchlichen Zustände der Gegenwart“, o. O. 1850. 14

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tert.18 Teilweise mit äußerster Schärfe wiesen sie diese zurück. Dabei rekurrierten sie auf die damalige Gärung im Volke und im Klerus. Die Schrift eines Anonymus fand das „Grundmotiv“ der „Synodiker“ in der „Emanzipation des Klerus, Beseitigung solcher Verbindlichkeiten und Verhältnisse, welche die Behaglichkeit eines verweltlichten Sinnes unbequem berührten“19. Der Mainzer Kanonist und Dogmatiker Johann Baptist Heinrich sah voraus, man werde auf den Synoden „Dinge fordern, welche die Kirche nicht gewähren kann“, und dennoch „auf seinem Sinn beharren“20. Überlegt und überlegen war die Stellungnahme Sebastian Dreys (1777 – 1853), des Begründers der Tübinger Schule, zu dem Fragenkomplex.21 Er sprach sich sowohl gegen die „Thunlichkeit“ als auch gegen den „ersprieslichen Erfolg“ von Synoden aus. Drey vermisste den „Synodalgeist“. Er sah „faktische Umstände, welche Diözesan-Synoden entweder als unmöglich oder als bedenklich, oder wenigstens als erfolglos erscheinen lassen“. Nach ihm fehlte die Einheit und Einheitlichkeit der Diözesangeistlichkeit unter sich und mit ihrem Bischof, nämlich Einheit und Einigkeit der theologischen Denkweise, der kirchlichen Gesinnung, der amtsbrüderlichen Zuneigung, des gleichen Bestrebens in dem, was als Zweck der Versammlung betrachtet wird. Er sah die Geistlichkeit gespalten und wies auf jenen Teil der Priester hin, die zum Protestantismus neigen. Drey stellte also weder die Möglichkeit noch die Nützlichkeit von Synoden in Frage. Was ihn bewog, zu jener Zeit der Abhaltung von Synoden zu widerraten, war die religiöse und sittliche Verfassung der potentiellen Synodenteilnehmer. Er hielt dafür, dass das Instrument der Diözesansynode nur fruchtbar Verwendung finden könne, wenn jene, die sich seiner bedienen, mit echt christlichem, katholischem und kirchlichem Geist erfüllt sind. Die synodale Bewegung der damaligen Zeit verebbte rasch. Die religiöse Erneuerung und der staunenswerte Aufschwung des kirchlichen Lebens im 19. Jahrhundert wurden ohne Zuhilfenahme von Synoden durch tatkräftige Bischöfe, herausragende Priester und vorbildliche Laien bewirkt. Dass Synoden legitim sind und einen guten Sinn haben können, steht außer Frage. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Verfassung der Kirche. Synoden sind grundsätzlich Versammlungen der Repräsentanten der Teilkirchen, also der Diözesanbischöfe. Diese sind konstitutiv für sie. Synoden sind sodann Stätten, an denen die Teilnehmer geistliche Gewalt ausüben in Gestalt von Beratung und Beschlussfassung. In den Synoden verwirklicht sich die Gemeinschaft der Teilkirchen durch das Zusammentreten der Diözesanbischöfe als Repräsentanten der Ortskirchen. 18

Die Diöcesansynode und ihre Aufgaben in unserer Zeit. Eine Beleuchtung der Schrift J. B. Hirscher’s: „Die kirchlichen Zustände der Gegenwart“, von einem Priester der Erzdiözese Freiburg, Regensburg 1849; Johannes B. Heinrich, Die kirchliche Reform. Eine Beleuchtung der Hirscher’schen Schrift: „Die kirchlichen Zustände der Gegenwart“. Erste und zweite Hälfte, Mainz 1850. 19 Die Diöcesansynode und ihre Aufgaben in unserer Zeit (Anm. 18), S. 5. 20 Heinrich, Die kirchliche Reform II (Anm. 18), S. 88. 21 Sebastian Drey, Was ist in unserer Zeit von Synoden zu erwarten?, in: ThQ 16 (1834), S. 203 – 256.

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Die Bischöfe finden sich dort ein als Nachfolger der Apostel und von Gott bestellte Hirten, nicht als Vertreter ihrer Diözesen. Synodale und hierarchische Verfasstheit der Kirche sind kein Gegensatz, denn die synodale Verfasstheit ist lediglich ein besonderer Ausdruck der hierarchischen Verfasstheit. Synoden sind insofern Ausdruck normalen kirchlichen Lebens. Es besteht die Erwartung, dass die gemeinsame Beratung und Beschlussfassung der kirchlichen Autoritätsträger einmal der Abgeklärtheit und Richtigkeit der Beschlüsse zugute kommen werde, zum anderen, dass ihrer Durchsetzung größere Resonanz verschafft werde, und schließlich, dass die Einheit und Einheitlichkeit von Lehre und Ordnung der Kirche sichtbar gemacht werde. An dieser Stelle sollen einige Erwägungen über Begriffe angestellt werden, die bei Erhörung des Rufes nach Synoden beachtet werden sollten. Ich beschränke mich im Wesentlichen auf die Diözesansynode.

I. Glaubenssinn 1. Die kirchliche Lehre Die kirchlichen Vorgaben für die Abhaltung von Synoden geben unstreitig dem Glauben – als Glaubenshinterlage und Gläubigkeit verstanden – den obersten Rang bei der Zweckbestimmung der Synoden. Manche bringen sie in Verbindung mit dem Glaubenssinn, von dem seit geraumer Zeit in der Theologie viel gesprochen wird. Einige scharfsinnige Denker beschäftigten sich seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit diesem Gegenstand.22 Während die erste Auflage des „Lexikons für Theologie und Kirche“ noch keinen Artikel zu diesem Begriff aufwies, fand sich ein solcher in der zweiten Auflage von kompetenter Hand.23 In der dritten Auflage wird das Thema unter dem Stichwort Sensus fidei abgehandelt.24 Auch eine Reihe von Monographien nahm sich des Gegenstandes an.25 Dazu kommen Beiträge in Zeitschriften.26 22

Joseph Ternus, Vom Gemeinschaftsglauben der Kirche, in: Scholastik 10 (1935), S. 1 – 30; Mannes Dominikus Koster, Theologie, Theologien und Glaubenssinn, in: ThGl 35 (1943), S. 82 – 90; ders., Volk Gottes im Wachstum des Glaubens, Heidelberg 1950; Johannes Beumer, Glaubenssinn der Kirche?, in: TThZ 61 (1952), S. 129 – 142; ders., Glaubenssinn der Kirche als Quelle einer Definition, in: ThGl 45 (1955), S. 250 – 260; Heinrich Bacht, Art. Consensus, in: LThK2 3, Sp. 43 – 46. 23 Max Seckler, Art. Glaubenssinn, in: LThK2 4, Sp. 945 – 948. 24 Peter Hünermann, Art. Sensus fidei, in: LThK3 9, Sp. 465 – 467. 25 Peter Fernekess, Der Glaubenssinn der Gläubigen bei M. J. Scheeben, Landau 1974; Peter Scharr, Consensus fidelium. Zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit (= Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 6), Würzburg 1992; Günter Koch (Hrsg.), Mitsprache im Glauben?, Würzburg 1993; Dietrich Wiederkehr (Hrsg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes – Konkurrent oder Partner des Lehramts? (= QD 151), Freiburg i. Br. 1994 – darin: Wolfgang Beinert, Der Glaubenssinn der Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte, S. 66 – 131; Christoph Ohly, Sensus fidei fidelium. Zur Einordnung des Glaubenssinnes aller Gläubigen in die Communio-

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Im Zusammenhang der hier vorgelegten Überlegungen ist der Glaubenssinn deswegen von Bedeutung, weil er für das Synodalwesen in Anspruch genommen wird. Peter Hünermann sieht in der Teilnahme von Laien an Konzilien (und an der Wahl von Bischöfen) den ekklesiologischen Ausdruck der Lehre vom Glaubenssinn.27 Er ist also wohl der Meinung, dass die in Synoden vorfindlichen Laien dorthin wegen ihres Glaubenssinnes berufen werden und von diesem in den Erörterungen Zeugnis geben. Das kirchliche Lehramt spricht auch vom Glaubensinn, vertritt aber eine andere Sicht. Die Instruktion über die Diözesansynoden vom 19. März 199728 fordert den Diözesanbischof auf, in den Synodalen den sensus fidei anzuregen (IV, 3). Wie sie anschließend erklärt, soll er die Liebe zum lehrmäßigen und geistlichen Erbe der Kirche entfachen, d. h.: Das kirchliche Amt erzieht den Glaubenssinn der Synodalen, setzt ihn aber nicht ohne weiteres voraus. Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich vor allem in seiner Konstitution „Lumen gentium“ in Nr. 12 mit dem Glaubenssinn befasst.29 Danach nimmt das Gottesvolk an dem prophetischen Amt Christi teil. Die Gesamtheit der Gläubigen kann im Glauben nicht irren. Die sog. passive Unfehlbarkeit macht die Gesamtheit der Gläubigen kund durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes. Dieser liegt vor, wenn diese Gesamtheit ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. D. h. positiv, dass, was die Gesamtheit der Gläubigen als Gegenstand des Glaubens festhält, mit Gewissheit zum depositum fidei gehört. Es bedeutet negativ, dass niemals die Gesamtheit der Gläubigen aus dem Glauben herausfallen kann, dass es vielmehr immer wenigstens einen Teil der Gläubigen geben wird, der an der Wahrheit des Glaubens festhält. Die passive Unfehlbarkeit des Gottesvolkes besagt also nicht, dass dieses nicht mehrheitlich in Irrtum fallen kann, sondern lediglich, dass es nicht in Gänze irren kann. Der Glaubenssinn wird vom Heiligen Geist geweckt und genährt, ist also eine Gabe Gottes für das Volk Gottes. Er ist die vom Heiligen Geist gewirkte Fähigkeit, die Wahrheit des Glaubens zu erfassen und zu bekennen. Er zeigt sich vornehmlich im Festhalten des einmal übernommenen Glaubens, aber auch im Eindringen in den Glauben und in der lebensmäßigen Anwendung des Glaubens. Die Gläubigen empfangen das Wort Gottes unter der Führung des kirchlichen Lehramts, durch den GlauStruktur der Kirche im geschichtlichen Spiegel dogmatisch-kanonistischer Erkenntnisse und der Aussagen des II. Vaticanum (= MThSt.K 57), St. Ottilien 1999; zuletzt Thomas Söding (Hrsg.), Der Spürsinn des Gottesvolkes (= QD 281), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2016. 26 Leo Scheffczyk, Sensus fidelium – Zeugnis in Kraft der Gemeinschaft, in: IKaZ 16 (1987), S. 420 – 433; Luigi Sartori, Was ist das Kriterium für den „sensus fidelium“?, in: Conc 17 (1981), S. 658 – 662; Harald Wagner, Glaubenssinn, Glaubenszustimmung und Glaubenskonsens, in: Conc 21 (1985), S. 237 – 242. 27 Hünermann, Art. Sensus fidei (Anm. 24), Sp. 466. 28 C Ep/C GentEv, Instr. „In Constitutione Apostolica“ (19. 03. 1997), in: AAS 98 (1997), S. 706 – 727. 29 Vgl. Scharr, Consensum fidelium (Anm. 25), S. 26 – 30.

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benssinn halten sie am Glauben unverlierbar fest; so können sie aufgefordert werden, ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten kundzutun. Die Wahrheit des Glaubens aber wird aus Schrift und Überlieferung bezogen. Das Verständnis von Schrift und Überlieferung wird durch die Vorlage des kirchlichen Lehramtes verbürgt. Der Glaubenssinn ist eine abgeleitete Erkenntnisquelle des Glaubens. An anderer Stelle von „Lumen gentium“ (LG 35, 1) wird noch einmal eigens von den Laien erklärt, dass Christus sie mit dem Glaubensinn versieht. Die Theologie hat sich systematisch mit dem Glaubenssinn befasst. Ich halte mich hier vorzüglich an die Darstellung Max Secklers. Danach ist der Glaubenssinn ein besonderer Erkenntnismodus. Er „erlaubt eine Art instinktiver Urteile hinsichtlich des Glaubensinhaltes“ (Seckler). Der Glaubenssinn gelangt zur Kenntnis seines Gegenstandes „durch eine […] rationale Erkenntnis unreflexer Art, die sich des Logischen bedient, ohne darin aufzugehen“ (Seckler). Die vom Glaubenssinn gelieferten Erkenntnisinhalte „sind nicht so sehr Resultat begrifflicher Arbeit als einer Erfahrung, die sich infolge vorausgehender Erlebnisse und erworbener Kenntnisse spontan einstellt“ (Seckler). Der Glaubenssinn kommt stets aus der objektiv vorgegebenen und von der Kirche vermittelten Offenbarungswahrheit; er „erwächst aus dem Glauben“ (Seckler). Er kommt allen Gläubigen als Glaubenden zu. Er setzt das Glaubenslicht, „die Teilnahme des Glaubenden an Gott als die erste Wahrheit“, voraus (Hünermann). Der Glaubenssinn des Volkes Gottes ist an unverrückbare Maßstäbe gebunden. Er steht notwendig unter dem Wort Gottes und ist Weitergabe des überkommenen Glaubens. Aus dem Glaubenssinn ergibt sich „die […] einheitliche Glaubensäußerung der Gesamtheit der Glaubenden“, der Glaubenskonsens (consensus fidelium) (Seckler). Als consensus der vielen Einzelnen ist er aber nur dann ein Kriterium der Wahrheit, wenn sein Objekt der Glaube der Kirche ist, worüber die Entscheidung dem Lehramt zusteht. Die Feststellung, ob der Glaubenssinn die Wahrheit findet und bezeugt oder, besser, ob es sich bei einer religiösen Aussage bzw. Erscheinung um den Glaubenssinn handelt, trifft das Lehramt der Kirche. Das glaubende Gottesvolk (ohne seine Hirten) steht dem Lehramt nicht selbstständig und womöglich kritisch gegenüber, sondern bekennt seinen Glauben im Anschluß an das authentische Lehramt. Der Glaubenssinn ist stets abhängig von der lehramtlichen Verkündigung. Er wird durch sie begründet, geleitet und festgehalten. „Die hörende Kirche“ hat „ihre Unfehlbarkeit gerade im Anschluß an das authentische Lehramt“ (Bacht). „Dem Lehramt als dem Organ der Kontrolle in der fortschreitenden reflexen Bewußtwerdung des Glaubensgegenstandes fällt gegenüber dem Glaubenssinn die authentisch-kritische Interpretation zu“ (Seckler).

2. Irrige Ansichten Christoph Ohly beobachtet richtig, dass der Begriff des Glaubenssinnes in der Nachkonzilszeit „nicht wenig mißverstanden und auch mißdeutet worden [ist] –

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ob mit oder ohne Absicht.“30 Die Lage des Glaubens (fides quae creditur) im Volk Gottes (fides qua creditur) ist in der nachkonziliaren Kirche ungünstig. Die statistisch feststellbare Differenz zwischen der Lehrverkündigung der Kirche und dem faktischen Glaubensbewusstsein der Kirchenglieder ist eine notorische Tatsache. Die große Mehrzahl der katholisch getauften Christen bekennt sich weder uneingeschränkt zur Glaubenslehre der Kirche, noch weniger zu ihrer Sittenlehre und am wenigsten zu ihrer Rechtsordnung, der kirchlichen Disziplin. Auch der Klerus ist in beträchtlichen Teilen durch irrige und abwegige Meinungen von Theologen verunsichert. Diese Lage hat unweigerlich Rückwirkungen auf den Glaubenssinn. Der übernatürliche Glaubenssinn, der sich in der allgemeinen Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert, ist nur bei jenen Gliedern des Gottesvolkes vorhanden, die in der Wahrheit stehen. Die „Gesamtheit“ der Gläubigen sind aktuell allein jene Kirchenglieder, die dem Glauben wirklich anhangen; zu ihnen gehören nicht jene, die den Glauben ganz oder teilweise aufgegeben haben. Wer sich vom Glauben der Kirche entfernt, kann den sensus fidelium „nicht realisieren“31. Es ist unmöglich, vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes zu sprechen, wenn die überwältigende Mehrheit dieses Volkes den kirchlichen Glauben nicht mehr teilt. Der sensus fidelium ist kein sensus laicorum. Im sensus fidelium wirken vielmehr Laien und Kleriker, also auch die Hirten der Kirche, mit. Der Glaubenssinn lässt sich nicht in einen solchen der Laien und einen anderen des Klerus aufspalten. Er ist einer in der ganzen Kirche und in dem einzelnen Christen. Erst recht ist es falsch, den Glaubenssinn den Laien zu-, den Hirten abzusprechen. Der sensus fidei wird heute besonders bemüht, um die Normen der Kirche bezüglich der geschlechtlichen Sittlichkeit aus den Angeln zu heben. So gibt Peter Hünermann die weit gediehene Auflehnung gegen die verbindliche kirchliche Lehre über die Empfängnisverhütung „als Glaubenssinn des Volkes Gottes“32 aus. Die Lehre der Enzyklika „Humanae vitae“ werde „von der breiten Menge der katholischen Bevölkerung Deutschlands bzw. Europas und der weit überwiegenden Mehrzahl der Mediziner, Philosophen und der Moraltheologen nicht rezipiert.“ Daraus ergibt sich nach Hünermann: „Wenn eine überaus große Zahl christlich engagierter Eheleute nach sorgfältiger Information und Gewissensprüfung und unter Abwägung der Umstände empfängnisverhütende Mittel gebrauchen, so dürfte dies wohl ein Zeichen des sensus fidelium, des untrüglichen Glaubenssinnes des Volkes Gottes, und nicht einfach ein Symptom einer Anpassung an den Zeitgeist und eines umfassenden Glaubensabfalls sein.“ Hünermann stellt als Ergebnis seiner Ausführungen fest, dass damit „die Begründung für die strikte Gewissensbindung“, wie sie der Papst erklärt hatte, entfällt. Er und seine Gefolgsleute stellen die „faktische Kraft gelebter Glau30

Ohly, Sensus fidei fidelium (Anm. 25), S. 2. Scheffczyk, Sensus fidelium (Anm. 26), S. 432. 32 Peter Hünermann, Droht eine dritte Modernismuskrise? Ein offener Brief von Peter Hünermann an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, in: HK 43 (1989), S. 130 – 135, hier S. 133. 31

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bensüberzeugung“ gegen die Lehre der Kirche.33 Dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden. Was hier als „Glaubensüberzeugung“ ausgegeben wird, ist in Wahrheit das Lebensgefühl einer Zeit, die von Beherrschung und Enthaltung sowie von Opfer und Verzicht nichts wissen will. Es spricht sich darin nicht das Handeln aus überzeugtem Glauben aus, sondern das Übergehen der Normen des Glaubens, weil sie beschwerlich sind. Der oberste Lehrer der Kirche hat dieserhalb deutlich gesprochen. Die Anrufung des Gewissens, um die Lehre der Kirche zu bestreiten, bezeichnete Papst Johannes Paul II. am 12. November 1988 als „Ablehnung der katholischen Auffassung sowohl vom Lehramt als auch vom sittlichen Gewissen“34. Die in der Enzyklika „Humanae vitae“ dargelegte Lehre über die Sündhaftigkeit gründet nach der Lehre des Papstes auf der Natur des Menschen und der Offenbarung. Wer sie in Frage stellt, verweigert Gott den Gehorsam.35 Lebenspraxis und Glaubenspraxis sind zwei verschiedene Dinge. Allein die aus dem Glauben hervorgehende und ihn ausdrückende Praxis kann als Ausdruck des Glaubenssinns gelten. Es ist ein soziologisches Missverständnis, den Sensus fidei als Ausdruck der Meinung einer Mehrheit zu verstehen. Gerhard Ludwig Müller äußerte die Ansicht, in der Kirche scheinen unter Berufung auf Demokratisierung „auch Glaubensfragen zum Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen geworden zu sein“36. Leo Scheffczyk hat mit gewohnter Luzidität die Dinge zurechtgerückt. „Der Glaubenssinn ist nicht identisch mit der öffentlichen Meinung in der Kirche, die heute im Zeitalter der Massenmedien ähnlich verführbar ist wie die in der Gesellschaft. Darum ist der Glaubenssinn auch nicht mit den beherrschenden Trends in der Theologie und im christlichen Denken gleichzusetzen. Er resultiert deshalb ebenfalls nicht aus Mehrheitsbeschlüssen oder demoskopisch ermittelten Zahlenwerten.“37 Wolfgang Beinert ist Scheffczyk zur Seite getreten. Der Glaubenssinn ist nach ihm „nicht schlankweg identisch mit der Meinung von Christen: er kann daher weder schlüssig aus statistischen Erhebungen abgeleitet noch mit der Mehrheitsmeinung […] gleichgesetzt werden“38. Der Glaubenssinn „ist nicht Exekutor der Mehrheit, sofern die Mehrheit als solche nicht Garant der Wahrheit ist“39. Die Richtigkeit dieser Aussage lässt sich durch eine einfache Überlegung erkennen. Die etwa vorgenommene Erforschung der Zahlenverhältnisse bei den wesentlichen Gegenständen der katholischen Lehre 33

Bernhard Fraling, Normfindung in der Kirche, in: Wilhelm Ernst (Hrsg.), Grundlagen und Probleme der heutigen Moraltheologie, Würzburg 1987, S. 152 – 172, hier S. 170. 34 Paul VI., Discorso ai partecipanti al il Congresso internazionale di teologia morale (12. 11. 1988), in: AAS 81 (1989), S. 1206 – 1211, Nr. 4 (dt. in: HK 43 [1989], S. 125 – 127). 35 Paul VI., Discorso (Anm. 34), Nr. 3. 36 Gerhard Ludwig Müller, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Frauen in der Kirche. Eigensein und Mitverantwortung, Würzburg 1999, S. 7 – 20, hier S. 8. 37 Scheffczyk, Sensus fidelium (Anm. 26), S. 423. 38 Beinert, Der Glaubenssinn des Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte (Anm. 25), S. 118. 39 Beinert, Der Glaubenssinn des Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte (Anm. 25), S. 120.

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würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu ernüchternden Ergebnissen führen. Ich vermute, dass beispielsweise eine Abstimmung der katholischen Christen über die (genuine) katholische Christologie und die (definierte) katholische Eucharistielehre den Dissens der Mehrzahl offenbar machen würde. Wolfgang Beinert stimmt dieser Überlegung zu, indem er erklärt, dass heute „selbst in zentralen Glaubensbereichen der Konsens geschwunden zu sein scheint“40. Neuerdings ist die konstante Lehre über die Erkenntnisquellen des Glaubens noch auf andere Weise in Frage gestellt worden. Nach Johannes Gründel ist „die Lebenserfahrung der Gläubigen […] eine eigene Quelle kirchlichen Lehrens“41. Hier wird dem faktischen Verhalten lehramtliche Qualität zugesprochen. Damit wird die christliche Lehre geradezu umgestülpt. Der Versuch, die sog. Lebenswirklichkeit auf eine Stufe mit Schrift und Tradition zu stellen, ist eine Verirrung. Die Befindlichkeit des Menschen, auch des „modernen“ Menschen ist nie und nimmer eine theologische Erkenntnisquelle. Damit wird der Begriff des Glaubenssinnes korrumpiert. Das alltägliche Verhalten von jedermann hat sich nach der Lehre zu richten, ist aber nicht selbst ihr Bestandteil. Aus diesen Überlegungen ergibt sich für die Erörterungen in den Synoden folgender Schluss. Die Synoden könnten und sollten ein institutionelles Instrument zur Herstellung, Festigung und Läuterung des Glaubenskonsenses sein. Die Hirten der Kirche geben auf ihnen das authentische Lehren nicht auf und übertragen es nicht auf die nichtbischöflichen Synodalen. Sie intensivieren vielmehr ihr Lehramt vor einem ausgewählten Kreis von Laien und Klerikern. Die Ansichten der Synodalen unbesehen als Ausdruck des Glaubenssinnes anzusehen, ist voreilig. Sie müssen geprüft werden am Glauben der Kirche. Es ist stets zu untersuchen, welche Ansichten als gültiger Ausdruck des Glaubenssinnes zu gelten haben. Diese Prüfung obliegt auf der Diözesansynode dem Diözesanbischof, erforderlichenfalls und ersatzweise einer höheren Instanz, etwa der Kongregation für die Glaubenslehre.

II. Repräsentation 1. Begriffliches Im Zusammenhang mit den Synoden ist häufig von Repräsentation42 die Rede. Dieser Begriff bedarf der Erklärung und der Einfügung in den Rahmen der kirchli40 Beinert, Der Glaubenssinn des Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte (Anm. 25), S. 121. 41 Johannes Gründel, Zurück zum Gehorsam? Fundamentalistische Versuchungen in der Kirche, in: Peter Neuner/Harald Wagner (Hrsg.), In Verantwortung für den Glauben. Beiträge zur Fundamentaltheologie und Ökumenik. Für Heinrich Fries, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1992, S. 187 – 199, hier S. 195. 42 Karl Rahner, Art. Repräsentation, in: LThK2 6, Sp. 1244 f.; Dieter Grimm, Art. Repräsentation, in: StL7 4, Sp. 878 – 882; Karl-Heinz Menke, Art. Repräsentation, in: LThK3 8,

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chen Verfassung. Repräsentieren heißt, etwas präsent, d. h. gegenwärtig und wirksam zu machen, was an sich nicht präsent ist. Das Wesen der Repräsentation besteht in der Repräsentation des Repräsentierten durch den Repräsentanten. Das Prinzip der Repräsentativität wird oft missverstanden. Einmal ist zur Repräsentation nicht erfordert, dass eine Gruppe von Menschen mit bestimmten, übereinstimmenden Merkmalen von einer Person dargestellt, „repräsentiert“ wird, die im Besitz dieser Merkmale ist. Das Repräsentativorgan muss nicht die Sozialstruktur der von ihm Repräsentierten widerspiegeln. Seine Rolle als Vergegenwärtigung eines nicht unmittelbar Gegebenen erwächst aus seiner Wesensbestimmtheit. Diese ist ihm mitgeteilt von einer höheren Macht. Sodann sind Repräsentation und Vertretung durchaus verschieden. Vertretung (Stellvertretung) ist das rechtsgeschäftliche Handeln einer Person an Stelle einer anderen (des Vertretenen). Die Stellvertretung ist eine Figur des bürgerlichen Rechts. Der Vertreter muss innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht handeln. Die Wirkungen der Handlungen des Vertreters treffen unmittelbar den Vertretenen. Der Repräsentant handelt als Inbegriff der anderen, der Vertreter handelt an Stelle der anderen. Im Repräsentanten sind die Repräsentierten in gewissen Sinne enthalten; er schließt sie gleichsam in sich. Repräsentation ist auch etwas wesentlich anderes als Interessenvertretung. Die Repräsentation geht stets auf das Ganze, die Interessenvertretung nur auf Teile. In der Demokratie besteht die Vorstellung, das Volk, der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt, lasse die Herrschaft durch gewählte Abgeordnete in seinem Namen ausüben. Dadurch sollen die unterschiedlichen Interessen zum Ausgleich gebracht werden. In der Kirche ist das Handeln im Namen Gottes und für die Kirche vom Prinzip der Interessenfreiheit der handelnden Personen geprägt. 2. Repräsentation in der Kirche In der Kirche existiert eine doppelte Repräsentation, die Repräsentation Christi und die Repräsentation der Gläubigen. Beide Formen werden von den geweihten Hirten wahrgenommen. Die Hirten der Kirche repräsentieren einmal Christus als das Haupt der Kirche (c. 212 § 1 CIC/1983). Von ihm leiten sich ihre Befähigungen und ihre Vollmachten ab. Die Hirten der Kirche repräsentieren sodann die Gemeinschaft der Gläubigen, der sie rechtlich zugeordnet sind. Der Bischof ist „Person gewordene Einheit der Gläubigen“43. Die Repräsentation geschieht durch Führung und Heiligung, kraft der Hirtengewalt und Weihegewalt. Der Sinn der Repräsentation ist es, das gläubige Volk zur Einheit der Kirche, sei es der Ortskirche, sei es der Gesamtkirche, zu integrieren und diese Einheit zu manifestieren. Der Bischof macht die als Sp. 1113 – 1115; Georg May, Demokratisierung der Kirche. Möglichkeiten und Grenzen, Wien 1971, S. 81 – 113. 43 Johann Adam Möhler, Die Einheit der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus. Dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte, hrsg. v. Josef Rupert Geiselmann, Darmstadt 1957, S. 311.

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eine geistige Einheit verstandenen Gläubigen seines Sprengels empirisch fassbar. Die Einzelbischöfe stellen je ihre Kirche dar (repraesentant).44 In einem eingeschränkten Sinne sind auch die Priester Repräsentanten ihrer Gemeinde. Wenn in LG 10, 2 gesagt wird, der Priester vollziehe das eucharistische Opfer in der Person Christi und bringe es Gott im Namen des ganzen Volkes Gottes dar, dann ist damit die doppelte Repräsentation angesprochen. Die eigentliche, auf göttlichem Recht beruhende Repräsentation jeder kirchlichen Gemeinschaft kommt immer nur dem jeweiligen geistlichen Haupt zu. Ein etwaiger Umstand von Ratsmitgliedern ist für dieses Recht unbeachtlich. Das Volk Gottes kann niemals anders als durch sein jeweiliges geistliches Haupt repräsentiert werden. Neben der Repräsentation göttlichen Rechts besteht die Repräsentation menschlichen Rechts. Eine öffentliche juristische Person repräsentieren (und in ihrem Namen handeln) jene, denen diese Berechtigung durch das Recht zuerkannt wird (c. 118 CIC/1983). Der Priesterrat repräsentiert das Presbyterium der Diözese (c. 495 § 1 CIC/1983).45 Nun wird in der Gegenwart die Repräsentation auch für die Synoden und für die (nachkonziliaren) Räte in Anspruch genommen. Heribert Schmitz sieht die Teilhabe der Glieder der Kirche an deren Aufgaben verwirklicht „in nach Repräsentativität gebildeten Gremien“. Kommunikation und Konsultation werden „in repräsentativ zusammengesetzten und mit Sachverstand angereicherten Beratungsorganen“ geleistet.46 Nach ihm ist bei der Zusammensetzung der Diözesansynode „auf Repräsentativität abgestellt“, wofür er auf II, 3, 4 der Instruktion über die Diözesansynoden verweist.47 Hier wird die Repräsentation missverstanden. Die Mitglieder der Gremien und die Synodalen werden nicht als Repräsentanten verschiedener beruflicher oder gesellschaftlicher Gruppen in die Räte und in die Versammlungen berufen, sondern schlicht als Zugehörige zu bestimmten Schichten oder Kreisen der Gesellschaft. Sie sollen ihre Kenntnisse und Erfahrungen einbringen, aber nicht, wie es die Repräsentation fordert, ihren Stand, ihre Schicht oder ihre Klasse gegenwärtig machen. Nach dem „Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe“ vom 22. Februar 200448 soll die Zusammensetzung der Synodenmitglieder die Verschiedenheit der Berufungen, der apostolischen Aufgaben sowie die soziale und geographische Herkunft widerspiegeln. Die Synodalen sollen so ausgewählt werden, dass die Berücksichtigung aller Verhältnisse und Umstände bei der Erörterung der Vorlagen gewährleistet wird. Aber auch bei dieser Begründung der Auswahl ist Vorsicht geboten. Man muss nicht einer bestimmten Gruppe zugehören oder aus einer bestimmten Schicht stammen, um schon dadurch qualifiziert zu sein, für diese oder jene zu sprechen. So 44

LG 23, 1. Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs (Anm. 2), S. 637. 46 Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs (Anm. 2), S. 622. 47 Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs (Anm. 2), S. 625. 48 C Ep, DirH, Nr. 169. 45

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ist beispielsweise die Meinung, Jugendliche wüssten am besten, was ihnen vonnöten ist, anfechtbar. Die zur Diözesansynode berufenen Personen sind kein Organ der Repräsentation nach außen. Eine Repräsentation einer Ortskirche ohne den Bischof kann es nicht geben. Die Tatsache, dass der Bischof in der Diözesansynode einen Umstand hat, nimmt ihm nichts von seiner Repräsentativität. Die zur Synode versammelten Personen sind aber auch kein Organ der Repräsentation nach innen. Sie machen nicht die Priesterschaft oder die Laienschaft des Bistums gegenwärtig, so dass sie für die einen oder die anderen vollmächtig sprechen könnten. Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe erklärt, dass sich die Synode niemals dem Bischof entgegenstellen kann „unter Inanspruchnahme einer behaupteten Repräsentativität des Volkes Gottes“49. Das wird auch von Heribert Schmitz bestätigt. „Gleichwohl ist die Diözesansynode keine die Diözese oder die Diözesanangehörigen repräsentierende Versammlung im Gegensatz zum Diözesanbischof (InstrDiözSyn I, 1)“50. Leo Karrer findet in dem „Synodalen Prinzip“ eine „doppelte Repräsentation“, nämlich „die Verantwortung für das jeweilige Ganze“ und „die Vertretung der jeweiligen Basis“51. Dieser Meinung kann nicht zugestimmt werden. „Die Verantwortung für das jeweilige Ganze“ wird allein vom Diözesanbischof getragen, dem die Mitglieder der Synode beratend zur Seite stehen. „Die Vertretung der jeweiligen Basis“ ist in der Repräsentation des Diözesanbischofs eingeschlossen. Wenn man davon sprechen will, dass die Räte eine Repräsentation darstellen, dann ist dreierlei zu bemerken. Erstens ist dies eine Repräsentation kraft menschlichen Rechts, deren Vorbild das parlamentarische System ist. Zweitens verdanken die Räte ihre Repräsentationsfunktion der Hierarchie, die sie ins Leben gerufen hat. Sie sind keine demokratische Repräsentation des Volkes Gottes kraft ursprünglichen und eigenen Rechts wie das Parlament in der parlamentarischen Demokratie, weil deren Voraussetzung, die Lehre von der Volkssouveränität, in der Kirche nicht vorliegt. Drittens ist diese Repräsentation eine unvollkommene und inadäquate. Sie ist nicht die Repräsentation des Volkes Gottes, das aus Klerikern und Laien besteht, sondern der Laien allein.

III. Verantwortung 1. Begriffliches Der Beschluss Nr. 12 der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland trägt die Überschrift „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für

49

C Ep, DirH, Nr. 171. Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs (Anm. 2), S. 625. 51 Leo Karrer, Art. Synodales Prinzip, in: LThK3 9, Sp. 1184. 50

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die Sendung der Kirche“52. Damit wird ein gewichtiger Begriff in das Synodalwesen eingeführt. Verantwortung besagt, dass eine Person für etwas gegenüber einer Instanz verantwortlich ist. Verantwortung übernehmen heißt für etwas einstehen, besagt, dass eine Person sich selbst bindet, bestimmten Aufgaben nachzugehen und für ihre Erledigung Rechenschaft abzulegen. Wer Verantwortung übernimmt, kann haftbar oder schuldig werden; er muss bereit sein, Rechenschaft über sein Verhalten abzulegen, und zwar in doppelter Hinsicht: bezüglich der Vergangenheit für Normverletzungen oder Schadensverursachung, bezüglich der Zukunft für vorhersehbare mögliche Folgen. Der Verantwortungsträger ist an Gesetze gebunden, die ihn lehren, was zu tun geboten bzw. gestattet oder was verboten und zu unterlassen ist. Diese Gesetze geben der Verantwortungsinstanz den Maßstab in die Hand, das Gebaren der Verantwortungsträger zu beurteilen. Unkenntnis des Gegenstandes, der Umstände und der Folgen kann nur dann von der Verantwortlichkeit befreien, wenn sie unverschuldet ist. Verantwortung kann von mehreren Personen gemeinsam getragen werden. Man spricht von Mitverantwortung. Mitverantwortung schließt das gesamte Verhalten, Tun und Lassen der Mitglieder einer Gemeinschaft ein. Jeder Einzelne trägt seinen Teil zum Wohl oder Wehe der Gesamtheit bei. Mitverantwortung besagt nicht notwendig Mitsprache. Vielmehr wird sie, wenn sie so verstanden wird, ungebührlich eingeengt. Daher trifft nicht zu, wenn die Gemeinsame Synode erklärt: „Mitverantwortung beinhaltet grundsätzlich die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und das Mittragen der Konsequenzen einer Entscheidung.“53 In der Ausführung der Mitverantwortung wird dann das System der Räte und Verbände dargestellt. Dies ist eine Engführung. Auch der schlichte Gehorsam begründet Mitverantwortung. „Verantwortung an der gemeinsamen Sache heißt nicht gemeinsame oder gar gleiche Verantwortung. Die verschiedene Verantwortung in der gemeinsamen Sache des Gottesvolkes erwächst aus der je verschieden grundgelegten Aufgabe.“54 2. Inhalt der Verantwortung Die Verantwortung für die Sendung der Kirche wird durch die Gliedschaft in der Kirche begründet. Die Gliedschaft wird erworben durch den Empfang der Wassertaufe und das Bekenntnis des Glaubens. Wenn Menschen Glieder der Kirche werden, übernehmen sie bestimmte Verpflichtungen und Aufgaben, durch die ihre Verantwortung begründet und begrenzt wird. Die Verantwortung kennt eine Stufenfolge der Gewichtigkeit und der Dringlichkeit hinsichtlich der Gegenstände, für die sie übernommen wird. Alle Gläubigen tragen Verantwortung für die Erhaltung des Glau52

Beschluß „Räte und Verbände“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 651 – 677. 53 Beschluß „Räte und Verbände“ (Anm. 52), S. 656. 54 Aymans, Mitsprache in der Kirche (Anm. 1), S. 274.

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bens, für die Wahrung der Sittlichkeit und für die Erhaltung der Disziplin in der Kirche. Die Verantwortung (oder Mitverantwortung) des Volkes Gottes für die Sendung der Kirche hat ihre entscheidende Äußerung im beispielhaften Leben aus dem Glauben. An erster Stelle muss daher die Selbstheiligung, der Erwerb der Gottes- und Nächstenliebe und der Tugenden stehen, um damit den Himmel zu erfreuen, die Kirche zu ehren und die Menschen zur Nachahmung anzueifern. Diese Mitverantwortung umfasst das Leben in der Welt und in der Kirche. Die Sendung der Kirche in der Welt erfüllen die Laien vor allem (ante omnia) durch die Einheit von Leben und Glauben.55 Die Pastoralkonstitution weist in GS 43 den Laien die weltlichen Aufgaben und Tätigkeiten als ihr eigentliches Feld der Bewährung zu. Sie sollen das Gebot Gottes in das Leben der irdischen Gesellschaft einschreiben. „Sache der Laien ist es, kraft ihrer eigentümlichen Berufung in der Verwaltung und gottgewollten Ordnung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen.“ Das ist ihre „eigentliche Aufgabe (proprium munus)“.56 Das Apostolat der Laien in der Gesellschaft ist so sehr Aufgabe und Pflicht der Laien, dass es niemand anders leisten kann.57 Der CIC/1983 schreibt diese Verantwortung auf seine Weise fest. Die Laien sollen vor der Welt Zeugnis geben und gleichzeitig die Welt im Geist des Evangeliums gestalten (c. 225 § 2 CIC/1983). Die Verantwortung der Laien greift vom Einsatz in der Welt über in das Leben in der Kirche. Die eigene Verantwortung der Christgläubigen (also auch der Geweihten) wird in c. 212 § 1 CIC/1983 angemahnt. Sie besteht darin, in christlichem Gehorsam das zu verfolgen, was die Hirten der Kirche als Lehrer des Glaubens erklären und als Leiter der Kirche festsetzen. Christliche Verantwortung fordert Gehorsam gegen Lehre und Ordnung der Kirche (c. 212 § 2 CIC/1983). Dies ist Ausübung der den Christgläubigen „eigenen (oder eigentlichen) Verantwortung“. Das Leben mit der Kirche erfordert unter anderem gewissenhafte Erfüllung der kirchlichen Pflichten wie Besuch des Gottesdienstes (c. 1247 CIC/1983), Empfang der Sakramente der Buße (c. 989 CIC/1983) und der Eucharistie (c. 920 CIC/1983). Das Leben aus dem Glauben zeigt sich namentlich in der Kinderfreudigkeit und dem Kinderreichtum der Ehepaare sowie in der christlichen Erziehung der Kinder. Das Dekret über das Apostolat der Laien weist nachdrücklich auf die Pflichten der Christen in Ehe und Familie hin.58 Die Konstitution „Gaudium et spes“ hat nicht umsonst die Nrn. 47 – 52 der Ehe und Familie gewidmet. Die im Ehestand lebenden Gläubigen sollen durch ihr vorbildliches Ehe- und Familienleben am Aufbau des Gottesvolkes mitwirken (c. 226 CIC/1983). Das ist ihre Verantwortung.

55

AA 13, 2. LG 31; AA 7; vgl. AA 7, 5. 57 AA 13. 58 Vgl. AA 11 – 12. 56

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3. Teilhabe am königlichen Priestertum Christi Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sind die Laien zu ihrem Teil (pro sua parte) und auf ihre Weise (suo modo) des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaftig.59 Die Teilhabe am (hier einschlägigen) königlichen Priestertum Christi wird durch die Taufe begründet.60 Die Laien wirken kraft ihres königlichen Priestertums mit beim eucharistischen Opfer und üben es aus durch Empfang der Sakramente, Gebet und Danksagung sowie durch das Zeugnis eines heiligen Lebens, Selbstverleugnung und werktätige Liebe.61 Die königliche Freiheit, die Christus den Gläubigen vermittelt, zeigt sich im Sieg über das Reich der Sünde durch Selbstverleugnung und ein heiliges Leben sowie durch Nächstenliebe und Gewinnung der Brüder für Christus.62 Aufgrund ihrer Teilhabe am dreifachen Amt Christi nehmen die Laien teil an der Sendung des ganzen Volkes Gottes in der Kirche und in der Welt. Sie üben ihr Apostolat aus durch ihre Tätigkeit bei der Evangelisierung und Heiligung der Menschen sowie durch die Durchdringung der Ordnung der zeitlichen Dinge mit dem Geist des Evangeliums.63 Diese geistliche Tätigkeit der Laien im innerkirchlichen Bereich ist in gewissem Sinne die Voraussetzung für die überzeugende Erfüllung ihrer Weltaufgabe. Sie nehmen teil am liturgischen Leben der Kirche, bemühen sich um die abständigen Christen, engagieren sich in der Weitergabe des Wortes Gottes, vor allem durch katechetische Unterweisung und bringen ihre Sachkenntnis in die Seelsorge und die Verwaltung des Kirchenvermögens ein.64 Die Laien sollen das Missionswerk der Kirche zu ihrem eigenen Anliegen machen und ihm materielle und personelle Hilfe leisten.65 Das Konzil spricht von „Pflicht und Recht“ der Gläubigen, „aktiv am Aufbau des mystischen Leibes Christi mitzuwirken“66. In Deutschland wird dem Weltdienst der Laien und ihrer Beteiligung am geistlichen Leben der Kirche wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hier steht vielmehr im Fokus des Interesses der Anspruch auf Mitwirkung bei innerkirchlichen Entscheidungen.67 In gewissem Umfang und auf ihre Weise können Laien auch an dem Dienst der Leitung beteiligt werden. Dies geschieht dadurch, dass sie sich die Anliegen und Bestrebungen der kirchlichen Hirten zu eigen machen, indem sie mitbeobachten, mitdenken und mitraten. Die Laien sollen ihre Anliegen und Wünsche in vertrauensvoller Freiheit den geweihten Hirten unterbreiten und auch entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und der Stellung sich darüber er59

LG 31 LG 26. 61 LG 10. 62 LG 36. 63 AA 2. 64 AA 10. 65 AA 10. 66 CD 16. 67 Myriam Wijlens/Benedikt Kranemann (Hrsg.), Gesendet in den Weinberg des Herrn. Laien in der katholischen Kirche heute und morgen, Würzburg 2010. 60

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klären, was nach ihrer Ansicht dem Wohl der Kirche dient.68 Die Teilhabe der Gläubigen an dem Dienst des Leitens bedingt keine Teilhabe an der „heiligen Gewalt“ der Hirten.69 Was den Dienst der Leitung angeht, ist die Mitwirkung der Laien auf die Beratung beschränkt. Aymans warnt richtig davor, kirchliche Teilgemeinschaften auf Beschlüsse bestimmter Gremien statt auf die geistliche Vollmacht ihres Hirten zu verpflichten.70 Eine besondere Dimension der Mitwirkung am Dienst des Leitens ist die Teilnahme von Laien an Synoden. Ihre Berufung zur Diözesansynode bringt angeblich „die allen Gläubigen zukommende Verantwortung für den Aufbau des Leibes Christi“ zum Ausdruck.71 Mit dem Eintritt in die Versammlung der Synodalen verpflichten sie sich, den damit verbundenen Aufgaben nach bestem Vermögen nachzukommen, übernehmen sie Verantwortung. Um ihr gerecht werden zu können, müssen sie die Fähigkeit haben, Vorgänge und Zusammenhänge zu begreifen, Aktionen und Unternehmungen zu planen, durchzuführen und zu bewerten. Verantwortung muss die Folgen von Entscheidungen stets im Auge behalten. Der Grad theologischer Bildung ist dabei gewiss nicht unbeachtlich. Aber die Absolvierung eines theologischen Studiums verbürgt nicht ohne weiteres gründliche Kenntnisse der theologischen Wissenschaft und ebensowenig theologisches Urteilsvermögen. Die Ausbildungsstätten der Theologie sind von unterschiedlichem Wert. Vor allem ist zu fragen, ob an einer theologischen Hochschule einwandfrei im Sinne der Kirche gelehrt wird. Es liegen Äußerungen von Kennern der Lage vor, die dieserhalb zu Zweifeln Anlass geben. Außerdem ist für die synodale Tätigkeit vor allem die Gläubigkeit und das Glaubenszeugnis gefordert, weniger die Kenntnis der Theologie. „Die Frage der Mitsprache und der Mitverantwortung ist […] nur sekundär und nicht konstitutiv eine Frage der theologischen Bildung. […] Bei den Räten geht es wohl eher um die Einbringung der Alltagserfahrung des Gläubigen als um theologische Bildung.“72 Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland gab dem Trend nach, der mit der beratenden Tätigkeit der nichtbischöflichen Mitglieder nicht zufrieden war. Sie stattete alle Synodalen, also auch die Priester und Laien, mit beschließendem Stimmrecht aus. Bei der Zählung der Stimmen galt mithin die Stimme eines Laien oder eines Priesters ebenso viel wie die Stimme eines Bischofs. Dadurch entstand der Anschein, Priester- und Laiensynodalen seien in gleicher Weise Gesetzgeber wie die bischöflichen Mitglieder der Synode. Doch dies war ein Missverständnis. Rechtlich bestand zwischen den Stimmen der Priester und Laien auf der einen und der Bischöfe auf der anderen Seite ein wesentlicher Unterschied. Soweit die Beschlüsse der Gemeinsamen Synode von nichtbischöflichen Mitgliedern getra68

LG 37. Aymans, Mitsprache in der Kirche (Anm. 1), S. 269. 70 Aymans, Mitsprache in der Kirche (Anm. 1), S. 269. 71 InstrDiözSyn I, 1 Abs. 2. 72 Aymans, Mitsprache in der Kirche (Anm. 1), S. 274. 69

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gen wurden, entfalten sie keinerlei Bindungswirkung. Eine noch so große Mehrheit an Stimmen der nichtbischöflichen Synodalen vermag eine Verpflichtung für das gläubige Volk nicht hervorzubringen. Tatsächlich waren die von der Synode beschlossenen rechtsverbindlichen Anordnungen Gesetze der auf der Synode anwesenden Bischöfe. 4. Rechenschaft Verantwortung fordert Rechenschaft für das Handeln und Unterlassen ihrer Träger. Es stellt sich die Frage, vor welcher Instanz die Mitglieder der Synoden Rechenschaft ablegen können oder müssen. Jeder Mensch hat sich vor Gott für sein gesamtes Tun und Lassen zu verantworten. Diese Verantwortung kann niemandem abgenommen, aber auch von niemandem kontrolliert werden. Sie kann möglicherweise kraft des Gewissens des einzelnen Synodalen vor das Bußgericht getragen werden. Aber auch dort bleibt sie im inneren Bereich und ist im äußeren Bereich nicht sanktionsfähig. Dass auch eine irdische Instanz existiert, vor der die Teilnehmer einer Synode Rechenschaft über ihr Tun und Unterlassen Rechenschaft ablegen müssen, ist nicht zu erkennen. Sie besitzen „Immunität“, d. h. sie können nicht wegen einer Abstimmung oder einer Äußerung in der Synode gerichtlich oder dienstlich belangt werden. Damit sind sie besser gestellt als der Diözesanbischof, der sich vor dem Apostolischen Stuhl verantworten muss (cc. 399 u. 467 CIC/1983).

IV. Gegenstände 1. Amtliche Vorgaben Die Synoden werden in bestimmter Absicht und zu bestimmten Zwecken einberufen. Das Dekret „Christus Dominus“ weist in Nr. 36, 2 den Synoden und Konzilien die Sorge für das Wachstum des Glaubens und die Erhaltung der Disziplin zu. Die beiden Ziele der stärkeren Aneignung bzw. Durchdringung der Glaubenswirklichkeit und der Bewahrung bzw. Durchsetzung der kirchlichen Ordnung gehen eindeutig auf die Stabilisierung gesunder Verhältnisse in der Kirche. Die Bischofssynode73 ist eingerichtet worden, um dem Papst Beistand zu leisten (c. 336 CIC/1983). Sie ist also ganz den Arbeiten und Zielen der höchsten kirchlichen Autorität verpflichtet. Der Papst bestimmt die Gegenstände ihrer beratenden Tätigkeit. Ausführlicher spricht sich der CIC über Sinn und Zweck von Synoden aus. Dem Partikularkonzil wird 73

Paul VI., MP „Apostolica Sollicitudo“ (15. 09. 1965), in: AAS 57 (1965), S. 775 – 780; Paul VI., Ordo Synodi Episcoporum celebrandae (15. 09. 1965), in: AAS 59 (1967), S. 91 – 103; Benedikt XVI., Ordo Synodi Episcoporum (29. 09. 2006), in: AAS 98 (2006), S. 755 – 779; vgl. Markus Graulich, Die Bischofssynode, in: HdbKathKR3, S. 478 – 485; Georg May, Die andere Hierarchie (= Quaestiones non disputatae II), Siegburg 1998, S. 23 f.

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als zu beraten und zu beschließen zugewiesen, was zu dem Wachstum des Glaubens, der Ordnung des gemeinsamen seelsorglichen Handelns, der Lenkung der Sitten und der Bewahrung, der Einführung und dem Schutz der allgemeinen kirchlichen Disziplin brauchbar scheint (c. 445 CIC/1983). Da die Partikularkonzilien mit Leitungsgewalt (potestas regiminis) ausgestattet sind, können sie die genannten Aufgaben sowohl durch Gesetzgebung als auch durch Verwaltung und Rechtsprechung erfüllen. Von der Diözesansynode wird allgemein gesagt, sie soll dem Diözesanbischof zum Nutzen der gesamten diözesanen Gemeinschaft Hilfe (durch Beratung) leisten (c. 460 CIC/1983). Also auch sie ist grundsätzlich der Initiative und der Direktive des Bistumsleiters unterstellt. Der CIC/1917 führte als Zwecke noch die Abstellung von Missbräuchen und die Beilegung von Streitigkeiten an (c. 290 CIC/1917). Es ist daher schwer zu begreifen, weshalb der CIC/1983 sie nicht aufgenommen hat. Die Instruktion über die Diözesansynode nennt als Zweck der Beratungen, „das gemeinsame Anhangen an die Heilslehre zu fördern und alle Gläubigen zur Nachfolge Christi anzuregen“74. Hier wird also die Umsetzung des Glaubens in das religiössittliche Verhalten der Gläubigen als Ziel vorgegeben. Nach dem Direktorium für die Bischöfe soll die Diözesansynode die Gesetze und die Normen der Gesamtkirche auf die besondere Situation der Diözese anwenden und anpassen.75 Diözesansynoden scheinen danach geeignet und sind gehalten, für die Umsetzung höherrangigen Rechts besorgt zu sein. Der Diözesansynode ist aber auch die Aufgabe gestellt, etwa bestehende Verirrungen bezüglich des Glaubens und der Sitten zu korrigieren. Peter Hünermann hat als Gegenstände der Diözesansynoden richtig die Beseitigung von Missständen, Bekräftigung der Kirchenzucht und -ordnung, Regelung von Streitfällen, Klärung von Glaubensfragen, Stärkung des Glaubenslebens, Überwindung von Nachlässigkeiten und Reform des Klerus benannt.76 Das Statut der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland stellte in Art. 1 fest: „Die […] Synode […] hat die Aufgabe, in ihrem Bereich die Verwirklichung der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils zu fördern und zur Gestaltung des christlichen Lebens gemäß dem Glauben der Kirche beizutragen.“ Dem Apostolischen Stuhl war die Stimmung unter den Kreisen, die als Synodenteilnehmer bevorzugt in Frage kommen, bekannt, und er hat dafür Vorsorge getroffen, dass nicht fremde oder abwegige Vorschläge gemacht werden. Die Instruktion über die Diözesansynoden verpflichtet den Bischof, aus der Diskussion der Synode „Thesen oder Positionen“ auszuschließen, „die von der fortwährenden Lehre der Kirche oder dem Päpstlichen Lehramt abweichen bzw. disziplinäre Fragen betreffen, die der höchsten oder einer anderen kirchlichen Autorität vorbehalten sind und die unter Umständen mit dem Anspruch eingebracht wurden, dem Hl. Stuhl entsprechende ,Voten‘ zu übersenden“ (IV, 4 Abs. 3). Die Instruktion über die Diözesansynoden 74

InstrDiözSyn I, 3 Abs. 2. C Ep, DirH, Nrn. 168 u. 229 f. 76 Hünermann, Autorität und Synodalität (Anm. 7), S. 321 – 348, hier S. 344. 75

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fasst auch den Fall ins Auge, dass ein Dekret der Synode höherem Recht widerspricht (V, 4 Abs. 2). Sie rechnet schließlich mit der Möglichkeit, dass sich die Synodalen hartnäckig der kirchlichen Lehre widersetzen (IV, 7 Abs. 1). Auch das Statut der Gemeinsamen Synode hielt es nicht für ausgeschlossen, dass auf der Versammlung Gegenstände zur Sprache kommen, die gegen die kirchliche Lehre verstoßen. Es sah daher in Art. 13 Ziff. 3 den Fall vor, dass die Deutsche Bischofskonferenz einer Vorlage aus Gründen der verbindlichen Glaubens – und Sittenlehre der Kirche nicht zustimmen kann. Dann ist zu dieser Vorlage eine Beschlussfassung der Vollversammlung der Synode nicht möglich. Man sollte erwarten, dass die Synoden ihre Tätigkeit entsprechend den autoritativen Vorgaben eingerichtet hätten. Es hätte also der Glaube der Kirche lichtvoll dargestellt und erklärt werden sollen etwa anhand des Glaubensbekenntnisses Pauls VI. und des Katholischen Katechismus. Es wären namentlich die angefochtenen, vergessenen oder vernachlässigten Gegenstände des Glaubens zu verteidigen, in Erinnerung zu rufen und ins Leben zu überführen gewesen. Man denke an die Transsubstantiation, das Bußsakrament und den Reinigungszustand. Den vom höchsten kirchlichen Lehramt wiederholt bekräftigten Vorbehalt des Weihesakraments für den Mann ohne Wenn und Aber vorzutragen, wäre angezeigt gewesen. Sodann hätten die Synoden, wenn sie ihrer Zielsetzung hätten gerecht werden wollen, die kirchliche Sittenlehre in ihrer Richtigkeit, Erhabenheit und Schönheit aufleuchten lassen sollen. Sie hätten Verirrungen wie die Autonome Moral und die Moral der Güterabwägung argumentativ zurückweisen müssen. Das heute so befehdete Gebiet der geschlechtlichen Sittlichkeit hätte an Hand der großen Enzykliken „Casti connubii“ und „Humanae vitae“ lichtvoll und überzeugend dargestellt werden sollen. Die Jungfräulichkeit und die Keuschheit hätten hohe Aufmerksamkeit verdient. Die kirchliche Lehre über die Empfängnisverhütung wäre aus Vernunft und Offenbarung begründet vorzulegen gewesen. Die Synoden hätten sich weiter entsprechend den Weisungen und Richtlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Streben der Priester und Laien nach Vollkommenheit und Heiligkeit beschäftigen sollen. Die Konstitution „Lumen gentium“ hat das ganze fünfte Kapitel der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit in der Kirche gewidmet. Danach sind alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen. Sie sollen, dem Willen des himmlischen Vaters folgsam, sich ganz der Ehre Gottes und dem Dienst des Nächsten hingeben. Die Eheleute und Eltern werden aufgefordert, sich in treuer Liebe zu ertragen und die Kinder mit den christlichen Lehren und den Tugenden des Evangeliums zu erfüllen. Die Synoden hätten daran erinnern sollen, dass nach GS 48 Ehe und eheliche Liebe wesentlich auf die Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet sind, und sie hätten zu ihrem Teil der Kinderscheu wehren sollen. Die Ordnung der Kirche, vor allem soweit sie im CIC/1983 enthalten ist, hätte von den Diözesansynoden in ausgewählten Stücken bejaht und bekräftigt werden müssen. Beispielsweise hätte das Gesetz der priesterlichen Enthaltsamkeit mit neuer Leuchtkraft dargestellt werden sollen. Die Synodalen wären gut beraten gewesen, wenn sie auf genaue Beobachtung

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der liturgischen Gesetze gedrungen, die würdige und unverfälschte Feier der Messe gefordert und die Anbetung des in den Tabernakeln anwesenden Gottes urgiert hätten. Der unermessliche Segen, der von der Darbringung des Messopfers in der außerordentlichen Form ausgeht, hätte in den Synoden wirksam ausgeführt werden sollen. Wenn all das geschehen wäre, hätten die Synoden wahrlich ihre Zweckbestimmung erfüllt.

2. Tatsächliches Verhalten Doch die Wirklichkeit der synodalen und parasynodalen Vorgänge in der Nachkonzilszeit sieht anders aus. Was zunächst die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland angeht, seien einige Feststellungen aus kompetentem Munde erwähnt. Karl Forster bedauert, dass es der Gemeinsamen Synode nicht gelungen ist, „die Not des Glaubens“ aufzugreifen und „ein Bekenntnis des Glaubens in dieser Zeit“ auszusprechen.77 Das in den Beschlüssen der Gemeinsamen Synode sich ausdrückende Postulat „einer neuen Bewußtheit der personalen Glaubensentscheidung“78 hängt aber in der Luft, wenn der Glaube nicht überall in seiner präzisen Fassung gelehrt wird. Um die Bekräftigung der geltenden kirchlichen Ordnung in der Gemeinsamen Synode war es schlecht bestellt. Die kirchlichen Normen über die Sonntagsheiligung, die Teilnahme am Abendmahl der protestantischen Religionsverbände und die Pastoral der Mischehen wurden nach Forster von zahlreichen Synodalen als „Behinderungen des personalen Glaubensvollzugs oder der persönlichen Glaubensentscheidung“79 empfunden. Es zeigte sich, dass nicht wenige Mitglieder der Versammlung gegen das Recht und die Lehre der Kirche aufbegehrten. Forster drückt diesen Sachverhalt vorsichtig dahin aus, viele Mitglieder der Gemeinsamen Synode hätten sich bemüht, „die Möglichkeiten ihrer von der Linie der Bischöfe oder des Heiligen Stuhls abweichenden Meinung bis zum äußersten auszuschöpfen“80. Ihr Glaubenssinn war mithin unterentwickelt. Die tiefgehende Uneinigkeit unter den Synodalen ist auch in die Entscheidungen eingegangen. Forster macht hinter den Beschlüssen der Gemeinsamen Synode „Formelkompromisse“ ausfindig81. Sie sind die Wurzel von Meinungsverschiedenheiten und Streit. Zu den Aufforderungen der Gemeinsamen Synode an die Gemeinden bemerkt Forster, sie bedeuteten „für die meisten von ihnen eine funktionale Überforderung“82. D. h.: Sie sind nicht praktikabel. Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland hat sich leider auch in mancher Hinsicht über die Lehre und Ordnung der Kirche hinweggesetzt. Die Behauptung, das Urteil über die Methode der Empfängnisregelung ge77

Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 86 f. Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 85. 79 Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 86. 80 Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 79. 81 Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 80. 82 Forster, Synodale Mitverantwortung in der Bewährung (Anm. 6), S. 84. 78

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höre „in die Entscheidung der Ehegatten“83, widerspricht der kirchlichen Lehre. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärt, es sei den Kindern der Kirche „nicht erlaubt, in der Geburtenregelung Wege zu beschreiten, die das Lehramt in Auslegung des göttlichen Gesetzes verwirft“84. Dabei verweist das Konzil auf die lehramtlichen Äußerungen der drei Päpste Pius XI., Pius XII. und Paul VI. und kündigt eine Entscheidung des letzeren an. Diese erging in der Enzyklika „Humanae vitae“ vom 25. Juli 196885. Danach gibt es nicht verschiedene Methoden der Empfängnisvermeidung, die den Ehegatten zur Wahl stehen, vielmehr ist die einzige sittlich zulässige Möglichkeit, eine Empfängnis auszuschließen, den ehelichen Verkehr auf die empfängnisfreien Zeiten zu beschränken.86 Die Gemeinsame Synode hat sodann versagt in der Verhältnisbestimmung zwischen objektiver Norm und personaler Gewissensentscheidung. Häufig war die vorgebrachte Forderung, Personen, die sich gegen die sittlichen Normen des Geschlechtslebens öffentlich verfehlen, in ihrer „Gewissensentscheidung“ zu respektieren. Es blieb ungeklärt, welche Kriterien ein Willensentschluß erfüllen muß, um als „Gewissensentscheidung“ gelten zu können. Wenn „Gewissensentscheidungen“ gegen die verbindlichen Normen der Sittlichkeit zu „respektieren“ sind, erhebt sich die Frage, in welchem Verhältnis die amtliche kirchliche Verkündigung zu diesen Entscheidungen steht. Weicht sie zurück, ist sie unbeachtlich, hört sie auf? Es ist doch gerade die (unverzichtbare) Aufgabe des Amtes, die Gewissen zu bilden. Dazu gehört einmal die eindeutige Verkündigung der sittlichen Normen. Sie dürfen weder abgeschwächt noch ausgehöhlt werden. Sodann sind die Hirten der Kirche gehalten, irrige Gewissen von ihrem Irrtum zu befreien. Noch immer ist es in der Kirche die Wahrheit, die frei macht. Vor diesem Anspruch hat die Gemeinsame Synode versagt. Auch die Ausführungen der Gemeinsamen Synode zur vorehelichen Sexualität entsprechen nicht der kirchlichen Lehre. Nicht nur die „Aufnahme voller sexueller Beziehungen vor der Ehe“ ist unzulässig, wie die Synode behauptet87, sondern jede Art geschlechtlicher Betätigung; diese ist im ganzen Umfang der gültigen Ehe vorbehalten. Das Lehramt der Kirche verkündigt die Pflicht zu völliger geschlechtlicher Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe.88 Der Katechismus der Katholischen Kirche for83

Beschluß: „Ehe und Familie“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung, Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 423 – 459, hier S. 435 (Kap. 2.2 die Bedeutung der Sexualität in Ehe und Familie). 84 GS 51. 85 Paul VI., Enz. „Humanae vitae“, in: AAS 60 (1968), S. 481 – 503. 86 Paul VI., Enz. „Humanae vitae“ (Anm. 85), Nr. 16. 87 Beschluß: „Ehe und Familie“ (Anm. 83), S. 441 (Kap. 3.1.3 Zur vorehelichen Sexualität). 88 C DocFid, Decl. „Persona humana“ (29. 12. 1975), in: AAS 67 (1975) (dt.: VApSt 1), S. 78 – 86.

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dert die Brautleute auf, die Keuschheit in „Enthaltsamkeit“ zu leben.89 Enthaltsamkeit verlangt aber Unterlassung jeder irgendwie gearteten sexuellen Betätigung. Die Gemeinsame Synode behauptet weiter, nach Dispens von der katholischen Eheschließungsform sei es „Sache der Brautleute“, zu entscheiden, ob sie die Ehe durch die Bekundung des Ehewillens vor dem Standesamt oder in religiöser Form begründen wollen.90 Hier ist übersehen, dass diese doppelte Möglichkeit bei der Ehe mit einem protestantischen Partner nicht besteht. Denn in den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik werden Ehen nicht geschlossen, sondern lediglich eingesegnet91. Der deutsche Protestant, der sich nicht katholisch trauen lässt, schließt seine Ehe allein und ausschließlich auf dem Standesamt. Die Gemeinsame Synode fasst schließlich den Fall ins Auge, dass einem katholischen Christen die Teilnahme am Abendmahl in einer evangelischen Kirche „innerlich notwendig“ erscheine, und zwar „seinem persönlichen Gewissensspruch folgend“92. Die Synode lässt nicht erkennen, dass dieser Gewissensspruch irrig ist und im Gegensatz zur Lehre und Ordnung der Kirche steht. C. 844 CIC/1983 stellt als Grundsatz auf, dass katholische Christen Sakramente erlaubterweise nur von katholischen Spendern empfangen. Ihr Empfang von einem nichtkatholischen Spender ist an enge Klauseln gebunden, vor allem die, dass es ein Spender sein muss, in dessen „Kirche“ die in Frage kommenden Sakramente gültig existieren. Dies ist im deutschen Protestantismus nicht der Fall. Infolgedessen ist der Empfang des Abendmahls aus der Hand eines protestantischen Geistlichen unzulässig. Auch die beiden Voten der Gemeinsamen Synode über den Diakonat der Frau93 und die kirchliche Trauung Geschiedener94 verstießen gegen die geltende Rechtsordnung. Erst recht hielten sich die Beratungen und Beschlüsse der nachkonziliaren Foren und Synoden ziemlich häufig nicht an die rechtlichen Vorgaben.95 So wurden unter anderem folgende Forderungen vorgebracht: wiederverheiratete Geschiedene zum 89

2350 KKK. Beschluß „Ökumene“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 1976, S. 774 – 807, hier S. 796 (Kap. 7.6 Formpflicht). 91 Georg May, Unzutreffende Ausführungen über die protestantische Trauung in den Urteilen zweier Instanzen deutscher Offizialate, in: DPM 3 (1996), S. 267 – 281. 92 Beschluß „Gottesdienst“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 1976, S. 195 – 227, hier S. 216 (Kap. 5.5 Teilnahme von Katholiken am Abendmahl). 93 Beschluß „Dienste und Ämter“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 597 – 637, hier S. 616 f. u. 634 (Kap. 4.2 Der Diakonat der Frau u. Kap. 7 Voten, Anordnungen, Empfehlungen). 94 Beschluß „Ehe und Familie“ (Anm. 83), S. 450 – 453 (Kap. 3.5.1 Situation). 95 Lappen, Vom Recht zu reden (Anm. 12), S. 120 – 130; Demel/Heinz/Pöpperl, Löscht den Geist nicht aus (Anm. 12), S. 144 – 202. 90

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Georg May

Empfang der Kommunion zuzulassen, nichtsakramentale Ehen mit einer liturgischen Segnung zu beschenken, konfessionsverschiedenen Ehepaaren den gemeinsamen Empfang der Eucharistie bzw. des Abendmahls zu ermöglichen, gemeinsame Eucharistie- bzw. Abendmahlsgottesdienste allgemein für Katholiken und andere Getaufte zu veranstalten bzw. freizugeben, den Pfarrgemeinderat an der Gemeindeleitung zu beteiligen, und zwar nicht nur durch Beratung, sondern durch Mitbestimmung und Entscheidung, das Weihesakrament zu „öffnen“ für weibliche Personen zumindest für den Diakonat, möglicherweise für den Presbyterat, Priestertum und Zölibat zu entkoppeln und Verheiratete zur Priesterweihe zuzulassen. Es ist offensichtlich, dass mehrere dieser Wünsche dem sicheren Glauben der Kirche widersprechen. Gelegentlich wird eingeräumt, dass der Träger des Lehramtes und die nichtbischöflichen Synodalen in Fragen der Lehre nicht übereinstimmten. In der Diözesansynode Hildesheim (1989) beispielsweise zeigten sich in bezug auf Ehe und Familie Merkmale eines „eklatanten Dissenses zwischen Bischof und Synode“96. Diese Erscheinung war auch bei anderen Synoden und synodenähnlichen Versammlungen zu beobachten. Doch zogen es die meisten Bischöfe vor, zu schweigen und den Bruch zu übergehen.

V. Schluss Das Synodalwesen ist ein wesentliches Element der Kirchenverfassung. Darin verbinden sich Kollegialität, Beratung und Leitung. Im synodalen Prinzip können sich die hierarchische Gewalt der Kirche und die Mitwirkung von Priestern und Laien vereinen. Dabei darf der fundamentale Unterschied von Beratung und Entscheidung nicht verdunkelt werden. Wenn Synoden fruchtbar sein sollen, müssen sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Zuoberst ist – mit Sebastian Drey – die Gestimmtheit und Disposition im Klerus und bei den Laien im Auge zu behalten. Der CIC/1983 stellt nicht umsonst bei der Frage der Ansetzung eines Konzils auf Notwendigkeit und Nutzen bzw. auf die Umstände ab (cc. 439 § 1 u. 461 § 1 CIC/ 1983). Dazu kommen eine Reihe von Einzelforderungen. Die Teilnehmer an der Synode müssen vom Glaubenssinn erfüllt sein. Der formulierte Glaube muss ihnen der selbstverständliche Ausgangspunkt aller Erörterungen und Beschlüsse sein. Die Synodalen müssen wissen, dass sie in ihrer Versammlung nicht Interessen zu vertreten haben, sondern dass ihnen die Mitarbeit am Wohlergehen des Leibes Christi aufgetragen ist. Der Aufbau von Gegenpositionen der nichtbischöflichen Synodenteilnehmer gegen den Bischof als Hüter von Lehre und Ordnung ist ausgeschlossen. Die Verantwortung aller Kirchenglieder für die Sendung der Kirche ist unbestreitbar. Doch darf die Rangordnung der Felder, auf denen diese Verantwortung auszuüben ist, nicht verkehrt werden. Den Laien ist an erster Stelle die Gestaltung der zeitlichen Dinge aus dem Glauben aufgetragen. Im kirchlichen Bereich ist ihre oberste Aufgabe die Lebensführung gemäß dem Willen Gottes. Die Mitgliedschaft in Gremien und Ver96

Klein, Diözesansynode (Anm. 11), S. 128 A.52.

Der Ruf nach mehr Synodalität

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sammlungen ist demgegenüber sekundär. Falls sie dazu herangezogen werden, obliegt es ihnen, jene Einrichtungen und Unternehmungen zu fördern, die von den kirchlichen Autoritäten als notwendig oder nützlich vorgegeben werden. Die geschichtlichen Erfahrungen zeigen die Ambivalenz des Synodalwesens. Synoden haben in den ersten Jahrhunderten der christlichen Geschichte die Erkenntnis und Feststellung des Glaubens in entscheidender Weise betrieben. Sie haben aber auch zu anhaltenden Streitigkeiten und bis heute bestehenden Abspaltungen geführt. Im 18. Jahrhundert waren Diözesansynoden ein Instrument des Episkopalismus gegen die Aufsicht und Kontrolle des Heiligen Stuhls.97 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneuerte der sog. Reformkatholizismus die Forderung der Einberufung von Diözesansynoden und deren regelmäßigen Zusammentretens. Seine Protagonisten sahen darin den Beginn der Demokratisierung der Kirche.98 In unserer Zeit wirkte das Niederländische Pastoralkonzil zu Noordwijkerhout99 als Initiator oder Katalysator einer Kette von Synoden und synodenähnlichen Veranstaltungen. Von dieser Versammlung wurde festgestellt, sie habe „jedenfalls in Hinblick auf die Gesamtkirche eher als desintegrierender Faktor gewirkt“100. Die Zahl und die Häufigkeit der Synoden haben schon immer von Gebiet zu Gebiet und von Zeit zu Zeit variiert. Gebieten und Zeiten beträchtlicher synodaler Tätigkeit stehen solche geringer oder mangelnder Tätigkeit gegenüber. Für die Gegenwart darf nicht übersehen werden, dass die Rechtsentwicklung in der Kirche die Dringlichkeit und Notwendigkeit des Zusammentritts von Synoden einigermaßen relativiert. Der CIC/1983 legt daher für den Zusammentritt eines Plenarkonzils keine Mindestfrist fest; dieser ist der Entscheidung der Bischofskonferenz und der Zustimmung des Apostolischen Stuhls überlassen (c. 439 § 1 CIC/1983). Auch die Ansetzung eines Provinzialkonzils hängt vom Willen der Provinzialbischöfe ab (c. 440 § 1 CIC/1983). Schließlich wird auch die Abhaltung einer Diözesansynode vom Urteil des Diözesanbischofs abhängig gemacht (c. 461 § 1 CIC/1983). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der oberste Gesetzgeber der Kirche die Notwendigkeit der Einberufung von Partikularkonzilien nicht allzu hoch ansetzt. Dafür gibt es gute Gründe. Es liegen heute genügend rechtliche Instrumente vor, die den Sinn und Zweck der Synoden zu erfüllen vermögen. Heribert Schmitz räumt ein: „Aufgaben, die nach früherem Recht von der Diözesansynode erfüllt werden sollten, können heute in zeitgemäßer Weise von den neugeschaffenen Räten (Priesterrat und Pasto97 Georg May, Die Auseinandersetzung zwischen den Mainzer Bischöfen und dem Heiligen Stuhl um die Dispensbefugnis im 18. Jahrhundert (= AIC 40), Frankfurt a. M. 2007, S. 116 – 119. 98 August Hagen, Der Reformkatholizismus in der Diözese Rottenburg (1902 – 1920), Stuttgart 1962, S. 212. 99 Peter Nissen, Art. Niederlande, in: LThK3 7, Sp. 819 – 825. 100 Aymans, Die nachkonziliare Synodalbesorgung in Mitteleuropa (Anm. 1), S. 284; vgl. Joseph Lortz, Holland in Not, Luxemburg 1970.

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ralrat) wahrgenommen werden“101. Winfried Aymans schreibt ähnlich: „Die ständig zunehmende Gesetzgebungskompetenz der Bischofskonferenz sowie die institutionelle Festigung dieser hierarchischen Instanz haben die Grundlagen zur Bildung echter Teilkirchenverbände gelegt, die in ihrer Bedeutung für das Rechtsleben der Kirche das Provinzial- und Plenarkonzil sowie die jeweils zugeordneten Teilkirchenverbände aller Voraussicht nach weit hinter sich lassen werden“.102 Joseph Listl bescheinigte den Plenar- und Provinzialkonzilien „Schwerfälligkeit und Umständlichkeit“ bei Einberufung und Durchführung und meinte, deren „ursprüngliche Funktion“ werde heute „in angemessener Weise durch die Bischofskonferenzen erfüllt“103. Dass die Bischofskonferenzen neben die Synoden rücken oder sie in gewissem Sinne ablösen, ist daraus zu ersehen, dass ihnen vom Zweiten Vatikanischen Konzil das Recht der Gesetzgebung in zunächst geringem Umfang übertragen wurde.104 Die Bischofskonferenz ist ein Ausdruck der kollegialen Natur des Bischofsamtes. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit ist sie zu rechtsverbindlicher Beschlussfassung ermächtigt und somit eine hierarchische Zwischeninstanz zwischen dem einzelnen Diözesanbischof und dem Apostolischen Stuhl. Im Unterschied zu den Synoden ist die Bischofskonferenz jedoch nicht wie diese grundsätzlich allzuständig, sondern lediglich für kollegiale Erledigung bestimmter pastoraler Aufgaben der Bischöfe bestimmt (c. 447 CIC/1983). Das Motu proprio „Apostolos suos“ von Johannes Paul II. vom 21. Mai 1998105 galt der theologischen und rechtlichen Natur der Bischofskonferenzen. Danach ergibt sich die Verbindlichkeit der Beschlüsse der Bischofskonferenz aus der Tatsache, dass der Apostolische Stuhl sie eingesetzt und ihr „auf Grund der heiligen Gewalt der einzelnen Bischöfe bestimmte Zuständigkeiten übertragen hat“106. Das Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe sprach zwar den Wunsch aus, die Synoden wieder aufleben zu lassen (Nr. 36), gab aber zu verstehen, dass für die heutige Zeit die Einrichtung der Bischofskonferenzen angemessener sei (Nrn. 37 – 38).

101

Schmitz, Die Konsultationsorgane (Anm. 2), S. 625. Aymans, Mitsprache in der Kirche (Anm. 1), S. 271; ders., Wesensverständnis und Zuständigkeiten der Bischofskonferenzen im CIC von 1983, in: AfkKR 152 (1983), S. 46 – 61. 103 Joseph Listl, Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbKathKR2, S. 396 – 415, hier S. 396 f. 104 SC 22, 2 u. 38; LG 29, 2. 105 Johannes Paul II., MP „Apostolos suos“ (21. 05. 1998), in: AAS 90 (1998), S. 641 – 650. 106 Johannes Paul II., MP „Apostolos suos“ (Anm. 105), Nr. 3. 102

Das kanonische Territorium in der kirchlichen Rechtspraxis Ein Vergleich der Regelungen des CIC/1917 und des CIC/1983 Von Martin Rehak

I. Einführung 1. Von der Mission de France zur personal umschriebenen Teilkirche Als der französische Episkopat im Jahre 1941 unter Führung Emmanuel Suhards, des damaligen Kardinalerzbischofs von Paris, das Projekt einer Neuevangelisierung der ersten Tochter der römischen Kirche in Angriff nahm und hierzu in Lisieux ein überdiözesanes Priesterseminar gründete, hatte man eine klare Vorstellung von den Problemen und dem angestrebten Lösungsansatz:1 Als Probleme waren insbesondere eine Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft, ein Mangel an Priestern in ländlichen Gebieten und eine im Vergleich der Bistümer untereinander ungleiche Verteilung der Priester erkannt. Dem wollte man – ungeachtet der Hindernisse, welche das Inkardinations- und Weihetitelrecht des CIC/1917 hiergegen aufstellte – durch eine Gemeinschaft von Priestern begegnen, die in Seelsorgeteams (équipes) flexibel in wechselnden Diözesen eingesetzt werden sollten. Dabei wurde auch gesehen, dass dieser Ansatz nur dann erfolgversprechend war, wenn der Obere jener Priester den Diözesanbischöfen auf Augenhöhe, d. h. wie einer der ihren, begegnen konnte. Die Mission de France war also als ein bistumsähnlicher Inkardinationsverband für Weltpriester mit einem Bischof als Oberhirten zu konzipieren. Während das heute geltende Kirchenrecht gemäß dem Kodex des kanonischen Rechts aus dem Jahre 1983 hierfür das Rechtsinstitut der Personalprälatur bereitstellt (vgl. cc. 294 – 297 CIC/1983), war dem pio-benediktinischen Kodex aus dem Jahr 1917 der Gedanke einer personalen Zirkumskription jenseits der Ebene der Pfarrei 1

Zur Geschichte der Mission de France vgl. Michael Benz, Die Personalprälatur. Entstehung und Entwicklung einer neuen Rechtsfigur vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zum Codex von 1983 (= DiKa 1), St. Ottilien 1988, S. 61 – 72; Ronald Klein, Die Personalprälatur im Verfassungsgefüge der Kirche (= FzK 21), Würzburg 1995, S. 23 – 46; zahlreiche Quellenstücke bei Daniel Perrot (Hrsg.), Les fondations de la Mission de France, Paris 1987.

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fremd. Die Lösung, wie die Stellung des Oberen der Mission de France hierarchisch gestärkt und seine Arbeit mit dem Wirken der übrigen Bischöfe Frankreichs gut koordiniert werden konnte, erforderte daher einen kreativen (um nicht zu sagen: missbräuchlichen) Umgang mit dem rechtlichen Instrumentarium, welches der CIC/1917 bereitstellte. Gemäß der Apostolischen Konstitution „Omnium Ecclesiarum sollicitudo“ Papst Pius’ XII. vom 15. August 19542 wurde aus dem Territorium des Erzbistums Sens die Pfarrei Pontigny herausgelöst und der Jurisdiktion des Prälaten der Mission de France unterstellt, so dass diese fortan als gleichwertig („instar“) zu einer exemten Prälatur (praelatura nullius dioeceseos) im Sinne von c. 319 § 1 CIC/1917 angesehen werden konnte.3 Der Prälat war (und ist auch heute) ein von der französischen Bischofskonferenz aus ihren Reihen gewählter (Diözesan-)Bischof. Rund zehn Jahre später war es dann offensichtlich die Mission de France, welche den Vätern des Zweiten Vatikanischen Konzils bei ihren Erwägungen über Zweck und Nutzen von internationalen Seminaren, besonderen Bistümern oder Personalprälaturen und anderen derartigen Institutionen (vgl. dazu PO 10) vor Augen stand, nämlich um eine angemessene Verteilung der Priester und die Bewältigung besonderer pastoraler Aufgaben zu gewährleisten.4 Das mit der Wendung peculiares dioeceses vel praelaturae personales aufgeworfene Problem, Kategorien des Verfassungs- und des Vereinsrechts miteinander zu verwechseln oder zu verschmelzen, wurde alsbald erkannt und erörtert.5 Es ist jeder Teilkirche eigentümlich, dass sie die Diversität des Volkes Gottes – (anfänglich) Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen (vgl. Gal 3,28), aber auch Laien und Kleriker, Heilige und Sünder usw. usf. – abbildet und so selbst wesensmäßig auf Inklusion bedachte communio fidelium 2 Pius XII., ApK „Omnium Ecclesiarum sollicitudo“ (15. 08. 1954), in: AAS 46 (1954), S. 567 – 574. 3 Pius XII., ApK „Omnium Ecclesiarum sollicitudo“ (Anm. 2), Nr. I: „[…] ita ut posthac Missio Galliae considerari queat ac valeat instar Praelaturae Nullius dioeceseos“; dazu ferner Klein, Personalprälatur (Anm. 1), S. 7 – 22, 366 f. u. 499 – 503. Für eine eingehende Analyse der cc. 319 – 328 CIC/1917 vgl. Erwin von Kienitz, Die Rechtsstellung der gefreiten Äbte und Prälaten, in: ThGl 23 (1933), S. 590 – 604; einen geschichtlichen Abriss zu den einzelnen Abteien und Prälaturen bietet Philipp Hofmeister, Gefreite Abteien und Prälaturen, in: ZRG.K 50 (1964), S. 127 – 248, dort speziell zu Pontigny S. 191. 4 Vgl. Klein, Personalprälatur (wie Anm. 1), S. 53 – 91. 5 Vgl. Paul VI., MP „Ecclesiae Sanctae“ (06. 08. 1966), in: AAS 58 (1966), S. 757 f. nebst Normae ad exsequenda Ss. Concilii Vaticani II ,Christus Dominus‘ et ,Presbyterorum ordinis‘, in: AAS 58 (1966), S. 768 – 775, hier S. 760 f., Nr. 4; dazu Winfried Aymans, Der strukturelle Aufbau des Gottesvolkes, in: AfkKR 148 (1979), S. 21 – 47, hier S. 43 f.; ders., Kirchliches Verfassungsrecht und Vereinigungsrecht in der Kirche. Anmerkungen zu den revidierten Gesetzentwürfen des kanonischen Rechts unter besonderer Berücksichtigung des Konzeptes der personalen Teilkirche, in: ÖAKR 32 (1981), S. 79 – 100, der auf S. 97 f. herausstellt, dass in den besagten Normae von „Spezialdiözesen“ keine Rede mehr ist. Eine klare Absage an den vermeintlich teilkirchlichen Charakter der Personalprälatur bei Gianfranco Ghirlanda, De differentia Praelaturam personalem inter et Ordinariatum militarem seu castrensem, in: PerRMCL 76 (1987), S. 219 – 251.

Das kanonische Territorium in der kirchlichen Rechtspraxis

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bzw. – in der Diktion des Apostolikums – sanctorum communio ist,6 während umgekehrt der Vereinszweck jeder kirchlichen Vereinigung der Homogenität ihrer Mitglieder Vorschub leistet. Zu Recht ist daher jede Teilkirche als portio populi Dei und nicht nur als pars populi Dei charakterisiert. Zu Recht ist daher die rechtliche Qualifikation der Personalprälatur im Zuge der Endredaktion des CIC/1983 revidiert worden; dadurch ist geklärt, dass Personalprälaturen keine Teilkirchen und diesen auch nicht rechtlich gleichgestellt sind.7 Zu Recht ist daher die systematische Einordnung der Personalprälatur im Gliederungskonzept des CIC/1983 problematisch.8 Man ist vor diesem Hintergrund tief beeindruckt und eigentümlich berührt von der nicht enden wollenden Flut wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die das Wesen einer Personalprälatur darin erkennen, dass bestimmte Gläubige (coetus fidelium) der Hirtensorge eines hierarchischen Oberen, nämlich des Prälaten, anvertraut

6 Demgemäß legt c. 383 § 1 CIC/1983 (im Anschluss an CD 16 u. 18) dem Diözesanbischof eindringlich ans Herz, sich um alle Gläubigen in seinem Bistum gleichermaßen zu kümmern und nicht bestimmte Gruppen zu bevorzugen. 7 Vgl. PCLT, Congregatio Plenaria diebus 20 – 29 octobris 1981 habita, Città del Vaticano 1991, S. 376 – 392 u. 399 – 405. Aus dem Protokoll geht hervor, dass sich die Struktur und weithin auch der Wortlaut der cc. 294 – 297 CIC/1983 einem Verbesserungsvorschlag des damaligen Kardinalerzbischofs von München, Joseph Ratzinger, verdanken, der zuvor mit deutlichen Worten gegen die teilkirchliche Qualität einer Personalprälatur Einspruch erhoben hatte. Die Zugehörigkeit zu einer Teilkirche resultiere stets aus objektiven Kriterien, wie dem Wohnsitz, der Zugehörigkeit zum Militär oder der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ritus. Die Personalprälatur hingegen sei eine Vereinigung. Eine Formation, in die man durch schlichten Willensakt ein- und austreten kann, sei – so Ratzingers dezent polemische Zuspitzung – keine ecclesia particuliaris, sondern eine ecclesia specialis, eine ecclesia electorum. Die im Schema vorgesehene Definition der Personalprälatur als eine „portio populi Dei, Praelati curae commissa“ fand keine Mehrheit. Konsequenterweise hat Ratzinger später auch die Idee abgelehnt, die Anhänger des tridentinischen Ritus (jetzt: außerordentliche Form des Römischen Ritus) in Teilkirchen zusammenzufassen; vgl. Joseph Ratzinger, Bilanz und Perspektiven, in: ders., Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz (= JRGS 11), Freiburg i. Br./ Basel/Wien 2008, S. 657 – 682, hier S. 670 f.: „Wenn die Ekklesialität eine Frage der freien Wahl wird, wenn es in der Kirche rituelle Kirchen gibt, die nach einem Kriterium der Subjektivität gewählt werden, so schafft das ein Problem. Die Kirche ist errichtet auf den Bischöfen gemäß der apostolischen Sukzession, in der Gestalt von Ortskirchen, also gemäß einem objektiven Kriterium. Ich bin in dieser Ortskirche und ich suche nicht meine Freunde, ich finde meine Brüder und Schwestern; […] Diese Situation der Nicht-Beliebigkeit der Kirche, in der ich mich finde, die nicht eine Kirche meiner Wahl ist, sondern die Kirche, die sich mir darstellt, ist ein sehr wichtiges Prinzip. […] Jetzt die Möglichkeit eröffnen, seine Kirche zu wählen ,à la carte‘, das könnte wirklich die Struktur der Kirche verletzen.“ 8 Sicher deplatziert ist die Einordnung im ersten Teil des zweiten Buchs des CIC/1983. In den bisherigen Auflagen des HdbKathKR wird die Personalprälatur im Anschluss an die Gesellschaften des Apostolischen Lebens besprochen, wofür sich gute Sachgründe finden lassen. Diese Einordnung lehnen jene ab, die eine Entität, die vom Apostolischen Stuhl errichtet wird, schon deshalb gleichsam per definitionem als notwendigen Teil der hierarchisch verfassten Gesamtkirche ansehen.

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sind – obwohl man in cc. 294 – 297 CIC/1983 Stichworte wie cura animarum, pastor und pascendum committere vergeblich sucht.9 Zu alledem ist allerdings auch festzustellen, dass Papst Paul VI. in Nr. 8 seiner Leitlinien zur Kodexreform eine Öffnung der Kirchenverfassung hin zu personalen Jurisdiktionseinheiten gestattet hat.10 Teilgemeinschaften des Gottesvolkes sollen demnach zwar in aller Regel territorial voneinander abgegrenzt werden. Zugleich soll es – sofern das territoriale Kriterium ergänzend hinzutritt – jedoch auch möglich sein, Teilkirchen anhand personaler Kriterien zu bilden. Das geltende Recht referiert diesen Grundsatz in c. 372 CIC/1983. In jüngerer Zeit haben daraufhin die neuen Rechtsinstitute der Personaladministratur und des Personalordinariats Eingang in die Verfassungswirklichkeit der Kirche gefunden.11

9 Vgl. statt anderer Pedro Rodriguez, Teilkirchen und Personalprälaturen (= KST 38), Amsterdam 1987; Antonio Viana, Die Personalprälatur im Verfassungsgefüge der Kirche. Bemerkungen zu einer Studie von Ronald Klein, in: FKT 14 (1998), S. 293 – 302; ders., Ordinariatos y prelaturas personales. Aspectos de un dialogo doctrinal, in: IusCan 52 (2011), S. 481 – 520; Javier Echevarría Rodríguez, L’esercizio della potestà di governo nelle prelature personali, in: FolCan 8 (2005), S. 237 – 251; Rudolf Schunck, Profil einer hierarchischen Rechtsfigur in der Kirche. Aspekte der Personalprälatur Opus Dei, in: Anna Egler/Wilhelm Rees (Hrsg.), Dienst an Glaube und Recht. FS May (80) (= KST 52), Berlin 2006, S. 597 – 610; Philipp Ernst Gudenus, Die Personalprälatur als kirchliche Zirkumskription personaler Natur, in: AfkKR 176 (2007), S. 62 – 76; Robert Weber, Das Volk als Strukturelement der kirchlichen Zirkumskription, in: AfkKR 181 (2012), S. 129 – 151. Auf einem anderen Blatt hat dabei zu stehen, dass die „Personalprälatur“ Sanctae Crucis et Operis Dei, indem sie als ihr besonderes Charisma eine säkulare und hierarchische Natur für sich reklamiert, zwar die Bezeichnung „Personalprälatur“ führt, ohne jedoch deshalb schon eine Personalprälatur im Sinne des CIC/1983 zu sein; vgl. dazu Winfried Aymans, Das konsoziative Element in der Kirche, in: ders. u. a. (Hrsg.), Das konsoziative Element in der Kirche. Akten des VI. Internationalen Kongresses für kanonisches Recht, St. Ottilien 1989, S. 1029 – 1057, hier S. 1032 f. mit Anm. 3 sowie ausführlich ders., Teilkirchen und Personalprälaturen. Kritische Erwägungen aufgrund des unter gleichem Titel erschienenen Buches von Pedro Rodríguez, in: AfkKR 156 (1987), S. 486 – 500. 10 Vgl. PCR, Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, in: Com 1 (1969), S. 77 – 85, hier S. 84; Praefatio, in: AAS 75/2 (1983), S. XV – XXX, hier S. XXI – XXIII. 11 Vgl. dazu Peter Krämer, Die Personaladministration im Horizont des kirchlichen Verfassungsrechts, in: AfkKR 172 (2003), S. 97 – 108; Matthias Pulte, Von Summorum pontificum bis Anglicanorum coetibus. Gesetzgebungstendenzen im Pontifikat Benedikts XVI., in: AfkKR 179 (2010), S. 3 – 19, hier S. 13 – 17; Georg Bier, Die Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus und die Ergänzenden Normen der Kongregation für die Glaubenslehre. Eine kanonistische Analyse, in: CrSt 32 (2011), S. 443 – 478; Markus Graulich, Von der Exkommunikation zur Communio? Der Weg zum Dialog zwischen Vatikan und Pius-Bruderschaft, in: Bernd Dennemarck/Heribert Hallermann/Thomas Meckel (Hrsg.), Von der Trennung zur Einheit. Das Bemühen um die Pius-Bruderschaft (= WTh 7), Würzburg 2011, S. 31 – 61, hier S. 50 – 61; Arturo Cattaneo, Zur personalen und territorialen Bestimmung von Seelsorgestrukturen, in: AfkKR 182 (2013), S. 44 – 63, hier S. 60 – 63.

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2. Anliegen und Methode der vorliegenden Untersuchung Vor dem Hintergrund dieser rasanten Entwicklung, die sich ungefähr innerhalb eines halben Jahrhunderts vollzogen hat, sei in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem kanonischen Territorium im Vergleich der beiden Kodizes des kanonischen Rechts von 1917 und 1983 zukommt. Unter einem kanonischen Territorium ist dabei jedes kirchenrechtlich relevante Territorium zu verstehen; zumeist wird es sich um einen Amtssprengel (insbesondere des Diözesanbischofs, aber auch des Pfarrers) handeln, bisweilen stehen aber auch größere Einheiten (wie etwa das Gebiet eines Staates oder einer Bischofskonferenz) in Rede. Dazu wurde zunächst in einer Durchsicht des CIC/1917 erhoben, in welchen Rechtsnormen die besagten Amtssprengel bzw. Territorien eine Rolle spielen. Sodann wurde geprüft, ob und gegebenenfalls welche Änderungen der Rechtslage durch den CIC/1983 erfolgt sind. In einem vergleichenden Streifzug durch die beiden Kodizes werden nachstehend die so ermittelten Befunde dargestellt, wobei eine Vorsortierung danach erfolgt, welche Normen des CIC/1917 ohne inhaltliche Änderung in den CIC/1983 übernommen wurden, welche Kanones überhaupt nicht übernommen wurden und welche Regelungen mit konzeptionellen Änderungen in Bezug auf die Bedeutung des kanonischen Territoriums übernommen wurden. Zur Rechtssprache sei an dieser Stelle noch bemerkt, dass der Terminus des (kanonischen) Territoriums in mehr als 80 Kanones des CIC/1917 vorkommt.12 Im CIC/ 1983 begegnet dieser Terminus in rund 50 Kanones.13 Mit den Begriffen der Diözese und der Pfarrei ist jeweils ein typisches kanonisches Territorium, nämlich der Sprengel eines Bischofs oder eines Pfarrers bezeichnet.14 Ein sachlich unverzichtbarer Komplementärbegriff zum Begriff des kanonischen Territoriums ist sodann noch die Kategorie und Rechtsfigur des Ortsordinarius (vgl. dazu c. 198 § 2 CIC/1917;

12 Vgl. insbesondere cc. 13 § 2; 14 § 1; 33 § 2; 82; 144; 152; 198 § 1; 201 §§ 2 – 3; 216 §§ 1 u. 4; 217 § 1; 239 § 1 218; 267 § 1, 28 u. § 2, 68; 282 § 2; 284, 18; 290; 291 § 2; 293 §§ 1 – 2; 294 §§ 1 – 2; 303; 308; 309 § 1 u. § 4; 319 § 1; 325; 337 § 3; 347; 352; 366 § 1; 374 § 2; 401 § 1; 448 § 2; 464 § 2; 622 § 4; 639; 691 §§ 1 u. 4; 738 § 2; 739; 740; 782 § 3; 784; 848 § 1; 873 § 1; 900, 38; 914; 927; 957 § 2; 958 § 1; 994 §§ 2 – 3; 1008; 1021 § 1; 1025; 1039 § 1; 1043; 1064, 38; 1095 § 1, 28 u. § 2; 1155 §§ 1 – 2; 1156; 1166 § 3; 1216 § 2; 1218 § 2; 1230 § 4; 1232 § 1; 1234 § 1; 1245 § 1; 1304, 2 – 38; 1333 § 1; 1337; 1343 § 1; 1350 § 2; 1381 § 2; 1397 § 4; 1414 § 2; 1421; 1423 § 2; 1427 § 1; 1432 § 1; 1500; 1519 § 1; 1529; 1637; 2221; 2247 § 2; 2269 § 1; 2298, 7 – 88; 2373, 48 CIC/1917; ferner c. 8 § 2; 964, 18 CIC/ 1917. 13 Vgl. bes. cc. 12 §§ 2 – 3; 87 § 1; 91; 102 §§1 – 3; 136; 237 § 2; 271 § 2; 312 § 1, 2 – 38; 328; 372 §§ 1 – 2; 383 § 1; 431 §§ 1 – 2; 439 § 2; 441, 28; 442 § 1, 28; 443 §§ 1 – 3; 445; 447; 448 § 2; 450; 479 § 2; 491 § 1; 508 § 1; 518; 579; 628 § 2, 28; 771 § 2; 775 § 2; 790 § 1; 792; 806 § 1; 809; 862; 887; 888; 974 § 2; 1077 § 1; 1078 § 1; 1079 § 1; 1109; 1111 § 1; 1206; 1274 § 4; 1290; 1315 § 1; 1336 § 1, 18; 1337 §§ 1 – 2; 1355 § 2; 1469 §§ 1 – 2; 1722 CIC/ 1983; ferner c. 13 §§ 1 – 2; 368; 370 CIC/1983. 14 Von einer Auflistung all jener Kanones, in denen CIC/1917 und CIC/1983 vom Diözesanbischof bzw. vom Pfarrer handeln, wird abgesehen.

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c. 134 § 2 CIC/1983).15 Der Begriff des Ortes impliziert hier jeweils einen territorial abgegrenzten Amtssprengel.

15

Vgl. dazu einerseits cc. 43; 82; 106, 68; 120 § 2; 125; 130 § 1; 131 §§ 1 u. 3; 133 § 3; 136 § 1; 137; 138; 139 § 4; 152; 189 § 2; 211 § 2; 239 § 1, 168; 240 § 2, 247 § 2; 269 § 1; 274, 68; 277; 291 § 2; 292 § 1; 337 § 1; 349 § 1, 18; 368 § 2; 384 § 2; 415 §§ 1 u. 4 – 5; 421 § 1, 18; 449; 451 § 1; 454 § 5; 455 § 1; 456; 457; 458; 459 § 1 u. § 3; 465 § 1; 466 § 3; 471 § 2; 472; 1 – 38; 474; 475 § 1; 476 § 3; 480 §§ 1 – 3; 482; 483; 485; 486; 488, 28; 495 § 1; 497 § 1; 498; 500 §§ 1 – 2; 506 §§ 2 u. 4; 510; 512 § 1; 519; 521 § 2; 522; 525; 527; 529; 533 § 1; 534 § 1; 535 § 1, 18 u. §§ 2 – 3; 542, 28; 544 §§ 2 – 3; 547 § 4; 549; 550§ 2; 552 §§ 1 – 2; 580 § 3; 600; 18 u. 48; 601 § 2; 603 § 1; 607; 608 §§ 1 – 2; 609 § 3; 611; 612; 615; 616 § 2; 617 §§ 1 – 2; 618 § 2; 619; 620; 621 §§ 1 – 2; 622 §§ 1 – 3; 630 §§ 2 u. 4; 631 §§ 1 – 2; 638; 643 § 2; 645 § 2; 647 § 1; 650 § 1, 28; 652 §§ 1 – 2; 653; 671, 58; 679 § 2; 686 §§ 2 – 3; 689 §§ 1 – 2; 690 §§ 1 – 2; 691 §§ 1, 3 u. 5; 695; 696 § 3; 698 § 1; 699 § 1; 703 § 2; 711 §§ 1 – 2; 712 § 3; 713 § 2; 714; 715 §§ 1 – 2; 716 § 3; 718; 719 § 1; 723, 2 – 38; 738 § 1; 741; 744; 755 § 2; 759 § 2; 774 § 2; 776 § 1, 28; 783§ 2; 804 § 3; 806 § 1; 822 § 4; 831 §§ 1 u. 3; 832; 842; 844 § 1; 845 § 2; 859 § 2; 869; 873 § 1; 874 §§ 1 – 2; 875 § 2; 876 § 2; 877 § 1; 878 § 2; 880 § 1; 883 § 2; 895; 899 § 1; 904; 910 § 1; 919 § 1; 934 § 2; 938 § 2; 981 § 1; 993, 48; 994 §§ 2 – 3; 997 § 1; 1008; 1011; 1017 §§ 1 – 2; 1020 § 3; 1025; 1026; 1027; 1028 § 1; 1030 § 2; 1031 § 2, 18; 1032; 1034; 1039 § 1; 1043; 1044; 1045 §§ 1 u. 3; 1046; 1048; 1055; 1056; 1089 § 1; 1094; 1095 §§ 1 – 2; 1096 § 2; 1097 § 1; 1104; 1109 §§ 1 – 2; 1131 § 1; 1162 §§ 1 u. 4; 1170; 1182 § 3; 1186, 1 – 28; 1187; 1194; 1206 § 2; 1208 §§ 1 u. 3; 1209 § 1; 1211; 1234 § 1; 1244 § 2; 1245 § 1; 1247 § 2; 1259 §§ 1 – 2; 1261 §§ 1 – 2; 1263 § 2; 1264 § 2; 1265 § 1, 28 u. § 2; 1269 § 3; 1271; 1272; 1274 § 1; 1275; 1279 § 1; 1282 § 1; 1283 § 1; 1284; 1285 § 1; 1286; 1289 § 1; 1291 § 2; 1292; 1293; 1294 § 1; 1304, 28 u. 48; 1313, 18; 1325 § 3; 1334; 1336; 1337; 1338 §§ 2 – 3; 1339 § 1; 1340 § 1; 1341 § 1; 1343 § 1; 1345; 1346 § 1; 1349 § 2; 1350 § 1; 1373 § 2; 1374; 1379 § 1; 1380; 1381 § 2; 1382; 1385 § 2; 1386 §§ 1 – 2; 1388 § 1; 1390; 1395 § 1; 1397 §§ 1 u. 4; 1405 § 2; 1406 § 1, 5 – 78; 1417 § 2; 1423 §§ 1 u. 3; 1425 §§ 1 – 2; 1428 § 1; 1429 § 1; 1430 § 2; 1432 § 1; 1443 § 2; 1444 § 2; 1450 § 2; 1451 § 1; 1452; 1464 § 1; 1466 § 2; 1469 § 1, 18; 1476 § 2; 1478; 1479; 1487 § 1; 1489 §§ 1 – 2; 1491 §§ 1 – 2; 1492 §§ 1 – 2; 1493; 1503; 1505; 1516 § 3; 1517 § 1; 1519 § 1; 1520 §§ 2 – 3; 1521 §§ 1 – 2; 1522, 18; 1525 §§ 1 – 2; 1526; 1527 § 1; 1532 §§ 2 – 3; 1540; 1545; 1546 § 1; 1549 § 2; 1550; 1560, 1 – 48; 1561 § 1; 1564; 1565 § 1; 1572 § 1; 1576 § 2; 1579 § 3; 1594 §§ 2 – 3; 1607 § 2; 1625 § 1; 1637; 1653 §§ 1 u. 5; 1658 § 4; 1710; 1821 § 2; 1916 § 2; 1920 § 1; 1936; 1940; 1988; 1999 § 3; 2003 § 3; 2013 § 1; 2015; 2037 § 1; 2038 – 2064; 2126; 2253, 38; 2282; 2292; 2297; 2301; 2314 § 2; 2341; 2361; 2385; 2412; 2414 CIC/1917. Vgl. andererseits cc. 88; 112 § 3; 297; 305 § 2; 311; 324 § 2; 325 § 2; 366, 1 – 28; 390; 527 §§ 2 – 3; 533 §§ 1 – 2; 541 § 2; 550 § 1; 559; 560; 562; 563; 565; 567 § 1; 586 § 2; 591; 630 § 3; 637; 638 § 4; 645 § 2; 686 § 1; 687; 745; 780; 804 § 2; 805; 806 § 2; 824 § 1; 826 § 2; 827 §§ 1 u. 3; 830 § 1; 831 § 1; 833, 6 – 78; 839 § 2; 858 § 2; 860 §§ 1 – 2; 905 § 2; 930 § 1; 933; 934 § 1, 28, 943; 957; 967 § 2; 968 § 1; 969 § 1; 971; 974 §§ 1 – 3; 1054; 1064; 1069; 1071 §§ 1 – 2; 1077 § 1; 1078 § 1; 1079 §§ 1 – 2 u. 4; 1080 §§ 1 – 2; 1081; 1102 § 3; 1105 § 2; 1108 § 1; 1109; 1111 § 1; 1116 § 3; 1118 §§ 1 – 2; 1121 §§ 2 – 3; 1125; 1127 § 2; 1128; 1130; 1131, 28; 1132; 1144 § 2; 1145 § 1; 1147; 1148 § 3; 1153 § 1; 1168; 1172 § 1; 1183 §§ 2 – 3; 1184 § 2; 1196, 1 u. 38; 1211; 1225; 1226; 1228; 1230; 1232 § 1; 1241 § 2; 1265 § 1; 1266; 1287 § 1; 1302 § 2; 1320; 1337 § 2; 1355 § 1, 28; 1356 § 1, 18; 1682 §§ 1 – 2 CIC/1983.

Das kanonische Territorium in der kirchlichen Rechtspraxis

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II. Regelungen ohne konzeptionelle Änderung 1. Allgemeine Normen Gemäß c. 1 CIC/1917 und c. 1 CIC/1983 regeln beide Kodizes grundsätzlich nur die Disziplin der lateinischen Kirche. Prinzipiell ist die lateinische Kirche weltweit verbreitet, und zwar auch in jenen Ländern und Gebieten, in denen die orientalischen Kirchen ursprünglich beheimatet waren und (noch) sind. Eine territoriale Abgrenzung ist damit also nicht verbunden. Bemerkenswert ist jedoch, dass Papst Pius XI. im Jahre 1938 die Zuständigkeiten der S. Congregatio de Propaganda Fide und der S. Congregatio pro Ecclesia Orientali neu ordnete und die Lateiner im Orient, für die bis dahin die Propaganda zuständig war, der Ostkirchenkongregation unterstellte.16 Bis heute sind die Kongregation für die Evangelisierung der Völker sowie die Kongregation für die orientalischen Kirchen jene Dikasterien der Kurie, deren Zuständigkeit territorial abgegrenzt ist (vgl. Art. 60 u. 89 PastBon). Die territoriale Zuständigkeit der Kongregation für die orientalischen Kirchen ist dabei nur indirekt umschrieben; sie erstreckt sich auf jene „Gebiete, in denen seit alters her die orientalischen Riten überwiegen“ (Art. 60 PastBon). Besondere örtliche Verhältnisse können der Aufhebung von hundertjährigem bzw. unvordenklichem Gewohnheitsrecht entgegenstehen (c. 5 CIC/1917; c. 5 CIC/1983). Das kanonische Recht unterscheidet zwischen allgemeinen und partikularen Gesetzen (vgl. c. 6, 18 CIC/1917; c. 6 § 1, 2 – 38 CIC/1983 u. ö.). Das kanonische Recht unterscheidet des weiteren zwischen Gesetzen mit territorialem und mit personalem Geltungsanspruch. Hierzu wird gesetzlich vermutet, dass Gesetze territorialen Charakter haben, solange ihr personaler Charakter nicht feststeht (c. 8 § 2 CIC/1917; c. 13 § 1 CIC/1983). Im Weiteren gilt der Grundsatz, dass allgemeine Gesetze weltweit verpflichten (c. 13 § 1 CIC/1917; c. 12 § 1 CIC/1983). Dagegen verpflichten partikulare Gesetze, die für ein bestimmtes Gebiet ergangen sind, grundsätzlich nur die hiervon Betroffenen; das sind jene, die in dem bestimmten Gebiet ihren Wohnsitz17 haben und sich auch tatsächlich dort aufhalten (c. 13 § 2 CIC/1917; c. 12 § 3 CIC/1983).

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Vgl. Pius XI., MP „Sancta Dei Ecclesia“ (15. 03. 1938), in: AAS 30 (1938), S. 154 – 159. Art. I des MP bestimmte den räumlichen Zuständigkeitsbereich folgendermaßen: Ägypten nebst Sinaihalbinsel, Eritrea und der Norden Äthiopiens, Albanien, Bulgarien, Zypern, Griechenland, der Dodekanes, Iran, Irak, Libanon, Palästina, Syrien, Transjordanien, die asiatische Türkei sowie – soweit unter türkischer Herrschaft – Thrakien. Die Zuständigkeit in sachlicher Hinsicht blieb insoweit eingeschränkt, als in jenen Angelegenheiten, für die das Hl. Offizium, die Kongregation für die Sakramentedisziplin, die Ritenkongregation, die Kongregation für die Seminare und Studieneinrichtungen sowie die Pönitentiarie zuständig waren, es bei der Zuständigkeit der genannten Dikasterien auch für die im Orient weilenden Lateiner verblieb. 17 Vgl. dazu cc. 90 – 95 CIC/1917; cc. 100 – 107 CIC/1983.

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Für Fremde – also für solche Personen, die zwar einen Wohnsitz haben, sich aber derzeit nicht in dem hierzu gehörenden Gebiet aufhalten (vgl. c. 91 CIC/1917; c. 100 CIC/1983) – gelten vor diesem Hintergrund dann folgende Regelungen: Der Fremde ist im Regelfall nicht mehr an die partikularen Gesetze gebunden, die in seiner Heimat gelten; von diesem Regelfall gibt es jedoch zwei Ausnahmen, nämlich erstens dann, wenn die Missachtung des Gesetzes in der Heimat Schaden hervorruft,18 und zweitens dann, wenn das Gesetz personalen Charakter hat (c. 14 § 1, 18 CIC/1917; c. 13 § 1, 18 CIC/1983). Der Fremde ist im Regelfall aber auch nicht an die partikularen Gesetze gebunden, die in der Fremde gelten; auch von dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen, nämlich wenn es um den Schutz der öffentlichen Ordnung oder um Rechtsförmlichkeiten geht (c. 14 § 1, 28 CIC/1917; c. 13 § 2, 28 CIC/1983). Zum Zwecke der Klarstellung ist dieser kurze Ausnahmenkatalog im CIC/1983 ausdrücklich um die im Gebiet gelegenen Immobilien ergänzt. Sowohl CIC/1917 als auch CIC/1983 statuieren eine territorial einheitliche Disziplin für den Fall, dass allgemeine Gesetze beispielsweise infolge eines Indults in einem bestimmten Gebiet nicht gelten (c. 13 § 1, 38 CIC/1917 am Ende u. c. 12 § 2 CIC/1983). In c. 13 § 1, 38 CIC/1917 war dies freilich mit der Klarstellung verbunden, dass für einen Fremden jene allgemeinen Gesetze, die nur in seiner Heimat außer Kraft stehen, in der Fremde sehr wohl gelten. Für Wohnsitzlose gelten alle am jeweiligen Aufenthaltsort gültigen Gesetze (c. 14 § 2 CIC/1917; c. 13 § 3 CIC/1983). Was die wenigstens passiv gesetzesfähigen Gemeinschaften anbelangt, die kanonisches Gewohnheitsrecht bilden können (vgl. dazu c. 26 CIC/1917; c. 25 CIC/ 1983), so lässt sich ganz allgemein feststellen, dass diese Gemeinschaften nach personalen oder nach territorialen Kriterien abgegrenzt sein können. Verwaltungsbefehle verpflichten grundsätzlich überall (c. 24 CIC/1917; c. 52 CIC/1983). Die Fortgeltung eines örtlichen Privilegs wurde bzw. wird in c. 75 CIC/1917 bzw. c. 78 § 3 CIC/1983 geregelt. Das Personenrecht beider Kodizes enthält Legaldefinitionen des Herkunftsortes (vgl. c. 90 §§ 1 – 2 CIC/1917; c. 101 §§ 1 – 2 CIC/1983) sowie zum Wohnsitz (vgl. cc. 92 – 95 CIC/1917; cc. 102 – 107 CIC/1983). Minderjährige ebenso wie unter Vormundschaft oder Pflegschaft stehende Personen haben notwendigerweise den selben Wohnsitz wie ihre Eltern bzw. wie der Vormund oder Pfleger (c. 93 §§ 1 – 2 CIC/ 1917; c. 105 §§ 1 – 2 CIC/1983). Über den Wohnsitz wird jedem Gläubigen der eigene Pfarrer und der eigene Ordinarius zugewiesen (c. 94 §§ 1 – 3 CIC/1917; c. 107 §§ 1 – 3 CIC/1983).

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Schulbeispiel: Missachtung partikularrechtlicher Regelungen zu Residenz und Urlaub.

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Im Regelfall ist der Diözesanbischof (bzw. mit Spezialmandat auch der Generalvikar) innerhalb seines Amtssprengels für die Besetzung der Kirchenämter zuständig (c. 152 CIC/1917; c. 157 CIC/1983). Über die Jurisdiktionsgewalt bestimmte c. 201 § 1 CIC/1917, dass diese nur gegenüber den eigenen Untergebenen ausgeübt werden konnte. Dabei war unklar, ob der Terminus des Untergebenen sich nur auf die Einwohner des jeweiligen Amtssprengels bezog oder auch auf die Fremden, die sich dort aufhalten.19 Soweit die Jurisdiktionsgewalt richterliche Gewalt im eigentlichen Sinne war, verfügte c. 201 § 2 CIC/1917 eine strenge Bindung an das Territorium des Richters, um so Kompetenzkonflikte im Ansatz zu unterbinden.20 Hinsichtlich der nicht-richterlichen Jurisdiktionsgewalt (potestas iurisdictionis voluntaria seu non-iudicialis) gestattete c. 201 § 3 CIC/1917, dass ihr Inhaber sie auch von außerhalb seines eigenen Territoriums und/oder für außerhalb seines eigenen Territoriums verweilende Untergebene ausübt. In etwa mit c. 201 CIC/1917 vergleichbar ist c. 136 CIC/1983, der sich freilich ausschließlich auf die ausführende Leitungsgewalt beschränkt.21 In dieser Norm wird nunmehr klar zwischen Untergebenen (im Sinne des c. 107 CIC/1983) und Fremden differenziert. Es gilt dazu die Regel, dass die Leitungsgewalt gegenüber den eigenen Untergebenen auch dann ausgeübt werden kann, wenn sich diese außerhalb des eigenen Gebiets aufhalten; sowie gegenüber Fremden, soweit es um Vergünstigungen oder um Gesetze, welche für die Fremden gelten, geht. 2. Verfassungsrecht Hinsichtlich der Residenzpflicht der Kardinäle wird in beiden Kodizes danach differenziert, ob diese an der Römischen Kurie oder als Diözesanbischöfe tätig sind. Kurienkardinäle sind zur Residenz in der Stadt Rom verpflichtet (c. 238 CIC/ 1917; c. 356 CIC/1983).22 An der Spitze von Kirchenprovinzen steht der Metropolit im Rang eines Erzbischofs (c. 272 CIC/1917; c. 435 CIC/1983). Die Ausübung der Pontifikalien ist einem Diözesanbischof innerhalb der Grenzen seines Bistums überall gestattet; außerhalb desselben jedoch nur mit ausdrücklicher 19

Für ein weites Verständnis des Begriffs Heribert Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche. Erklärung der Kanones, 1. Bd., Paderborn 19502, S. 228 f.; ebenso wohl Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 336. 20 Die Ausnahmen von dieser Regel finden sich in cc. 401 § 1, 881 § 2 u. 1637 CIC/1917. 21 In der Diktion des CIC/1917 also beschränkt auf die potestas iurisdictionis voluntaria seu non-iudicialis. 22 Für Kardinäle, die Diözesanbischöfe sind, besteht keine derartige Residenzpflicht. Gemäß c. 238 § 3 CIC/1917 konnte für sie ein Romaufenthalt freilich unabsehbare Folgen haben: Sie waren gehalten, sich dem Papst vorzustellen und durften sich danach nur mit seiner Erlaubnis wieder aus Rom entfernen. Demgegenüber sieht c. 356 CIC/1983 lediglich vor, dass sich jene Kardinäle nach Rom zu begeben haben, wenn der Papst sie einberuft.

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oder wenigstens vermuteter Zustimmung des Ortsordinarius (c. 337 § 1 CIC/1917; c. 390 CIC/1983).23 Diözesanbischöfe unterliegen einer persönlichen Residenzpflicht, die nicht auf einen etwa vorhandenen Koadjutor abgewälzt werden kann (c. 338 § 1 CIC/1917; c. 395 § 1 CIC/1983). Beiden Kodizes sind die Ämter des Bischofskoadjutors und des Auxiliarbischofs geläufig (vgl. cc. 350 – 355 CIC/1917; cc. 403 – 411 CIC/1983). Dabei verstand freilich der Gesetzgeber des CIC/1917 den Terminus des Koadjutors wohl als Oberbegriff und unterschied beide Ämter danach, ob der Koadjutor der Person des Bischofs oder dem Sitz des Bischofs (und dessen Territorium) beigegeben wurde. Die interimistischen Leiter eines Bistums im Falle der Sedisvakanz, nämlich der Kapitelsvikar (CIC/1917) bzw. der Diözesanadministrator (CIC/1983) unterliegen der Residenzpflicht (c. 440 § 1 CIC/1917; c. 429 CIC/1983). Die Residenzpflicht der Pfarrer ist dahingehend konkretisiert, dass sie im Regelfall gehalten sind, im Pfarrhaus zu wohnen (c. 465 § 1 CIC/1917; c. 533 § 1 CIC/ 1983). Die Gründung von Ordensgemeinschaften fällt – nach vorgängiger Beratung mit dem Apostolischen Stuhl – in die Zuständigkeit der Diözesanbischöfe (c. 492 § 1 CIC/1917; c. 579 CIC/1983).24 Für die Errichtung von Niederlassungen außerhalb des Ursprungsbistums forderte c. 495 § 1 CIC/1917 bei Ordensgemeinschaften des diözesanen Rechts die Zustimmung sowohl des Bischofs des Haupthauses als auch des Bischofs der geplanten Niederlassung. Demgegenüber verlangt c. 609 § 1 CIC/1983 zwar nach wie vor eine ausdrückliche Zustimmung des Diözesanbischofs, der für die neue Niederlassung zuständig ist, bleibt aber in der Frage einer Zustimmung des Bischofs des Hauptsitzes vage.25 Ordensobere unterliegen nach Maßgabe des Eigenrechts ihrer Gemeinschaft einer Residenzpflicht (c. 508 CIC/1917; c. 629 CIC/1983).

23 In c. 337 § 1 CIC/1917 fand sich dazu noch eine feinsinnige Unterscheidung zwischen exemten Orten und exemten Kirchengebäuden. Für Pontifikalien an ersteren bedurfte der Diözesanbischof keiner (zumindest vermuteten) Zustimmung des zuständigen Ordensoberen, an letzteren schon. C. 337 § 2 CIC/1917 stellte sodann klar, dass die schlichte Erlaubnis zugunsten des fremden Bischofs, die Pontifikalien auszuüben, noch nicht die Erlaubnis miteinschloss, auch Thron und Baldachin zu verwenden. 24 Dazu findet sich nur in c. 579 CIC/1983 die Klarstellung, dass diese Zuständigkeit auf das eigene Territorium des jeweiligen Bischofs beschränkt ist. 25 Dabei ist zunächst zu sehen, dass c. 609 § 1 CIC/1983 sowohl auf Gemeinschaften des diözesanen wie des päpstlichen Rechts anwendbar sein will und daher bewusst ganz allgemein von der zuständigen Autorität spricht. Soweit es Gemeinschaften bischöflichen Rechts anbelangt, wird die Gründung einer Niederlassung nicht selten eine Angelegenheit von größerer Bedeutung im Sinne des c. 595 § 1 CIC/1983 sein, so dass von daher die Mitwirkung des Hauptsitzbischofs gesichert ist.

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3. Verkündigungs- und Heiligungsdienst Die Pfarrer sind angehalten, sich jedweder geeigneten Hilfe (im Pfarrgebiet wohnhafte Kleriker, Ordensleute, aber auch Laien) zu versichern, um ihre Pflicht zur katechetischen Unterweisung der Pfarreiangehörigen gut zu erfüllen (c. 1333 § 1 CIC/1917; c. 776 CIC/1983). Ortsordinarien bzw. Bischöfen ebenso wie Partikularkonzilien (und Bischofskonferenzen) kommt das Recht und die Pflicht zu, mit Wirkung für die ihnen anvertrauten Gläubigen Bücher zu verbieten bzw. zurückzuweisen (c. 1395 § 1 CIC/1917; c. 823 § 2 CIC/1983). Die Erlaubnis zur Herausgabe von Büchern kann sowohl vom Ortsordinarius des Verfassers als auch vom Ortsordinarius des Verlagsorts erteilt werden (c. 1385 § 2 CIC/1917; c. 824 CIC/1983). Die Spender der Sakramente haben bei der Sakramentenspendung die Bestimmungen ihres eigenen Ritus zu beachten (c. 733 § 2 CIC/1917; c. 846 § 2 CIC/ 1983). Dies gilt unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort. Die Zuständigkeit für die Spendung der Taufe, welche ein Vorrecht des eigenen Pfarrers bzw. des Diözesanbischofs darstellt,26 ist grundsätzlich streng territorial begrenzt (c. 739 CIC/1917; c. 862 CIC/1983).27 In fremdem Gebiet besteht auch dann keine Zuständigkeit für die Taufspendung kraft Gesetzes, wenn es sich um einen eigenen Untergebenen handeln sollte. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind dann gegeben, wenn es sich um eine Nottaufe handelt oder wenn der Spender vom territorial zuständigen Amtsträger eine ausdrückliche Erlaubnis erhalten hat.28 Hinsichtlich der Vollmacht der Bischöfe zur Firmspendung gilt, dass Bischöfe innerhalb ihrer eigenen Diözesen das Sakrament rechtmäßig auch fremden Gläubigen spenden, es sei denn, deren eigener Ordinarius hätte die Firmspendung ausdrücklich verboten (c. 783 § 1 CIC/1917; c. 886 § 1 CIC/1983).29

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Vgl. dazu c. 738 § 1 CIC/1917; c. 530, 18 CIC/1983 (Pfarrer) bzw. c. 744 CIC/1917; c. 863 CIC/1983 (Diözesanbischof). Wer der eigene Pfarrer eines Täuflings ist, stellte beiläufig c. 778 CIC/1917 klar: Es ist der Pfarrer, in dessen Pfarrei der Täufling seinen Wohnsitz hat. 27 Wie sich aus c. 740 CIC/1917 ergibt, setzt die praktische Anwendbarkeit dieser Norm die Zirkumskription von Pfarreien oder wenigstens von Quasi-Pfarreien voraus. C. 740 CIC/ 1917 verweist daher für den Fall, dass eine solche Einteilung fehlt, auf das vor Ort geltende Partikularrecht; soweit ersichtlich, fehlt im CIC/1983 ein vergleichbarer Kanon. 28 An diesem Grundsatz wird auch in c. 678 § 1 CCEO festgehalten, der zugleich die örtlich zuständigen Amtsträger dazu verpflichtet, einem fremden Priester die besagte Erlaubnis dann nicht zu verweigern, wenn der Täufling jener eigenberechtigten Kirche eingegliedert werden soll, der auch der besagte fremde Priester zugehört. 29 Rechtssprachlich sei angemerkt, dass beide Kodizes am angegebenen Ort die Vokabel legitime (rechtmäßig) verwenden; aus theologischen und rechtssystematischen Gründen dürfte es sich hierbei um ein Synonym zu licite (erlaubt) handeln (so dass also ggf. ein Verbot nicht zur Ungültigkeit der dennoch gespendeten Firmung führt).

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Hinsichtlich der bischöflichen Firmvollmacht in einer fremden Diözese ist danach zu differenzieren, ob der Firmling als eigener Untergebener der Hirtensorge des firmenden Bischofs anvertraut ist oder nicht. Möchte der Bischof Gläubige firmen, die ihm nicht untergeben sind, so ist für die Erlaubtheit der Firmspendung die zumindest vermutete Erlaubnis des dortigen Diözesanbischofs erforderlich; handelt es sich hingegen um Einwohner der eigenen Diözese, so bedarf es einer solchen Erlaubnis nicht (c. 783 § 2 CIC/1917; c. 886 § 2 CIC/1983).30 Die Leiter von Quasi-Diözesen bzw. Teilkirchen, die keine Bischöfe sind, haben von Rechts wegen die Befugnis, das Sakrament der Firmung zu spenden; die Befugnis ist aber territorial auf das eigene Gebiet beschränkt (c. 782 § 3 CIC/1917; c. 88, 18 CIC/1983). Unter der Sanktion der Ungültigkeit territorial beschränkt ist auch die Firmbefugnis, die gegebenenfalls einem einfachen Priester verliehen ist.31 Innerhalb des ihm zugewiesenen Territoriums spendet ein firmbefugter Priester aber auch Auswärtigen erlaubterweise das Sakrament, es sei denn, dem stünde ein ausdrückliches Verbot des eigenen Ordinarius’ jener Firmlinge entgegen (c. 784 CIC/1917; c. 887 CIC/1983). Innerhalb der Territorien, in denen ein Bischof kraft seiner Firmvollmacht oder ein Priester kraft der ihm verliehenen Firmbefugnis gültig firmen kann, gilt diese Vollmacht bzw. Befugnis auch an exemten Orten (c. 792 CIC/1917; c. 888 CIC/ 1983). Fremde, d. h. dem jeweiligen Kirchenrektor unbekannte, Priester, die in dessen (des Rektors) Kirche zelebrieren möchten, sind gehalten, sich durch ein Zelebret zu legitimieren (c. 804 § 1 CIC/1917; c. 903 CIC/1983).32 Ist der Geldbetrag für ein Messstipendium nicht durch partikularrechtliches Dekret festgelegt, so bemisst sich die Taxe für eine Messe nach dem örtlichen Gewohnheitsrecht (c. 831 §§ 2 – 3 CIC/1917; c. 952 §§ 2 – 3 CIC/1983).

30 Dazu verfügte allerdings c. 783 § 2 CIC/1917 am Ende die Einschränkung, dass die Firmung eigener Untergebener in einem fremden Bistum grundsätzlich privatim, d. h. insbesondere ohne Verwendung von Mitra und Bischofsstab, zu erfolgen habe; anders gesagt, war also jedenfalls die Verwendung der bischöflichen Insignien in einem fremden Bistum erlaubnispflichtig. 31 Die Ungültigkeit einer Spendehandlung, bei der der Spender die territoriale Begrenzung der ihm gewährten Firmbefugnis missachtet, ist in dieser Ausdrücklichkeit nur im CIC/1983 erklärt; diese Rechtslage ergab sich bei verständiger Würdigung aber auch schon aus c. 2365 CIC/1917, insofern gemäß dieser Norm jede versuchte Grenzüberschreitung eo ipso zum Verlust der Firmbefugnis führte. 32 Für den Fall, dass der Fremde kein Zelebret vorzeigen kann, ist das geltende Recht deutlich liberaler als der CIC/1917. Nach altkodikarischem Recht durfte der Rektor nur solche Personen zulassen, die das geistliche Gewand, d. h. einen Talar im Sinne des c. 811 § 1 CIC/ 1917 trugen, und diese auch nur ein- oder zweimal; zudem musste er sie mit Name, Amt und Heimatbistum in ein spezielles Buch eintragen. Dagegen kann es gemäß c. 903 CIC/1983 damit sein Bewenden haben, dass der Kirchenrektor vernünftigerweise annimmt, dass der Fremde in Bezug auf die erbetene Zelebration keinem Hindernis unterliegt.

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Sowohl der Papst als auch die Kardinäle verfügen über eine uneingeschränkte weltweite Beichtjurisdiktion bzw. Beichtbefugnis (cc. 239 § 1, 18, 873 § 1 CIC/ 1917; c. 967 § 1 CIC/1983). Die Befugnis der Bußkanoniker, Beugestrafen aufzuheben (sofern diese nicht dem Apostolischen Stuhl reserviert sind), erstreckt sich innerhalb des eigenen Bistums auf dessen Einwohner und auf Fremde; außerhalb des eigenen Bistums erstreckt sie sich auf die Einwohner des eigenen Bistums (c. 401 § 1 CIC/1917; c. 508 § 1 CIC/1983). Der eigene Bischof für die Spendung der Heiligen Weihen ist wahlweise der Bischof jenes Bistums, in dem der Weihekandidat seinen Wohnsitz hat, oder der Bischof jenes Bistum, in dessen Dienst der Kandidat treten möchte bzw. in das er bereits inkardiniert ist (c. 956 CIC/1917; c. 1016 CIC/1983). Die Weihe (durch einen lateinischen Bischof) eines Untergebenen, der einem orientalischen Ritus, d. h. einer eigenberechtigten Kirche des orientalischen Rechtskreises, zugehört, ist nur kraft eines Apostolischen Indults möglich (c. 955 § 2 CIC/1917; c. 1015 § 2 CIC/1983). Dementsprechend ist bei der Ausstellung von Weiheentlassschreiben darauf zu achten, dass Weihespender und Weihekandidat nicht verschiedenen Riten zugehören (c. 961 CIC/1917; c. 1021 CIC/ 1983). Ein vom Ortsordinarius erlassenes Eheverbot gilt ohne territoriale Beschränkung gegenüber allen Untergebenen des Ordinarius und mit territorialer Beschränkung auf den eigenen Sprengel des Ortsordinarius auch gegenüber Fremden, die sich dort aufhalten (c. 1039 § 1 CIC/1917; c. 1077 § 1 CIC/1983). Ebenso hat der Ortsordinarius ohne territoriale Beschränkung eine Dispensvollmacht (bezüglich im Einzelnen näher aufgelisteter Ehehindernisse) gegenüber seinen eigenen Untergebenen und mit territorialer Beschränkung auf den eigenen Sprengel die selbe Dispensvollmacht gegenüber sonstigen Personen, die sich dort aufhalten (c. 1043 CIC/1917 am Ende; c. 1078 § 1 CIC/1983). Zu den Förmlichkeiten bei der Bestellung eines Stellvertreters für die Eheschließung zählt die Unterschrift des Pfarrers oder Ortsordinarius’, in dessen Territorium der schriftliche Auftrag an den Stellvertreter erteilt wird (c. 1089 § 1 CIC/1917; c. 1105 § 2 CIC/1983). Im Normalfall liegt die Zuständigkeit für die Trauungsassistenz beim Ortsordinarius oder beim Ortspfarrer, die allerdings andere Priester (und Diakone) delegieren können (c. 1094 CIC/1917; c. 1108 § 1 CIC/1983). Die Trauungsbefugnis ist strikt territorial auf den eigenen Amtssprengel beschränkt, kann jedoch innerhalb desselben auch gegenüber nicht Untergebenen ausgeübt werden (c. 1095 § 1, 2 CIC/1917; c. 1109 CIC/1983). Dazu bietet c. 1109 CIC/1983 noch die Klarstellung, dass Fremden nur dann assistiert werden kann, wenn wenigstens einer dem lateinischen Ritus zugehört.33 Auch im Wege der Delegation kann die Trauungsbefugnis nicht über die 33 Zur Trauungsbefugnis insbesondere der Ortspfarrer nebst der Frage der Formgültigkeit der Ehe, wenn beide Brautleute einem orientalischen Ritus zugehören vgl. Markus Müller, Die

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Grenzen des eigenen Amtssprengels hinausverlagert werden (c. 1095 § 2 CIC/1917; c. 1111 § 1 CIC/1983). Über eine personale Trauungsbefugnis der Personalpfarrer in Bezug auf die ihrer Seelsorge anvertrauten Personen traf CIC/1917 zwar keine ausdrückliche Regelung; gleichwohl wurde angenommen, dass eine solche Befugnis besteht.34 Zur Erlaubtheit der Eheschließung wird verlangt, dass diese in der eigenen Pfarrei der Brautleute erfolgt (c. 1097 § 1, 28 CIC/1917; c. 1115 CIC/1983); für auswärtige Trauungen ist eine Gestattung des eigenen Pfarrers der Brautleute erforderlich (c. 1097 § 1, 38 CIC/1917; c. 1115 CIC/1983).35 C. 1125 CIC/1917 hatte drei näher bezeichnete Konstitutionen der Päpste Paul III., Pius V. und Gregor XIII. aus den Jahren 1537, 1571 und 1585, die seinerzeit für bestimmte Gebiete (pro peculiaribus locis) ergangen waren, auf andere Gebiete mit den selben Umständen (ad alias quoque regiones in eisdem adiunctis) ausgeweitet.36 Die so provozierte Streitfrage, ob damit nur bestimmte (welche?) Länder oder alle Einzelfälle mit vergleichbaren Umständen gemeint waren, hat der Gesetzgeber des CIC/1983 entschieden: Die Regelung wird in den cc. 1148 – 1149 CIC/1983 ohne Bezugnahme auf territoriale Anknüpfungspunkte fortgeführt. Die Exequien für verstorbene Gläubige sind regelmäßig in der Pfarrkirche des Verstorbenen abzuhalten (c. 1216 § 1 CIC/1917; c. 1177 § 1 CIC/1983). Ist bei Todesfällen außerhalb der eigenen Pfarrei eine Überführung des Leichnams nicht gut möglich,37 so sind die Exequien regelmäßig in der Pfarrei zu feiern, in der sich der Todesfall ereignet hat (c. 1218 § 1 CIC/1917; c. 1177 § 3 CIC/1917).38 Die Festlegung diözesaner Feiertage oder Bußtage ist den Diözesanbischöfen (im CIC/1917: den Ortsordinarien) nur im Einzelfall gestattet (c. 1244 § 2 CIC/1917; Befugnis zur Benediktion von Eheschließungen orientalischer Katholiken durch lateinische Pfarrer, in: DPM 21/22 (2014/15), S. 235 – 253, hier S. 241 – 252. 34 Vgl. für Militärpfarrer im Deutschen Reich ausdrücklich Pius XI., Ap. Schreiben „Decessores nostros“ (19. 09. 1935), in: AAS 27 (1935), S. 367 – 373, hier S. 372 (Art. XVIII); für sonstige Personalpfarrer vgl. August Hagen, Pfarrei und Pfarrer nach dem Codex Iuris Canonici, Rottenburg a. N. 1935, S. 9; Mörsdorf, Lb II (11. Auflage), S. 239. 35 Während c. 1097 § 1, 38 CIC/1917 insoweit ausdrücklich auf den Wohnsitzpfarrer bzw. Pfarrer des mindestens einmonatigen Aufenthaltsortes abstellte, ist in c. 1115 CIC/1983 vom eigenen Pfarrer die Rede, womit auch ein etwaiger Personalpfarrer angesprochen ist. 36 Im Einzelnen waren in den genannten Konstitutionen folgende Länder und Gebiete namentlich genannt: India occidentalis et meridionalis, also der amerikanische Kontinent (Paul III., Pius V.); Angola, Äthiopien, Brasilien und andere indische Gebiete (Gregor XIII.). 37 Eine exakte Klärung der Frage, ob eine Überführung in die eigene Pfarrei bequem möglich gewesen wäre, war angesichts c. 1236 § 1 CIC/1917 für den Heimatpfarrer des Verstorbenen durchaus von wirtschaftlichem Interesse. Wurden nämlich die Exequien willkürlich außerhalb der eigenen Pfarrei gehalten, so blieb dem Pfarrer doch das Anrecht auf die so genannte pfarrliche Gebühr erhalten. 38 Dabei ging der Gesetzgeber des CIC/1917 davon aus, dass die Überführung des Leichnams entweder zu Fuß oder (ohne unvertretbar hohen finanziellen Aufwand) überhaupt nicht zu bewerkstelligen ist, vgl. dazu auch c. 1218 §§ 2 – 3 CIC/1917.

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c. 1244 § 2 CIC/1983). Hinsichtlich der Erstreckung der Dispensvollmacht der Ortsordinarien und Pfarrer von der Beachtung der Feier- und/oder Bußtage stellte c. 1245 § 1 CIC/1917 ausdrücklich klar, dass sich diese Vollmacht auch außerhalb des eigenen Territoriums auf eigene Untergebene sowie innerhalb des eigenen Territoriums auch auf Fremde erstreckt. In c. 1245 CIC/1983 fehlt zwar eine entsprechende Klarstellung, doch ergibt sich die nämliche Rechtslage aus der allgemeinen Norm des c. 91 CIC/1983. 4. Vermögens-, Prozess- und Strafrecht Über die Spendensammlung durch Ordensleute bestimmte c. 622 § 2 CIC/1917, dass hierfür sowohl eine Erlaubnis des Ortsordinarius’ der Niederlassung, der die Spendensammler zugehören, als auch des Ortsordinarius’ des Bistums, in dem die Sammlung stattfindet, erforderlich ist. Diese Regelung führt c. 1265 § 1 CIC/1983 in allgemeiner Form, d. h. ohne Engführung auf Ordensleute als Spendensammler,39 fort. Die Mendikanten, d. h. die Angehörigen der Bettelorden, sind privilegiert (c. 621 § 1 CIC/1917; c. 1265 § 1 CIC/1983).40 Wer treuhänderisch Vermögen für fromme Zwecke in Verwahrung nimmt, hat hierüber den zuständigen Ordinarius zu benachrichtigen (c. 1516 § 1 CIC/1917; c. 1302 CIC/1983). Bei Ordensleuten kann sich hieraus die Frage erheben, wer der zuständige Ordinarius ist. In Beantwortung dieser Frage wird danach differenziert, ob das Treuhandvermögen zur Unterstützung einer Ortschaft oder eines Bistums respektive der jeweiligen Einwohner oder für sonstige Zwecke überlassen wurde. Im Falle einer territorialen Anknüpfung ist der zuständige Ordinarius der Ortsordinarius; andernfalls ist es der höhere Obere des Treuhänders (c. 1516 § 3 CIC/1917; c. 1302 § 3 CIC/1983). Für die Bestimmung des Gerichtsstands ist – sofern der Rechtsstreit nicht dem Papst oder der Römischen Rota vorbehalten ist – stets eine irgendgeartete örtliche Anknüpfung maßgeblich, etwa der Wohnsitz des Beklagten (c. 1561 § 1 CIC/ 1917; c. 1408 CIC/1983); bei Wohnsitzlosen der Aufenthaltsort des Beklagten (c. 1563 CIC/1917; c. 1409 § 1 CIC/1983); bei dinglichen Klagen der Ort der belegenen Sache (c. 1564 CIC/1917; c. 1410 CIC/1983); bei Klagen aus einem Vertrag der Ort, an dem ein Vertrag geschlossen wurde oder zu erfüllen ist (c. 1565 § 1 CIC/ 1917; c. 1411 § 1 CIC/1983); bei Strafklagen der Ort, an dem eine Straftat begangen wurde (c. 1566 CIC/1917; c. 1412 CIC/1983); bei Streitigkeiten um eine Verwaltertätigkeit der Ort der Verwaltung (c. 1560, 38 CIC/1917; c. 1413, 18 CIC/1983); bei Streitigkeiten über Erbschaften oder Vermächtnisse der Ort des letzten Wohnsitzes 39

Zum Recht kirchlicher Vereinigungen, Spenden zu sammeln, vgl. c. 691 § 3 CIC/1917. Dabei ist das Privileg, ohne Erlaubnis des Ortsordinarius Almosen zu sammeln, im CIC/ 1917 territorial auf Diözesen beschränkt, in denen die Mendikanten ein eigenes Kloster haben; für Sammlungen in anderen Diözesen schrieb c. 621 § 1 CIC/1917 am Ende sehr wohl eine solche Erlaubnis vor. 40

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des Erblassers bzw. Vermächtnisgebers (c. 1560, 48 CIC/1917; c. 1413, 28 CIC/ 1983); sowie bei Sachzusammenhang zweier oder mehrere Klagen der Ort des Gerichts, an dem bereits eine erste Klage anhängig ist (c. 1567 CIC/1917; c. 1414 CIC/ 1983). Auch die Zuständigkeit für die Urteilsvollstreckung knüpft regelmäßig territorial an den Gerichtsort an (vgl. c. 1920 §§ 1 – 2 CIC/1917; c. 1653 §§ 1 – 2 CIC/ 1983). Eine Ausnahme besteht bei einem Urteil zwischen Ordensleuten; in diesen Fällen ist der Obere für die Urteilsvollstreckung zuständig (c. 1920 § 3 CIC/1917; c. 1653 § 1 – 2 CIC/1983). Mit dem päpstlichen Jurisdiktionsprimat korrespondiert das Recht jedes Gläubigen, den Apostolischen Stuhl um die Entscheidung seiner Streit- oder Strafsache zu bitten (c. 1569 § 1 CIC/1917; c. 1417 § 1 CIC/1983); es steht im freien Ermessen des Apostolischen Stuhls, ob er den Rechtsstreit daraufhin an sich zieht oder ihn bei den Gerichten belässt, die auf dem ordentlichen Instanzenweg zuständig sind (c. 1569 § 2 CIC/1917; c. 1417 § 2 CIC/1983). Im Weiheprozess klagebefugt ist u. a. auch der Ordinarius, in dessen Diözese der fragliche Kleriker geweiht worden war (c. 1994 CIC/1917; c. 1708 CIC/1983). Im Rahmen eines Strafprozesses hat der Richter bzw. der Ordinarius die Befugnis, dem Angeklagten nach Anhörung des Kirchenanwalts den Aufenthalt an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet aufzuerlegen oder zu verbieten (c. 1957 CIC/1917; c. 1722 CIC/1983); eine solche Maßnahme dient insbesondere dazu, einer etwaigen Einschüchterung von Zeugen zu wehren sowie ein faires und gerechtes Verfahren zu ermöglichen. Eine Strafe bindet den Täter überall auf der Welt und nicht nur im Territorium dessen, der die Strafe gegebenenfalls verhängt hat (c. 2226 § 4 CIC/1917; c. 1351 CIC/1983).

III. Nicht übernommene Regelungen des CIC/1917 1. Allgemeine Normen und Verfassungsrecht Für Missionare statuierte c. 307 CIC/1917 eine Art Residenzpflicht im Missionsgebiet; soweit ersichtlich, hat der Gesetzgeber des CIC/1983 auf eine vergleichbare Regelung verzichtet. C. 340 § 1 CIC/1917 traf explizite Regelungen, aus welchen Ländern und Kontinenten die Bischöfe im Verlauf eines fünfjährigen Turnus ihre Ad-Limina-Besuche zu persolvieren sowie einen schriftlichen Bericht über die Lage ihres Bistums vorzulegen hatten.41 41 Im ersten Jahr des Turnus: Die Bischöfe Italiens und der Inseln im Mittelmeer; im zweiten Jahr: Westliches Europa (nur Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Holland, England, Schottland und Irland); im dritten Jahr: Restliches Europa; im vierten Jahr: Amerika; im fünften Jahr: Afrika, Asien, Australien.

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Innerhalb seines Bistums genoss der Bischof gemäß c. 347 CIC/1917 die Präzedenz vor allen übrigen Erzbischöfen und Bischöfen, nicht jedoch vor Kardinälen, Päpstlichen Legaten und dem eigenen Metropoliten. Außerhalb seines Bistums bestimmte sich die Präzedenz anhand der in c. 106 CIC/1917 statuierten Regeln. Dem CIC/1983 sind vergleichbare Regelungen fremd. Offenbar entbehrlich erschien dem Gesetzgeber des CIC/1983 die Klarstellung aus c. 374 § 2 CIC/1917, wonach Notare der bischöflichen Kurie ihr Amt nur innerhalb des jeweiligen Bistums ausüben können. Gemäß c. 419 § 1 CIC/1917 unterlagen Kanoniker zwar einer (anderweitig näher geregelten) Chorpflicht, aber keiner Residenzpflicht im eigentlichen Sinn (c. 419 § 1 CIC/1917). Sowohl gemäß den Kanones des CIC/1917 als auch gemäß jenen des CIC/1983 kann das Amt des Dekans von einem Priester ausgeübt werden, der nicht notwendigerweise auch ein Pfarramt innehaben muss. Vor diesem Hintergrund verfügte c. 448 § 2 CIC/1917 für Dekane eine eigene Residenzpflicht (entweder im Dekanat oder wenigstens in räumlicher Nähe hierzu). Während sich c. 555 CIC/1983 nur summarisch zu den Aufsichtspflichten eines Dekans äußert, ging c. 447 CIC/1917 insoweit stärker ins Detail und sprach unter anderem auch die Residenzpflicht der Pfarrer an, über deren Einhaltung der Dekan zu wachen hatte. 2. Verkündigungs- und Heiligungsdienst Den Grundsatz der ritusmäßigen Einheit von Spender und Empfänger rief in Bezug auf das Sakrament der Firmung c. 782 § 4 CIC/1917 in Erinnerung. Sofern ein Apostolisches Indult einen Priester ermächtigte, die Firmung zu spenden, war diese Ermächtigung ohne weitergehende Vermerke auf Firmlinge beschränkt, die dem lateinischen Ritus zugehörten. Diese Regelung wurde durch ein Dekret der Ostkirchenkongregation aus dem Jahre 1948 modifiziert. Demnach durften firmbefugte Priester das Sakrament auch jenen Orientalen spenden, die sich außerhalb des Territoriums ihres Patriarchen aufhielten und somit – gemäß der hierzu von Papst Leo XIII. in der Apostolischen Konstitution „Orientalium dignitas“ aus dem Jahre 1894 statuierten Rechtslage – der Jurisdiktion der lateinischen Ortsodinarien unterstellt waren.42

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Vgl. SC EcclOr, Dekr. „Cum ex“ (01. 05. 1948), in: AAS 40 (1948), 422 f.; ferner Leo XIII., ApK „Orientalium Dignitas“ (30. 11. 1894), in: ASS 27 (1894/95), S. 257 – 264, hier S. 261 f. (Ziff. IX). Zu Recht wies das Dekret freilich darauf hin, dass dem orientalischen Gläubigen das Sakrament womöglich bereits in unmittelbarem Anschluss an die Taufe gespendet worden war.

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Das Recht, für die Feier der Eucharistie einen Tragaltar zu verwenden, brachte ohne zusätzliche Gestattungen43 noch nicht das Recht mit sich, auf einem auf hoher See befindlichen Schiff zu zelebrieren (c. 822 §§ 2 – 3 CIC/1917).44 C. 859 § 3 CIC/1917 sprach die Empfehlung aus, der Pflicht zur Osterkommunion in der eigenen Pfarrei nachzukommen und im Falle einer auswärtigen Erfüllung dieser Pflicht den eigenen Pfarrer hierüber zu informieren. C. 875 § 2 CIC/1917 schrieb vor, dass der für eine exemte laikale Ordensgemeinschaft zu bestellende Beichtvater seine Beichtjurisdiktion von dem Ordinarius jenes Territoriums erhalten musste, in welchem das fragliche Kloster lag; für Ordensfrauen galt eine analoge Zuständigkeitsregelung (vgl. c. 876 § 2 CIC/1917). Eine außergewöhnliche räumliche Erweiterung der kraft Delegation erlangten priesterlichen Beichtjurisdiktion ergab sich aus c. 883 CIC/1917: Während einer Schiffsreise erstreckte sich eine delegierte Beichtjurisdiktion, die ein mitreisender Priester zuvor ordnungsgemäß entweder von seinem eigenen Ortsordinarius oder vom Ortsordinarius einer Hafenstadt auf der Schiffsroute erhalten hatte, auf alle Passagiere (c. 883 § 1 CIC/1917); bei Zwischenstopps des Schiffes in einem Hafen erstreckte sich die Beichtjurisdiktion ferner auf alle beichtwilligen Personen, die eventuell an Bord zu tun hatten oder die der schiffsreisende Priester bei einem eventuellen Landgang traf (c. 883 § 2 CIC/1917)45; und zwar – nachdem der besagte Priester sich nicht kurzfristig mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen konnte – ohne Rücksicht darauf, dass die Absolution der gebeichteten Sünden gegebenenfalls kraft partikularen Rechts dem Ortsordinarius zur Absolution reserviert war.46

43 Ein entsprechendes Privileg genossen allerdings Kardinäle und Bischöfe, vgl. c. 239 § 1, 88 u. c. 349 § 1, 18 CIC/1917). War auf dem Schiff eine Schiffskapelle eingerichtet, so konnte diese von mitreisenden Priestern auch ohne besondere Erlaubnis benutzt werden, vgl. dazu Ulpiano Lopez, De missae celebratione in itinere maritimo, in: PerRMCL 34 (1945), S. 42 – 44. Über die Reservierung von Sünden vgl. cc. 893, 895 – 900 CIC/1917; c. 982 CIC/ 1983. Eine indirekte Reservierung ergibt sich im CIC/1983 aus der Reservierung von Strafen (vgl. cc. 1367, 1370 § 1, 1378 § 1, 1382, 1388 § 1 CIC/1983). Wegen der gesetzlichen Wirkung der Exkommunikation, den Empfang der Sakramente zu verbieten (vgl. c. 1331 § 1, 28 CIC/1983), kommt eine Absolution von der Sünde erst nach Befreiung von der Beugestrafe in Betracht (vgl. dazu auch c. 1357 CIC/1983). 44 Der Sinn der Regelung ist nicht klar erkennbar; vermutlich war in etwa die Annahme leitend, dass Schiffe generell ungeziemende und gefährliche Orte seien, an denen eine störungsfreie Darbringung des Messopfers nicht sicher gewährleistet gewesen wäre. Wie hier auch Lopez, De missae celebratione (Anm. 43), S. 43: „Supponitur missa celebranda, […], cum quodam periculo, ex motu maris, effusionis sanctissimi Sanguinis.“ 45 Um Missbräuche dieser Sondervollmachten zu unterbinden, verfügte PCI, Erklärung (20. 05. 1923), in: AAS 16 (1924), S. 114 (ad dubium nr. IV), dass die Beichtjurisdiktion kraft c. 883 § 2 CIC/1917 bei längerer Verweildauer des Schiffes im Hafen nach Ablauf von drei Tagen erlischt. 46 In analoger Weise erweiterte Paenit. Ap., Dekr. „Ut facilius“ (22. 02. 1941), in: AAS 33 (1941), S. 73, die delegierte Beichtjurisdiktion inhaftierter Priester auf ihre Mitgefangenen und ihr Wachpersonal, während Pius XII., MP „Animarum studio“ (16. 12. 1947), in: AAS 40

Das kanonische Territorium in der kirchlichen Rechtspraxis

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Zur Abklärung, ob sich ein Weihekandidat womöglich ein kanonisches Weihehindernis zugezogen hatte, verlangten die cc. 993, 48 und 994 CIC/1917 die Vorlage von Empfehlungsschreiben aller Ortsordinarien, in deren Sprengel sich der Kandidat längere Zeit aufgehalten hatte. Wer diese Regelung missachtete, machte sich strafbar (c. 2373, 28 CIC/1917). Demgegenüber stellt es c. 1051, 28 CIC/1983 in das Ermessen des Diözesanbischofs bzw. höheren Oberen, welcher Aufwand bei der Rekonstruktion der Vita des Kandidaten getrieben werden soll. Im Normalfall wird die kirchenamtliche Ehevorbereitung vom Pfarrer der Brautleute, der auch der Eheschließung assistiert, durchgeführt (vgl. cc. 1020 – 1029 CIC/ 1917; cc. 1067, 1069, 1070 CIC/1983). Die sehr ausführlichen Handlungsanweisungen des CIC/1917 sind nicht in das geltende Recht übernommen worden. Entfallen ist demgemäß die Regelung aus c. 1023 § 2 – 3 CIC/1917, die der Aufklärung diente, ob sich der Heiratskandidat bzw. die Heiratskandidatin an früheren Aufenthaltsorten ein Ehehindernis zugezogen hatte. In Bezug auf den Kreis jener, die der kanonischen Formpflicht unterliegen, stellte c. 1099 § 1, 38 CIC/1917 klar, dass bei der Eheschließung mit einem der lateinischen Kirche zugehörigen Katholiken die kanonische Formpflicht auch von jenen Katholiken zu beachten ist, die einem orientalischen Ritus zugehören. Die Regelung ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass eine allgemeine kanonische Formpflicht für die Katholiken des orientalischen Rechtskreises erst durch das Motu proprio „Crebrae allatae“ Papst Pius’ XII. aus dem Jahre 1949 eingeführt wurde. C. 1162 § 3 CIC/1917 formulierte einen bedingten Konkurrenzschutz zugunsten bereits erbauter Kirchen vor neu zu bauenden; wie sich im Vergleich von c. 1162 §§ 1 – 4 CIC/1917 mit c. 1215 §§ 1 – 3 CIC/1983 ergibt, wurde diese Regelung nicht in das geltende Recht übernommen. Über die Zuständigkeiten für die Durchführung der Exequien, d. h. näherhin des Begräbnisses, notiert c. 530, 58 CIC/1983, dass dessen Vornahme in besonderer Weise dem Pfarrer aufgetragen ist. Für Fälle, in denen der Sterbeort, der Ort des Requiems und der Ort des Begräbnisses auseinanderfallen und in verschiedenen Pfarreien liegen,47 wäre heute vielleicht wieder eine ähnlich detaillierte Regelung wie jene aus c. 1230 §§ 1 – 7 CIC/1917 über die konkreten Zuständigkeiten der Seelsorger vorteilhaft. Ebenfalls nicht in den CIC/1983 übernommen wurde die Regelung des c. 1232 § 1 CIC/1917, wonach ein Trauerzug von der Kirche zum Grab ohne besondere Genehmigung und mit Vortragekreuz ohne weiteres das Gebiet einer fremden Pfarrei oder sogar eines fremden Bistums überqueren durfte; und die Regelung des c. 1232 § 2 CIC/1917, wonach dies bei aufwändigeren Überführungen nicht galt

(1948), S. 17, die Regelung des c. 883 CIC/1917 ceteris paribus auf flugreisende Priester erstreckte. 47 Vgl. dazu die diesbezügliche Problemanzeige bei Karl Neimes, Friedwaldbestattungen. Kirchenrechtliche Untersuchung einer alternativen Bestattungsform (= BzMK 64), Essen 2013, S. 104 – 110.

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und der Priester nur das Recht hatte, den Leichnam bis zur Stadtgrenze oder bis zum Ortsausgang zu begleiten. C. 1288 CIC/1917 bestimmte, dass beim Tod eines Bischofs etwaige Kreuzpartikel, die in sein Brustkreuz eingearbeitet waren, an die Kathedralkirche seines Bischofssitzes herauszugeben waren; hatte der Bischof die Leitung mehrerer Bistümer inne, so fielen die Partikel an die Kathedralkirche des Bistums, in dessen Grenzen er gestorben war. Bezüglich sonstiger heiliger Gerätschaften im Besitz eines Kardinals oder eines Diözesanbischofs trafen die cc. 1298 und 1299 CIC/1917 eingehende Regelungen. 3. Vermögens-, Prozess- und Strafrecht C. 622 § 4 CIC/1917 verfügte in Bezug auf das Sammeln von Spenden (durch Ordensleute) eine grundsätzliche Trennung zwischen der lateinischen Kirche und der orientalischen Kirche. Lateinische Ortsordinarien hatten die Spendensammlung durch Orientalen zu unterbinden, sofern diese hierfür nicht durch ein Reskript der Kongregation für die Ostkirche ermächtigt waren; zugleich sollten sie keine Lateiner zwecks Spendensammlung in orientalische Bistümer entsenden. Gemäß c. 1424 CIC/1917 war es ausgeschlossen, Benefizien, die zu verschiedenen Diözesen gehören, miteinander zu vereinigen. C. 1427 CIC/1917 verlangte für die Teilung einer Pfarrei das Vorliegen eines kanonischen Grundes und forderte in § 3 eine ausreichende Dotierung der neuen Pfarrei. Die Frage, wie eine (neue) Pfarrei zu ihrem Vermögensgrundstock kommt, wird, soweit ersichtlich, im geltenden Recht nicht weiter reflektiert. Daher kann c. 515 § 2 CIC/1983 lapidar feststellen, dass es – nach einer zwingend vorgeschriebenen Anhörung des Priesterrats – in der alleinigen Kompetenz des Diözesanbischofs liegt, Pfarreien zu verändern. Ein kanonischer Grund, wie er in CIC/1917 (auch) der Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der alten Pfarrei diente, ist nicht mehr gefordert. Für die Zustellung gerichtlicher Ladungen favorisierte der Gesetzgeber des CIC/ 1917 die Überbringung durch einen Gerichtsboten, dem es gemäß c. 1717 § 2 CIC/ 1917 auch gestattet war, im Auftrag des Richters die Grenzen zu einem anderen Bistum zu überschreiten. Demgegenüber bevorzugt das geltende Recht die Einschaltung der Post (c. 1509 § 1 CIC/1983) und tut des Gerichtsboten keine Erwähnung mehr. Das Recht der Selig- und Heiligsprechungsprozesse (vgl. cc. 1999 – 2141 CIC/ 1917) ist vollständig aus dem CIC/1983 ausgegliedert worden. Dessen ungeachtet knüpft dieses spezielle Prozessrecht in etlichen Regelungen an bestimmt Orte und Territorium an. Der Postulator muss einen festen Wohnsitz in der Urbs (Stadt Rom) haben (vgl. c. 2004 § 3 CIC/1917).48 Für die Durchführung des Informativpro48 Ebenso jetzt C CausSS, Normae (07. 02. 1983), in: AAS 75/1 (1983), S. 396 – 403, hier S. 396 (Nr. 2 b); C CauSS, Instr. „Sanctorum mater“ (17. 05. 2007), in: AAS 99 (2007), S. 465 – 510, hier S. 471 (Art. 15 § 2).

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zesses ist der Ordinarius des Sprengels zuständig, in dem der Kandidat gestorben ist oder in dem sich ein Wunder ereignet hat (vgl. c. 2039 § 1 CIC/1917)49 oder in der der Kandidat bereits eine hundertjährige oder unvordenkliche Verehrung genoss, als Papst Urban VIII. im Jahre 1634 die Apostolische Konstitution „Coelestis Hierusalem“50 erließ (c. 2126 CIC/1917).51 Die cc. 2168 – 2175 CIC/1917 regelten das Verfahren gegen Kleriker, die ihre Residenzpflicht verletzten. Im Gegensatz zum CIC/1917 ist dem CIC/1983 die Reservation von Strafen durch andere Autoritäten als dem Apostolischen Stuhl fremd; ohne Parallelnorm im geltenden Recht ist daher c. 2247 § 2 CIC/1917, wonach Reservationen, die nur für einen bestimmten Sprengel gelten, außerhalb der Grenzen dieses Sprengels keine Wirkung haben;52 und zwar auch dann nicht, wenn ein Straftäter nur deshalb seinen Heimatsprengel verlässt, um in der Fremde die Absolution zu erlangen. Die Beugestrafe des Interdikts kann als Lokalinterdikt ausgestaltet sein, wobei der Gesetzgeber des CIC/1983 auf detaillierte Regelungen dieser Materie verzichtet hat (vgl. c. 2255 § 2, cc. 2268 – 2273, c. 2276, c. 2291, 18 CIC/1917; c. 1332 CIC/1983). Drakonisch mutet die in c. 2291, 38 CIC/1917 als denkbare Sühnestrafe vorgesehene strafweise Verlegung oder Aufhebung eines Bischofssitzes oder Pfarrsitzes an.53

IV. Regelungen mit konzeptioneller Änderung 1. Allgemeine Normen Für das Dispensrecht des CIC/1917 war kennzeichnend, dass man das Wesen der Dispens in einem gesetzgeberischen actus contrarius zur einstigen Gesetzgebung sah (und nicht als Akt der Verwaltung). Daher war die Dispens grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten. Daraus wiederum resultierte das so genannte Konzessionssystem, wonach die Diözesanbischöfe und Ortsordinarien nur mit ausdrücklicher Ge49 Ebenso jetzt Johannes Paul II., ApK „Divinus perfectionis magister“ (25. 1. 1983), in: AAS 75/1 (1983), S. 349 – 355, hier S. 352 (Art. I.1); C CausSS, Instr. „Sanctorum mater“ (Anm. 48), hier S. 472 (Art. 21 §§ 1 – 2). 50 Abdruck in: Laerzio Cherubini (Hrsg.), Magnum Bullarium Romanum, 4. Bd., Luxemburg 1742, Appendix, S. 33 – 35. 51 Vgl. Johannes Paul II., ApK „Divinus perfectionis magister“ (Anm. 53), hier S. 352 (Art. I.1); C CausSS, Instr. „Sanctorum mater“ (Anm. 48), hier S. 472 (Art. 20) u. 475 (Art. 33 § 1). 52 Dies unter der Voraussetzung, dass es sich nicht um eine reservatio ab homine handelte, die dem Täter als Person anhaftete; hier blieb die Absolution gemäß c. 2253, 28 CIC/1917 dem vorbehalten, der sich die Strafe reserviert hatte (und war auch dann, wenn der Täter seinen Wohnsitz aus dessen Amtsbereich wegverlegte). 53 Zur Zuständigkeit für diese Bestrafung vgl. c. 2292 CIC/1917.

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stattung des Apostolischen Stuhls von allgemeinen Gesetzen dispensieren konnten. Dagegen praktiziert der CIC/1983 auf der Basis einer geänderten Auffassung vom Wesen der Dispens und einer im Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegend erneuerten Theologie des Bischofsamtes das so genannte Reservationssystem, wonach die primäre Zuständigkeit für die Erteilung von Dispensen beim Diözesanbischof liegt (c. 87 § 1 CIC/1983), sofern nicht ein Vorbehalt für bestimmte Materien oder für den Apostolischen Stuhl gesetzlich festgelegt ist. Gemäß c. 82 CIC/1917 hatte sich die Dispensgewalt der Bischöfe und Ortsordinarien nur auf das Partikularrecht der Bistümer und der Partikularkonzile erstreckt. Gemäß c. 93 CIC/1917 hatte – sofern kein Fall der Trennung von Tisch und Bett gegeben war – die Ehefrau notwendigerweise den selben Wohnsitz wie ihr Mann. C. 104 CIC/1983 reduziert diese Regelung zu einer Soll-Vorschrift. Das Inkardinationsrecht des CIC/1917 kannte begrifflich nur die Inkardination (adscriptio seu incardinatio) in eine Diözese54 oder in einen Ordensverband (c. 111 § 1 CIC/1917). Demgegenüber differenziert c. 265 CIC/1983 nach Teilkirchen, Personalprälaturen, zur Inkardination befugten Institute des geweihten Lebens und zur Inkardination befugten Gesellschaften des Apostolischen Lebens.55 Der CIC/1917 kannte eine Umkardination von der einen in die andere Teilkirche ausschließlich kraft korrespondierender Verwaltungsakte, nämlich in der Weise, dass die involvierten Diözesanbischöfe56 ein Exkardinations- und ein Inkardinationsschreiben ausstellten (c. 112 CIC/1917; c. 267 § 1 CIC/1983). Demgegenüber sieht c. 268 § 1 CIC/1983 auch die Möglichkeit einer Umkardination kraft Gesetzes vor, wenn nach fünfjährigem Dienst in einer fremden Teilkirche der Kleriker gegenüber beiden involvierten Diözesanbischöfen schriftlich den Wunsch nach einer Umkardination äußert und daraufhin keiner der beiden Bischöfe diesem Wunsch widerspricht. Dazu eröffnet c. 271 CIC/1983 Klerikern die Möglichkeit, auch ohne Umkardination unter bestimmten Voraussetzungen in eine andere Teilkirche zu wechseln. Erst in der Detailanalyse werden die konzeptionellen Unterschiede zwischen beiden Kodizes hinsichtlich der Legaldefinition des Ordinarius und des Ortsordinarius erkennbar (vgl. c. 198 §§ 1 – 2 CIC/1917; c. 134 §§ 1 – 2 CIC/1983). Zunächst ist insoweit festzustellen, dass für den Gesetzgeber des CIC/1917 die höheren Oberen klerikaler Orden nur dann als Ordinarien galten, wenn der Orden das Privileg der Exemtion (vgl. dazu grundlegend cc. 500 § 1, 615, 618 CIC/1917; c. 591 CIC/1983) genoss; an diesem Erfordernis hat der Gesetzgeber des CIC/1983 so nicht festgehalten, sondern stellt auf die Einordnung des Instituts als eines des päpstlichen Rechts 54 Der Diözese waren aber die gefreite Prälatur, die gefreite Abtei, das Apostolische Vikariat und die Apostolische Präfektur gleichgestellt, vgl. dazu auch c. 215 § 1 CIC/1917. 55 Für die Mitglieder von Säkularinstituten trifft c. 266 § 3 CIC/1983 eine spezielle Regelung. 56 C. 112 CIC/1917 sprach zwar vom Ordinarius, stellte aber in c. 113 CIC/1917 klar, dass der Generalvikar für Umkardinationen ein Spezialmandat benötigte.

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ab. Sodann wurden in c. 198 § 1 CIC/1917 die Diözesanbischöfe, die gefreiten Äbte und Prälaten, ihre jeweiligen Generalvikare, ferner die Apostolischen Administratoren, Apostolischen Vikare und Apostolischen Präfekten sowie ihre jeweiligen interimistischen Vertreter explizit benannt und klargestellt, dass sich ihre Regierungsgewalt auf ihr jeweiliges eigenes Gebiet (pro suo quisque territorio) erstreckt.57 Dagegen werden in c. 134 § 1 CIC/1983 die Diözesanbischöfe sowie die weiteren Ordinarien, die zumindest interimistisch einer Teilkirche im Sinne des c. 368 CIC/1983 vorstehen, zu ebendieser jeweiligen Teilkirche in Beziehung gesetzt. 2. Verfassungsrecht Die Ekklesiologie der Kodizes von 1917 und 1983 stimmt darin überein, dass beide den Papst und das Ökumenische Konzil als die Träger der höchsten Autorität und Regierungsgewalt in der Kirche ansehen (cc. 218 § 1, 228 § 1 CIC/1917; cc. 331, 336 CIC/1983).58 Für das Kirchenbild des CIC/1917 war danach c. 215 § 1 CIC/1917 kennzeichnend, gemäß welcher Norm es Sache der höchsten kirchlichen Autorität ist, Kirchenprovinzen, Diözesen, gefreite Abteien und Prälaturen sowie Apostolische Vikariate und Apostolische Präfekturen zu errichten, neu abzugrenzen, zu teilen, zu vereinigen oder aufzuheben. Hierbei herrschte, auch wenn es nicht im Wortlaut des Kanons zum Ausdruck kommt, die Vorstellung vor, dass der Papst der Herr der kirchlichen Welt sei und ihm die Aufgabe zukomme, den Erdkreis in einzelne kanonische Territorien zu untergliedern.59 Dazu referierte c. 218 CIC/1917 die Primatslehre des Ersten Vatikanischen Konzils und stellte mit dessen Worten fest, dass die Kirche über den gesamten Erdkreis verbreitet ist (vgl. DH 3064). Ein striktes Denken in Territorien brachte ferner c. 293 § 1 CIC/1917 zum Ausdruck, wo klargestellt wird, dass jene kirchlichen Territorien, die nicht als Diözesen verfasst sind, dann eben Apostolische Vikariate oder Apostolische Präfekturen sind.60 Ebenso betonte c. 319 § 1 CIC/1917, dass die gefreiten Äbte bzw. Prälaten (Abbates vel Praelatie nullius [dioeceseos]) sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie einem eigenen Territorium vorstehen. Demgegenüber lehrt c. 368 CIC/1983, dass die katholische Kirche in und aus 57

Somit lässt sich mit Jone, Gesetzbuch (Anm. 19), S. 225, als spezifischer Unterschied zwischen Ordinarien und Ortsordinarien folgendes herausarbeiten: „,Ortsordinarien‘ sind also solche Ordinarien, die nicht nur über bestimmte Personen Jurisdiktionsgewalt haben, sondern auch über ein eigenes Gebiet, was bei einem exemten Klostergebiet nicht zutrifft, da es trotz der Exemption ein Teil der Diözese bleibt.“ 58 Die ekklesiologische Neuerung und Verbesserung durch das Zweite Vatikanische Konzil besteht von daher in der Einsicht, dass das Bischofskollegium als solches ein ständiger Träger der kirchlichen Höchstgewalt ist, d. h. nicht nur dann, wenn die ihm zugehörigen Bischöfe sich zu einem Ökumenischen Konzil versammeln. 59 Bezeichnend insoweit die Paraphrase des c. 215 § 1 CIC/1917 bei Jone, Gesetzbuch (Anm. 19), S. 246: „Was die territoriale Einteilung der Kirche anbelangt, so ist die Einteilung des ganzen Erdkreises durch […] einzig und allein Sache der höchsten kirchlichen Autorität.“ 60 Gemäß c. 215 § 2 CIC/1917 waren gefreite Abteien und Prälaturen im Begriff der Diözese regelmäßig mitangesprochen.

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Teilkirchen besteht.61 Dem CIC/1917 ist der Terminus der Teilkirche (ecclesia particularis) unbekannt, wobei die in c. 329 § 1 CIC/1917 begegnende Redeweise von einer eigentümlichen Kirche (ecclesia peculiaris), der je ein Bischof als Nachfolger der Apostel vorsteht, dem heutigen Fachbegriff schon bemerkenswert nahe kommt.62 Vor diesem Hintergrund benennen beide Kodizes die Diözese als die Regelform einer ecclesia peculiaris bzw. ecclesia particularis (c. 215 §§ 1 – 2 CIC/1917; c. 368 CIC/ 1983). Im CIC/1983 ist allerdings die Liste der Jurisdiktionseinheiten mit Teilkirchen-Qualität, die keine Diözesen sind, um das Rechtsinstitut der dauerhaft errichteten Apostolischen Administration erweitert (c. 368 CIC/1983). Die einzelnen Jurisdiktionseinheiten mit Teilkirchen-Qualität werden sodann in den cc. 369 – 371 CIC/1983 näher erläutert, wobei als die generische Konstante jeweils ein Teil des Gottesvolkes (portio populi Dei) fungiert, während die spezifische Differenz sich hauptsächlich aus der rechtlichen Qualifikation des jeweiligen Oberhirten (Bischof, Prälat, Abt, Vikar, Präfekt, Administrator) ergibt.63 Wie bereits in der Einführung (I.1) erwähnt, statuiert sodann c. 372 § 1 CIC/1983 im Anschluss an die Leitlinie Nr. 8 zur Kodexreform für den Normalfall, dass Diözesen und andere Teilkirchen territorial abzugrenzen sind. Zugleich wird jedoch als denkbare Ausnahme vorgesehen, dass innerhalb eines bestimmten Territoriums mehrere Teilkirchen errichtet werden, die nach dem Ritus der Gläubigen oder nach einem anderen, vergleichbaren Kriterium voneinander unterschieden werden.64 Der kirchliche Gesetzgeber legitimiert hier also die Abkehr vom altkirchlichen Prinzip Eine Stadt – ein Bischof und nimmt die (eventuelle) Vermehrfachung der kirchlichen Hierarchie in einem gegebenen Gebiet hin.65 Aus dem vorstehenden ist wohl deutlich geworden, dass der Gesetzgeber des CIC/1983 die Kirche in erster Linie vom theologischen Leitbegriff des Volkes Gottes (und in zweiter Linie von der Dualität von Gesamtkirche und Teilkirchen) her denkt. Es ist daher konsequent, dass das exklusive Recht der höchsten 61 Es handelt sich hierbei zugleich um ein verkürztes Zitat aus LG 23; das Original betont in einer Apposition, dass jede Teilkirche nach dem Bild der Universalkirche (ecclesia universalis) gestaltet ist (und gerade dadurch ihre ekklesiale Qualität gewinnt). 62 Zu beachten ist, dass der Terminus der peculiaris ecclesia zuvor bereits in c. 216 § 1 CIC/1917 begegnet; dort muss der Begriff jedoch die Pfarrkirche meinen, da es vom Kontext her darum geht, dass die territorialen Untergliederungen der Diözesen jeweils ihre eigene Kirche haben sollen. 63 Im Weiteren zeigt sich der CIC/1983 an näheren Erläuterungen zu den Rechtsfiguren der besagten nichtbischöflichen Hierarchen geradezu desinteressiert, nachdem der CIC/1917 ihnen jeweils eine detaillierte Darstellung gewidmet hatte, vgl. dazu cc. 293 – 311 (Apostolische Prälaten und Vikare), cc. 312 – 318 (Apostolische Administratoren) und cc. 319 – 328 (Prälaten und Äbte). 64 Dabei bleibt offen, welche Kriterien von vergleichbarem Gewicht wie die Rituszugehörigkeit der Gläubigen sein könnten. 65 Vorzugswürdig erscheint freilich die in c. 383 § 2 CIC/1983 propagierte Lösung, nämlich für Gläubige, die einem anderen Ritus als der Diözesanbischof zugehören, durch entsprechende Personalpfarreien sowie entsprechende Priester, Pfarrer und ggf. einen Bischofsvikar pastorale Vorsorge zu treffen. Diese Lösung hat eine lange kirchliche Rechtstradition, vgl. X 1.31.14 (= Concilium Lateranum IV [a. 1215], const. 9).

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kirchlichen Autorität, Teilkirchen zu errichten, in c. 373 CIC/1983 gleichsam erst im Nachklapp memoriert wird. Dass Pfarreien im Regelfall territorial abzugrenzen sind, wird im CIC/1917 stillschweigend vorausgesetzt. Bemerkenswert ist jedoch, dass dem pio-benediktinischen Kodex auch die Rechtsfigur der Personalpfarrei geläufig ist, welche in c. 216 § 4 CIC/1917 eigens erwähnt und dabei zugleich in die vier Unterkategorien der Sprachpfarrei, der Nationalpfarrei, der Familienpfarrei und der Personalpfarrei im engeren Sinn aufgefächert wird. Dabei ist für die Sprach- und die Nationalpfarreien kennzeichnend, dass zunächst ein örtlicher Anknüpfungspunkt (civitas vel territorium) gegeben ist, zu dem die Sprache oder Nationalität als zusätzliches Merkmal der Pfarreiangehörigen hinzutritt. Bei den Familien- und Personalpfarreien im engeren Sinn tritt der territoriale Anknüpfungspunkt fast gänzlich hinter einen personalen zurück. Die Bildung von Personalpfarreien wurde vom Gesetzgeber des CIC/1917 missbilligt und war nur mit besonderem Apostolischen Indult statthaft. Im Vergleich hierzu zeigt sich der Gesetzgeber des CIC/1983 großzügiger. Es gilt zwar weiterhin die Regel, dass Pfarreien territorial abgrenzt sein sollen (c. 518 CIC/1983). Die Errichtung von Personalpfarreien ist jedoch in das Ermessen der Diözesanbischöfe gestellt. Ähnlich wie im CIC/1917 sieht c. 518 CIC/1983 dazu eine Art Vorauswahl der Gläubigen nach territorialem Gesichtspunkt mit anschließender Bestimmung der Pfarreizugehörigkeit anhand der Sprache oder Nationalität vor. Neu ist, dass auch die Rituszugehörigkeit als geeigneter personaler Anknüpfungspunkt eigens erwähnt wird. Schließlich gestattet der CIC/1983 auch noch andere Anknüpfungsgesichtspunkte, ohne sich dazu in Einzelheiten zu verlieren.66 In der Frage nach der Jurisdiktion der Kardinäle über die suburbikarischen Bistümer bzw. über ihre Titelkirchen und Titeldiakonien hat das kanonische Recht vom CIC/1917 hin zum CIC/1983 eine grundlegende Veränderung erfahren. Nach alter Rechtslage hatten die Kardinalbischöfe in den suburbikarischen Bistümern die Stellung eines Diözesanbischofs (c. 240 § 1 CIC/1917), die übrigen Kardinäle in Bezug auf ihre Titelkirchen und -diakonien die selben Rechte wie ein Ortsordinarius (c. 240 § 2 CIC/1917). Demgegenüber stellt c. 357 § 1 CIC/1983 klar, dass die Kardinäle in Bezug auf ihre Titelkirchen und -diakonien ohne jede Leitungsgewalt sind und sie sich nicht in die dortigen Angelegenheiten einzumischen haben. Während c. 239 § 1 CIC/1917 in einem nicht weniger als 24 Punkte umfassenden Katalog die Privilegien und Vollmachten der Kardinäle enumerativ aufzählte, begnügt sich c. 357 § 2 CIC/1983 mit der Feststellung, dass Kardinäle, die sich außerhalb Roms und außerhalb ihrer eigenen Diözese aufhalten, in persönlichen Angelegenheiten von der Jurisdiktion des dortigen Diözesanbischofs ausgenommen sind. 66

Ein konzeptioneller Unterschied zwischen den beiden Kodizes in Bezug auf das Rechtsinstitut der Personalpfarrei findet sich mithin weniger in der rechtlichen Konzeption der Personalpfarrei selbst, sondern in Bezug auf die Zuständigkeit für ihre Errichtung und die gewandelte Bewertung, weg von Missbilligung und hin zu Empfehlung bei pastoraler Nützlichkeit.

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Die bereits aus cc. 281 – 291 CIC/1917 bekannten Plenar- und Provinzialkonzile sind auch dem CIC/1983 geläufig, haben aber, was die gesetzliche Regelung ihrer Einberufung und Durchführung im Detail anbelangt, eine umfassende Neuordnung erfahren.67 Ein wichtiger Grund hierfür ist neben den ekklesiologischen Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils in der stark gewachsenen Bedeutung und Rechtsstellung der Bischofskonferenzen zu finden (vgl. dazu c. 292 CIC/1917; cc. 447 – 489 CIC/1983). Über die bischöfliche Zuständigkeit für Ordensgemeinschaften bischöflichen Rechts, die sich über mehrere Diözesen ausgebreitet haben, bestimmte c. 492 § 2 CIC/1917, dass diese nach Maßgabe des Rechts der Jurisdiktion der jeweiligen Ortsordinarien unterstellt waren. Demgegenüber konzentriert c. 595 § 1 CIC/1983 die jurisdiktionelle Zuständigkeit in Angelegenheiten, die die Leitungsvollmacht der Oberen übersteigen, bei dem Bischof des Hauptsitzes der Gemeinschaft. Gemäß der genannten Norm des CIC/1983 muss sich dieser Bischof vor einer etwaigen Änderung der Statuten der Gemeinschaft mit den Bischöfen der weiteren Niederlassungen beraten; dagegen hatte c. 495 § 2 CIC/1917 hierfür die Zustimmung aller betroffenen Bischöfe verlangt. C. 679 CIC/1983 ermächtigt die Diözesanbischöfe, im Sinne einer ultima ratio in dringenden und sehr schweren Fällen, Ordensleute des Bistums zu verweisen.68 Bei der Entlassung von Ordensleuten eröffnete c. 671, 28 u. 48 CIC/1917 die Möglichkeit, dem Entlassenen eine bestimmte Diözese zum künftigen Aufenthalt zuzuweisen. Im CIC/1983 ist das Recht der Trennung zwischen Ordensleuten und ihrer Gemeinschaft insgesamt neu geregelt. Im Falle einer befristeten Exklaustration eines Ordensmannes, der Kleriker ist, ist diesem ein Aufenthaltsbistum zuzuweisen (c. 686 § 1 CIC/1983).69 Die Zuweisung eines bestimmten Aufenthaltsorts im Falle einer strafweisen Entlassung ist im CIC/1983 nicht vorgesehen. Soweit Kleriker hiervon betroffen sind, stellt c. 701 CIC/1983 klar, dass diese ihre Weihevollmachten nicht ausüben können, solange nicht ein Bischof sie in seine Diözese aufnimmt oder ihnen wenigstens die Ausübung der Weihevollmachten gestattet. In vorbildlicher Wahrung des Subsidiaritätsprinzips bestimmte c. 690 § 1 CIC/ 1917, dass Vereine aller Art regelmäßig, d. h. von Fällen einer ausnahmsweisen Privilegierung abgesehen, der Jurisdiktion und der Aufsicht der Ortsordinarien unterstehen. Demgegenüber verfügt c. 305 § 2 i. V. m. § 1 CIC/1983, dass Vereine aller Art 67 Für Einzelheiten vgl. Wilhelm Rees, Synoden und Konzile. Geschichtliche Entwicklung und Rechtsbestimmungen in den kirchlichen Gesetzbüchern von 1917 und 1983, in: ders./ Joachim Schmiedl (Hrsg.), Unverbindliche Beratung oder kollegiale Steuerung? Kirchenrechtliche Überlegungen zu synodalen Vorgängen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2014, S. 10 – 67, hier S. 27 – 30 u. 41 – 51. 68 Die Norm führt die Regelungen der cc. 618 § 2, 28 u. 619 CIC/1917 fort, in denen diese Sanktion jedoch nicht ausdrücklich erwähnt wird; vielmehr ist nur von der Vollmacht des Ortsordinarius die Rede, Entscheidungen zu treffen. 69 Dazu hat der Ortsordinarius des fraglichen Bistums seine Zustimmung zu geben.

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(auch) der Aufsicht des Heiligen Stuhls unterstehen; sofern es sich um diözesane Vereine oder Vereine, die in einer bestimmten Diözese tätig sind, handelt, unterstehen sie kumulativ auch der Aufsicht des jeweiligen Ortsordinarius. C. 711 § 1 CIC/1917 gewährte bestehenden Bruderschaften und frommen Vereinen gleichsam einen Konkurrenzschutz, insofern am selben Ort nicht (oder nur ausnahmsweise) mehrere Vereinigungen mit der gleichen Zielsetzung gegründet werden sollten. In dieser Ausdrücklichkeit äußert sich der CIC/1983 hierzu nicht, ermahnt jedoch in c. 323 § 2 die kirchlichen Autoritäten, darüber zu wachen, dass eine Zersplitterung der Kräfte vermieden und die Vereinsaktivitäten auf das Gemeinwohl hingeordnet bleiben. Das Verhältnis zwischen den Orden und den Diözesanbischöfen ist im CIC/1983 neu akzentuiert worden. Bezüglich der Leitung der Orden nahm der CIC/1917 in konzentrierter Weise nacheinander den Papst (c. 499 § 1 CIC/1917; vgl. c. 590 §§ 1 – 2 CIC/1983), den Ortsordinarius (c. 500 § 1 CIC/1917) und die Ordensoberen (c. 501 § 1 CIC/1917) in den Blick. Dabei ergab sich aus c. 500 § 1 CIC/1917, dass durch eine Exemtion der Ordensgemeinschaft die Leitungsbefugnisse des Ortsordinarius aufgehoben wurden, sofern nicht im Recht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen war. Zugleich besaß der Obere einer exemten klerikalen Ordensgemeinschaft gemäß c. 501 § 1 CIC/1917 nicht nur Dominativgewalt über seine Untergebenen, sondern echte Jurisdiktionsgewalt. Im CIC/1983 ist demgegenüber das Konzept der Exemtion weitgehend durch das der Autonomie der Orden (vgl. dazu c. 586 § 1 CIC/1917) verdrängt worden, wenn auch die Exemtion nach wie vor als Möglichkeit vorgesehen ist (c. 591 CIC/1983). Die Rechtsstellung höherer Oberer als Ordinarien knüpft gemäß c. 134 § 1 CIC/1983 nicht mehr an die Exemtion einer klerikalen Ordensgemeinschaft an, sondern an deren päpstliche Errichtung bzw. Anerkennung (vgl. dazu c. 589 CIC/1917). Unbeschadet der Autonomie der Religioseninstitute wurde jedoch in der nachkonziliaren Reform des Kirchenrechts ihre hierarchische Bindung an die zuständigen Autoritäten eher gestärkt als gemindert. Institute des diözesanen Rechts sind der Hirtensorge des Diözesanbischofs anvertraut (c. 492 § 2 CIC/1917; c. 594 CIC/1983), und unterliegen ebenso wie rechtlich selbständige Klöster, die einen Leiter aber keinen höheren Oberen haben, der bischöflichen Visitation (vgl. c. 512 § 1 CIC/1917; c. 628 § 2CIC/1983). Sowohl bei Instituten des diözesanen als auch bei solchen des päpstlichen Rechts unterstehen die Ordensleute bei Aktivitäten des sog. äußeren Apostolats (Seelsorge, öffentliche Gottesdienste, andere Apostolatswerke) der Gewalt des Diözesanbischofs (c. 678 § 1 CIC/ 1983). 3. Verkündigungs- und Heiligungsdienst Hinsichtlich der Predigt des Wortes Gottes gehen beide Kodizes im Ansatz davon aus, dass Bischöfe hierzu kraft ihrer Weihe ein Recht (ius) haben, während Priester (und Diakone) hierfür einer Befugnis (facultas) bedürfen. Damit sind indes die Ge-

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meinsamkeiten in der Rechtslage bereits erschöpft, denn dem CIC/1917 liegt im Weiteren die Vorstellung einer strikt territorialen Begrenzung dieses Rechts bzw. dieser Befugnis zugrunde, während der CIC/1983 im Gegensatz hierzu grundsätzlich eine weltweite Ausübbarkeit des Predigtdienstes bejaht. Im Einzelnen bestimmte c. 1343 § 1 CIC/1917, dass die Ortsordinarien berechtigt sind, in allen Kirchen ihres Sprengels zu predigen, während gemäß c. 763 CIC/1983 ein solches Recht der Bischöfe überall besteht – sofern nicht im Einzelfall der Ortsbischof einem fremden Bischof die Predigt ausdrücklich verwehrt. Sodann ging c. 1337 CIC/1917 davon aus, dass die Ortsordinarien ihr Predigtrecht gleichsam – territorial begrenzt auf den eigenen Sprengel – an die in ihrem Sprengel weilenden Weltpriester und an nicht exemte Ordenspriester delegieren konnten.70 Hingegen können gemäß c. 764 CIC/1983 Priester und Diakone ihre Predigtbefugnis überall auf der Welt ausüben, sofern nicht der jeweils (örtlich) zuständige Ordinarius diese Befugnis einschränkt oder entzieht. Bezüglich der Dokumentation der Taufspendung im Taufbuch gingen cc. 777 – 778 CIC/1917 stillschweigend davon aus, dass die Taufe – wie es sich gemäß c. 739 CIC/1917, c. 862 CIC/1983 gehört – in der eigenen Pfarrei des Täuflings gespendet wurde und somit die Eintragungen ins Taufbuch in der Wohnsitzpfarrei des Täuflings erfolgten. In der praktischen Anwendung des CIC/1917 wurde jedoch alsbald erkannt, dass diese Annahme keineswegs selbstverständlich ist. Im Jahre 1927 verfügte daher die Konzilskongregation ebenso wie erneut im Jahre 1941 die Sakramentenkongregation, dass bei Taufspendungen außerhalb der eigenen Pfarrei des Täuflings die Taufe im Taufbuch des Tauforts einzutragen ist und der Pfarrer der Wohnsitzpfarrei zu benachrichtigen bzw. die Taufe auch dort ins Taufbuch einzutragen ist.71 Der Gesetzgeber des CIC/1983 greift jene Nachbesserungen auf und stellt klar, dass für den Ort der Dokumentation der Taufe der Ort der Taufspendung und nicht der Wohnsitz des Täuflings maßgeblich ist.72 Gemäß c. 883, 38 CIC/1983 haben die Pfarrer und sogar jeder Priester von Rechts wegen die Befugnis, das Sakrament der Firmung zu spenden, wenn sich der Firmling in Todesgefahr befindet. Eine entsprechende Regelung war dem CIC/1917 unbekannt. Allerdings verlieh ein Dekret der Sakramentenkongregation aus dem Jahre 1946 den Pfarrern mit einem territorial abgegrenzten Sprengel (unter ausdrücklichem Ausschluss der bloßen Personalpfarrer) sowie sonstigen Priestern, denen in 70 Die Besonderheiten bei der Erteilung der Predigtbefugnis an exemte Ordenspriester und an nicht exemte Ordensleute regelte c. 1338 §§ 1 – 3 CIC/1917. Die Regelungen aus c. 1338 §§ 2 – 3 CIC/1917 werden modifiziert in cc. 764 – 765 CIC/1983 fortgeführt. 71 Vgl. SC Conc, Schreiben (31. 01. 1927), in: AfkKR 109 (1929), S. 288 f.; SC Sacr, Instruktion (29. 06. 1941), in: AAS 33 (1941), S. 297 – 307, hier S. 306. 72 Folgerichtig verlangt C DocFid, Normae de conficiendo processu pro solutione vinculi matrimonialis in favorem fidei (30. 04. 2001), in: AfkKR 171 (2002), S. 161 – 168 = DPM 9 (2002), S. 357 – 377, hier S. 167 bzw. 372 f. (Art. 16 § 4), in der Vorbereitung eines Gesuchs um Eheauflösung zugunsten des Glaubens eine Überprüfung der Taufbücher an sämtlichen Orten, in denen der angeblich ungetaufte Ehepartner seit seiner frühesten Kindheit gelebt hat. Eine eventuelle nichtkatholische Taufe lässt sich so freilich nicht ermitteln.

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einem bestimmten Gebiet die plena cura animarum mit allen Rechten und Pflichten eines Pfarrers anvertraut war, die Vollmacht, in Fällen von Todesgefahr das Sakrament zu spenden.73 Weitere Voraussetzung war, dass sich die besagten Firmlinge im eigenen Territorium des so bevollmächtigten Pfarrers oder Priesters aufhielten.74 Das Überschreiten der Grenzen, die der priesterlichen Firmbefugnis so gesetzt waren, wurde gemäß c. 2365 CIC/1917 mit Strafe bedroht. Gemäß c. 923 CIC/1983 kann jeder Katholik in jedwedem katholischen Ritus die Eucharistie feiern und das Altarsakrament empfangen. Demgegenüber bekannte sich c. 866 CIC/1917 nicht uneingeschränkt zu diesem Grundsatz. Vielmehr war es gemäß c. 866 § 2 CIC/1917 angeraten, zwecks Erfüllung der entsprechenden Osterpflicht im eigenen Ritus zu kommunizieren und gemäß c. 866 § 3 CIC/1917 vorgeschrieben, die Wegzehrung (außer im Notfall) im eigenen Ritus zu empfangen. In der Frage des räumlichen Geltungsbereichs der Beichtjurisdiktion bzw. -befugnis für Bischöfe, sonstige Ortsordinarien, Pfarrer, einem Pfarrer rechtlich gleichgestellte Priester und sonstige Priester hat der Gesetzgeber des CIC/1983 gegenüber der altkodikarischen Rechtlage eine grundsätzliche Neukonzeption vorgenommen, die gewissermaßen das einstige Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt. Bezüglich der Beichtjurisdiktion bzw. -befugnis kraft Amtes lässt sich näherhin folgendes feststellen: Gemäß c. 873 § 1 CIC/1917 war im Ansatz von einer strikten territorialen Begrenzung der Beichtjurisdiktion der (nichtbischöflichen) Ortsordinarien, der Pfarrer sowie der Priester, die einem Pfarrer rechtlich gleichgestellt sind, auf ihren jeweiligen Amtssprengel auszugehen.75 In c. 881 § 2 CIC/1917 wurde die Beichtjurisdiktion der genannten Personen jedoch für den Fall, dass sie gegenüber den eigenen Diözesanen bzw. Pfarrangehörigen ausgeübt werden sollte, auf die ganze Welt ausgeweitet. Im Gegensatz hierzu findet sich in c. 967 § 1 CIC/1983 zunächst die Regelung, dass Bischöfe von ihrer Beichtbefugnis überall auf der Welt Gebrauch machen können, gleichgültig ob sie gegenüber eigenen oder fremden Diözesanen ausgeübt werden soll. Der jeweilige Diözesanbischof kann einem fremden Bischof diese Beichtbefugnis nicht entziehen, sondern nur ihre Ausübung im Einzelfall verwehren. Hinsichtlich der übrigen Ortsordinarien, Pfarrer und Quasipfarrer, die

73 Vgl. SC Sacr, Dekr. „Spiritus Sancti munera“ (14. 09. 1946), in: AAS 38 (1946), S. 349 – 354, hier S. 353 (Art. 1). 74 Vgl. SC Sacr, Dekr. „Spiritus Sancti munera“ (Anm. 73), hier S. 353 (Art. 2). 75 Dazu stellte c. 881 § 1 CIC/1917 klar, dass sich die Beichtjurisdiktion auch auf Wohnsitzlose und Fremde sowie ggf. auf Katholiken eines orientalischen Ritus erstreckt, die sich im eigenen Amtssprengel aufhalten. Soweit die Beichtjurisdiktion der Pfarrer und Quasi-Pfarrer in Rede steht, ist diese nicht delegierbar. Für den CIC/1917 wurde dies schon durch c. 874 § 1 CIC/1917 nahegelegt und endgültig durch eine authentische Erklärung der Interpretationskommission geklärt, vgl. PCI, Erklärung (16. 10. 1919) (ad dubium nr. 3), in: AAS 11 (1919), 476 f., hier S. 477. Für den CIC/1983 ergibt sich dies implizit aus c. 969 § 1 CIC/1983.

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also gemäß c. 968 § 1 CIC/1983 Beichtbefugnis kraft Amtes besitzen,76 regelt c. 967 § 2 CIC/1983, dass sie diese Befugnis ebenfalls überall auf der Welt ausüben können. Allerdings kann die Ausübung in fremdem Territorium vom dortigen Ortsordinarius im Einzelfall verwehrt werden. Bezüglich der Beichtjurisdiktion bzw. -befugnis kraft Delegation bzw. Verleihung lässt sich sodann Folgendes feststellen: Gemäß c. 874 § 1 CIC/1917 war für die Delegation der Beichtbefugnis (allein) der Ortsordinarius zuständig. Die Delegation war territorial auf dessen Amtssprengel begrenzt.77 Demgegenüber ist gemäß CIC/ 1983 zwar nach wie vor allein der Ortsordinarius für die Verleihung der Beichtbefugnis zuständig (c. 969 § 1 CIC/1983),78 die einmal verliehene Beichtbefugnis gilt jedoch überall auf der Welt (c. 967 § 2 CIC/1983). Diese Neuregelung dient (ebenso wie die Regelung des c. 967 § 2 CIC/1983) nicht zuletzt einer Erleichterung und verwaltungsmäßigen Vereinfachung der Beichtaushilfe über Bistumsgrenzen hinweg. Sie führt dazu, dass das Recht des Widerrufs einer (unbefristet) verliehenen Beichtbefugnis im CIC/1983 eine differenzierte Regelung erfahren hat.79 Wird der Widerruf von dem Ortsordinarius (oder dessen Amtsnachfolger) ausgesprochen, der die Befugnis verliehen hatte, so verliert der Priester seine Beichtbefugnis überall auf der Welt; erfolgt der Widerruf hingegen durch einen anderen Ortsordinarius, so verliert der Priester seine Befugnis nur in dessen Sprengel (c. 974 § 2 CIC/1983). C. 938 § 2 CIC/1917 bestimmte zum ordentlichen Spender der Letzten Ölung den Pfarrer des Ortes, an dem sich der Kranke aufhielt. Dagegen gilt nach c. 1003 § 2 CIC/1983 jeder Priester, dem der Empfänger zur Seelsorge anvertraut ist, als der ordentliche Spender der Krankensalbung. Die territoriale Anknüpfung ist also einer personalen gewichen. Änderungen im Detail finden sich in der Frage nach der Relation von Ort und Zuständigkeit für die Erteilung der Heiligen Weihen. Gemäß c. 1008 CIC/1917 (i. V. m. c. 337 § 2 CIC/1917) erforderte eine auswärtige (extra proprium territorium) Weihespendung die Erlaubnis des betreffenden Ortsordinarius (nur) dann, wenn der Bi76

Im direkten Vergleich zwischen c. 873 § 1 CIC/1917 u. c. 968 § 1 CIC/1983 fällt auf, dass die Norm des CIC/1917 ausdrücklich vom jeweiligen eigenen Gebiet (suo quisque territorio) spricht, c. 968 § 1 CIC/1983 hingegen vom jeweiligen eigenen Zuständigkeitsbereich (sua quisque dicione). Hierfür lässt sich wohl ein zweifacher Grund angeben: Zum einen ist in die Aufzählung des c. 968 § 1 CIC/ 1983 auch der Bußkanoniker aufgenommen, dessen Zuständigkeit sowieso nicht automatisch an der Bistumsgrenze endet (vgl. c. 401 § 1 CIC/1917; c. 508 § 1 CIC/1983). Zum anderen ist unter dem Pfarrer in c. 968 § 1 CIC/1983 ohne weiteres auch der Personalpfarrer zu verstehen. 77 Zur Besonderheit der Beichtjurisdiktion auf hoher See gemäß c. 883 CIC/1917 s. oben III.3. 78 Der im Einzelfall zuständige Ortsordinarius ist gemäß c. 967 § 2 CIC/1983 wahlweise der Ortsordinarius des aktuellen Aufenthaltsorts oder der Ortsordinarius, in dessen Diözese der Priester inkardiniert ist. 79 Zum Widerruf einer (unbefristet) verliehenen Beichtbefugnis vgl. c. 880 § 1 CIC/1917 u. c. 974 § 1 CIC/1983. Zum Verbot an einen Pfarrer oder Pönitentiar, die ihm kraft Amtes verliehene Beichtbefugnis auszuüben, vgl. c. 880 § 2 CIC/1917 u. c. 967 § 2 CIC/1983.

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schof nicht zugleich Kardinal war (c. 239 § 1, 158 CIC/1917) und die Weihe feierlich mit Stab und Mitra spenden wollte. Demgegenüber ist c. 1017 CIC/1983 restriktiver und verlangt generell für Weihespendungen außerhalb des eigenen Bereichs (extra propriam dicionem) die Erlaubnis des Diözesanbischofs des Spendeortes. Bezüglich der von den Ordensoberen ausgestellten Weihedimissorien bestimmte c. 965 CIC/1917, dass diese grundsätzlich an den Bischof jenes Bistums zu richten sind, in dem das Kloster des Weihekandidaten liegt. Hiervon gestattete c. 966 CIC/ 1917 diverse Ausnahmen, während c. 967 CIC/1917 die Ordensoberen scharf ermahnte, die Norm des c. 965 CIC/1917 nicht durch Versetzung des Kandidaten in ein anderes Kloster oder Ausstellung der Dimissorien zur Unzeit zu unterlaufen. Wer die Normen der cc. 965 – 967 CIC/1917 missachtete, machte sich strafbar (cc. 2373, 48 u. 2410 CIC/1917). Gemäß CIC/1983 ist hingegen zunächst zwischen klerikalen Ordensinstituten päpstlichen Rechts bzw. klerikalen Gesellschaften des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts einerseits und sonstigen Instituten bzw. Gesellschaften andererseits zu unterscheiden. Bei den zuerst genannten Verbänden sind die Höheren Oberen zur Ausstellung von Weiheentlassschreiben befugt (c. 1019 § 1 CIC/1983), und können diese an jeden beliebigen Bischof richten (c. 1021 CIC/ 1983). Bei den zuletzt genannten Verbänden hingegen ist der Weihekandidat wie ein (künftiger) Weltkleriker zu behandeln und muss also der Obere eine Weihebitte an den Vorsteher jener Teilkirche richten, in der der Kandidat seinen Wohnsitz hat. Eine Reminiszenz an das altkirchliche Prinzip der relativen Ordination stellte das altkodikarische Weihetitelrecht dar (vgl. cc. 979 – 982 CIC/1917). Gemäß c. 1180 § 2 CIC/1983 kann man den Friedhof für sein Begräbnis grundsätzlich frei wählen. Demgegenüber statuierte c. 1228 § 1 CIC/1917 einen Erlaubnisvorbehalt dessen, der für den Wahlfriedhof zuständig war. 4. Vermögens-, Prozess- und Strafrecht Hinsichtlich der Ersitzung von Immobilien kirchlicher Vermögensträger verfügte c. 1511 § 2 CIC/1917 im Allgemeinen eine Frist von 30 Jahren, während gemäß c. 1511 § 1 CIC/1917 zugunsten der sedes apostolica an einer Frist von 100 Jahren festgehalten wurde.80 Im geltenden Recht wird in dieser Frage gemäß c. 197 CIC/ 1983 auf das weltliche Recht des jeweiligen Staates verwiesen. Für die Bestimmung des Gerichtsstands in Ehenichtigkeitssachen hat c. 1673, 1 – 28 CIC/1983 die bereits aus c. 1964 CIC/1917 bekannte Regelung beibehalten, wonach das Gericht des Eheschließungsortes oder das Gericht des Wohnsitzes der 80 Vgl. dazu Wolfgang Kaiser, Zur hundertjährigen Verjährung zugunsten der römischen Kirche, in: ZRG.K 116 (1999), S. 60 – 103. Das Privileg geht auf eine Novelle Kaiser Justinians zurück, wobei – nach meinem Verständnis – die stadtrömische Kirche dort im Sinne einer pars pro toto für alle Bistümer in der Westhälfte des Reiches genannt wurde. Um die Interessen der (stadt-)römischen Kirche zu wahren, wurden ihre Güter und Rechte auch durch die Strafnorm des c. 2345 CIC/1917 besonders geschützt.

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nichtklagenden Partei zuständig ist. Neu ist, dass gemäß c. 1673, 38 CIC/1983 dann auch das Gericht der klagenden Partei zuständig ist, wenn beide Parteien im Gebiet der selben Bischofskonferenz ihren Wohnsitz haben und der für die nichtklagende Partei zuständige Offizial mit einem Gerichtsstand bei der Klagepartei einverstanden ist. Zwar eröffnete auch c. 1964 CIC/1917 einen Gerichtsstand am Wohnsitz der klagenden Partei, aber nur unter der Voraussetzung, dass die klagende Partei katholisch und die nichtklagende Partei nichtkatholisch ist. Gänzlich neu ist die Norm des c. 1673, 48 CIC/1983, der einen Gerichtsstand am Ort der meisten Beweiserhebungen eröffnet, sofern der für die nichtklagende Partei zuständige Offizial nach Anhörung der nichtklagenden Partei damit einverstanden ist. Der Gesetzgeber des CIC/1917 hat die Frage der Zuständigkeit für den Erlass von Strafen über mehrere Titel des CIC/1917 verstreut geregelt, während der Gesetzgeber des CIC/1983 die Materie in einem einzigen Titel gebündelt hat. Im Vergleich der beiden Kodizes lässt sich jedoch beobachten, dass etliche Grundzüge gleich geblieben sind. Für den Erlass einer Strafe ist grundsätzlich der zuständig, der sie verhängt hat (vgl. c. 2236 § 1 CIC/1917; c. 1355 § 1, 18 CIC/1983). Die verhängte oder festgestellte Strafe kann aber auch – tunlichst nach Rücksprache mit dem Ordinarius, der die Strafe verhängt hat – vom Ordinarius des Ortes erlassen werden, an dem sich der bestrafte Täter aufhält (c. 1355 § 1, 28 CIC/1983).81 Wer von einem Strafgesetz dispensieren (bzw. von einem Strafbefehl befreien) kann, kann auch eine hierauf gestützte Strafe erlassen (vgl. c. 2236 § 2 CIC/1917; c. 1354 § 1 CIC/1983). Tatstrafen, die nicht reserviert und nicht festgestellt sind, kann jeder Ordinarius erlassen (vgl. c. 2237 § 2 CIC/1917; c. 1355 § 2 CIC/1983). Dazu stellt c. 1355 § 2 CIC/1983 klar, dass sich diese Vollmacht auf alle ihm Untergebenen sowie auf alle, die sich in seinem Gebiet aufhalten oder dort straffällig geworden sind, erstreckt.82 Über den Erlass von Strafen, die auf einen Verwaltungsbefehl gestützt sind, verfügen gemäß c. 1356 § 1 CIC/1983 sowohl der Ordinarius des Ortes, an dem sich der Täter aufhält, als auch – im Falle einer Verhängung oder Feststellung der Strafe – der Ordinarius, der die Verhängung oder Feststellung der Strafe betrieben hat. Gemäß c. 2298, 7 – 88 und cc. 2301 – 2302 CIC/1917 konnte Klerikern als Sühnestrafe der Aufenthalt an bestimmten Orten oder in bestimmten Gebieten geboten oder verboten werden. Diese Sühnestrafe findet sich in c. 1336, 18 CIC/1983 wieder, dort allerdings ohne explizite Einschränkung auf Kleriker. Allerdings ergibt sich aus c. 1337 § 1 CIC/1983, dass die Aufenthaltsver- und -gebote doch nur Kleriker und Ordensleute, darunter aber auch jene im Laienstand, treffen können. Ebenso konnte gemäß c. 2299 § 2 CIC/1917 nur Klerikern die Ausübung von Ämtern strafweise verboten werden, während gemäß c. 1336, 38 CIC/1983 das Verbot, kirchliche Ämter an bestimmten oder außerhalb bestimmter Orte auszuüben, denkbarer Weise auch gegenüber Laien verhängt werden kann. 81 Vgl. dazu auch c. 2253, 38 CIC/1917, wo jedoch der Grundsatz wegen des differenzierten Systems reservierter Strafen nicht klar hervortritt. 82 Vgl. auch c. 2253, 38 CIC/1917.

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V. Ergebnisse Die Durchsicht der beiden Kodizes des kanonischen Rechts hat gezeigt, dass ein erheblicher Teil jener Regelungen, in denen bestimmte Orte und Territorien als Anknüpfungspunkt für die rechtliche Gestaltung des kirchlichen Lebens dienen, unverändert aus dem CIC/1917 in den CIC/1983 übernommen worden sind. Bei anderen Regelungen hingegen war zu sehen, dass im Wandel der Zeiten auch das kirchliche Recht einen Prozess der Modernisierung und Anpassung durchlaufen hat. Von grundlegender Bedeutung sind nach wie vor der Wohnsitz der Gläubigen und der territorial abgegrenzte Amtssprengel der Pfarrer und Ortsordinarien. Hierdurch lassen sich die Gläubigen automatisch in eigene Untergebene eines bestimmten Amtsträgers und in Fremde klassifizieren. Dies wiederum ermöglicht jene typische Kompetenzregelung, wonach die Befugnisse der Amtsträger gegenüber eigenen Untergebenen auch außerhalb des eigenen Territoriums des Amtsträgers sowie innerhalb des eigenen Territoriums auch gegenüber Fremden gelten. Dieses Regelungsmuster begegnet im geltenden Recht des CIC/1983 namentlich hinsichtlich der Dispensvollmacht im Allgemeinen (c. 91 CIC/1983) und in Bezug auf Ehehindernisse (c. 1078 § 1 CIC/1983); der Leitungsgewalt im Allgemeinen (c. 136 CIC/1983); der Befugnis der Bußkanoniker zum Straferlass (c. 508 § 1 CIC/1983); der Firmbefugnis der Bischöfe (c. 886 §§ 1 – 2 CIC/1983); hinsichtlich des Geltungsbereichs von Eheverboten (c. 1077 § 1 CIC/1983); und bezüglich der Zuständigkeit der Ortsordinarien für den Straferlass (cc. 1355 §§ 1 – 2 u. 1356 § 1 CIC/1983). Über das territoriale Kriterium des Wohnsitzes wird also eine personale Beziehung zwischen dem Amtsträger und den seiner Hirtensorge anvertrauten Gläubigen begründet, die auch außerhalb des jeweiligen Amtssprengels fortbesteht. Zugleich sorgt die Jurisdiktion über Fremde dafür, dass der Bischof in der ihm anvertrauten Teilkirche eine einheitliche kirchliche Disziplin und ein kohärentes Seelsorgekonzept verwirklichen kann. Von der vorstehend erläuterten Standardstruktur bestehen allerdings Ausnahmen in zwei Richtungen: Eine kategorische Beschränkung auf den eigenen Sprengel gilt erstens für die Zuständigkeit zur Spendung der Taufe im Normalfall (c. 862 CIC/1983); zweitens für die einem Priester kraft Amtes oder Verleihung zukommende Firmbefugnis (cc. 883, 18 u. 887 CIC/1983); sowie drittens für die Trauungsbefugnis der Ortspfarrer und Ortsordinarien (c. 1109 CIC/1983). Dabei ist unerheblich, ob Täufling, Firmling oder die Brautleute eigene Untergebene sind. Eine territoriale Entgrenzung hat der Gesetzgeber des CIC/1983 in Bezug auf die Befugnisse zur Predigt (cc. 763 – 764 CIC/1983), zur Spendung der Firmung durch Bischöfe (c. 886 CIC/1983) und zur Spendung des Bußsakraments (c. 967 §§ 1 – 2 CIC/1983) vorgenommen. Einmal erworben, gelten die diesbezüglichen Befugnisse und Vollmachten grundsätzlich überall auf der Welt, wenn auch ihre Ausübung im fremden Territorium im Einzelfall von den dort zuständigen Autoritäten verwehrt

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(und eine auf Verleihung beruhende Befugnis auch komplett widerrufen) werden kann. Indem so das kodikarische Recht – bald aus theologischen, bald aus pragmatischen Erwägungen heraus – in differenzierter Weise die Zuständigkeiten und die gebietsmäßigen Schranken der Befugnisse und Vollmachten ihrer Amtsträger festlegt, bleibt das Konzept der kanonischen Territorien oder Amtssprengel (Pfarrei, Bistum) von fundamentaler Bedeutung für eine geordnete kirchliche Verwaltungspraxis und Seelsorge.

100 Jahre persona in Ecclesia Christi Von Ulrich Rhode In seiner theologischen Doktorarbeit hat sich Ludger Müller mit dem Ingolstädter Kanonisten Franz Xaver Zech SJ (1692 – 1772) beschäftigt und – nicht ohne kritische Stellungnahme – erläutert, wie dieser seine Lehrbücher, ähnlich anderen Autoren seiner Zeit, entgegen dem klassischen Ordo decretalium nach dem römisch-rechtlichen Schema personae – res – actiones gegliedert hatte.1 Als man sich schließlich auch bei der Gliederung des CIC/1917 an diesem Schema orientierte, schien es angeraten, das Buch des Codex über die personae mit einer allgemeinen Aussage über die Personen in der Kirche zu eröffnen; auf diese Weise hielt im Jahre 1917 der Ausdruck persona in Ecclesia Christi Einzug in die kirchliche Rechtsordnung (c. 87 CIC/1917). Bei der Vorbereitung des CIC/1983 entschied man sich für die Beibehaltung dieses Ausdrucks (c. 96 CIC/1983), bei der Vorbereitung des CCEO hingegen für seine Streichung. Die Protokolle der verschiedenen Studiengruppen, in denen über die Aufnahme bzw. Streichung diskutiert wurde, liegen inzwischen nahezu vollständig vor2 und lassen zumindest annäherungsweise die Motive für die gegensätzlichen Entscheidungen erkennen. Im Folgenden soll ein Überblick über die wechselvolle Geschichte der Grundnorm3 über die persona in Ecclesia gegeben werden, die von den einen als Angelpunkt des ganzen Gesetzbuches, von anderen als überflüssig oder grotesk angesehen wurde. Auf der Grundlage dieses Überblicks ist schließlich auch zu fragen, welcher der beiden geltenden Codices die bessere Wahl getroffen hat.

1 Ludger Müller, Kirche, Staat, Kirchenrecht. Der Ingolstädter Kanonist Franz Xaver Zech SJ (1692 – 1772) (= ESt N. F. 22), Regensburg 1986, S. 51 – 53. 2 Der letzte einschlägige Bericht betrifft die 2. Sitzung der CCEO-Studiengruppe De normis generalibus et de officiis (November/Dezember 1980), in: Com 46 (2014), S. 191 – 276. 3 Der Ausdruck Grundnorm über die persona in Ecclesia soll im Folgenden den Kern der Aussagen in c. 87 CIC/1917 u. c. 96 CIC/1983 bezeichnen, also die Feststellung, dass durch die Taufe der Mensch zur persona in Ecclesia Christi wird. Der Ausdruck Grundnorm ist dabei als neutrale Beschreibung gedacht, nicht als rechtliche Kategorisierung oder Bewertung.

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I. Der Getaufte als persona gemäß c. 87 CIC/1917 1. Die Entstehung von c. 87 CIC/1917 Die Aussage, dass durch die Taufe der Mensch in der Kirche Christi zur persona wird, wurde durch c. 87 CIC/1917 in die kirchliche Rechtsordnung eingeführt.4 Die mit Quellen versehene Ausgabe des CIC/1917 gibt für diesen Canon zahlreiche Fundstellen an. Darin geht es um den Zusammenhang zwischen Taufe und Kirchengliedschaft, um die Frage der Unterworfenheit der nichtkatholischen Christen und Nichtchristen unter die Rechtsordnung der Kirche sowie um den konkreten Umgang der Kirche mit diesen Menschen, insbesondere, was die communicatio in sacris angeht. Keine der angegebenen Quellen verwendet jedoch in einem technischen Sinn den Ausdruck persona. Dass man sich bei der Vorbereitung des CIC/1917 dennoch für die Einführung einer grundlegenden Norm über die personae entschied, geht also nicht auf ältere Rechtsnormen zurück. Auch die Entwürfe5 aus der Vorbereitungszeit des CIC/1917 lassen keine Motive für die Aufnahme dieser Norm in den Codex erkennen. Der Anlass dafür ist aber offensichtlich,6 nämlich die Gliederung des Codex, für die man sich entschieden hatte, entsprechend dem altrömischen Schema: personae – res – actiones, das für den Codex dann noch etwas erweitert wurde. Ähnlich wie der jeweils erste Canon des dritten bis fünften Buches des CIC/1917 Definitionen der Begriffe res, iudicium und delictum lieferte, lag es auf der Hand, dass der erste Canon des zweiten Buchs („De personis“) mit einer grundlegenden Aussage über die personae beginnen sollte. Die Formulierung der Grundnorm über die persona in Ecclesia konnte sich zwar nicht auf frühere Rechtsnormen, wohl aber auf entsprechende Darlegungen in den kanonistischen Lehrbüchern der vorausgegangenen Zeit stützen. Etliche Autoren, angefangen mit Giovan Paolo Lancelotti („Institutiones iuris canonici“ [1563]), hatten sich, da ihnen der klassische Ordo decretalium (iudex – iudicium – clerus – sponsalia – crimen) für die Darstellung des kanonischen Rechts inzwischen ungeeignet schien, für eine Gliederung entschieden, die sich in der einen oder anderen Weise an Justinian und über ihn letztlich an dem römischen Juristen 4

Vgl. Giuseppe Forchielli, Precisazioni sul concetto di „persona“ nel diritto canonico, in: Acta congressus internationalis iuris canonici, Roma 1953, S. 127 – 129, hier S. 129: „Veramente la parola ,persona‘ nel senso di ,soggetto del diritto‘ non ha una storia nel diritto canonico e neppure nella teologia. Neppure la formula ,soggetto del diritto‘, ,subiectum iuris‘ ha una storia nel diritto canonico e nella teologia. Nel linguaggio giuridico del diritto canonico entrano queste formule soltanto con la codificazione del 1917. La loro storia si svolge al di fuori della Chiesa, almeno come sviluppo di formulazione normativa.“ 5 Die betreffenden Canones der Entwürfe für c. 87 CIC/1917 sind abgedruckt bei Pedro Lombardía, Contribución a la teoría de la persona física en el ordenamiento canónico, in: IusCan 29 (1989), S. 11 – 106, hier S. 50, Anm. 66. 6 Ebenso: Lombardía, Contribución (Anm. 5), S. 54; Renato Coronelli, Incorporazione alla Chiesa e Comunione. Aspetti teologici e canonici dell’appartenenza alla Chiesa, Rom 1999, S. 27; José Bernal, „Persona in iure canonico“. La personalidad física o la dimensión técnicocanónica de la subjetividad en el pensamiento de Pedro Lombardía, in: Fl 8 (1998), S. 13 – 85, hier S. 54.

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Gaius orientierte. Die neue Gliederung hatte zur Folge, dass sich im Laufe der Zeit immer mehr Autoren in ihren Lehrbüchern zu Beginn des Teils über die personae nähere Gedanken über die Bestimmung dieses Begriffs machten. Die Ergebnisse dieser Überlegungen waren höchst unterschiedlich. Den weitesten Inhalt hatte der Begriff bei jenen Autoren, die den Ausdruck personae als Synonym für homo verwendeten und die unter den personae folglich zunächst zwischen Getauften (fideles) und Ungetauften (infideles) unterschieden.7 Die Mehrzahl der Autoren wollte aber zwischen homines und personae unterscheiden und erläuterte dazu den Begriff persona im Sinne eines Subjekts von Rechten und Pflichten. Die Autoren, die den Ausdruck persona in diesem Sinn verwendeten, hatten diesen Sprachgebrauch offensichtlich aus der Rechtswissenschaft ihrer Zeit übernommen. Auf der Grundlage des Verständnisses von persona als Rechtssubjekt nahmen einige Autoren die Entscheidung des CIC/1917 vorweg, den Begriff personae den Getauften vorzubehalten.8 Mitunter wurden den personae aber auch die Katechumenen hinzugezählt.9 Häufig fand sich aber auch die Position, dass der Begriff personae nicht die nichtkatholischen Christen (nach damaliger Auffassung: die Häretiker und Schismatiker) und auch nicht die exkommunizierten Christen einschließe.10 Eine mittlere Position unter7

Ilario Filiberto Pateri, Trattato elementare di diritto ecclesiastico, Torino 1864, S. 117: „Distinguono gli scrittori di Diritto ecclesiastico le persone in infedeli e fedeli.“; Giuseppe C. Ferrari, Summa institutionum canonicarum, 1. Bd., Genuae 18894, S. 68: „Juxta Sacros canones personae dividi possunt: 18 in fideles, et infideles.“; Petrus De Brabandere, Juris canonici et juris canonico-civilis compendium, 1. Bd., Brugis 18986, S. 142: „Ast usu factum est, ut personae nomine jam intelligatur quilibet homo […] Personae dividi possunt in fideles et infideles.“ 8 Giuseppe Ferrante, Elementa juris canonici, Romae 1876, S. 15: „Personae quas jus canonicum respicit; sunt eae quae Ecclesiam ingressae sunt, ejusque subjiciuntur potestati. Sunt igitur solum Christiani, hi nempe, qui Baptismi receptione Christi fidem professi sunt, Ecclesiaeque membra evaserunt.“; Mariano De Luca, Praelectiones iuris canonici, Liber de personis, Romae 1897, S. 3: „[…] personarum nomine veniunt quotquot ingressi sunt in Ecclesiam, subiecti scilicet huius legibus […] Quo sensu a persona excluduntur omnes et soli infideles […].“ 9 Giovanni Soglia, Institutiones juris publici et privati, Buscoduci 1857, S. 1: „Tres sunt Personarum status, qui Ecclesiae corpus constituunt, nempe Clerici, Laici, et Cathecumeni […].“ 10 Giuseppe Maria De Camillis, Institutiones juris canonici, 1. Bd., Parisiis 1868, S. 174 f.: „Tria sunt elementa quae statum seu personam christiani hominis determinant jure ecclesiastico, sicut tria sunt vincula externa quibus societas christianorum colligatur: 18 eorundem sacramentorum consortium, 28 ejusdem fidei professio, 38 ejusdem fraternae dilectionis communio, cujus vi christiani omnes velut unam Christi familiam in terris constituunt. Ergo quousque haec tria unitatis vincula non habentur, aut haec tria communionis elementa non conservantur, quisque ut christianus in jure canonico non habetur, si unum aut alterum amiserit tantummodo, personam habuit christiani hominis, set velut capite diminutus personam amplius non habere jure nostro censetur. In primo casu sunt infideles omnes qui in nullo ex his elementis communicant. Sunt et fideles ipsi qui […] inter catechumenos remanent. Hi omnes non sunt personae in jure ecclesiastico. Ad alteram categoriam spectant haeretici qui fidei professionem, schismatici qui charitatis consortium, excommunicati qui sacramentorum participationem perdiderunt. Hi omnes christiani sunt, sed personam non habent in jure […]“; Carlo Lombardi, Institutiones, Romae 1901, S. 173: „Sunt in primis personae physicae, et in

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schied zwischen personae de jure, wozu alle Getauften gehörten, und personae de facto, zu denen nicht die Apostaten, Häretiker, Schismatiker und Exkommunizierten gehörten.11 Noch ein anderer Sprachgebrauch fand sich bei jenen Autoren, die sich in dem jeweiligen Abschnitt ihres Lehrbuchs mit den personae ecclesiasticae befassten und mit diesem Ausdruck auf die Kleriker und Religiosen bezogen.12 Vor dem Hintergrund des vielfältigen Sprachgebrauchs der vorausgegangenen kanonistischen Literatur erfolgte durch c. 87 CIC/191713 eine klare Festlegung: Als personae in der Kirche Christi galten fortan all diejenigen, die durch die Taufe in sie eingegliedert waren. Die Begründung für diese Festlegung geht aus dem Wortlaut des Canons recht deutlich hervor: Das Kriterium für die Stellung einer persona ist der Besitz der den Christen eigenen Rechte und die Bindung an die den Christen auferlegten Pflichten (cum omnibus christianorum iuribus et officiis). In Übereinstimmung mit etlichen Lehrbüchern der vorausgegangenen Zeit hat der Ausdruck persona also auch in c. 87 CIC/1917 eine rechtlich-technische Bedeutung: Er meint das Rechtssubjekt im Sinne eines Trägers von Rechten und Pflichten. Anders gesagt: C. 87 beschrieb die Rechtssubjektivität der Getauften.14 Auf die besondere Rechtsstellung der nichtkatholischen Christen, der Häretiker und Schismatiker sowie der mit Kirchenstrafen belegten Gläubigen nahm die abschließende Klausel von c. 87 CIC/1917 Bezug: Auch diese Menschen sind zwar personae in der Kirche Christi; die einem Christen eigenen Rechte kommen ihnen aber nur insoweit zu, als dem nicht eine das Band der kirchlichen Gemeinschaft behindernde Sperre (obex, eccle-

hunc censum referendi sunt omnes et singuli baptizati, qui tamen haeretici aut schismatici, aut excommunicati (saltem vitandi, nam de toleratis est quaestio) non sint.“ 11 Sebastiano Sanguinetti, Iuris ecclesiastici privati institutiones, Romae 18902, S. 116: „Statuto personae iuridico conceptu, si quaeramus quaenam personae ad Ius Ecclesiasticum pertineant, illud in primis animadvertendum est, personas quas Ius Canonicum respicit eas esse quas Ecclesiam ingressi sunt eiusque subiiuntur potestati […] Iure autem quam vis neutiquam facto Ecclesiae subiciuntur haeretici, schismatici aliique etiam apostatae qui per susceptum baptismum membra Ecclesiae evaserunt.“; Guglielmo Sebastianelli, Praelectiones Juris canonici, Romae 1905, S. 5: „Omnes autem baptizati, quamvis de iure dici possunt personae, nihilominus de facto tales non sunt, si semel Ecclesiae adscripti, ex eius corpore fuerint eiecti, uti apostatae, haeretici, schismatici, atque excommunicati saltem vitandi.“ 12 Dominikus Prümmer, Manuale iuris ecclesiastici, 1. Bd., Friburgi Brisgoviae 1909, S. 97: „Persona ecclesiastica autem non tantum significat clericum, sed etiam personas religiosas omnes utriusque sexus.“ 13 C. 87 CIC/1917: „Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona cum omnibus christianorum iuribus et officiis, nisi, ad iura quod attinet, obstet obex, ecclesiasticae communionis vinculum impediens, vel lata ab Ecclesia censura.“ 14 Verglichen mit dem Begriff Rechtsfähigkeit kann der Ausdruck Rechtssubjektivität zumindest andeutungsweise darauf hinweisen, dass der Mensch durch die Taufe nicht nur die Fähigkeit zum Besitz von Rechten und Pflichten, sondern tatsächlich die Rechte und Pflichten eines Christen erwirbt; vgl. Klaus Mörsdorf, Persona in Ecclesia Christi, in: AfkKR 131 (1962), S. 345 – 393, hier S. 370.

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siasticae communionis vinculum impediens) oder eine Kirchenstrafe (lata ab Ecclesia censura) entgegensteht.15 2. Rechtliche Folgen von c. 87 CIC/1917 Rechtliche Folgen zog c. 87 CIC/1917 für die Frage nach sich, ob (getaufte oder ungetaufte) Nichtkatholiken vor kirchlichen Gerichten als Kläger auftreten konnten. Das Heilige Offizium gab im Jahre 1928 auf diese Frage eine zweiteilige Antwort:16 Einerseits wurde die Frage negativ beantwortet, unter Hinweis auf die Bestimmungen des CIC/1917, insbesondere auf c. 87 CIC/1917. Andererseits sei aber, wenn für die Zulassung eines nichtkatholischen Klägers besondere Gründe vorlägen, in den einzelnen Fällen an das Heilige Offizium zu rekurrieren. Die Antwort erscheint widersprüchlich. Durch die Ausnahmemöglichkeit behielt sich das Heilige Offizium offensichtlich das Recht vor, in einzelnen Fällen die Übernahme der Klägerrolle zu ermöglichen. Das stellte aber vor die Frage, wie eine solche Zulassung möglich sein konnte, wenn c. 87 CIC/1917 doch die Rechtssubjektivität von Ungetauften ausschloss.17 Durch eine im Jahre 1973 vom Papst bestätigte Entscheidung der Kommission zur Auslegung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde der Ausschluss der (getauften und ungetauften) Nichtkatholiken für nicht mehr gültig erklärt.18 Seit dieser Entscheidung hatte c. 87 CIC/1917 keine rechtlichen Folgen mehr.19

15 Darüber hinaus dürfte auch die Verwendung des – im Codex nur hier anzutreffenden – Ausdrucks Ecclesia Christi darauf Bezug genommen haben, dass es Christen gibt, die sich nicht der katholischen Kirche zugehörig fühlen: Während der Codex im Allgemeinen nicht zwischen der Ecclesia und der Ecclesia catholica unterschied, deutete die Verwendung des Ausdrucks Ecclesia Christi in c. 87 CIC/1917 vorsichtig eine Unterscheidung an zwischen der Ecclesia Christi, zu der alle Getauften gehören, und der v. a. im Eherecht erwähnten Ecclesia catholica (cc. 100 § 1, 1070 § 1, 1099 § 1, 18 u. § 2, 1206 § 1, 1495 § 1 u. c. 2319 § 1, 28 CIC/ 1917), der die nichtkatholischen Christen nicht angehörten. 16 SC Off, Responsum vom 27. 01. 1928, in: AAS 20 (1928), S. 75: „Utrum in causis matrimonialibus acatholicus, sive baptizatus sive non baptizatus, actoris partis agere possit. – Negative, seu standum Codici I. C., praesertim can. 87. Siquidem autem speciales occurrant rationes ad admittendos acatholicos ut actores in huismodi causis, recurrendum ad Supremam Sacram Congregationem Sancti Officii in singulis casibus.“ Das Responsum wurde der Sache nach auch in die Eheprozessordnung von 1936 aufgenommen; s. Art. 35 § 3 EPO. 17 Auffällig ist – ohne dass das hier für die weiteren Überlegungen von Belang wäre – außerdem, dass das Responsum sich sowohl auf Ungetaufte als auch auf nichtkatholische Christen bezog. Letztere gehörten aber gemäß c. 87 CIC/1917 zu den personae in Ecclesiae; diese Bestimmung allein lieferte also keine ausreichende Grundlage, um ihnen das Klagerecht abzusprechen. 18 PCDecrI, Responsum vom 08. 01. 1973, in: AAS 65 (1973), S. 59. 19 Weiter unten (s. II.2) wird dargelegt, dass c. 96 CIC/1983 keine rechtliche Folgen hat. Analog lässt sich dieselbe Argumentation seit der Entscheidung von 1973 auch auf c. 87 CIC/ 1917 übertragen.

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3. C. 87 CIC/1917 in der kanonistischen Diskussion Die Lehrbücher zum CIC/1917 schickten der Auslegung von c. 87 CIC/1917 häufig allgemeine Erläuterungen zum Begriff der Person voraus. Dazu erklärten sie, dass dieser Begriff auch im weltlichen Rechtsbereich ein Subjekt von Rechten und Pflichten bezeichne. Indirekt gaben sie damit zu erkennen, dass sie den durch c. 87 CIC/ 1917 in die kirchliche Rechtsordnung eingeführten Sprachgebrauch im Lichte der Gegenüberstellung von kirchlichem und weltlichem Recht verstanden. Die durch c. 87 CIC/1917 getroffene Festlegung, wonach zu den personae in der Kirche alle Getauften gehörten, fand in den ersten Jahrzehnten nach der Promulgation des CIC/1917 ungeteilte Zustimmung. Von bedeutenden Autoren wurde sie sogar als im ius divinum begründet angesehen: Es sei der Wille Christi, dass aus der Taufe die Rechtsstellung einer persona in der Kirche hervorgehe.20 Die Tatsache, dass trotz ihrer eingeschränkten Rechtsstellung auch die nichtkatholischen Christen als personae in Ecclesia Christi galten, wurde damit gerechtfertigt, dass sie gleichwohl der Gewalt der Kirche unterstehen.21 Hinsichtlich ihrer Rechte wurde vorgetragen, den Häretikern usw. sei zwar der Gebrauch (usus sive exercitium) oder die Ausübungsvollmacht der Rechte (facultas agendi) untersagt; eine grundlegende Befähigung (radicalis capacitas) zur Ausübung der Rechte bleibe aber erhalten.22 Was die Rechtsstellung aller Menschen – auch der Ungetauften – angeht, betonten die Autoren häufig, dass in der natürlichen Ordnung jedem Menschen die Rechtsstellung einer Person zukommt und dass die mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte auch in der Kirche zu achten sind.23 Diese Rechte würden aber nicht als kanonische Rechte und daher nicht als Teil der kirchlichen Rechtsordnung angesehen. Im Hinblick auf die Rechte der Ungetauften meldeten sich allerdings, angefangen mit einem kurzen im Jahre 1942 erschienenen Beitrag von Pio Ciprotti,24 zunehmend 20 Gommarus Michiels, Principia generalia de personis in Ecclesia, Parisiis 19552, S. 14 f.: „Baptismus […] est […], et hoc quidem non ex Ecclesiae statuto sed ex voluntate divina ipsius Ecclesiae Fundatoris, vera radix ex qua oritur, verus titulus juridicus cui proxime innititur, vera causa efficiens qua producitur personalitas juridica in Ecclesia, factum juridicum quo homo ,constituitur‘ seu fit, quod ante Baptisma non fuit, subjectum jurium et officioum specificorum, videlicet canonicorum, ab iis qui ipsi ex nativitate naturali qua homini competunt essentialiter diversorum.“ 21 Z. B. Felice M. Cappello, Summa iuris canonici, 1. Bd., Romae 1928, S. 166; Franz Xaver Wernz/Pedro Vidal, Ius Canonicum, 2. Bd., Romae 1923, S. 3. 22 Z. B. Felice M. Cappello, Summa (Anm. 21), S. 167; Wernz/Vidal, Ius Canonicum (Anm. 21), S. 3. 23 Vgl. etwa Arthur Vermeersch/Joseph Creusen, Epitome iuris canonici, 1. Bd., Romae 1929, S. 135: „Personalitatem quam natura omni homini dedit, nulla alia persona, nulla societas ignorare vel neglegere potest. Itaque, pro Ecclesia, sicut hodie pro omni civitate, quilibet homo est persona.“ 24 Pio Ciprotti, Personalità e battesimo nel diritto della Chiesa, in: DirE 53 (1942), S. 273 – 276, hier S. 273: „Ma in realtà, se con il battesimo l’uomo diventa sì membro della società ecclesiastica, non acquista la personalità o capacità giuridica, bensì soltanto la completa.“; vgl. ders., Lezioni di diritto canonico, Padova 1943, S. 170: „La Chiesa infatti riconosce […] la

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Stimmen, die auch im kanonischen Rechtsbereich die Beschränkung der Rechtssubjektivität auf die Getauften kritisch sahen.25 Die scheinbare Beschränkung der Rechtssubjektivität auf die Getauften gemäß c. 87 CIC/1917 konnte nämlich nicht übersehen lassen, dass nach dem Recht des CIC/1917 auch Ungetaufte bestimmte Ansprüche an die Kirche stellen konnten, und zwar nicht nur Ansprüche, die sich aus dem ius divinum naturale herleiten ließen, sondern auch im ius divinum positivum (z. B. Recht auf Taufe) und im ius mere ecclesiasticum (z. B. Vertragsabschluss) grundgelegte Ansprüche. Die Frage, ob womöglich bereits die in der natürlichen Ordnung verankerten Rechte dazu führen müssten, den Ungetauften Rechtssubjektivität auch in der kirchlichen Rechtsordnung zuzusprechen, führte zu ausgedehnten Diskussionen über die Frage nach dem Verhältnis von Naturrecht und kanonischem Recht; klare Lösungen zeigten sich dabei aber nicht. Angesichts dessen beriefen sich die Befürworter der Rechtssubjektivität der Ungetauften mit Vorliebe auf die in der übernatürlichen Ordnung begründeten Rechte der Ungetauften, etwa auf das Recht auf Taufe. Auf solche Argumente gestützt, trugen sie vor, dass – wenn der Ausdruck persona das Rechtssubjekt bezeichnet – in der kirchlichen Rechtsordnung auch Ungetaufte als personae bezeichnet werden müssten. Ein Teil dieser Autoren entschied sich angesichts der Überlegungen zu einer Umdeutung von c. 87 CIC/1917, so dass der Wortlaut dieser Vorschrift mit ihren Überzeugungen nicht im Widerspruch stand.26 Bei anderen Autoren stieß die behauptete Rechtssubjektivität von Ungetauften im kirchlichen Rechtsbereich jedoch auf entschiedenen Widerspruch.27 Dieser Sichtweise wurde entgegengehalten, dass den Ungetauften gerade nicht die den Christen eigenen Rechte zukämen. Wer in der Kirche keinen Verpflichtungen unterliege, capacità a talune situazioni o atti giuridici anche agli infedeli […]; sarebbe perciò falso asserire che l’ordinamento canonico non riconosce come persone gli infedeli: essi invece sono persone, ed hanno perciò una, sia pure ridotta, capacità giuridica, pur non essendo in alcun senso membri della Chiesa.“ 25 Die bislang wohl umfangreichste Literaturliste der Autoren, die sich an der Diskussion über die Rechtssubjektivität der Ungetauften beteiligt haben, findet sich bei Javier Otaduy, Persona física, in: DGDC 6, S. 172 – 179, hier S. 179. Es handelt sich fast ausschließlich um italienisch- und spanischsprachige Autoren. Überblicke über diese Autoren und ihre Argumente bieten z. B. Lombardía, Contribución (Anm. 5), S. 59 – 70; Bernal, „Persona in iure canonico“ (Anm. 6), S. 41 – 47; Pier Antonio Bonnet, Il problema della soggettività giuridica individuale nel diritto canonico, in: Studi in memoria di Mario Condorelli, 1,1 Bd. (= Università di Catania. Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza 115), Milano 1988, S. 179 – 229, 190 – 207; Pero Sudar, „Persona“ e „Persona in Ecclesia“ secondo le nuove norme canoniche, in: ED 38 (1985), S. 275 – 298, hier S. 292 – 298 (bei den beiden Aufsätzen Sudars in: ED 38 [1985] u. 39 [1986] handelt es sich um das veröffentlichte Kapitel seiner Dissertation: ders., Il concetto di ,Persona Fisica‘ e l’ordinamento della Chiesa, Roma 1986). 26 Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Umdeutung s. u. VI.1. 27 Z. B. Willy Onclin, Considerationes de iurium subiectivorum in Ecclesia fundamento ac natura, in: EIC 8 (1952), S. 9 – 23; ders., Membres de l’Église – Personnes dans l’Église, in: ACan 11 (1965), S. 11 – 32, hier S. 12 – 21; Gommarus Michiels, Principia generalia de personis in Ecclesia, Parisiis 19552, S. 15 – 18.

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könne auch keine Rechte innehaben. Rechte und Pflichten könne die Kirche nur denen zukommen lassen, die durch die Taufe in die übernatürliche Ordnung eingetreten seien. Die Handlungen der Ungetauften nehme die Kirche als bloße Tatsachen zur Kenntnis, ohne deswegen den Ungetauften die Rechtsstellung von personae zuerkennen zu können.28 In den folgenden Jahren (bis 1983) haben sich zwei Monographien ausführlich der Auseinandersetzung über die Rechtsstellung der Ungetauften gewidmet, allerdings mit gegensätzlichen Ergebnissen.29

II. Der Getaufte als persona gemäß c. 96 CIC/1983 1. C. 96 CIC/1983 in der Codexrevision a) Von der „Lex Ecclesiae Fundamentalis“ zu c. 96 CIC/1983 Im Zuge der Vorbereitung des CIC/198330 begegnet die Grundnorm über die persona in Ecclesia erstmals im ersten Vorentwurf einer „Lex Ecclesiae Fundamentalis“ (LEF) von 1966. C. 87 CIC/1917 war darin fast wörtlich übernommen.31 Im zweiten Vorentwurf von 1967 war dem Wort persona der erklärende Zusatz seu subiectum obligationum et iurium canonicorum hinzugefügt.32 Dieser Zusatz wurde im Schema von 1969 wieder gestrichen.33 In dem im Anschluss an dieses Schema abgedruckten 28

So das Ergebnis von Alfredo Gomez de Ayala, Gli infedeli e la personalità nell’ordinamento canonico, Milano 1971. 29 Für die Rechtssubjektivität der Ungetauften hat sich Pedro Lombardía in seiner im Jahre 1956 vorgelegten Dissertation ausgesprochen. Sie wurde erst posthum im Jahre 1989 veröffentlicht (Contribución; s. o. Anm. 5); vgl. dazu: Bernal, „Persona in iure canonico“ (Anm. 6). Gegen die Rechtssubjektivität der Ungetauften hat sich Gomez de Ayala, Gli infedeli (Anm. 28) ausgesprochen. 30 Die Textgeschichte von c. 96 CIC/1983 ist – ggf. zusammen mit derjenigen der übrigen Normen über die Kirchengliedschaft – schon mehrfach sorgfältig untersucht wurden; s. Georg Gänswein, Kirchengliedschaft – Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zum Codex Iuris Canonici. Zur Vorgeschichte, Erarbeitung und Interpretation der konziliaren Lehraussagen über die Zugehörigkeit zur Kirche (= MThSt.K 47), St. Ottilien 1995, S. 43 – 120 u. 167 – 209; Józef Rapacz, Personalità e soggettività nell’ordinamento canonico, Romae 1995, S. 88 – 98; Coronelli, Incorporazione (Anm. 6), S. 173 – 205; Jean Gaudemet, Persona, in: CrSt 9 (1988), S. 465 – 492. 31 S. Gänswein, Kirchengliedschaft (Anm. 30), S. 50: „Can. 3 § 2: Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona, cum omnibus christianorum iuribus et officiis, nisi, ad certa iura quod attinet, obstet obex ecclesiasticae communionis vinculum impediens, aut lata ab Ecclesia censura.“ 32 Gänswein, Kirchengliedschaft (Anm. 30), S. 62, Anm. 53: „Can. 7 § 2: Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona seu subiectum obligationum et iurium canonicorum, cum omnibus christianorum officiis et iuribus, nisi, ad certa iura, immo vel officia, quod attinet, obstet obex ecclesiasticae communionis vinculum impediens, aut lata ab Ecclesia censura.“ 33 SchemaLEF/1969, c. 6 § 2: „Baptismate homo Christo incorporatur et in Ecclesia Christi constituitur persona cum omnibus christianorum officiis et iuribus, nisi ad certa iura, immo vel

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Bericht34 erfährt man, dass ein Mitglied der zuständigen Studiengruppe vorgeschlagen habe, die Norm zu streichen, offenbar mit dem Hinweis darauf, dass die Kirche auch den Ungetauften bestimmte Rechte zuerkenne. Darauf erwidert der Bericht, dass es an dieser Stelle nicht um die Rechte aller Menschen gehe, sondern um den Menschen als Subjekt der kanonischen Pflichten und Rechte. Von den Rechten, die allen Menschen aufgrund ihrer Menschenwürde bereits in der natürlichen Ordnung zukämen, handle bereits ein anderer Canon innerhalb der LEF, nämlich c. 3 Schema LEF/1969. Die Norm über die persona in Ecclesia sei unverzichtbar; das Wort persona werde nämlich allgemein – sowohl in der moralischen als auch in der rechtlichen Ordnung – für ein Subjekt von Pflichten und Rechten verwendet. Diese Bedeutung des Wortes persona durch die im zweiten Vorentwurf hinzugefügte Erläuterung (seu subiectum obligationum et iurium canonicorum) ausdrücklich klarzustellen, sei allerdings nicht erforderlich; diese Bedeutung gehe nämlich aus dem Kontext klar hervor.35 Im Schema von 1971 blieb der Text nahezu unverändert.36 In dem hinzugefügten Bericht37 wurden zwei Reaktionen auf das Schema von 1969 erwähnt, die mit der officia, quod attinet, obstet obex ecclesiasticae communionis vinculum impediens aut lata ab Ecclesia censura.“ 34 SchemaLEF/1969, 75 f.: „Locutio ,Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona‘, quae mutuata est a Codice Iuris Canonici, can. 87 et etiam habetur in Codice orientali (Motu proprio ,Cleri sanctitati‘, 2 iulii 1957, can. 16), necessario adhibenda visa est, contra scriptam animadversionem alicuius membri Coetus centralis. Ratio est, quia vox persona universaliter accipitur, in ordine morali et in ordine iuridico, ut significans subiectum obligationum et iurium. Sane, Ecclesia recognoscit obligationes et iura, quae homo, etiam non baptizatus, ratione suae dignitatis humanae possidet, et hoc affirmatur in can. 3. Sed, ut persona, seu subiectum obligationum et iurium proprie canonicorum in Ecclesia sit, requiritur ut sit baptizatus. Haec affirmatio, in Lege Ecclesiae Fundamentali, est omnino necessaria. Ut clare appareat vocem ,persona‘ hic significare subiectum obligationum et iurium ordinis canonici, textus prius propositus haec verba habebat: ,Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona seu subiectum obligationum et iurium canonicorum, cum omnibus […]‘. Aestimarunt vero plerique Consultores hanc additionem non esse necessariam, quia sensus vocis ,persona‘ ex toto contextu apparet.“ 35 Außerdem wurden die Änderungen gegenüber dem CIC/1917, was die Formulierung über die Rechte und Pflichten angeht, erläutert: Dem Wort iura sei das Adjektiv certa hinzugefügt worden, da dem Getauften aufgrund des mit der Taufe verbundenen character indelebilis niemals sämtliche Rechte entzogen werden könnten. Schließlich sei auch ein Hinweis darauf hinzugefügt worden, dass der Getaufte, wenn ihm Rechte entzogen werden, zugleich auch von bestimmten Pflichten frei werde. 36 Schema LEF/1971, c. 6 § 2: „Baptismate homo in Ecclesia Christi constituitur persona cum omnibus christianorum officiis et iuribus, nisi ad certa iura, immo vel officia, quod attinet, obstet obex ecclesiasticae communionis vinculum impediens aut lata ab Ecclesia censura.“ 37 Schema LEF/1971, c. 133: „Notare iuvat quod, de duorum obiicientium, supprimi deberent verba ,persona constituitur‘, quia, uti arguunt, persona aliquis constituitur creatione, non baptismate. Reponi [sic] autem debet ut sequitur: certum quidem est, philosophice si res consideratur, aliquem constitui personam nativitate; iuridice vero ,persona‘ significat subiectum obligationum et iurium: iamvero baptismate homo fit subiectum obligationum et iurium

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Formulierung constituitur persona nicht einverstanden waren, und zwar mit dem Argument, die Person entstehe durch die Schöpfung, nicht erst durch die Taufe. Darauf wurde geantwortet, philosophisch gesehen werde der Mensch durch die Geburt zur Person; durch die Taufe aber werde der Mensch zum Subjekt der kanonischen Pflichten und Rechte. Auch der Vorschlag, dem Wort persona die Erläuterung seu subiectum obligationum et iurium canonicorum hinzuzufügen, wurde erneut abgelehnt; denn auch der CIC/1917 sei ohne diese Erläuterung ausgekommen, ohne dass das zu Schwierigkeiten geführt habe. Das Schema von 1976 brachte eine weitreichende Neuformulierung.38 Erstmals wurde darin als Folge der Taufe auch die Eingliederung in die Kirche genannt. Eingliederung in die Kirche und Person-Werden in der Kirche erschienen so als zwei unterscheidbare Folgen der Taufe: Theologisch gesehen wird der Getaufte Glied der Kirche, rechtlich gesehen wird er zum Subjekt von Rechten und Pflichten. Ebenfalls erstmals im Schema von 1976 fand sich auch die Konjunktion quatenus, die erkennen ließ, dass der Mangel an kirchlicher Gemeinschaft – und damit die Einschränkung der Rechte und Pflichten – unterschiedliche Grade haben kann. Im Schema von 1976 fand sich auch erstmals eine Bestimmung, die – in der Folge der vom Zweiten Vatikanischen Konzil gelehrten neuen Sicht auf die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und vergleichbar dem späteren c. 11 CIC/ 1983 – die nichtkatholischen Christen von der Verpflichtung auf die rein kirchlichen Gesetze freistellte.39 Es hätte nahegelegen, dass diese bedeutsame Änderung auch zu einer erneuten Diskussion über die grundlegende Norm über die persona in Ecclesia geführt hätte. Die Anwendung des Ausdrucks persona auch auf die nichtkatholischen Christen im CIC/1917 war in den Kommentaren ja in der Regel damit begründet worden, dass auch diese Christen den kanonischen Pflichten unterworfen waren; das sollte nun aber nicht mehr der Fall sein. Tatsächlich ist es zu einer solchen Diskussion jedoch, soweit aus den veröffentlichten Protokollen ersichtlich, nicht gekommen. Seit dem Schema von 1976 ist die Grundnorm über die persona in Ecclesia nahezu unverändert geblieben.40 Als sich abzeichnete, dass die LEF womöglich nicht promulgiert würde, wurde die Norm in die Liste derjenigen Canones aufgenommen, canonicorum. Ad vitandam confusionem, quis proposuit ut aderentur verba: ,[…] persona seu subiectum obligationum et iurium canonicorum […]‘; necessaria autem non videtur haec declaratio: etiam in Codice Iuris Canonici, can. 87 eadem habentur verba, et non praebuerunt ansam difficultatibus, quas obiicientes timent.“ 38 Schema LEF/1976, c. 5: „Baptismate homo Ecclesiae Christi incorporatur et in eadem constituitur persona, cum officiis et iuribus quae christianis, attenta quidem eorum conditione, sunt propria, quatenus in ecclesiastica sunt communione atque nisi obstet legitima sanctio.“ Diese Formulierung stand bereits in der 8. Sitzung der betreffenden Studiengruppe (April 1974) fest: s. Com 8 (1976), S. 85. 39 Schema LEF/1976, c. 7: „§ 1. Qui, Ecclesiis aut communitatibus ab Ecclesia catholica seiunctis adscripti, in Christum credunt et baptismum rite receperunt, in quadam cum Ecclesia catholica communione, etsi non plena, constituuntur […] § 2. Iidem ordinationibus mere ecclesiasticis directe obligari non intelliguntur, nisi aliud statuatur.“ 40 Schema LEF/1980, c. 5 stimmt wörtlich mit Schema LEF/1976, c. 5 überein.

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die in diesem Fall in den CIC verpflanzt werden sollten;41 sie sollte dort dann das Kapitel über die Rechtsstellung der physischen Personen eröffnen. Dementsprechend fand sich die Norm als c. 96 SchemaCIC/1982 wieder und ging von dort als c. 96 in den CIC/1983 ein. b) Die Rechtsstellung der Katechumenen Der Sache nach hatte die Grundnorm über die persona in Ecclesia eine große Bedeutung für die Beratungen über die Rechtsstellung der Katechumenen. Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil verlangt hatte, der künftige Codex solle die Rechtsstellung der Katechumenen darlegen,42 kam dieses Thema mehrfach in der Studiengruppe über die Laien zur Sprache. Sie behandelte gleich in ihrer ersten Sitzung,43 die Frage, ob der künftige Codex auch die Rechtsstellung der Katechumenen und der übrigen Ungetauften behandeln sollte. Bei der Vorstellung dieser Frage wies Willy Onclin als Leiter der Studiengruppe darauf hin, dass es sich um eine sehr schwierige Frage handle, da sie das von den Kanonisten ausgiebig behandelte Problem der physischen Person im kanonischen Recht mit sich bringe.44 Wenn auch die Stellung von Rechtssubjekten im vollen Umfang nur den Getauften zukomme, stelle sich doch die Frage, ob die Kirche auch den Ungetauften eine gewisse Form von Rechtsfähigkeit zuerkennen müsse. Drei Konsultoren45 bejahten daraufhin diese Frage. Die Ungetauften, zumindest die Katechumenen, seien zwar nicht personae in Ecclesiae; die Kirche könne und müsse ihnen aber bestimmte Rechte einräumen, so dass sie als personae in iure canonico bezeichnet werden könnten. Dem hielt Onclin entgegen, dass die Ungetauften nicht der Gewalt der Kirche unterstünden; sie unterlägen in der Kirche daher keinen Pflichten und könnten folglich in ihr auch keine Rechte (iura) besitzen, sondern nur gewisse capacitates iuridicae. Es handle sich um eine sehr grundsätzliche Frage. Daher einigte sich die Studiengruppe darauf, die Frage dem Koordinationsrat der Codexreformkommission zu unterbreiten. Ob und, wenn ja, mit welchem Ergebnis die Frage dort behandelt wurde, wird wohl im Dunkeln bleiben.

41 Relatio 1981, Appendix: Canones ,Legis Ecclesiae Fundamentalis‘ qui in Codicem Iuris Canonici inserendi sunt, si ipsa ,Lex Ecclesiae Fundamentalis‘ non promulgabitur, S. 349, c. 5 = Com 15 (1984), S. 91. 42 AG 14. 43 Studiengruppe De Laicis, 1. Sitzung (November/Dezember 1966), in: Com 17 (1985), S. 166 f. 44 Gerade Onclin selbst hatte sich an dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung beteiligt; s. Anm. 27. 45 Rosalio Castillo Lara, I doveri ed i diritti dei ,christifideles‘, in: Salesianum 48 (1986), S. 324, Anm. 55, teilt die Namen der drei Konsultoren mit. Es handelte sich demnach um Álvaro del Portillo, Stanislas Lokuang und Fernando Retamal.

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Dessen ungeachtet legte in der nachfolgenden Sitzung einer der Konsultoren den Vorschlag eines Canons über die Rechtsstellung der Katechumenen vor.46 Darin hieß es, den Katechumenen werde die Befugnis (facultas) gewährt, zur Taufe zugelassen zu werden. Was die liturgische Feier der Eheschließung und des Begräbnisses angeht, werde ihnen die Gleichstellung (aequiparatio) mit den Gläubigen gewährt. Onclin wandte ein, bei den Katechumenen handle es sich nicht um Gläubige, denen dieselbe Rechtsstellung wie den übrigen Gläubigen eingeräumt werden könne. Ein Konsultor hingegen war der Meinung, bei der Zulassung zur Taufe handle es sich nicht (nur) um eine vom Gesetzgeber gewährte Befugnis (facultas), sondern um ein wirkliches Recht (ius). Onclin entgegnete, es handle sich um eine facultas, die sich auf das ius divinum stütze, nicht aber um ein kanonisches Recht (ius canonicum). Schließlich stellte die Studiengruppe über die Laien übereinstimmend fest, dass die Rechtsstellung der Katechumenen von derjenigen der Gläubigen verschieden sei und dass man diese Frage daher der Studiengruppe über die LEF überlassen wolle. Bereits der Entwurf der LEF von 1969 sah eine entsprechende Norm vor.47 Darin war, offenbar um den Ausdruck iura zu vermeiden, von den praerogativa die Rede, die die Kirche den Katechumenen gewährt. In der fünften Sitzung der Studiengruppe über die Laien48 wies ein Konsultor darauf hin, dass die Rechte der Katechumenen zwar nicht mit denen der Getauften in eins fielen, sich aber auf sie stützten und häufig an ihren teilhätten. Onclin erwiderte, die Befugnisse und Rechte (facultates et iura) der Katechumenen darzulegen, sei Aufgabe der LEF. Der Aufforderung des Konzils, im neuen Codex die Rechtsstellung der Katechumenen zu beschreiben, versuchte man in der sechsten Sitzung der Studiengruppe über den Verkündigungsdienst49 nachzukommen; einer der Konsultoren hatte dazu den Entwurf eines Canons formuliert. Zu dessen Erläuterung wies er daraufhin, er fürchte, dass der Codex diese Rechte nicht festlegen werde, da die Katechumenen ja nicht personae in Ecclesiae seien. Das Anliegen der Konzilsväter möge dadurch gewahrt werden, dass auf die Partikulargesetzgebung verwiesen werde. Diesem Vorschlag stimmte die Studiengruppe zu. Onclin, der auch dieser Studiengruppe vorsaß, änderte den vorgeschlagenen Text allerdings so ab, dass das Wort iura durch praerogativa ersetzt wurde; er verwendete also den bereits in den Entwürfen der LEF vorgesehenen Ausdruck. Unter Verwendung dieses Ausdrucks ging die Norm nach einigen weiteren Veränderungen als c. 788 in den CIC/1983 ein.

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Studiengruppe De Laicis, 2. Sitzung (Oktober 1967), in: Com 17 (1985), S. 227 f. Schema LEF/1969, c. 8 § 2: „Catechumenorum igitur specialem curam habet Ecclesia atque, dum eos ad vitam ducendam evangelicam invitat eosque ad sacros ritus celebrandos introducit, eisdem varias iam largitur praerogativas quae christianis sunt propriae.“ 48 Studiengruppe De Laicis, 5. Sitzung (Januar 1970), in: Com 18 (1986), S. 332. 49 Studiengruppe De Magisterio ecclesiastico, 6. Sitzung (März 1971), in: Com 21 (1989), S. 291 f. 47

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In der sechsten Sitzung der Studiengruppe über die Laien50 wurde Onclin erneut auf die Rechtsstellung der Katechumenen angesprochen und antwortete, das Tor zum Erwerb kanonischer Rechte sei die Taufe; den Katechumenen kämen nur gewisse praerogativa zu. Die im LEF vorgesehene Norm über die Rechtsstellung der Katechumenen wurde – unter Beibehaltung des Ausdrucks praerogativa – schließlich zu c. 206 CIC/1983. c) Der Plan einer zusätzlichen Erwähnung in Buch I oder II des CIC Die Studiengruppe De personis physicis et iuridicis hat sich mit der Grundnorm über die persona in Ecclesia nicht befasst, weil von Anfang an klar war, dass diese Norm in die LEF eingehen sollte.51 Sie zusätzlich zur LEF auch in den Codex aufzunehmen, war jedoch in dem im Jahre 1977 veröffentlichten Schema „De Populo Dei“ vorgesehen. Für die Gliederung dieses Schemas spielte der Begriff der persona eine wichtige Rolle. Das Schema umfasste zwei Teile, mit den Überschriften „De personis in genere“ und „De personis in specie“. Der erste Teil wiederum umfasste zwei Titel, mit den Überschriften „De christifidelibus“ und „De personis iuridicis“. Der erste Titel („De christifidelibus“) war in drei Kapitel gegliedert, denen ein Canon generalis vorangestellt war, nämlich eben die Grundnorm über die persona in Ecclesia52, und zwar in der zum damaligen Zeitpunkt von der Studiengruppe für die LEF vorgesehenen Fassung.53 Ihr folgte das Kapitel „De personarum physicarum statu canonico“.54 Ebenso wie Buch II des CIC/1917 („De personis“) mit der Grundnorm über die persona in Ecclesia begonnen hatte, sollte nun also auch Buch II des CIC/ 1983 mit dieser Norm beginnen. Bei der ersten Besprechung55 der Reaktionen auf das Schema „De Populo Dei“ wurde deutlich, dass man bei dessen Gliederung zwei Sichtweisen miteinander vermischt hatte, eine eher rechtliche, die in dem Begriff persona zum Vorschein trat, und eine eher theologische, die in dem Begriff christifidelis zum Ausdruck kam. Angesichts dessen wurde vorgeschlagen, die Kapitel über die physischen und juristischen 50

Studiengruppe De Laicis, 6. Sitzung (April 1975), in: Com 18 (1986), S. 368. S. Com 6 (1974), S. 57 u. 94. 52 Schema PopDei, c. 1: „Baptismo homo Ecclesiae Christi incorporatur et in eadem constituitur persona, cum officiis et iuribus quae christianis, attenta quidem eorum condicione, sunt propria, quatenus in ecclesiastica sunt communione atque nisi obstet lata legitime sanctio.“ 53 Vgl. Com 9 (1977), S. 238: „Refertur imprimis canon fundamentalis, ex schemate Legis Ecclesiae Fundamentalis desumptus, in quo affirmatur baptismo hominem in Ecclesia Christi incorporari et constitui personam, i. e. subiectum obligationum canonicarum et iurium canonicorum“; vgl. auch Com 12 (1980), S. 56: „[…] Questo è un canone della LEF, quindi non si può modificare senza modificare anche il Canone della LEF.“ 54 Die Grundnorm über die persona in Ecclesia war also – anders als später im CIC/1983 – nicht Teil dieses Kapitels, sondern ging ihm voraus. 55 Studiengruppe De Populo Dei (Series Altera), 1. Sitzung, Oktober 1979, in: Com 12 (1980), S. 48 – 92. 51

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Personen nach Buch I zu verschieben;56 dann könne sich Buch II auf die eher theologische Sichtweise und Terminologie beschränken.57 Bei der Besprechung der Grundnorm über die persona kamen erneut verschiedene Auffassungen über die Rechtssubjektivität der Ungetauften zum Vorschein.58 Für ihre Anerkennung als Rechtssubjekte wurde vorgebracht, dass sich das Zweite Vatikanische Konzil in diesem Sinne geäußert habe. Auch der Ökumenismus verlange danach. Da jeder Mensch Kind Gottes sei, könne er auch Rechte gegenüber der Kirche beanspruchen. Die vorgebrachten Beispiele betrafen das Recht auf die Taufe, das Eherecht sowie die Prozessfähigkeit. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass auch weltliche Rechtsordnungen nicht nur den jeweiligen Staatsbürgern, sondern auch Ausländern Rechte einräumten. Die Gegenposition – wiederum vor allem von Onclin vertreten – berief sich darauf, dass nur die Taufe zum Rechtssubjekt im kanonischen Recht mache. Die Ungetauften hätten im kanonischen Recht weder Pflichten noch Rechte. Das gelte auch für die Protestanten.59 Die Menschenrechte seien keine kanonischen Rechte. Auch das vermeintliche Recht auf Taufe sei kein kanonisches Recht. Man müsse unterscheiden zwischen Rechten gegenüber der Kirche und Rechten in der Kirche. Schließlich entschied sich die Studiengruppe, dass der Codex auf die Frage der Rechtsstellung Ungetaufter nicht eingehen sollte. An diese Entscheidung schloss sich eine Diskussion darüber an, ob die als Eingangscanon des Schemas „De Populo Dei“ vorgesehene Grundnorm über die persona in Ecclesia dort erhalten bleiben sollte, oder ob es genüge, wenn diese Norm in der LEF enthalten sei.60 Für eine Beibehaltung innerhalb des Schemas „De Populo Dei“ wurde vorgebracht, diese Norm stelle den Angelpunkt (ital. cardine) des gesamten Schemas dar. Dem wurde entgegengehalten, es handle sich sogar um den Angelpunkt des gesamten Codex; die Norm solle also dem Codex vorausgehen und folglich nur in die LEF aufgenommen werden. Eine Aufnahme in den Codex sei nur erforderlich, falls die LEF nicht pro-

56 Bereits in seiner 10. Sitzung (November 1972) hatte sich die Studiengruppe über die physischen und juristischen Personen entschieden, diese beiden Kapitel nach Buch I zu verschieben; s. Com 22 (1990), S. 136. Nachdem die Studiengruppe mit derjenigen über die Allgemeinen Normen zusammengelegt worden war, entschied sie sich jedoch in ihrer 13. Sitzung (Mai 1974) für die Rückkehr dieser Kapitel nach Buch II; s. Com 23 (1991), S. 52 f. Dementsprechend sind sie im Schema PopDei von 1977 enthalten. 57 Com 12 (1980), S. 53 f.; vgl. auch Relatio 1981, S. 17 = Com 14 (1982), S. 127: „In Libro II, agitur de personis, uti membra Populi Dei, non de personis sub respectu mere iuridico.“ 58 Com 12 (1980), S. 56 – 58. Von Otaduy, Persona físcia (Anm. 25), S. 173, erfährt man, dass es Pietro Gismondi war, der in dieser Sitzung für die Rechtssubjektivität der Ungetauften eintrat. 59 Com 12 (1980), S. 56: „Il Relatore risponde che il battesimo è necessario perché un uomo diventi nella Chiesa soggetto di diritto canonico. I non battezzati non hanno né obblighi né diritti canonici. Questo vale anche per i protestanti.“ Diese Aussage über die Protestanten wirkt eigenartig; zu c. 87 CIC/1917 bzw. c. 96 CIC/1983 steht sie in einer deutlichen Spannung. 60 Com 12 (1980), S. 58.

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mulgiert würde. Dementsprechend entschied die Mehrheit, die Norm aus dem Schema „De Populo Dei“ zu streichen und nur in der LEF beizubehalten. Kurz vor Fertigstellung des SchemaCIC/1980 behandelte die Studiengruppe De Populo Dei erneut die Frage der Systematik von Buch II.61 Für das gesamte Buch wurden anstelle des Titels „De Populo Dei“ sieben andere mögliche Titel vorgeschlagen darunter „De Populo Dei personis“, „De personis“, „De personis in specie“ und „De personis in Ecclesia“. Vorgeschlagen wurde auch eine Aufteilung in zwei Bücher, deren Titel dann „De personis“ und „De organisatione ecclesiastica“ lauten könnten. Die Diskussion führte schließlich zu der Entscheidung, die beiden eher technisch-rechtlichen Kapitel über die physischen und juristischen Personen nach Buch I zu verschieben;62 dadurch trete der ekklesiologische Charakter von Buch II deutlicher hervor. Dementsprechend entschied man sich schließlich für die Beibehaltung des Titels „De Populo Dei“.63 Seitens der Mitglieder der Codexreformkommission gab es hinsichtlich der voranstehend dargestellten Entscheidungen einige kritische Reaktionen. Ein Mitglied schlug vor, dem Kapitel über die physischen Personen in Buch I die Grundnorm über die persona physica voranzustellen.64 Die Antwort lautete, das werde geschehen, falls die LEF nicht promulgiert werde. Ein anderes Mitglied schlug vor, die Kapitel über die physischen und juristischen Personen wieder nach Buch II zu verlagern,65 und schließlich schlugen sechs Mitglieder vor, an den Anfang von Buch II wieder die Grundnorm über die persona in Ecclesia zu stellen.66 Diesen Vorschlägen wurde nicht stattgegeben, unter Hinzufügung des Hinweises, dass die Normen der LEF ja nun in den Codex übernommen würden.67 2. Rechtliche Folgen von c. 96 CIC/1983 Man sollte vermuten, dass die Entfernung eines Angelpunktes im betreffenden Gebäude zu Verwerfungen führt. Damit stellt sich die Frage, zu welchen Problemen es gekommen wäre, wenn c. 96 nicht in den CIC/1983 aufgenommen worden wäre, bzw. – positiv gewendet – welches die rechtlichen Folgen dieser Norm sind. Diese Frage lässt sich auf zwei Ebenen untersuchen: Auf einer sprachlichen Ebene lässt sich fragen, welche Bedeutung c. 96 CIC/1983 für die Auslegung des Begriffs persona im CIC/1983 hat. Auf einer sachlichen Ebene ist zu untersuchen, welche Folgen c. 96 CIC/1983 für die Frage nach den Rechtssubjekten im kanonischen Recht hat. 61 8. Sitzung der Studiengruppe De Populo Dei (Series Altera), Mai 1980, in: Com 13 (1981), S. 298 – 301. 62 8. Sitzung der Studiengruppe De Populo Dei (Anm. 61), S. 301. 63 8. Sitzung der Studiengruppe De Populo Dei (Anm. 61), S. 302. 64 Relatio 1981, S. 30 = Com 14 (1982), S. 140. 65 Relatio 1981, S. 47. = Com 14 (1982), S. 154. 66 Relatio 1981, S. 49 f. = Com 14 (1982), S. 156, c. 201. 67 Relatio 1981, S. 50. = Com 14 (1982), S. 157, c. 201.

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a) Die Bedeutung von c. 96 CIC/1983 für die Auslegung des Ausdrucks persona Das Wort persona kommt im CIC/1983 etwa 230 mal vor. Eine Relevanz von c. 96 CIC/1983 für die Auslegung der betreffenden Vorschriften scheidet von vornherein aus, soweit sie sich nur auf juristische Personen beziehen oder das Wort persona in Formulierungen wie personam gerere, personam standi in iudicio habere, personam sustinere oder in persona Christi verwenden.68 An den übrigen etwa 150 Stellen bezieht sich das Wort persona entweder eindeutig auf Menschen oder als zusammenfassender Ausdruck auf physische und juristische Personen gleichermaßen. Die große Mehrzahl der betreffenden Normen lässt von ihrem Kontext oder von ihrer Zielsetzung her leicht erkennen, welche Menschen von dem Wort persona umfasst sind. In etwa der Hälfte der Normen bezieht sich das Wort persona auf alle Menschen einschließlich der Ungetauften. Das gilt nicht nur dort, wo ausdrücklich von der persona humana die Rede ist,69 sondern auch in vielen anderen Normen. Z. B. schließt die Aufforderung an die Kleriker, sich „mit der gebotenen Klugheit gegenüber Personen zu verhalten, mit denen umzugehen die Pflicht zur Bewahrung der Enthaltsamkeit in Gefahr bringen oder bei den Gläubigen Anstoß erregen könnte“ (c. 277 CIC/ 1983), offensichtlich auch ungetaufte Menschen ein. In der anderen Hälfte der Normen kommen als personae nur katholische Christen in Frage, etwa weil der betreffende Mensch Adressat einer kanonischen Strafnorm (z. B. c. 1339 § 2 CIC/1983) oder Inhaber eines Kirchenamtes (z. B. c. 155 CIC/1983) ist. Auch bei denjenigen Normen, in denen persona sowohl für eine physische als auch für eine juristische Person stehen kann, geht in aller Regel aus ihrem Kontext oder ihrer Zielsetzung hervor, dass auch Ungetaufte bzw. dass nur Katholiken betroffen sein können. Z. B. gehören zu den personae, deren Rechte in einem Gerichtsverfahren verfolgt werden können (c. 1400 § 1, 18 CIC/1983), neben den juristischen Personen und den Getauften zweifellos auch die Ungetauften (vgl. c. 1486 CIC/1983). Zu den Personen, denen der Diözesanbischof gemäß c. 1263 CIC/1983 unter bestimmten Bedingungen Steuern auferlegen darf, gehören neben den juristischen Personen offensichtlich nur Katholiken. Die (neben c. 96 CIC/1983) einzige Norm, die eindeutig alle Getauften, aber auch nur sie betrifft, ist die Norm über das Verbot der Mischehe (c. 1124 CIC/1983); auch dort ergibt sich die Reichweite des Ausdrucks personae allerdings aus der Norm selbst, nämlich aus dem hinzugefügten Adjektiv baptizatae, also nicht erst aus c. 96 CIC/1983. Als Zwischenergebnis kann festgestellt werden, dass die Bestimmung in c. 96 CIC/1983 für die Auslegung der Normen, die das Wort persona verwenden, zumindest weithin unerheblich ist. Zweifelsfälle könnten – jedenfalls auf den ersten Blick – innerhalb des CIC/1983 wohl nur die grundlegenden Bestimmungen über die juris68

Personam gerere: cc. 238 § 2, 393, 363 § 2, 532 u. 543 § 2, 38 CIC/1983; persona standi in iudicio: cc. 1505 § 1, 1505 § 2, 28 u. 1620, 58 CIC/1983; personam sustinere: c. 978 § 1 CIC/1983; in persona Christi: cc. 899 § 2, 900 § 1 u. 1009 § 3 CIC/1983. 69 cc. 217, 618, 747 § 2, 768 § 2, 795 u. 807 CIC/1983.

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tischen Personen in c. 115 §§ 1 u. 3 CIC/1983 darstellen. Gemäß c. 115 § 1 CIC/1983 sind juristische Personen in der Kirche entweder Gesamtheiten von Personen oder von Sachen. Mit Berufung auf c. 96 CIC/1983 ließe sich vortragen, dass die physischen Personen, die zu einer juristischen Person gehören, zwar auch nichtkatholische Christen, aber jedenfalls nur Getaufte sein können. Ähnlich ließe sich vortragen, dass zu den physischen Personen, die gemäß c. 115 § 3 CIC/1983 eine selbständige Stiftung leiten, gemäß c. 96 CIC/1983 zwar auch nichtkatholische Christen, aber keine Ungetauften gehören können. Soweit diese Frage in der Literatur überhaupt angesprochen wird, sind sich die Autoren in der Frage, ob die Zugehörigkeit eines Ungetauften zu einer juristischen Person möglich ist, allerdings nicht einig.70 Ein Ausschluss Ungetaufter von allen juristischen Personen entspricht jedenfalls nicht der Praxis der Kirche. Als Beispiel sei eine Kirchliche Universität genannt, der Rechtspersönlichkeit verliehen wurde. Als Gemeinschaft der Lehrenden und Studierenden und ggf. weiterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter handelt es sich dabei um eine universitas personarum. Unter den Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und in Einzelfällen auch unter den Lehrenden können auch Ungetaufte sein. Im Ergebnis ist mithin festzustellen, dass auch c. 115 CIC/1983, was die Anwendung von c. 96 CIC/1983 angeht, keine Ausnahme darstellt. Die Grundnorm über die personae in Ecclesiae ist für die Auslegung der Normen, die das Wort persona verwenden, unerheblich. b) Die Bedeutung von c. 96 CIC/1983 für die Frage, wer im kanonischen Recht als Rechtssubjekt in Frage kommt Nun handelt es sich allerdings bei c. 96 CIC/1983 schon von der Formulierung her nicht um eine Legaldefinition. C. 96 CIC/1983 formuliert ja nicht: „Unter dem Ausdruck persona (in Ecclesia) versteht man […]“; vielmehr stellt diese Norm von der Sache her klar, wer in der Kirche die Rechtsstellung einer persona, also eines Rechtssubjekts innehat. Die Frage nach den rechtlichen Folgen von c. 96 CIC/1983 betrifft demgemäß im Prinzip nicht nur diejenigen Normen (innerhalb oder außerhalb des Codex), die den Ausdruck persona verwenden, sondern überhaupt alle Normen des kanonischen Rechts, in denen Rechtssubjekte vorkommen. Ebenso wie die Normen, die das Wort persona enthalten, lassen sich demgemäß auch alle übrigen Nor-

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Dass nur Getaufte in Frage kommen, vertritt Michael Benz, in: Antonio Benlloch Poveda (Hrsg.), Código de derecho canónico, Valencia 19932, S. 75: „Así pues, los miembros de una persona jurídica pueden ser tanto personas físicas, es decir, bautizados, como otras personas jurídicas.“ Die Gegenposition vertritt Helmuth Pree, c. 115, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: Juni 2000): „Vom Begriff der juristischen Person her ist es ferner nicht ausgeschlossen, daß einer persona iuridica in Ecclesia auch einzelne physische Personen angehören, die nicht in der communio plena mit der katholischen Kirche stehen bzw. die nicht getauft sind. […] Ob und inwieweit dies bei einer bestimmten Art kirchlicher juristischer Personen zulässig ist, ist nicht 115, sondern den Bestimmungen, die die betreffende Art juristischer Personen regeln, zu entnehmen.“

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men, in denen Rechtssubjekte vorkommen, daraufhin untersuchen, ob c. 96 CIC/ 1983 für ihre Auslegung von Bedeutung ist. Auch das Ergebnis einer solchen Untersuchung ist allerdings negativ. Wo es im kanonischen Recht um Subjekte von Rechten und Pflichten geht, ergibt sich der Kreis der betroffenen Menschen regelmäßig schon aus anderen Gründen, ohne dass c. 96 CIC/1983 zurate gezogen werden müsste. Am deutlichsten gilt das für die durch rein kirchliche Gesetze auferlegten Pflichten. Ihnen unterstehen nur die in c. 11 CIC/1983 genannten Gläubigen. Die übrigen personae in Ecclesia, also vor allem die nichtkatholischen Christen, sind an diese Pflichten nicht gebunden. Umgekehrt steht auch ein Teil der durch rein kirchliches Recht gewährten Rechte nur den katholischen Christen zur Verfügung. Beispiele dafür sind etwa das Recht, eine Kirche für das eigene Begräbnis zu wählen (c. 1177 § 2 CIC/1983) oder das Wahlrecht bei der Wahl zum Pfarrgemeinderat. Wenn bestimmte vom rein kirchlichen Recht genannte Rechte auch nichtkatholischen Christen eingeräumt werden, ergibt sich das aus den jeweiligen Rechtsnormen – z. B. über die Möglichkeit, einen Ablass zu erwerben (c. 996 § 1 CIC/1983), oder über die Möglichkeit, Taufpate zu werden (DirOec/1993, Nr. 98 b) –, ohne dass dazu c. 96 CIC/1983 zurate gezogen werden müsste. Was die von den Normen des ius divinum betroffenen Rechtssubjekte angeht, ist zwischen dem ius naturale und dem ius divinum positivum zu unterscheiden. Die Normen des ius naturale betreffen alle Menschen; c. 96 CIC/1983 ist insoweit ohne Belang. Demgegenüber deckt sich der Kreis der personae in Ecclesiae gemäß c. 96 CIC/1983 in der Tat mit dem Kreis derjenigen Rechtssubjekte, für die die Normen des ius divinum positivum gelten, jedenfalls soweit es darin nicht um eine bestimmte näher eingegrenzte Personengruppe geht, etwa die Kleriker oder die Bischöfe. So kommen die Pflicht und das Recht, das Evangelium zu verkünden (c. 211 CIC/1983), sicherlich auch den nichtkatholischen Christen zu. Zu diesem Ergebnis müsste man aber auch dann gelangen, wenn c. 96 CIC/1983 nicht in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen worden wäre. 3. C. 96 CIC/1983 in der kanonistischen Diskussion a) Die Position von c. 96 CIC/1983 innerhalb des Gesetzbuches Neben dem Inhalt von c. 96 CIC/1983 diskutieren die Autoren auch die Position der Norm innerhalb des Gesetzbuches. Es wird vorgetragen, die Norm stehe innerhalb des Codex nicht an der richtigen Stelle. Sie stehe nämlich nicht in einem notwendigen Zusammenhang mit den nachfolgenden Normen;71 sie gehöre eher zu den 71

Gänswein, Kirchengliedschaft (Anm. 30), S. 10: „Unter gesetzessystematischer Perspektive ist im Hinblick auf c. 96 zu fragen, warum der Gesetzgeber diese Bestimmung, die von herausragender verfassungsrechtlicher Bedeutung ist, in das Buch I ,De normis generalibus‘ eingeordnet hat, da sie strenggenommen keinen notwendigen Zusammenhang mit den ihr nachfolgenden Normen aufweist.“

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einleitenden Normen von Buch II des Codex.72 Dem wird entgegengehalten, c. 96 CIC/1983 leiste den „Brückenschlag“ zwischen den Bestimmungen über die kanonische Rechtsstellung der Getauften und dem Verfassungsrecht.73 b) Die Rechtsstellung der Ungetauften Der Frage, ob in gewissem Grade im kanonischen Recht auch Ungetaufte als personae angesehen werden sollten, wird – verglichen mit den vorausgegangenen Jahrzehnten – seit der Promulgation des CIC/1983 weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Nach wie vor finden sich aber, ohne dass wirklich neue Argumenten vorgetragen würden, sowohl Autoren, die sich (innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung) für eine Anerkennung der Ungetauften als personae aussprechen,74 als auch Autoren, die dieser Position ausdrücklich widersprechen.75 Zwischen diesen beiden Positionen gibt es auch vermittelnde Vorschläge, etwa die Redeweise von einer „sekundären Rechtssubjektivität“76 oder einer personalitas inchoata77 der Ungetauften bzw. der Katechumenen.

72

So Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 56. So Helmuth Pree, Einführung vor 96, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: November 1995). 74 Gaetano Lo Castro, Il soggetto e i suoi diritti nell’ordinamento canonico, Milano 1985, S. 91 – 99; Rapacz, Personalità (Anm. 30), S. 147, 152 f., 195 f. u. 203 f.; ders., La persona nella Chiesa e il suo diritto, in: Ruggero Maceratini (Hrsg.), La persona nella Chiesa, Padova 2003, S. 70 – 84; Adolfo Longhitano, Il Popolo di Dio, in: Il Diritto nel mistero della Chiesa, Roma 19902, S. 11 – 65, hier S. 24 – 26; Carlo José Errázuriz Mackenna, Riflessioni sul rapporto tra battesimo e situazione giuridico-canonica della persona, in: FI 6 (1996), S. 141 – 157, bes. S. 148, Anm. 3; Bernal, „Persona in iure canonico“ (Anm. 6), S. 76 f. u. 82; Juan Fornés, Kommentar zu cc. 204 und 206, in: Comentario exegético3 2/1, S. 34, 44 u. 46; José María Vázquez Garciá Peñuela, La persona ante el ordenamiento canónico. Algunas claves de interpretación del c. 96 desde el realismo jurídico, in: Ruggero Maceratini (Hrsg.), La persona nella Chiesa, Padova 2003, S. 121 – 139; Giuseppe Comotti, Sui diritti umani nell’ordinamento canonico, in: Daimon 7 (2007), S. 71 – 98, hier S. 91 – 95. 75 Ein Teil der Autoren interpretiert c. 96 CIC 1983 ohne nähere Auseinandersetzung mit der kanonistischen Diskussion dem Wortlaut entsprechend so, dass die Stellung von Rechtssubjekten nur den Getauften zukommt. Es gibt aber auch Autoren, die sich mit der Gegenposition ausdrücklich auseinandersetzen und sie ablehnen; dazu gehören: Javier Otaduy, Quién es persona en el derecho canónico, in: FI 11 (2001), S. 65 – 87 (auch abgedruckt in: ders., Fuentes, Interpretación, Personas, Pamplona 2002, S. 401 – 423) sowie ders., Persona física (Anm. 25); Afredo Gomez de Ayala, Osservazioni sull’elemento soggettivo nella nuova codificazione canonica, in: Giovanni Barberini (Hrsg.), Raccolta di scritti in onore di Pio Fedele, 1. Bd., Perugia 1984, S. 113 – 157; Pero Sudar, Solo i battezzati sono persone nella Chiesa, in: ED 39 (1986), S. 23 – 43; Castillo Lara, I doveri ed i diritti (Anm. 45), S. 32. 76 Giuseppe Dalla Torre, C. 206, in: Pio Vito Pinto (Studium Romanae Rotae) (Hrsg.), Commento al Codice di diritto canonico, Città del Vaticano 20012, S. 114, bezogen auf die Katechumenen; vgl. ders., Infedeli, in: Enciclopedia del diritto, 21. Bd., Milano 1971, S. 416 – 426, hier S. 423. 77 Agostino Montan, I sacramenti dell’iniziazione cristiana, in: Adolfo Longhitano (Hrsg.), I sacramenti della Chiesa, Bologna 1989, S. 27, bezogen auf die Katechumenen. 73

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c) C. 96: Eine überflüssige oder sogar schädliche Norm? Hatten sich die kanonistischen Diskussionen während der Geltungszeit des CIC/ 1917 vor allem mit der Frage beschäftigt, welchen Menschen im kanonischen Recht die Stellung von personae zukommen muss, so mehren sich seit der Promulgation des CIC/1983 die Stimmen derer, die die Grundnorm über die personae in Ecclesia insgesamt für überflüssig oder gar schädlich halten. Gegen die Aufnahme dieser Norm in den Codex werden recht unterschiedliche Argumente vorgebracht: (1) Aus einer rechtstheoretischen Perspektive wird vorgebracht, dass die Norm – wie sich in der Vergangenheit gezeigt habe – zu unnötigen Auseinandersetzungen geführt habe. Es sei nicht nötig, dass der Codex die Frage beantworte, wer zu den Rechtssubjekten im kanonischen Recht gehöre; diese Frage könne der wissenschaftlichen Literatur überlassen bleiben. Es genüge, wenn der Codex den Zusammenhang zwischen der Taufe und der Kirchengliedschaft des christifidelis zur Sprache bringe, wie dies in c. 204 CIC/1983 geschehen sei; hingegen handle es sich bei c. 96 CIC/1983 um eine unnötige Doppelung.78 (2) Gegen den Inhalt von c. 96 CIC/1983 wird vorgebracht, dass auch im kirchlichen Rechtsbereich allen Menschen die Stellung von Rechtssubjekten zukomme.79 Eine Eingrenzung des Begriffs persona auf die Getauften sei daher nicht gerechtfertigt. Um sich auf die Getauften und ihre spezifische Rechtsstellung zu beziehen, genüge es, von den Ausdrücken membrum Ecclesiae oder christifidelis Gebrauch zu machen. (3) Aus ekklesiologischer Sicht wird gegen c. 96 CIC/1983 eingewandt, dass der Begriff persona auf dem Bild der Kirche als societas perfecta beruhe, das der vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgetragenen Lehre nicht gerecht werde. Die Beibehaltung der Norm sei angesichts dessen grotesk.80 78 Rapacz, Personalità (Anm. 30), S. 159: „[…] il legislatore, usando la categoria ,persona nella Chiesa‘, in realtà parla di ,fedele cristiano‘. Ci sembra che questo superfluo doppione, in quanto appunto le due categorie si equivalgono, sarebbe stato opportuno evitare“; vgl. auch ebd., S. 152 f., 158 f., 195 f. u. 203 f.; ähnlich Hubert Müller, Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici von 1983?, in: Michael Böhnke/Hanspeter Heinz (Hrsg.), Im Gespräch mit dem dreieinigen Gott. Elemente einer trinitarischen Theologie. FS Breuning (65), Düsseldorf 1985, S. 488 – 498, hier S. 488, Anm. 39: „Im übrigen ist dieser Canon im CIC 1983 völlig überflüssig, da die Kirchenzugehörigkeit in c. 205 hinreichend zum Ausdruck gebracht ist.“; vgl. auch Carl Gerold Fürst, Kirchengliedschaft und „Status“ der Gläubigen in kanonistischer Sicht, in: Richard Puza/Andreas Weiß (Hrsg.), Iustitia in caritate. FG Rößler (= AIC 3), Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 571 – 587, hier S. 575: „Auch der kirchenrechtliche ,Status‘ einer Person ist nicht unmittelbar aus der Taufe ableitbar; und unter diesem Gesichtspunkt scheint mir c. 96 nicht nur überflüssig, sondern in gewissem Sinne sogar irreführend. Erweckt er doch den Anschein, daß er über die in cc. 204 § 1 und 205 sowie den (,theologischen‘) c. 849 hinaus etwas besonderes normiert.“ 79 S. dazu I.3 u. II.3.b. 80 Müller, Communio (Anm. 78), S. 488: „Geradezu grotesk klingt c. 96, der die Kirchenzugehörigkeit, die durch die Taufe begründet wird, wie im CIC/1917 wieder durch die Wendung ,persona in Ecclesia‘ zum Ausdruck bringt. Aus theologischer Sicht kann diese

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(4) Auf einer sprachlichen Ebene sei die Redeweise von der persona in Ecclesia missverständlich, „da hier der Person-Begriff nicht wie üblich im philosophischen Sinne, sondern in einem technisch-juridischen Sinne gebraucht wird“81. (5) Die Übernahme des Person-Begriffs aus der Rechtswissenschaft sei der kirchlichen Rechtssprache unangemessen, weil der Begriff in der modernen Rechtswissenschaft weithin von einer positivistischen Sicht geprägt sei.82 Autoren, die sich mit diesen Argumenten auseinandersetzen und sich dennoch für die Beibehaltung von c. 96 CIC/1983 aussprechen, gibt es nur wenige.83

III. Das Fehlen einer vergleichbaren Norm im CCEO Durch c. 16 des Motu proprio „Cleri sanctitati“84 hatte der Inhalt von c. 87 CIC/ 1917 der Sache nach – allerdings aufgeteilt auf zwei Paragrafen – auch Eingang in das Recht der katholischen Ostkirchen gefunden. Der zweite Titel des Motu proprio trug die Überschrift „De personis physicis et moralibus“. Sein erstes, mit „De personis physicis“ überschriebenes Kapitel begann mit der Grundnorm über den Getauften als persona in Ecclesia Christi; ihm folgten, ebenso wie im CIC/1917, die Bestimmungen über das Lebensalter usw. Bei der Vorbereitung des CCEO war die zuständige Studiengruppe jedoch – genau wie die entsprechende Studiengruppe zur Vorbereitung des CIC/1983 – der Meinung, es genüge, wenn die Grundnorm über die persona in Ecclesia in der LEF enthalten wäre; nur falls die LEF nicht promulgiert würde, sollte die Norm in den künftigen Codex für die Ostkirchen aufgenommen werden.85 Einige Jahre später wurden die Bezeichnung für die ekklesiologische Wirkung des Taufsakraments nur Befremden hervorrufen […] [Ihre] Verwendung als Ausdruck der Kirchenzugehörigkeit setzt voraus, daß Kirche ähnlich wie der Staat nur als eigenständiges Rechtsgebilde oder als Gesellschaft verstanden wird.“ 81 Müller, Communio (Anm. 78), S. 488. 82 In diesem Sinne bereits zu c. 87 CIC/1917: Forchielli, Precisazioni (Anm. 4), S. 127 f. 83 Unter den Befürworten der Norm hat sich am intensivsten Otaduy mit den Argumenten der Gegner auseinandergesetzt (s. o. Anm. 75). Für eine Beibehaltung der Norm plädiert, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, ebenfalls Coronelli, Incorporazione (Anm. 6), 221 f. Ebenso, allerdings ohne eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten Remigiusz Soban´ski, „Persona“ und „christifidelis“ im CIC 1983, in: Karl-Heinz Kleber/Joachim Piegsa (Hrsg.), Sein und Handeln in Christus (= Moraltheologische Studien. Systematische Abteilung 25), St. Ottilien 1988, S. 87 – 99, hier S. 90. 84 Pius XII., MP „Cleri sanctitati“ (11. 06. 1957), in: AAS 49 (1957), S. 434 – 600, c. 16: „§ 1. Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona. – § 2. Persona in Ecclesia Christi omnibus christianorum iuribus fruitur et officiis adstringitur, nisi, ad iura quod attinet, obstet obex ecclesiasticae communionis vinculum impediens, vel lata ab Ecclesia censura.“ 85 Studiengruppe De normis generalibus, ritibus, personis physicis et moralibus, potestate ordinaria et delegata, 4. Sitzung (Februar 1977), in: Com 41 (2009), S. 449 f. mit Anm. 2 – 4 u. S. 475.

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Normen über die physischen Personen durch die Studiengruppe über die allgemeinen Normen und die Ämter jedoch erneut überprüft.86 Der Relator, Elia Jarawan, schlug vor, die Grundnorm über die persona in Ecclesia zu streichen, und zwar auch dann, falls es nicht zur Promulgation der LEF kommen sollte. Zur Begründung trug er vor, ein so allgemeiner Canon passe nicht gut in den Codex für die Ostkirchen. Er würde viele Diskussionen hervorrufen, ähnlich wie sie c. 87 CIC/1917 hervorgerufen habe. Daraus ergab sich eine lange Diskussion innerhalb der Studiengruppe über diesen Canon, und es wurden verschiedene (im Protokoll leider nicht wiedergegebene) Pro- und Contra-Argumente vorgetragen. Jarawan beantragte, zunächst noch etwas länger nachzudenken, bevor eine Entscheidung gefällt würde. Drei Tage später entschied sich die Studiengruppe nach einer erneuten Diskussion einstimmig dafür, den Canon zu streichen.87 Dementsprechend ist die Grundnorm über die persona in Ecclesia im betreffenden Schema von 1981 nicht mehr enthalten. Die Einleitung des Schemas88 erklärt dazu, die Konsultoren seien der Meinung gewesen, dass dieser Canon eine norma supracodicialis enthalte. Im Übrigen sei sie in c. 10 des Schemas über den Gottesdienst und die Sakramente, wo über die durch die Taufe bewirkte Eingliederung in die Kirche gesprochen werde, in ausreichender Weise enthalten.89 Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Canon über die Taufe, auf den dabei Bezug genommen wurde, weder das Wort persona verwendet noch sonstwie auf die Frage der allgemeinen Rechtsstellung der Getauften eingeht. Das Wort supracodicialis ist ungebräuchlich und kommt in den 31 Heften der Zeitschrift „Nuntia“, die die Vorbereitung des CCEO dokumentiert hat, nur an dieser Stelle vor. Man wird es im Lichte der von Jarawan vorgebrachten Argumente deuten müssen. Dann besagt es, dass die Grundnorm über die persona in Ecclesia von zu allgemeiner Art ist, um in das Gesetzbuch aufgenommen zu werden.

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Studiengruppe De normis generalibus et de officiis, 2. Sitzung (November/Dezember 1980), in: Com 46 (2014), S. 192 f. mit Anm. 4. 87 Studiengruppe De normis generalibus et de officiis, 2. Sitzung (Anm. 86), S. 227. 88 Schema Canonum de normis generalibus et de bonis Ecclesiae temporalibus, versandt am 30. 09. 1981, in: Nuntia 13 (1981), S. 4: „In articulo I primi capitis ,De personis physicis‘ notandum est canonem 16 CS (,Baptismate homo constituitur persona in Ecclesia‘.) in schemate iam non apparere. Consultoribus enim Commissionis visum est hunc canonem normam supracodicialem continere, quae, de cetero in canone 10 schematis ,De cultu divino et praesertim de sacramentis‘, ubi agitur de incorporatione Ecclesiae in baptismo effecta, sufficienter expressa est.“ 89 Schema Canonum de cultu divino et praesertim de Sacramentis, versandt am 02. 06. 1980, in: Nuntia 10 (1990), S. 3 – 64, hier S. 19, can. 10: „§ 1. In baptismo homines, fide in Christo, ex acqua et Spiritu Sancto, ad vitam novam regenerantur, Christum induunt et Ecclesiae, quae corpus eius est, incorporantur. – § 2. Baptismus valide confertur nonnisi aqua vera cum praescripta verborum forma per immersionem vel ablutionem. – § 3. Tantummodo baptismate in re suscepto homo fit capax ceterorum sacramentorum.“

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Aus dem Bericht90 über die Besprechung der Reaktionen auf das Schema von 1981 erfährt man, dass drei Konsultationsorgane mit der Auslassung der Grundnorm über die persona in Ecclesia nicht einverstanden waren und verlangten, dass sie wieder den Normen über die physischen Personen in der Kirche vorangestellt würde. Der Bericht ergänzt, diesbezüglich warte man nun die Entscheidung über das Projekt der LEF ab, in der die Norm als c. 5 enthalten sei. In der Folgezeit spielte die Norm bei der weiteren Vorbereitung des Codex für die Ostkirchen keine Rolle mehr. Entsprechend der Entscheidung der Studiengruppe aus dem Jahre 1980 wurde sie, auch nachdem klar war, dass die LEF nicht promulgiert wurde, nicht in den CCEO aufgenommen.

IV. Zusammenfassung Der Ausdruck persona in c. 87 CIC/1917 meinte das Rechtssubjekt. Bis zur Promulgation des CIC/1917 gab es in der kirchlichen Rechtsordnung keine allgemeingültigen Normen darüber, wem im kanonischen Recht die Stellung von Rechtssubjekten zukommt. Die Aufnahme einer solchen Norm in den CIC/1917 entsprang, wie es scheint, auch nicht primär dem Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Klärung der Frage der Rechtssubjektivität. Ausschlaggebend dürfte vielmehr der Wunsch gewesen sein, nach der Entscheidung, den Codex nach dem Schema personae – res – actiones zu gliedern, die entsprechenden Bücher jeweils mit einer Grundsatznorm über ihren jeweiligen Gegenstand einzuleiten. Zur Beantwortung der Frage, wem im kanonischen Recht die Stellung eines Rechtssubjekts zukommt, konnte man bei der Vorbereitung des CIC/1917 auf die kanonistische Literatur der damaligen Zeit zurückgreifen. Sie hatte diese Frage allerdings sehr unterschiedlich beantwortet, was die Rechtsstellung der Ungetauften im Allgemeinen, der Katechumenen und der nichtkatholischen Christen angeht. Dass der CIC/1917 die Stellung von personae allen Getauften, aber auch nur ihnen zusprach, lässt sich dennoch leicht begründen. Eine Beschränkung auf einen Teil der Getauften hätte sich nicht leicht mit der damaligen Sichtweise vereinbaren lassen, wonach auch die nichtkatholischen Christen durch die Taufe letztlich in die eine Kirche Jesu Christi, die mit der katholischen Kirche identifiziert wurde, eingegliedert wurden, mit der Folge ihrer Unterstellung unter die Autorität der katholischen Kirche. Die Beschränkung auf den Kreis der Getauften lässt sich hingegen mit der dem Projekt der Kodifizierung des kanonischen Rechts zugrundeliegenden Gegenüberstellung von weltlichem und kanonischem Recht und damit der Gegenüberstellung von Kirche und Staat erklären, die ihrerseits von den Lehren des Ius Publicum Ecclesiasticum geprägt war: Wie die Staaten das für ihre Staatsbürger geltende Recht in den neuzeitlichen Kodifizierungen zusammengestellt hatten, fasste die Kirche, die gleichermaßen die Stellung einer socie90 Die Beratung fand im September 1982 statt; s. Nuntia 18 (1984), S. 5. Das Protokoll der Sitzung, veröffentlicht in: Com 47 (2015), S 159 – 220, geht auf die Grundnorm über die persona in Ecclesia nicht ein.

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tas iuridice perfecta beanspruchte, in ihrem Codex das für die ihr angehörenden Menschen, also die Getauften, geltende Recht zusammen. Im Laufe der Zeit ist die Grundnorm über die persona in Ecclesia in der Kanonistik jedoch auf Widerspruch gestoßen. Ein Teil der Autoren vertrat nämlich die Auffassung, dass bis zu einem gewissen Grad auch ungetauften Menschen bestimmte Rechte innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung zukommen. Während der Codexreform war die Beibehaltung der Grundnorm über die persona in Ecclesia in erster Linie in den Entwürfen für die LEF vorgesehen; nur vorübergehend war geplant, sie zusätzlich an den Anfang des Buches über das Volk Gottes zu stellen. Während der Reformarbeiten wurde erneut vorgeschlagen, auch die Ungetauften als personae anzuerkennen, da auch ihnen innerhalb der kanonischen Rechtsordnung bestimmte Rechte zukommen; diese Position konnte sich aber nicht durchsetzen. Die Freistellung der nichtkatholischen Christen von den rein kirchlichen Gesetzen hatte auf die Diskussion um den Begriff der persona in Ecclesia keine Auswirkungen. Die Gleichsetzung der personae in Ecclesiae mit den Getauften blieb in c. 96 CIC/1983 erhalten. Für die Beantwortung der Frage, wie der Kreis der von einer bestimmten Norm des kanonischen Rechts betroffenen Menschen näher zu bestimmen ist, ist c. 96 CIC/1983 ohne Bedeutung. Zwar decken sich die Rechtssubjekte einiger weniger kanonischer Normen genau mit dem von c. 96 CIC/1983 bestimmten Kreis der personae in Ecclesiae. Dass es in solchen Normen um die Pflichten und/oder Rechte aller Getauften geht, zeigt sich bei der Auslegung dieser Normen allerdings bereits aus anderen Gründen und nicht erst aufgrund einer Heranziehung von c. 96 CIC/1983. Am Umfang der Pflichten und Rechte, die den einzelnen Menschen entsprechend ihren verschiedenen Stellungen – als Katholiken, Protestanten, Orthodoxen, Katechumenen oder anderen Ungetauften – zukommen, hätte sich nichts geändert, wenn c. 96 CIC/1983 nicht in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen worden wäre.91 Die Grundnorm über die personae in Ecclesia hat keine rechtlichen Folgen. Dass der CCEO keine Grundnorm über die persona in Ecclesia enthält, ist nicht Folge einer Nachlässigkeit, sondern geht auf eine ausdrückliche, einstimmig gefällte Entscheidung der betreffenden Studiengruppe zurück. Ebenso wie bei der Vorbereitung des CIC hatte die Grundnorm über die persona in Ecclesia auch bei der Vorbereitung des CCEO zu ausgiebigen Diskussionen geführt. Die Diskussionen waren jedoch anderer Art: Bei der Vorbereitung des CIC drehten sich die Diskussionen vor allem um die Frage, wie der Kreis der Rechtssubjekte des kanonischen Rechts genauer abgegrenzt sein sollte. Hingegen ging es bei der Vorberei91

Vgl. Lombardía, Contribucion (Anm. 5), S. 48: „Si este canon no hubiese sido incluido en el Codex (hipótesis perfectamente imaginable porque, por ser una mera declaración doctrinal, no es imprescindible), probablemente los autores que siguen el método exegético no hubieren sentido la necesidad de hablar de personalidad, como no la sintió la inmensa mayoría de la literatura canónica anterior al Codex.“

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tung des CCEO vor allem um die Frage, ob die Norm überhaupt in das künftige Gesetzbuch aufgenommen werden sollte oder nicht. In beiden Fällen kam das Ergebnis der Diskussion – diesen Eindruck erwecken jedenfalls die veröffentlichten Berichte – vor allem durch das Engagement jeweils eines Einzelnen zustande: In den drei zuständigen Studiengruppen für den Codex der lateinischen Kirche hat der Moderator aller drei Gruppen, Willy Onclin, immer wieder klargemacht, dass nur die Getauften Rechtssubjekte im kanonischen Recht sein könnten, und hat sich mit dieser Position auch immer wieder durchgesetzt. In der zuständigen Studiengrupe für das Recht der katholischen Ostkirchen hat der Relator, Elia Jarawan, die Konsultoren von seiner Ansicht überzeugen können, dass es besser wäre, die Grundnorm über die persona in Ecclesia nicht in den künftigen Codex aufzunehmen. Dabei hat er, soweit ersichtlich, keine Einwände gegen den Inhalt der Norm vorgebracht. Vielmehr war er der Auffassung, dass es weder notwendig noch passend wäre, diese Norm in den Codex aufzunehmen.

V. Systematische Überlegungen 1. Die Aussageabsicht von c. 96 CIC/1983 Indem c. 96 CIC/1983 über Auswirkungen der Taufe spricht, hebt dieser Canon notwendigerweise Unterschiede zwischen Ungetauften und Getauften hervor. In der Frage, worin der von c. 96 CIC/1983 angesprochene Unterschied im Hinblick auf den Ausdruck persona in Ecclesia besteht, sind – jedenfalls auf den ersten Blick – verschiedene Deutungen möglich. Das liegt unter anderem daran, dass sich der Ausdruck in der Kirche innerhalb der Formulierung, durch die Taufe werde „der Mensch zur Person in der Kirche Christi“, unterschiedlich deuten lässt und auch tatsächlich unterschiedlich gedeutet wurde. (1) Sowohl die Vorgängernorm in c. 87 CIC/1917 als auch die umformulierte Norm in c. 96 CIC/1983 wurde bzw. wird von vielen Autoren so verstanden, dass sich dieser Ausdruck auf das gesamte Dasein der Kirche und folglich unter rechtlicher Perspektive auf die kirchliche Rechtsordnung (in iure canonico) bezieht. Nach dieser Deutung wird durch die Taufe der Mensch zu einem Rechtssubjekt innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung, woraus sich im Umkehrschluss ergibt, dass dem Ungetauften diese Rechtsstellung nicht zukommt. Dieser Deutung wurde entgegengehalten, dass sie sich nicht mit den faktisch bestehenden Rechten der Ungetauften vereinbaren lasse, die angesichts dieser Rechte ebenfalls als Rechtssubjekte bezeichnet werden müssten. (2) Diesem Einwand konnte man entgehen, indem man den Ausdruck in der Kirche so interpretierte, dass er auf die Kirchengliedschaft des Getauften Bezug nimmt: Befand sich der Ungetaufte außerhalb der Kirche, so wird er durch die Taufe ihr Glied und insofern eine Person in der Kirche. Dass der Getaufte eine persona in Ecclesia ist, lässt sich dann problemlos mit der Behauptung vereinbaren, dass es sich bei den

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Ungetauften um personae extra Ecclesiam handelt.92 In der Tat lässt sich nicht bestreiten, dass in diesem Sinne nur der Getaufte eine Person in der Kirche ist. In der Offensichtlichkeit dieser Aussage liegt jedoch zugleich die Schwäche dieser Deutung; c. 96 CIC/1983 erwähnt dann nämlich nur ein weiteres Mal jenen Zusammenhang zwischen Taufe und Kirchengliedschaft, der auch an anderen Stellen des Codex (cc. 204 u. 849 CIC/1983) zur Sprache gebracht wird. Es wäre nicht mehr einsichtig, warum dieser Zusammenhang zusätzlich auch in c. 96 CIC/1983 hätte erwähnt werden sollen. Die vorgelegte Umdeutung kann auch nicht erklären, warum c. 96 CIC/1983 die Formulierung constituitur persona verwendet: Dass der Mensch durch die Taufe Glied der Kirche wird, hätte sich genauso gut oder besser ohne diese Formulierung ausdrücken lassen. Im Ergebnis kann die beschriebene Umdeutung des Ausdrucks „in der Kirche“ nicht überzeugen. (3) Eine andere Möglichkeit der Umdeutung ist ihr ähnlich. Man kann zwar den Ausdruck in der Kirche auf die Rechtsstellung innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung beziehen, den Hauptakzent von c. 96 CIC/1983 aber auf die Formulierung cum officiis et iuribus quae christianis sunt propria legen: Hatte der Mensch vor der Taufe nur jene Pflichten und Rechte, die jedem Menschen zukommen, so wird er durch die Taufe zu einer mit den Pflichten und Rechten eines Christen ausgestatteten Person.93 Auch bei dieser Deutung ist c. 96 CIC/1983 offensichtlich zutreffend. Denn bei einem Ungetauften handelt es sich offensichtlich nicht um „eine mit den Pflichten und Rechten eines Christen ausgestattete Person“. Es ist selbstverständlich, dass nur einem Glied der Kirche jene Pflichten und Rechte zukommen, die den Gliedern der Kirche eigen sind. Damit nähert sich die beschriebene Deutung allerdings einer Tautologie. Die gegen die zuvor genannte Deutung (2) vorgelegten Einwände treffen die Deutung (3) gleichermaßen.

92

Ciprotti, Personalità (Anm. 24), S. 274: El c. 87 „deve essere inteso non nel senso che gl’infedeli non sono personae, bensì che essi non sono in Ecclesia, ma sono perciò personae extra Ecclesiam.“ Ähnlich Pietro Gismondi, La capacità giuridica degli acattolici, in: Acta Congressus Internationalis Iuris Canonici, Romae 1953, S. 130 – 145, hier S. 135: „[…] il can 87 non disconosce la personalità e quindi la soggettività giuridica dei non battezzati, ma si limita a stabilire che solo i battezzatti sono persone in Ecclesia con tutti i diritti e gli obblighi relativi, laddove i non battezzati sono persone extra Ecclesiam.“ 93 Vgl. Ciprotti, Personalità (Anm. 24), S. 274: Il c. 87 deve essere inteso nel senso „che mentre chi non ha battesimo no ha omnia christianorum iura et officia, il battezzato ha omnia christianoum iura et officia nisi ecc.“ Verglichen mit c. 87 CIC/1917 („Baptismate homo constituitur in Ecclesia Christi persona cum omnibus christianorum iuribus et officiis […]“) ist eine solche Deutung von c. 96 CIC/1983 schon deshalb weniger plausibel, weil dort hinter das Wort persona ein Komma gesetzt wurde („Baptismo homo Ecclesiae Christi incorporatur et in eadem constituitur persona, cum officiis […]“). Dennoch erwägt Francisco Javier Urrutia die genannte Deutung (Les normes générales, Paris 1994, S. 193): „Mais on peut lire le canon d’une autre façon: il ne définit pas la personne canonique; il ne parle donc pas de la constitution d’une nouvelle personnalité positive, mais il établit le fondement pour que la personne humaine ait et puisse exercer sa capacité juridique dans la communauté ecclésiale: ,Est constituée comme personne qui a les obligations […].‘“

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Die beiden Umdeutungen (2) und (3) kommen darin überein, dass sie auf eine Ablehnung der herkömmlichen Deutung (1) hinauslaufen, dann aber c. 96 neu lesen, um dieser Norm nicht widersprechen zu müssen. Sie ist bei diesen Umdeutungen offensichtlich zutreffend, aber in ihrem Kern im Grunde belanglos; sie wird darin letztlich zu einer überflüssigen Wiederholung oder gar einer Tautologie. Überzeugender ist deswegen die Deutungsmöglichkeit (1): Durch die Taufe erwirbt der Mensch in der kirchlichen Rechtsordnung die Rechtsstellung einer persona. In diesem Sinne sind c. 87 CIC/1917 und c. 96 CIC/1983 von den meisten Autoren gedeutet worden, wobei freilich die einen dem so gedeuteten Inhalt der Norm zugestimmt und die anderen ihn abgelehnt haben. 2. Die Rechtsstellung der Ungetauften Wenn man die genannten Normen – und zwar zu Recht – so deutet, dass der Mensch durch die Taufe in der kirchlichen Rechtsordnung zur persona wird, bekommen die Einwände derer Gewicht, die darauf hingewiesen haben, dass auch den Ungetauften bestimmte Rechte innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung zukommen. Die herkömmlichen Argumente, mit denen die Befürworter der Rechtsnormen die Berechtigung dieser Einwände bestritten haben, können nicht überzeugen. Dass die Kirche den Ungetauften keine Verpflichtungen auferlegen kann, schließt nicht aus, dass den Ungetauften innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung dennoch bestimmte Rechte zukommen können, insbesondere – wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind – das Recht auf Taufe.94 Dass die Kirche der übernatürlichen Ordnung angehört, schließt nicht aus, dass sie innerhalb ihrer Rechtsordnung auch denjenigen Menschen, die nicht durch die Taufe in diese übernatürliche Ordnung eingetreten sind, bestimmte Rechte gewährt und sogar gewähren muss, die ihrerseits der übernatürlichen Ordnung angehören. Die Ansprüche der Ungetauften gegenüber der Kirche sind von den Ansprüchen der Glieder der Kirche auch nicht so verschieden, dass es sich verbieten würde, für die beiden Arten von Ansprüchen denselben Ausdruck (Rechte) zu verwenden. Vielmehr ist die Natur der Ansprüche als solcher vergleichbar. Diese Ansprüche entsprechend der Stellung der betreffenden Menschen mit unterschiedlichen Ausdrücken – wie iura bzw. praerogativa – zu bezeichnen, so dass die einen Menschen als Rechtssubjekte, die anderen hingegen nur als Prärogativensubjekte bezeichnet werden müssten, ist zwar möglich, aber nicht zwingend geboten. Wenn man also nicht den Begriff Rechtssubjekte von vornherein anders als gewohnt definiert, scheint es, dass zumindest für einige Rechte auch den Ungetauften innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung die Stellung von Rechtssubjekten zukommt.

94 Vgl. Pedro Lombardía, Derecho divino y persona física en el ordenamiento canónico, in: Temis 7 (1960), S. 187 – 203 = ders., Escritos de derecho canónico, 1. Bd., Pamplona 1974, S. 223 – 253, hier S. 249 – 251.

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3. Der Gebrauch des Begriffs persona Dass für einige Rechte auch den Ungetauften innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung die Stellung von Rechtssubjekten zukommt, stellt vor die Frage, ob auch den Ungetauften innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung die Stellung von personae zuzusprechen ist. Wer die Meinung vertritt, jedes Rechtssubjekt müsse als persona bezeichnet werden, kann diese Frage nur bejahen. Aber es gibt natürlich keine Notwendigkeit, den Ausdruck persona so zu verwenden; vielmehr lässt sich diskutieren, ob nicht innerhalb der großen Menge der Rechtssubjekte zwischen Personen und anderen Rechtssubjekten unterschieden werden kann.95 Eine solche Unterscheidung legt sich nicht nur im Hinblick auf Menschen, sondern auch im Hinblick auf Personen- und Sachengesamtheiten nahe: Es ist kaum zu bestreiten, dass es im kirchlichen Rechtsbereich auch Personen- und Sachengesamtheiten gibt, die zwar nicht über Rechtspersönlichkeit verfügen, aber dennoch bestimmte Rechte und Pflichten haben.96 Vorzuschlagen, dass die kirchliche Rechtssprache beim Gebrauch des Ausdrucks Person ganz eigene, vom üblichen Sprachgebrauch völlig unabhängige Wege gehen sollte, würde befremdlich wirken. Da das Wort persona im Sinne von Rechtssubjekt aus der Sprache der Rechtswissenschaft in den kirchlichen Sprachgebrauch gelangt ist, legt es sich vielmehr nahe, zu überprüfen, wie die Rechtswissenschaft gegenwärtig mit der Herausforderung solcher Grenzziehungen umgeht. Zwei Vergleiche bieten sich dabei an: Das Verhältnis des Ungetauften zum Getauften kann man (1) mit dem Verhältnis zwischen dem Embryo (nasciturus) und dem geborenen Menschen oder (2) mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Staatsbürger vergleichen. (1) Das schon in der Heiligen Schrift verwendete Bild der Wiedergeburt für die Taufe97 scheint auf den ersten Blick nahezulegen, die Taufe mit der Geburt zu vergleichen. Dieser Vergleich hat zur Entstehung von c. 87 CIC/1917 beigetragen, wie aus der Textgeschichte hervorgeht,98 und wurde auch von den Kommentatoren immer wieder herangezogen. Zwar kann auch der Embryo nach der jeweiligen staatlichen Rechtsordnung schon gewisse Rechte innehaben (z. B. die Erbfähigkeit); als Person bezeichnen die staatlichen Gesetze aber für gewöhnlich erst den geborenen

95 Vgl. Pedro Lombardía, Lecciones de derecho canónico, Madrid 1984, S. 138: „En caso de que se interpretara también el c. 96 del nuevo Código como la atribución al bautizado de la condición de persona física en el ordenamiento […], habría que considerar que el Derecho Canónico conoce, con referencia a la persona humana, la distinción entre sujetos personificados (los fieles) y sujetos sin personalidad (los seres humanos no bautizados).“ 96 Bei Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 312 f. werden sie als „einfache Kollegien“ bezeichnet. 97 Joh 3,3 – 7; vgl. 1225, 1238, 1257, 1262 u. 2790 KKK 98 Im Entwurf von Buch II CIC/1917 aus dem Jahre 1912 lautete c. 1 § 1: „Baptismatis fonte renatus homo constituitur in Ecclesia Christi persona cum omnibus christianorum iuris et officiis.“; s. Lombardía, Contribución (Anm. 5), S. 50, Anm. 66.

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Menschen.99 Ähnlich könnte die kirchliche Rechtsordnung zwar anerkennen, dass der Ungetaufte schon bestimmte Rechte innehat; die Qualifizierung als Person innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung würde ihm aber erst durch die „Neugeburt aus dem Wasser und dem Heiligen Geist“, d. h. durch die Taufe zukommen. Gerade die Tatsache, dass nach der üblichen Terminologie der staatlichen Gesetze erst der geborene Mensch als Person bezeichnet wird, kann diesem Vergleich gegenüber allerdings Bedenken hervorrufen; bezeichnet die kirchliche Moralverkündigung den Menschen doch schon vom Beginn seiner Existenz an als Person.100 (2) Die Tatsache, dass der Mensch durch die Taufe zum Glied der Kirche wird und dadurch die dem Christen eigenen Rechte und Pflichten erwirbt, lässt sich damit vergleichen, dass nicht jeder Mensch, sondern nur der Staatsbürger gewissermaßen Mitglied des jeweiligen Staates ist und nur dann die betreffenden staatsbürgerlichen Rechte (z. B. das Wahlrecht) innehat.101 Auch dieser Vergleich kann an biblische Bilder anknüpfen wie etwa an Eph 2,19: „Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“ Während die heutigen staatlichen Gesetze jeden Menschen, auch den Ausländer oder Staatenlosen, als Person anerkennen, dessen Menschenrechte geachtet werden müssen, gewähren sie die staatsbürgerlichen Rechte nur denjenigen Menschen, die – den Bedingungen des jeweiligen Staates entsprechend – Bürger dieses Staates sind. Ähnlich könnten die kirchlichen Gesetze innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung jeden Menschen als Person anerkennen, die den Christen eigenen Rechte und Pflichten aber den getauften Menschen vorbehalten. Allein schon die Tatsache, dass sich für das Verhältnis von Ungetauften zu Getauften zwei verschiedene Vergleiche aus dem Bereich des staatlichen Rechts anbieten, lässt erkennen, dass die Wahl unter diesen Alternativen letztlich eine Ermessensentscheidung darstellt: Ob die Qualifizierung als Person im kirchlichen Rechtsbereich den Getauften vorbehalten bleiben muss oder nicht, ist nicht eine Frage, für deren Beantwortung es nur eine einzige Möglichkeit gibt, so als wäre der Kirche sozusagen iure

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Vgl. Gianni Trevisan, Lo „stato giuridico“ del catecumeno, in: QDE 10 (1997), S. 243 – 258, hier S. 246 f. 100 Vgl. 2270 KKK: „Vita humana, a momento conceptionis, debet absolute observari et protegi. Creaturae humanae, inde a primo eius exsistentiae momento, agnosci debent personae iura, inter quae ius inviolabile omnis creaturae innocentis ad vitam.“; C DocFid, Instr. „Donum Vitae“ (22. 02. 1987), in: AAS 80 (1988), S. 70 – 102, I.1: „Viventi humano, uti personae, observantia debetur inde a primo eius vitae momento.“ 101 In die Diskussion um die Rechtsstellung Ungetaufter wurde der Vergleich zwischen Taufe und Erwerb der Staatsangehörigkeit wohl erstmals von Pietro Gismondi eingebracht: Gli acattolici nel diritto della Chiesa, in: EIC 2 (1946), S. 224 – 249, hier S. 245: „Il principio ribadito nel can. 87 è identificabile con quello proclamato da tutte le legislazioni statali relativamente alla cittadinanza che è, per l’appunto, considerata condizione indispensabile per il godimento di tutti i diritti pubblici. Ma come gli ordinamenti statali non escludono, di regola, gli stranieri dal godimento di determinati diritti privati, così il can. 87 non stabilisce che la mancanza del battesimo è una causa limitativa estesissima.“

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divino ein bestimmter Sprachgebrauch vorgegeben.102 Vielmehr geht es bei dieser Frage letztlich eben nur um die Entscheidung für einen bestimmten Sprachgebrauch; diese Entscheidung wird man sinnvollerweise nach einer Abwägung der mit den verschiedenen Alternativen jeweils verbundenen Vor- und Nachteile treffen.103 Die Einbeziehung aller Menschen in den Begriff der persona innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung hat dabei insbesondere die folgenden vier gewichtigen Vorteile: (a) Auch in der kirchlichen Rechtsordnung alle Menschen als Personen zu bezeichnen, fördert die Verständlichkeit der kirchlichen Rechtssprache. Unter den heutigen Staaten gibt es wohl keinen mehr, der den Begriff Person nur bestimmten (geborenen) Menschen vorbehält.104 Angesichts dessen bringt ein kirchlicher Sprachgebrauch, der den Begriff Person in der kirchlichen Rechtsordnung den Getauften vorbehält, die Gefahr mit sich, Verwirrung zu stiften. (b) Auch innerhalb des kirchlichen Gesetzbuches selbst würde ein Verzicht auf die in c. 96 CIC/1983 festgelegte Terminologie zu einer größeren Einheitlichkeit führen. Wie gezeigt wurde,105 gibt es innerhalb des CIC/1983 keine oder fast keine Rechtsnorm, in der das Wort persona die in c. 96 CIC/1983 festgelegte Bedeutung hat. Anzuerkennen, dass auch in der kirchlichen Rechtsordnung alle Menschen die Rechtsstellung einer persona innehaben, würde dazu führen, dass die Bedeutungsvielfalt, die mit diesem Wort verbunden ist, verringert würde. (c) Auch in der kirchlichen Rechtsordnung alle Menschen als Personen anzuerkennen, würde die terminologische Diskrepanz zur kirchlichen Moralverkündigung vermeiden. (d) Psychologisch gesehen wirkt der Sprachgebrauch, der im kirchlichen Rechtsbereich den Begriff der Person den Getauften vorbehält, ausgrenzend. Es passt besser zur Sendung der Kirche, solche unnötigen Grenzziehungen abzubauen. Vergleichbar gewichtige Vorteile einer Beschränkung des Begriffs Person auf die Getauften sind nicht ersichtlich. Andernfalls hätte man erwarten sollen, dass sich im Leben und in der Verkündigung der Kirche in den hundert Jahren seit 1917 deutlicher irgendwelche Früchte dieses Sprachgebrauchs gezeigt hätten. Tatsächlich ist er im Wesentlichen auf die Grundnorm über die persona in Ecclesia im CIC/1917 und 102

Skepsis gegenüber der Meinung, der Kirche sei unverfügbar vorgegeben, wer in ihr als Person gelten könne und wer nicht, ist übrigens schon deswegen angebracht, weil die Kirche offensichtlich einen großen Ermessensspielraum besitzt in der Frage, welchen Entitäten sie die Stellung einer persona iuridica verleihen will und welchen nicht. 103 Dass es bei der Verwendung des Ausdrucks persona für die Getauften letztlich um eine Frage des Sprachgebrauchs geht, hat unter den Befürwortern der Normen auch Otaduy, Quién es persona (Anm. 75), S. 68 f. u. 78 – 82 anerkannt. 104 Zu einem Auseinanderfallen zwischen Menschsein und Rechtssubjektivität kommt es in jenen islamischen Staaten, die den Abfall vom Islam mit dem Entzug der Rechtsfähigkeit, dem „bürgerlichen Tod“, bestrafen. 105 S. o. II.2.a.

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im CIC/1983 beschränkt geblieben. Insbesondere ist er auch vom Katechismus der Katholischen Kirche nicht aufgegriffen worden. Der kirchliche Gesetzgeber hat sich bei der in c. 87 CIC/1917 und c. 96 CIC/1983 festgelegten Verwendung des Ausdrucks persona an dem Bild von der Taufe als neuer Geburt orientiert. Nach dem durch diese Bestimmungen festgelegten Sprachgebrauch sind die Ungetauften keine personae in Ecclesiae, wenngleich sie in der kirchlichen Rechtsordnung – das kann der kirchliche Gesetzgeber ihnen nicht verwehren – die Stellung von Rechtssubjekten haben. Selbstverständlich hatte der kirchliche Gesetzgeber die Vollmacht, sich für diesen Sprachgebrauch zu entscheiden. Aber man kann diese Entscheidung bedauern. Bessere Gründe hätten dafür gesprochen, den durch den CIC/1917 eingeführten Sprachgebrauch bei der Codexreform wieder aufzugeben. 4. Gesetzliche Festlegung der Terminologie? Angenommen, der kirchliche Gesetzgeber entschiede sich eines Tages, den in c. 96 CIC/1983 festgelegten Sprachgebrauch aufzugeben, würde sich die Frage stellen, ob es dann nötig oder zumindest angemessen wäre, einen neuen Sprachgebrauch gesetzlich festzulegen. Diese Frage stellt sich gerade vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber sich entschieden hat, in den CCEO keine vergleichbare Aussage aufzunehmen. Irgendwelche Probleme sind durch diese Entscheidung, soweit ersichtlich, nicht entstanden.106 Das kann nicht überraschen; denn wie schon gezeigt wurde, handelt es sich auch bei c. 96 CIC/1983 um eine Aussage ohne rechtliche Folgen. Auch ein Teil der staatlichen Rechtsordnungen kommt ohne eine Legaldefinition des Begriffs Person aus und überlässt deren Erarbeitung auf diese Weise der Wissenschaft. Solchen Beispielen folgend, könnte sich auch der kirchliche Gesetzgeber dazu entscheiden, auf eine Definition zu verzichten. Möglicherweise war es so gemeint, als die Streichung einer Rechtsnorm über die persona in Ecclesia im CCEO damit begründet wurde, es handle sich dabei um eine norma supracodicialis.107 Ob die Kanonistik nach einer Streichung der Norm tatsächlich noch nennenswertes Interesse an der Frage der Rechtssubjektivität im kanonischen Recht behalten würde, lässt sich angesichts der praktischen Folgenlosigkeit der Diskussion um diesen Begriff allerdings bezweifeln. 5. Ergebnis Die durch c. 87 CIC/1917 erstmals in die kirchliche Rechtsordnung aufgenommene Grundnorm über die persona in Ecclesia war von Anfang an misslungen. Es ist verständlich, dass man das Buch II des CIC/1917 („De personis“) mit einer allgemeinen Aussage über die Personen beginnen wollte. Dazu wäre es aber nicht nötig ge106 107

Vgl. Coronelli, Incorporazione (Anm. 6), S. 220 u. 394 f. S. o. III.

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wesen, eine ganz bestimmte, keineswegs auf eine kanonistische Tradition gestützte Theorie über die Rechtsstellung der persona gesetzlich festzuschreiben. Am ehesten wird c. 87 CIC/1917 vor dem Hintergrund der Lehren des Ius Publicum Ecclesiasticum verständlich: Wie die Kodifikationen der staatlichen Gesetze innerhalb der natürlichen Ordnung Normen für die Angehörigen der betreffenden Staaten erlassen hatten, wollte die Kirche – ebenfalls als societas iuridice perfecta angesehen – in ihrem Codex Normen für die ihr angehörenden Menschen, d. h. für die Getauften erlassen. Gerade bei diesem Schritt ist den Vätern des Codex jedoch ein folgenschweres terminologisches Missgeschick unterlaufen. Wie die staatlichen Kodifikationen einen Unterschied gemacht hatten zwischen dem Begriff der Person, der auf alle Menschen Anwendung fand, und dem Begriff des Staatsbürgers, hätte man besser daran getan, den Begriff Person auf alle Menschen anzuwenden und ihm für die Getauften den Begriff des (christi-)fidelis oder des christianus gegenüberzustellen. Nachdem die Begrenzung des Begriffs persona auf die Getauften aber einmal in das kirchliche Gesetzbuch aufgenommen worden war, war diese neue Terminologie nicht mehr zu beseitigen. Von einem Teil der Autoren wurde sie wie ein Dogma verteidigt und sogar als iure divino vorgegeben angesehen. Die Wirklichkeit hatte sich fortan an dieser Terminologie auszurichten, nicht umgekehrt. Zeitweise wurde den Ungetauften daher das Klagerecht vor kirchlichen Gerichten abgesprochen. Und die Rechte der Ungetauften gegenüber der Kirche durften, da das der Grundnorm über die persona in Ecclesia widersprochen hätte, nicht mehr als das, was sie waren, nämlich als Rechte bezeichnet werden, sondern mussten praerogativa genannt werden. Die Entscheidung, die Rechtsstellung der Katechumenen – entgegen der Aufforderung des Zweiten Vatikanischen Konzils – nicht im Codex zu beschreiben, sondern der Partikulargesetzgebung zu überlassen, da es sich bei den Katechumenen nicht um personae in Ecclesiae handle, ist geradezu heuchlerisch; so als ob nur der Codex, nicht aber auch die Partikulargesetze Teil der kirchlichen Rechtsordnung wären. Dass sich die von Teilen der Wissenschaft gegen den Personbegriff von c. 87 CIC/1917 vorgebrachten Argumente nicht durchsetzen konnten, lag nicht an ihrer fehlenden Überzeugungskraft, sondern weithin wohl eher daran, dass sich die Verteidiger der Vorschrift nicht von der gewohnten Terminologie loszusagen wagten. Die Argumente, die zu diesem Thema bei der Vorbereitung des CCEO ausgetauscht wurden, sind leider nur teilweise dokumentiert. Es scheint aber, dass man sich dabei der Frucht- und Folgenlosigkeit der Diskussion über den durch c. 87 CIC/1917 eingeführten Personbegriff bewusst geworden ist und erkannt hat, dass sich der kirchliche Gesetzgeber, ohne Nachteile fürchten zu müssen, aus solchen Fragen der Rechtstheorie besser heraushalten sollte. Wäre der Begriff der persona in Ecclesia nicht durch c. 87 CIC/1917 in die erste kirchliche Kodifikation eingegangen, hätte ihn niemand vermisst. Ebensowenig hat seine Streichung aus dem CCEO irgendwelche Probleme hervorgerufen. Verglichen mit dem CIC/1983 hat der CCEO die bessere Wahl getroffen. Ein Grund zum Feiern ist der 100. Jahrestag des Ausdrucks persona in Ecclesia nicht.

Grundvollzüge der Kirche und ihre rechtliche Ordnung

Tote bestatten Das kirchliche Begräbnis zwischen Rechtsanspruch und Werk der Barmherzigkeit Von Reinhild Ahlers Für das Jahr 2016 hat Papst Franziskus ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Dadurch sind Katholiken in aller Welt dazu aufgefordert, wieder und neu über die sog. Werke der Barmherzigkeit nachzudenken. Die Kirche unterscheidet die leiblichen Werke der Barmherzigkeit und die geistlichen Werke der Barmherzigkeit, von denen es jeweils sieben gibt. Das „Gotteslob“ führt dazu aus: „Das Evangelium gibt auf die Frage, wie Menschen Christus begegnen können, die Antwort: ,Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan‘ (Mt 25,40).“ Daraus haben sich, so führt das „Gotteslob“ weiter aus, im Laufe der Jahrhunderte die Werke der Barmherzigkeit herausgebildet.1 Eines der leiblichen Werke der Barmherzigkeit ist, die Toten zu bestatten. Das kirchliche Begräbnis ist also ein Ausdruck des Glaubens und der Nächstenliebe. Gleichzeitig wird im Gesetzbuch der katholischen Kirche ein Rechtsanspruch der Gläubigen auf ein kirchliches Begräbnis formuliert. In dieser Spannbreite sollen im Folgenden einige Aspekte der Gewährung und Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses erörtert werden.

I. Das Recht auf ein kirchliches Begräbnis Am Anfang seines Abschnittes über das kirchliche Begräbnis konstatiert der CIC/ 1983 das Recht der Gläubigen auf ein solches kirchliches Begräbnis (c. 1176 § 1 CIC/ 1983). Nach c. 213 CIC/1983 besteht das Recht auf den Empfang von Hilfe aus den geistlichen Gütern der Kirche insbesondere im Hören des Wortes Gottes und im Empfang der Sakramente. Das Begräbnis gehört nicht zu den sieben Sakramenten der Kirche, sondern ist unter die sog. Sakramentalien zu rechnen. Sie sind somit „heilige Zeichen, durch die in einer gewissen Nachahmung der Sakramente Wirkungen, besonders geistlicher Art, bezeichnet und kraft der Fürbitte der Kirche erlangt werden“ (c. 1166 CIC/1983). Auch die Sakramentalien gehören also zu den geistlichen Gütern der Kirche, auf die die Gläubigen einen Rechtsanspruch haben, auch wenn sie 1 Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die Diözese Münster, hrsg. v. den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen, Münster 2013, Nr. 29, 3.

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in c. 213 CIC/1983 nicht ausdrücklich genannt werden. Dieser Rechtsanspruch wird in c. 1176 §1 CIC/1983 spezifiziert auf das kirchliche Begräbnis. Dabei ist die dort gebrauchte Formulierung donandi sunt in zwei Richtungen zu verstehen: Sie drückt sowohl das Recht der Gläubigen, ein Begräbnis zu bekommen, als auch die Pflicht der Kirche, die Beerdigungsriten zu feiern, aus. Der Anspruch der Gläubigen und die damit korrespondierende Pflicht stehen somit gleichrangig nebeneinander, sodass „der zuständige Pfarrer nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, das kirchliche Begräbnis durchzuführen.“2 Neben dem Hinweis auf die Einhaltung der liturgischen Gesetze und einigen Ausführungen über den Sinn eines kirchlichen Begräbnisses3 (c. 1176 § 2 CIC/1983), führt c. 1176 § 3 CIC/1983 noch aus, dass die Kirche die Erdbestattung bevorzugt, die als „fromme Gewohnheit“ bezeichnet wird. Anders als im CIC/1917 wird die Feuerbestattung jedoch nicht verboten, „es sei denn, sie ist aus Gründen gewählt worden, die der christlichen Lehre widersprechen.“ Das altkodikarische Verbot der Feuerbestattung ging auf eine entsprechende Bestimmung vom 19. Mai 1886 zurück,4 die sich gegen die Wahl der Feuerbestattung durch Freimaurer, Freidenker und marxistische Gruppen richtete, die damit ihre Ablehnung des Auferstehungsglaubens zum Ausdruck bringen wollten.5 Das Verbot wurde 1963 aufgehoben.6

II. Gewährung des kirchlichen Begräbnisses Neben dem Recht auf ein kirchliches Begräbnis, das jedem katholischen Gläubigen zusteht, wird in c. 1183 CIC/1983 noch anderen Personengruppen ein kirchliches Begräbnis gewährt. Obwohl die Taufe die Voraussetzung für den Empfang aller geistlichen Güter der Kirche ist, gibt es zwei Personengruppen, die – obwohl ungetauft – ein kirchliches Begräbnis erhalten können. Dazu gehören zunächst einmal die Katechumenen. In c. 206 CIC/1983 wird ausgeführt, dass die Kirche den Katechumenen ihre besondere Sorge widmet und ihnen verschiedene Vorrechte gewährt, die den Christen eigen sind. Zu diesen Vorrechten gehört nach c. 1183 § 1 CIC/1983 auch das kirchliche Begräbnis. Da es hier sogar heißt, dass die Katechumenen hinsichtlich des Begräbnisses den Gläubigen gleichgestellt sind, kann man sogar von einem Rechtsanspruch sprechen. Möglich ist dies, weil die Sakramentalien anders als die Sakramente, die 2 Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis, in: HdbKathKR3, S. 1437 – 1441, hier 1437. 3 Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis (Anm. 2), S. 1439. 4 SC S.U.R. Inquisitionis, Decr. „Quoad cadaverum crematione“ (19. 05. 1886), in: ASS 19 (1886/87), S. 46. 5 Vgl. Sabine Demel, Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 56. 6 SC Off, Instr. „Piam et constantem“ (05. 07. 1963), in: AAS 56 (1964), S. 822 – 823.

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ihre Wirkweise ex opere operato entfalten, ex opere operantis Ecclesiae wirken, also kraft der Fürbitte der Kirche. Darüber hinaus können auch Kinder, die vor dem Empfang der Taufe, die die Eltern geplant hatten, verstorben sind, ein Begräbnis erhalten. Dazu können gemäß dem katholischen Glaubensverständnis, dass der Mensch mit seiner Zeugung entsteht, auch Tot- und Frühgeburten zählen, auch wenn staatlicherseits keine Bestattungspflicht besteht.7 Über diese beiden Gruppen von Ungetauften hinaus kann das kirchliche Begräbnis auch Getauften gewährt werden, die einer nichtkatholischen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft zugezählt werden, und zwar nach klugem Ermessen des Ortsordinarius (c. 1183 § 3 CIC/1983). Dazu werden zwei Voraussetzungen genannt: Es steht fest, dass der Verstorbene nicht einen gegenteiligen Willen geäußert hat und ein eigener Amtsträger kann nicht erreicht werden.

III. Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses Die Gründe, die c. 1184 CIC/1983 für eine Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses nennt, betreffen alle den Fall, dass ein katholischer Christ schwerwiegend gegen die Kirche und die kirchliche Lehre verstoßen hat. Ausgeschlossen von einem kirchlichen Begräbnis sind offenkundige Apostaten, Häretiker und Schismatiker (c. 1184 § 1, 18 CIC/1983). Ein Apostat ist jemand, der den christlichen Glauben als Ganzen ablehnt; Häretiker ist jemand, der eine einzelne Glaubenswahrheit beharrlich leugnet oder bezweifelt; Schismatiker ist jemand, der die Unterordnung unter den Papst und die kirchliche Gemeinschaft verweigert (vgl. c. 751 CIC/1983). Immer wieder wurde in der Vergangenheit darüber diskutiert, ob der in Deutschland mögliche und praktizierte Austritt aus der katholischen Kirche vor einer staatlichen bzw. kommunalen Behörde einen oder alle der drei genannten Tatbestände erfüllt. Um dieser Diskussion ein Ende zu bereiten, hat die Deutsche Bischofskonferenz im Jahre 2012 ein Allgemeines Dekret zum Kirchenaustritt erlassen. Darin legt sie unabhängig von der Frage, welche strafrechtliche Relevanz ein Kirchenaustritt hat, fest, welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. Im Hinblick auf ein kirchliches Begräbnis heißt es dort, dass der aus der Kirche ausgetretenen Person das kirchliche Begräbnis verweigert werden kann.8

7 Vgl. z. B. Richtlinie für den Umgang mit Tot- und Fehlgeburten in katholischen Krankenhäusern im nordrhein-westfälischen Teil des Bistums Münster, in: KABl. Münster CXXXIX (2005), Art. 155. 8 Allgemeines Dekret der Deutschen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt, approbiert von der Vollversammlung der DBK am 15. 03. 2011, rekognosziert durch die Kongregation für die Bischöfe am 28. 08. 2012 (Prot.N. 8334/84), abgedruckt z. B. in: KABl. Münster CXLVI (2012), Art. 190.

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Weiterhin sind ausgeschlossen vom kirchlichen Begräbnis diejenigen, die sich aus Gründen, die dem christlichen Glauben widersprechen, für die Feuerbestattung entschieden haben (c. 1184 § 1, 28 CIC/1983). Dies ist die konsequente Umsetzung dessen, was bereits in c. 1176 § 3 CIC/1983 gesagt wurde. Wurde dort die Feuerbestattung aus den genannten Gründen verboten, führt das hier zu der Konsequenz, dass in dem Fall, dass sie dennoch gewählt wird, das kirchliche Begräbnis verweigert wird. Wie bereits erwähnt, richtete sich das ursprünglich generelle Verbot der Feuerbestattung gegen diejenigen, die damit ihre Leugnung des Auferstehungsglaubens zum Ausdruck bringen wollten. Dies ist auch nach wie vor im Blick, wenn von den „Gründen, die dem christlichen Glauben widersprechen“ die Rede ist. Die Leugnung des Auferstehungsglaubens würde jedoch ohnehin unter den in c. 1184 § 1, 18 CIC/1983 genannten Tatbestand der Häresie fallen, ist doch der Auferstehungsglaube ein sehr zentraler Inhalt der christlichen Glaubenslehre. Aussageabsicht des CIC/1983 ist wohl vielmehr, dass die Erdbestattung die von der Kirche bevorzugte Bestattungsart ist, ohne dass die Feuerbestattung abgewertet werden soll. Die deutschen Bischöfe schreiben dazu: „Durch die Kremation wird der Leib, das unverwechselbare Symbol eines Menschen, schnell und endgültig vernichtet. Zurück bleibt die Asche, die nur noch mittelbar auf den verstorbenen Menschen verweist. Dennoch hat die Kremation auch unter Katholiken in den vergangenen Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen an Verbreitung und Akzeptanz gewonnen […] Bei aller kirchlichen Wertschätzung der Bestattung des Leichnams darf dies nicht zu einer pastoralen und liturgischen Abwertung der Feuerbestattung führen. Darum gibt es auch eine Begräbnisliturgie für die Verabschiedung vor der Kremation und die Urnenbeisetzung. Dabei empfiehlt die Kirche allerdings mit Nachdruck, die Eucharistie und Verabschiedung nach Möglichkeit vor der Kremation und in Anwesenheit des Leichnams zu feiern.“9 Schließlich sind andere öffentliche Sünder vom kirchlichen Begräbnis ausgeschlossen, allerdings nur dann – und das ist neu gegenüber dem CIC/1917 –, wenn ihnen das kirchliche Begräbnis nicht ohne öffentliches Ärgernis bei den Gläubigen gewährt werden kann. Öffentlicher Sünder ist derjenige, der in schwerwiegender Weise und anhaltend gegen die Lehre und die Normen der Kirche verstößt und bei dem dieses Verhalten zu einem habitus geworden ist. Es geht dabei also um eine bewusste Distanzierung von der Kirche und ihrer Ordnung, nicht um menschliche Schwächen und Unvermögen.10 Nicht ganz unproblematisch scheint der Zusatz, dass das kirchliche Begräbnis aufgrund eines öffentlichen Ärgernisses bei den Gläubigen verweigert werden kann. Heinrich J. F. Reinhardt weist darauf hin, dass es „gerade die Ortsgemeinde [ist], die dem Verstorbenen durch das kirchliche Begräbnis einen Dienst der brüderlichen Liebe erweist. Ihr steht daher […] auch ein gewisses Entscheidungsrecht hierüber zu.“11 Andererseits ist zu bedenken, dass die öffentliche 9

„Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ Katholische Bestattungskultur angesichts neuer Herausforderungen (01. 11. 2011), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 97), Bonn 2011. 10 Vgl. Rüdiger Althaus, c. 1184, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: November 2012). 11 Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis (Anm. 2), S. 1439.

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Meinung im Widerspruch stehen kann zum Wissen – evtl. sogar Beichtwissen – des Seelsorgers. Für alle drei Ausschlussgründe von einem kirchlichen Begräbnis gilt, dass sie nur greifen, wenn nicht vor dem Tod ein Zeichen der Reue gesetzt wurde. Dies ist in einem sehr weiten Sinne zu verstehen und meint nicht nur den Empfang des Bußsakramentes. „So genügt sicher, wenn der Sterbende einem kirchlichen Amtsträger gegenüber seine Reue erklärt hat, auch wenn es nicht zu einer förmlichen Versöhnung mit der Kirche kommen konnte, ferner wenn Angehörige solche Zeichen glaubwürdig berichten und nachvollziehbar ist, warum kein kirchlicher Amtsträger (mehr) angegangen wurde.“12

IV. Ort des Begräbnisses Der CIC/1983 sieht vor, dass die Exequien in einer Kirche gefeiert werden und der Leichnam auf einem Friedhof beerdigt wird. C. 1177 CIC/1983 beinhaltet nähere Bestimmungen für die Gläubigen: Im Normalfall werden die Exequien in der Kirche der eigenen Pfarrei gefeiert (§ 1). Die Angehörigen können aber auch eine andere Kirche wählen, wenn der Kirchenrektor zustimmt und der eigene Pfarrer informiert ist (§ 2). Die Exequien können auch am Sterbeort stattfinden, wenn der Leichnam nicht in die eigene Pfarrei überführt werden kann und auch keine andere Kirche bestimmt wurde (§ 3). Die Exequien eines Diözesanbischofs werden in der Kathedralkirche gefeiert (c. 1178 CIC/1983); die von Ordensleuten in der Klosterkirche oder -kapelle (c. 1179 CIC/1983). Verstorbene Gläubige sollen vorzugsweise auf pfarreieigenen Friedhöfen beerdigt werden; es kann jedoch jeder den Friedhof für sein Begräbnis frei wählen (c. 1180 CIC/1983). Nicht nur Pfarreien, sondern auch Ordensinstitute können einen eigenen Friedhof besitzen (c. 1241 § 1 CIC/1983). Der Papst, die Kardinäle und die Diözesanbischöfe dürfen in einer Kirche begraben werden (c. 1242 CIC/ 1983). Einen anderen Ort als die (Pfarr-)Kirche und den Friedhof als Begräbnisstätte kennt der CIC/1983 nicht. Der Tatsache, dass es heute eine große Vielzahl an Bestattungsarten und Bestattungsorten gibt, trägt die jüngste Handreichung der deutschen Bischöfe zum Thema Bestattungskultur mit dem Titel „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat“13 Rechnung. Darin stellen sie fest, dass die Bestattungskultur einem stetigen Wandel unterliegt. „Neue Formen entstehen, die der Mobilität der Menschen, der zunehmenden Vereinsamung im Alter, dem Rückgang der Religiosität oder auch dem Wunsch, den Nachkommen nicht zur Last zu fallen, geschuldet sind.“14 Es wird darauf hingewiesen, dass anonyme und halbanonyme Bestattungen zunehmen, ebenso die Kremationen; es gibt Bestattungen in der Natur, d. h. im Meer oder auf einer 12

Althaus, c. 1184, Rdnr. 3 (Anm. 10). Vgl. Anm. 9. 14 „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 1. 13

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Wiese, unter einem Baum oder Strauch, oder in einem Wald. Innerkirchlich ist festzustellen, dass die Zahl der Kolumbarien zunimmt, indem Kirchen, die nicht mehr gottesdienstlich genutzt werden können, entsprechend umgewidmet und umgestaltet werden.15 Den mit diesem gesellschaftlichen und kirchlichen Wandel verbundenen Herausforderungen muss die Kirche sich stellen. Dazu gehört es zunächst einmal, die Bandbreite der heutigen Möglichkeiten auf dem Markt der Bestattungsformen wahrzunehmen.

V. Bestattungsformen Sucht man im Internet nach heute möglichen und angebotenen Bestattungsformen, so findet man eine große Vielfalt. Einige sollen hier vorgestellt werden, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Zu den mehr oder weniger vertrauten Arten von Bestattungen zählen: @ Erdbestattung: Die Erdbestattung ist die in unseren Breiten lange Zeit bevorzugte Bestattungsart. Es handelt sich dabei um die Beisetzung einer Leiche in einem Sarg in einer Grabstätte, die sich in der Regel unter der Erde befindet. @ Feuerbestattung: Immer mehr setzt sich gegenüber der Erdbestattung die Feuerbestattung durch, bei der der Leichnam eingeäschert und die Asche anschließend beigesetzt wird, wobei dies auf unterschiedliche Weise geschehen kann, nicht nur in der Erde, sondern z. B. auch im Kolumbarium. @ Kolumbarium: Dabei handelt es sich um oberirdische Wände – oft auch ehemalige Kirchen –, in denen in aneinandergereihten Urnenreihen die Asche beigesetzt und anschließend mit einer Abdeckplatte verschlossen wird, die mit den Daten des Verstorbenen beschriftet werden können. @ Flugbestattung: Bei der Flugbestattung wird die Asche des Verstorbenen von einem Flugzeug, einem Heißluftballon oder einem Helikopter aus entweder über dem Festland oder über dem Meer verstreut. @ Seebestattung: Bei der Seebestattung wird die Asche auf Hoher See von einem Schiff aus in einer schweren, wasserlöslichen Urne versenkt. @ Baumbestattung: Bei der Baumbestattung wird die Asche in einer biologisch abbaubaren Urne an den Wurzeln eines Baumes bestattet. Dies geschieht in der Regel in einem Friedwald oder Ruheforst, einem Ruhehain mit einem zentralen Holzkreuz oder auf einem normalen Friedhof. 15

Vgl. dazu Angelika Büchse/Herbert Fendrich/Philipp Reichling/Walter Zahner (Hrsg.), Kirchen – Nutzung und Umnutzung. Kulturgeschichtliche, theologische und praktische Reflexionen, Münster 2012; Clemens Leonhard/Thomas Schüller (Hrsg.), Tot in die Kirche? Rechtliche und liturgische Aspekte der Profanierung von Kirchen und ihr Umnutzung zu Kolumbarien, Regensburg 2012.

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@ Anonyme Bestattung: Eine Bestattung ist anonym, wenn der Ort der Grabstelle und der Zeitpunkt der Beisetzung nur der Friedhofsverwaltung bekannt ist. Sie kann als Erdbestattung als auch als Urnenbestattung geschehen. Es gibt auch halbanonyme Bestattungen, die in Anwesenheit der Hinterbliebenen und ggf. eines kirchlichen Amtsträgers stattfinden, das Grab jedoch auf einem Gräberfeld ist und nicht konkret gekennzeichnet wird. Die Namen der auf diesem Gräberfeld Bestatteten werden auf einem gemeinsamen Stein oder einer Stele verzeichnet. Weniger vertraut und z. T. eher befremdlich wirken diese Bestattungsarten: @ Almwiesenbestattung: Bei der Almwiesenbestattung wird die Asche entweder in ein Blumenmeer oder unter einer bestimmten Blume eingebracht oder auf einer Almwiese verstreut. @ Diamantbestattung: Bei der Diamantbestattung wird aus einem Teil der Asche unter hohem Druck und Hitze ein Diamant hergestellt. Dies ist in Deutschland nicht möglich, wohl aber z. B. in der Schweiz. @ Eisbestattung: Bei der Eisbestattung, die eher in kälteren Regionen üblich ist, wird die Urne in ein Loch im Eis gesetzt, wobei sie dann mit der Zeit im Meer versinkt. Bisweilen wird unter Eisbestattung auch das Schockgefrieren des Leichnams mit Hilfe von Stickstoff verstanden. @ Feuerwerksbestattung: Bei der Feuerwerksbestattung wird die Asche mit Feuerwerkskörpern am Himmel versprüht, entweder als professionelles Feuerwerk oder mit Raketen, die die Angehörigen selber abfeuern können. @ Gewehrmunition: Ähnlich wie bei der Feuerwerksbestattung wird die Asche in Gewehrmunition gefüllt und in die Luft geschossen. @ Hydrolyse: Bei der Hydroanalyse werden Leichen in Kalilauge aufgelöst. Es bleiben nur eine braune Flüssigkeit und einige Knochenstücke übrig, die zermahlen beigesetzt werden. @ Körperspende: Wenn ein Leichnam einem anatomischen Institut zu Forschungszwecken und zur Ausbildung von Ärzten zur Verfügung gestellt wird, wird er nach Beendigung der Untersuchungen bestattet. Wird er jedoch für die Plastination zur Verfügung gestellt, wird er zu Bildungszwecken konserviert und nicht bestattet. @ Kyronik: Die Kyronik ist ein Verfahren, bei dem der Leichnam in flüssigen Stickstoff tiefgefroren und aufbewahrt wird, in der Hoffnung, dass der medizinische Fortschritt es in der Zukunft ermöglicht, dass der Körper geheilt und der Verstorbene wieder zum Leben erweckt werden kann. Bisweilen wird auch nur das Gehirn auf diese Weise konserviert, um später ggf. mit Hilfe der Technik des Klonens einen neuen Körper zu erzeugen. @ Rohrbestattung: Unter Rohrbestattung versteht man anonyme Urnenbeisetzungen in PVC-Rohren. Die Rohre werden senkrecht dicht an dicht in den Boden ge-

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steckt. Jedes Rohr fasst drei Urnen übereinander. Wenn ein Rohr voll ist, wird Rollrasen darüber gelegt. @ Urne für zu Hause: In Deutschland ist es nicht gestattet, die Urne mit der Asche des Verstorbenen zu Hause aufzustellen. Mit einem Umweg über die Niederlande oder die Schweiz wird dies jedoch gelegentlich praktiziert, obwohl die Asche bei der Rückkehr nach Deutschland wieder dem deutschen Bestattungsrecht unterliegt. @ Vinylplatte: Eine in Großbritannien ansässige Firma bietet an, die Asche Verstorbener in Schallplatten zu verarbeiten. Dies sind einige Beispiele dafür, welch ungeheure Spannbreite an möglichen Bestattungsformen es gibt. Die Liste ließe sich noch fortsetzen, und es ist wahrscheinlich, dass es künftig weitere Formen geben wird, an die heute noch nicht gedacht wird. Um beurteilen zu können, welche Form (noch) mit dem christlichen Glauben vereinbar ist und welche nicht (mehr), ist es hilfreich, Kriterien zu haben, anhand derer eine Bewertung der einzelnen Bestattungsformen vorgenommen werden kann. Dazu soll ein Blick auf den Sinn eines kirchlichen Begräbnisses vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes geworfen werden.

VI. Der Sinn und Zweck des kirchlichen Begräbnisses C. 1176 § 2 CIC/1983 nennt drei Aspekte, die aus christlicher Sicht mit einem kirchlichen Begräbnis verbunden sind: Die Kirche erfleht für die Verstorbenen geistlichen Beistand, sie ehrt ihren Leib und sie gibt den Lebenden den Trost der Hoffnung. Es geht also beim Begräbnis sowohl um den Verstorbenen als auch um die Hinterbliebenen. Dem Verstorbenen wird das nach katholischer Glaubensüberzeugung notwendige fürbittende Gebet zuteil. Darüber hinaus wird sein Leib geehrt, den die Kirche gemäß der Theologie des hl. Paulus (1 Kor 6,19) als Tempel des Heiligen Geistes betrachtet. Den Hinterbliebenen wird Trost gespendet, indem der Verstorbene gewürdigt wird. Darüber hinaus geht es aber auch und vor allem um die Verkündigung des christlichen Glaubens an die Auferstehung der Toten, die das Ziel des menschlichen Lebens ist. Deshalb wird in besonderer Weise auch immer für denjenigen unter den Anwesenden gebetet, der als nächster stirbt. Bei einer Bewertung von Bestattungsformen kommt es darauf an, ob diese drei Aspekte angemessen zur Geltung kommen. Das geschieht so auch in der bereits erwähnten Handreichung der deutschen Bischöfe „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat“, die die „Katholische Bestattungskultur angesichts neuer Herausforderungen“ beleuchtet. Dort wird immer wieder auf den Wert und die Würde aufmerksam gemacht, die der Mensch nicht nur zu Lebzeiten hat, sondern die auch über den Tod hinaus bleiben und die in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründen. Diesem Wert und dieser Würde muss auch die Bestattung selbst wie auch der Bestattungsort gerecht werden.

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Auf die Entwicklung neuer Bestattungsformen „reagiert die Kirche mit Zurückhaltung und Kritik nicht nur, wenn diese im Widerspruch zu ihrer Überzeugung stehen, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Vielmehr sieht sich die Kirche auch als Anwältin für den Wert und die Würde der Menschen und erinnert an die humane Bedeutung der überlieferten Tradition.“16 Daher favorisieren die deutschen Bischöfe die klassische Grundform der katholischen Begräbnisliturgie: „Der Leib des Verstorbenen wird aus dem Sterbehaus abgeholt und zum Friedhof geleitet, um dort im Grab bestattet zu werden. Auf dem Weg wird eine Statio in der Kirche gehalten und die heilige Messe gefeiert, an der der Leib des Verstorbenen noch einmal teilnimmt.“17 Da diese Form jedoch heute nicht mehr immer und überall üblich bzw. möglich ist, wird darauf hingewiesen, dass das liturgische Buch „Die kirchliche Begräbnisfeier“ verschiedene Feierformen vorsieht, wobei „der spezifische Charakter einer katholischen Begräbnisfeier gewahrt und so weit wie möglich erkennbar“18 bleiben soll.19 Von anonymen Bestattungen raten die deutschen Bischöfe dringend ab, weil durch die Tatsache, dass der Beisetzungsort nicht bekannt ist, der Trauerprozess erheblich belastet wird. Stattdessen sollten Friedhöfe Gräberfelder für „halbanonyme“ Begräbnisse bereitstellen, um dem dahinter stehenden Anliegen, keine Grabpflege zu haben, gerecht zu werden.20 Grundlegende Vorbehalte haben die Bischöfe auch gegen gewisse Arten von Bestattungen in der Natur wie z. B. die Seebestattung oder das Verstreuen der Asche auf einer Wiese, weil dabei – wie bei der anonymen Bestattung – ein Ort der Trauer fehlt, oder weil damit pantheistische und naturreligiöse Vorstellungen gefördert werden könnten. Gegen eine Baum- oder Strauchbestattung bestehen weniger Vorbehalte, weil der Baum oder Strauch gekennzeichnet werden können – inzwischen auch mit einem christlichen Symbol und dem Namen des Verstorbenen. Anders wird die Bestattung in einem Friedwald gesehen, der sich in aller Regel in einem größeren Abstand zu den Lebensräumen der Menschen befindet. Auch wenn dort ein Kreuz als Ort der inneren Sammlung aufgestellt werden kann, ist weder die Segnung eines solchen Begräbniswaldes möglich noch kann dort die hl. Messe gefeiert werden. Dennoch wird eine Friedwaldbestattung nicht kategorisch ausgeschlossen. Es wird jedoch empfohlen, den Namen des Verstorbenen und ein christliches Symbol auf einer Plakette anzubringen. Außerdem sollen die Feier der Verabschiedung und die Begräbnismesse vor der Kremation am Wohnort stattfinden, damit Angehörige, Bekannte und Nachbarn in gottesdienstlicher Form Abschied nehmen können.21 16

„Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 1. „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 3. 18 „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 5. 19 Die kirchliche Begräbnisfeier in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Zweite authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica 1969, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2009. Darin sind folgende Feierformen vorgesehen: Begräbnis mit drei Stationen in den Formen A, B, C; Begräbnis mit zwei Stationen; Begräbnis oder Feier der Verabschiedung mit einer Station; Feier der Verabschiedung vor einer Einäscherung; Feier der Urnenbeisetzung. 20 „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 7. 21 „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ (Anm. 9), Nr. 12. 17

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Soweit nur einige beispielhafte Punkte aus dem jüngsten Papier der deutschen Bischöfe zu diesem Thema, die deutlich machen, dass es um den Wert und die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes geht, die über den Tod hinaus bestehen bleiben. Das kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass der Name des Verstorbenen präsent bleibt und eine liturgische Feier verbunden mit einem bleibenden christlichen Symbol gegeben ist. Für die Angehörigen bedeutet dies, dass sie durch die Liturgie getröstet werden und einen Ort der Trauer haben. Dies sind christliche Kriterien zur Bewertung der vielen verschiedenen Bestattungsarten. Die Glaubenskongregation hat entsprechend in ihrem jüngsten Schreiben „Ad resurgendum cum Christo“ vom 15. August 2016 darauf hingewiesen, dass die Asche der Verstorbenen an einem heiligen Ort aufzubewahren ist, „also auf einem Friedhof oder, wenn es angebracht ist, in einer Kirche oder an einem für diesen Zweck von der zuständigen kirchlichen Autorität bestimmten Ort“; nicht gestattet ist das Ausstreuen der Asche in der Luft, auf dem Land oder im Wasser sowie die Aufbewahrung in Erinnerungsgegenständen und Schmuckstücken.22

VII. Tote bestatten als Werk der Barmherzigkeit Eine diözesane Umsetzung des Papieres der deutschen Bischöfe von 2011 ist ein Text, den das Bistum Münster unter dem Titel „Wert und Würde eines Menschen gehen über den Tod hinaus. Begleitung – Begräbnis – Beistand“23 herausgegeben hat und mit dem die Seelsorger vor Ort die Gläubigen der Pfarrei ansprechen können. Darin wird ebenfalls betont: „Tote zu bestatten und Trauernde zu trösten sind Werke christlicher Barmherzigkeit. Begleitung des Sterbenden, Begräbnis und Beistand für die Angehörigen sind für unsere Pfarrei unaufgebbare Dienste der Kirche. Diese Dienste können und wollen wir niemandem verweigern.“ Auf diesem und auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten soll an dieser Stelle besonders auf zwei Aspekte in diesem Text hingewiesen werden: @ Zum einen wird sehr offen mit dem Thema Urnenbestattung umgegangen: „Einige von Ihnen denken bei einem Begräbnis auch an eine Urnenbestattung. Andere finden diese Urnenbestattung als Wunsch der Verstorbenen oder des Verstorbenen vor. In einem solchen Fall halten wir es für sinnvoll, den Leib des Verstorbenen vor der Verbrennung in Anwesenheit der Angehörigen, sollten sie das wünschen, zu segnen. Damit geben wir der Würde dieses Menschen über den Tod hinaus besonderen Ausdruck. Wenn Sie als Angehörige zudem auch die Urnenbestattung durch eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger wünschen, so werden 22 C DocFid, Instr. „Ad resurgendum cum Christo. Über die Beerdigung der Verstorbenen und die Aufbewahrung der Asche im Fall der Feuerbestattung“ (15. 08. 2016), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= VApSt 206), Bonn 2016, Nr. 5. 23 Wert und Würde eines Menschen gehen über den Tod hinaus. Begleitung – Begräbnis – Beistand, hrsg. v. Bischöflichen Generalvikariat Münster, Münster 2012.

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wir Sie dabei begleiten.“ Hier wird die Segnung des Leichnams als christliches Zeichen hervorgehoben. Zugleich wird die Zusage der Begleitung unabhängig von der anschließend gewählten Bestattungsform zugesagt. Das bedeutet sicherlich nicht, dass jede Bestattungsart in gleicher Weise gutgeheißen wird, und die Seelsorger werden auch gewisse Grenzen setzen wollen und müssen, aber es werden diesbezüglich keine Vorgaben gemacht, sodass diese Frage kommunikativ gelöst werden kann und darf. @ Zum anderen wird der Umgang mit Verstorbenen, die sich zu Lebzeiten von der Kirche abgewandt hatten, ein wenig anders akzentuiert: „In der Taufe ist jedem Christen das unwiderrufliche ,Ja‘ Gottes zugesprochen worden. Das ist uns ein so hohes Gut, dass, auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen, ein Verstorbener auch dann durch eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger beigesetzt wird, wenn sie oder er aus der Kirche ausgetreten ist. Das kann allerdings nicht erfolgen, sollte vorher seitens der Verstorbenen oder des Verstorbenen ein christliches Begräbnis abgelehnt worden sein. In der Art der Feier wird auf die Tatsache des Kirchenaustritts Rücksicht genommen. Darüber sollten wir im Gespräch gemeinsam nachdenken.“ Die Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses, wie sie der CIC/1983 vorsieht, ist hier durchaus im Blick, doch wird sie aus der Perspektive des Verstorbenen und auch der Angehörigen angewendet. Und auch diesbezüglich wird wiederum – diesmal sogar ausdrücklich – auf die kommunikative Lösung der Frage abgestellt. Diese praktische Umsetzung der vielfältigen Überlegungen auf nationaler und weltkirchlicher Ebene zeigt, dass heute in sehr offener Haltung mit dem Thema Bestattung umgegangen wird. Haben frühere Generationen die Bestattung bzw. die Verweigerung der Bestattung, z. B. im Falle eines Selbstmörders, eher als Mittel der Bestrafung und Maßregelung empfunden, kann heute die Bestattung wirklich als Akt der Barmherzigkeit gesehen und erlebt werden.

Divine Worship Liturgierechtliche Anmerkungen zu einem neuen Usus des Römischen Ritus* Von Hans-Jürgen Feulner Balthasar Fischer († 2001) schrieb bereits 1981 sehr weitsichtig und euphorisch, wenn er im Zusammenhang mit Nr. 4 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ auf die ökumenische Dimension der Liturgie zu sprechen kommt: „Wiedervereinigung bedeutet nirgendwo mehr – auch im Abendland nicht – Übernahme der römischen Liturgie und spezifisch katholischen Frömmigkeitswesens. Man kann sich heute schon durchaus vorstellen, mit wie winzigen Änderungen die großartige Liturgie, wie sie unsere anglikanischen Brüder feiern, zu einem ,ritus legitime agnitus‘ [,rechtlich anerkannter Ritus‘] werden könnte: einer englischen Liturgiefamilie innerhalb der Liturgiefamilien der katholischen Kirche. Mit all den geistigen Reichtümern, die hier in 400 Jahren gewachsen sind, würde sie sich in den Reigen der katholischen Liturgien einfügen.“1

Der renommierte deutsche Liturgiewissenschaftler konnte damals noch nicht wissen, dass sich etwas über dreißig Jahre später seine Vision größtenteils verwirklichen * Vgl. zum gesamten Themenbereich auch Hans-Jürgen Feulner, Die Einheit der Liturgie in der Vielfalt der Riten und Formen. Zwei Entwicklungen aus der jüngeren Vergangenheit, in: Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br./Basel/Wien 20132, S. 185 – 218; ders., „Anglican Use of the Roman Rite“? The Unity of Liturgy in the Diversity of Its Rites and Forms, in: Antiphon 17 (2013), S. 31 – 72; ders., „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? Die Einheit der Liturgie in der Vielfalt der Riten und Formen, in: Stefan Heid (Hrsg.), Operation am lebenden Objekt. Roms Liturgiereformen von Trient bis zum Vaticanum II, Berlin 2014, S. 239 – 274 (s. dazu auch eine Rezension in: ALW 56 [2014], S. 329 – 332, hier S. 331); ders., Unity of Faith in Diversity of Liturgical Expression: An Ecumenical Approach from a Catholic Perspective by Means of the „Anglican Use of the Roman Rite“, in: Liturgy. A Journal of The Liturgical Conference 30/4 (2015), S. 10 – 19 (nachgedruckt und ergänzt in: ders., Unity of Faith in Diversity of Liturgical Expression: An Ecumenical Approach from a Catholic Perspective by Means of the „Divine Worship“. Form of the Roman Rite, in: Shared Treasure. Journal of the Anglicanorum Coetibus Society 4/4 [2017], S. 141 – 155). Der vorliegende Beitrag stellt eine aktualisierte und erheblich erweiterte Fassung von Hans-Jürgen Feulner, „Divine Worship“ (oder „Anglican Use“). Ein neuer Usus des Römischen Ritus für ehemalige Anglikaner, in: Kim de Wildt/Benedikt Kranemann/Andreas Odenthal (Hrsg.), Zwischen-Raum Gottesdienst. Beiträge zu einer multiperspektivischen Liturgiewissenschaft (= Praktische Theologie heute 144), Stuttgart 2016, S. 181 – 196, dar. 1 Balthasar Fischer, Liturgie oder Liturgien?, in: TThZ 90 (1981), S. 265 – 275, hier S. 273 f. (eigene Hervorhebung und Erläuterung des lat. Begriffs). Mit Liturgiefamilie(n) sind hier jedoch eher Riten gemeint.

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würde, indem im Rahmen des Römischen Ritus eine liturgische Ordnung offiziell zugelassen wurde, die erstmals in der jüngeren Liturgiegeschichte auch liturgische Texte aus der reformatorischen Tradition innerhalb der katholischen Kirche beheimatet – ein Ereignis von durchaus historischer und ökumenischer Bedeutung.

I. Zwei neue liturgische Bücher für den Römischen Ritus Im deutschsprachigen Raum und auch anderswo im kontinentalen Europa ist relativ unbeachtet ein neues Messbuch innerhalb des Römischen Ritus zum 29. November 2015 (Erster Adventsonntag) in Kraft gesetzt worden, nämlich „Divine Worship: The Missal – In accordance with the Roman Rite“.2 Im zugehörigen Veröffentlichungsdekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 27. Mai 2015 heißt es unter anderem: „Aware that authentic Catholic worship in Spirit and truth has always found expression in diverse forms, this Congregation, together with the Congregation for the Doctrine of the Faith, drawing from various Anglican sources and from the current Roman Missal, has prepared this text for the celebration of the Mass in the Personal Ordinariates.“3

Der Ordo Missae, der in diesem Missale approbiert ist, hat folgende Grundstruktur, die, je nach lokalen pastoralen Bedürfnissen, erweitert und angepasst werden kann:4 2

Divine Worship: The Missal. In accordance with the Roman Rite. The Celebration of Holy Mass for use in the Personal Ordinariates established under the Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus, London 2015; s. dazu auch Steven J. Lopes, A Missal for the Ordinariates: The Work of the Anglicanae Traditiones Interdicasterial Commission, in: Antiphon 19 (2015), S. 116 – 131; Daniel Seper, Römischer Ritus im Prisma des Anglikanismus: Ein neues Messbuch bringt anglikanisch geprägtes Erbe in die Katholische Kirche, in: Gottesdienst 51 (2017), S. 12 f. 3 Divine Worship: The Missal, S. 5 (Prot.N. 160/5); s. auch die mitabgedruckten Veröffentlichungsdekrete der drei Personalordinariate („The Chair of St. Peter“ für die USA und Kanada, „Our Lady of Walsingham“ für Großbritannien, „Our Lady of the Southern Cross“ für Australien) vom 22. 06. 2015 (ebd., S. 7, 8 u. 9) unter Berufung auf das Dekr. „Cum nostra aetate“ (27. 01. 1966) der Ritenkongregation über die Herausgabe liturgischer Bücher (vgl. AAS 58 [1966], S. 169 – 171; EDIL/DEL 1, S. 580 – 591). 4 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 560 – 658; kursive Elemente sind Besonderheiten und entstammen überwiegend der anglikanischen Tradition (zumeist vom Sarum-Use, der vor der Reformation im 16. Jh. am weitesten verbreiteten Diözesan-Eigenliturgie in England); Elemente in eckigen Klammern sind optional bzw. finden sich in den diversen Anhängen, je nach nationalen und lokalen Gewohnheiten der sehr unterschiedlichen Gemeinden aufgrund ihrer liturgischen Beheimatung). Es gibt auch Besonderheiten der engl. Messtexte und des liturgischen Jahres („Liturgischer Kalender“) mit seinen geprägten Zeiten und dem „Sanctorale“. In einem späteren Artikel soll der Ordo Missae kommentierend vorgestellt werden. Eine ausführliche Studie zur Entstehung und Bedeutung dieses besonderen Messordo (bzw. Messbuches) ist außerdem geplant von Fr. James Bradley; s. auch Lopes, A Missal for the Ordinariates (Anm. 2), S. 119 – 130 (als Sekretär der Anglicanae TraditionesKommission stellt er auch den nicht publizierten 10-Punkte-Leitfaden [„Ratio“] der Kom-

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Eröffnung [Prozession mit Litanei] [Appendix 8] [Prayers of Preparation] [Appendix 1] [Taufgedächtnis: Asperges/Vidi aquam] [Appendix 2] Introitus Kreuzzeichen The Collect for Purity The Summary of the Law oder The Decalogue [Appendix 3] Kyrie [Gloria] Tagesgebet (Collect of the Day) Wortgottesdienst Lesungen Graduale/Antwortpsalm Evangelium Homilie Glaubensbekenntnis (Nicene Creed) Allgemeine Fürbitten (Prayers of the People) [Appendix 4] Bußakt (Penitential Rite) The Comfortable Words [Ankündigungen] [The Sentences] Eucharistie Gabenbereitung (Offertory Form I oder Form II) Gabenbereitungsgebet (Prayer over the Offerings) Eucharistisches Hochgebet (Canon Missae oder ggf. Hochgebet II) Kommunionteil Vater unser Embolismus Doxologie Friedensgruß Christ our Passover und Brechung/Mischung Agnus Dei Prayer of Humble Access Ecce Agnus Dei „Lord, I’m not worthy …“ (ein- oder dreimal) Kommunion des Zelebranten und der Gläubigen (mit Eintauchen) Danksagungsgebet (Prayer of Thanksgiving) Schlussgebet (Postcommunion Prayer) [Te Deum] [Appendix 11] Abschluss Segensgebet mit Kreuzzeichen Entlassungsruf [Schlussevangelium] [Appendix 6] mission für die Erarbeitung des Messordo vor und erläutert ihn ausführlich; ebd., S. 119 – 125).

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Bereits zum 02. Februar 2014 war, ebenso unbemerkt, ein eigenes Rituale, „Divine Worship: Occasional Services“5, für den liturgischen Gebrauch in den drei Personalordinariaten für ehemalige Anglikaner in den USA und Kanada, in Großbritannien und in Australien zugelassen worden, und zwar für die Feiern der Taufe (mit Firmung) („Divine Worship: The Order of Holy Baptism – for use by the Ordinariates erected under the auspices of the Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus“),6 der Trauung („Divine Worship: The Order of Solemnisation of Holy Matrimony – for use […]“)7 und der Beerdigung („Divine Worship: The Order of Funerals – for use“ […])8 – alternativ zu den entsprechenden sakramentlichen Feiern im gegenwärtigen Römischen Rituale der jeweiligen Länder.9

5 Divine Worship: Occasional Services, London 2014. Interessanterweise fehlt aber das sonst übliche abgedruckte Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung; stattdessen wird in den abgedruckten Veröffentlichungsdekreten der drei Personalordinariate vom 19. 01. 2014 darauf verwiesen (ebd., S. 6, 7 u. 8), dass alle drei Abschnitte der im Buch enthaltenen liturgischen Feiern vom Apostolischen Stuhl jeweils einzeln für die jeweiligen Personalordinariate approbiert und promulgiert worden waren, und zwar unter Angabe der entsprechenden Protokollnummern (für USA und Kanada: Order of Funerals [22. 06. 2012], Prot.N. 169/12/L; Order of Solemnisation of Holy Matrimony [22. 06. 2012], Prot.N. 360/12/L; Order of Holy Baptism [12. 12. 2013], Prot.N. 785/13/L; für Großbritannien: Order of Funerals [22. 06. 2012], Prot.N. 168/12/L; Order of Solemnisation of Holy Matrimony [22. 06. 2012], Prot.N. 359/12/L; Order of Holy Baptism [12. 12. 2013], Prot.N. 786/ 13/L; für Australien: Order of Funerals [22. 06. 2012], Prot.N. 357/12/L; Order of Solemnisation of Holy Matrimony [22. 06. 2012], Prot.N. 358/12/L; Order of Holy Baptism [12. 12. 2013], Prot.N. 787/13/L). 6 Divine Worship: Occasional Services (Anm. 5), S. 9 – 54: Praenotanda (Introduction, in: ebd., S. 11 – 15), die Feier der Eingliederung von Erwachsenen und Kindern im Schulalter in die Kirche (The Order of Holy Baptism and Confirmation for Adults and Older Children, in: ebd., S. 17 – 27), die Kindertaufe (The Order of Holy Baptism for Infants, in: ebd., S. 29 – 40), die Aufnahme in die volle Gemeinschaft der Kirche (The Order of Reception into Full Communion with the Celebration of Confirmation, in: ebd., S. 41 – 46), die Konditionaltaufe (Conditional Baptism, in: ebd., S. 47), die Nottaufe (Emergency Baptism, in: ebd., S. 49 – 51), die Taufe bei akuter Lebensgefahr (Baptism of One in Imminent Danger of Death, in: ebd., S. 52), die öffentliche Aufnahme von privat Getauften (The Public Receiving of One who has been Privately Baptised, in: ebd., S. 53), Anhang: Segnung des Salzes für die Taufe (Appendix: Blessing of Salt to be used in Baptism, in: ebd., S. 54); s. auch Edward Maxfield, Unum Baptisma: Divine Worship and The Order of Holy Baptism for Infants, in: Antiphon 19 (2015), S. 155 – 172. 7 Divine Worship: Occasional Services (Anm. 5), S. 55 – 105: Praenotanda (Introduction, in: ebd., S. 57 – 59), die Feier der Trauung innerhalb einer Messfeier (The Celebration of Holy Matrimony within a Nuptial Mass, in: ebd., S. 61 – 70), die Trauung außerhalb einer Messfeier (The Celebration of Holy Matrimony outside Mass, in: ebd., S. 71 – 81), die Feier der Trauung zwischen einem Katholiken und einer nichtgetauften Person (The Celebration of Holy Matrimony between a Catholic and a Non-baptised Person, in: ebd., S. 83 – 91); Anhang (Appendix I, in: ebd., S. 91 – 105). 8 Divine Worship: Occasional Services (Anm. 5), S. 107 – 160: Praenotanda (Introduction, in: ebd., S. 109 – 111), Totenwache mit Empfang an der Kirche (The Order for a Vigil for the Deceased with Reception at the Church, in: ebd., S. 113 – 117), Totenmesse (Funeral Mass, in: ebd., S. 119 – 132), Begräbnisfeier ohne Messfeier (The Order for Funerals outside Mass, in:

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Was hat es nun aber mit diesen liturgischen Büchern, mit diesem liturgischen Usus des Römischen Ritus, nämlich Divine Worship, und überhaupt mit den drei Personalordinariaten für ehemalige Anglikaner auf sich?

II. Die Errichtung von drei Personalordinariaten für ehemalige Anglikaner Am 15. Juni 2012 wurde per Dekret der Kongregation für die Glaubenslehre und in Abstimmung mit der australischen Bischofskonferenz das dritte und damit bisher jüngste Personalordinariat Unsere Liebe Frau vom Kreuz des Südens (Personal Ordinariate of Our Lady of the Southern Cross)10 gemäß den Normen der von Papst Benedikt XVI. am 04. November 2009 unterzeichneten Apostolischen Konstitution „Anglicanorum Coetibus“11 (zusammen mit „Ergänzenden Normen“, erweitert im ebd., S. 134 – 155), Anhang (Appendix II [Additional Prayers; The Sequence Dies Irae], in: ebd., S. 156 – 160). 9 Zu diesem liturgischen Buch s. auch: Steven J. Lopes, Publication of Approved Rites for Personal Ordinariates: Unity of Faith in Diversity of Expression, in: OR (E) vom 13. 06. 2014, S. 6 u. 10; ders., Divine Worship in Personal Ordinariates for Former Anglicans: Occasional Services, in: Origins. CNS Documentary Service 43 (2014), S. 755 – 759; ders., Einheit im Glauben – Vielfalt im Ausdruck. Ein liturgisches Buch für die Personalordinariate in Großbritannien, Australien sowie den USA und Kanada, in: Gottesdienst 48 (2014), S. 194 – 196. Zwei neue liturgische Bücher zur Tagzeitenliturgie sowie zur Kranken- und Sterbeliturgie sind bereits im Approbationsstadium (Stand: August 2017; s. dazu weiter unten in Kap. III.5 u. III.6). 10 Presseamt des Heiligen Stuhls, Erezione di Ordinariato Personale di Our Lady of the Southern Cross e nomina del primo Ordinario, in: Tägliches Bulletin vom 15. 06. 2012 (online verfügbar unter: http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2012/06/15/ 0357/00837.html#EREZIONE [Stand: 30. 11. 2016]); C DocFid, Decree of Erection of the Personal Ordinariate of Our Lady of the Southern Cross (05. 06. 2012), in: AAS 104 (2012), S. 599 – 603 (lat. u. engl. Text), (Prot.N. 150/2012), online verfügbar unter: http://anglicanuse news.blogspot.co.at/2012/06/australian-ordinariate-erected-fr-harry.hml (Stand 30. 11. 2016). 11 Erstveröffentlichung in italien. Sprache: OR (I) vom 09./10. 11. 2009, S. 6 f.; amtlicher lat. Text: Benedikt XVI., ApK „Anglicanorum Coetibus“ (04. 09. 2009), in: AAS 101 (2009), S. 985 – 990 (= AC), engl. online verfügbar unter: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_ xvi/apost_constitutions/documents/hf_ben-xvi_apc_20091104_anglicanorum-coetibus_en.html (Stand: 30. 11. 2016), dt. in: AfkKR 178 (2009), S. 550 – 555; vgl. auch Gianfranco Ghirlanda, The Significance of the Apostolic Constitution Anglicanorum Coetibus, in: OR (E) vom 18. 11. 2009, S. 8. Kanonistische Stellungnahmen zu AC (in Auswahl): John M. Huels, Anglicanorum coetibus: Text and Commentary, in: StCan 43 (2009), S. 389 – 430; ders., Canonical Comments on Anglicanorum coetibus, in: Worship 84 (2010), S. 237 – 253; Gordon Read, ,Anglicanorum coetibus‘ – Six months on, in: Canon Law Society of Great Britain and Ireland Newsletter Nr. 162 (June 2010), S. 16 – 21; ders., Commentary, in: Canon Law Society of Great Britain and Ireland Newsletter, Nr. 160 (December 2009), S. 24 – 35; ders., Document No. II: Comment, in: Canon Law Society of Great Britain and Ireland Newsletter, Nr. 165 (March 2011), S. 8 – 16; Gianfranco Ghirlanda, La Costituzione Apostolica Anglicanorum coetibus, in: PerRCan 99 (2010), S. 373 – 430; Juan I. Arrieta, Gli ordinariati personali, in: IusE 22 (2010),

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April 201312) errichtet. Das australische Personalordinariat ist wie das bereits am 15. Januar 2011 auf dem Gebiet der Bischofskonferenz von England und Wales errichtete Personalordinariat Unsere Liebe Frau von Walsingham (Personal Ordinariate of Our Lady of Walsingham)13 und das am 01. Januar 2012 errichtete US-amerikanische Personalordinariat Kathedra Petri (Personal Ordinariate of The Chair of Saint Peter)14 eine diözesanähnliche Institution (personale Teilkirche) der röS. 151 – 172; Norman Doe, The Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus: An Anglican Juridical Perspective, in: One in Christ 44 (2010), S. 23 – 48; Georg Bier, Die Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus und die Ergänzenden Normen der Kongregation für die Glaubenslehre. Eine kanonistische Analyse, in: CrSt 32 (2011), S. 443 – 478; Christian Wirz, Das eigene Erbe wahren. Anglicanorum coetibus als kirchenrechtliches Modell für Einheit in Vielfalt? (= BzMK 63), Essen 2012; José M. Chiclana Áctis, La Constitución Apostólica Anglicanorum Coetibus. Los Ordinariatos Personales para Fieles Provenientes del Anglicanismo, unveröfftl. Diss., Pamplona 2013; Christoph Ohly, Personaladministration und Personalordinariat. Neue verfassungsrechtliche Strukturen im Hinblick auf die Entwicklung eines ökumenischen Kirchenrechts, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte (= KB 13), Berlin 2014, S. 105 – 120. 12 C DocFid, Complementary Norms for the Apostolic Constitution Anglicanorum Coetibus, in: AAS 101 (2009), S. 991 – 996 (in der Online-Version der AAS finden sich die „Ergänzenden Normen“ seltsamerweise nicht), engl. in: OR (E) vom 11. 11. 2009, S. 4, dt. in: AfkKR 178 (2009), S. 555 – 560. Die kanonistisch bemerkenswerte Aufteilung der Rechtsmaterie von ein und demselben Regelungsgegenstand auf zwei unterschiedliche Dokumente lässt sich sachlich allerdings nur schwer nachvollziehen (vgl. dazu Bier, Apostolische Konstitution [Anm. 11], S. 449 – 452). Relativ unbeachtet von der Öffentlichkeit wurde dem Art. 5 eine nicht unwesentliche Ergänzung hinzugefügt (neuer § 2) aufgrund einer Entscheidung der Ordentlichen Versammlung vom 29. 05. 2013, die von Papst Franziskus am 31. 05. 2013 approbiert worden ist, wobei die Aufnahme in die Ordinariate erleichtert wird, falls man zwar in der katholischen Kirche getauft, aber die anderen Initiationssakramente (Erstkommunion und v. a. Firmung) noch nicht empfangen hat (vgl. http://www.vatican.va/roman_curia/congregati ons/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20091104_norme-anglicanorum-coetibus_ge.html [Stand: 10. 12. 2016]). 13 C DocFid, Decree of Erection of the Personal Ordinariate of Our Lady of Walsingham (15. 01. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 129 – 133 (engl. u. lat. Text) (Prot.N. 217/08); s. auch Anthony Jeremy, Apostolic Constitution Anglicanorum Coetibus and the Personal Ordinariate of Our Lady of Walsingham, in: CrSt 32 (2011), S. 425 – 442. 14 Presseamt des Heiligen Stuhls, Erezione di Ordinariato Personale di Chair of St. Peter e nomina del primo Ordinario, in: Tägliches Bulletin vom 01. 01. 2012, online verfügbar unter: http://www.news.va/en/news/53329 (Stand: 30. 11. 2016); C DocFid, Errichtungsdekret (01. 01. 2012), online verfügbar unter: http://ordinariate.net/documents/resources/CSP_Decree.pdf (Stand: 30. 11. 2016). Für Kanada wurde für ehemalige Anglikaner, besonders aus der Anglican Catholic Church of Canada (ACCC), ein Dekanat (Deanery of St. John the Baptist) errichtet (vgl. http://calgaryordinariate.weebly.com/canadian-deanery.html [Stand: 30. 11.2016]), das zunächst Teil des US-amerikanischen Personalordinariates sein wird, bevor man evtl. in einigen Jahren dort ein eigenständiges Ordinariat einrichtet; s. auch http://www.catholicregister.org/item/ 14278-canadian-anglican-groups-welcomed-into-catholic-church (Stand: 30.11. 2016). Die ACCC (s. http://www.anglicancatholic.ca [Stand: 30. 11. 2016]) benutzte ein eigenes Altarmessbuch (Altar Missal according to the Use of The Anglican Catholic Church of Canada, 2010); vgl. auch den sehr wertvollen Artikel von Clinton A. Brand, That Nothing Be Lost: America, Texas, and the Making of Anglicanorum coetibus, in: Catholic Southwest. A Journal of History and Culture 22 (2011), S. 48 – 67.

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misch-katholischen Kirche (kirchenrechtlich ähnlich einem exemten Militärordinariat15), hier auf dem Gebiet von Australien für ehemalige Mitglieder und Gemeinden der Anglican Church of Australia, aber auch für andere anglikanische Gruppierungen in Australien (z. B. Anglican Catholic Church of Australia), die in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche zurückkehren wollen, ohne ihr besonderes anglikanisches Erbe, auch im Bereich der Liturgie, aufgeben zu müssen.16 Es ist sogar möglich, dass sich in einigen Jahren die anglikanische Kirche der Torres Strait (eine zu Australien gehörende Inselgruppe zwischen Nordaustralien und Papua-Neuguinea mit melanesischen Ureinwohnern) als Territory dem australischen Personalordinariat anschließen könnte.17

III. Die besondere Liturgieform oder der neue liturgische Usus (Divine Worship) der Personalordinariate für ehemalige Anglikaner18 Im 16. Jahrhundert kam es in England unter König Heinrich VIII. († 1547) zu einer Abspaltung der katholischen Kirche in England von der katholischen Gesamtkirche. Der König ließ sich durch die Suprematsakte des Parlaments („Act of Supremacy“) im Jahre 1534 als Supreme Head, als höchstes Oberhaupt der Kirche 15 Vgl. Johannes Paul II., ApK „Spirituali militum curae“ (21. 04. 1986), in: AAS 78 (1986), S. 481 – 486, dt. in: ÖAKR 36 (1986), S. 245 – 249. 16 Vgl. AC III; s. auch das konziliare Ökumenismusdekret in UR 13: „[…] Aliae dein, post amplius quattuor saecula, in Occidente ortae sunt ex eventibus qui sub nomine Reformationis communiter veniunt. Exinde a Sede Romana plures Communiones sive nationales sive confessionales seiunctae sunt. Inter eas, in quibus traditiones et structurae catholicae ex parte subsistere pergunt, locum specialem tenet Communio anglicana […].“; dt.: „[…] Andere Spaltungen entstanden sodann mehr als vier Jahrhunderte später im Abendland aufgrund von Ereignissen, die man die Reformation nennt. Seither sind mehrere nationale oder konfessionelle Gemeinschaften vom Römischen Stuhl getrennt. Unter denjenigen von ihnen, bei denen katholische Traditionen und Strukturen zum Teil fortbestehen, nimmt die Anglikanische Gemeinschaft einen besonderen Platz ein […]“ (eigene Hervorhebung). 17 Ernsthafte Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl auf der Basis von „Anglicanorum Coetibus“ laufen bereits seit März 2014 und finden Unterstützung durch Papst Franziskus (vgl. einen Brief der Glaubenskongregation vom 03. 04. 2014 an Msgr. Harry Entwistle, unterzeichnet vom damaligen Kardinalpräfekten Ludwig G. Müller [Prot.N. 150/12 – 46235]). Momentan stocken die Verhandlungen allerdings! 18 Zum Folgenden vgl. Hans-Jürgen Feulner, Das „Anglikanische Ordinale“. Eine liturgiegeschichtliche und liturgietheologische Studie, 1. Bd, Neuried 1997, S. 113 – 238; ders., The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition: Importance and Ecumenical Relevance from the Perspective of Comparative Liturgy, in: Stephen Cavanaugh (Hrsg.), Anglicans and the Roman Catholic Church. Reflections on Recent Developments, San Francisco 2011, S. 184 – 224, hier S. 201 – 209; ders., „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? (Anm. *), 254 – 265 (in der Rezension wird fälschlicherweise behauptet, es sei in diesem Beitrag „von einer ,Liturgiereform‘ [S. 260]“ die Rede, was gar nicht stimmt, sondern es heißt dort korrekt „Liturgieform“; vgl. ALW 56 [2014], S. 331 [s. o. Anm. *] ). Die Begriffe Liturgieform und liturgischer Usus werden in der Folge gleichbedeutend verwendet.

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von England mit weitreichenden Vollmachten, einsetzen, um durch den willfährigen Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer († 1556),19 seine Ehetrennung von Katharina von Aragonien zu erwirken, die ihm von Rom zuvor verweigert worden war. Während seiner Regentschaft wurden allerdings nur geringfügige Änderungen im Bereich der Liturgie eingeführt, erst unter seinem minderjährigen Sohn Eduard VI. († 1553) kam es zu einer umfassenden Reform des kirchlichen Lebens und der Liturgie im kalvinistischen Sinne, gefördert und kodifiziert durch die Herausgabe des „Book of Common Prayer“ (1549,20 1552,21 1559,22 1662 etc.).23 Das „Book of Common Prayer“ von 1662,24 herausgegeben kurz nach der Regentschaft von Oliver Cromwell († 1658), ist grundsätzlich bis heute noch das einigende liturgische Band der Anglikanischen Kirchengemeinschaft und ist in vielen Kirchenprovinzen bzw. Teilkirchen, neben zeitgenössischen „Prayer Books“ oder anderen liturgischen Büchern, nach wie vor erlaubt (z. B. in England).25

19

Vgl. Edward C. Ratcliff, The Liturgical Work of Archbishop Cranmer, in: Journal of Ecclesiastical History 7 (1956), S. 189 – 203; Jasper Ridley, Thomas Cranmer, Oxford 1962; Diarmaid MacCulloch, Thomas Cranmer: A Life, New Haven 1996; Gordon Jeanes, Cranmer and Common Prayer, in: Charles C. Hefling/Cynthia L. Shattuck (Hrsg.), The Oxford Guide to the Book of Common Prayer: A Worldwide Survey, New York/Oxford 2006, S. 21 – 38. 20 The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments, and Other Rites and Ceremonies of the Church: After the Use of the Church of England (1549). Erst ein Jahr später wurden die Ordinationsriten publiziert, die noch nicht Bestandteil des „First Book of Common Prayer“ waren: The Form and Manner of Making and Consecrating of Archbishops, Bishops, Priests, and Deacons (1550) (vgl. Feulner, Das Anglikanische Ordinale [Anm. 18], S. 173 – 221); s. auch Frank E. Brightman, The English Rite: Being a Synopsis of the Sources and Revisions of the Book of Common Prayer, 2. Bd., Farnborough 1970, S. 928 – 1017; Feulner, Das Anglikanische Ordinale (Anm. 18), S. 165 – 172; ders., The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition (Anm. 18), S. 201 – 204. 21 The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments, and Other Rites and Ceremonies in the Church of England (1552); vgl. Feulner, Das Anglikanische Ordinale (Anm. 18), S. 223 – 238; ders., The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition (Anm. 18), S. 204 – 206. 22 John E. Booty (Hrsg.), The Book of Common Prayer 1559: The Elizabethan Prayer Book (= Folger Documents of Tudor and Stuart Civilization 22), Charlottesville 1976. 23 Vgl. David N. Griffiths, The Bibliography of the „Book of Common Prayer“ 1549 – 1999, London 2002; Alan Jacobs, The Book of Common Prayer: A Biography, Princeton 2013. 24 The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments, and Other Rites and Ceremonies in the Church of England, according to the Use of the Church of England, Together with the Psalter or Psalms of David, pointed as they are to be sung or said in Churches: And the Form and Manner of Making, Ordaining and Consecrating Bishops, Priests, and Deacons (1662); vgl. Feulner, The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition (Anm. 18), S. 206 – 208. 25 Vgl. Edward C. Ratcliff, From Uniformity to Unity 1662 – 1962, hrsg. v. Geoffrey F. Nuttall/Owen Chadwick, London 1962; Geoffrey J. Cuming, A History of Anglican Liturgy, London 19822, S. 116 – 127.

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1. Die „Pastoral Provision“ in den USA und das „Book of Divine Worship“ Seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es besonders in den USA26 zu einer Abspaltung von einzelnen Gemeinden (und jüngst auch von ganzen Diözesen) von der (Protestant) Episcopal Church in the United States of America ([P] ECUSA), die die amerikanische Teilkirche (oder Provinz) der Anglikanischen Kirchengemeinschaft ausmacht.27 Daher wurde 1980 von der Kongregation für die Glaubenslehre die sog. „Pastoral Provision“ in den USA gegründet,28 die nicht nur den Übertritt von anglikanischen Laien und Priestern in die katholische Kirche regelt, sondern auch unter gewissen Umständen den katholischen Diözesanbischöfen in den USA die Möglichkeit eröffnete, für konvertierte Pfarrgemeinden eigene „Personalpfarreien“ innerhalb bestehender (Territorial-)Diözesen zu errichten,29 die man Anglican Use Parishes oder manchmal auch Pastoral Provision Parishes (offiziell: Personal Parishes of the Anglican Common Identity) nannte und die eine adaptierte anglikanische Liturgie beibehalten durften: „2) Liturgy: The group may retain certain elements of the Anglican liturgy; these are to be determined by a Commission of the Congregation set up for this purpose. Use of these elements will be reserved to the former members of the Anglican Communion. Should a former

26

Die Episcopal Church in den USA trennte sich 1790 von der Church of England und hatte als liturgische Quelle das engl. „Book of Common Prayer“ von 1662 sowie bes. das „Scottish Book of Common Prayer“ von 1637 (vgl. Feulner, The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition [Anm. 18], S. 207 – 209); s. auch Kenneth F. Yossa, „Alterations and Additions Therein Added“ – Some Liturgical and Ecumenical Implications for the Eucharistic Rite in the Book of Divine Worship, in: En Cristo 1 (2007), S. 27 – 42, hier S. 28 f. 27 Zur amerikanischen Episcopal Church vgl. Brand, That Nothing Be Lost (Anm. 14), S. 51 – 57; eine gute Übersicht des amerikanischen Anglikanismus bei Stephen Neill, Anglicanism, London/Oxford 1977, S. 216 – 228 u. 282 – 287; David Locke (Hrsg.), The Episcopal Church, New York 1991. 28 Das Errichtungsdekret in Form eines Briefes der Glaubenskongregation (Prot.N. 66/77), unterzeichnet vom damaligen Kardinalpräfekt Franjo Sˇ eper, an den Erzbischof von San Francisco, John R. Quinn, trägt das Datum vom 22. 07. 1980 und ist inhaltlich von Papst Johannes Paul II. am 20. 06. 1980 in einer Audienz gutgeheißen worden (abgedruckt in: Cavanaugh, Anglicans and the Roman Catholic Church [Anm. 18], S. 227 – 231 [Appendix B]). Zum geschichtlichen Werdegang der „Pastoral Provision“ s. James M. Sheehan, A New Canonical Configuration for the „Pastoral Provision“ for Former Episcopalians in the United States of America? (Dissertation at the Pontificia Università della Santa Croce/Rom), Roma 2003, passim, und Jack D. Barker, A History of the Pastoral Provision for Roman Catholics in the USA, in: Cavanaugh, Anglicans and the Roman Catholic Church (Anm. 18), S. 3 – 26. Die „Pastoral Provision“ von 1980 reicht eigentlich relativ weit in die amerikanische Religionsgeschichte zurück, was sehr deutlich aufgezeigt wurde von Brand, That Nothing Be Lost (Anm. 14), passim; s. auch Joseph H. Fichter, The Pastoral Provisions – Married Catholic Priests, Kansas City/MO 1989. 29 S. Pastoral Provision II § 1 (Anm. 28).

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Anglican priest celebrate public liturgy outside this group, he will be required to adopt the common Roman Rite.“30

Außerdem wurde gleichzeitig eine großzügige Ausnahmeregelung für den Zölibat erlaubt, insofern die meist verheirateten anglikanischen Geistlichen unter bestimmten Voraussetzungen als katholische Priester weiter fungieren können,31 nachdem sie „absolut“ (re-)ordiniert worden sind, d. h. die katholische Diakonen- und Priesterweihe empfangen haben.32 Neben der (Re-)Ordination33 der (überwiegend verheirateten) anglikanischen Geistlichen in den USA, erlaubte die „Pastoral Provision“ von 1980 also auch die Errichtung der Anglican Use Parishes in den USA und genehmigte ein besonderes liturgisches Buch, das liturgische Elemente aus der anglikanischen Tradition enthielt.34 Diese Liturgieform wurde schrittweise erweitert, 1984 für eine unbestimmte Zeitdauer erlaubt und schließlich am 20. Februar 1987 von der Kongregation für den Gottesdienst und der National Conference of Catholic Bishops (NCCB; seit Juli 2001 US Conference of Catholic Bishops [USCCB]) approbiert.35 In gedruckter Form lag diese Anglican Use-Liturgie seit 2003 (bis 29. November 2015 bzw. bis 31. Dezem-

30 S. Pastoral Provision II § 2 (Anm. 28) (eigene Hervorhebung). Die Kongregation für Sakramente und Gottesdienst ist bei liturgischen Aspekten einzubeziehen (s. ebd., V § 1: „[…] In what concerns the liturgical aspects of the statute, the [Sacred] Congregation for the Sacraments and Divine Worship will be asked for its accord […]“). 31 S. Pastoral Provision II § 3. 32 S. Pastoral Provision II § 3. Dahinter steht Papst Leo XIII., der in seinem Lit. Ap. „Apostolicae Curae“ (13. 09. 1896) die anglikanischen Ordinationen als „völlig ungültig und gänzlich nichtig“ erklärt hatte: „[…] Itaque omnibus Pontificum Decessorum in hac ipsa causa decretis usquequaque assentientes, eaque plenissime confirmantes ac veluti renovantes auctoritate Nostra, motu proprio certa scientia, pronunciamus et declaramus, ordinationes ritu anglicano actas, irritas prorsus fuisse et esse, omninoque nullas […].“ (ASS 29 [1896/97], S. 193 – 203, hier S. 202); s. auch John J. Hughes, Absolut Null und Nichtig. Zur Ablehnung der anglikanischen Weihen durch die Bulle von Leo XIII. „Apostolicae curae“ (13. 09. 1896) (= Studia Anglicana 2), Trier 1970; George Tavard, A Review of Anglican Orders: The Problem and the Solution, Collegeville 1990; Giuseppe Rambaldi, Ordinazioni Anglicane e Sacramento dell’Ordine nella Chiesa. Aspetti storici e teologici: A cento anni dalla bolla Apostolicae curae di Leone XIII, Roma 1995; R. William Franklin (Hrsg.), Anglican Orders: Essays on the Centenary of Apostolicae Curae, 1896 – 1996, London 1996; Christopher Hill/ Edward Yarnold (Hrsg.), Anglican Orders. The Documents in the Debate, Norwich 1997; Margaret O’Gara, Apostolicae Curae after a Century. Anglican Orders in Light of Recent Ecumenical Dialogue on Ordained Ministry in the Church, in: CLSA 60 (1998), S. 1 – 18. 33 Vgl. John J. Hughes, Der Priesterliche Dienst 6: Zur Frage der anglikanischen Weihen – Ein Modellfall festgefahrener Kontroverstheologie (= QD 59), Freiburg 1973; John Jay Hughes, ehemaliger anglikanischer Geistlicher, wurde nach seiner Konversion zur katholischen Kirche in Münster von Bischof Joseph Höffner (der spätere Kardinal-Erzbischof von Köln) im Jahre 1968 sogar „bedingungsweise“ (sub conditione) zum katholischen Diakon und Priester geweiht. 34 Vgl. Pastoral Provision II § 2 (Anm. 28). 35 Vgl. Barker, History of the Pastoral Provision (Anm. 28), S. 22 f.

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ber 2015) als „Book of Divine Worship“36 vor und enthält hauptsächlich Elemente aus dem amerikanischen „Prayer Book“ von 192837 und dem von 197938 sowie aus dem amerikanischen Römischen Messbuch („Sacramentary“) von 1973/74.39 Das „Book of Divine Worship“ beinhaltete nicht nur die Eucharistiefeier (The Holy Eucharist) in zwei Formen (traditionelles [Rite One] und modernes Englisch [Rite Two]), sondern auch die Tagzeitenliturgie (The Daily Office), Taufe (Holy Bap-

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Book of Divine Worship Being Elements of the Book of Common Prayer Revised and Adapted According to the Roman Rite for Use by Roman Catholics Coming from the Anglican Tradition – Approved by the National Conference of Catholic Bishops of the United States of America and Confirmed by the Apostolic See, Mt. Pocono 2003 (= BDW); dieses liturgische Buch wurde zunächst bezeichnet als „Book Containing Elements of the Anglican Liturgy for the Use of the Common Identity Group“ (1983); vgl. Sheehan, A New Canonical Configuration (Anm. 28), S. 170 f. Es war allerdings vom Apostolischen Stuhl nie intendiert, dass das BDW als gedrucktes Buch in vorliegender Form publiziert wurde. Es erhielt als liturgisches Buch 2003 auch keine römische confirmatio; s. bes. die wertvolle Studie von Daniel Podertschnig, Die „Anglican Use Liturgy“. Eine Untersuchung des Römischen Ritus für Katholiken anglikanischer Tradition (unveröffentl. Diplomarbeit), Wien 2012, passim; s. auch Austin Cooper, Catholics Using Cranmer, in: The Australasian Catholic Record 84/3 (2007), S. 267 – 278 sowie die ziemlich polemische Bewertung des BDW von Robert I. Williams, The Book of Divine Worship – A Catholic Critique. The Heresies of Cranmer Honoured Within the Anglican Use of the Catholic Church, Bangor is y Coed 2004. Die Bezeichnung „Book of Divine Worship“ stand einerseits in der anglikanischen Tradition des „Book of Common Prayer“, andererseits war es auch eine Hommage an die damals bei der Erstellung zuständige Congregation of Divine Worship, eine Tatsache, die bei der gegenwärtigen (unglücklichen) Bezeichnung der liturgischen Sonderform für die drei Personalordinariate, nämlich Divine Worship, übersehen wird (s. auch Anm. 102). Ein Dissertationsprojekt von Daniel Seper (Podertschnig) (Wien) nimmt sich u. a. auch der Entstehungsgeschichte des BDW an (s. u. Anm. 57). Dass „Book of Divine Worship“ ein Synonym sei für „Book of Common Prayer“, da Thomas Cranmer bereits common prayer im Sinne von divine worship/cultus divinus (Liturgie/Gottesdienst) verstand, scheint etwas weit hergeholt zu sein (vgl. E-Mail von C. David Burt aus Teaticket/MA in den USA vom 17. 02. 2017 an den Verf.). 37 The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments and Other Rites and Ceremonies of the Church according to the Use of the Protestant Episcopal Church in the United States of America Together with the Psalter or Psalms of David, New York 1929; vgl. Thaddäus A. Schnitker, The Church’s Worship. The 1979 American Book of Common Prayer in a Historical Perspective (= EH XXIII/Theologie 351), Frankfurt a. M. 1989, S. 49 – 104. 38 The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments and Other Rites and Ceremonies of the Church Together with the Psalter or Psalms of David according to the Use of the Episcopal Church, New York 1979. Zur Beschreibung des revidierten 1979 „American Prayer Book“ s. Schnitker, The Church’s Worship (Anm. 37), S. 105 – 150. Eine genaue Untersuchung der Entstehung des amerikanischen „Prayer Book“ und seine Unterschiede zum engl. „Book of Common Prayer“ von 1662 bei Marion J. Hatchett, The Colonies and States of America, in: Charles C. Hefling/Cynthia L. Shattuck (Hrsg.), The Oxford Guide to the Book of Common Prayer: A Worldwide Survey, New York/Oxford 2006, S. 176 – 185 u. Massey H. Shepherd, The Oxford American Prayer Book Commentary, New York 1950. 39 The Roman Missal – The Sacramentary, New York 1974 (die engl. Übers. wurde wohl bereits im November 1973 von der US-amerikanischen Bischofskonferenz approbiert).

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tism), Trauung (Holy Matrimony) und Beerdigung (The Burial of the Dead) sowie zwei Psalter.40 Bis zur Errichtung des Personalordinariates The Chair of St. Peter gab es nur wenige Anglican Use-Gemeinden in den USA,41 eigentlich nur sieben in verschiedenen Diözesen (die meisten davon in Texas): Our Lady of the Atonement in San Antonio/ Texas (seit 1983), Our Lady of Walsingham in Houston/Texas (1984) (von Januar 2012 bis Anfang Februar 2016 Hauptkirche [Principal Church] des Personalordinariates, seither Kathedrale [Cathedral]), St. Mary the Virgin in Airlington/Texas (1994) und St. Anselm of Canterbury in Corpus Christi/Texas (1994); St. Athanasius in Boston/Massachussets (1997), St. Thomas More in Scranton/Pennsylvania (2005) und Our Lady of Good Hope in Kansas City/Missouri (2008).42 Weil die „Pastoral Provision“ nur für die USA galt, sind Versuche, außerhalb der USA, nämlich in Kanada und Großbritannien, ähnliche Anglican Use-Gemeinden zu errichten, leider gescheitert, d. h. die konvertierten Anglikaner mussten sich dort bis zur Errichtung der Personalordinariate den lokalen römisch-katholischen Gemeinden anschließen bzw. wurden die ehemaligen anglikanischen Geistlichen regulär in katholische Diözesen inkardiniert.

40 S. Clinton A. Brand, Restoring All Things in Christ: Some Reflections on the Pastoral Provision for the Anglican Use of the Roman Rite, in: Paula Jean Miller/Richard Fossey (Hrsg.), Mapping the Cultural Landscape, New York 2004, S. 259 – 274; Yossa, „Alterations and Additions Therein Added“ (Anm. 26), S. 29 – 36. Die immer wieder zu lesende Behauptung, das BDW habe sich aus bereits existierenden liturgischen Büchern der für die ehemals anglikanische Diözese Amritsar/Nordindien in den 1970er Jahren geschaffenen Eigenliturgie entwickelt, ist wesentlich differenzierter zu sehen (vgl. Sheehan, A New Canonical Configuration [Anm. 28], S. 168; Wirz, Das eigene Erbe wahren [Anm. 11], S. 28; auch Kardinal Levada erwähnte diese Verbindung in seiner Mitteilung vom 20. 10. 2009, in: AAS 101 [2009], S. 942). Die Glaubenskongregation hatte vielmehr 1976 erstmalig die Verbindung von Anglican Patrimony und Gottesdienst behandelt, während sie nämlich die Anfrage der anglikanischen Diözese von Amritsar um eine korporative Vereinigung mit der katholischen Kirche prüfte. Obwohl die Kongregation damals den Gebrauch verschiedener anglikanischer Liturgieformulare für übertrittswillige Kleriker und Laien erlaubte (d. h. Elemente des „Book of Common Prayer of the Church of India, Pakistan, Burma, and Ceylon“ [1963] wurde diese Autorisierung jedoch nie in der Praxis umgesetzt (s. dazu auch Lopes, A Missal for the Ordinariates [Anm. 2], S. 118; James Bradley, The Provenance and Purpose of Personal Ordinariates [unveröffentl. Lizentiatsarbeit], Washington/DC 2016, S. 10 f.; Seper, Das Book of Divine Worship [s. Anm. 57], passim [Kap. zur „Pastoral Provision“]). 41 S. auch Brand, That Nothing Be Lost (Anm. 14), S. 61 f.; Barker, History of the Pastoral Provision (Anm. 28), S. 25. 42 Die Anglican Use-Gemeinden in Las Vegas/Nevada (St. Mary the Virgin; errichtet 1983) und in Austin/Texas (St. Margaret of Scotland, errichtet 1984) sind mittlerweile aufgegeben worden. Die Gemeinde The Good Shepherd (errichtet 1984) in Columbia/South Carolina wurde irgendwann schließlich in die zugehörige Diözese und deren herkömmlichen Römischen Ritus integriert; vgl. auch Brand, That Nothing Be Lost (Anm. 14), S. 61; Barker, History of the Pastoral Provision (Anm. 28), S. 25.

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2. Die Apostolische Konstitution „Anglicanorum Coetibus“ Neben diesen Anglican Use-Pfarreien in den USA gab es immer wieder Übertritte einzelner anglikanischer Kleriker und Laien sowie Mitglieder aus einer größeren Gemeinschaft, der Traditional Anglican Communion (TAC),43 die sich 1991 als weltweite Föderation traditioneller Anglikaner etabliert hatte und einige der sog. Continuing Churches44 umfasst. Die TAC hat eine katholische Interpretation der 39 Artikel (von 1563) und die meisten Pfarrmitglieder könnte man in Theologie und liturgischer Praxis als traditionelle Anglo-Catholics bezeichnen. Ihre Gottesdienste werden zumeist gemäß dem „American Missal“45 (oder „Anglican Missal“46 oder „English Missal“47) gefeiert. Diese Missalien48 spiegeln auch in gewissem Ausmaß den liturgischen Diözesanbrauch von Sarum (Salisbury) wider, der im vorreformatorischen England des 16. Jahrhunderts am weitesten verbreitet war und streckenweise der „vor-tridentinischen“ Liturgie ähnelt.49 Am 05. Oktober 2007 unterzeichneten die Bischöfe der TAC in Portsmouth (England) eine Petition sowie den Katechismus der Katholischen Kirche und baten den Heiligen Stuhl um volle, korporative und sakramentale Gemeinschaft (wohl im Sinne einer Rituskirche ähnlich einer katholischen Ostkirche sui iuris).50 Diese Petition und die ständigen Übertritte von anglikanischen Klerikern und Laien in den USA, Kanada, Großbritannien und Australien führten schließlich dazu, dass sich der Heilige Stuhl damit befasste, die seit 1980 geltenden Bestimmungen der „Pastoral 43 Vgl. http://traditionalanglicancommunion.org (Stand: 31. 01. 2016); s. auch Feulner, The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition (Anm. 18), S. 214 – 216. 44 „,Continuing‘ in the sense that these church bodies have ,continued‘ what they believe to be an authentic representation of the Anglican doctrine and practice.“ (Yossa, „Alterations and Additions Therein Added“ [Anm. 26], S. 38, Anm. 11). Zu den wichtigsten anglikanischen Gemeinschaften in den USA s. William J. Tighe, „Anglican Bodies and Organizations“, online verfügbar unter: http://touchstonemag.com/merecomments/2006/10/anglican_taxono (Stand: 30. 11. 2016). 45 The American Missal, Milwaukee u. a. 1931, 1951, 1988, 2010. 46 The Anglican Missal, London u. a. 1921, 1943, 1947 etc.; The Anglican Missal in the American Edition (1961, 1988). Zu den Anglican Missals vgl. den Überblick bei Mark Dalby, Anglican Missals and Their Canons: 1549 Interim Rite and Roman (= Joint Liturgical Studies 41), Cambridge 1998, bes. S. 16 – 33. 47 The English Missal, London u. a. 1912, 1933, 1958, 2001. 48 Zu diesen Missalien s. Feulner, The Anglican Use Within the Western Liturgical Tradition (Anm. 18), S. 218 f. 49 The Sarum Missal in English, hrsg. v. Albert H. Pearson, London 1868, 1911 (2004); The Old Sarum Rite Missal, hrsg. v. Aidan Keller (= Sarum Rite Series 6), Austin 1998. 50 Vgl. https://foolishnesstotheworld.wordpress.com/2012/09/30/excerpts-from-the-minutesof-the-historic-2007-college-of-bishops-meeting-in-portsmouth (Stand: 08. 05. 2017); s. auch Steven J. Lopes, Unity of Faith in a Diversity of Expression: The Work of the Congregation for the Doctrine of the Faith (Vortrag am 28. 03. 2017 an der Universität Wien), online verfügbar unter: https://www.ordinariate.net/documents/2017/4/Bishop_Lopes_28March17_Lecture.pdf (Stand: 08. 05. 2017), S. 8 f.

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Provision“51 auf einer kirchenrechtlichen und universalen Basis neu aufzustellen, was schließlich im November 2009 zur Veröffentlichung der Apostolischen Konstitution „Anglicanorum Coetibus“ führte. Sie regelt die Einrichtung von Personalordinariaten für zur katholischen Kirche konvertierte Anglikaner.52 Zugleich wurden 14 Artikel veröffentlicht, die ergänzende Normen zu dieser Konstitution enthalten.53 Die von der Kongregation für die Glaubenslehre zu errichtenden Personalordinariate bestehen neben den schon existierenden, aber territorial umschriebenen römisch-katholischen Bistümern. Sie sind also nicht Teil eines Bistums, sondern eine rechtlich selbstständige personale Teilkirche (ähnlich den Militärordinariaten).54 Die Ordinariate können die liturgischen Bücher der anglikanischen Kirche in adaptierter Form weiter benutzen und nach ihnen die Eucharistie, die anderen Sakramente und das Stundengebet feiern. Die Zelebration des Römischen Ritus ist nicht ausgeschlossen:

51 Zur „Pastoral Provision“, gegenwärtig von Bischof Kevin W. Vann (Orange/Kalifornien) als kirchlicher Delegat geleitet, s. auch http://www.pastoralprovision.org (Stand: 01. 12. 2016). Von 1960 – 2005 gab es wohl mindestens sieben ernsthafte Versuche einer korporativen Vereinigung von anglikanischen Gemeinschaften mit der katholischen Kirche, die schließlich alle fehlschlugen (vgl. Lopes, Unity of Faith in a Diversity of Expression, S. 12). 52 S. o. Anm. 11. Die Publikationsform als Apostolische Konstitution ist päpstlichen Gesetzestexten von besonderem Rang vorbehalten und unterstreicht die Bedeutung, die Papst Benedikt XVI. dem Anliegen konversionswilliger Anglikaner und den damit verbundenen ökumenischen Fragestellungen beimaß. Durch „Anglicanorum Coetibus“ wurden außerdem eindeutig teilkirchliche Strukturen etabliert, die offensichtlich auf Dauerhaftigkeit angelegt sind – lediglich die stellvertretende Gewalt des Personalordinarius und seine Ernennung ad nutum Sanctae Sedis, d. h. zur freien Disposition des Heiligen Stuhls (AC V; Art. 4 § 1 der Ergänzenden Normen), erwecken den Eindruck einer vorläufigen Organisationsform (vgl. Bier, Apostolische Konstitution [Anm. 11], S. 447 f. u. 472 f.); Wirz, Das eigene Erbe wahren [Anm. 11], S. 129 – 136). Das mehrjährige Fehlen eines eigenberechtigten Vorstehers (ausschließlich im Bischofsrang mit eigenständiger Gewalt [potestas propria] – wie etwa im Fall der Militärordinariate) ist ein bedauerlicher Mangel gewesen (s. auch Bier, Apostolische Konstitution [Anm. 11], S. 458 – 461; Wirz, Das eigene Erbe wahren [Anm. 11], S. 132 u. 210), der jedoch offensichtlich in der zukünftigen Praxis bereits am 02. 02. 2016 mit der Einsetzung eines zum Bischof geweihten zölibatären Ordinarius für die USA (nämlich Msgr. Steven J. Lopes) allmählich behoben werden wird. Bei der Bischofsordination wurde die Weihemessfeier gemäß dem „Divine Worship Missale“ außerdem einer größeren Feiergemeinde vorgestellt (vgl. das liturgische Begleitheft: The Episcopal Ordination of The Most Reverend Steven Joseph Lopes, First Bishop of the The Personal Ordinariate oft the Chair of Saint Peter, Houston 2016). 53 S. o. Anm. 12. 54 S. o. Anm. 15. Zur Rechtsgestalt der Personalordinariate als personale Teilkirchen s. Bier, Apostolische Konstitution (Anm. 11), S. 452 – 455.

Divine Worship „III. Liturgicis haud exclusis celebrationibus secundum Romanum Ritum, Ordinariatui facultas praebetur celebrandi sacram Eucharistiam ceteraque Sacramenta, Horarum Liturgiam aliasque liturgicas actiones iuxta libros liturgicos Anglicanae traditioni peculiares, ab Apostolica Sede adprobatos, ita ut intra Catholicam Ecclesiam vitales serventur spiritales, liturgicae pastoralesque Communionis Anglicanae traditiones, ad instar magni pretii doni, ad sodalium fidem alendam ac participandam.“55

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„III. Ohne liturgische Feiern gemäß dem Römischen Ritus auszuschließen, hat das Ordinariat die Befugnis, die Eucharistie, die anderen Sakramente, das Stundengebet und die übrigen liturgischen Handlungen gemäß [den]56 eigenen liturgischen Büchern aus der anglikanischen Tradition zu feiern, die vom Heiligen Stuhl approbiert worden sind, um so die geistlichen, liturgischen und pastoralen Traditionen der Anglikanischen Gemeinschaft [innerhalb der katholischen Kirche]57 lebendig zu halten als wertvolles Gut, das den Glauben der Mitglieder des Ordinariates nährt, und als Reichtum, den es zu teilen gilt.“58

Die anglikanischen Traditionen, besonders im liturgischen Bereich, sollen nicht von der katholischen Gemeinschaft absorbiert werden, sondern sind ein Reichtum, der geteilt werden muss, und zwar mit den Katholiken außerhalb der Personalordinariate.59 Hier werden also sehr weitgehende Zugeständnisse gemacht, die auch ökumenisch höchst bedeutsam sind.60 Dem Gesetzestext von AC ist am Ende eine Derogationsformel beigefügt, mit der etwa entgegenstehende ältere gesetzliche Bestim55

AC III (eigene Hervorhebung). Der offizielle lat. Text hat naturgemäß keinen Artikel, weshalb man in der dt. Übers. auch etwas unbestimmter lesen könnte: „[…] gemäß eigenen liturgischen Büchern aus der anglikanischen Tradition zu feiern […].“ 57 Das in der lat. Fassung stehende „intra Catholicam Ecclesiam“ bleibt leider im Deutschen unübersetzt (anders als in der engl. Übers., wo „within the Catholic Church“ steht). Nach AC III wird also einigen Traditionen der Anglikanischen Gemeinschaft ein besonderer Wert beigemessen, insofern diese in die katholische Kirche eingebettet werden (vgl. dazu: Daniel Seper, Das Book of Divine Worship – Eine Untersuchung des liturgischen Buches für Katholiken anglikanischer Tradition [unveröffentl. Diss. d. Universität Wien], 2017, passim [Kap. zu AC]). 58 AC III (eigene Hervorhebung). 59 Vgl. auch Ghirlanda, Costituzione (Anm. 11), S. 386 – 389; Wirz, Das eigene Erbe wahren (Anm. 11), S. 28 – 30. 60 Vgl. Wirz, Das eigene Erbe wahren (Anm. 11), S. 63 – 80; kritisch äußert sich u. a. Wolfgang Klausnitzer, Uniert, nicht absorbiert? Der anglikanisch-katholische Dialog nach Anglicanorum Coetibus, in: StdZ 228 (2010), S. 75 – 86: „Allerdings ist […] zu befürchten, daß der […] Einfluß des anglokatholischen Segments in der Anglikanischen Gemeinschaft durch solche Übertritte zur katholischen Kirche […] weiter schwindet. Das kann das Gesicht der Anglikanischen Gemeinschaft wie auch die Ökumene nicht unbeträchtlich verändern.“ (ebd., S. 82); weitere Stimmen zur ökumenischen Bedeutung von AC: Michel van Parys, La Constitution apostolique Anglicanorum coetibus: L’évaluation d’un oecuméniste catholique, in: CrSt 32 (2011), S. 479 – 487; Christopher Hill, An evaluation of the Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus in the current ecumenical situation, in: ebd., S. 489 – 500 u. a. 56

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mungen, auch liturgierechtlicher Natur, außer Kraft gesetzt oder modifiziert sind.61 In jedem Fall zählt der liturgische Usus Divine Worship, soweit er bereits approbiert ist bzw. evtl. noch approbiert sein wird, zu den offiziellen heiligen Handlungen, die im Sinne von c. 834 §2 CIC/1983 im Namen der Kirche vollzogen werden und an denen jeder Katholik selbstverständlich und legitimerweise (aktiv) teilnehmen kann. Allerdings kann diese Liturgieform der Personalordinariate nicht als eigener Ritus im selben Sinne verstanden werden, wie er in den östlichen katholischen Rituskirchen sui iuris gefeiert wird, sondern ist lediglich eine besondere Form oder ein neuer Usus des Römischen Ritus, auch wenn er sich deutlich von den anderen liturgischen Riten und Usus (Eigenbräuche) unterscheidet, die zur lateinischen (westlichen) Ritusfamilie gehören, wie die ordentliche und außerordentliche Form des Römischen Ritus, der Glagolitische Usus, der liturgische Diözesanbrauch in Braga (Nordportugal) etc.62 Das wird ausdrücklich von der Apostolischen Konstitution auch dadurch unterstrichen, dass sie den Gebrauch liturgischer Feiern im Römischen Ritus nicht ausschließt.63 Auch wenn die Feier der Divine Worship-Liturgieform (oft 61 Vgl. c. 38 CIC/1983; c. 1515 CCEO. Die AC-Schlussformel lautet: „Nostra haec autem statuta et praescripta nunc et in posterum firma et efficacia esse et fore volumus, non obstantibus, quatenus opus sit, Constitutionibus et Ordinationibus Apostolicis a Decessoribus Nostris editis, ceterisque praescriptionibus etiam peculiari mentione et derogatione dignis.“ (dt. „Es ist unser Wunsch, dass diese unsere Verfügungen und Normen jetzt und in der Zukunft gültig und wirksam sind, unbeschadet der von unseren Vorgängern herausgegebenen Apostolischen Konstitutionen und Verfügungen und etwaiger anderer Vorschriften, auch wenn diese besondere Erwähnung oder Aufhebung erforderlich machen.“); s. auch Georg May, Derogationsformeln, in: AfkKR 161 (1992), S. 11 – 41. 62 Vgl. z. B. auch Daniel Podertschnig [Seper], Der eine Ritus und die vielen Formen. Zur Frage nach der Legitimität liturgischer Vielfalt in der Einheit des Römischen Ritus, in: Alexander Gaderer u. a. (Hrsg.), Alles egal? Theologische Reflexionen zur Gleichgültigkeit, Freiburg u. a. 2015, S. 189 – 210; Predrag Bukovec, Der Glagolitische Usus des Römischen Ritus, in: OS 64 (2015), S. 96 – 129. Es ist einigermaßen erstaunlich, wenn ein Rezensent es theologisch nicht nachvollziehen vermag, dass „die ,Einheit der Liturgie‘, welche Vielfalt von Ausdrucksformen innerhalb des röm. Ritus erlaubt, auch die außerordentliche Form einschließt […]“ wie es ihm „auch verwundert, dass die außerordentliche Form, Anglican Use und ,alle rechtmäßig anerkannten Riten, Diözesan- und Ordensbräuche‘ […] in einem Atemzug genannt werden.“ (ALW 56 [2014], S. 331 [s. o. Anm *]). Mag man nun der außerordentlichen Form des Römischen Ritus theologisch und begrifflich durchaus kritisch gegenüberstehen, seit dem Motu proprio von 2007 gehört diese jedoch nun einmal zur liturgischen Realität innerhalb der Katholischen Kirche dazu. Das MP „Summorum Pontificum“ (07. 07. 2007) und die dazu gehörende Instr. „Universae Ecclesiae“ (13. 05. 2011) haben darüber hinaus völlig neue Perspektiven auch für den Glagolitischen Usus eröffnet (vgl. Predrag Bukovec, Der Glagolitische Usus, in: OS 64 [2015], S. 96 – 129, bes. S. 129) wie auch für die sich im Gange befindlichen Wiederherstellungsbemühungen verschiedener Ordensbräuche (Dominikaner, Prämonstratenser, Zisterzienser), die nach dem II. Vatikanischen Konzil (freiwillig) aufgegeben wurden (s. dazu etwas ausführlicher Feulner, „Divine Worship“ oder „Anglican Use“ des Römischen Ritus? [Anm. *], S. 244 f. mit Anm. 24 – 36). 63 Es handelt sich hierbei um ein „Erlaubnisgesetz“, das Handlungsfreiheit nach Belieben zugesteht und nicht eingeschränkt werden darf, d. h. die Personalordinariate können unter-

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auch noch nach der früher üblichen Bezeichnung Anglican Use genannt) außerhalb der Personalordinariate nur sehr eingeschränkt gestattet ist,64 bestärkt AC, dass diese Liturgieform oder dieser Usus dazu diene, „die geistlichen, liturgischen und pastoralen Traditionen der Anglikanischen Gemeinschaft [innerhalb der katholischen Kirche] lebendig zu halten als wertvolles Gut, das den Glauben der Mitglieder des Ordinariates nährt, und als Reichtum, den es zu teilen gilt.“65 Dieses „wertvolle Gut“ wird als ein Schatz klassifiziert, der mit und innerhalb der gesamten katholischen Kirche geteilt werden und damit auch deren gottesdienstliches Leben bereichern soll.66 Worin das spezifische „Anglikanische Erbe“ (AC VI § 5) besteht, wofür AC III einen hinreichend breiten Raum bietet, darüber wurde und wird sehr viel diskutiert.67 Ein breiter Konsens scheint zumindest darüber zu bestehen, dass der Schwerpunkt dessen, was die Anglikaner in die katholische Kirche mitbringen, im liturgischen Bereich liegt, wobei hier immer wieder drei allgemeine Punkte genannt werden: der Sinn für Schönheit und Ehrfurcht in der Liturgie, eine besondere kirchenmusikalische Tradition und der Gebrauch einer sakralen englischen „Hochsprache“ („Prayer-Book“-Englisch).68 Auch wenn AC grundsätzlich weiten Raum für eine Anglican Use-Liturgie schafft, so gibt es im Detail nicht wenige Schwierigkeiten, deren Lösung auch weiterhin wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird (s. weiter unten).69 schiedlich von dieser zugestandenen Wahlfreiheit Gebrauch machen (s. Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 165). 64 Vgl. Divine Worship: Rubrical Directory, Nr. 4 – 5 (Divine Worship: The Missal [Anm. 2], S. 120 f.). 65 S. dazu auch Wirz, Das eigene Erbe wahren (Anm. 11), S. 29 u. 75 f. 66 Vgl. Steven J. Lopes, Einheit im Glauben – Vielfalt im Ausdruck, in: Gottesdienst 48 (2014), S. 194 – 196, hier S. 194. 67 Vgl. z. B. Samuel L. Edwards u. a., What is Anglican Patrimony?, online verfügbar unter: http://www.theanglocatholic.com/2011/06/paper-on-the-anglican-patrimony-2 (Stand: 01. 12. 2016); Tracey Rowland, The Anglican Patrimony, online verfügbar unter: http://ordinariatepor tal.wordpress.com/2011/06/18/tracey-rowland-the-anglican-patrimony (Stand: 30. 11. 2016); Andrew Burnham, What is Anglican Liturgical Patrimony?, online verfügbar unter: http://ordi nariateportal.wordpress.com/2011/07/09/mgr-andrew-burnham-what-is-anglican-liturgical-pa trimony (Stand: 30. 11. 2016); ders., Paper on Anglican Patrimony, online verfügbar unter: http://ordinariateportal.wordpress.com/2011/07/09/mgr-andrew-burnham-paper-on-anglican-pa trimony (Stand: 30. 11. 2016); Nicolas Sagovsky, Is there an Anglican Patrimony?, online verfügbar unter: http://ordinariateportal.wordpress.com/2011/04/02/nicholas-sagovsky-is-therean-anglican-patrimony (Stand: 30. 11. 2016); Martha C. Eischen, What is the Anglican Patrimony?, in: New Oxford Review 79 (2012), S. 32 – 36; Janet E. Rutherford, The Anglican Patrimony, in: dies./James O’Brien (Hrsg.), Benedict XVI and the Roman Missal. Proceedings of the Forth Fota International Conference, 2011, Dublin 2013, S. 208 – 225. 68 Vgl. Wirz, Das eigene Erbe wahren (Anm. 11), S. 90 f.; s. nun auch Clinton A. Brand, Very Members Incorporate: Reflections on the Sacral Language of Divine Worship, in: Antiphon 19 (2015), S. 132 – 154. 69 Vgl. Huels, Canonical Comments (Anm. 11), S. 243: „Although this appears to be a sweeping acceptance of the Anglican liturgical rites, only time will tell what limitations may

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3. Die interdikasteriale Kommission (Working Group) Anglicanae Traditiones Die Erstellung, Approbation und Herausgabe eines eigenen liturgischen Usus (Divine Worship) war ein äußerst aufwändiges Unterfangen, das sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Von Herbst 2011 (bzw. bereits seit 2010) bis Frühjahr 2015 bestand daher eine (zunächst nur von der Kongregation für die Glaubenslehre eingerichtete) interdikasteriale Kommission (Working Group),70 die sich mit der Bereitstellung einer für alle Personalordinariate gültigen Liturgieordnung gemäß AC III beschäftigte, die schließlich von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung in Absprache mit der Kongregation für die Glaubenslehre approbiert und konfirmiert wurde. Bis zur Veröffentlichung der beiden oben erwähnten liturgischen Bücher („Divine Worship: Occasional Services“ [2014] und „Divine Worship: The Missal“ [2015]) hat der Heilige Stuhl zuvor sukzessive die Liturgischen Kalender be imposed by the Holy See.“ Beim Anglican Patrimony geht es natürlich nicht nur um Liturgie, sondern auch um eine nicht ganz einfach zu definierende Art von „Frömmigkeit“ oder „Spiritualität“, um eine besondere seelsorgliche „Methode“ und um eine Weise des Umgangs mit der Gesellschaft (vgl. hierzu Wirz, Das eigene Erbe wahren [Anm. 11], S. 94 – 98); vgl. auch Steven J. Lopes, Der Gottesdienst der Personalordinariate: Eine Vorstellung von Divine Worship: The Missal, in: Una Voce Korrespondenz 47 (2017), S. 193 – 205, hier S. 194 – 197. 70 Mit einem späteren Dekret der Glaubenskongregation vom 03. 10. 2011 (Prot.N. 536/ 2012) wurde diese Kommission als Anglicanae Traditiones: Interdicasterial Working Group neu geordnet (mit genauen Statuten) und unter die Leitung von Vertretern der Glaubens- und der Gottesdienstkongregation gestellt (s. auch die ergangenen Schreiben dieser Kongregation vom 08. 10. 2011 an die bestellten Mitglieder der Kommission [Prot.N. 217/08 – 36793 u. a.]). Sechs Plenarsitzungen (09.–11. 01. 2012 in London, 28.04.–01. 05. 2012 in Wien, 02.–05. 10. 2012 in Oakland und San Francisco, 16.–18. 01. 2013 in London, 24.–27. 6. 2013 in Rom und 08.–10.05. 2014 in London) und zwei Teilgruppen-Sitzungen (30.09.–03. 10. 2013 in Wien und 02.–06.2014 in Houston) dieser Kommission haben stattgefunden, bevor die Kommission mit entsprechendem Dankesschreiben durch den damaligen Kardinalpräfekten der Glaubenskongregation, Gerhard L. Müller, am 22. 04. 2015 offiziell aufgelöst wurde (z. B. Prot.N. 536/ 12 – 50660). Die Sitzung einer vorbereitenden Kommission in etwas anderer Zusammensetzung, bereits im Herbst 2010 durch die Glaubenskongregation eingerichtet, fand vom 04.–05. 07. 2011 in London statt. Die besondere Aufgabe der Kommission wurde im obigen Dekret vom 03. 10. 2011 definiert als „preparing liturgical books reflecting the Anglican tradition for the Personal Ordinariates according to the Apostolic Constitution Anglicanorum Coetibus“ (Prot.N. 536/2012). Dass sich die Glaubenskongregation hier nun auch besonders mit liturgischer Materie im weiteren Sinne beschäftigt, wenn es um korporative Vereinigung(sbemühung)en mit der katholischen Kirche geht, zeigt bereits die Petition der anglikanischen Diözese von Amritsar in Indien (1976 – 1982), dann auch die Ausarbeitung der besonderen liturgischen Ordnung für die Pfarreien der „Pastoral Provision“ in den USA in den 1980er Jahren (im BDW). Das liturgische Leben einer Gruppe, die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche sucht, ist immer schon als wesentlicher Aspekt der übergeordneten Frage der Ermöglichung ihrer Eingliederung in die katholische Kirche angesehen worden. Da die Glaubenskongregation die Feier der Liturgie als wesentlichen Ausdruck des Glaubens versteht, beansprucht sie daher ebenso eine wichtige, wenn nicht sogar übergeordnete, Kompetenz in diesen komplexen Prozessen (vgl. Lopes, Unity of Faith in a Diversity of Expression [Anm. 50], S. 14 f.).

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(„Liturgical Calendars“),71 das Lektionar für Messfeiern („Eucharistic Lectionary“),72 die Begräbnisfeiern („Order for Funerals“),73 die Trauungsfeier („Order for the Celebration of Holy Matrimony“),74 die (Kinder-)Taufe („Order for the Celebration of Holy Baptism“)75 und den „Ordo Missae“76 für den liturgischen Ge71 Der „Liturgische Kalender“ für das Personalordinariat in England und Wales wurde von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung mit Schreiben vom 15. 02. 2012 approbiert (Prot.N. 76/12/L). Auch für die USA wurde ein Liturgischer Kalender approbiert (Schreiben vom 15. 02. 2012 [Prot.N. 77/12/L]). Der „Liturgische Kalender“ für das Personalordinariat in Australien wurde von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung mit Schreiben vom 30. 04. 2013 (Prot.N. 280/13/L) approbiert. Der „Liturgische Kalender“ für das kanadische Dekanat St. John the Baptist war nach damaliger Auffassung der Glaubenskongregation der für das Ordinariat The Chair of St. Peter approbierte, und der zuständige Ordinarius hätte daher Partikularfeste etc. für Kanada genehmigen können. Diese Vorgehensweise war m. E. jedoch nicht ganz angemessen gewesen, da das kanadische Dekanat innerhalb des staatlichen Gebietes der kanadischen Bischofskonferenz mit ihrem approbierten nationalen Eigenkalender liegt und daher für seine Mitglieder auch auf eine enge liturgische Beziehung zu den anderen Katholiken des betreffenden Landes zu achten war, um Verwirrung oder Ärgernis zu vermeiden. Daher wäre es sicherlich bereits damals angebracht gewesen, wenn die Gottesdienstkongregation per Dekret einen eigenen, leicht abweichenden „Liturgischen Kalender“ für das kanadische Dekanat approbiert hätte (vgl. Grundordnung des Kirchenjahres und des neuen Römischen Generalkalenders [21. 03. 1969], Nr. 55 [DEL 1, 1326] u. die Instr. „Calendaria particularia/Die Eigenkalender“ [24. 6. 1970], Nr. 4 [DEL 1, 2097], die die alleinige Zuständigkeit dem Apostolischen Stuhl zuweisen). Immerhin hat man in: Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 135 – 148, im „Liturgischen Kalender“ (Calendar) die dem US-amerikanischen Personalordinariat zugeordneten Gemeinden in Kanada gelegentlich mitberücksichtigt. 72 Für das Messlektionar wurde ebenfalls eine römische Bewilligung für die Personalordinariate erteilt, nämlich das dreibändige RVS Lectionary (Revised Standard Version ThreeYear Lectionary – 2nd Catholic Edition) von Ignatius Press/San Francisco (2012) zu benutzen. Für die USA wurde dies in einem Dekret von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 15. 02. 2012 (Prot.N. 77/12/L) bewilligt, für England und Wales in einem entsprechenden Dekret vom 15. 02. 2012 (Prot.N. 78/12/L), und mit erheblicher Verzögerung schließlich am 14. 02. 2013 auch für Australien (Prot.N. 280/13/L); zur Geschichte der amerikanischen Bibelübersetzungen bis 1971 aus katholischer Perspektive vgl. Claude J. Pfeifer, The New American Bible, in: Worship 45 (1971), S. 102 – 113. Dieses Lektionar wurde veröffentlicht „for use of the Holy See and the Dioceses of the Bishops’ Conferences of Botswana, Ghana, Kenya, Lesotho, Nigeria, South Africa, Swaziland, Zimbabwe and of those countries where the Bishops have given approval.“ 73 Vgl. das Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 22. 06. 2012 für England und Wales (Prot.N. 168/12/L) und die entsprechenden Dekrete vom 22. 06. 2012 für die USA (Prot.N. 169/12/L) und für Australien (Prot.N. 357/12/L). 74 Vgl. das Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 22. 06. 2012 für England und Wales (Prot.N. 359/12/L), und die entsprechenden Dekrete vom 22. 06. 2012 für die USA (Prot.N. 360/12/L) und für Australien (Prot.N. 358/12/L). 75 Mit Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 08. 05. 2013 an die drei Personalordinariate in den USA, England & Wales sowie Australien (Prot.N. 277/13/L, 278/13/L, 279/13/L). In einem Begleitschreiben der Glaubenskongregation vom 15. 05. 2013 an die drei Personalordinariate (z. B. Prot.N. 526/2012 – 42868) wird darauf hingewiesen, dass eine Publikation des vorliegenden „Order for the Celebration of Holy Baptism“ erst dann erfolgen soll, wenn die Riten für die „Eingliederung von [älteren Kindern]

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brauch in den Ordinariaten approbiert.77 In nicht zu ferner Zukunft könnten neben der Feier der Kranken- und Sterbesakramente („Divine Worship: Pastoral Care of the Sick and Dying“)78 eventuell auch noch die Segnungen („Blessings“) folgen. Was die Tagzeitenliturgie („Divine Worship: The Daily Office“) anbelangt, wurden jedoch inzwischen von der Glaubenskongregation [!] für Morgen- und Abendlob („Morning and Evening Prayer“) verbindliche Richtlinien erlassen.79 In der Übergangszeit80 bis November 2015 (d. h. bis zur endgültigen Approbation und Konfirmation einer liturgischen Gesamtordnung mit ihren liturgischen Büchern [„Divine Worship“]) waren für die Personalordinariate – neben dem Gebrauch des Römischen Ritus (in seinen beiden Formen81) – auch die Feiern der Eucharistie, Taufe, Trauung, Beerdigung und Tagzeitenliturgie nach dem BDW möglich gewesen (allerdings jeweils nur in der Form Rite One mit seinem traditionellen „Prayer Book“und Erwachsenen“ sowie die „Aufnahme gültig Getaufter in die volle Gemeinschaft mit der Katholischen Kirche“ fertiggestellt und approbiert sein würden. 76 Der Ordo Missae wurde zunächst nur für Studienzwecke in wenigen ausgewählten Gemeinden (für vorübergehende Dauer, bis das gesamte Messbuch fertiggestellt war) mit Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 07. 05. 2013 an die drei Personalordinariate in den USA, England & Wales sowie Australien (Prot.N. 274/13/L, 275/13/L, 276/13/L) approbiert; vgl. auch das Begleitschreiben der Glaubenskongregation mit erklärenden Bemerkungen zum Ordo Missae vom 15. 05. 2013 an die drei Personalordinariate (z. B. Prot.N. 526/2012 – 42871). Im Oktober 2013 wurden auch die Präfationen während einer interdikasterialen Sitzung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordung und der Glaubenskongregation approbiert und an die Ordinarien geschickt. Dabei wurde auch gebeten, ein Feedback und Errata des Ordo Missae an die Glaubenskongregation zurückzusenden (s. z. B. das Schreiben von Erzbischof Gerhard L. Müller, Präfekt der Glaubenskongregation, vom 22. 10. 2013 an Msgr. Harry Entwistle [Prot.N. 536/2012 – 44439]). 77 Ausführliche liturgiewissenschaftliche Studien zu den einzelnen approbierten liturgischen Feiern der Divine Worship-Liturgie und deren Hintergründe sowie Entstehungsprozesse sind in der Zukunft sicherlich notwendig; s. bereits Andrew Burnham, The Contribution of English Liturgical Patrimony to Continuing Renewal in the Roman Rite, in: Alcuin Reid (Hrsg.), The Sacred Liturgy: The Source and Summit of the Life and Mission of the Church, San Francisco 2014, S. 315 – 333; Lopes, A Missal for the Ordinariates (Anm. 2). Weniger hilfreich und sogar irreführend sind die polemischen Bemerkungen von Andrew Burnham, The Divine Worship Missal (online verfügbar unter: http://www.portalmag.co.uk/portal/portal2015 - 11.pdf, S. 7 f. [Stand: 30. 11. 2016]). 78 S. u. Kap. III.6. 79 S. u. Kap. III.5. 80 Eine einfache Übernahme des BDW war weder in AC vorgesehen noch bei den europäischen Anglikanern erwünscht (vgl. Burnham, What is Anglican Liturgical Patrimony? [Anm. 67], Abs. 4) noch grundsätzlich erstrebenswert, da das BDW damals in relativ großer Eile entstehen musste und etliche gröbere Mängel aufweist. Die bisher approbierten Feiern für Taufe, Trauung und Begräbnis sind bereits 2014 auch offiziell in Buchform veröffentlicht worden als Divine Worship: Occasional Services, London 2014). Vorangestellt sind die fast gleichlautenden Veröffentlichungsdekrete der drei Ordinarien mit Datum vom 19. 01. 2014, die eine liturgische Benutzung des Buches ab dem 02. 02. 2014 erlaubten, obwohl das Buch aber erst im April 2015 gedruckt vorlag (s. o. Anm. 5). 81 S. o. Anm. 62.

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Englisch; gleiches galt für die beiden Formen des Psalters, von denen nur „The Psalter: Traditional“ erlaubt war).82

82 Vgl. das Schreiben der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 14. 12. 2011 (Prot.N. 335/11/L) an den damaligen US-amerikanischen Delegaten, Erzbischof Donald Kardinal Wuerl von Washington/DC, der für die Implementierung von Anglicanorum Coetibus in den USA zuständig gewesen war. Außerdem wurden Bischof Kevin W. Vann von Fort Worth/TX (seit Dezember 2012 von Orange/CA), der neue kirchliche Delegat der weiterhin existierenden „Pastoral Provision“, sowie Jeffrey N. Steenson, der erste Ordinarius des amerikanischen Personalordinariates, vom Apostolischen Stuhl als „Kustoden“ beauftragt, das BDW für den Interims-Gebrauch anzupassen (eine von Msgr. Steenson eingerichtete Liturgiekommission half dabei). Ein Interims-Altarmissale (auf der Basis des BDW) für den Gebrauch in den USA und Kanada wurde im November/Dezember 2012 für die Priester des Personalordinariates vorläufig bis zum Erscheinen des approbierten kompletten Messbuches (am Ersten Adventssonntag 2015) zur Verfügung gestellt: Order of Mass. Altar Missal and Pew Edition, from the Book of Divine Worship (2003) amended in Conformity with the Roman Missal (2010) – approved and promulgated by Msgr. Jeffrey Steenson, Ordinary of the Ordinariate of The Chair of St Peter (November 2012). In einem Brief von Bischof Kevin W. Vann (Orange/CA) an Fr. Christopher G. Phillips vom 05. 11. 2014 wurde, unter Verweis auf einen Brief von Kardinalpräfekt Gerhard L. Müller von der Glaubenskongregation an den Delegaten der Pastoral Provision (vom 06. 03. 2014; Prot.N. 66/77 – 45916), der Pfarrei Our Lady of the Atonement in San Antonio/TX, die bis März 2017 noch nicht dem US-Ordinariat angehörte, bereits die Erlaubnis erteilt, ebenfalls die neuen liturgischen Bücher („Divine Worship: Occasional Services“ und künftig auch „Divine Worship: The Missal“) zu benutzen. Gleiches gilt wohl auch für die Pfarrgemeinde St. Athanasius in Boston/MA. (Mit einem von Kardinal Müller unterzeichneten Dekret der Glaubenskongregation in Briefform vom 07. 03. 2017 an Bischof Steven J. Lopes und Erzbischof Gustavo Garcia-Siller, von Papst Franziskus am 03. 03. 2017 in Privataudienz approbiert, wurde die Pfarrei in San Antonio nebst Schule schließlich in das US-Ordinariat überführt [Prot.N. 204/11 – 59345 u. 204/11 – 59346]). Für England und Wales hatte die Glaubenskongregation in einem Brief vom 25. 06. 2011 (Prot.N. 80/2011 – 35918) die übermittelte „liturgical provision for use by the clergy of the Ordinariate of Our Lady of Walsingham“ gutgeheißen ad interim. Dies hat schließlich Anfang November 2012 zur Veröffentlichung eines „Daily Prayer Books“ („Gebetbuch für alle Tage“) geführt (Andrew Burnham/Aidan Nichols [Hrsg.], Customary of Our Lady of Walsingham. Daily Prayer for the Ordinariate, Norwich 2012) mit einer unklaren de facto-Autorität, lediglich mit einem abgedruckten Imprimatur des englischen Ordinarius Msgr. Keith Newton. Dieses Buch beinhaltet Elemente aus der anglikanischen Tradition, angepasst an den Römischen Ritus, und umfasst eine Ordnung für Morgen-, Abend- und Nacht-Gebet während des Jahres, geistliche Lesungen für das Liturgische Jahr, die kleinen Horen, Kalender und Perikopenlisten. Nach Auskunft der „Guidelines for the celebration of the Holy Eucharist in the Personal Ordinariate of Our Lady of Walsingham“ gilt: „1. Without excluding liturgical celebrations according to the Roman Rite, the Customary of Our Lady of Walsingham and the Book of Divine Worship are the current liturgical texts, for the Office and for Holy Mass, proper to the Personal Ordinariate of Our Lady of Walsingham, as indicated by the faculty given.“ (vgl. AC III). Vgl. auch Andrew Burnham, Divine Worship: The Missal and ,the Liturgical Books Proper to the Anglican Tradition‘ (Anglicanorum Coetibus, Art. III), in: Uwe M. Lang (Hg.), Authentic Liturgical Renewal in Contemporary Perspective. Proceedings of the Sacra Liturgia Conference held in London, 5 – 8 July 2016, London/New York 2017, S. 155 – 170, hier S. 160.

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4. Divine Worship als neuer „Ritus“ neben dem Römischen Ritus? Beim Divine Worship handelt es sich um keinen „Anglikanisch-Katholischen Ritus“ neben dem Römischen Ritus,83 sondern lediglich um eine an das Anglican Patrimony (d. h. an das anglikanische liturgische und spirituelle Erbe) adaptierte liturgische Sonderform des Römischen Ritus,84 um die Einheit des Römischen Ritus im Wesentlichen – bei einer sicherlich großzügig zu gewährenden Anpassung – zu gewährleisten, wobei SC 3785 und besonders SC 38 als Legitimation durchaus zur Anwendung kommen könnten, wenn es dort heißt: „Unter Wahrung der Einheit des römischen Ritus im wesentlichen ist berechtigter Vielfalt und Anpassung an die verschiedenen Gemeinschaften, Gegenden und Völker, besonders in den Missionen, Raum zu belassen, auch bei der Revision der liturgischen Bücher. Dieser Grundsatz soll entsprechend beachtet werden, wenn die Gestalt der Riten und ihre Rubriken festgelegt werden.“86

Dieser Artikel lässt – trotz gewisser Einschränkungen durch die beiden Instruktionen „Varietates Legitimae“ (1994) und „Liturgiam Authenticam“ (2001) – offensichtlich durchaus liturgierechtlich die Möglichkeit zu, dass sich aus dem großen Bereich des Römischen Ritus durch Anpassungen neue Ausdrucksformen des Römischen Ritus bilden können, wobei die unitas substantialis mit diesem Ritus aus theo83 Rechtlich bleiben die Personalordinariate also gänzlich der lateinischen Kirche eingegliedert, was dem historischen Ursprung des anglikanischen Erbes im 16. Jh. ja durchaus entspricht. Der frühere Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, drückte sich im Februar 1987 in einer Explanatory Note („Liturgical Elements of the ,Pastoral Provision‘“ [Prot.N. 66/77]) an Bernard F. Kardinal Law – mit einer Kopie an Erzbischof John J. May von St. Louis (dem damaligen Präsidenten der National Conference of Catholic Bishops) – bereits deutlich aus: „The BOOK OF DIVINE WORSHIP, as now approved, in no way constitutes a special Rite.“ 84 Seit 1983 kursieren Begriffe wie Anglican Liturgical Use (vgl. Sheehan, A New Canonical Configuration [Anm. 28], S. 172: in einem Brief vom 29. 01. 1983 von Erzbischof Bernard F. Kardinal Law an die Glaubenskongregation) oder Anglican Liturgy for the Use of the Common Identity Group (vgl. in einem Brief vom 14. 01. 1984 [Prot.N. 1083/83] von Giuseppe Kardinal Casoria [damaliger Präfekt der Heiligen Kongregation für Sakramente und Gottesdienst] an Bernard F. Kardinal Law); vgl. Podertschnig, Die „Anglican Use Liturgy“ (Anm. 36), S. 77 u. 80 oder sogar The Roman Rite for Use by Roman Catholics Coming from the Anglican Tradition [BDW, S. 3]. Der lange Zeit gültige Arbeitsbegriff lautete ziemlich unpraktisch und schwerfällig: Provision for the Liturgical Celebrations of the Personal Ordinariates. Eine andere offizielle, nicht weniger sperrige Bezeichnung ist „[…] for use by the Personal Ordinariates erected under the auspices of the Apostolic Constitution Anglicanorum coetibus“ (s. die offiziellen Untertitel der beiden approbierten liturgischen Texte für Taufe, Trauung und Beerdigung [vgl. oben Anm. 6, 7 u. 8]). Hoffentlich wird sich jedoch in der Praxis alternativ zu Divine Worship weiterhin die Bezeichnung Anglican Use of the Roman Rite (oder Anglican-Catholic Use of the Roman Rite) durchsetzen! 85 DEL 1, 37; vgl. auch Feulner, „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? (Anm. *), S. 247 f. 86 DEL 1, 38 [eigene Hervorhebung]; s. dazu auch Feulner, „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? (Anm. *), S. 248 f.

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logischen und ekklesiologischen Gründen gewahrt bleiben müsse.87 Die erstellte und vom Apostolischen Stuhl approbierte liturgische Ordnung für die Personalordinariate gemäß „Anglicanorum Coetibus“ (AC III) hatte sich daher im Wesentlichen an den folgenden liturgietheologischen, ekklesiologischen, liturgierechtlichen und pastoralen Prinzipien zu orientieren:88 @ Bereitstellung eines Mittels zur Heiligung jener Gläubigen, die aus der anglikanischen Tradition her zur katholischen Kirche kommen, solange man damit ihre Verbundenheit untereinander, mit ihren katholischen Mitschwestern und Mitbrüdern in der Gesamtkirche sowie mit dem Papst fördert, wobei immer auch das Wohl der Universalkirche in ihrem liturgischen Leben im Blick zu behalten ist; @ Bewahrung solcher charakteristischer Liturgieelemente, die repräsentativ sind für (1) die seit 1549 überlieferten anglikanischen „Books of Common Prayer“ und (2) die sog. „Anglican Missals“ sowie „English Rituals“, „Anglican Breviary“ u. ä., soweit diese in Übereinstimmung mit den dogmatischen und liturgischen Normen der katholischen Kirche sind; @ Erstellung von liturgischen Ordnungen, die einerseits unverwechselbar und traditionell anglikanisch nach ihrer Art, Struktur und ihrem Inhalt sind, aber andererseits deutlich erkennbar nur eine adaptierte Ausdrucksform des Römischen Ritus (in seinen beiden Formen) darstellen; @ Sammlung, Zusammenführung und Harmonisierung der weltweit vielfältigen anglikanischen Liturgieordnungen, wo immer es möglich ist, um damit die Kontinuität, Integrität und den pastoralen Nutzen zu gewährleisten; @ Minimierung der Anzahl von Auswahlmöglichkeiten um der Einheit und Durchschaubarkeit dieser Liturgieform willen, außer dort, wo es die Würde einer liturgischen Feier gemäß Festanlass oder geprägter Zeit verlangt, oder wo aufgrund von pastoralem Nutzen eindeutig gewisse Anpassungen und Alternativen gerechtfertigt erscheinen, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gruppen bzw. Gruppierungen, die die Einheit mit der katholischen Kirche suchen, um ihnen das wertvolle anglikanische Erbe zu bewahren; @ Finden eines angemessenen Mittelweges zwischen vorschreibenden und erlaubenden Rubriken, ebenso zwischen allgemeinen (in den Praenotanda) und speziellen Rubriken (in den liturgischen Formularen), wobei letztere eine besondere Genauigkeit erfordern.

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Inzwischen liegt eine Eigenliturgie für Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) vor. Auch asiatischen Ländern wurden tiefgreifende Adaptionen der Liturgie erlaubt (Indien, Japan, Korea, Indonesien, Laos, Kambodscha); s. Feulner, „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? (Anm. *), S. 250 f. mit Anm. 58, 61 u. 62; Podertschnig, Der eine Ritus und die vielen Formen (Anm. 62), S. 198 – 201. 88 S. auch Lopes, A Missal for the Ordinariates (Anm. 2), S. 120.

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5. „Rubrical Directory“89 und „General Instruction of the Roman Missal“ Unnötigerweise wurde dem Missale auch noch „The General Instruction of the Roman Missal“ (GIRM)90 vorangestellt, und zwar so, wie wir sie in den dritten Auflagen der übersetzten Missalien der ordentlichen Form des Römischen Ritus mit unterschiedlichen regionalen bzw. nationalen Adaptionen für die Bischofskonferenzen von England und Wales, Schottland, den USA und Australien (Kanada fehlt interessanterweise) finden.91 Diese pastoralliturgischen, liturgietheologischen und liturgierechtlichen Bestimmungen (Praenotanda), im weiteren Sinne den früher üblichen Generalrubriken entprechend, gelten eigentlich nur für die ordentliche Form des Römischen Ritus, wie auch in den derzeit gebräuchlichen Missalien der außerordentlichen Form nirgendwo die „Institutio Generalis Missalis Romani“ (IGMR)92 der editio typica tertia des Missale Romanum mitabgedruckt werden musste, um diese liturgische Ausdrucksform möglichst integer zu bewahren und Vermischungen der beiden Formen des Römischen Ritus zu vermeiden.93 Die Instruktion „Universae Ecclesiae“ vom 30. April 2011 spricht in Art. 28 dann davon, dass das am 07. Juli 2007 von Papst Benedikt XVI. unterzeichnete Motu proprio „Summorum Pontificum“94 ein Spezialgesetz sei und daher alle nach 1962 erlassenen liturgischen Gesetze, die unvereinbar sind mit den Rubriken der liturgischen Bücher von 1962, derogiert sind.95 Ähnliches wird man auch für „Divine Worship: The Missal“ annehmen dür-

89 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 119 – 131 [S. 132 – 134: Table of Liturgical Days]. 90 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 13 – 118. Ähnliches wurde schon für das Eigen-Missale der Diözesen im früheren Zaire verlangt (s. auch Anm. 87), wenn dort die „Présentation Générale du Missel Romain“ (Conference Episcopale du Zaire [Hrsg.], Missel Romain pour les Diocèses du Zaire, Kinshasa 1989, S. 13 – 55) der „Présentation Generale de la Liturgie de la Messe pour les Diocèses du Zaire“ (ebd., S. 73 – 79) vorangestellt wurde. 91 Gemäß c. 838 § 3 CIC/1983 u. GIRM 386 – 399 (ebd., S. 113 – 118). Der verpflichtende zusätzliche Abdruck der GIRM war von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung veranlasst worden. 92 Vgl. Missale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI promulgatum Iannis Pauli PP. II cura recognitum, Editio typica tertia, Vatikanstadt 2002, S. 17 – 86. 93 S. auch Pontificia Commissio Ecclesia Dei, Instr. „Universae Ecclesiae“ (30. 04. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 413 – 420, dt. in: AfkKR 180 (2011), S. 180 – 187, Art. 24: „Die liturgischen Bücher der forma extraordinaria sind nach ihren eigenen Vorschriften zu gebrauchen […].“ 94 Vgl. Benedikt XVI., MP „Summorum Pontificum“, in: AAS 99 (2007), S. 777 – 781; s. auch den Begleitbrief von Papst Benedikt XVI. an die katholischen Bischöfe: Benedikt XVI., Epistola ad Episcopos Catholicae Ecclesiae Ritus Romani, in: AAS 99 (2007), S. 795 – 799 (ital.). 95 „Das Motu proprio Summorum Pontificum ist darüber hinaus ein Spezialgesetz und derogiert daher für den ihm eigenen Bereich von jenen nach 1962 erlassenen Gesetzen, die sich auf die heiligen Riten beziehen und unvereinbar sind mit den Rubriken der liturgischen Bü-

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fen, wenn es im Einführungsdekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 27. Mai 2015, unter Berufung auf Papst Franziskus, heißt: „Therefore, wishing that the fruits of the labors of pastors, religious, and lay faithful of years past may remain ever abundant in the Church, this Congregation for Divine Worship and the Discipline of the Sacraments, by virtue of the faculties granted to it by the Supreme Pontiff FRANCIS, now approves this Missal as a legitimate adaption of the Roman Rite […] All things to the contrary notwithstanding.“96

Außerdem heißt es im „Rubrical Directory“ zum „Divine Worship: The Missal“ in Nr. 7: „The liturgical norms and principles of the General Instruction of the Roman Missal are normative for this expression of the Roman Rite, except where otherwise stipulated in this Directory and in the particular rubrics of Divine Worship. This present Directory is intended to provide instructions for those areas in which Divine Worship diverges from the Roman Missal.“97

Diese schwache und indirekte Derogationsformel („except where otherwise stipulated in this Directory and in the particular rubrics of Divine Worship“) wird noch weiter relativiert in den „General Norms“, wo es unter Nr. 10 heißt: „The rubrics of the Divine Worship Order of Mass aim to preserve traditional customs of Anglican Eucharistic worship with respect to orientation, postures, gestures, and manual acts, while also permitting the celebration of Mass in a manner similar to that of the Roman Missal, Third Typical Edition. This rubrical flexibility provides for the variety of liturgical traditions and experiences among the parishes and communities of the Personal Ordinariates.“98

Offensichtlich dürfen Zelebrationsrichtung, Körperhaltungen, Gebärden und (liturgische) Handlungen („manual acts“99) bei der Eucharistiefeier auch der ordentlichen Form des Römischen Ritus angeglichen werden, obwohl es zuvor in Nr. 8 heißt, cher, die 1962 in Kraft waren.“ (AfkKR 180 [2011], S. 185; lat. Text: AAS 103 [2011], S. 419). 96 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 5 (eigene Hervorhebung). Die Derogationsformel ist hier jedoch als alleinstehender Satz im Englischen ganz ungewöhnlich und eigentlich grammatikalisch falsch. In der engl. Übers. von „Summorum Pontificum“ heißt es beispielsweise mit der Derogationsklausel im Nebensatz: „We order that all that we have decreed in this Apostolic Letter given Motu Proprio take effect and be observed from the fourteenth day of September, the Feast of the Exaltation of the Holy Cross, in the present year, all things to the contrary notwithstanding.“ (eigene Hervorhebung), online verfügbar unter: https://w2. vatican.va/content/benedict-xvi/en/motu_proprio/documents/hf_ben-xvi_motu-proprio_ 20070707_summorum-pontificum.html [Stand: 12. 12. 2016]); vgl. zu den Derogationsklauseln auch Anm. 61. 97 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 121. 98 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 122. 99 Der Begriff manual acts ist nicht einfach ins Deutsche zu übersetzen, findet er sich doch fast überwiegend nur in anglikanischen liturgischen Büchern; vgl. beispielsweise The Oxford Dictionary of the Christian Church, hrsg. v. Elizabeth A. Livingstone, Oxford 20002, S. 359; Colin Buchanan, Historical Dictionary of Anglicanism, Lanham/MD 20152, 393 f.

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dass „Divine Worship expresses an integral liturgical provision for the Personal Ordinariates […] It is to be taken as a whole, and its constitutive elements are not interchangeable with elements of the Roman Missal.“100 Man darf aber wohl annehmen, dass die Grenzen fließend sind, was „grundlegende Elemente“ sind, wobei allerdings Zelebrationsrichtung sowie Körperhaltungen und vor allem „liturgische Handlungen“ durchaus dazu gehören, und letztlich auch Bestandteile des Anglican [liturgical] Patrimony sind, das bewahrt werden soll (vgl. AC III). Da nun aber die Besonderheiten des Usus Divine Worship im Bereich der Eucharistie (und darüber hinaus) sehr zahlreich und auch teilweise recht abweichend sind (z. B. „Prayer-Book“-Englisch als Liturgiesprache; abweichende Gliederung des Liturgischen Jahres mit den drei Sonntagen der Vorfastenzeit sowie der Zählung der Sonntage nach Epiphanie [„after the Epiphany“] bzw. nach Dreifaltigkeit [„after Trinity“]; eigene Gebete aus der anglikanischen Tradition im Messordo [Collect for Purity, Summary of the Law, Comfortable Words, Christ our Passover, Prayer of Humble Access]; Bußakt verlegt nach den Fürbitten und vor der Gabenbereitung; die aus den anglokatholischen Missalien übernommenen klassischen Offertoriumsgebete; schwarz als fakultative liturgische Farbe auch an Karfreitag; optionale Erweiterungen in diversen Anhängen u. v. m.), wäre es eigentlich auch aus liturgierechtlicher Sicht sehr wichtig, eine Harmonisierung und Anpassung der GIRM an das „Rubrical Directory“ für diese auf Dauer angelegte liturgische Ausdrucksform des Römischen Ritus zu erreichen. Eine eigenständige und an die regionalen bzw. nationalen Gewohnheiten angepasste Version der GIRM in Verschmelzung mit dem „Rubrical Directory“ als „General Instruction of the Divine Worship [Anglican Use] Missal“ wäre höchst wünschenswert, um die beiden bisherigen sich teilweise widersprechenden Praenotanda notwendigerweise zu harmonisieren. Ein nur zwölfseitiges101 „Rubrical Directory“ mit unklarer Kompetenzabgrenzung zur mitabgedruckten und als normativ erklärten GIRM ist jedenfalls unzureichend.102 Dazu kommt, dass es außerdem noch liturgierechtliche Widersprüche zwischen einigen Einzelrubriken und dem „Rubrical Directory“ gibt, z. B. sehr auffallend im Bereich der Offertoriumsgebete.103 100

Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 122. Die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung hatte nämlich (bisher) nur ein bis max. 11 – 12-seitiges „Rubrical Directory“ erlaubt. 102 Directory als bloßer Wegweiser, Leitfaden ist vom Begriff her und auch aus rechtlicher Sicht der „General Instruction“ („Allgemeine Grundordnung“) natürlich total untergeordnet, was wiederum etliche liturgierechtliche Probleme aufwirft (der Stellenwert des „Rubrical Directory“ bedarf einer eigenen Studie). Immerhin sind jedoch die beiden Praenotanda im Zaire-Missale relativ gleichlautend, nämlich „Présentation Generale …“ (vgl. Anm. 87). 103 In der einleitenden Einzel- oder Spezialrubrik heißt es nämlich: „[…] the Priest prepares the offerings and says one of the following forms of the Offertory Prayers.“ (Divine Worship: The Missal [Anm. 2], S. 570). An erster, und damit eigentlich bevorzugter Stelle steht die Form I (ebd., S. 570 – 572), die den klassischen Offertoriumsgebeten entspricht. Im „Rubrical Directory“ wird jedoch die freie Wahlmöglichkeit aus der Einzelrubrik unverständlicherweise wieder eingeschränkt, wenn es in Nr. 31 heißt: „[…] The choice of the Of101

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6. Die Tagzeitenliturgie (The Daily Office)104 Als die Glaubenskongregation die Arbeit der interdikasterialen Kommission Anglicanae Traditiones für beendet erklärte (nach Abschluss der beiden liturgischen Bücher), fehlte jedoch u. a. noch eine für alle drei Personalordinariate approbierte Tagzeitenliturgie. Im Herbst 2015 versandte dieselbe Kongregation an alle drei Personalordinariate verbindliche Leitlinien für Morgen- und Abendlob („Guidelines for Morning and Evening Prayer in the Personal Ordinariates“), die jedoch für die drei Ordinariate durchaus relativ flexibel angepasst werden können (z. B. hinsichtlich der Einfügung anderer Cantica vom Alten und Neuen Testament oder bei der Auswahl der Lesungen), wobei es feste Elemente gibt, um eine gewisse Einheitlichkeit zu gewährleisten.105 Die Glaubenskongregation entschied sich offensichtlich für diesen ungewöhnlichen Schritt, weil die Einführung einer einzigen Form der Tagzeitenliturgie gegenwärtig weder pastoral hilfreich noch erwünscht war. Die drei Ordinarien sollten daher auf der Grundlage der verbindlichen Leitlinien (mit Hilfe ihrer Liturgiekommissionen) eigene Formen der Tagzeitenliturgie entwickeln.106 Das ist natürlich zunächst liturgierechtlich nicht ganz unproblematisch, auch wegen der vorgelagerten Außerachtlassung der Zuständigkeit der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung. Und es gilt außerdem: Während z. B. die Eucharistiefeier gemäß dem liturgische Usus Divine Worship in der Regel nur in den pfarrlichen Gemeinschaften der drei Personalordinariate gefeiert werden kann, dürfen die katholischen Laien jedoch zumindest rein privat die Tagzeitenliturgie (wozu sie laut c. 1174 §2 CIC/11983 ausdrücklich eingeladen sind; vgl. auch SC 100) auch nach dem demnächst approbierten bzw. rekognostizierten Divine Worship: Liturgy of the Hours feiern, da dies aufgrund von AC III ebenso zu den „geistlichen, liturgischen und pastoralen Traditionen der Anglikanischen Gemeinschaft“ gehört und zum gottesdienstlichen „Reichtum“ der gesamten Katholischen Kirche zählt, „den es zu teilen gilt“. fertory form should respect the overall shape of the liturgical celebration, such as the distinction between Sunday and weekday Masses, and is made within the context of the particular tradition of a parish or community of the Ordinariate“ (ebd., S. 126 f.). Bedeutet das nun, wenn sich eine Pfarrei einmal für Form I oder II entschieden hat, dass sie dann künftig immer daran gebunden bleibt? Warum sollte man nicht auch in Werktagsmessfeiern die Form I wählen dürfen? 104 Erst nach Abschluss dieses Beitrags wurde die Tagzeitenliturgie erarbeitet und in Rom zur Approbation für das US-amerikanische Personalordinariat vorgelegt, so dass hier nur ein unvollständiges und vorläufiges Update erfolgen konnte. Ein eigener Artikel wird sich später „Divine Worship: The Daily Office“ widmen. 105 Vgl. z. B. das Schreiben des damaligen Kardinalpräfekten der Glaubenskongregation, Gerhard L. Müller, vom 06. 10. 2015 an Msgr. Harry Entwistle (Prot.N. 536/12 – 52408). 106 Schreiben an Msgr. Harry Entwistle (Anm. 105): „The Congregation will not be developing further resources for the Divine Office beyond this Guideline, but rather entrusts the development of such resources to the Ordinaries.“

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Anbei nun die verbindlichen Vorgaben:107 Morning Prayer (Mattins)

Evening Prayer (Evensong)

[Sentence and/or Penitential Act] Preces („O Lord, open thou our lips …“) Invitatory: Venite exultemus Domino (Ps 95) [Hymn] (or Proper Office Hymn before the Benedictus and Magnificat) Psalmody (as appointed for the day of the month, or according to a Proper) Old Testament Lesson (according to an established lectionary) On Sundays, Solemnities and Feasts: Te Deum laudamus On other days: Benedicite, Iubilate Deo, or another Old Testament Canticle

Magnificat (without variation)

New Testament Lesson (according to an established lectionary) Benedictus Dominus Deus (without variation)

Nunc Dimittis or, if Compline is recited separately, another New Testament Canticle Apostles’ Creed

Responses, Lord’s Prayer & Suffrages Collect of the Day or Office Collect for Peace („O God, who art the author of peace …“)

Collect for Peace („O God, from whom all holy desires …“)

Collect for Grace („O Lord our heavenly Father …“)

Collect for Aid Against All Perils („Lighten our darkness …“)

[Litany or Anthem or Hymn] [Sermon or Reflection] [General Thanksgiving and/or Prayer of St. Chrysostom] The Grace

107 Schreiben an Msgr. Harry Entwistle (Anm. 105), Enclosure (mit Anpassungen an die Formatvorlage sowie eigene Übers. in den Anmerkungen).

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Anmerkungen: @ Verbindliche Elemente sind kursiv, während Elemente in [eckigen Klammern] nur gelegentlich vorkommen oder optional sind. @ Alt- und neutestamentliche Lesungen sind aus der „Revised Standard Version of the Bible, Catholic Edition“ zu entnehmen. @ Die Collect of the Day sollte dem entsprechenden Tagesgebet in „Divine Worship: The Missal“ entsprechen. @ Falls die Litanei (Litany) im Morning oder Evening Prayer vorgesehen ist, dann ist sie aus „Divine Worship: The Missal“ (Appendix 8) zu nehmen. @ Das Invitatorium (Venite exultemus Domino) kann in geprägten Zeiten von entsprechenden Antiphonen begleitet werden. @ Anstelle einer der Schriftlesungen kann auch eine nicht-biblische Lesung von der zweiten Lesung der Lesehore der Liturgy of the Hours (der ordentlichen Form des Römischen Ritus) eingefügt werden. Weitere nicht-biblische Lesungen können hinzugefügt werden, dürfen jedoch keine der biblischen Lesungen ersetzen. @ Falls ein Laie eine gemeindliche Hore leitet, dann wird die Gebetseinladung The Lord be with you ausgelassen oder ersetzt durch O Lord, hear our prayer mit der Antwort And let our cry come unto thee. @ Das Night Prayer (Compline) kann getrennt vom Evening Prayer rezitiert werden, wobei das Nunc Dimittis immer eingeschlossen ist. @ Diese Richtlinie schließt nicht die Hinzufügung einer optionalen zusätzlichen Kleinen Hore (Prime, Terce, Sext, None, Compline) aus.

In den USA hat man die Arbeiten an einem einbändigen Tagzeitenbuch abgeschlossen und in Rom nun bei den beiden zuständigen Kongregationen zur Rekognostizierung vorgelegt (Stand: August 2017). In England und Wales wird es zu einer Überarbeitung des bisherigen einbändigen „Customary“108 kommen müssen, in Kanada arbeitet man an der Revision eines bisher vierbändigen Breviers (der früheren Anglican Catholic Church of Canada),109 in Australien benutzte man das dortige anglikanische „Book of Common Prayer“ (oder die Römische „Liturgy of Hours“),110 wird sich aber wohl der Vorlage in den USA anschließen.111 Es könnte daher durchaus sein, dass sich mittel- bis längerfristig schließlich eine der drei Formen in allen Personalordinariaten durchsetzen wird, zumal die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung offensichtlich das für das Personalordinariat The Chair of St. Peter erstellte „The Daily Office“ grundsätzlich auch für die bei-

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Anm. 82. Das „Customary“ ist zwar zum Gebrauch in allen Ordinariaten gedacht, wird aber in Übersee kaum benutzt, weil es einfach zu unpraktisch ist. 109 Anglican Catholic Liturgy of the Hours, 4 Bde., hrsg. v. Tim Smith, o. O. 2006 – 2009; z. Z. wird von Msgr. Peter Wilkinson und Carl Reid (in Zusammenarbeit mit Clint Brand) kontinuierlich an einer Version gearbeitet, die ggf. auch von allen drei Ordinariaten als Alternative benutzt werden könnte, wie es der Untertitel nahelegt (Divine Worship: Liturgy of the Hours – For the Personal Ordinariates of: Our Lady of Walsingham, Our Lady of the Southern Cross, The Chair of St. Peter [2017]). Dieses alternative kanadische liturgische Buch soll jedoch allein vom zuständigen US-Ordinarius approbiert werden, als „eine legitime Adaption des [von Rom] approbierten [US-amerikanischen] Offiziums.“ 110 An Australian Prayer Book, Sydney 1978. 111 In einer E-Mail vom 17. 04. 2017 an den Verf. bestätigt Msgr. Harry Entwistle, der Ordinarius in Australien, dass es die Absicht sei, das amerikanische „Daily Office“, das in Rom zur Approbation vorliegt, auch in Australien zu benutzen. Man hoffe lediglich, dass Vorsorge getroffen wird, besondere australische Hochfeste und Feste (wie z. B. Mary MacKillop) zu berücksichtigen, ggf. in einem besonderen Anhang für Australien.

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den anderen Ordinariate approbiert hat.112 Darüber hinaus ist anzunehmen, dass etliche Priester der Personalordinariate die Römische „Liturgy of the Hours“ für den persönlichen Gebrauch nutzen, für die gemeindlichen Feiern der Tagzeitzeitenliturgie, besonders für den Evensong, jedoch eine „anglikanische“ Form vorziehen. 7. Die Feier der Kranken- und Sterbesakramente („Pastoral Care of the Sick and Dying“)113 Das entsprechende liturgische Buch „Divine Worship: Pastoral Care of the Sick and Dying“114 orientiert sich am Römischen Rituale, wie es in den angelsächsischen Ländern derzeit in Gebrauch ist („Pastoral Care of the Sick: Rites of Anointing and Viaticum“ [19832]). Dessen liturgische Normen und Rubriken werden als „normative for this expression of the Roman Rite“ betrachtet (vgl. General Introduction, Nr. 5). Außerdem wird ausdrücklich eingeschärft, dass die „sacramental formulae for the Sacrament of Anointing and the Sacrament of Penance as presented here are identical with those of the Roman Rite of the Catholic Church and may not be modified or amended in any way“ (General Introduction, Nr. 4). Das Buch umfasst acht Kapitel: Krankenbesuch („Visitation of the Sick“), Segnung eines kranken Kindes („Blessing of a Sick Child“), Krankenkommunion – Gewöhnliche Form („Communion of the Sick – Ordinary Rite“), Krankenkommunion – Kurzform („Communion of the Sick – Shorter Rite“), Krankensalbung außerhalb der Messfeier („Anointing of the Sick Outside of Mass“), Bußsakrament, Krankensalbung und Wegzehrung in Todesgefahr – Versehgang („Penance, Anointing, and Viaticum“), Begleitung Sterbender („Supplication for the Dying and Commendation of a Soul“), zusätzliche Gebete für Kranke und Sterbende („Additional Prayers“). Im Anhang finden sich der Ordo für das Bußsakrament sowie die sakramentale Formel für die Krankensalbung, die Spendeformel für das Viaticum und die Ablassformel in der Sterbestunde.115 112

Bei der Drucklegung des Artikels war das Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung noch nicht erschienen. Das entsprechende liturgische Buch wird innerhalb der nächsten Monate wahrscheinlich in einem US-Verlag gedruckt werden, wohl nicht mehr bei der Catholic Truth Society (London). 113 Erst nach Abschluss dieses Beitrags wurden die Kranken- und Sterbesakramente erarbeitet und in Rom zur Approbation für das US-amerikanische Personalordinariat vorgelegt, so dass hier nur ein unvollständiges und vorläufiges Update erfolgen konnte. Ein eigener Artikel wird sich daher später ausführlicher „Divine Worship: The Pastoral Care of the Sick and Dying“ zuwenden. 114 Bei der Drucklegung des Artikels war das Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung noch nicht erschienen. Das entsprechende liturgische Buch wird ebenfalls innerhalb der nächsten Monate wahrscheinlich in einem US-Verlag gedruckt werden. 115 Auffallend ist, dass keine Krankensalbung innerhalb einer Messfeier sowie beim Versehgang keine „Firmung in Todesgefahr“ (im Anschluss an das Bußsakrament) vorgesehen zu sein scheinen. Es ist jedoch anzunehmen, dass Krankensalbungen innerhalb einer häuslichen

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8. Ökumenische Erwägungen Oftmals wird der Vorwurf erhoben, oder zumindest die kritische Anfrage gestellt, wie denn diese liturgische Sonderform des Römischen Ritus „zur Ökumene mit der anglikanischen Kirche“ steht.116 Bekannterweise gibt es weder die Anglikanische Kirche noch den Anglikanischen Ritus, sondern die Anglikanische Kirchengemeinschaft mit ihren zumeist unabhängigen Kirchenprovinzen sowie vielfältigen eigenen liturgischen Ordnungen, wobei zum großen Teil darüber hinaus das „Book of Common Prayer“ von 1662 als einigendes liturgisches Band angesehen wird. Daneben gibt es noch eine Vielzahl unabhängiger kirchlicher Gemeinschaften aus der anglikanischen Tradition (TAC u. a.) oder tolerierte Gruppierungen innerhalb von einzelnen oder mehreren Kirchenprovinzen (z. B. Forward in Faith), mit ihren je eigenen liturgischen Formen, die sich in der Feierpraxis teilweise stark am Römischen Ritus (in einer seiner beiden Formen) orientieren oder sogar östlich beeinflusst sind (wie bei den Gemeinden des Western Orthodox Rite117, die jurisdiktionell zumeist östlichen Kirchen angehören, wie z. B. dem orthodoxen Patriarchat von Antiochien in den USA). In der anglikanischen Church of England gibt es beispielsweise auch heute noch Gemeinden, die an einem Sonntag drei bis vier verschiedene Formen der Eucharistie feiern (z. B. nach dem „Book of Common Prayer“ von 1662 oder 1928, oder nach dem „Common Worship“ (2000 ff.), oder nach dem „English Missal“ oder sogar nach der ordentlichen Form des Römischen Ritus). Damit bietet sich natürlich auch die ökumenische Frage differenzierter dar. Dass die Errichtung der Personalordinariate mit der aus der anglikanischen Tradition beeinflussten liturgischen Sonderform in ökumenischer Hinsicht nicht ohne Probleme ist, sei nicht verhehlt, nur handelt es sich hierbei um ein sehr komplexes Geschehen, was sich in diesem Rahmen nur am Rande streifen lässt. Als Antwort auf vermehrte Anfragen von Anglikanern, die mit Veränderungen in der Anglikanischen Gemeinschaft im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts (zum Teil wegen der Ordination von Frauen, liturgischen Reformen etc.) in Zusammenhang stehen, bot die katholische Kirche schließlich 2009 Gruppen von Anglikanern die oder gemeinschaftlichen Messfeier nicht dem Anglican Patrimony in allen drei Personalordinariaten entsprechen und deshalb ausgelassen wurde. 116 So auch in: ALW 56 (2014) (s. o. Anm. *), S. 331. 117 Vgl. dazu David F. Abramtsov, The Western Rite and the Eastern Church […] (unveröffentl. Masterarbeit), University of Pittsburg/PA, 1959/61; Benjamin J. Andersen, An Anglican Liturgy in the Orthodox Church: The Origins and Development of the Antiochian Orthodox Liturgy of Saint Tikhon (unveröffentl. Masterarbeit), St. Vladimir’s Orthodox Theological Seminary/NY, 2005; Jack Turner, Cum Illi Graeci Sint, Nos Latini: Western Rite Orthodoxy and the Eastern Orthodox Church (unveröffentl. PhD-Dissertation), University of Wales, Trinity Saint David, 2010; ders., Western Rite Orthodoxy as a Liturgical Problem, in: The Journal of Eastern Christian Studies 63 (2011), S. 333 – 352 u. a. Einige Gemeinden in den USA benutzen zur Feier der Eucharistie z. B. The American Missal. Revised & Expanded, Glendale/CO 20113 [19311, 19512]. Es würde sich durchaus lohnen, sich diesem Phänomen des Western Orthodox Rite in einer eigenen Studie anzunehmen, denn auch in Frankreich gibt es derartige Gemeinden, die auch einen rekonstruierten Altgallischen Ritus benutzen.

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Möglichkeit an, in volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche einzutreten – ein sehr komplexer Prozess, der bereits in den frühen 1980ern begonnen hat (s. o.).118 Man konnte natürlich den Unmut der Anglikanischen Kirchengemeinschaft über die vermeintliche „feindliche Übernahme“ („hostile acquisition“) durch die katholische Kirche nicht übersehen. Eine BBC-News-Überschrift vom 21. Oktober 2009 titelte gar: „Rome goes fishing in Anglican pond.“119 Viele Anglikaner haben Rom vorgeworfen, eine Art Rückkehr-Ökumene zu betreiben. Es muss deutlich herausgestellt werden, dass AC selbstverständlich nicht Anlass einer solchen unterstellten Rückkehr-Ökumene sein darf, sondern vielmehr lediglich zunächst eine kirchenrechtliche Möglichkeit für anglikanische Gruppen oder Gemeinschaften bietet, die der katholischen Kirche aus völlig freiem Wunsch eingegliedert werden wollen, ohne dabei einige ihrer eigenen über Jahrhunderte hinweg geformten legitimen Traditionen aufgeben zu müssen. Jegliche Art von Proselytismus oder aktiver Abwerbung von Mitgliedern anderer christlicher Konfessionen ist natürlich deutlich abzulehnen. In erster Linie sollte es natürlich positiv besetzte ethisch-moralische, doktrinelle und liturgische Bezüge oder Neigungen zur katholischen Kirche geben, und nicht nur negative Abgrenzungen zu und Meinungsverschiedenheiten mit der eigenen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft. Die katholische Kirche darf sich nicht Mitglieder anderer Kirchen „angeln“, aber es muss ihr selbstverständlich erlaubt sein, ein Klopfen an ihrer Tür mit pastoraler Sensibilität zu beantworten – was durchaus leider unvermeidbare ökumenische Verstimmung verursachen mag. Kurt Kardinal Koch, Präsident des Rates zur Förderung der Einheit der Christen, sagte in einem Interview am 24. Oktober 2012 sehr richtig: „,Anglicanorum coetibus‘ war keine Initiative Roms, sondern ging von der Anglikanischen Kirche aus. Der Heilige Vater hat dann nach einer Lösung gesucht und meines Erachtens eine sehr weite Lösung gefunden, bei der die kirchlichen und liturgischen Traditionen der Anglikaner weitgehend berücksichtigt worden sind […].“120

Ein theologischer Konsens müsste überhaupt erst einmal gesucht werden, um zu erwägen, was überhaupt inhaltlich mit Ökumene gemeint ist, denn es existiert bereits eine überaus große Vielzahl an Vorstellungen zur Ökumene, was sich beispielsweise bereits in den sehr unterschiedlichen Interpretationen über den „Weg zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Vision des Ökumenischen Rates der Kirchen“ ausdrückt.121 Die katholische Kirche hat nun bereits beredten Ausdruck für ein grundlegendes Prinzip der Ökumenischen Bewegung gegeben, nämlich: die Einheit im Glauben, die zwar gleichsam das Herz der universalkirchlichen Gemeinschaft bildet, verlangt nicht starre Uniformität in ihren Ausdrucksformen. 118

S. o.. Kap. III.1 u. III.2. http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/8318663.stm (Stand: 07. 05. 2017). 120 https://de.zenit.org/articles/kardinal-koch-im-interview-progressisten-und-traditionalis ten-liegen-im-selben-spital (Stand: 07. 05. 2017). 121 Vgl. https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/assembly/2006-porto-alegre/3preparatory-and-background-documents/common-understanding-and-vision-of-the-wcc-cuv (Stand: 06. 05. 2017). 119

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9. Zusammenfassende Bemerkungen Bemerkenswert ist, dass Papst Pius V. in seinen päpstlichen Bullen „Quod a nobis“ (1568) und „Quo primum“ (1570) bereits eine überzeugende Befürwortung für die Beibehaltung ehrwürdiger Riten zum Ausdruck brachte und das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“, in gläubigem Gehorsam der Tradition verpflichtet, nochmals bekräftigt, dass die Kirche allen rechtlich anerkannten Riten gleiches Recht und gleiche Ehre zuerkennt und diese für die Zukunft zu bewahren und in jeglicher Weise zu fördern wünscht (vgl. SC 4).122 Das Zweite Vatikanische Konzil hat gemäß SC 3 auch die Überprüfung des Römischen Ritus angeordnet und eingeleitet. SC 39 beschreibt das inzwischen geläufige Verfahren bei der Erstellung der liturgischen Bücher. Das Konzil beteuerte allerdings in SC 37, dass die Kirche auch in ihrem Gottesdienst keine starre Einheitlichkeit der Form zur Pflicht machen wolle, soweit es nicht um Fragen des Glaubens und Allgemeinwohls geht. Es ist unpassend, wenn heute katholische Liturgie vielfach nur und exklusiv mit Liturgie im Römischen Ritus gleichgesetzt wird. Die berechtigten Bestrebungen des Trienter Konzils, gottesdienstliche Fehlentwicklungen aufzuhalten, führten zu einer Vereinheitlichung der westlichen Liturgie, in der aber dennoch einige Ausnahmen zugelassen waren, die aber leider zum größten Teil untergingen (Ausnahmen sind etwa die liturgischen Sonderformen von Braga und die der Kartäuser). Daneben hat sich nur die Mailändische Liturgie als eigenständiger Ritus über die Jahrhunderte hinweg erhalten können (der Altspanische Ritus wird seit dem 11. Jahrhundert nur noch rudimentär gefeiert). SC 4 anerkennt grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der legitimen Vielfalt der verschiedenen Liturgiefamilien und liturgischen Riten (besonders im Osten, aber auch im Westen). Einheit verlangt keine starre Einheitlichkeit, und die Katholizität der Kirche gestattet unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten, die aus verschiedenen Kulturen und Traditionen stammen (vgl. UR 4 u. 13 sowie SC 37 – 40).123 Daher rechtfertigt ein erweitertes Verständnis von Inkulturation gemäß „Sacrosanctum Concilium“ im Sinne von aptatio ad diversos coetus (Anpassung an verschiedene Gruppen)124 eine weitere Liturgieform oder liturgischer Usus (Divine Worship), die/der von besonderen kulturellen Überlieferungen beeinflusst ist, dabei jedoch ein Bestandteil des Römischen Ritus bleibt.125 Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass sich 122 Vgl. Feulner, „Divine Worship“ oder „Anglican Use des Römischen Ritus“? (Anm. *), S. 246 f.; Podertschnig, Der eine Ritus und die vielen Formen (Anm. 87), S. 193 – 196. 123 Wie auch schon Kardinal Levada in seiner Mitteilung zu den Personalordinariaten vom 20. 10. 2009 sehr treffend ausdrückte: „The unity of the Church does not require a uniformity that ignores cultural diversity […].“ (AAS 101 [2009], S. 940; OR [E] vom 28. 10.2009, S. 20). 124 Vgl. SC 38 (EDIL/DEL 1, 38). 125 Art. 8 der Instr. „Varietates Legitimae“ (C Cult, Instr. „Varietates Legitimae“ [25. 01. 1994], in: AAS 87 [1995], S. 288 – 314] [dt.: VApSt 114]) sollte nicht gegen ein solch erweitertes und sicherlich einmaliges Verständnis von Inkulturation innerhalb des Kontexts von Anpassungen und rechtmäßigen Abänderungen eines Anglican Use of the Roman Rite stehen,

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unter der Entwicklung der verschiedenen Personalordinariate in England und Wales sowie in den USA (mit Kanada) und Australien ein Anglican Use/Anglican-Catholic Use of the Roman Rite (offiziell bezeichnet als Divine Worship) mit seinen bisherigen gedruckt vorliegenden approbierten Liturgiebüchern als weitere liturgische Sonderform innerhalb des Römischen Ritus dauerhaft etabliert hat, und zwar derart, dass durch die von „Anglicanorum Coetibus“ (AC III) gewollte Anpassung der liturgischen Bücher an die Bedürfnisse der anglikanischen Gruppen (vgl. SC 37) – unter Beibehaltung des Anglican Patrimony – der Römische Ritus im Wesentlichen gewahrt bleibt (vgl. SC 38), obwohl bisher aber noch niemand zu definieren versucht hat, worin beim Römischen Ritus die „Einheit im Wesentlichen“ (substantialis unitas) besteht. Es war eine besondere Herausforderung für die am 11. Oktober 2011 von der Kongregation für die Glaubenslehre (in Zusammenarbeit mit der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung) eingesetzte internationale Arbeitsgruppe Anglicanae Traditiones: Interdicasterial Working Group bei der Ausarbeitung des Vorschlages einer schließlich vom Apostolischen Stuhl zu approbierenden und konfirmierenden liturgischen Ordnung für die Personalordinariate der ehemaligen Anglikaner. Sorgfältige Umsicht war bei der Erarbeitung einer liturgischen Sonderform (Divine Worship) für die drei Personalordinariate geboten, damit „die neuen [liturgischen] Formen aus den schon bestehenden gewissermaßen organisch herauswachsen“ (SC 23).126 Kurt Kardinal Koch antwortete in einem Interview in Österreich (Juni 2012) auf die Frage, welche Auswirkungen die Konversionen vieler Anglikaner auf die katholische Kirche haben: „Wenn bei einem Dialog sich nur eine Seite ändert, war es kein Dialog. Man lernt in der Begegnung mit anderen die eigene Kirche neu kennen. Insofern ist die Ökumene eine Bereicherung. Das ist ja das Große des Vorschlags von Papst Benedikt an die Anglikaner, dass sie ihre liturgischen Traditionen beibehalten können. Das ist ein positives Zeichen für die Zukunft, dass der Papst nicht auf Vereinheitlichung, sondern auf Vielfalt setzt.“127

Aus diesen Worten des für die Ökumene zuständigen Kardinals lässt sich erkennen, dass die ökumenischen Gespräche – in diesem Fall die jüngsten mit Teilen der Anglikanischen Gemeinschaft – zu einer beidseitigen Bereicherung führen. Neben obgleich zu lesen ist (ebd., Art. 8): „Ebenso wird man darauf achten müssen, daß sich in den Ländern mit mehr oder weniger christlicher Tradition nach und nach eine Kultur etabliert hat, die von Gleichgültigkeit oder Desinteresse gegenüber der Religion gekennzeichnet ist. Angesichts dieser Situation sollte man nicht von Inkulturation der Liturgie reden, denn es geht in diesem Fall ja weniger darum, vorhandene religiöse Werte zu übernehmen, indem man sie mit dem Evangelium erfüllt, als vielmehr darum, Nachdruck auf die liturgische Bildung zu legen und die geeignetsten Mittel zu finden, um Geist und Herzen der Menschen zu erreichen.“ 126 EDIL/DEL 1, 23: „[…] et adhibita cautela ut novae formae ex formis iam exstantibus organice quodammodo crescant.“ 127 Kurt Koch, Die Grundtugend der Ökumene ist Geduld, in: Kärntner Kirchenzeitung – „Der Sonntag“ vom 28. 06. 2012, online verfügbar unter: http://www.kath-kirche-kaernten.at/ sonntag/imbrennpunkt_detail/die_grundtugend_der_oekumene_ist_die_geduld (Stand: 01. 12. 2016).

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einer neugewonnenen Selbsterkenntnis der eigenen Kirche besteht die Bereicherung im Austausch der liturgischen Traditionen.128 Einheit der Liturgie heißt also nicht starre Einheitlichkeit, sondern erlaubt auch eine Vielfalt von liturgischen Ausdrucksformen innerhalb des Römischen Ritus und von westlichen nicht-römischen Riten (z. B. Divine Worship und alle rechtmäßig anerkannten Riten, Diözesan- und Ordensbräuche, von denen es leider nur noch wenige gibt), – allerdings nicht unbedingt eine Auffächerung in neue Liturgiefamilien –, was durchaus als Bereicherung angesehen werden darf, wenn es auch hie und da größere und als unüberbrückbar erscheinende Probleme geben mag.129 „Der Erlöser hat eine einzige Kirche gewollt, aber sie sollte zugleich katholisch sein, d. h. Qualität und Legitimität vorausgesetzt, offen für ungezählte mögliche [liturgische] Ausdrucksformen.“130 Eine starre Uniformität stünde im Widerspruch zur Versicherung der Apostolischen Konstitution „Anglicanorum Coetibus“, die anglikanische liturgische Tradition sei ein „wertvolles Geschenk“, das für den katholischen Gottesdienst im Kontext von unitas in diversitate (Einheit in der Vielfalt) zurückgewonnen werden könnte. Die anglikanische Tradition mit ihren Wurzeln in der charakteristischen Sakral-Sprache des „Book of Common Prayer“, mit einer weiten Verbreitung im englischsprachigen Raum und mit einem reichen Erbe an Musik, Kunst und Architektur, ganz abgesehen von einem speziellen Ethos des pfarrlichen Lebens, stellt sicherlich ein bereicherndes kulturelles Erbe dar, das durchaus der Inkulturation oder aptatio ad diversos coetus wert ist und auf einzigartige Weise (neben dem BDW) für eine „Wiedereingliederung“ in die katholische Kirche im Rahmen von „Anglicanorum Coetibus“ geeignet ist. Außerdem ist Erzbischof Joseph Augustine Di Noia unbedingt zuzustimmen, der als Vorsitzender der Kommission Anglicanae Traditiones schreibt: „Furthermore, the publication of Divine Worship is of historic significance in that this is the first time the Catholic Church has acknowledged the value of liturgical forms arising from a Reformation community and has undertaken to incorporate them. To be sure, the Church has drawn elements of the Reformation tradition – such as hymns, motets, and chorals – but never official liturgical texts.“131

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Vgl. auch Podertschnig, „Anglican Use Liturgy“ (Anm. 36), S. 124. In der Erzdiözese Braga blieb die alte Sonderform der Diözesanliturgie erhalten und steht nur gleichberechtigt neben dem Novus Ordo Missae des „Missale Romanum“ von 1969/ 70, 1975 und 2002, da viele Priester die diözesane Eigenform nicht feiern wollen. Anders sieht es wohl für die Kirchenprovinz Mailand mit ihren beiden parallelen Liturgieformen, dem Mailändischen und dem Römischen Ritus, aus. 130 Papst Paul VI., Ansprache bei einem Besuch in der italo-byzantinischen Abtei Grottaferrata bei Rom (18. 08. 1963) (ital. Originaltext in: Insegnamenti di Paolo VI, vol. 1: 1963, Roma o. J., S. 554; zitiert nach der dt. Übers. von Fischer, Liturgie oder Liturgien? [Anm. 1], S. 275 mit Anm. 46). 131 Joseph Augustine Di Noia, Divine Worship and the Liturgical Vitality of the Church, in: Antiphon 19 (2015), S. 109 – 115, hier S. 110. Allerdings gilt dies bereits auch für das frühere BDW! 129

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IV. Vorausblickende Anmerkungen und Vorschläge Abschließend sollen zu einigen wichtigen, notwendigen und legitimen Prinzipien für die weitere Entwicklung der liturgischen Ordnung für die Personalordinariate auch die folgenden künftigen Ziele abgesteckt werden, durchaus unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Herausforderungen: (1) Es sollte langfristig doch hoffentlich noch zu einer Umbenennung der liturgischen Ordnung für die Personalordinariate kommen, nämlich in „Anglican Use of the Roman Rite“132 anstelle der recht unpraktikablen und sperrigen Ausdrücke und Umschreibungen wie „Provision for the Liturgical Celebrations of the Personal Ordinariates“ oder die (leider) schon offiziös verwendete Bezeichnung „[…] for use by the Ordinariates erected under the auspices of the Apostolic Constitution Anglicanorum Coetibus.“133 Auf jeden Fall wäre es notwendig, die liturgische Ordnung für die Personalordinariate mit einer besser geeigneten und praktikablen Bezeichnung zu benennen. Die liturgische Sonderform der Personalordinariate ist eine spezielle Art oder Ausdrucksform (expression, liturgical provision) der liturgischen Feiern nach dem Römischen Ritus, die auf den eigenen liturgischen Büchern aus der anglikanischen Tradition beruht (vgl. AC III; Rubrical Directory, Nr. 6). Die nunmehr offiziell vorgesehene Bezeichnung Divine Worship erscheint bei näherer Betrachtung äußerst ungünstig und ist aus liturgiewissenschaftlicher Sicht eigentlich abzulehnen. Divine Worship wäre im Deutschen zu übersetzen 132 Vgl. bereits http://en.wikipedia.org/wiki/Anglican_Use (Stand: 10. 12. 2016). Bereits in der vor-reformatorischen Zeit wurde die katholische Kirche in England und Wales als Ecclesia Anglicana bezeichnet. Daher hat der Begriff Anglican nicht notwendigerweise eine vordergründig konfessionelle Assoziation und ist lediglich abgeleitet von der lat. Übers. für englisch. Die angehängte Spezifizierung of the Roman Rite zeigt sehr deutlich an, dass diese liturgische Form schon „katholisch“ ist und die substantielle Einheit des Römischen Ritus nicht schmälert. Leider wurde die von der Kommission mit Mehrheit vorgeschlagene Bezeichnung Anglican Use of the Roman Rite bei einer interdikasterialen Sitzung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung und der Glaubenskongregation am 16. 10. 2013 nach einiger Diskussion offensichtlich endgültig abgelehnt (nachdem bereits Anfang März 2013 darüber diskutiert worden war) und man entschied sich letztlich für die Bezeichnung „Divine Worship“: „[…] While it has become common to refer to the liturgical provision for Catholics of the Ordinariate or of the Pastoral Provision in the United States as ,Anglican Use‘, the two Congregation[s] have decided that, for a variety of reasons, it is better to avoid the terms ,Anglican‘, ,Anglo-Catholic‘ or ,Anglican Use‘ in the description of this form of the Roman rite. […] The decision has been made to use the name Divine Worship for the entire liturgical provision for the Personal Ordinariates. […] The articulation of the liturgical provision is not only about the identification of patrimony, but is at the heart of the establishment of a lasting identity for the Ordinariates. […]“ (Schreiben vom 28. 10. 2013 von Erzbischof Joseph Augustine Di Noia von der Glaubenskongregation an Msgr. Harry Entwistle [Prot.N. 536/2012 – 44441]). 133 Anm. 36 u. 84 zu den anderen früher gebrauchten „halb-offiziellen“ Bezeichnungen (z. B. Anglican Liturgical Use, Anglican Liturgy for the Use of the Common Identity Group oder Roman Rite for Use by Roman Catholics Coming from the Anglican Tradition).

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mit Gottesdienst und in den offiziellen lateinischen Dekreten sogar mit Cultus Divinus, was ja beides ein Oberbegriff ist und eigentlich Liturgie/Gottesdienst (im Allgemeinen) meint.134 Das käme einer äußerst unpassenden Inanspruchnahme und Absolutsetzung eines zentralen Begriffs des gottesdienstlichen Lebens der Kirche für eine sehr beschränkte Partikularform des Römischen Ritus gleich. (2) Alle beiden vom Heiligen Stuhl bereits approbierten und die noch zu approbierenden liturgischen Bücher für die drei Personalordinariate gemäß AC III sind Teil der offiziellen Liturgie der lateinischen Kirche und damit – in Übereinstimmung mit der kanonischen Definition von katholischer Liturgie – Gottesdienst der Kirche, der immer dann gegeben ist, „wenn er im Namen der Kirche von rechtmäßig dazu beauftragten Personen und durch Handlungen dargebracht wird, die von der kirchlichen Autorität anerkannt sind“ (c. 834 § 2 CIC/ 1983).135 Sofern die Gottesdienste allerdings nicht im Römischen Ritus (in seinen beiden Formen) gefeiert werden, sondern im Divine Worship, sind die Personalordinariate von all jenen liturgierechtlichen Bestimmungen befreit, die unvereinbar sind mit oder im Widerspruch stehen zu dem approbierten Divine Worship. Stattdessen sind diese Gottesdienstfeiern an die vom Heiligen Stuhl approbierten liturgischen Bücher und deren liturgierechtliche Bestimmungen (sowie ggf. an die aus dem Anglican Patrimony ableitbaren legitimen Gewohnheiten) gebunden.136 Nach der Approbation der liturgischen Bücher durch den Heiligen 134 Die recht diffuse und äußerst allgemein und unspezifisch gehaltene Bezeichnung Divine Worship soll wohl an das „Book of Divine Worship“ anknüpfen (s. auch Anm. 36), erinnert allerdings auch sehr an die in der byzantinischen Tradition übliche Benennung der Eucharistiefeier als Divine Liturgy. Einige Diözesen im angelsächsischen Raum bezeichnen ihre Liturgiereferate mit „Office of Divine Worship“ (das sich allerdings mit diözesanen gottesdienstlichen Agenden sowie der liturgischen Aus- und Fortbildung der Kleriker und Laien beschäftigt); s. z. B. http://www.rcan.org/offices-and-ministries/divine-worship (Stand 25. 04. 2017). Ob und inwieweit sich Divine Worship oder dessen Derivate („Divine Worship: The Missal“, „Divine Worship: Occasional Services“, „Divine Worship: The Order of Holy Baptism“ etc.) in der Praxis wirklich (freiwillig!) durchsetzen werden, wird sich in der Zukunft zeigen. Eine nachträgliche Änderung der bisherigen offiziellen Bezeichnung wird allerdings sehr schwierig sein. 135 Jeder Katholik erfüllt selbstverständlich z. B. durch die Teilnahme an einer sonntäglichen Eucharistiefeier im Divine Worship (Anglican Use) seine „Sonntagspflicht“ (c. 1248 § 1 CIC/1983). 136 Vgl. Huels, Anglicanorum Coetibus (Anm. 11), S. 396 f. Mittel- bis langfristig könnte dies sogar dazu führen, dass sich beispielsweise für die Feier der Eucharistie neben den beiden Formen des Römischen Ritus eine „anglikanisch-katholische“ Variante in weiteren Kreisen der katholischen Kirche etabliert, denn schon jetzt gilt selbstverständlich: Die Mitfeier eines solchen Gottesdienstes ist nicht den Mitgliedern eines Personalordinariates vorbehalten, denn es handelt sich um einen Gottesdienst, der in einer katholischen Teilkirche gefeiert wird (vgl. Bier, Apostolische Konstitution [Anm. 11], S. 473 f.; Wirz, Das eigene Erbe wahren [Anm. 11], S. 28 – 30). Es wäre evtl. durchaus zu wünschen, dass zumindest in den angelsächsischen Ländern (USA, Kanada, Großbritannien, Irland, Australien und Neuseeland) der Usus Divine Worship unter bestimmten Umständen auch für Nichtangehörige der Personal-

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Stuhl haben die Personalordinariate konsequenterweise das Recht, ihre Liturgie nach diesen Büchern zu feiern – natürlich immer in Übereinstimmung mit den Richtlinien der bevollmächtigten Autoritäten der Ordinariate und/oder des Heiligen Stuhls. Dieses Recht kann durch niemanden unterhalb der höchsten Autorität in der Kirche aufgehoben oder verweigert werden.137 (3) Es ist liturgierechtlich problematisch, dass im neuen Messbuch für die drei Personalordinariate wortgetreu die „General Instruction of the Roman Missal“ (GIRM) der dritten Auflage mitabgedruckt und vorangestellt werden musste,138 noch vor den eigentlich relevanten Generalrubriken (hier lediglich „Divine Worship: Rubrical Directory“ genannt139), die (zusammen mit etlichen Spezialrubriken in den Formularen), teilweise der GIRM zuwiderlaufen müssen, handelt es sich hier doch um eine Sonderform des Römischen Ritus mit zum Teil auch strukturellen Abweichungen (auch im Liturgischen Kalender140). Es ist daher sehr zu hoffen, dass in einer zweiten Auflage eigene, an der GIRM angelehnte eigenständige Generalrubriken oder Praenotanda (z. B. „General Introduction of the Divine Worship Missal“) erstellt werden können, oder zumindest in einem mit (römischem) Imprimatur versehenem begleitendem „Manuale“ die bedeutsamen Unterschiede und abweichenden Rubriken bzw. Riten beschrieben werden. (4) Das genaue Ausmaß und die Bedeutung von „Einheit im Wesentlichen“ für den Römischen Ritus im Kontext von AC III sollte bestimmt werden: Es scheint, dass die „Einheit im Wesentlichen“ von Stil, Ausdruck, Sprachform oder Spracheigentümlichkeit unterschieden werden muss. Die „Einheit im Wesentlichen“ beim Römischen Ritus erfordert nicht, dass alle englischsprachigen Gläubigen die genau gleichen Übersetzungen des Credo oder Eucharistischen Hochgebetes oder eines anderen Elements des Messordinariums verwenden müssen.141 Das „Book of Divine Worship“ von 1987 hat diesen Aspekt bereits berücksichtigt. ordinariate freigestellt werden würde. Dafür müssten allerdings die Nrn. 4 und 5 im „Rubrical Directory“ verändert werden (vgl. Divine Worship: The Missal [Anm. 2], S. 120 f.). 137 Vgl. Huels, Anglicanorum Coetibus (Anm. 11), S. 397. 138 Ausführlich s. o. Kap. III.4. Man hätte die GIRM zumindest im Druck mit einer anderen („römischen“) Paginierung versehen können (I, II, III … oder i, ii, iii …). 139 Divine Worship: The Missal (Anm. 2), S. 119 – 131 (S. 132 – 134: Table of Liturgical Days). 140 Auf das immer wieder erwähnte und auf pastorale Flexibilität hingeordnete „according to local custom“ in den Praenotanda, v. a. dem „Rubrical Directory“ des Messbuches, könnte man mit Blick auf das Anglican Patrimony ggf. noch besser Rücksicht nehmen, wenn beispielsweise bestimmte Hochfeste (wie u. a. Epiphanie) nicht notwendigerweise in allen Gemeinden der Ordinariate auf den nachfolgenden Sonntag verschoben werden müssten. 141 Wir haben ja bereits unterschiedliche approbierte volkssprachliche Übersetzungen des „Römischen Messbuches“ (2. oder 3. Auflage) für die spanischsprachigen Länder (Spanien, Mexiko, Argentinien usw.) oder für die Kroaten in Kroatien und für die Kroaten im Burgenland (Österreich).

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Aus pastoralen Gründen sind daher die Verwendung von leicht unterschiedlichen englischen Texten (d. h. traditionellere Übersetzungen) in einigen Teilen des Messordinariums (z. B. Kyrie, Gloria, Credo, Canon Missae mit Sanctus, Benedictus, Agnus Dei), die das Erbe des „Prayer Book“ über einen mehr als vierhundertjährigen kontinuierlichen Gebrauch widerspiegeln, erlaubt.142 Sorgsame Anpassungen und sogar Abänderungen in Stil und Ausdruck heben die notwendige „Einheit im Wesentlichen“ des Römischen Ritus sicherlich nicht auf.143 (5) Es wäre sehr wünschenswert, dass die Genehmigung erteilt wird für ein weiteres alternatives Eucharistisches Hochgebet im Fall von besonderen pastoralen Erfordernissen (besonders für Wochentage und für Messen mit kleineren Gruppen), das neben der adaptierten Fassung des Eucharistischen Hochgebets II (in „Prayer Book“-Englisch) sogar eine entsprechend überarbeitete Version eines Eucharistiegebetes aus der anglikanischen Tradition selbst sein sollte.144 142

Dies ist nicht nur in Übereinstimmung mit AC III („[…] gemäß den eigenen liturgischen Büchern aus der anglikanischen Tradition […]“), sondern auch mit SC 37 („In den Dingen, die den Glauben oder das Allgemeinwohl nicht betreffen, wünscht die Kirche nicht eine starre Einheitlichkeit der Form zur Pflicht zu machen, nicht einmal in ihrem Gottesdienst […]“), SC 38 („Unter Wahrung der Einheit des römischen Ritus im wesentlichen ist berechtigter Vielfalt und Anpassung an die verschiedenen Gemeinschaften, Gegenden und Völker […]“) und SC 40 („Da jedoch an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Verhältnissen eine tiefergreifende und deswegen schwierigere Anpassung der Liturgie dringlich ist […]“). 143 Vgl. Brand, Very Members Incorporate (Anm. 68), S. 144 – 154. In den bisher approbierten liturgischen Ordnungen der Divine Worship-Liturgie mit ihrerer sprachlichen Besonderheiten hat sich der Heilige Stuhl erfreulicherweise für eine sehr großzügige Anwendung der Normen von „Liturgiam Authenticam“ (LA) zugunsten der traditionellen englischen Übersetzungen entschieden (C Cult, Instr. „Liturgiam Authenticam“ [28. 03. 2001], in: AAS 93 [2001], S. 685 – 726). Die Übersetzungsinstruktion empfiehlt „für jede Volkssprache eine einzige Fassung der liturgischen Bücher und anderer liturgischer Texte“ (LA, Art. 87: „unica pro unoquoque vulgari sermone versio librorum aliorumque textuum liturgicorum“), und besonders für die Messliturgie „soll es nur eine einzige Übersetzung in einer bestimmten Sprache geben, wenn nicht, in Einzelfällen, etwas anderes vorgesehen ist“ (eigene Hervorhebung; LA, Art. 88: „unica habeatur translatio certa quadam lingua composita, nisi aliter, singulis in casibus, provideatur.“). Diese Klausel bietet natürlich (i. V. m. AC III und der Derogationsformel von AC [Anm. 61]) einen gewissen Spielraum, die im Falle der Divine Worship-Liturgieform gerechterweise in Anspruch genommen wurde. Für die Bibelübersetzung gilt Ähnliches: Man „soll im ganzen Gebiet eine einzige approbierte Übersetzung gebrauchen, die in allen Teilen der verschiedenen liturgischen Bücher verwendet wird“ (LA, Art. 36: „in omni territorio habeatur una tantum translatio approbata, quae in cunctis partibus variorum librorum liturgicorum adhibeatur.“). AC III schützt auch hier (in gewisser Weise zusammen mit LA, Art. 40, weil hier keine „Verwirrung oder Ärgernis“ entsteht, ganz im Gegenteil) die eigene (auch sprachliche) Tradition der Anglikaner und verpflichtet sie nicht auf die Römische Liturgie und die im jeweiligen Gebiet approbierte katholische Übersetzung; vgl. hierzu bes. Wirz, Das eigene Erbe wahren (Anm. 11), S. 92 f. mit Anm. 313. 144 Am 27. 04. 1973 gewährte die Heilige Kongregation für den Gottesdienst mit ihrem Rundschreiben („Litterae circulares“) an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen „Eucharistiae participationem“ in Nr. 6 (AAS 65 [1973], S. 341; EDIL/DEL 1, 3042), sogar die grundsätzlich rechtmäßige Möglichkeit, eine größere Anzahl von Eucharistischen Hochgebetstexten zusätzlich zu den neuen post-konziliaren Eucharistiegebeten II–IV zu erstellen.

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Bei der Auswahl (und ggf. Überarbeitung) eines solchen alternativen Hochgebets wäre natürlich besondere Behutsamkeit erforderlich. (6) Es wäre außerdem angebracht, dass neben der Feier der Kranken- und Sterbesakramente („Divine Worship: Pastoral Care of the Sick and Dying“) auch noch eine eigene der anglikanischen Tradition verpflichtete und angepasste liturgische Ordnung für die Segnungen (Blessings) für die Personalordinariate erstellt und vom Heiligen Stuhl approbiert werden würde, zumal AC III ausdrückDiese Bestimmung wurde dann in der Erklärung „De Precibus eucharisticis et experimentis liturgicis“ der Kongregation für den Gottesdienst vom 21. 03. 1988 in der Nr. I/3 wörtlich wiederholt (Notitiae 24 [1988] 234; EDIL/DEL 3, 6148); SC Cult, Eucharistiae participationem, Nr. 6: […] Ius moderandi rem tanti mementi, cuius modi est disciplina Precum eucharisticarum, Apostolica Sedes, pastorali unitatis amore impulse, sibi reservat. In unitate ritus Romani legitimas postulationes considerare non renuet, et petitiones a Conferentiis Episcopalibus sibi allatas ad novam Precem eucharisticam peculiaribus in adiunctis forte exarandam et in liturgiam inducendam benigne perpendet; normas vero singulis in casibus servandas proponet“. (DEL 1, 3042), dt.: 6. […] Um der pastoralen Einheit willen behält sich der Apostolische Stuhl das Recht vor, in einer so wichtigen Angelegenheit, wie es die Ordnung des Eucharistischen Hochgebetes ist, selber die angemessenen Regelungen zu treffen. Er wird es nicht ablehnen, berechtigte Erfordernisse, die innerhalb der Einheit des Römischen Ritus bleiben, zu prüfen, und er wird Eingaben von Bischofskonferenzen bezüglich der Erarbeitung eines neuen Eucharistischen Hochgebetes für besondere Verhältnisse und seiner Einführung in die Liturgie wohlwollend behandeln; in jedem Einzelfall wird er die entsprechenden Regelungen treffen.“ Vor und nach 1973 hat die Heilige Kongregation für den Gottesdienst (1969 – 1975)/Heilige Kongregation für Sakramente und Gottesdienst (1975 – 1984)/Kongregation für den Gottesdienst (1984 – 1988) die folgenden Eucharistischen Hochgebete (HG) sukzessive approbiert: z. B. HG für Messfeiern mit Gehörlosen für das deutsche Sprachgebiet (1970; Prot.N. 1546/70); HG bei der Feier der Erstkommunion auf den Philippinen (ad experimentum; 1971); HG für die Ureinwohner (Aborigines) Australiens (1973; Prot.N. 1477/72 und 545/73); HG aus Anlass der Synode für die Kirche in der Schweiz (1974; Prot.N. 19/72) = Hochgebet(e) für Messen für besondere Anliegen (1991/94: vgl. EDIL/DEL 3, 6621 – 6629); HG zur Eröffnung einer Sitzung des niederländischen „Pastoralkonzils“ (zeitlich beschränkt zugelassen 1974 – 1977; Prot.N. 1852/74 u. 855/75); HG aus Anlass eines nationalen Eucharistischen Kongresses für die Kirche Brasiliens (1974; Prot.N. 272/74); Hochgebete für Messfeiern mit Kindern I–III (1974/75; vgl. EDIL/DEL 2, 3323 – 3347); Hochgebete für die Messen „zur Versöhnung“ I–II (1974/75; vgl. EDIL/DEL 2, 3348 – 3351); HG für die flämischen Bistümer Belgiens (1976/79; Prot. 430/75 u. Prot.CD 2283/77 [auch zugelassen für die Niederlande]); HG zur Verwendung bei Trauungsmessen für die kanadische Kirche (1982/87; Prot.CD 366/81 u. Prot.N. 1007/87 [auch zugelassen für die Niederlande]); HG für die Kirche von Zaire (1988; Prot. 1520/85). Der Altspanische Ritus hat viele variable Textteile für das HG, und der Mailändische Ritus besitzt zwei zusätzliche Hochgebete für Gründonnerstag und Ostern; vgl. Annibale Bugnini, Die Liturgiereform 1948 – 1975. Zeugnis und Testament (dt. Ausgabe hrsg. v. Johannes Wagner/François Raas), Freiburg u. a. 1988, S. 497 – 519; Reiner Kaczynski, Der Ordo Missae in den Teilkirchen des römischen Ritus, in: LJ 25 (1975), S. 99 – 136, hier S. 106 – 108, 130, 134; ders., Die Aussagen über die kirchliche Gemeinschaft in den Texten des Hochgebets, in: Pierre Jounel u. a. (Hrsg.), Liturgia Opera Divina e Umana (= BEL.S 26), Roma 1982, S. 329 – 351, hier S. 331 – 340; ders., Eucharistiegebete der Teilkirchen des römischen Ritus, in: Erich Renhart/Andreas Schnider (Hrsg.), Sursum Corda. Variationen zu einem liturgischen Motiv. FS Harnoncourt, Graz 1991, S. 130 – 139, hier S. 132, 135 f. u. 139. *

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lich von den „übrigen liturgischen Handlungen gemäß den eigenen liturgischen Büchern aus der anglikanischen Tradition“ spricht. (7) Gerade die anglikanische Tagzeitenliturgie („Divine Worship: The Daily Office“) wäre in ihrer adaptierten Form – im Sinne von AC III (wo sie ausdrücklich erwähnt wird) – tatsächlich eine sehr große theologische und pastorale Bereicherung für den gesamten Römischen Ritus und die Gesamtkirche,145 da sie seit Anfang an die kathedrale, d. h. (pfarr-)gemeindliche, Form viel besser bewahrt hat (besonders den Evensong an Festen und Hochfesten). Daher sollte letztlich eine einheitliche Form von „The Daily Office“ – mit nationalen bzw. lokalen Adaptionen – unter allen Umständen doch noch offizieller Bestandteil des Divine Worship für alle drei Personalordinariate werden.146 Es ist liturgierechtlich sicherlich notwendig gewesen, dass der Entwurf des US-Ordinariates zumindest nachträglich nach Fertigstellung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zur Approbation vorgelegt wurde, um mit dem Entstehungsprozess keinen Präzedenzfall geschaffen zu haben. Denn die Tagzeitenliturgie ist ebenso Teil des „amtlichen Gottesdienstes“ der Kirche wie andere liturgische Feiern und obliegt daher vorrangig der Ordnung durch den Apostolischen Stuhl (c. 838 §2 CIC/1983), hier wohl auch besonders durch Einbindung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung.147 (8) Im liturgischen Buch zur Feier der Kranken- und Sterbesakramente („Divine Worship: Pastoral Care of the Sick and Dying“) wäre es in einer zweiten Auflage sicherlich angemessen, auch noch die Firmung in Todesgefahr und das Gebet zur Weihe des Krankenöles – so wie im Römischen Ritualefaszikel auch vorgesehen 145 Vgl. zur Problematik der Erneuerung der römischen Tagzeitenliturgie nach dem II. Vatikanischen Konzil z. B. Gregor M. Hanke, Das II. Vatikanum und die Reform des Stundengebetes für die Gemeinde. Hat die Reform stattgefunden?, in: Hans-Jürgen Feulner/ Andreas Bieringer/Benjamin Leven (Hrsg.), Erbe und Erneuerung. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihre Folgen (= Österreichische Studien zur Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie 7), Wien 2015, S. 325 – 343. 146 Vgl. auch den Vortrag von Msgr. Steven J. Lopes vom 02. 02. 2013 in Houston: „The Ordinariate’s Mission: Liturgy“, online verfügbar unter: http://www.anglicanphiladelphia.org/ articles/liturgy.pdf S. 5 f. (Stand: 01. 12. 2016). Natürlich muss auch die Frage der kanonischen Verpflichtung der Kleriker der Personalordinariate hinsichtlich der Tagzeitenliturgie im „Divine Worship“ geklärt werden. 147 Vgl. hierzu Christoph Ohly, Integer cultus. Die Sorge des Apostolischen Stuhls um die Authentizität der Liturgie der Kirche, in: Anna Egler/Wilhelm Rees (Hrsg.), Dienst an Glaube und Recht. FS May (80) (= KST 52), Berlin 2006, S. 479 – 502. Diese Sorge nimmt der Apostolische Stuhl in erster Linie ja durch die erwähnte Kongregation wahr (Art. 62 – 70 PastBon; EDIL/DEL 3, 6218 – 6226). Natürlich können in einzelnen Fällen auch andere Dikasterien der Römischen Kurie verbindliche Entscheidungen treffen, welche den Gottesdienst betreffen. Die Glaubenskongregation kann mit liturgischer Materie beschäftigt sein, sofern Fragen der Liturgie die Glaubenslehre betreffen (Art. 54 PastBon; vgl. auch Lopes, Unity of Faith in a Diversity of Expression [Anm. 50], S. 13). Inwieweit daher eine Approbation der alternativen kanadischen Fassung der Tagzeitenliturgie allein durch den US-Ordinarius erfolgen kann, wirft doch liturgierechtliche Fragen auf (s. o. Kap. III.5 mit Anm. 109).

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– zumindest im Anhang beizufügen, damit die Priester in der pastoralen Praxis mit nur einem liturgischen Buch zurecht kommen können. Vielleicht hätte man in Nr. 6 der „General Introduction“, wo es um den Spender und Empfänger der Krankensalbung geht, in der Fußnote 3 – neben dem Verweis auf c. 1006 CIC/1983 – auch gleich noch auf die nunmehr endgültig zu haltende Entscheidung der Glaubenskongregation in einer Note vom 11. Februar 2005 hinweisen können, wonach nur „Priester (Bischöfe und Presbyter) die Spender des Sakraments der Krankensalbung sind.“148 Damit hätte man der leidigen Diskussion um den Spender auch in einem liturgischen Buch ein definitives Ende gesetzt. Außerdem wäre es hier sicherlich angebracht, wie beim Messbuch (sowie bei „Divine Worship: Occasional Services“), die „General Introduction“ (bzw. des „Rubrical Directory“) mit den entsprechenden Praenotanda (bzw. der GIRM) harmonisierend zu verschmelzen, um rubrikale sowie inhaltliche Widersprüche und Unsicherheiten aufzulösen. (9) Zumindest in den „Ergänzenden Normen“ (Complementary Norms) zu AC müsste künftig stärker betont werden, dass in den Personalordinariaten primär die Divine Worship-Form als liturgische Ordnung zu benutzen ist, um auch das längerfristige Überleben zu sichern (besonders in England und Wales). Denn gerade diese liturgische Sonderform als herausgehobenes Anglican Patrimony unterscheidet die drei Personalordinariate von anderen Teilkirchen des Römischen Ritus und ist daher eine wichtige Basis und ein Garant ihres weiteren Fortbestehens. Die vorangegangenen Ausführungen sollten aufzeigen, dass das bisher Erreichte in der liturgischen Ordnung der drei Personalordinariate ein ökumenisch sehr bedeutungsvolles und weltweit einzigartiges Zugeständnis in der Liturgiegeschichte darstellt (über das BDW hinaus), da die Einheit der Kirche keine Uniformität verlangt, die kulturelle Verschiedenheit ignoriert.149 Nachbesserungen für eine irgendwann in der Zukunft anstehende zweite Auflage (editio altera) der liturgischen Bücher der Personalordinariate sowie die Bereitstellung weiterer liturgischer Feiern aus der anglikanischen Tradition wären sehr zu wünschen, nicht zuletzt auch aus liturgierechtlichen Erwägungen heraus und ganz im Sinne von AC III.

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C DocFid, Note über den Spender des Sakraments der Krankensalbung (11. 02. 2005), in: AfkKR 174 (2005), S. 164. 149 Stand der Überarbeitung: 11. 05. 2017. Ich danke Frau Mag.a Karin Sulz und Herrn Mag. Daniel Seper für die Mithilfe beim Korrekturlesen.

Geht zu allen Völkern und tauft sie Kirchenrechtliche Überlegungen zur Taufe von Flüchtlingen Von Stefan Ihli „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“1

Dieser biblische Missionsbefehl Jesu erhält angesichts drastisch gestiegener Flüchtlingszahlen in Deutschland eine ungewohnte, neue Brisanz; unter Bezug auf einen Film-Bericht in den ARD-Tagesthemen vom 25. Februar 2016 über eine evangelisch-freikirchliche Tauffeier mit 70 Täuflingen in einem Hamburger Hallenbad2 sprachen verschiedene Zeitungen gar von „Massentaufen in deutschen Schwimmbädern“3. Auch ohne derartige Polemik steht fest, dass sich von den 2015 eingereisten ca. 1,1 Millionen Flüchtlingen4 zahlreiche aus den unterschiedlichsten Gründen5 für eine Taufe in einer christlichen Konfession interessierten, sei es aus eigenem Antrieb oder als Reaktion auf den Besuch von – meist evangelisch-freikirchlichen – Seelsorgern in Flüchtlingsunterkünften. Auch wenn das bisher in der Literatur erstaunlicherweise fast keinen Niederschlag gefunden hat und auch wenn die Flüchtlingszahlen momentan wieder rückläufig sind, wirft dies doch (kirchen-)rechtliche Fragen auf. Insbesondere in Freikirchen gespendete Taufen von Menschen, die bei ihrer Entscheidung dazu geleitet wurden durch „die Aussicht, Vorteile bei der Integration und Versorgung zu haben, die Hoffnung, leichter Kontakte und Arbeit zu finden, die Vermutung, dann nicht mehr fremd zu sein, der Eindruck, das Christentum sei moderner 1

Mt 28,19 – 20. Online verfügbar unter: http://www.tagesschau.de/inland/taufe-101.html (Stand: 22. 11. 2016). 3 S. z. B. Münchner Merkur online, verfügbar unter: http://www.merkur.de/politik/fluechtlin ge-deutschland-massentaufen-deutschen-schwimmbaedern-christentum-6159282.html (Stand: 22. 11. 2016). 4 Pressemitteilung des Bundesministeriums des Inneren, online verfügbar unter: http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraege-dezember-2015. html (Stand: 22. 11. 2016). 5 Vgl. Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche. Grundform. Manuskriptausgabe zur Erprobung, hrsg. v. den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz, Trier 2001, Nr. 9 f. (online verfügbar unter: http://www.liturgie. de/liturgie/pub/litbch/download/dli_5269_www.pdf [Stand: 22. 11. 2016]). 2

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oder rationaler, frauenfreundlicher oder bequemer als der Islam, die Vorstellung, die Taufe gehöre einfach zur hiesigen Kultur“6 oder schlicht die Meinung, damit einen positiven Ausgang des eigenen Asylverfahrens zu befördern, haben nämlich „die kirchliche Taufpraxis in Verruf gebracht und Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Taufbegehrens der Täuflinge wachsen lassen“7, insofern nun allgemein der Verdacht einer bloß opportunistischen Taufe kursiert, sei es aus der Perspektive des Täuflings zur Verbesserung seiner Chancen auf eine Anerkennung als Asylbewerber, sei es aus der Sicht des Taufenden zur Steigerung der kirchlichen Mitgliederzahlen.8 Der folgende Beitrag möchte daher in Erinnerung rufen, wann eine Taufe verantwortet gespendet werden kann.9

I. Die staatlichen Rechtsgrundlagen Während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (AEM) noch lediglich allgemein davon gesprochen hatte, „[j]eder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“10, definierte das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge („Genfer Flüchtlingskonvention“ [GFK]) vom 28. Juli 1951, in Kraft getreten am 22. April 1954, den Status eines Flüchtlings unter anderem als denjenigen einer Person, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer […] Religion […] außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“11, und räumte implizit ein Asylrecht auch aus spezifisch religiösen Gründen ein, indem sie bestimmte: „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner […] Religion […] bedroht sein würde.“12

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Felix Körner, Selbstlosigkeit ist gefragt, in: HK 70 (2016), S. 26 – 30, hier S. 29. Florian Barth/Thorsten Leißer, Vom Islam zum Christentum. Konversion und Taufe im Asylverfahren, in: Deutsches Pfarrerblatt 116 (2016), S. 269 – 298, hier S. 297; vgl. Christoph Fleischmann, Taufe unter Verdacht, in: Publik-Forum 42 (2014), Heft 23 vom 05. 12. 2014, S. 44; Felix Körner, Selbstlosigkeit ist gefragt (Anm. 6), S. 28 – 29. 8 Beispielsweise hält der BayVGH in seinem Urteil vom 23. 03. 2016, Az. 1 K 16.30035, S. 24, in einer nicht unproblematischen, wenngleich womöglich durch Fakten gestützten Verallgemeinerung fest, in fast allen Asylverfahren iranischer Staatsangehöriger werde eine „angebliche Konversion“ zum Christentum bei evangelisch-freikirchlichen Gemeinden vorgetragen. 9 Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich auf Flüchtlinge und Asylbewerber gleichermaßen, auch wenn nicht immer beide Personengruppen gesondert benannt werden. 10 Art. 14 Abs. 1 AEM. 11 Art. 1 Abs. A.1 GFK. 12 Art. 33 Abs. 1 GFK. 7

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Allerdings wurde die AEM später ebenfalls präzisiert, indem am 28. April 2004 zwölfseitige, detaillierte „Richtlinien zum internationalen Schutz auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A (2) des Abkommens von 1951 und/oder des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) erlassen wurden,13 weil es bei Asylanträgen aus religiösen Gründen „einen besonders hohen Grad an Komplexität“14 geben könne. Der Begriff Religion im Sinne der AEM wird dort sehr breit interpretiert; er schließe Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit ein und beschränke sich nicht „auf traditionelle Religionen oder […] Glaubensrichtungen mit institutionellen Merkmalen und Praktiken, die denen traditioneller Religionen vergleichbar sind“, sondern umfasse „darüber hinaus auch Handlungen, die vorgegebenen religiösen Verhaltensweisen widersprechen oder mit denen deren Einhaltung bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Glaubensrichtung insgesamt abgelehnt wird.“15 Gemeint seien sowohl theistische als auch nicht-theistische und atheistische Glaubensformen, selbst wenn Individuen von ihren Glaubensgenossen „als Ketzer, Abtrünnige, Spalter, Heiden oder Abergläubige angesehen“ würden.16 Überhaupt sei gar nicht erforderlich, dass der Verfolgte „einer Religion oder einer bestimmten religiösen Glaubensrichtung angehört oder religiöse Praktiken ausübt, soweit der Verfolger diese Religion, Glaubensrichtung oder Praktiken der Person […] zurechnet oder zuschreibt.“ Ebenso sei es „nicht unbedingt erforderlich, dass der Antragsteller die Religion in irgendeiner Hinsicht kennt oder versteht, soweit er durch andere als Mitglied dieser Gruppe identifiziert wird und aus diesem Grund Furcht vor Verfolgung hat.“17 Die Zugehörigkeit zu einer so definierten Religion könne „als so grundlegend für die menschliche Identität betrachtet werden, dass niemand gezwungen werden sollte, sie zu verstecken, zu ändern oder aufzugeben, um der Verfolgung zu entgehen.“18 Das deutsche Grundgesetz (GG) dagegen beschränkte und beschränkt sich zwar selbst nach wie vor auf einen Schutz vor politischer Verfolgung.19 Eine darüber hinausgehende Asylgewährung unter anderem aus religiösen Gründen ergibt sich aber aus dem Europarecht, insofern Art. 18 der durch Art. 6 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) in der Europäischen Union für rechtsverbindlich erklärten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ein Asylrecht „nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen 13

HCR/GIP/04/06. HCR/GIP/04/06, Nr. 1. 15 HCR/GIP/04/06, Nr. 4. 16 HCR/GIP/04/06, Nr. 6. 17 HCR/GIP/04/06, Nr. 9. 18 HCR/GIP/04/06, Nr. 13. 19 Art. 16a Abs. 1 GG.

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Union […] gewährleistet.“ Dass die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04. November 1950 (EMRK) dabei nicht genannt wird, liegt darin begründet, dass dort keine eigene Asylrechtsgewährung festgeschrieben ist, sondern nur aus verschiedenen Grundrechten, wie z. B. der – ja auch in der AEM,20 dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) vom 19. Dezember 1966,21 der GRCh22 und im GG23verankerten – Religionsfreiheit24 rückgeschlossen werden kann, insoweit diese durch eine Verweigerung des Asyls verletzt würden. Die EU hat diese Rechtslage durch die „Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“ (sog. Qualifikationsrichtlinie) näher entfaltet, in der definiert wird, „der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind […].“25 „Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“26

Damit wird der Inhalt der UNHCR-Richtlinien HCR/GIP/04/06 aufgegriffen, während die vorangegangene Fassung, die „Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“ diesen noch nicht hatte berücksichtigen können und sich im Wesentlichen auf die GFK bezog, bezüglich religiöser Verfolgung aber einen gleichen Inhalt hatte. Das deutsche Recht hat diese europarechtlichen Vorgaben in den §§ 3 – 3e AsylG inhaltsgleich umgesetzt. So wird beispielsweise Religion definiert als „insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, 20

Art. 18 AEM. Art. 18, 27 IPbpR. 22 Art. 10 Abs. 1 GRCh. 23 Art. 4 Abs. 1 – 2 GG. 24 Art. 9 Abs. 1 EMRK. 25 Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2011/95/EU. 26 Art. 10 Abs. 2 RL 2011/95/EU.

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allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.“27

II. Die staatliche Rechtsprechung Bei der Klärung der Frage, ob eine Verfolgung aufgrund der Religion im Sinne dieser Rechtsnormen vorliegt – wobei es auch nach deutschem Recht „unerheblich [ist], ob [sc. der Ausländer] tatsächlich […] die religiösen […] Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden“28 –, unterschieden deutsche Gerichte anfangs in mehr oder weniger ständiger Rechtsprechung hinsichtlich der Religionsfreiheit zwischen einem forum externum und einem forum internum, also zwischen einer privaten und einer öffentlichen Ausübung der eigenen Religion. Eine religiöse Verfolgung wurde bei der Möglichkeit, sich mit seiner Glaubenshaltung in einen persönlichen Bereich zurückzuziehen, nicht gesehen, weil es sich dabei um ein religiöses „Existenzminimum“ handele, das weiterhin gegeben sei.29 Eine Wende in der gerichtlichen Spruchpraxis ergab sich durch ein auf Vorlage durch das BVerwG ergangenes Urteil der Großen Kammer des EuGH,30 mit dem die Qualifikationsrichtlinie erstmals auf europäischer Ebene höchstgerichtlich interpretiert wurde. Der EuGH hielt grundsätzlich fest, die Qualifikationsrichtlinie sei in Konformität mit der GFK auszulegen.31 Die Religionsfreiheit als eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft stelle ein so grundlegendes Menschenrecht dar, dass ein Eingriff darin so gravierend sein könne, dass er einer Verletzung der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Grundrechte, von denen keine Abweichung zulässig ist,32 gleichgesetzt werden könne, so dass dann auch die Schutzgewährung gemäß Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie zutreffe.33 Allerdings müsse eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtige, damit von einer Verfolgung zu sprechen sei.34 Somit schieden gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Aus27

§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG. § 3b Abs. 2 AsylG. 29 S. z. B. BVerwG, Urteil vom 20. 01.2004, Az. 1 C 9.03. 30 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11. 31 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 48. 32 Dies sind das Folterverbot (Art. 3 EMRK), das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK) und das Verbot des Verstoßes gegen den Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege“ (Art. 7 EMRK). 33 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 57. 34 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 59. 28

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übung des Grundrechts auf Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung von vornherein aus, insoweit sie den Bedingungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh entsprächen, d. h. den Wesensgehalt des Grundrechts, die Freiheiten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achteten sowie erforderlich seien und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprächen.35 Ebenso sei nicht von Verfolgung zu sprechen, falls die Eingriffshandlungen weniger gravierend seien.36 Dagegen sei es unangebracht, „zwischen Handlungen, die in einen ,Kernbereich‘ (,forum internum‘) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollen, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit (,forum externum‘) erfassen soll, und solchen, die diesen ,Kernbereich‘ nicht berühren sollen, zu unterscheiden“37, da nämlich eine derartige, quasi künstliche Unterscheidung mit der sehr weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2011/95/EU unvereinbar sei. Zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte, die im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2011/95/EU als Verfolgung gelte und zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus führe, gehörten daher nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit der Religionsausübung im privaten Kreis, sondern auch solche in die Freiheit, den Glauben öffentlich zu leben.38 Zur Beantwortung, ob ein ausreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit vorliege, sei darum nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen werde, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt sei, und deren Folgen.39 Das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, könne jedenfalls eine hinreichend gravierende Verfolgungshandlung darstellen, da eine solche Teilnahme vom Religionsbegriff der Qualifikationsrichtlinie umfasst sei.40 Dabei spiele eine Rolle, ob für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sei, selbst wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstelle und nur subjektive Bedeutung habe.41 Da in den Rechtsgrundlagen nichts darauf hindeute, dass bei der Beurteilung der Frage, wie groß die Gefahr sei, dass der Betreffende tatsächlich Verfolgungshandlungen in einem bestimmten Kontext erleiden werde, berücksichtigt werden müsste, ob er die Gefahr einer Verfolgung möglicherweise dadurch vermeiden könnte, dass er auf die betreffende religiöse Betätigung verzichte, sei dieser Aspekt grundsätzlich irrelevant, sofern nur feststehe, dass sich der Betroffene nach Rückkehr 35

EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 60. EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 61. 37 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 62. 38 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 63. 39 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 65. 40 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 69. 41 EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 70. 36

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in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen werde.42 Dagegen sei ein Verzicht auf religiöse Betätigungen in der Öffentlichkeit unzumutbar.43 Das BVerwG hat diese Entscheidung mit Urteilen vom 20. Februar 2013 in die nationale Rechtsprechung übernommen,44 woraus sich eine ständige Rechtsprechung der Mehrzahl der deutschen Verwaltungsgerichte ergeben hat.45 Auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass damit ein erweiterter Schutzbereich für Asylbewerber eröffnet worden wäre, weil nunmehr nicht mehr lediglich Einschränkungen in die private, sondern zudem bereits solche in die öffentliche Religionsausübung als Verfolgungshandlung gewertet wurden, was an sich insofern erstaunlich war, weil damit Asylsuchende aus Staaten mit einer generell eingeschränkten Religionsfreiheit einen erhöhten Schutz gegenüber dort wohnenden Menschen genossen, wie z. B. „die im Iran traditionell beheimateten christlichen Konfessionen […], die um ihrer Existenz willen auf Missionsarbeit verzichten“46. Dies erwies sich allerdings als Irrtum, und zwar in den – fast immer zutreffenden – Fällen einer Taufe erst in Deutschland, wo die Bekehrung zum Christentum und die dadurch möglicherweise neu entstandene Gefahr einer Verfolgung im Heimatland, die zum Zeitpunkt der Flucht noch nicht gegeben war, in den Asylverfahren als ein sog. „selbstverschuldeter Nachfluchtgrund“ definiert wird. So bestimmt nämlich das AsylG für derartige Fallgestaltungen: „Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung.“47

Aufgrund des Verweises auf die „feste, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigte Überzeugung“ entsteht häufig der Verdacht, die Taufe sei lediglich aus opportunistischen Motiven erfolgt und entspreche gerade keiner solchen inneren Überzeugung. Selbst die oben genannten Richtlinien des UNHCR – also einer im Dienste der Flüchtlinge stehenden Organisation – führten deswegen aus, derartige Fallgestaltungen wirkten sich „erschwerend auf die Glaubwürdigkeit aus und machen eine gründliche und umfassende Prüfung der Umstände und Echtheit der Konvertierung erfor-

42

EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnrn. 78 – 79. EuGH, Urteil vom 05. 09. 2012, Az. C-71/11 u. C-99/11, Rdnr. 80. 44 In den beiden dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten, aus dem Freistaat Sachsen stammenden Rechtssachen ergingen die beiden Urteile 10 C 20.12 u. 10 C 21.12; ausführliche Darlegungen zur Rechtsprechung des EuGH erfolgten ebenfalls am 20. 02. 2013 in einem parallelen Fall aus Baden-Württemberg im Urteil 10 C 23.12. 45 S. z. B. BayVGH, Urteil vom 23. 03. 2016, Az. 1 K 16.30035; VG Würzburg, Urteil vom 26. 04. 2016, Az. 1 K 16.30268. 46 BayVGH, Urteil vom 23. 10. 2007, Az. 14 B 06.30315, Rdnr. 19. 47 § 28 Abs. 1 S. 1 AsylG. 43

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derlich.“48 Das gelte insbesondere, falls „von örtlichen Religionsgemeinschaften im Aufnahmeland systematische und organisierte Konvertierungen durchgeführt werden, um Ansiedlungsoptionen zu erschließen, und/oder wenn Druck auf und Beratung von Antragstellern weit verbreitet ist […]“.49 Derartige Bekehrungen führten „nicht zur Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung auf der Grundlage eines Konventionsgrundes im Herkunftsland des Antragstellers, soweit der diesen Aktivitäten zugrunde liegende Opportunismus für jeden, einschließlich der Behörden des Herkunftslandes, offensichtlich ist und die Rückkehr der Person keine ernstlichen negativen Konsequenzen hätte.“50

Entscheidend sei deshalb die Klärung der Motivation für die Taufe, deren Auswirkungen auf das Leben des Täuflings sowie der Frage, ob dadurch eine im Rechtssinne begründete Furcht vor Verfolgung gegeben sei, falls der Betroffene in sein Heimatland zurückkehren würde. „Dabei ist besonders zu berücksichtigen, ob die Behörden des Herkunftslandes Kenntnis von solchen Konvertierungen erlangen können und wie sie diese wahrscheinlich beurteilen werden.“51 Ausgehend von diesen Überlegungen wurde es in den einschlägigen Gerichtsverfahren Standard, die Motivation der Neugetauften und ihr Glaubensleben und -wissen abzuprüfen und beispielsweise das Vaterunser, die Namen der zwölf Apostel oder die Zehn Gebote abzufragen – was auch immer die (Nicht-)Kenntnis derartigen memorierbaren Wissens aussagt. So hat z. B. der BayVGH wiederholt ausgeführt, die Frage, ob der von einem Asylbewerber behauptete Glaubensübertritt auf einer ernsthaften und innerlich gefestigten Überzeugung beruhe, sei höchstpersönlicher Natur und könne und müsse deswegen allein vom Asylbewerber glaubhaft gemacht werden; Glaubhaftigkeit der Schilderung und Glaubwürdigkeit der Person des Asylbewerbers seien vom Gericht im Rahmen einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu überprüfen und tatrichterlich zu würdigen; die Einschätzung eines Dritten könne dies auch dann nicht ersetzen, falls es sich dabei um einen Pfarrer handele.52 Eine unterbliebene diesbezügliche Vernehmung durch das Gericht wurde vom BVerwG sogar als Revisionsgrund wegen Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung53 und des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme54 anerkannt.55 48

HCR/GIP/04/06, Nr. 34. HCR/GIP/04/06, Nr. 35. 50 HCR/GIP/04/06, Nr. 36. 51 HCR/GIP/04/06, Nr. 35. 52 BayVGH, Urteil vom 08. 08. 2013, Az. 14 ZB 13.30199, Nr. 5; vgl. z. B. BayVGH, Beschluss vom 09. 04. 2015, Az. 14 ZB 14.30444, Rdnr. 5; VG Lüneburg, Urteil vom 17. 08. 2015, Az. 5 A 218/14, S. 13 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 08. 02. 2016, Az. 11 K 3425/15, Rdnr. 48 f.; VG Chemnitz, Urteil vom 09. 03. 2016, Az. 6 K 94/16.A, S. 5 f.; BayVGH, Urteil vom 23. 03. 2016, Az. 1 K 16.30035, S. 18 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 13. 05. 2016, Az. 11 K 3939/ 15, Rdnr. 48 f. 53 § 86 Abs. 1 VwGO. 54 § 96 Abs. 1 VwGO. 55 BVerwG, Urteil vom 09. 12. 2010, Az. 10 C 13.09, Rdnr. 16. 49

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Dies konnte man in gewisser Hinsicht mit gutem Grund als einen Eingriff in die individuelle und korporative Religionsfreiheit des Neugetauften bzw. der taufenden Kirche,56 das Recht, über die eigene religiöse Überzeugung zu schweigen57 und das Recht der Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten,58 sowie als Verletzung der staatlichen Neutralität brandmarken. So sei zwar die objektive Tatsache, getauft worden zu sein, erst anspruchsbegründend im Sinne eines Nachfluchtgrundes und müsse daher vorgetragen werden, doch bestehe darüber hinaus aus staatskirchenrechtlicher Perspektive „kein Recht, nach persönlichen Glaubensüberzeugungen zu fragen“, und seien „vermeintliche Wissensfragen […] unzulässig“, so dass darauf geschwiegen werden dürfe, jedoch freiwillig geantwortet werden könne.59 Der Staat müsse sich „hinsichtlich der Voraussetzungen für die Taufe auf deren Überprüfung und Einhaltung durch die Religionsgemeinschaft selbst verlassen“, da der Geistliche selbst schon dienstrechtlich gehalten sei, die Taufe abzulehnen, falls „das Taufbegehren nicht ernsthaft ist und die Taufe z. B. aus rein asyltaktischen Erwägungen gewünscht wird […]. Mit einer Überprüfung dieser Ernsthaftigkeit würde der Staat […] in einen rein innerkirchlichen Akt eingreifen, dessen Bewertung seiner Neutralitätspflicht widerspricht. […] Auch wenn der Staat im Einzelfall begründeten Anlass zu Misstrauen gegenüber der Ernsthaftigkeit einer Taufe haben sollte, wäre es ein Eingriff in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, diesen Akt mit eigenen Mitteln überprüfen zu wollen.“60

Hinzu kommt, dass es fraglich ist, mit welcher Kompetenz der Staat religiöse Fragen stellen und wesentliche Glaubensinhalte festlegen und überprüfen zu können glaubt.61 Vor diesem Hintergrund wurde vertreten, ein zertifizierter Glaubenswechsel könne gar nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden, da jede andere Bewertung einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften darstelle, in deren Kompetenz alleine die Überprüfung der Bekehrung und Ausstellung von Bescheinigungen darüber fielen.62 Wenn auch nicht so weitgehend, hat doch auch das Internationale Katholische Missionswerk missio am 14. Mai 2007 in einem eindringlichen Appell formuliert:

56

Art. 4 Abs. 1 – 2 GG. Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV. 58 Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. 59 Anne-Ruth Wellert, Taufe und Konversion im Asylverfahren. Staatskirchenrechtliche Aspekte, in: Die Bedeutung von Taufe und Konversion im Asylverfahren (= EPD-Dokumentation Nr. 47/2008), Frankfurt a. M. 2008, S. 12 – 14, hier S. 12. 60 Wellert, Taufe und Konversion im Asylverfahren (Anm. 59), S. 13. 61 Wellert, Taufe und Konversion im Asylverfahren (Anm. 59), S. 14. 62 Constantin Hruschka, Die Diskussion um die Bedeutung von Taufe und Konversion in Deutschland für das Asylverfahren aus völker- und europarechtlicher Sicht, in: Die Bedeutung von Taufe und Konversion im Asylverfahren (= EPD-Dokumentation Nr. 47/2008), Frankfurt a. M. 2008, S. 25 – 38, hier S. 34. 57

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„Das Sakrament der Taufe wird […] als ,Abschluss‘ eines längeren Vorbereitungsprozesses gespendet. Innerhalb dieser Vorbereitung setzt sich der Katechumene […] intensiv mit der Heilslehre der Kirche auseinander. Den […] Versuch der Überprüfung dieses innerkirchlichen Vorgangs seitens staatlicher Verwaltung bzw. Gerichtsbarkeit mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Spendung des Sakramentes der Taufe letztlich in Zweifel zu ziehen, halten wir für sachfremd und für einen Eingriff in den Kernbereich der Aufgaben der Kirche. Eine solche staatliche ,Überprüfung‘ würde letztlich die Würde der Taufe untergraben […].“63

Gleichwohl hat das BVerwG auch zuletzt wieder festgehalten, selbstverständlich dürfe die Tatsache der Taufe als solche durch staatliche Gerichte im Asylverfahren nicht infrage gestellt werden, doch gehe es darum höchstens in solchen Fällen, wo eine Verfolgung allein aufgrund der erfolgten Taufe drohe. Im Gegenteil sei aber zumeist entscheidend, ob die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität des Betroffenen besonders wichtig sei. Dass dies auch in kirchenrechtlicher Hinsicht eine Voraussetzung der Taufe darstellen könne, mache es noch nicht zu einer eigenen Angelegenheit der Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.64 Mit einer gerichtlichen Überprüfung der Taufe sei daher keine „unzulässige Bewertung des Glaubens oder der Lehre einer Kirche […] verbunden. Bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung wegen geltend gemachter religiöser Verfolgung setzen sich staatliche Stellen weder mit Inhalten von Glaubenssätzen auseinander noch bewerten sie diese oder formulieren gar eigene Standpunkte in Glaubensdingen […] Sie entscheiden auch nicht über die Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen, sondern gehen lediglich der Stellung des einzelnen Antragstellers zu seinem Glauben nach […].“65

Die Glaubensfreiheit eines Asylbewerbers werde durch die Verpflichtung nicht verletzt, staatlichen Stellen über sein religiöses Selbstverständnis Auskunft zu geben. Im Gegenteil sei von einem „Erwachsenen im Regelfall zu erwarten, dass dieser schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für die Konversion machen kann und im Rahmen seiner Persönlichkeit und intellektuellen Disposition mit den Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist.“66

Eine derartige Prüfung mit Schwerpunkt darauf, „welche Glaubensriten der Asylsuchende in Deutschland praktiziert und voraussichtlich im Herkunftsland praktizierend wird“ und „welche Haltung er zu der im Herkunftsland mehrheitlich ausgeübten Religion einnimmt“, wird als staatskirchen- und europarechtlich unbedenklich angesehen67, und dementsprechend überprüft das Bundesamt für Migration und Flücht63

Asyl für Konvertiten? Zur Problematik der Glaubwürdigkeitsprüfung eines Glaubenswechsels durch Exekutive und Judikative, hrsg. v. Internationalen Katholischen Missionswerk missio e. V., Aachen/München 2007, S. 9. 64 BVerwG, Beschluss vom 25. 08. 2015, Az. 1 B 40.15, Rdnr. 11. 65 BVerwG, Beschluss vom 25. 08. 2015, Az. 1 B 40.15, Rdnr. 12. 66 BVerwG, Beschluss vom 25. 08. 2015, Az. 1 B 40.15, Rdnr. 14. 67 Wellert, Taufe (Anm. 59), S. 14; vgl. Hruschka, Diskussion (Anm. 62), S. 34.

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linge (BAMF) als objektive Kriterien Glaubenswissen, Weg zur Taufe und praktizierte Riten sowie als subjektive Gesichtspunkte Beweggründe für die Taufe (gegebenenfalls Bekehrungserlebnis), Erfahrungen mit der neu angenommenen und Haltung zur bisherigen Religion.68 Einzig das VG Schwerin hat sich pointiert von dieser weit überwiegenden Mehrheitsmeinung abgesetzt und sich von einer gerichtlichen Überprüfung des Religionswechsels distanziert: „Demgegenüber hält das Gericht […] an der Auffassung fest, dass die Prüfung der Frage des ernsthaften Übertritts zu einer Religion staatlichen Behörden und Gerichten aus staatskirchenrechtlichen Gründen grundsätzlich entzogen ist, wenn eine Religionsgesellschaft oder Kirche im Sinne des Art. 140 GG, Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) diesen Übertritt begleitet und dokumentiert hat.“69

Das Mitgliedschaftsrecht zähle zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften, die diese nach ihrem jeweiligen theologischen Selbstverständnis regeln könnten,70 und ihrem Handeln werde allgemein das Vertrauen entgegengebracht, dass es staatliche Interessen nicht verletze und Verantwortung für die staatlichen Interessen wahrnehme.71 Darum sei es „allein seelsorgerische Aufgabe der zuständigen Amtsträger bzw. Organe der Kirchen und Glaubensgemeinschaften zu prüfen, ob der Glaubenswechsel und die begehrte Taufe ernsthaft gewollt und nicht nur formal wegen des begehrten Asyl- oder Flüchtlingsstatus vorgenommen werden soll […]; staatliche Behörden und Gerichte sind daran staatskirchenrechtlich grundsätzlich gebunden. […] Nur wenn es beachtliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass es sich bei den vorgelegten Taufunterlagen um eine Gefälligkeitsbescheinigung der Religionsgesellschaft oder des Geistlichen handelt oder diese Unterlagen unlauter erlangt worden sind, ist die Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts […] durch […] das Gericht näher zu beleuchten.“72

Freilich wird diese Rechtsauffassung von anderen Gerichten auch im Gefolge des angeführten Beschlusses des BVerwG vom 25. August 2015 als eine „abwegig[e]“73 Minderheitsposition abgetan. Immerhin wird eingeräumt, es könne nicht verlangt werden, „dass der Konvertierte so fest im Glauben verankert ist, dass er bereit ist, in seinem Herkunftsland für den Glauben selbst schwere Menschenrechtsverletzun-

68 Udo Neumann, Überprüfung von Konversion in behördlichen Asylverfahren, in: Die Bedeutung von Taufe und Konversion im Asylverfahren (= EPD-Dokumentation Nr. 47/ 2008), Frankfurt a. M. 2008, S. 15 – 19, hier S. 15. 69 VG Schwerin, Urteil vom 13. 02. 2013, Az. 3 A 1877/10 As, Rdnr. 169. 70 VG Schwerin, Urteil vom 13. 02. 2013, Az. 3 A 1877/10 As, Rdnr. 177. 71 VG Schwerin, Urteil vom 13. 02. 2013, Az. 3 A 1877/10 As, Rdnr. 180. Dieses Argument bezieht sich insbesondere auf solche Religionsgemeinschaften, die im Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts stehen. 72 VG Schwerin, Urteil vom 13. 02. 2013, Az. 3 A 1877/10 As, Rdnrn. 184 – 186. 73 BayVGH, Beschluss vom 08. 08. 2013, Az. 14 ZB 13.30199, Rdnr. 8.

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gen hinzunehmen.“74 Andererseits wird die sich aus einer Taufe nach Rückkehr ins Heimatland ergebende potentielle Verfolgungsgefahr mit dem Argument bagatellisiert, es sei „auch den iranischen Behörden bekannt, dass iranische Staatsangehörige in Asylverfahren häufig zum christlichen Glauben konvertieren, um so bessere Chancen […] zu erhalten. Hinzu kommt, dass sich iranische Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland ,im Feindesland‘ befinden, und dort ist es durchaus erlaubt, durch Täuschungshandlungen den Feind zu überlisten. Der rein formale Glaubensübertritt wird bei einer Rückkehr in den Iran somit keine nachteiligen Folgen für den Kläger haben.“75

Ein Übertritt eines Iraners zum christlichen Glauben werde von iranischen Behörden aufgrund der muslimischen Überzeugungen als ein absoluter, jenseits des Vorstellbaren liegender und daher nicht ernst gemeinter, sondern im Zusammenhang mit der Erlangung eines Aufenthaltstitels stehender Tabubruch angesehen.76 Nicht einmal aus einer regelmäßigen Gottesdienstteilnahme könne auf eine ernsthafte innere Glaubensüberzeugung geschlossen werden.77 Es sei daher zumutbar, bei der Rückkehr ins Heimatland „wahrheitsgemäß anzugeben, dass [der] Glaubensabfall unter Vorbehalt erfolgt ist und [die] wirklichen Absichten andere gewesen sind […], nämlich die Erlangung eines Aufenthaltsrechts für die Bundesrepublik Deutschland.“78 Selbst wenn eine derartige gerichtliche Spruchpraxis – die letztendlich darauf hinausläuft, von getauften Asylbewerbern eine größere Glaubenspraxis zu verlangen, als sie bei manchem als Kind Getauftem anzutreffen sein dürfte – staatskirchenrechtlich aus verschiedenen, oben angeführten Gesichtspunkten beileibe nicht unproblematisch sein mag, ist sie gleichwohl zunächst einmal so zur Kenntnis zu nehmen, bis gegebenenfalls eine dem entgegenstehende Entscheidung des BVerfG ergangen sein sollte.79 Die negativen Folgen einer übereilten freikirchlichen Taufe für den Einzelfall demonstriert anschaulich ein Urteil des VG Braunschweig vom 11. Juni 2013. Darin wird dargelegt, die Tatsache, dass die betreffende Asylbewerberin bereits drei Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland getauft worden sei, mache deutlich, dass die Anforderungen, die die Freikirche an die Taufe stelle, nicht allzu hoch sein könnten. Die Aussage der Konvertitin, sie habe festgestellt, dass der Islam von Gewalt und das 74

BayVGH, Urteil vom 23. 03. 2016, Az. 1 K 16.30035, S. 19. BayVGH, Urteil vom 23. 03. 2016, Az. 1 K 16.30035, S. 25; vgl. z. B. VG Lüneburg, Urteil vom 17. 08. 2015, Az. 5 A 218/14, S. 16. 76 VG Stuttgart, Urteil vom 08. 02. 2016, Az. 11 K 3425/15, Rdnr. 49. 77 VG Chemnitz, Urteil vom 09. 03. 2016, Az. 6 K 94/16.A, S. 6. 78 VG Braunschweig, Urteil vom 11. 06. 2013, Az. 2 A 1271/12, S. 10. 79 Aktuell ist beim BVerfG die Verfassungsbeschwerde einer zwischenzeitlich getauften Iranerin, die vergeblich verwaltungsgerichtlich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags vorgegangen war, gegen die beschriebene gerichtliche Spruchpraxis anhängig: Fleischmann, Taufe (Anm. 7), S. 44. Die verfassungsrechtliche Problematik ist allerdings nicht Schwerpunkt der vorliegenden Ausführungen und soll daher nicht tiefer beleuchtet werden. 75

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Christentum von Liebe geprägt sei, sei ein bloßes, oberflächlich einstudiertes Stereotyp, da 95 % aller iranischen Asylbewerber behaupteten, zum Christentum konvertiert zu sein und gegenseitig als Taufpaten fungierten, um sich selbst als missionierend darzustellen. Das – im konkreten Fall noch dazu fehlerhafte – Aufzählen christlicher Feiertage und Gebote sei eine reine Fleißaufgabe und sage nichts über die innere Einstellung zum Glauben aus.80 Analoges wie für evangelische bzw. evangelisch-freikirchliche wird freilich sogar auch für katholische Taufen81 und für einen Übertritt zum Bahá’ítum82 ausgeführt. Nur in einer absoluten Minderheit der Fälle führt die strenge gerichtliche Überprüfung zu einem für den Asylbewerber erfolgreichen Ergebnis. Zu nennen ist hier beispielhaft neben einem Urteil bezüglich einer reinen Apostasie vom Islam83 und einem hinsichtlich einer evangelisch-freikirchlichen Taufe84 insbesondere eine Entscheidung über eine Bekehrung zum Bahá’ítum,85 da darin sehr plastisch zum Ausdruck kommt, dass insbesondere eine kritische, intensive Überprüfung eines Konversionswunsches durch die Religionsgemeinschaft staatliche Gerichte überzeugen kann. Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland habe nämlich bestätigt, dass bei einem Aufnahmegesuch jeder Fall einzeln sorgfältig geprüft werde. „Eine Aufnahme in die Gemeinde erfolge nur dann, wenn keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Glaubensüberzeugung bestünden und der Nationale Geistige Rat sich von der Aufrichtigkeit der Motive habe überzeugen können. Es müsse deutlich erkennbar sein, dass der Beweggrund ausschließlich die Anerkennung des Bahá’u’lláhs sei. Andere Beweggründe würden nicht akzeptiert. Wo dies nicht eindeutig der Fall sei, seien Anträge auf Aufnahme in die Gemeinde abgelehnt oder zur erneuten Prüfung nach mehreren Monaten zurückgestellt worden. […] Der Zeuge wies weiter darauf hin, dass es bei der Aufnahme von Bewerbern in die Religionsgemeinschaft der Bahá’í Besonderheiten gebe für Personen etwa aus Ländern wie dem Iran, in dem Verfolgung herrsche. Deshalb würden bei diesen Personen die Aufnahmevoraussetzungen besonders geprüft. […] Es gehe um eine innere Überzeugung. […] Gerade auch um Missbrauch vorzubeugen, gehe es bei der Aufnahmeprüfung darum, die Aufrichtigkeit der Beweggründe festzustellen und ob sich die innere Glaubensüberzeugung manifestiert habe. Es gehe auch darum, andere Absichten auszuschließen. […] Feste Vorgaben, auch zeitlicher Art, gebe es allerdings nicht. Es gebe keine festen Kriterien, die erfüllt sein müssten. […] Um Missbrauch von Bewerbern mit asyltaktischen Motiven auszuschließen, würden sie prüfen, ob der Bewerber Bahá’í sei. Sie selbst hätten kein Interesse, einen Nicht-Bahá’í aufzunehmen. Bei Zweifeln würden die Bahá’í die Aufnahme zurückstellen und den Bewerber bitten, sich nach sechs Monaten nochmals zu melden. Sie würden auch regelmäßig Bewerber ablehnen, auch zum zweiten Mal, von denen sie nicht überzeugt seien, dass sie aufrichtige Bahá’í seien.“86 80

VG Braunschweig, Urteil vom 11. 06. 2013, Az. 2 A 1271/12, S. 7 – 10. VG Saarland, Urteil vom 30. 05. 2016, Az. 6 K 1075/13. 82 VG Stuttgart, Urteil vom 13. 05. 2016, Az. 11 K 3939/15. 83 VG Würzburg, Urteil vom 26. 04. 2016, Az. 1 K 16.30268. 84 VG Würzburg, Urteil vom 21. 10. 2015, Az. 6 K 15.30482. 85 VG Würzburg, Urteil vom 15. 02. 2013, Az. 6 K 12.30204. 86 VG Würzburg, Urteil vom 15. 02. 2013, Az. 6 K 12.30204, Rdnr. 45. 81

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III. Der Katechumenat Für die Durchführung des Katechumenats bzw. die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen eine Taufe (grundsätzlich und speziell bei Asylbewerbern oder Flüchtlingen) gespendet werden darf, ergeben sich aus diesen Ausführungen deutliche Hinweise. Freilich ist zunächst einmal festzuhalten, dass es ungerechtfertigt erscheint, wenn staatliche Gerichte generalisierend alle Taufen unter Verdacht stellen, weil die beiden großen Kirchen an sich gar nicht im Verdacht stehen können, übereilte Taufen zu spenden. Bezogen auf die katholische Kirche hat nämlich schon das Zweite Vaticanum dazu in seinem Missionsdekret ausgeführt, der Katechumenat „besteht nicht in einer bloßen Erläuterung von Lehren und Geboten, sondern in der Einführung und genügend langen Einübung im ganzen christlichen Leben, wodurch die Jünger mit Christus, ihrem Meister, verbunden werden. Die Katechumenen müssen also in passender Weise in das Geheimnis des Heils eingeweiht werden; durch die Übung eines Lebenswandels nach dem Evangelium und durch eine Folge von heiligen Riten soll man sie stufenweise in das Leben des Glaubens, der Liturgie und der liebenden Gemeinschaft des Gottesvolkes einführen.“87

Dass es also um „eine hinreichende Unterweisung sowohl in den Glaubenswahrheiten (Glaubenswissen) als auch in den christlichen Verpflichtungen (Glaubensleben)“88 geht, hat die Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland dahingehend konkretisiert, ein Taufbewerber solle zunächst in einer Phase des sog. Präkatechumenats „im Gespräch mit Gläubigen aus seinem Bekanntenkreis, im Kontakt mit Gruppen der Gemeinde und mit den Seelsorgern erfahren, was es bedeutet, als Christ zu leben. So kann ihm deutlich werden, was Christus auch für ihn selbst bedeutet. Ist seine Glaubensüberzeugung so weit gereift, dass er sich entschließt, Christ werden zu wollen, wird er im Rahmen eines Wortgottesdienstes in den Katechumenat aufgenommen. Die eigentliche Hinführung zum Glauben findet im Katechumenat statt. Je nach Zahl der Katechumenen wird von der Pfarrei oder von mehreren Pfarreien gemeinsam ein Katechumenat eingerichtet. Der Katechumene soll einbezogen werden in eine Gemeinschaft gläubiger Christen, die den anfanghaft Glaubenden annehmen und während der stufenweisen Eingliederung in die Kirche begleiten. Sie tragen in Vertretung der ganzen Gemeinde für den Glauben des Katechumenen die Verantwortung und sollen ihm die Erfahrung der Kirche als Gemeinschaft vermitteln. In dieser katechumenalen Gemeinschaft findet er gegebenenfalls andere Katechumenen, Katecheten, Priester und Gläubige, die ihm in besonderer Weise den Weg zum Glauben eröffnet haben. Die Katechese für den Katechumenen findet in dieser Gemeinschaft statt. Neben der Unterweisung durch Priester und Katecheten ist es vor allem das Glaubensgespräch mit glaubenden Christen, das dem Katechumenen helfen soll, das Evangelium anzunehmen, sein Leben aus dem Glauben zu deuten und die Kraft des gelebten Glaubens zu erfahren. […] Die Dauer des Katechumenates richtet sich ganz nach der Situation des Katechumenen. In 87 AG 14; SC 64 spricht ebenfalls vom Wunsch nach und damit der Notwendigkeit der Wiederherstellung eines mehrstufigen Katechumenats. 88 Rüdiger Althaus, c. 865, Rdnr. 2a, in: MK CIC (Stand: Dezember 2003).

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der Regel wird man wenigstens ein Jahr beanspruchen. Wann der Zeitpunkt gekommen ist, um die Zulassung zur Taufe zu bitten, beurteilt die katechumenale Gemeinschaft zusammen mit dem Katechumenen.“89

Der CIC/1983 bekräftigt die Lehre des Konzils von der Mehrstufigkeit der Heranführung an den Glauben. In einer ersten Phase sollen „den nicht an Christus Glaubenden […] in einer ihrer Eigenart und Kultur entsprechenden Weise die Wege zur Erkenntnis der Botschaft des Evangeliums geöffnet werden.“90 Daran schließt sich der Präkatechumenat an, in dem „denjenigen, die […] zur Annahme der Botschaft des Evangeliums bereit [sind], die Glaubenswahrheiten so zu lehren [sind], dass diese, frei darum bittend, zum Empfang der Taufe zugelassen werden können.“91 Hierauf folgt der eigentliche Katechumenat, zu dem die Taufbewerber „nach Ablauf des Vorkatechumenats in liturgischer Feier […] zuzulassen [sind]; [ihr] Name ist in das dazu bestimmte Buch einzutragen.“92 Im Verlauf des Katechumenats sind die Katechumenen „durch Unterweisung und Einübung im christlichen Leben in geeigneter Weise in das Geheimnis des Heils einzuweihen und in das Leben des Glaubens, der Liturgie, der Caritas des Volkes Gottes und des Apostolats einzuführen.“93 Schließlich sind die Neugetauften in einer sich an die Taufe anschließenden Phase „in angemessener Unterweisung zu vollerer Kenntnis der Wahrheit des Evangeliums und zur Erfüllung der durch die Taufe übernommenen Pflichten zu führen; sie sind zu aufrichtiger Liebe zu Christus und seiner Kirche anzuleiten.“94 Die angeführten Bestimmungen aus dem Verkündigungsrecht werden hinsichtlich der näheren Ausgestaltung der eigentlichen katechumenalen Zeitspanne durch das Taufrecht dahingehend ergänzt, dass diese Phase einzelne Stufen haben und zur sakramentalen Initiation hinführen solle.95 Weitere Rückschlüsse ergeben sich aus den Erlaubtheitsvoraussetzungen für eine Erwachsenentaufe, zu denen – außerhalb von Todesgefahr96 – neben der Bekundung des Taufwillens und dem Bereuen der begangenen Sünden gehört, dass ein Taufbewerber „über die Glaubenswahrheiten 89

Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 249 – 250. Die Deutsche Bischofskonferenz hat das in zwei Arbeitshilfen detaillierter inhaltlich ausgestaltet (Stufen auf dem Glaubensweg, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [= AH 25], Bonn 19893 ; Erwachsenentaufe als pastorale Chance. Impulse zur Gestaltung des Katechumenats, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [= AH 160], Bonn 2001), doch kann dies – da primär pastoraler Natur und über die kirchenrechtliche Perspektive hinausgehend – hier unberücksichtigt bleiben. 90 C. 787 § 1 CIC/1983. 91 C. 787 § 2 CIC/1983. 92 C. 788 § 1 CIC/1983. 93 C. 788 § 2 CIC/1983. 94 C. 789 CIC/1983. 95 C. 851, 18 CIC/1983. 96 Es ist nicht ersichtlich, dass für Asylbewerber oder Flüchtlinge grundsätzlich eine Todesgefahr anzunehmen wäre.

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und über die christlichen Pflichten hinreichend unterrichtet und durch den Katechumenat in der christlichen Lebensführung erprobt“ ist.97 Offensichtlich sind dies also die vom Gesetzgeber erwarteten inhaltlichen Ziele eines erfolgreichen Katechumenats, was freilich über dessen genauere Ausgestaltung nicht allzu viel aussagt. Der CIC/1983 bleibt somit sowohl im Verkündigungs- als auch im Taufrecht weitgehend allgemein, was die Regelungen zur Taufvorbereitung anbetrifft.98 Diese Zurückhaltung erklärt sich aus dem Wunsch, dass das universalkirchliche Recht im Sinne einer Inkulturation des Christentums an die landestypischen Gegebenheiten adaptierbar sein soll. Die nähere Festlegung über Art und Umfang des Katechumenats hat der CIC/1983 deshalb der Regelung durch die Bischofskonferenzen anheimgestellt.99 Die DBK hat in Umsetzung dessen mit Partikularnorm Nr. 9 vom 01. Januar 1996 zu cc. 788 § 3, 851, 18 CIC/1983 beschlossen, dass für erwachsene Taufbewerber ein Katechumenat auf pfarrlicher oder überpfarrlicher Ebene durchgeführt werden muss; für dessen Ausgestaltung wird das liturgische Buch „Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche“100 für maßgeblich erklärt.101 Nähere Erkenntnisse über Dauer und Form des Katechumenats ergeben sich also aus dem liturgischen Recht.102 Dieses versteht unter Katechumenat eine „in einem gestuften Prozess verlaufende Einübung des Christseins und die damit verbundene Eingliederung in die Kirche“103 von mindestens einem Jahr Dauer104 und mit folgenden Phasen: I.

Präkatechumenale Phase 1. Erstverkündigung, Evangelisierung 2. Präkatechumenat 3. Feier der Aufnahme in den Katechumenat 4. Eintrag ins Katechumenenbuch

97

C. 865 § 1 CIC/1983. Auch die Gültigkeitserfordernisse für eine Taufspendung sind im CIC/1983 auf das Nötigste beschränkt: Der Täufling darf bislang noch nicht getauft sein (c. 864 CIC/1983); Materie des Taufsakraments ist das Übergießen mit oder das Untertauchen in Wasser (cc. 849 u. 854 CIC/1983), seine Form die Taufformel nach den liturgischen Büchern (c. 849 CIC/ 1983). 99 C. 788 § 3 CIC/1983. 100 Bibliographische Angaben s. Anm. 5. 101 Vgl. z. B. KAbl. Rottenburg-Stuttgart 102 (1995), S. 612. 102 Vgl. c. 2 CIC/1983. 103 Feier der Eingliederung (Anm. 5), S. 5. 104 Feier der Eingliederung (Anm. 5), Nrn. 14 u. 19. 98

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II. Erster Teil des Katechumenats 1. Entferntere Vorbereitung 2. Segensgebet für die Katechumenen 3. Übergabe des Glaubensbekenntnisses 4. Übergabe des Vaterunsers 5. Feier der Zulassung zur Taufe III. Zweiter Teil des Katechumenats 1. Nähere Vorbereitung 2. Fürbittgebete für die Katechumenen 3. Skrutinien 4. Spendung der Initiationssakramente 5. Eintrag ins Taufbuch IV. Mystagogische Vertiefung105 Die einzelnen Phasen führen somit immer tiefer ins christliche Mysterium ein und schließen jeweils mit einer liturgischen Feier ab. Diese sog. Stufenfeiern bringen zeichenhaft zum Ausdruck, dass der Katechumene eine immer höhere Stufe der christlichen Initiation erreicht hat und kulminieren in der eigentlichen Taufspendung. Als typische Zeiträume werden (nach der zeitlich unbestimmten Phase I) für die Phase II ca. ein Jahr, für die Phase III ca. sechs Wochen und für die Phase IV kein fester Rahmen genannt,106 wobei die Dauer je nach der Situation und den Möglichkeiten der Taufbewerber wie der Gemeinden und Seelsorger sehr unterschiedlich sein könne.107 Idealerweise würde demnach die entferntere Vorbereitung des Katechumenats am Anfang des einen Kalenderjahres beginnen und bis zum Beginn der österlichen Bußzeit des nächsten Kalenderjahres dauern, während der dann Phase III folgen würde mit den Skrutinien am dritten, vierten und fünften Fastensonntag; in der Osternacht würden dann die Initiationssakramente gespendet, woran sich die mystagogische Vertiefung bis Pfingsten anschließen würde.108

IV. Die Taufe von Asylbewerbern Im Anschluss daran hat die DBK ihre Empfehlungen zum Umgang mit muslimischen Taufbewerbern unter das Motto des arabischen Sprichworts gestellt, dass in der Hast der Teufel sei und festgehalten, die grundsätzliche Empfehlung einer Katechu105

Feier der Eingliederung (Anm. 5), Nr. 15. Feier der Eingliederung (Anm. 5), S. 16 u. Nr. 17. 107 Feier der Eingliederung (Anm. 5), Nr. 19. 108 Feier der Eingliederung (Anm. 5), S. 16 u. Nr. 17.

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menatsdauer von einem Jahr könne bei muslimischen Taufbewerbern auf keinen Fall unterschritten, sondern müsse eher überschritten werden; überhaupt müsse nicht jede Taufbitte automatisch innerhalb einer bestimmten Frist zu einer Taufe führen.109 Der Wunsch nach einer Aufnahme in die Kirche dürfe nicht in Zusammenhang mit einer sozialen oder materiellen Hilfeleistung stehen; um die Entscheidung zur Christwerdung zu erleichtern und Zeitdruck davon fernzuhalten, sei es wünschenswert, zunächst den aufenthaltsrechtlichen Status des Taufbewerbers zu klären.110 „Eine zeitlich nicht zu kurz bemessene, intensive Vorbereitung auf die Aufnahme in die Kirche spricht für die Glaubwürdigkeit des Konversionswunsches aus religiösen Gründen.“111 Auch die EKD112 und auf den Texten der DBK fußende Arbeitshilfen einzelner deutscher Diözesen113 verweisen auf diese Aspekte und ermahnen darüber hinaus, „auf die Tatsache, dass mit der Konversion zum Christentum nur in wenigen Fällen ein gesicherter Aufenthaltsstatus verbunden ist, und dass im Gegenteil die Taufe im Falle der Abschiebung die Rückkehr ins Herkunftsland lebensgefährlich machen kann“, müsse „unbedingt hingewiesen werden“.114 Die DBK artikuliert diesen Gesichtspunkt aus der entgegengesetzten Perspektive, indem sie fragt: „Wird er im Falle einer Rückkehr in seine islamisch geprägte Heimat das christliche Glaubensgut bewahren können?“115, und relativiert damit indirekt den Wert der Taufe als solchem, insoweit der neugewonnene Glaube später nicht auch öffentlich praktiziert werden kann. Dass eine Taufe allerdings nur deshalb nicht gespendet werden sollte, weil der Glaube später nicht offen gelebt, sondern nur im Verborgenen bewahrt werden kann, erscheint gerade angesichts von Ländern fragwürdig, in denen die kollektive Religionsfreiheit generell eingeschränkt ist und widerspricht der auch für derartige Gebiete geltenden Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Taufe.116 109 Christus aus Liebe verkündigen. Zur Begleitung von Taufbewerbern mit muslimischem Hintergrund, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 236), Bonn 2009, S. 56; Christen und Muslime in Deutschland, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 172), Bonn 2003, S. 216 – 218. 110 Christus aus Liebe verkündigen (Anm. 109), S. 61 – 63. 111 Christus aus Liebe verkündigen (Anm. 109), S. 62. 112 Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden. Eine Handreichung für Kirchengemeinden vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche (EKD) und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), hrsg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2013, S. 7 – 8. 113 Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen. Handreichung zum Umgang mit dem Konversionswunsch von geflüchteten Menschen, hrsg. v. Bischöflichen Generalvikariat Aachen, Aachen o. J., S. 5 f.; Handreichung zum Umgang mit dem Taufwunsch von Geflüchteten, hrsg. v. Bischöflichen Ordinariat Speyer, Speyer 2016, S. 10 – 14. Die Handreichung der Diözese Speyer übernimmt ausdrücklich weitgehend den Text der Publikation der Diözese Aachen. 114 Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen (Anm. 113), S. 8; vgl. Handreichung zum Umgang mit dem Taufwunsch von Geflüchteten (Anm. 113), S. 17. 115 Christus aus Liebe verkündigen (Anm. 109), S. 220. 116 C. 849 CIC/1983.

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Noch deutlich darüber hinaus geht jedoch die Evangelische Kirche im Rheinland, die ausführt, der Taufbefehl117 und der Auftrag der Christen, bereit zu sein, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“118, bedeuteten gar nicht, „dass eine Begegnung von Christen mit Menschen anderer Religionen […] das Ziel der Bekehrung des anderen hat“, sondern stünden für „einen innerkirchlichen Auftrag“.119 Demzufolge widerspreche „eine Begegnung mit Muslimen in Konversionsabsicht […] dem Geist und Auftrag Jesu Christi und ist entschieden abzulehnen“, zumal sie „den innergesellschaftlichen Frieden“ bedrohe.120 Im Gegenteil sei Muslimen im Sinne einer „Konvivenz“ „auf Augenhöhe“ zu begegnen.121 Ähnlich grundsätzlich ablehnend zur Taufe von Flüchtlingen verhält sich die Handreichung der Diözese Speyer, wenn sie bestimmt, dass „Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen […] nicht zur Taufe geführt werden dürfen.“122

V. Fazit Auch wenn man sich nicht so radikal positionieren muss, ist einerseits klar, dass die „Taufe von erwachsenen Asylsuchenden […] nichts anderes als die Taufe eines anderen Erwachsenen“123 ist. Andererseits haben die obigen Ausführungen gezeigt, dass es ebenso offensichtlich ist, dass zum einen aus der potentiell sich bei einer Rückkehr ins Heimatland aus der Taufe für den Neugetauften ergebenden Gefahr „eine besondere Verantwortung für das Leben der neuen Gemeindeglieder“124 erwächst, die die Gemeinde trifft, in der die Taufe vorbereitet und gespendet wird, und dass zum anderen gerade eine intensive und sorgfältige, aber auch transparent und pfarramtlich dokumentierte Taufkatechese, die „vergleichbar ist mit jeder anderen Taufvorbereitung von Erwachsenen“, dem Vorurteil entgegenwirken kann, die Taufe sei nur aus opportunistischen Gründen gespendet worden,125 denn „[j]e konkreter der religiöse Werdegang beschrieben wird, desto eher können Behörden

117

Vgl. Anm. 1. 1 Petr 3,15. 119 Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, hrsg. v. der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 20162, S. 16. 120 Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen (Anm. 119), S. 18. 121 Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen (Anm. 119), S. 17. 122 Handreichung zum Umgang mit dem Taufwunsch von Geflüchteten (Anm. 113), S. 17. 123 Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden (Anm. 112), S. 6; vgl. Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen (Anm. 113), S. 15; Handreichung zum Umgang mit dem Taufwunsch von Geflüchteten (Anm. 113), S. 22. 124 Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden (Anm. 112), S. 15; vgl. ebd., S. 5 u. 10; Barth/Leißer, Vom Islam zum Christentum (Anm. 7), S. 297. 125 Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden (Anm. 112), S. 15; vgl. ebd., S. 5 u. 12. 118

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und Gerichte die Beweggründe des Asylsuchenden nachvollziehen und eine mögliche Gefährdung einschätzen.“126 Ziel muss also aus verschiedenen Gesichtspunkten sein, jeden Zeit- und Entscheidungsdruck bei der Entscheidung zur Taufspendung zu vermeiden127 und den Katechumenat ergebnisoffen und als eine „langsame und behutsame Annäherung an christliche Werte und Traditionen und die katholische Glaubenspraxis“128 und damit als einen „intensive[n] Vorbereitungsweg, der mindestens ein Jahr dauern sollte“129, zu gestalten. Schon das Zweite Vaticanum „verbietet streng“ eine Taufe aus glaubensfremden Motiven, weswegen während des Katechumenats „[n]ach uraltem kirchlichem Brauch […] die Motive der Bekehrung erkundet und wenn nötig gereinigt werden“ sollten.130 Zu denken gibt auch die Tatsache, dass die lateinische Kirche im Nahen Osten – die selbstverständlich wesentlich längere und intensivere Erfahrungen mit der muslimischen Kultur und muslimischen Taufbewerbern hat als die Kirchen des Westens – in der Regel einen dreijährigen (!) Katechumenat durchführt.131 Der geistliche Weg des Katechumenats gibt Gelegenheit, „sich über seine ersten Beweggründe zunehmend klarzuwerden. Unlauteres darin zu erkennen heißt nicht, den Weg abzubrechen. Vielmehr geht es darum, die Motivation zum Weitergehen immer mehr zu wirklich religiösem Glauben werden zu lassen.“132

Da aber ein solcher Glaubensweg, gerade wenn er in Freiheit gegangen wird, am Ende nicht immer zur Taufe führen muss, gehört auch dazu, „deutlich [zu] machen, Recht, Hilfe und Verständnis finden Menschen, die keine Christen werden, in gleichem Maße; ja, wir erkennen eine Gewissensentscheidung gegen das Christwerden mehr an als eine Taufe, die ihren opportunistischen Beigeschmack nicht loswird.“133

126

u. 12. 127

Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden (Anm. 112), S. 15; vgl. ebd., S. 5

Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen (Anm. 113), S. 11 – 12. Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen (Anm. 113), S. 12. 129 Wenn Flüchtlinge nach der Taufe fragen (Anm. 113), S. 15. 130 AG 13. 131 Körner, Selbstlosigkeit ist gefragt (Anm. 6), S. 26. Auch das liturgische Buch der Eingliederung Erwachsener in die Kirche der US-amerikanischen Bischofskonferenz spricht davon, der Katechumenat „should be long enough – several years if necessary – for the conversion and faith of the catechumens to become strong“ (Edward Grimes, Liturgical Celebrations and the First Step of the Rite of Christian Initiation of Adults, in: Jurist 54 [1994], S. 409 – 423, hier S. 419). In gleicher Weise spricht das Rituale der Bischofskonferenz von England und Wales von einem potentiell mehrjährigen Katechumenat: Liturgy Office of the Catholic Church in England and Wales (Hrsg.), Rite of Christian Initiation of Adults. Introductory Material, o. O. u. o. J., S. 2 (online verfügbar unter: http://www.liturgyoffice.org.uk/Re sources/Rites/RCIA.pdf [Stand: 22. 11. 2016]). 132 Körner, Selbstlosigkeit ist gefragt (Anm. 6), S. 29. 133 Körner, Selbstlosigkeit ist gefragt (Anm. 6), S. 29. 128

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Wie ein derart ergebnisoffener Weg zur Taufe verantwortet aussehen kann, wird in der Literatur verschiedentlich beschrieben;134 er dürfte kaum im Verdacht stehen, vorschnell zur Taufe zu führen. Insoweit in den jeweiligen Gemeinden ein Taufkatechumenat – im Widerspruch zum geltenden Recht – bislang nicht üblich ist, sollten die Umstände der Taufe von Flüchtlingen Anlass sein, sich in Erinnerung zu rufen, dass ein solcher generell durchzuführen ist; insoweit er schon in Übung ist, sollte er selbstverständlich auch auf Flüchtlinge Anwendung finden. Weder die Heilsnotwendigkeit der Taufe135 noch die Sorge um das Schicksal der sich hier aufhaltenden geflüchteten Menschen sollten anderes anraten, denn weder tut man diesen damit einen Gefallen, wenn man ihnen eine Taufe spendet, deren Sinn sie nicht erfassen, die sie nicht ernsthaft begehren und die ihnen womöglich nicht einmal einen Vorteil für das Asylverfahren verschafft, sondern sie im Gegenteil nach einer Rückführung ins Heimatland Gefahren aussetzt, noch fördert dies – bei aller Kritikwürdigkeit über das Ziel hinausschießender staatlicher Überprüfungen der Taufmotivation – das StaatKirche-Verhältnis im Allgemeinen und die Glaubwürdigkeit von ernsthaft erstrebten Taufen im Besonderen. Im Gegenteil kann nur eine möglichst strenge Prüfung von Taufbitten und ein eingehender Katechumenat Basis einer im Sinne des Flüchtlings erfolgreichen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung im Rahmen eines Asylverfahrens sein. Im Ergebnis damit konvergierend, muss vor allem aber klar sein, dass die liturgischen Rechtsvorschriften einen primären Sinn haben: Sie mahnen zur Zurückhaltung bei der Taufspendung, um die Heiligkeit des Sakraments der Taufe zu schützen, die durch eine Instrumentalisierung aus Mitleid entehrt würde, denn nur eine Taufe aus aufrichtiger Motivation kann auch eine fruchtbare Taufe sein. Taufe darf darum nie Mittel zum Zweck sein, sondern hat ihren Wert in sich.

134 S. z. B. Barth/Leißer, Vom Islam zum Christentum (Anm. 7). Der dort beispielhaft beschriebene Katechumenat in einer Heidelberger evangelischen Kirchengemeinde besteht in Anlehnung an die Voraussetzungen für die Konfirmation in der Evangelischen Landeskirche in Baden im Wesentlichen aus einem einjährigen Besuch der Gottesdienste und sich anschließender Bibelstunden speziell für ausländische Taufbewerber mit abschließender „Prüfung vor einem Ausschuss des Ältestenkreises“, die drei Bestandteile hat: „1. Fragen zum Leben in der Gemeinde: Wen kennen die Kandidaten aus der Kapellengemeinde? Sind sie in der Gemeinde integriert, kennen sie auch deutsche Gemeindeglieder? 2. Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Zehn Gebote und Grundlagen der Bibelkunde. 3. Grundwissen zu christlichen Ritualen: Wie sieht die Kirche an Weihnachten aus? Was wird an Karfreitag gefeiert? Was geschah an Pfingsten? Wie sieht das Abendmahl in der Kapelle aus? Was passiert bei der Taufe?“ (ebd., S. 297). 135 C. 849 CIC/1983.

Das Phänomen der Basilica minor im 21. Jahrhundert Relevanz und Mehrwert Von Yves Kingata

I. Fragestellung Die Kirche als Gemeinschaft stiftende Versammlung ist überall dort, wo Menschen sich in Beziehung zu Gott setzen, wo sie sich auf das Evangelium einlassen, wo sie gemeinsam das Wort Gottes hören und die heiligen Mysterien feiern (vgl. LG 8). Dennoch „werden die gottesdienstlichen Versammlungen wesentlich gefördert, wenn es dafür Räume gibt, die von ihrer Gestalt und Ausstattung her die Verkündigung des Gotteswortes und die Feier der Liturgie begünstigen und so die Koinonia (communio, Gemeinschaft) mit Gott und untereinander positiv beeinflussen.“1 Weil der Glaube, obwohl grundsätzlich spiritueller Natur, weder über allen Dingen schwebt, noch ortlos ist oder sein kann, haben Menschen aller Generationen, Sprachen und Rassen Stätten gebraucht, die die Kirche zum eigenen Zweck und zur Durchführung ihres Gottesdienstes (vgl. c. 1254 § 2 CIC/1983) zu gestalten hat und in denen Menschen sich anders verhalten, stumm und andächtig werden sowie zu sich selbst finden.2 So wurden im Laufe der Jahrhunderte und auch in unserer Zeit heilige Orte für die Gottesverehrung sowie für die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde errichtet und geweiht. Sie sind und waren nicht nur heilige Stätten menschlicher Begegnung, sondern sollen zugleich dem Aufbau der Gemeinde durch Verkündigung und Diakonie dienen, den christlichen Glauben an die Auferstehung bekunden sowie die Begegnung der Menschen mit Gott fördern.3 Denn die lebendige Tradition der Kirche verwirklicht sich am deutlichsten in ihrem liturgischen Leben. Der Gottesdienst der Kirche ist und bleibt der privilegierte Ort, an dem das Wort Gottes erklingt, der Glaube verkündet wird und die Kirche als Ver1 Adolf Adam/Winfried Haunerland, Grundriss Liturgie, Freiburg i. Br./Basel/Wien 20129, S. 458. 2 Man kann das Verhalten als eine symbolische, weltliche Metapher für das Verlassen des alltäglichen Raums und die Einkehr bei Gott verstehen, als eine Art rituelle Sichtbarmachung des vollzogenen geistigen Schrittes. 3 Richtigerweise ist eine genauere Differenzierung zwischen Sakralbau und dessen Gebrauch für die liturgischen Funktionen und dem Gemeindebau, der auch den Christifideles dient, aber nicht unmittelbar etwas mit dem Gottesdienst zu tun hat, notwendig.

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sammlung derer, die glaubend auf Jesus schauen (vgl. LG 9), nährt sowie festigt. Die enge Zusammengehörigkeit von Wort Gottes und Leib Christi wird im eucharistischen Opfermahl sichtbar und bildet eine untrennbare Einheit. Als Wort und Sakrament dient diese Liturgie der Kirche primär zur Heiligung des Menschen in ihrer abund aufsteigenden Dimension. Die gefeierte Liturgie heiligt die Gemeinde und verleiht dem Ort, an dem sie zelebriert wird, Würde und Heiligkeit. Als geschichtlich geprägtes Phänomen hat die katholische Kirche in ihrer Gestalt sowie in ihrem Wirken die westliche Kultur über viele Jahrhunderte maßgeblich geprägt.4 Dem Kirchenrecht obliegt in erster Linie die Aufgabe, die Sendung der Kirche in der Welt durch die Verkündigung des Wortes Gottes, die Feier der Sakramente und die Ausübung der Werke des Apostolats sowie der kirchlichen Caritas sicherzustellen. Mit der Aufklärung begann jedoch eine scheinbar schwer zu begrenzende Prozessänderung der Gesellschaft. Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass das kirchliche Handeln offensichtlich sowohl für das Leben des Einzelnen, als auch für das Zusammenleben in der Gesellschaft dramatisch an Relevanz verliert.5 Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Problematik, die hinter dem Titel dieser Arbeit, „Das Phänomen der Basilica minor im 21. Jahrhundert“, und hinter der Frage nach Schutz, Legitimität, Relevanz sowie Mehrwert mancher Orte bzw. christlicher 4

Eindrucksvoll beschreibt Papst Paul VI. das Wirken der Kirche, besonders des hl. Benedikt von Nursia sowie der Benediktinerinnen und Benediktiner in seinem Apostolischen Schreiben bei der Erhebung des hl. Benedikt von Nursia zum Schutzpatron Europas. Paul VI. hält fest: „Während die anderen Regionen Europas zu der Zeit, als das römische Imperium vom Alter zerrüttet ins Schwanken geriet, in Dunkelheit zu versinken drohten, andere noch keine feinere Bildung hatten und nicht über geistliche Güter verfügten, da schaffte dieser es durch die gewaltige Anstrengung seiner beharrlichen Leistung, dass eine Art neue Morgenröte diesem Kontinent erstrahlte. Denn durch Kreuz, Buch, Pflug, brachte besonders er selbst durch sich selbst und durch seine Söhne den Heiden, die vom Mittelmeer bis nach Skandinavien, von Irland bis zu den weiten Ebenen Polens leben, den zivilen christlichen Kult. Durch das Kreuz, d. h. durch das Gesetz Jesu Christi, bestärkte und förderte er die Institutionen des öffentlichen und privaten Lebens. Es freut auch zu erwähnen, dass er durch ,das Werk Gottes‘ oder durch eine bestimmte, beständige Art des Betens lehrte, dass der göttliche Kult für die menschliche Gemeinschaft von höchster Bedeutung ist. So formte er die geistliche Einheit Europas, durch welche die Nationen, die nach Sprache, Art und Begabung verschieden sind, spürten, dass sie ein Volk Gottes sind. Diese Einheit wurde durch die treu sich mühenden Mönche, die Zöglinge der Disziplin eines so großen Vaters, besonders dem sogenannten Mittelalter bekannt gemacht“ (Paul VI., Lit. Ap. „Pacis nuntius“ [24. 10. 1964], in: AAS 56 [1964], S. 965 – 967, hier S. 965). 5 Eindrucksvoll zeigt Michael Ebertz, wie ein „Christentum ohne Christen“ bereits Realität in den hessischen Kirchen ist, und wohl nicht nur dort. Er geht u. a. auf die Säkularisierung der Kultur in Europa ein und unterstreicht, dass die tragenden Kulturideen wie die Grundauffassungen von Menschenwürde, der Autorität des Gewissens, von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, von Freiheit und Verantwortung zwar immer noch als allgemeine Orientierungsmuster dienen. Dennoch ist die Kirche nicht mehr die Herrin der kulturellen Diskurse. Daraus schließt Ebertz: „Sie kann im Konzert der Meinungen mitmischen, ohne noch die erste Geige spielen zu können.“ Auch Säkularisierung der Einzelpersonen und Aspekte persönlicher Religiosität in ausgewählten europäischen Ländern werden beleuchtet (vgl. Michael N. Ebertz, Was unter „Säkularisierung“ verstanden werden kann, in: AfkKR 183 [2014], S. 353 – 374).

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Zeichen im Allgemeinen steht, seit jeher nichts an Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil wird die Rolle der Kirche durch den Streit um religiöse Symbole im öffentlichen Raum,6 Selbstmord und Unfug in einigen heiligen Stätten,7 Umfunktionierung8 von Kirchen zu Kaufhäusern, Hotels, Diskotheken usw. und durch die trotzdem fortwährende Anwesenheit der Religion im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben weiter thematisiert. Damit stellt sich nun die Frage nach der Verortung des Glaubens in der Gegenwart sowohl gesamt-gesellschaftlich, als auch als Politikum und für den Einzelnen – gleichzeitig mit einer Untersuchung über die im Wandel befindliche Bedeutung des tatsächlichen traditionellen Gebetsortes der katholischen Kirche als symbolträchtigem, aussagekräftigem Ort. Nicht selten wird in den laizistisch orientierten bzw. immer säkularisierteren Ländern vermehrt auf ein Verständnis von Religionsfreiheit zurückgegriffen, welches die Religion völlig in den Raum der Privatsphäre oder in die Unsichtbarkeit abdrängt. Man kann durchaus festhalten, dass heilige Orte und Zeichen, in der traditionellen Definition, ihren allgemeinverständlichen Sinn verloren haben oder zu verlieren drohen. Sie werden zu Museen, welche per Definition Insignien einer vergangenen Zeit oder eines komplexen Sachverhalts sind. Sie gelten durchaus weiterhin als Kulturgut,9 scheinen jedoch allmählich zu einer immer fremderen Welt zu werden. Wer das Verhalten von Menschen in kirchlichen Räumen beobachtet, kann oftmals feststellen, dass viele kaum mehr in der Lage sind, diese von profanen Räumen, die zivilen weltlichen Dingen zugeordnet sind, zu unterscheiden, also etwa zwischen Kirche und Museum zu differenzieren. Aber der letztendlich stichhaltige Kern dieser beobachtbaren Entwicklung der Entwurzelung ist wohl viel tiefer anzusetzen: Es gibt durchaus Menschen unter unseren Zeitgenossen, die nicht nur von Sinn und Be6 Vgl. Helmuth Pree, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof. Kommentar, in: ÖARR (2002), S. 85 – 88; Ulrich H. J. Körtner, Religion im öffentlichen Raum. Die Kruzifixurteile des VfGH und des EGMR aus der Sicht reformierter Theologie, in: ÖARR 57 (2010), S. 353 – 361; Burkhard Josef Berkmann, Höchstgerichtliche Entscheidungen zum Schulkreuz in der Schweiz und in Deutschland, in: ÖARR 57 (2010), S. 425 – 436. 7 Als extreme Fälle können Unfug vor dem Altar in der Kirche St. Madeleine in Paris (am 20. 12. 2013) sowie Selbstmord in manchen Kirchen (wie in Notre Dame de Paris am 21. 05. 2013) genannt werden (vgl. http://www.lexpress.fr/actualite/societe/une-femen-mime-un-avor tement-et-urine-dans-l-eglise-de-la-madeleine-a-paris_1309246.html sowie http://www.focus. de/panorama/welt/selbstmord-in-pariser-kathedrale-mann-erschiesst-sich-aus-protest-gegenhomo-ehe_aid_995490.html [Stand: 25. 11. 2016]). 8 Vgl. Harald Tripp, Kanonistische Anmerkungen zur Einrichtung von Kolumbarien, in: AfkKR 180 (2011), S. 119 – 136; Nikolaus Schöch, Umnutzung von Kirchen. Kirchenrechtliche Überlegungen zu einem aktuellen Problem, in: AfkKR 173 (2004), S. 42 – 91; Martin Grichting, Umnutzung von Kirchen. Eine Anfrage zu c. 1222 CIC/1983, in: AfkKR 175 (2006), S. 417 – 434; Clemens Leonhard/Thomas Schüller (Hrsg.), Tot in die Kirche? Rechtliche und liturgische Aspekte der Profanierung von Kirchen und ihre Umnutzung zu Kolumbarien, Regensburg 2012; Thomas Schüller, Was tun mit unseren Kirchen? Zur Diskussion über den Erhalt, die Umnutzung und den Abriss von Kirchen, in: Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. FS Hierold (65) (= KST 53), Berlin 2007, S. 663 – 687. 9 Vgl. Rita Burrichter, Zwischenruf, in: BiKi 2 (2013), S. 112 f.

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schaffenheit heiliger Orte, sondern auch von der Möglichkeit und dem Bedürfnis, mit Gott zu kommunizieren, Welten entfernt zu sein scheinen und/oder dies zumindest für sich behaupten und Fragen stellen wie etwa diese: Wozu braucht man denn eine Basilica minor? Die Praxis der Kommunikation mit Gott findet für diese Menschen augenscheinlich keinen Ausdruck in der regelmäßigen Zusammenkunft am heiligen Ort. Dennoch kann man nach meinem Dafürhalten davon ausgehen, dass die Verbindung sicherlich „anders“ stattfinden wird – auch wenn die Ausarbeitung dieses „anders“ den Rahmen dieses Artikels sprengt und daher unterbleiben muss –, denn der Mensch ist und bleibt ein homo religiosus. Gleichermaßen gibt es unbestreitbar deutliche Anhaltspunkte10 dafür, dass für viele Menschen heilige Orte in ihrem Bewusstsein immer noch präsent sind und weiter oder nach einer Phase der Säkularisierung nun wieder an Bedeutung gewinnen bzw. gewonnen haben. Für diese Personen stellt der Ort des Gottesdienstes eine Räumlichkeit dar, in der das Heilige – so schwer es auch gemeinhin zu greifen ist – sich gegenüber dem profanum abgrenzt. Der Ort ist hier ein Realsymbol, ein Marker für Gemeinschaft und Identifikation, der dieses Gefühl nicht nur verortet, sondern auch erst ermöglicht und schafft. Als solches ist die Kirche selbst das sichtbare Sakrament (LG 9), d. h. ein Zeichen in der Zeit, welches den Menschen den Sinn und die Tatsache ihrer Gemeinschaft mit Gott vermitteln soll. Nach der Dogmatischen Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils ist sie Leib Christi und heiliger Tempel, der Sünder in seinem eigenen Schoß umfasst und der Reinigung bedarf (LG 6, 8). Diese Kirche, wie die Katholiken sie im Credo11 bekennen, wird als sancta ecclesia bezeichnet und muss von der Welt unterschieden werden. Daher existiert nicht nur die logische Differenzierung der Art nach, sondern auch eine qualitative Unterscheidung zwischen heilig und profan. In heiligen Orten und Zeichen soll inmitten der säkularisierten Welt etwas aufleuchten, das nach dem Begriff von Rudolf Otto sowohl fascinosum als auch tremendum umfasst.12 Damit rückt die Frage ins Zentrum der Überlegungen, welche entscheidende Bedeutung die Erhebung von Kirchen zu päpstlichen Basilicae minores für das Leben der Gläubigen und/oder des Volkes einer Region darstellt. Zwischen 2000 und 2015 ist der Titel 278 Kirchen verliehen worden, davon 178 in Europa, 80 in Amerika, 7 in Afrika und 12 in Asien.13 D. h., die Zahl der Basilicae minores steigt kontinuierlich an.14 Im Gegensatz zum Rückgang der Kirchenbesucher in Deutschland, der schon 10

Vgl. Fritz Fenzl, Heilige Orte in Bayern, München 2008, S. 14 u. 27 f. Vgl. 748 – 752 u. 823 – 829 KKK. 12 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau 19213. 13 Vgl. Notitiae 36 (2000) – 51 (2015). 14 Zwischen 1975 und 1987 werden in den päpstlichen Publikationen 134 Erhebungen verzeichnet. Der Trend steigt besonders von 1988 bis 1999, wo in nur elf Jahren 175 Titel verliehen werden; vgl. Mario Lessi, Basiliche minori, in: Notitiae 25 (1989), S. 234 – 236. Dass zwischen 2000 und 2015 insgesamt 278 Titelverleihungen erfolgt sind, entspricht einer Steigerung von 59 %. 11

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Anfang der fünfziger Jahre begann15 und sich unaufhörlich fortsetzt, werden in den päpstlichen Publikationsorganen neue Erhebungen vermerkt. Zwischen 2000 und 2015 ist der Titel neun Kirchen in Deutschland zuteilgeworden. Es handelt sich um die Stiftskirche St. Martin zu Landshut (Erzbistum München und Freising)16, die Pfarrkirche St. Peter zu Fritzlar (Bistum Fulda)17, das Quirinusmünster zu Neuss18 und die Pfarrkirche St. Laurentius zu Wuppertal-Elberfeld (Erzbistum Köln)19, die Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Valentinus und St. Dionysius zu Kiedrich im Rheingau (Bistum Limburg)20, die Pfarrkirche St. Vitus und St. Deocar zu Herrieden (Bistum Eichstätt)21, die Pfarrkirche St. Severin zu Boppard (Bistum Trier)22, die Pfarrkirche St. Cyriakus zu Duderstadt (Bistum Hildesheim)23 und die Pfarrkirche St. Ida zu Herzfeld (Bistum Münster)24. Welche entscheidenden Voraussetzungen werden bei den in Deutschland verliehenen Titeln angeführt? In einem Schreiben aus dem Erzbischöflichen Generalvikariat Köln wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass es im Erzbistum schon eine große Zahl von Basiliken gebe. Dementsprechend müsse für einen weiteren Antrag auf eine Erhebung zur Basilica minor nachgewiesen werden, dass eine solche das liturgische und pastorale Leben der ganzen Erzdiözese intensivieren könne.25 Der Erzbischof von München und Freising wird darum gebeten, „Anfragen zur Erteilung des Titels einer Basilica minor in Zukunft ziemlich restriktiv zu behandeln“26. 15 Verlässliche Zahlen bietet eine Untersuchung von Winfried Haunerland, in der er klarstellt: „Ein kontinuierlicher Rückgang der Teilnahme an der Sonntagsmesse ist seit 1950 nachgewiesen. Orientiert man sich an der kirchlichen Statistik, nahmen 1950 an den sog. Zählsonntagen 50,6 % der Katholiken am Sonntagsgottesdienst teil, 1955 waren es 48,4 %, 1960 dann 46,3 %, 1965 noch 42,6 %. Wer erwartet hätte, dass das Zweite Vatikanische Konzil und seine Reformen diesen Trend bremsen würden, wurde enttäuscht. 1970 zählte man 37,3 %, 1975 waren es 32,7 %, 1980 noch 27,0 %, 1985 wurden 24,8 % gezählt, 1990 betrug die Rate 21,9 % und 1995 noch 18,6 %. Im Jahr 2000 verzeichnet die Statistik 16,5 %, 2005 noch 14,3 % und nach der letzten vorliegenden Statistik von 2011 nahmen 12,3 % der Katholiken am Sonntagsgottesdienst teil. […] Der Trend, der bereits seit 1950 zu beobachten ist, geht ungebrochen weiter“ (Winfried Haunerland, Gottesdienst in der Moderne. Liturgische Bewegung und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Stephan Wahle/Helmuth Hoping/ders. [Hrsg.], Römische Messe und Liturgie in der Moderne, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013, S. 15 – 39, hier S. 34 f.). 16 Vgl. C Cult, Dekr. vom 03. 12. 2001 (Prot.N. 1240/00/L). 17 Vgl. C Cult, Dekr. vom 14. 02. 2004 (Prot.N. 1886/03/L). 18 Vgl. C Cult, Dekr. vom 06. 10. 2009 (Prot.N. 727/09/L). 19 Vgl. C Cult, Dekr. vom 21. 11. 2013 (Prot.N. 656/13/L). 20 Vgl. C Cult, Dekr. vom 25. 05. 2010 (Prot.N. 249/10/L). 21 Vgl. C Cult, Dekr. vom 31. 05. 2010 (Prot.N. 1045/10/L). 22 Vgl. C Cult, Dekr. vom 18. 12. 2014 (Prot.N. 580/13/L). 23 Vgl. C Cult, Dekr. vom 17. 06. 2015 (Prot.N. 336/15). 24 Vgl. C Cult, Dekr. vom 05. 06. 2011 (Prot.N. 227/11/L). 25 Vgl. Brief des Erzbischöflichen Generalvikariats von Köln vom 25. 03. 2011 (Nr. 95355/ 79). 26 C Cult, Begleitbrief vom 03. 12. 2001 (Prot.N. 1240/00/L).

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Dass in einem gerade eingeleiteten Verfahren schon die nächste Anfrage bezüglich einer anderen Pfarrei erwähnt und unbedingt angekündigt wird,27 stellt meines Erachtens ein Anzeichen dafür dar, dass es sich hierbei um einen Trend als eine besonders tiefgreifende und nachhaltige Entwicklung handelt. Was steckt jedoch hinter diesem Phänomen? Liegt diese Entfaltung zur Erhebung in diesen Stand womöglich am Glanz des Titels? Wozu braucht man im heutigen kirchlich-gesellschaftlichen Kontext eine Basilica minor? Geht es etwa darum, den künstlerischen Wert hervorzuheben? Die vorliegende Untersuchung setzt sich das Ziel, rein die oben genannten, zwischen 2000 und 2015 und in Deutschland erfolgten Erhebungen von Kirchen zur Basilica minor zu untersuchen und auf diese zurückzublicken, um das rechte Verständnis der modernen Gegebenheiten zu ermöglichen.

II. Begrifflichkeit Dem CIC/1983 ist in c. 1218 zu entnehmen, dass jede Kirche ihren Titel haben muss, der nach vollzogener Weihe nicht geändert werden kann. Diese Bestimmung, die keine gleichlautende Entsprechung im CCEO hat, geht auf die bereits in c. 1168 § 1 CIC/1917 dargestellte Norm zurück. Unter dem Begriff Titulum ist eine Bezeichnung oder ein Name zu verstehen, was eine eindeutige Unterscheidung zwischen christlichen Kirchengebäuden darlegt. Von der in c. 1168 § 1 CIC/1917 verankerten kodikarischen Bestimmung über die im Dekret der Gottesdienstkongregation „De Patronis constituendis“28 vom 19. März 1973 geregelte Norm bis hin zu den im „Ordo Dedicationis Ecclesiae et altaris“29 verfügten Anordnungen ist tatsächlich die Notwendigkeit eines Kirchentitels nahezu gleich geblieben – vergleichbar einem durchgängigen roten Faden. Nach einem Versuch der Kodex-Reformkommission, darauf zu verzichten,30 begründete sie die anschließende Beibehaltung dieser Vorschrift wie folgt: Als Erkennungselement unterscheide der Titel eine Kirche von anderen. Außerdem könne er mit der Namensgebung bei der Taufe verglichen werden. Er könne bereits bei der Grundsteinlegung verliehen werden. Bis zur Dedikation der Kirche ist er abänderbar, danach nicht mehr, es sei denn, dass dies auf dem Wege der Dispens durch den Apostolischen Stuhl geschieht. Die im ODE angeführten Beispiele können nicht als taxativ bezeichnet werden, sondern sind im Gegenteil eher demonstrativer Art. Denn dort heißt es ausdrücklich: „Titel der Kirche können sein: die heiligste Dreifaltigkeit; unser Herr Jesus Christus mit Nennung einer seiner liturgisch gefeierten Mysterien oder seines Namens; der Heilige Geist; die selige Jungfrau Maria mit einem ihrer liturgischen Titel; die heiligen Engel; schließlich jeder in das Römische Martyrologium oder in dessen approbierten Anhang aufge27

Vgl. Franz-Peter Tebartz-van Elst, Brief vom 17. 02. 2010. Vgl. C Cult, De Patronis constituendis, in: AAS 65 (1973), S. 276 – 279; Com 2 (1973), S. 147 – 150. 29 Vgl. C Cult, Ordo dedicationis ecclesiae et altaris (ODE), II, 4. 30 Vgl. SchLocTemSacr, in: Com 12 (1980), S. 325 f. 28

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nommene Heilige, ein Seliger jedoch nur mit Genehmigung des Apostolischen Stuhls. Die Kirche soll nur einen Titel haben, außer es handelt sich um Heilige, die im Kalender gemeinsam aufgeführt werden.“31 Auffällig ist, dass die Bezeichnung Basilica weder im CIC/1983 noch im CCEO auftaucht. In den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils kommt der Ausdruck nur in zwei Fußnoten vor. Dabei handelt es sich zum einen um einen Verweis im Apostolischen Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche, „Ad gentes“, der ein Bild im Atrium der Markusbasilika in Venedig erwähnt, das alle Völker darstellt, die baldmöglichst zur Erkenntnis der Wahrheit geführt werden (AG 42). Zum anderen greift eine Fußnote der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ auf eine Homilie des Papstes Paul VI. vom 20. Oktober 1963 in der Vatikanbasilika zurück, die das durch die Weihe verliehene Prägemal erklärt.32 Auch das nachkonziliare Dokument ODE verwendet den Begriff Basilica nicht. Dennoch bleibt aufgrund der oben genannten Titelverleihungen der Ausdruck sehr aktuell und Teil der reichen Tradition der Kirche. Ursprünglich stammt der Begriff Basilica aus dem Griechischen und bedeutet Königshalle. Diese Bauform bestand aus einem erhöhten Mittelschiff sowie zwei oder auch vier Seitenschiffen. Eine Basilika diente demzufolge zunächst als Gerichtsoder Markthalle.33 Nach dem Mailänder Edikt von 313 wurde die Bedeutung im Sinne des Bautypus beibehalten und gleichzeitig der Ausdruck Basilica, unabhängig von der Bauform, als Bezeichnung für die Versammlungsorte christlicher Glaubensgemeinschaften verwendet. Bis in die Neuzeit stehen die Begriffe Basilica und Ecclesia (Kirche) weitgehend synonym nebeneinander. Erst im 18. Jahrhundert fand die Bezeichnung aufgrund liturgischer Privilegien und rechtlicher Gründe – vor allem der Präzedenz zu den anderen Kirchen – wieder zu kanonistischer Beachtung. Man verstand nun einen kirchenrechtlichen Ehrentitel darunter, mit dem der Papst besonders ehrwürdige, bedeutungsvolle Kirchen auszeichnete. So wird aus geschichtlichen, liturgischen und rechtlichen Gründen eine Basilica maior von einer Basilica minor unterschieden. Weiter ausgearbeitete Bestimmungen gibt das Dekret „De titulo Basilicae Minoris“ der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 09. November 198934 vor, das die Fassung vom 06. Juni 1968 revidierte. Die Grundregeln für den Gebrauch des Papstaltares sind im Motu proprio „De altaris pontificii usu in Patriarchalibus Basilicis romanis“ vom 08. Februar 1966 aufgeführt, das unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Vorgaben

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II, 4, 23 ODE. Vgl. Paul VI., Allocutiones, in: AAS 55 (1963), S. 1014 – 1018. 33 Vgl. Sabine Möllers, Art. Basilika, in: LThK3 2, Sp. 60 – 63; Heinzgerd Brakmann, Art. Basilika. Liturgische Einteilung, in: LThK3 2, Sp. 64 f.; Mary Charles Murray, Art. Basilika, in: RGG4 1, S. 1151 – 1154. 34 Vgl. C Cult, Decretum de titolo Basilicae minores (09. 11. 1989), in: AAS 81 (1989), S. 436 – 440. 32

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des Konzils übernahm und die rechtlichen Konsequenzen bestimmte.35 Des Weiteren erließ Papst Benedikt XVI. im Mai 2005 für die Basilika St. Paul vor den Mauern von Rom das Motu proprio „L’antica e venerabile“36 und im November desselben Jahres für die Basiliken Santa Maria degli Angeli und San Francesco von Assisi das Motu proprio „Totius orbis“37 und nahm wichtige Änderungen38 vor. 1. Basilica maior a) Grundsätzliches Gemäß c. 330 i. V. m. c. 331 CIC/1983 sind die besonderen Prärogativen, die Petrus zugestanden waren, auf seinen Nachfolger übergegangen. Wie Petrus an der Spitze der übrigen Apostel steht (LG 18), so hat auch der Nachfolger Petri nach Christi Anordnung den Vorrang über alle Kirchen.39 Weil der Papst der höchste Rang- und Würdenträger der Kirche ist, nimmt die mit der Bezeichnung Mater et caput omnium ecclesiarum urbis et orbis benannte Lateranbasilika die erste Stelle unter den Basilicae maiores ein. Als die eigentliche Kathedrale des römischen Bischofs gilt die Laterankirche, die Archibasilica. Außerdem werden schon von Anfang des 18. Jahrhunderts an die vier Hauptkirchen Roms, namentlich St. Peter im Vatikan, St. Paul vor den Mauern, Santa Maria Maggiore auf dem Esquilin und St. Laurentius vor den Mauern, als Basilica maior genannt und zählten gemeinsam mit der Lateranbasilika zu den Patriarchalbasiliken. Diese erhielten aus symboli35 Vgl. Paul VI., MP „De altaris pontificii usu in Patriachalibus Basilicis romanis“ (08. 02. 1966), in: AAS 58 (1966), S. 119 – 122; C Cult, Decretum de titolo Basilicae minores (06. 06. 1968), in: AAS 60 (1968), S. 536 – 539; Xaverius Ochoa (Hrsg.), Die Normen für die Spendung von Taufe und Firmung, in: Leges Ecclesiae post Codicem iuris canonici editae V, Rom 1980, n. 4350, col. 6956 – 6960. 36 Vgl. Benedikt XVI., MP „L’antica e venerabile“ (31. 05. 2005), in: AAS 97 (2005), S. 769 – 771; Papst Benedikt XVI. übertrug dem Erzpriester die ordentliche und unmittelbare Jurisdiktion über die Basilika St. Paul vor den Mauern. Dem Kardinalvikar der Diözese Rom überließ er die pastorale Verantwortung über das Territorium, das weder zur Abtei noch zur Basilika gehört. Ferner unterstellte Benedikt XVI. den Erzpriester dem Abt der Abtei St. Paul, der nach alter Rechtsordnung die Geschäftsführung innehatte. Darüber hinaus bestimmte er, dass der Abt nach seiner kanonische Wahl vom Bischof von Rom selbst in seinem Amt bestätigt werden solle (Art. 5 MP „L’antica e venerabile“); vgl. Yves Kingata, Benedikt XVI. als kirchlicher Gesetzgeber. Ein Überblick über die legislative Tätigkeit des Papstes, in: AfkKR 181 (2012), S. 487 – 512, hier S. 495. 37 Vgl. Benedikt XVI., MP „Totius orbis“ (09. 11. 2005), in: AAS 97 (2005), S. 801. 38 Papst Benedikt XVI. verfügte in Art. 1 MP „Totius orbis“, dass ein Kardinal der Römischen Kurie zum Legaten des Papstes bestimmt werden soll. Auch wenn dieser Kardinal die Jurisdiktionshoheit nicht besitzt, wird er durch seine moralische Autorität für die ununterbrochene Fortdauer der engen Bande der Gemeinschaft zwischen den Basiliken von Assisi und dem Apostolischen Stuhl Sorge tragen; vgl. Kingata, Benedikt XVI. als kirchlicher Gesetzgeber (Anm. 36), S. 495. 39 Vgl. Oskar Stoffel, c. 330, Rdnrn. 2 – 4; c. 331, Rdnrn. 2 – 4, in: MK CIC (Stand: April 1991).

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schen und geschichtlichen Gründen diese Bezeichnung, denn als Patriarchalbasiliken wiesen sie auf die fünf Patriarchate Jerusalem, Rom, Konstantinopel, Alexandrien und Antiochien hin. Die Lateranbasilika war dem Patriarchat von Rom zusätzlich zugerechnet. Dies ermöglichte es, die Justinianische Pentarchie zu repräsentieren. Als das Patriarchat von Jerusalem verschwand, verlor auch St. Laurentius diese Auszeichnung, so dass es nur noch vier Basilicae maiores in Rom gibt, die außer dem päpstlichen Altar eine Heilige Pforte haben, welche nur bei großen Jubiläen geöffnet wird. Ferner werden zu den oben genannten ranghöchsten Kirchengebäuden in Rom zwei Kirchen in Assisi hinzugerechnet. Diese Titelverleihung erfolgte zunächst am 25. März 175440 durch Papst Benedikt XIV., der die Doppelkirche des hl. Franziskus zur päpstlichen Basilica maior erhob. Am 11. April 190941 vollzog Papst Pius X. diese Erhebung auch für die Kirche Santa Maria degli Angeli. b) Rechtsstellung der Basilica maior Aufgrund ihrer Rangordnung stehen den Patriarchalbasiliken verschiedene Sonderrechte zu. Hierbei handelt es sich vor allem um das Sonderrecht zur Feier der Liturgie nach speziellen Vorschriften und das Sonderrecht zur Bestimmung des Hauptaltars als Papstaltar, an dem nur der Heilige Vater die hl. Messe zelebrieren darf, sofern nicht Ausnahmeregelungen bestehen bzw. Sonderindulte dies auch anderen Priestern erlauben.42 Der Besuch dieser Kirchen war in jedem Jubiläumsjahr für den Erhalt des Jubiläumsablasses vorgeschrieben; dies ist auch gegenwärtig noch so. Päpstliche Basilicae maiores verfügen also demnach über eine Heilige Pforte. Dem Schreiben anlässlich des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit, mit dem der Ablass gewährt werden soll, ist ausdrücklich zu entnehmen, dass die Gedanken Franziskus’ zuerst all jenen Gläubigen gelten, die in den einzelnen Diözesen oder als Rompilger das Jubiläum erleben. Damit „der Jubiläumsablass jeden als wirkliche Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes erreicht, der allen mit dem Antlitz eines Vaters entgegenkommt, der annimmt und vergibt“, ruft der Papst die Gläubigen auf, als Zeichen der tiefen Sehnsucht nach wahrer Umkehr einen kurzen Pilgergang zur Heiligen Pforte zurückzulegen. Franziskus nennt konkrete Beispiele (Kathedral- und Wallfahrtskirche), wo die Pforten der Barmherzigkeit geöffnet werden sollen. So weist er etwa die Diözesanbischöfe an, für die erwähnte Öffnung zu sorgen, und ver-

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Vgl. Brakmann, Basilika (Anm. 33), S. 64 f. Vgl. Brakmann, Basilika (Anm. 33), S. 64 f. 42 Vgl. Pierre Jounel, Le propre de la Basilique Vaticane, in: Notitiae 19 (1983), S. 55 – 59; Johann Hirnsperger, Die Erhebung der Pfarr- und Wallfahrtskirche Graz-Mariatrost zur Basilica Minor, in: ders., Ausgewählte Beiträge zum kanonischen Recht, Metten 2011, S. 147 – 175, hier S. 149. 41

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weist ausdrücklich auf die vier päpstlichen Basiliken in Rom sowie auf jene traditionell als Jubiläumskirchen ausgewiesenen Gotteshäuser, die dafür geöffnet werden.43 Eine andere historische Bedeutung lag darin, dass sie für den Fall – und die Dauer – des Schismas den großen Lateinischen Patriarchen der römisch-katholischen Kirche als deren (ur)eigene Kirchen in Rom, dem rechtlichen und tatsächlichen Zentrum der Gesamtkirche, zugewiesen waren – daher ihre Bezeichnung als Patriarchalbasiliken.44 Es ist zu beachten, dass der Heilige Stuhl seit dem Verzicht Benedikts XVI. auf den Titel eines Patriarchen des Abendlandes zu Beginn des Jahres 2006 vom Begriff Patriarchalbasilika keinen weiteren Gebrauch mehr gemacht hat. Stattdessen sind die römischen Patriarchalbasiliken in Päpstliche Basiliken umbenannt worden.45 2. Basilica minor a) Allgemeines Den historischen Patriarchalbasiliken oder Basilicae maiores stehen die Basilicae minores gegenüber. Grundsätzlich hebt sich eine Basilica minor, oder eine Basilika zweiten Grades, von der ranghöchsten Basilika durch eine niederere liturgische Rangstufe und geringere Vorrechte ab. Allerdings steht sie dennoch jeder nicht durch den Titel Basilica privilegierten Kirche an Titel und Rang voran. Wie bei den Basilicae maiores gehen die ersten Erhebungen der Kirchen zu Basilicae minores auf Ausführungen über Kirchengebäude Roms zurück. Es handelt 43 Vgl. Franziskus, Schreiben von Papst Franziskus, mit dem zum außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit der Ablass gewährt wird, in: OR vom 12. 04. 2015, S. 4 – 7; Notitiae 51 (2015), S. 113 – 124 u. 163 f. 44 Die Laterankirche war und ist immer noch dem Papst (in seiner Eigenschaft als Patriarch des Abendlandes) zugeordnet, St. Peter dem Patriarchen von Konstantinopel, Groß St. Marien dem Patriarchen von Antiochien, St. Paul dem Patriarchen von Alexandria und St. Laurentius dem Patriarchen von Jerusalem. 45 Dieser Umbenennung liegt augenscheinlich eine Verschiebung des päpstlichen Wirkkreises bezüglich des globalen Wirkungskreises in Okzident und Orient zugrunde. Bereits zu Beginn des Jahres 2006 hatte Papst Benedikt XVI. diese Bezeichnung aus den offiziellen Verzeichnissen der Kirche, so dem „Annuario Pontificio“, dem Päpstlichen Jahrbuch, streichen lassen (vgl. AnPont [2006)] S. 23*). Die Streichung des Titels sollte die ekklesiologische Dimension des Petrusamtes verdeutlichen: einerseits den Primat und den universalen Dienst des Papstes unterstreichen, andererseits neue Wege für einen fruchtbaren ökumenischen Dialog erschließen. Man könnte dies in den größeren Zusammenhang der Kirchengeschichte, Ekklesiologie und Kirchenrecht einordnen; vgl. Hilarion Alfeyev, Que signifie pour les orthodoxes l’abandon par le pape du titre de „patriarche d’Occident“?, in: Istina 51 (2006), S. 14 f.; ders., Les Églises orthodoxes ne feront pas leur deuil du titre de „patriarche d’Occident“. Réponse à l’explication donnée par le Conseil pontifical pour l’unité des chrétiens au sujet de la suppression du titre du pape „patriarche d’Occident“, in: Istina 51 (2006), S. 16 – 18; Michel Stavrou, L’abandon par Rome du Concept de „Patriarcat d’Occident“ augure-t-il un meilleur exercice de la primauté universelle?, in: Istina 51 (2006), S. 19 – 23; Guido Horst, Im Blickpunkt: Ökumene mit neuem Akzent, in: DT, Nr. 69 vom 10. 06. 2006, S. 2.

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sich um jene Gotteshäuser, die in der Rangfolge nach den Patriarchalbasiliken als die Wichtigsten gelten. Unter anderen geht es um Santa Croce in Gerusalemme, St. Sebastian an der Appischen Straße, St. Laurentius in Damaso, St. Maria in Trastevere, St. Peter in Vincoli, St. Maria del Monte und St. Maria in Cosmedin. Der Überlieferung nach scheinen die oben genannten Kirchen über viele Jahrhunderte die einzigen Basilicae minores gewesen zu sein. Dies liegt hierin begründet, dass Rom bis ins 19. Jahrhundert mit der Titelverleihung äußerst sparsam umging. Jedenfalls werden die ersten Kirchen aus dem deutschsprachigen Raum erst Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet. Der Reihe nach erhob Papst Leo XII. 1892 die Kirche Marienthal im Elsass zum Rang und zur Würde einer Basilica minor, bevor Leo XIII. 1897 dem berühmten Wallfahrtsort zu Vierzehnheiligen im Frankenland (Erzbistum Bamberg) als zweiter deutscher Kirche den Titel einer Basilica minor verlieh. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der Verleihungen des Basilika-Titels besonders stark an. Nicht bloß Rom und Italien wurden nun damit bedacht, sondern nach den in der Zeitschrift „Notitiae“ veröffentlichten Verleihungsdekreten der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung würden alle Länder, wo immer katholisches Leben blühe und demnach Gotteshäuser bestünden, die durch „kirchlich bedeutsame Momente“ aus der Schar der anderen Kirchen hervorragten. Daher ist an dieser Stelle ein kurzer Überblick über das derzeit (Stand 2016) geltende Verfahren zur Nachprüfung des Antrags und Erhebung zur Basilica minor zum weiteren Verständnis hilfreich.46 Bei der Erhebung einer Kirche zum Rang und zur Würde einer päpstlichen Basilika handelt es sich um ein nach c. 4 CIC/1983 geregeltes Privileg, das als Verwaltungsakt erfolgt und dementsprechend antragsbedürftig ist. Um Wiederholungen zu vermeiden und Zusammenhänge zwischen den Bestimmungen zu gewährleisten, verweist das Dekret vom 09. November 1989 an mehreren Stellen47 auf die schon im neuen „Missale Romanum“ und im „Caeremoniale Episcoporum“ veröffentlichen Normen. Ferner wird die unersetzbare Rolle des Ortsoberhirten vom Anfang bis zum Abschluss des Verfahrens hervorgehoben (vgl. Dekret „Domus ecclesiae“, II, 1). Grundsätzlich gliedert sich der Vorgang zum einen in ein Antragsverfahren, das auf teilkirchlicher Ebene erfolgen soll, und zum anderen in die durch die zuständige römische Behörde durchzuführende Überprüfung und in die anschließende Entscheidungsfindung.48 Man kann ein ordentliches von einem außerordentlichen Verfahren unterscheiden. Das am 09. November 1989 promulgierte Dekret enthält zwar keine ausführlichen Angaben über das außerordentliche Verfahren,49 aber weist dennoch zweifels46

Hierfür sei auf die ausführliche Analyse von Johann Hirnsperger verwiesen: Hirnsperger, Erhebung (Anm. 42), S. 160 – 164. 47 Vgl. C Cult, Decretum de titolo Basilicae minores (Anm. 34), I, 2; III, 2. 3; IV, 1. 48 Vgl. Hirnsperger, Erhebung (Anm. 42), S. 160. 49 Der Papst kann auch aus eigenem Antrieb (vgl. c. 63 § 1 CIC/1983) einen Rechtsakt setzen. Wenn dieser sich auf die Titelverleihung einer Basilica bezieht, erfolgt der Vollzug

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frei auf die Möglichkeit einer durch den Papst erfolgenden mündlichen Erhebung, die rechtlich in c. 59 § 2 CIC/1983 begründet ist, hin. Gemäß der oben genannten Bestimmung kann ein Rechtsakt concessionibus gratiarum vivae vocis oraculo geschehen. Das in zeitlichem Abstand auszufertigende Dekret stellt nicht den Vollzug der schon mündlich erfolgten Erhebung, sondern nur eine Bestätigung dar. Zu beachten ist, dass einer solchen mündlichen Erhebung ein Antrag des zuständigen Diözesanbischofs vorausgehen kann oder nicht.50 Auf eine erschöpfende Ausführung über das ordentliche Verfahren wird die vorliegende Untersuchung verzichten. Hierfür sei auf die Analyse von Johann Hirnsperger51 verwiesen. b) Rechtsstellung und Rechtswirkungen einer Basilica minor Eine Gegenüberstellung der analysierten Dekrete zeigt, dass sie alle, bis auf die auf den amtierenden Papst und die Pfarrei bezogenen Datenangaben, vollständig identisch sind. Sie beinhalten den wichtigen Hinweis, dass die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung die Erhebungsurkunden kraft der ihr vom Papst verliehenen Vollmacht anfertigt und den Basilika-Titel verleiht. Noch bedeutsamer erscheint der ausdrückliche Hinweis auf die im Dekret „Domus Ecclesiae“ aufgeführten Rechte und liturgisch-pastoralen Verpflichtungen, die jede Basilica minor übertragen bekommt, d. h., die Wirkung und Anwendung dieser Rechtsordnung sollen sich in Bezug auf jede Basilica minor entfalten. Unter Titel III, „Officia et munera, quae sunt propria Basilicae in ambitu liturgico et pastorali“, sowie Titel IV, „Concessiones titulo Basiliace minoris adnexae“, kann festgestellt werden, dass die Rechtswirkungen der Erhebung, wie etwa eine wichtige und angemessene Gestaltung der Liturgie (Eucharistiefeier, Wortgottesdienst, Anbetung und weitere Andachten, Stundengebet usw.), die religiöse Unterweisung der Gläubigen – besonders in der Advents-, Weihnachts-, Fasten- und Osterzeit – und die Verbindung mit dem Papst sowie die Verbreitung der von ihm verkündeten auch mit dem Ausspruch des Bischofs von Rom. Aufgrund der mit gewisser Unsicherheit behafteten mündlich gesetzten Rechtshandlung ist die nachträgliche schriftliche Ausfertigung der mündlich ergangenen Gnadengewährung vorzunehmen, damit die Rechtssicherheit gewahrt bleibt und tatsächlich ,ad perpetuam rei memoriam‘ – wie die Tradition der Römischen Kurie es festhält – bewiesen werden kann. Auch bei den aus eigenem Antrieb (motu proprio) erfolgten Erhebungen muss die Anregung zur Titelverleihung von deren Ausführung unterschieden werden. Deswegen wird in der Regel ein Antrag des zuständigen Diözesanbischofs nachher eingereicht; vgl. Hirnsperger, Erhebung (Anm. 42), S. 163; Georg May, Die Erhebung von Kirchen zur Basilica minor unter Papst Johannes Paul II., in: FKTh 4 (1988), S. 203 – 215, hier S. 208 f. 50 Auf seiner Reise durch Polen bat der Erzbischof von Krakau Papst Johannes Paul II. darum, ein Heiligtum der Muttergottes in seiner Diözese zur Basilica minor zu erheben. Mündlich gewährte der Papst die Bitte. Wegen Rechtssicherheit erging nachher ein schriftlicher Antrag des Diözesanbischofs. Darauf antwortete die zuständige Kongregation und bestätigte die schon mündlich erteilte Titelverleihung (vgl. AAS 72 [1980], S. 590); Hirnsperger, Erhebung (Anm. 42), S. 163; May, Erhebung (Anm. 49), S. 208 f. 51 Vgl. Hirnsperger, Erhebung (Anm. 42), S. 160.

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Lehre hochgehalten werden. Außerdem verfügt das Dekret der römischen Behörde im letzten Abschnitt des Titels III, dass das Fest der Kathedra Petri am 22. Februar, das Fest der Apostelfürsten am 29. Juni wie auch der Jahrestag der Wahl oder des Amtsantritts des Papstes besonders feierlich begangen werden sollen, um jene zwischen der Basilika und dem Bischof von Rom bestehende Verbindung nach außen hin deutlich zu machen. Hinsichtlich der jeder Basilica minor zugestandenen Rechte kann festgehalten werden, dass das Dekret „Domus Ecclesiae“ ihnen unter den gewöhnlichen Bedingungen Ablassprivilegien erteilt. Außerdem steht ihnen zu, auf den Fahnen, Gerätschaften und dem Siegel die gekreuzten Schlüssel Petri als päpstliche Abzeichen anzubringen. Ferner darf der Rektor der Basilika eine schwarze Mozetta mit Einfassungen, Knopflöchern und Knöpfen von rubinroter Farbe tragen. Bezüglich der Rangordnung der Basilica minor zu den anderen Kirchen in der Diözese ist dem Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung keine spezifische Regelung zu entnehmen. Ebenso enthalten der CIC/1983 sowie schon der CIC/191752 diesbezüglich die kanonische Tradition der Kirche gewürdigt werden. d. h., die rechtlich erhobene Basilika behält ihren Titel und bleibt Pfarr- oder Wallfahrtskirche, erhält keinen höheren Rang der Bischofskirche bzw. dem Dom gegenüber, bekommt jedoch im Vergleich zu den gleichgestellten Pfarr- und/oder Wallfahrtskirchen die ihr zugestandene Präzedenz.53

III. Überblick über das Erhebungsverfahren und die Titelverleihung der Basilica minor in Deutschland zwischen 2000 und 2015 Aus den aus Deutschland für diese Untersuchung herangezogenen päpstlichen Dekreten, relationes und quaestionarii sowie weiteren Korrespondenzverkehren zwischen den Antragstellern mit der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, mit der Bischofskonferenz und der Nuntiatur geht deutlich hervor, dass es sich um „altehrwürdige Gotteshäuser“54 handelt, in denen der katholische 52 Der CIC/1917 verfügt in c. 1180 CIC/1917 bloß, dass der Basilika-Titel nur aufgrund päpstlicher Verleihung (zum Arbeits- und Kompetenzbereich der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung gehörig) oder unvordenklicher Gewohnheit geführt werden könne. Die Vorrechte werden jedoch weder genauer noch im Allgemeinen aufgezählt. 53 Vgl. Raoul Naz, Lieux et Temps sacrés. Culte divin – Magistère. Bénéfices écclésiastiques temporels de l’Église, Paris 1948, S. 21. 54 Vgl. Dominik Schwaderlapp, Brief vom 09. 07. 2009; Joachim Meisner, Homilie bei der Basilikaerhebung am 31. 10. 2009; Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27), und eine umfassende relatio (19 Seiten) aus Limburg, die die Kirche historisch, künstlerisch und fotografisch detailliert dokumentiert; alle Empfehlungen der DBK unterstreichen, dass die Anforderungen der für dieses Verfahren zuständige römischen Behörde erfüllt sind; vgl. Robert Zollitsch, Brief vom 04. 02. 2010.

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Glaube in ungebrochener Intensität55 und geschichtlich gesehen ununterbrochen gefeiert wurde. Die Größe und Monumentalität des Gebäudes, die im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine Rolle gespielt hat und somit die Erhebung, unabhängig von aller rechtlichen und liturgischen Begriffsbestimmung, mit dem ursprünglichen Sprachgebrauch der Basilika zusammenbrachte, kommt nicht mehr im geltenden Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und Sakramentenordnung aus dem Jahr 1989 vor. Dieses Kriterium stellt sich also nicht weiter als ausschlaggebender Grund dar. Dennoch steht es nach wie vor im Vordergrund, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Bei einem ordentlichen Verfahren kommt dem Ortsoberhirten – selbst wenn es sich um eine exemte Kirche handelt – das Recht zu, den Antrag zu stellen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff ordinarius loci56 aufgrund der in c. 134 § 1 CIC/1983 verankerten Bestimmung im Sinne des Inhabers der potestas executiva, der ordentlichen ausführenden Gewalt, zu verstehen. Das sechste Prinzip zur Kodexreform legte nämlich fest, dass für Klarheit in der Aufgabe und Ausübung der Gesetzgebung, der Verwaltung sowie der Rechtsprechung gesorgt wird.57 Dies dient insofern der Rechtssicherheit, weil deutlich unterschieden und definiert wird, von welchen Organen die einzelnen Aufgaben ausgeführt werden sollen. Aus den für diese Untersuchung vorliegenden Anträgen geht hervor, dass die zuständigen Diözesanbischöfe um die Gewährung des Basilika-Titels ersucht und ihr Anliegen an den Kardinalpräfekten der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung gerichtet haben.58 Als Prinzip der Einheit in der Teilkirche übernimmt der Diözesanbischof, als Vorsteher der portio populi Dei, diese ehrenvolle Aufgabe und drückt damit die wechselseitige Beziehung des ihm anvertrauten Gottesvolkes mit dem Bischof von Rom aus. Eine Basilica minor zeigt eben nicht nur die Verbindung mit dem Heiligen Stuhl, sondern sie kann als wahres Symbol des theologischen Gehaltes von mutua interioritas betrachtet werden. Denn sie bringt gemäß c. 368 CIC/1983 das wechselseitige Ineins-Sein der Teilkirche und der Gesamtkirche zum Ausdruck, erleuchtet die Notwendigkeit der communio ecclesiarum einer Teilkirche zusammen mit der Kirche Roms – und hebt dadurch heraus, dass die Gesamtkirche die Teilkirche vor innerer Spaltung sowie äußerer Bedrohung schützt. Grundsätzlich werden bei den Ordenskirchen auch ihre zuständigen Ortsoberhirten zuständig, d. h.: Wenn ein Abt den Antrag auf Erhebung einer Klosterkirche zur Basilica minor stellt, würde er regelmäßig allein auftreten und/oder unterstützend und befürwortend neben den Diözesanbischof handeln. Es ist allerdings der zuständigen Römischen Behörde vorbehalten, ob sie bei Anträgen der klösterlichen Verbände die

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Vgl. Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27); Stephan Ackermann, Brief vom 04. 09. 2013. Vgl. C Cult, Decretum de titolo Basilicae minores (Anm. 34), I, 1. 57 Vgl. Codex Iuris Canonici, Lat.-dt. Ausgabe, Kevelaer 20015, Praefatio, XXXIV f. 58 Vgl. Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27); Ackermann, Brief (Anm. 55); Joachim Meisner, Brief vom 16. 10. 2013; Gregor Maria Hanke, Brief vom 18. 11. 2009. 56

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Zustimmung des Diözesanbischofs einholt oder nicht.59 Auch in dieser Teilkirche, die im Dienst der gesamten Sendung der Kirche steht, stellt eine Basilica minor eine offensichtliche Präsenz des Einheitsprinzips mit dem Bischof von Rom dar. Weiterhin wird dadurch, dass der Antrag durch den Oberhirten erfolgt, auch bekräftigt, dass die Einheit der Teilkirchen auch wesentlich in der communio der Hirten besteht oder durch sie hergestellt werden kann. Ebenso wichtig scheint die Rolle des Generalvikars zu sein, der aufgrund der ihm in c. 134 § 1 CIC/1983 zugestandenen ausführenden Gewalt als ordinarius loci bezeichnet wird und gemäß der am 09. November 1989 von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung erlassenen Rechtsordnung als Antragsteller fungieren kann. In den untersuchten Unterlagen werden zwei Generalvikare verzeichnet.60 Im Antrag auf Erhebung der Neusser Pfarrkirche St. Quirinus übernimmt z. B. der damalige Generalvikar des Erzbistums Köln die ehrenvolle Aufgabe und wendet sich nicht nur an den Nuntius für die Weiterleitung des Korrespondenzverkehrs nach Rom, sondern bittet selbst um diese Erhebung sowie um die Nachprüfung der relatio und des quaestionarius.61 Dass der Erzbischof von Köln mit seinem Schreiben vom 03. September 2009 den Vorgang über den Nuntius beschleunigen musste, könnte als ein Signal dafür verstanden werden, dass die Person sowie der Rang des Antragstellers bei diesem Verfahren durchaus eine Rolle spielten.

1. Beweggründe Das am 09. November 1989 promulgierte Dekret der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zur Erhebung der Basilica minor verfügt im ersten Kapitel die zu erfüllenden grundlegenden und zentralen Voraussetzungen, damit einer Kirche diese zweite höchste Rangordnung unter den Gotteshäusern zuteil wird. Der Heilige Stuhl stellt grundsätzlich vier Bedingungen, um den Basilika-Titel zu verleihen: Demgemäß sollte die in Frage kommende Kirche erstens ein anerkanntes Zentrum des liturgischen und pastoralen Lebens für die ganze Diözese darstellen und zweitens für ihren architektonischen Stil, gemäß den von der Kirche festgesetzten liturgischen Normen, bekannt sein. Ferner sollte sie drittens auch bezüglich ihrer historischen und religiösen Bedeutung bekannt sein, und schließlich sollte viertens eine intensive liturgische und pastorale Aktivität während des liturgischen Jahres stattfinden.62 So ist den eindrucksvollen relationes und quaestionarii sowie den analysierten Anträgen übereinstimmend zu entnehmen, dass die vorgeschlagenen Kirchen als besondere Zentren liturgischer und pastoraler Dienste (vgl. Dekret I, 1) erklärt werden, die eine Beispielfunktion für ihre jeweiligen Diözesen übernehmen. Die herausragende Bedeutung dieser Gotteshäuser als geistige Stätten wird hervor59

Vgl. May, Erhebung (Anm. 49), S. 206. Vgl. Schwaderlapp, Brief (Anm. 54); Stefan Heße, Brief vom 16. 10. 2013. 61 Vgl. Schwaderlapp, Brief (Anm. 54). 62 Vgl. C Cult, Brief vom 07. 08. 2000.

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gehoben (vgl. Dekret I, 2). Von der Wallfahrtskirche St. Valentinus zu Kiedrich wird etwa gesagt, dass sie ein besonders wertvoller Schatz der Diözese Limburg und ein lebendiges geistliches Zentrum sei.63 Zudem ist die Pfarrkirche St. Severus in Boppard am Rhein im Bistum Trier nicht nur ein eingetragenes Kulturdenkmal und Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal, sondern die liturgischen und pastoralen Dienste sind vielfältig, qualitativ hoch geschätzt und Gottesdienste werden dort auf so vorbildliche Weise gefeiert, dass dieses Gotteshaus von frühester Zeit an einen wesentlichen Anteil an der Missionierung der Bevölkerung hatte und auch immer noch leistet.64 Darüber hinaus wird auf die einzigartige architektonische Qualität des Kirchenbaus verwiesen. So werden alle Kirchen kunsthistorisch als wertvolle Schätze vorgestellt und aufgrund der relationes dokumentiert (vgl. Dekret I, 3).65 Bei den Kirchen, die zugleich Wallfahrtsorte sind, wird der Fokus verstärkt auf die Lebendigkeit des geistlichen Zentrums gerichtet, das Pilger nicht nur aus der Pfarrei, sondern auch aus umliegenden Diözesen anzieht.66 Es wird gezeigt, inwiefern die ununterbrochene Tradition den Glauben wach hält, unverfälscht verkündet und weitergibt (vgl. Dekret I, 4).67 Daran anschließend geht aus den Gesuchen deutlich hervor, dass der Wunsch nach der Erhebung nicht einem einsamen Entschluss des Diözesanbischofs entspringt. Vielmehr wird er im Regelfall von Bischof, Volk und Klerus getragen. Beispielsweise wird er wie folgt ausgedrückt: „Die Pfarr- und Kirchengemeinde St. Severus in Boppard/Rhein, Diözese Trier, hat mich gebeten, einen Antrag auf Erhebung der Pfarrkirche St. Severus zur Basilica minor an den Heiligen Stuhl zu stellen. Nach Beratung im Priesterrat des Bistums […] und in der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz […], die ihr ,nihil obstat‘ ausgesprochen hat, wende ich mich nunmehr an die zuständige Kongregation und bitte hiermit darum, der Kirche 63 Die relatio zu St. Valentinus in Kiedrich dokumentiert eindrucksvoll die Valentinuswallfahrt, legt eine Kopie der Zeitschrift „Musica sacra“ aus dem Jahr 1962 mit verschiedenen Beiträgen zum Kiedricher Choral dar, beschreibt die Pflege der Eucharistieverehrung und ganz besonders drei theophorische Prozessionen im Jahr (St. Valentinus, Fronleichnam, großer Wallfahrtstag Ende August), die unter großer Beteiligung der Bevölkerung, verschiedener Ortsgruppen und Vereine begangen werden. Auch die Spendung aller anderen Sakramente werden sorgfältig dokumentiert; vgl. Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27), und relatio zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 12 – 19; Ackermann, Brief (Anm. 55); Meisner, Brief (Anm. 58); Hanke, Brief (Anm. 58); relatio zu St. Martin in Landshut, 17 f. 64 Vgl. Ackermann, Brief (Anm. 55). 65 Kardinal Wetter stellt die Kirche St. Martin zu Landshut als „eines der eindrucksvollsten und bedeutendsten Beispiele für den gotischen Kirchenraum in Süddeutschland“ dar (vgl. relatio zu St. Martin in Landshut, 9 f.). Von St. Severus in Boppard im Bistum Trier wird gesagt, sie sei ein Hauptwerk spätromanischer Kirchenbau und gehöre zu den großen sowie bedeutenden Emporenkirchen der Region Rhein (vgl. Ackermann, Brief (Anm. 55). 66 Vgl. Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27). 67 Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27), und relatio zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 12 – 19; Ackermann, Brief (Anm. 55); Meisner, Brief (Anm. 58); Hanke, Brief (Anm. 58); relatio zu St. Martin in Landshut, S. 17 f.

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St. Severus zu Boppard den Titel einer Basilika (basilica minor) zu verleihen.“68 D. h., der Wunsch nach Erhebung wurde von Klerus und Volk an den zuständigen Diözesanbischof herangetragen.69 Außerdem kann festgehalten werden, dass das Gesuch unmittelbar oder indirekt von anderen Beweggründen veranlasst wurde. Es wird z. B. auf ein Jubiläum verwiesen: „In diesem Jahr 2010 feiert die Pfarrei St. Valentinus zu Kiedrich […] das 500jährige Jubiläum ihres Laiengestühls. […] Es wäre für die gesamte Diözese Limburg eine große Freude, wenn der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Valentinus – möglicherweise im Jahr der 500-Jahr-Feier des Laiengestühls – die Ehre zuteilwürde, in den Rang einer Basilica minor erhoben zu werden.“70 Des Weiteren heißt es in einem anderen Antrag: „Da es sich bei der 800-Jahr-Feier wirklich um ein großes und bedeutendes Jubiläum handelt, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Dringlichkeit der Prüfung in Rom nochmals persönlich zum Ausdruck bringen könnten. Es wäre natürlich ein besonderes Ereignis, wenn ich am 31. Oktober die Urkunde zur Basilikaerhebung vor Ort verlesen könnte.“71 Ebenso argumentiert die Gemeinde St. Martin in Landshut: „In diesem Jahr feiern die Pfarrei St. Martin und die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Landshut den 500. Jahrestag der Fertigstellung unserer Stiftskirche. Dies ist der Grund, dass wir uns als Kirchenverwaltung St. Martin mit einer großen Bitte an Sie wenden.“72 Auch die Renovierung und Wiederentdeckung des Glanzes einer Kirche stellen einen unmittelbar Grund dar, die an den Bischof herangetragene Bitte um Erhebung zur Basilica minor an Rom zu richten.73 Ohne den oben ausgeführten Ereignissen große Bedeutung beizumessen, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sie zwar jeweils nicht unbedingt den Hauptbeweggrund für die Bitte um die Erhebung zur Basilika darstellten, wohl aber das Verfahren motivieren und einleiten konnten. Denn die Beschäftigung mit dem Status des Kirchengebäudes kann zugegeben den vielfach langgehegten Wunsch zum Erhebungsantrag weiterbeflügelt haben. Des Weiteren ist natürlich auch die Breitenwirkung eines solches Ereignisses als touristisch vermarktbares, ökonomisch wertvolles „Event“ sowohl kurzfristig als auch langfristig nicht zu unterschätzen. Dies geht jedoch über den Fokus dieser Arbeit hinaus und sollte ggf. gesondert untersucht werden.

68 Ackermann, Brief (Anm. 55); vgl. Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27); Meisner, Brief (Anm. 58); Hanke, Brief (Anm. 58). 69 Vgl. Ackermann, Brief (Anm. 55); Meisner, Brief (Anm. 58); Hanke, Brief (Anm. 58); Mitglieder des St. Ida-Wallfahrtsausschusses, Brief vom 01. 10. 2010. 70 Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27). 71 Joachim Meisner, Brief vom 03. 09. 2009. 72 Kirchenverwaltung St. Martin in Landshut, Brief vom 27. 03. 2000. 73 Vgl. Ackermann, Brief (Anm. 55).

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2. Liturgische und seelsorgliche Bedeutung Ein Blick in den zu beantwortenden quaestionarius der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zeigt deutlich, dass der liturgischen und seelsorglichen Bedeutung der zu erhebenden Kirchen, zum Rang und zur Würde einer päpstlichen Basilika, größeres Gewicht beigemessen wird. Es liegt zweifellos darin begründet, dass der Kirche, mit dem Auftrag, das Heilswirken des Herrn fortzusetzen, zugleich die Art und Weise bestimmt wurde, in der sie ihren Auftrag zu erfüllen hat: Durch die Verkündung des Wortes und durch das Spenden der Sakramente. Wortverkündung und sakramentales Handeln stellen also zwei verschiedene Weisen der Heilsvermittlung dar, die jedoch in einer tiefgreifenden Zuordnung zueinander stehen und sich in lebendiger Wirkeinheit begegnen. Beide haben rechtlichen Charakter74 und sind Aufbauelemente der Kirche. Ihnen wohnt ein rechtliches Momentum inne – das der Wortverkündigung, insofern sie in der Vollmacht Christi geschieht und Gehorsam fordert, und infolgedessen der Sakramentenspendung, welche die sakramentalen Zeichen ihrer Sinnbildlichkeit und Wirkmächtigkeit von der Stiftung Christi herleiten.75 D. h., bei der Liturgie und der seelsorglichen Tätigkeit geht es um das in c. 213 CIC/1983 verankerte ius divinum positivum – das als eines der Fundamentalrechte aller Gläubigen umschrieben wird. Die umfangreiche Information, die die römische Behörde in diesem Zusammenhang fordert, ist darauf zurückzuführen, dass zum einen die Sakramente auf die Heiligung der Menschen, den Aufbau des Leibes Christi und schließlich auf die Gott geschuldete Verehrung, hingeordnet sind.76 Zum anderen entspricht dem Recht auf Sakramentenempfang komplementär die Pflicht zur Sakramentenspendung, welche vor allem jenen obliegt, die durch das Sakrament der Weihe in besonderer Weise zum Heiligungsdienst in der Kirche bestimmt sind (c. 1008 CIC/1983).77 Deshalb prüft die römische Kongregation sorgfältig nach, ob hinreichend Priester für die Sakramentenspendung eingesetzt werden können. Es soll nicht nur die Eucharistie gefeiert und gepredigt werden, sondern auch die Feier des Bußsakramentes muss jederzeit ermöglicht werden. Denn eine Basilika hat auch den wichtigen Auftrag, im Rekonziliationssakrament (vgl. c. 986 § 1 CIC/1983) eine besondere Rolle zu spielen. Den untersuchten Unterlagen ist übereinstimmend zu entnehmen, dass jede Pfarrei über ein Seelsorgeteam verfügt, das mindestens aus drei Klerikern (Pfarrer, Pfarr74 Vgl. Klaus Mörsdorf, Wort und Sakrament als Bauelemente der Kirchenverfassung, in: AfkKR 134 (1965), S. 72 – 79, hier S. 76. 75 Peter Krämer, Kirchenrecht I, Stuttgart 1992, S. 20; vgl. Reinhild Ahlers, Communio Eucharistica. Eine kirchenrechtliche Untersuchung zur Eucharistielehre im Codex Iuris Canonici, Regensburg 1990, S. 93. 76 Vgl. 1123 KKK. 77 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Das Recht der Gläubigen auf Sakramentenempfang. Eine kirchenrechtliche Fundamentalnorm in der Schnittmenge von Dogmatik und Pastoraltheologie, in: LS 47 (1996), S. 253 – 258, hier S. 255; Helmuth Pree, Das Recht auf die Heilsgüter, in: Heiliger Dienst 48 (1994), S. 273 – 291.

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vikar und Ständiger Diakon) besteht.78 Besonders unterstreicht die relatio aus Limburg nicht nur die Feier der Sakramente, sondern auch das Stundengebet. Sie verweist auf die mittwochs feierlich begangene Vesper und auf die tägliche Vesper, der der Ständige Diakon vorsteht und zu der alle Gläubigen eingeladen sind.79 Ohne die Zusammenarbeit mit den Verbänden und Vereinen, den Hauptamtlichen sowie allen anderen Laien, gäbe es – um ein Beispiel zu nennen – keinen Chor; und die Vorbereitungen auf Sakramente, vor allem der Initiationsakramente, würden sich äußerst schwierig gestalten. Deswegen darf die Mitwirkung der Laien nicht unerwähnt bleiben, im Gegenteil, ihre Beteiligung ist hoch zu halten und zu würdigen. Die relationes und/oder die quaestionarii geben Auskunft über Personen, die zu Lektoren, Kommunionshelfern, Ministranten, Kantoren, Kirchenchormeistern bestellt werden.80 In St. Laurentius sowie St. Quirinus im Erzbistum Köln unterstreicht der Erzbischof diese Zusammenarbeit wie folgt: So „lege ich Ihnen allen, dem Pastor und seinen priesterlichen Mitbrüdern von St. Quirin und allen Gläubigen hier ans Herz, für den gottesdienstlichen Vorbildcharakter des Neusser Münsters mit Sorge zu tragen.“81 3. Der Diözesanbischof als Wächter Es steht außer Zweifel, dass dem Diözesanbischof, gemäß c. 386 § 1 – 2 CIC i. V. m. cc. 756 § 2 u. 889 CIC/1983, das Recht zukommt, die Glaubenswahrheiten, die gläubig anzunehmen und die im sittlichen Leben anzuwenden sind, den Gläubigen darzulegen und zu verdeutlichen. Ebenso obliegt ihm die Aufgabe, über die Unversehrtheit und Einheit der Glaubenslehre zu wachen. Bernhard Sven Anuth ist zuzustimmen, wenn er festhält: „Seine gesetzliche Pflicht, darauf zu achten, dass sich kein Missbrauch in die kirchliche Ordnung einschleicht, bezieht sich nicht nur auf die gleichfalls besonders qualifizierte Gottes- und Heiligenverehrung sowie die Sakramenten- und Vermögensverwaltung, sondern gilt auch und vor allem in Bezug auf den Dienst am Wort (c. 392). Hier stets wachsam zu sein, hat der Diözesanbischof 78 Vgl. Quaestionarius zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 3; relatio zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 15 f. Die Pfarrkirche St. Quirinus (Münsterkirche) stellt sogar einen Pfarrer, zwei Pfarrvikare, zwei Kapläne, zwei Subsidiare, drei Ruhestandspriester und einen Diakon zur Verfügung (vgl. Quaestionarius zum Quirinusmünster in Neuss, S. 5/10; relatio zum Quirinusmünster in Neuss, S. 13). Ausdrücklich betont Felix Genn: „Die Tatsache, dass der Pfarrer und zugleich Rektor der Wallfahrt unmittelbar an der Kirche wohnt und einen Kaplan sowie einen Vicarius Cooperator wie zwei Ständige Diakone zur Seite hat, stellt den würdigen Vollzug der Liturgie und eine intensive Sorge um die Spendung der Sakramente – und hier möchte ich im Hinblick auf die Priester die Sorge um die Spendung des Bußsakramentes besonders erwähnen – sowie eine gute seelsorgliche Begleitung sowohl der Pfarrangehörigen wie der Pilger absolut sicher.“ (Felix Genn, Brief vom 18. 01. 2011, S. 2). 79 Vgl. Relatio zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 15 f. 80 Vgl. Quaestionarius zu St. Valentinus in Kiedrich, 3; relatio zu St. Martin in Landshut, S. 17. 81 Meisner, Homilie (Anm. 54).

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zudem in seinem bischöflichen Treueid vor dem Amtsantritt zu schwören.“82 Im Begleitbrief der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung wird Kardinal Meisner nachhaltig dazu aufgefordert, „über den rechten Vollzug der liturgisch-pastoralen Aktivität dieser ,Basilicae minores‘ zu wachen“83. Analog ging die Empfehlung an Kardinal Wetter, „die caritativen Tätigkeiten in der genannten Kirche erheblich zu intensivieren, damit die neue Basilika ein wirkliches geistliches Zentrum wird und so den anderen Kirchen in der Diözese ein gutes Beispiel gibt“84. Damit greift die römische Behörde auf eine der entscheidenden Bestimmungen des Dekrets „Christus Dominus“ über die Hirtenaufgaben der Bischöfe zurück. Das Zweite Vatikanische Konzil hält nämlich in CD 11 fest, dass der Bischof dafür zu sorgen hat, die ihm anvertraute Gemeinschaft im Heiligen Geist durch das Evangelium und durch die Eucharistie zum Wachsen zu bringen. Dies bestätigen die Nrn. 123, 126 und 158 des Direktoriums für den Hirtendienst der Bischöfe „Apostolorum successores“. Die Sorge um die Würde des Gottesdienstes erwähnt Nr. 146 und präzisiert ausdrücklich: „Weil die Liturgie den gemeinschaftlichen und öffentlichen Gottesdienst der Kirche als dem mystischen Leib Christi, der vom Haupt und seinen Gliedern gebildet wird, darstellt, muss der Bischof aufmerksam darüber wachen, dass sie mit der gebotenen Würde und Ordnung gefeiert wird. Folglich muss er über die Würde des liturgischen Schmucks und der liturgischen Geräte wachen, sowie darüber, dass sich die geweihten Amtsträger, die Akolythen und die Lektoren mit der erforderlichen Würde verhalten, dass die Gläubigen in voller, bewusster und tätiger Weise teilhaben und dass die gesamte Versammlung ihre liturgische Funktion ausübt.“85 Des Weiteren wiederholt das Direktorium für den Hirtendienst „Apostolorum successores“ sinngemäß die Nrn. 112 – 121 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ und bekräftigt: „Die Kirchenmusik nimmt im Gottesdienst eine bedeutende Rolle ein, um der Feier Bedeutung zu geben und um in den Gläubigen einen tiefen Widerhall hervorzurufen; sie muss immer mit dem liturgischen Gebet verbunden sein, sie soll sich durch ihre ausdrückliche Schönheit auszeichnen und sich der harmonischen Beteiligung der Gläubigen in den von den Rubriken vorgesehenen Momenten anpassen.“86 Es liegt also auf der Hand, dass dem Bischof „als Lehrer des Glaubens, Diener der Heiligkeit und geistlichem Führer“87 die Sorge für eine würdevolle Feier der Eucharistie als „Gipfelpunkt und Quelle des gesamten christlichen Lebens“ (vgl. c. 897 CIC/1983; PO 5), der übrigen Sakramente und für alle kirchlichen Werke des Apos82 Bernhard Sven Anuth, Die Lehraufgabe des Diözesanbischofs, in: Sabine Demel/Klaus Lüdicke (Hrsg.), Zwischen Vollmacht und Ohnmacht. Die Hirtengewalt des Diözesanbischofs und ihre Grenzen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2015, S. 130 – 160, hier S. 142; vgl. Georg Bier, c. 392, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: Dezember 1998). 83 C Cult, Begleitbrief vom 21. 11. 2013 (Prot.N. 656/13/L). 84 C Cult, Begleitbrief vom 03. 12. 2001 (Prot.N. 1240/00/L). 85 C Ep, DirH, Nr. 146. 86 C Ep, DirH, Nr. 146. 87 C Ep, DirH, Nr. 8.

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tolats anvertraut wird. Dass bei den feierlichen Titelverleihungen auf diese im Begleitbrief der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung enthaltene Aufforderung zurückgegriffen wird, und die Seelsorger sowie die ganze Gemeinde für einen modellhaften Vollzug der Liturgie in die Pflicht genommen werden, weist auf den der Heilssendung der Kirche beigemessenen Stellenwert hin und bringt die zu intensivierende Pflege der Liturgie und die tiefe Verbindung zum Bischof von Rom zum Ausdruck. Hieraus wird ersichtlich, dass die eigentümliche Sendung, die Christus seiner Kirche anvertraut hat, sich nicht auf die politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ordnung bezieht. Vielmehr gehört das Ziel, das Er ihr vorgegeben hat, der religiösen Ordnung an. Doch fließen sicherlich aus eben dieser religiösen Sendung und Aufgabe Licht und Kräfte, die dazu dienen können, die Gemeinschaft der Menschen nach göttlichem Gesetz aufzubauen und zu festigen (vgl. GS 42).88 So soll jede Basilica minor durch ihre Beispielfunktion dazu einen kleinen Beitrag leisten und weit mehr als ein Identifikationsmerkmal oder Wahrzeichen einer Gemeinde bzw. einer ganzen Region, darstellen. 4. Basilica minor als ein Ausdruck lebendigen Glaubensbekenntnisses Die Bilddokumentation und der umfangreiche Korrespondenzverkehr der zwischen 2000 und 2015 in Deutschland in den Stand der Basilika erhobenen Kirchen lassen durchaus darauf schließen, dass hier die geschichtliche Bedeutung dieser Kirchen im Mittelpunkt steht: „Die Laurentiuskirche sei nicht nur architektonisch ein herausragender Kirchenbau, weil sie einer von wenigen klassizistischen Kirchenbauten in Deutschland sei, sondern dort sei auch Adolf Kolping als Kaplan tätig gewesen.“89 Bei St. Valentinus im Bistum Limburg wird auf die gotischen Charakteristiken und die Bedeutung der lebendigen Tradition des Kiedricher Chorals verwiesen, welche bis in das 13. und 14. Jahrhundert zurückreichen.90 Ferner wird das Quirinusmünster, historisch und städtebaulich, als hervorragende Sakralarchitektur in der Übergangszeit von der Romanik zur Gotik in Deutschland gewürdigt; es gilt künstlerisch als bedeutendstes Bauwerk unter den romanischen Kostbarkeiten im Rheinland und braucht sich „bei einem Vergleich mit dem Kölner Dom nicht zu verstecken“91. Ebenso handelt es sich bei St. Severus in Boppard im Bistum Trier um ein „dreischiffiges spätromanisches Gotteshaus, das vor 775 Jahren, am 13. Dezember 1237, seine Weihe erhalten hat“92. Die Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Ida zu

88 Vgl. Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: HThK-VatII 4, S. 581 – 886, hier S. 760 f. 89 Meisner, Brief (Anm. 58). 90 Vgl. relatio zu St. Valentinus in Kiedrich, S. 2 f.; Tebartz-van Elst, Brief (Anm. 27). 91 Schwaderlapp, Brief (Anm. 54). 92 Ackermann, Brief (Anm. 55).

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Herzfeld wird als „die älteste und bis in unsere Tage hoch angesehene Wallfahrt Westfalens“93 bezeichnet. Übereinstimmend werden sie also als Wahrzeichen einer Stadt, wie etwa das Quirinusmünster in Bezug auf Neuss, oder einer ganzen Region, wie die Pfarrund Stiftskirche St. Martin als Wahrzeichen Niederbayerns, benannt.94 Dass die Menschen, die in diesen Städten oder Regionen wohnen, stolz auf diese Bauwerke sind und sich damit durchaus identifizieren, kann meines Erachtens als Grund zur Bewahrung ihrer Schätze und als Ausgangspunkt für den Wunsch der Erhebung zur Basilika zweiten Grades nicht unterschätzt werden. Dennoch geht das Anliegen nach der Erhebung dieser Gotteshäuser zum Rang der Basilica minor über die eindrucksvolle Pracht der Bauten hinaus. Aus den untersuchten Unterlagen kann vielmehr geschlossen werden, dass das Gesuch zugleich als Ausdruck eines auf diese Art und Weise präsentierten tief festgelegten Glaubensfundaments und Glaubensbekenntnisses fungiert. Es geht erkennbar um eine Kontinuität, die für die Weitergabe des Evangeliums in seiner Unverfälschtheit (vgl. c. 528 § 1 CIC/1983) gestärkt und gepflegt werden soll. Bei der Kirche St. Severus zu Boppard im Bistum Trier reicht diese lückenlose Verkündigung im Gotteshaus bis ins 5. Jahrhundert zurück. Denn „in den Ausgrabungen unter der heutigen Kirche ist noch das Taufbecken aus dem 5. oder 6. Jahrhundert erkennbar.“95 Der Kern dieser Titelverleihung liegt also der in der Taufe entstandenen dogmatischen und ekklesiologischen Gemeinschaft zugrunde. Unbeschadet aller Modifikationen, die sich im Lauf der Jahrhunderte ergaben und womöglich noch auftreten könnten, weist diese lückenlose Glaubenserfahrung eine überzeugte Beständigkeit auf, die dem Kirchengebäude und der ganzen Gemeinde oder Region eine besondere Verbindung mit dem Nachfolger Petri und dem Apostolischen Stuhl verschafft. In der Tat erfolgt die Auszeichnung mit dem Titel und den Privilegien einer Basilica minor grundsätzlich bei jenen Kirchen, die sich schon großer Bedeutung und gewisser Berühmtheit erfreuen. d. h., die Titelverleihung verschafft diese Bedeutsamkeit nicht. Sie bestätigt jedoch in rechtlicher und liturgischer Hinsicht die schon vorhandene prominente Stellung. Der Wunsch nach Kontinuität stellt sich daher als schützenswert dar. Ferner erklärt der Begleitbrief der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, dass die Titelverleihung einer Basilica minor dazu dient, „diese

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Genn, Brief (Anm. 78), S. 2. Vgl. relatio zu St. Martin in Landshut, Brief an den Generalvikar vom 27. 03. 2000. Bei der Pfarrkirche St. Quirinus heißt es wie folgt: „Der Bezug […] zum Quirinusmünster ist […] unübersehbar. Eine Rückbindung an den geistlichen Mittelpunkt der Stadt Neuss ist unverzichtbar und den Mitarbeiter/innen der Gemeindecaritas ein wichtiges Herzensanliegen“ (relatio zum Quirinusmünster in Neuss, S. 15). 95 Ackermann, Brief (Anm. 55). Bei der Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Ida zu Herzfeld/ Bistum Münster heißt es: „Das Zeugnis der heiligen Ida steht für die reiche christliche Tradition unseres Landes wie für seine inneren Wurzeln“ (Genn, Brief [Anm. 78], S. 1). 94

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Kirche mehr mit dem Apostolischen Stuhl und dem Heiligen Vater zu verbinden“96. Das Adverb mehr streitet nicht die Verbindung aller anderen Kirchen mit dem Bischof von Rom ab, in denen mindestens beim eucharistischen Hochgebet ausdrücklich auch für den Papst gebetet und somit die communio mit ihm sowie der Gesamtkirche zum Ausdruck gebracht wird. Offensichtlich bestimmt der Begriff mehr die schon bei allen katholischen Gotteshäusern existierende Beziehung ihrem Umstand nach als näher und von erhöhter Intensität. Die am oberen Teil der Stirnseite jeder Basilica minor angebrachten päpstlichen Wappen stellen nicht nur die jeweilige Kirche gleichsam als eine päpstliche Kirche dar, sondern jene Kirche erscheint als ein wahres, gelebtes Zeichen, dass die in diesen ausgezeichneten Gotteshäusern und ihren Gemeinden erlebten und verkündeten Glaubenserfahrungen auf besondere Weise mit dem Nachfolger Petri verknüpft sind.

IV. Fazit und Ausblick Die Bemühungen der Gemeinden und Teilkirchen um eine Basilica minor werden ganz wesentlich vom Kriterium der Identifikation mit der Heilssendung der Kirche und der Kontinuität der Weitergabe des unverfälschten Glaubens bestimmt. Das Phänomen des Wunsches nach Erhebung einer Kirche zum Rang und zur Würde einer päpstlichen Basilika stellt ein deutliches Signal der Wertschätzung, Anerkennung und Anbindung der Gläubigen sowohl an jenen Ort und jene Tradition, als auch an die römische (Ur-)Kirche dar, die sie achten und für die sie bereit sind, Zeit und Geld zu investieren. Darüber hinaus stellen sie sich dem Anspruch eines lebendigen und wahren Glaubensbekenntnisses, damit diese Basiliken weiterhin Gemeinschaft sowie katholische Identifikation schaffen. Daher ist keinesfalls eine etwaige „Inflation“ der Basilica minores in Deutschland zu befürchten, solange nach bewährten Grundsätzen vorbildliche Kirchen und lebendige Gemeinden ausgewählt werden, deren gelebtes Christentum durch die Erhebung in den Stand der Basilika nur noch weiter bestärkt wird. De facto kann sich dies als fruchtbarer Schritt zur Verstärkung oder zum Erhalt des Christentums auf deutschem Boden darstellen. Dennoch ist es sinnvoll, solche Gesuche nicht nur nach historischer und christlicher Validität im Glauben abzuklopfen, sondern sie dabei auch auf etwaige „Hohlräume“, in denen wirtschaftliche oder anderweitige allzu weltliche Motivationen mitschwingen, abzuhören. Eine lebendige globale Kirche braucht eine Vielzahl lebendiger historisch gewachsener Gemeinden auch fernab von Rom, um ihrem Anspruch und ihrer Sendung gerecht zu werden. Daher könnte es langfristig auch denkbar sein, dass ein Wandel 96 C CausSS, Begleitbrief vom 21. 11. 2013 (Prot.N. 656/13/L); Begleitbrief vom 25. 05. 2010 (Prot.N. 249/10/L); Begleitbrief vom 18. 12. 2014 (Prot.N. 580/13/L); Begleitbrief vom 03. 12. 2001 (Prot.N. 1240/00/L); Begleitbrief vom 31. 05. 2010 (Prot.N. 1045/09/L); Begleitbrief vom 06. 10. 2009 (Prot.N. 727/09/L); Begleitbrief vom 05. 06. 2011 (Prot.N. 227/11/L).

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weg vom Fokus auf die Schönheit des Bauwerkes und zur Schönheit des vor Ort gelebten Glaubens hin stattfindet – denn ein eindrucksvolles Gebäude mag zwar helfen, erste Andacht und Ehrfurcht in Besuchern zu wecken, indem sie den physischen Schritt aus ihrem Alltag tun, aber nur eine eindrucksvolle Gemeinde kann Gläubige auch langfristig binden und eine nachhaltige Kommunikation im Glauben hervorbringen.

De celebratione sacramenti paenitentiae Die Rechtsnormen zur Feier des Bußsakraments im Licht ihrer theologischen Entfaltung Von Christoph Ohly

I. Einleitung In zahlreichen Publikationen hat Ludger Müller die Notwendigkeit einer theologischen Grundlegung des Kirchenrechts sowie die daraus folgende Theologie des Kirchenrechts nicht nur betont, sondern konsequent mit Blick auf aktuelle Fragen in den verschiedenen kirchlichen Rechtsbereichen entfaltet.1 Er gilt damit in der Tradition von Klaus Mörsdorf, Winfried Aymans und der daraus entstandenen sog. „Münchener Schule“2 als ein renommierter Vertreter der Überzeugung, dass die Kanonistik eine theologische Disziplin ist, die „gemäß den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse mit juristischer Methode arbeitet“3. Diese Einsicht gründet auf dem kerygmatisch-sakramentalen Ansatz, demzufolge sich das Recht der Kirche nicht allein aus einer soziologisch notwendigen Größe der gesellschaftlichen Verfasstheit der Kirche her begründet (ubi societas ibi ius), sondern theologisch in den konstitutiven Bauelementen der Kirche von Wort und Sakrament grundgelegt und somit der kirchlichen Sendung vorgegeben ist. Mit der lehramtlichen Feststellung, dass die Liebe „genauso zu ihrem Wesen wie der Dienst der

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Vgl. exemplarisch Ludger Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung (= DiKa 6), St. Ottilien 1991; ders., „Theologisierung“ des Kirchenrechts?, in: AfkKR 160 (1991), S. 441 – 463; ders., Ordo Ecclesiae. Theologische Grundlegung und Theologie des kanonischen Rechts nach Eugenio Corecco, in: AfkKR 163 (1994), S. 96 – 120; ders., Codex und Konzil. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils als Kontext zur Interpretation kirchenrechtlicher Normen, in: AfkKR 169 (2000), S. 469 – 491; ders., Rechte in der Kirche. Die Begründung kirchlichen Verfahrensrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 9 – 24; ders., Recht und Kirchenrecht, in: HdbkathKR3, S. 12 – 31; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV; ders., Die Grundlagen des kirchlichen Rechts nach der Lehre Papst Johannes Pauls II, in: Libero Gerosa/ders. (Hrsg.), Johannes Paul II. – Gesetzgeber der Kirche, Paderborn 2017, S. 27 – 37. 2 Ludger Müller, Die „Münchener Schule“. Charakteristika und wissenschaftliches Anliegen, in: AfkKR 166 (1997), S. 85 – 118. 3 So Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 71.

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Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums“4 gehört, ist dieser Ansatz in jüngerer Zeit fortgeführt und erweitert worden.5 Der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat in diesem Zusammenhang jedoch stets darauf verwiesen, dass der Ansatz nicht allein von den kirchlichen Wesensvollzügen her denkt und verständlich wird, sondern vom sakramentalen Wesensverständnis der Kirche selbst ausgeht. Gemäß den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils weist das Wesen der Kirche in einer gewissen Analogie zur Inkarnation des göttlichen Sohnes eine konstitutive Einheit von Göttlichem und Menschlichem auf und kann daher mit Klaus Mörsdorf zugleich als „Sakrament der Sakramente“ oder auch „Wurzelsakrament“ bezeichnet werden.6 Die sakramentale Zeichenhaftigkeit ist dabei der „eigentliche Ort des Rechts im ,Wurzelsakrament‘ Kirche“7, das dort insbesondere mit Blick auf die äußere Sichtbarkeit der geistlichen Gemeinschaft der Kirche seine Konkretion findet: „Da sich das Recht nur mit dem befassen kann, was nach außen in Erscheinung tritt, ist die sakramentale Zeichenhaftigkeit der Kirche der Ort, an dem die rechtliche Struktur der Kirche ihren Sitz hat.“8 Zugleich besitzt die Rechtsgestalt der Kirche aber ihren prägenden Ursprung im göttlichen Element der Kirche, das den konstitutiven Normen im Charakter göttlichen Rechts ihren unverzichtbaren und unveränderlichen Rahmen gibt. „Ausgestaltung und Wirksamkeit“9 findet die rechtliche Gestalt der Kirche folglich in ihrem Wesen als menschliche Gemeinschaft. Im Bewusstsein, dass kirchenrechtliche Normen gemäß c. 1752 CIC/1983 stets im Dienst am Heil der Gläubigen stehen, berührt diese Grundlagenfrage des Kirchenrechts zugleich die Notwendigkeit ihrer theologischen Entfaltung. Die theologische Grundlegung muss in eine Theologie des Kirchenrechts überführt und dort zur Anwendung gebracht werden. Dabei stehen – neben dem Wort Gottes und der Caritas – vor allem die Sakramente der Kirche im Zentrum der theologischen Arbeit. So wie das Recht vornehmlich im sichtbaren Bereich der Kirche zur Anwendung kommt, seinen theologischen Grund aber im göttlichen Element der Kirche findet, stehen die einzelnen Sakramente in ihrem äußeren und rechtlich normierten Vollzug in einem inneren Zusam4

Benedikt XVI., Enz. „Deus caritas est“ (25. 12. 2005), in: AAS 98 (2006), S. 217 – 252 (dt.: VApSt 171), Nr. 22, ebenso Nr. 25a: „Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.“ 5 S. Christoph Ohly, Deus caritas est. Die Liebe und das Kirchenrecht, in: Michaela C. Hastetter/ders./Georgios Vlachonis, Symphonie des Glaubens. Junge Münchener Theologen im Dialog mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., St. Ottilien 2007, S. 103 – 129. 6 Vgl. LG 1. So Ludger Müller, Die Kirche als Wurzelsakrament, in: Reinhild Ahlers/ Libero Gerosa/ders., Ecclesia a Sacramentis. Theologische Erwägungen zum Sakramentenrecht, Paderborn 1992, S. 125 – 135, hier S. 131 – 132. 7 Müller, Kirche (Anm. 6), S. 132. 8 Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 14. 9 Müller, Kirche (Anm. 6), S. 133.

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menhang mit ihrem göttlichen Ursprung. Diese Grundlegung bedarf daher auch mit Blick auf das einzelne Sakrament der theologischen Entfaltung. Folgerichtig formuliert c. 840 CIC/1983 (c. 667 CCEO) in Übereinstimmung mit den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils, dass die kirchliche Gemeinschaft in den Sakramenten „herbeigeführt, gestärkt und dargestellt wird“. Die Verbindung von Kirche und Sakrament erfordert somit die stets theologische Beleuchtung der sakramentalrechtlichen Norm.10 Dies soll im Folgenden exemplarisch an den Normen zur Feier der Buße (cc. 960 – 964 CIC/1983; cc. 720 – 721 CCEO) aufgezeigt werden. Welche theologischen Grundlinien verbergen sich in ihnen, die ihre Interpretation und Anwendung im Leben der Kirche zu begründen vermögen? Auf diese Frage soll mit Hilfe wesentlicher Leitlinien zum Sakrament der Versöhnung im theologischen Denken von Joseph Ratzinger geantwortet werden. Der emeritierte Papst konnte in diesem Jahr mit der Vollendung seines 90. Lebensjahres ebenfalls einen bedeutungsvollen Festtag begehen. Die nachfolgenden Überlegungen zu einer Theologie des Bußrechts wollen auf ihre Weise ein Zeichen des Dankes für Ludger Müller und sein vielfältiges Wirken in der Kanonistik als einer theologischen Wissenschaft im Leben der Kirche sein. Ein hilfreiches Prospekt für die theologische Durchdringung der genannten Normen bietet eine Aussage, die Papst Benedikt XVI. am 07. November 2006 anlässlich des kirchenrechtlich vorgeschriebenen Ad-Limina-Besuches der Bischöfe aus der Schweiz formulierte. Dahinter verbirgt sich jener Auftrag, den Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Novo millennio ineunte“ für die Kirche des 21. Jahrhunderts formulierte: „Sodann bitte ich um einen neuen pastoralen Mut, damit die tägliche Pädagogik der christlichen Gemeinden überzeugend und wirksam die Praxis des Sakraments der Versöhnung vorzulegen vermag.“11 In seinen Überlegungen zum Bußsakrament resümierte Papst Benedikt XVI.: „Dieses Sakrament müssen wir wirklich neu erlernen. Schon unter einem rein anthropologischen Gesichtspunkt ist es wichtig, einerseits Schuld zu erkennen und andererseits Vergebung zu üben. Eine der bedenklichen Erscheinungen unserer Zeit ist ein weit verbreitetes Ausfallen des Sündenbewusstseins. So besteht das Geschenk des Bußsakramentes nicht nur darin, dass wir Vergebung erhalten, sondern darin, dass wir zunächst einmal überhaupt unsere Vergebungsbedürftigkeit bemerken und dadurch schon gereinigt werden, uns innerlich verändern und dann auch andere besser verstehen und ihnen vergeben können. Die Erkenntnis von Schuld ist elementar für den Menschen – er ist krank, wenn er sie nicht mehr erkennt –, und ebenso wichtig ist für ihn die befreiende Erfahrung, Vergebung zu empfangen. Für beides ist das Sakrament der Versöhnung der entscheidende Einübungsort. Darüber hinaus wird der Glaube dort ganz persönlich und verbirgt sich nicht mehr im Kollektiv. Wenn 10 Vgl. dazu Müller, Kirche (Anm. 6), S. 133. Müller entfaltet diesen Grundsatz exemplarisch am Sakrament der Taufe: „So macht sich die Taufe den Symbolgehalt von Wasser und Waschung zu eigen, übersteigt ihn aber im sakramentalen Symbol, in dem zum natürlichen Zeichen des Wassers das ,exhibitive‘ Wort der Taufe tritt. So wird in der Taufe aufgezeigt, daß der alte Mensch im Bad der Taufe von Sünden befreit, neu geschaffen und dadurch zum Kind Gottes wird.“ 11 Johannes Paul II., Ap. Schreiben „Novo millenio ineunte“ (06. 01. 2001), in: AAS 93 (2001), S. 266 – 309 (dt.: VApSt 150), Nr. 37.

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der Mensch sich der Herausforderung stellt und in seiner Lage der Vergebungsbedürftigkeit gleichsam ,schutzlos‘ vor Gott tritt, macht er die ergreifende Erfahrung einer ganz persönlichen Begegnung mit der Liebe Jesu Christi.“12

In der Entfaltung dieser Worte werden drei grundsätzliche Aspekte erkennbar, die einen entscheidenden Beitrag zur Theologie der sakramentenrechtlichen Bestimmungen zur Feier der Buße zu leisten vermögen und die im Folgenden ihrer Entfaltung zugeführt werden sollen.13

II. Theologisches Fundament: Glaube als Metanoia 1. Notwendige Reform In einem Grußwort an die Pilger der niederländischen Diözesen am 15. November 2016 bezeichnete Papst Franziskus im Jahr der Barmherzigkeit das Sakrament der Beichte als Ursprung jeder Reform.14 Durch dieses im Leben der Kirche unverzichtbare Heilsinstrument göttlicher Barmherzigkeit lasse sich Gottes rettende Güte „ganz besonders erfahren“. Damit beginne die Verwandlung eines jeden Gläubigen, der einen wichtigen Beitrag zur Reform der Kirche beitrage. So könne jeder zu einem „Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit“ im Alltag der Kirche werden, die dazu gesandt sei, Christus als Gottes Barmherzigkeit zu bezeugen und so den „großen Durst nach der Liebe Gottes“ in den Menschen stillen zu helfen. Dieser Bedeutung des Bußsakramentes für die Erneuerung der Kirche waren sich auch die Väter des II. Vatikanischen Konzils bewusst, als sie in der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ ihrer Überzeugung Ausdruck gaben, dass die Kirche durch die Gnade Gottes gestärkt wird, „damit sie in der Schwachheit des Fleisches nicht abfalle von der vollkommenen Treue, sondern die würdige Braut ihres Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern [seipsam renovare], bis sie durch das Kreuz zum Licht gelangt, das keinen Untergang kennt“.15 Folglich ruft die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ die Kirche und ihre Glieder „zur Läuterung und Erneuerung [ad purificationem et renovationem], damit das Zeichen Christi auf dem Antlitz der Kirche klarer erstrahle“.16 12 Benedikt XVI., Ansprache an die Bischöfe der Schweiz (07. 11. 2006), in: OR (D), Nr. 46 vom 17. 11. 2006, S. 8 – 9, hier S. 9. 13 Zu den Rechtsnormen generell Christoph Ohly, Das Bußsakrament, in: HbKathKR3, S. 1184 – 1205. 14 Vgl. im Folgenden Franziskus, Ansprache an die Teilnehmer der Pilgerreise der niederländischen Diözesen (15. 11. 2016) (online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/ francesco/it/speeches/2016/november/documents/papa-francesco_20161115_pellegrinaggiodiocesi-olandesi.html [Stand: 20. 11. 2016]); vgl. dazu auch ders., Ap. Schreiben „Misericordia et misera“ (20. 11. 2016), in: OR (D), Nr. 46 vom 02. 12. 2016, S. 7 – 10. 15 LG 9, 3. 16 GS 43, 6 mit Bezug auf LG 15.

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Mit der inneren Verbindung von kirchlicher Reform und Bußsakrament ist der Gedanke konnotiert, dass eine Reform im Leben des Christen ebenso wie im Leben der Kirche als ganzer die Wiederentdeckung der Erneuerung des Menschen durch das Heilswerk Christi darstellt. Benedikt XVI. hat dafür des Öfteren die Metapher des Bildhauers verwendet, wie sie in den Schriften von Michelangelo und Bonaventura zu finden ist. Demzufolge sah Michelangelo als Bildhauer „im Stein, der vor ihm lag, bereits das reine Bild, das verborgen schon darauf wartete, freigelegt zu werden“.17 Die damit verbundene Arbeit besteht folglich darin, das hinweg zu nehmen, was auf dem zu entdeckenden Bild noch liegt und so das bereits Erdachte offenzulegen und erkennbar zu machen. Der mittelalterliche Theologe Bonaventura sieht in diesem Vorgang sogar ein Bild für den „Weg der rechten Selbstwerdung des Menschen“.18 Das Tun des Bildhauers ist hier „,ablatio‘ – das Entfernen des Uneigentlichen“19, das die vom göttlichen Ursprung her gedachte Gestalt des Menschen sichtbar macht. Der Christ wie die Kirche leben von dieser ablatio, von dem Hinwegnehmen dessen, was den Blick auf den Menschen als Geschöpf Gottes und auf die Kirche als sein Heilsinstrument verstellt. Versteht die Rechtsordnung der Kirche das Sakrament nach c. 840 CIC/1983 als „Zeichen und Mittel“, durch das „der Glaube ausgedrückt und bestärkt“ wird, vollzieht sich die „Freilegung“ des Menschen wesentlich in der Haltung des Glaubens. Er kommt in Anlehnung an den theologischen Leitcanon zum Bußrecht (c. 959 CIC/ 1983) im Sakrament der Beichte in doppelter Weise zum Tragen. Zum einen vollzieht sich der Glaube da, wo dem Gläubigen, der in Reue und mit dem Vorsatz zur Besserung seine Sünden bekennt, von Gott selbst durch die priesterliche Absolution die Vergebung seiner Sünden gewährt währt. Hier geschieht ablatio durch die Wiederherstellung der neuen Schöpfung (vgl. Röm 8,18 – 39), die dem Gläubigen in Taufe und Firmung geschenkt wurde. Zum anderen wird der Gläubige in der Kraft des Glaubens mit der Kirche wiederversöhnt, die er durch seine Sünden verletzt hat. Wiederversöhnung mit der Kirche bedeutet zugleich „Freilegung“ der Kirche von den Makeln der Sünde, die ihre Sendung und ihr Zeugnis für den Glauben verdunkeln. 2. Metanoia als Kerngehalt des Glaubens Doch muss zunächst noch grundlegender angesetzt werden. In seiner Ansprache an die Schweizer Bischöfe betonte Benedikt XVI., dass das „Geschenk des Bußsakramentes“ nicht allein in der Sündenvergebung besteht, „sondern darin, dass wir zunächst einmal überhaupt unsere Vergebungsbedürftigkeit bemerken und dadurch schon gereinigt werden, uns innerlich verändern und dann auch andere besser verste17 Joseph Ratzinger, Eine Gemeinschaft auf dem Weg. Von der Kirche und ihrer immerwährenden Erneuerung, in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene (= JRGS 8/2), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 1216 – 1230, hier S. 1120 (erstmals u. d. T. Wohin wollen wir? Über das aktuelle Missbehagen an der Kirche und ihre immerwährende Reform, in: 30 Tage 1 [1991], S. 50 – 57). 18 Ratzinger, Eine Gemeinschaft auf dem Weg (Anm. 17), S. 1220. 19 Ratzinger, Eine Gemeinschaft auf dem Weg (Anm. 17), S. 1220.

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hen und ihnen vergeben können.“20 Die Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit rührt an die biblische Metanoia, die als Auftrag des Herrn zum Grundgehalt des Glaubens an ihn zählt. Umkehr und Bekehrung prägen demzufolge die Existenz des Glaubenden gemäß den Aussagen der Evangelien so sehr, dass der Glaube insgesamt als Umkehr verstanden werden muss. Was ist darunter genauer zu verstehen? Zunächst erscheint der Hinweis darauf wichtig, wie Joseph Ratzinger den Begriff der Metanoia (let\moia) in seinen hellenistischen und biblischen Dimensionen herausarbeitet.21 Das Verb letamoeWm bedeutet übersetzt so viel wie „hintendrein bemerken, seinen Sinn ändern, bedauern, bereuen“, das Substantiv heißt dementsprechend „Sinnesänderung, Bedauern, Reue“.22 Doch drückt dies für den antiken Griechen und seine Lebenssicht keine Änderung des gesamten Lebenswandels, im Sinne der Lebensrichtung aus. Vielmehr sind damit individualisierte Einzelakte des Bereuens und des Bedauerns gemeint. Das ist für Joseph Ratzinger der Ausdruck des Unterschiedes von Polytheismus und Monotheismus: „Das Dasein, das auf viele göttliche Mächte verwiesen ist, in ihrem Gewirr und Gegeneinander sich selbst zu behaupten versucht, bleibt ein vielfältiges Spiel mit den beherrschenden Kräften, während der eine Gott zu dem einen Weg wird, der den Menschen vor das Ja oder Nein von Kehr und Abkehr setzt, sein Dasein sammelt in einen einzigen Ruf hinein.“23

Damit steht der Betrachter vor der uneinholbaren Größe des biblischen MetanoiaBegriffs, auf den hin der griechische „unterwegs“ ist. In Verbindung mit dem griechischen Wort für Bekehrung, das die Septuaginta verwendet (1pistqox^), meint die biblische Umkehr das Finden zu sich selbst als „Einkehr“, die aber als wahre Einkehr nicht durch ein Eingehen in sich selbst, sondern nur durch die Hinkehr zu Gott möglich ist. Damit ist Glaube Umkehr und die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Mit den Worten von Joseph Ratzinger heißt das schließlich: „Wo der persönliche Gott geglaubt wird, sind Horizontalität und Vertikalität, Innerlichkeit und Dienst keine letzten Gegensätze. Damit ist zugleich deutlich, dass Metanoia nicht irgendeine christliche Grundhaltung darstellt, sondern der christliche Grundakt überhaupt ist, freilich begriffen von einem ganz bestimmten Aspekt her: dem der Veränderung, der Wende, des Neu- und Anderswerdens. Um Christ zu werden, muss der Mensch sich ändern, 20

Benedikt XVI., Ansprache an die Bischöfe der Schweiz (Anm. 12). Joseph Ratzinger, Glaube als Umkehr – Metanoia, in: ders., Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre (= JRGS 9/1), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2016, S. 70 – 84 (erstmals u. d. T. Metanoia als Grundbefindlichkeit christlicher Existenz, in: Christian Suttner [Hrsg.], Buße und Beichte. Drittes Regensburger Ökumenisches Symposium, Regensburg 1972, S. 21 – 37; u. d. T. Glaube als Umkehr – Metanoia, in: ders., Theologische Prinzipienlehre, Donauwörth 20052, S. 57 – 69); ders., Umkehr, Buße und Erneuerung. Ein Gespräch zwischen Franz Greiner und Joseph Ratzinger, in: ders., Einführung in das Christentum. Bekenntnis – Taufe – Nachfolge (= JRGS 4), Freiburg i. Br./Basel/ Wien 2014, S. 518 – 534 (erstmals in: ders., Ein neues Lied für den Herrn. Christusglaube und Liturgie in der Gegenwart, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007 [Neuausgabe], S. 198 – 215). 22 Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 73. 23 Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 74. 21

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nicht bloß an irgendeiner Stelle, sondern ohne Vorbehalt, bis in den letzten Grund seines Seins hinab.“24

Diesen ganzheitlichen Sinn der Metanoia vermag demzufolge der deutsche Begriff Umkehr nur ansatzweise auszudrücken. Vielmehr muss von „Bekehrung“ statt von „Umkehr“ gesprochen werden, „damit die einfache und fundamentale Wahrheit besser zum Vorschein kommt, auf die uns das Neue Testament hier stößt“.25 Es geht nicht um einzelne Akte der Veränderung, sondern stets um die ganze Wende, die Bekehrung hin zu dem, der das Leben ist. Das kennzeichnet das der Taufe zugrundeliegende Geschehen. Im Empfang dieses ersten und vornehmlichen Sakraments der Sündenvergebung, von dem c. 849 CIC/1983 als theologischer Leitcanon zum Taufrecht sagt, dass es den Menschen durch ein untilgbares Prägemal Christus gleichgestaltet und der Kirche Jesu Christi eingliedert, vollzieht sich die umfassende Vergebung aller Sünden. Das ist zugleich die konstitutive Mitte jeder Beichte als zweites Sakrament der Sündenvergebung, das nach c. 959 CIC/1983 den Menschen durch die Absolution der nach der Taufe begangenen Sünden in den Frieden mit Gott und der Kirche (pax cum Deo et Ecclesia) zurückholt und hineinstellt. Dieser umfassenden Bekehrung widerspricht daher nicht die Norm des c. 988 § 1 CIC/1983, der gemäß der Gläubige verpflichtet ist, alle schweren Sünden nach Art und Zahl (in specie et numero) zu bekennen, die er nach der Taufe bzw. der letzten Beichte begangen hat. Mag das Sündenbekenntnis und damit der Bekehrungsvorgang hier aus einzelnen Elementen bestehen, das Eigentliche geschieht in der ausnahmslosen und vollkommenden Hinwendung zum Herrn der Kirche und der Wiederversöhnung durch sein österliches Heilswerk. So wird deutlich, was Benedikt XVI. in seiner Homilie vor den Mitgliedern der Bibelkommission am 15. April 2010 wie folgt formulierte: „Das also ist der grundlegende Punkt: die ,metánoia‘ ist keine Privatangelegenheit, […] sondern […] die Ankunft der Gnade, die uns verwandelt.“26 3. Perspektive auf Vergebung der Schuld Die biblische Metanoia als Bekehrung des Menschen ist in dieser Perspektive von einem weiteren Element geprägt, das sowohl der Leitcanon zum Bußrecht als auch 24

Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 76. Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 518. 26 Benedikt XVI., Homilie in der Messfeier mit den Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommission (15. 04. 2010), in: AAS 102 (2010), S. 276 – 280 (dt. Fassung online verfügbar unter: https://w2.vatican.va/content/benedictxvi/de/homilies/2010/documents/hf_ben-xvi_ hom_20100415_pcb.html [Stand: 15. 12. 2016]); vgl. dazu auch Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 519 f. Hier weist er die „Struktur der Bekehrung“ an Hand des biblischen Pfingstberichts auf, indem er vom „Hören der apostolischen Botschaft“ und von der nachfolgenden „Erschütterung über die eigene Schuld“ als Grundvoraussetzung der Bekehrung spricht. Daher bezeichnet er im Einklang mit den Kirchenvätern die „Insensibilität“ als die „eigentliche Krankheit der heidnischen Welt“ (ebd.). 25

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die Normen zur Disposition des Pönitenten aufnehmen. Die Fähigkeit einer Sensibilität gegenüber der eigenen Schuld kann nur mit der Perspektive auf Vergebung der Schuld gewährleistet sein. Joseph Ratzinger spricht hier von der „Wechselseitigkeit“ zwischen Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit und der in Tod und Auferstehung Jesu Christi vollbrachten und in der priesterlichen Vollmacht des Bußsakraments gegenwärtigen und wirksamen Versöhnung Gottes mit dem Menschen. Er sagt deshalb: „Ohne den Anblick des Erlösers, der Schuld nicht wegredet, sondern wegleidet, kann man die Wahrheit des eigenen Selbst nicht ertragen und flüchtet in die erste Unwahrheit, die Ausblendung der eigenen Schuld, aus der alle weiteren Unwahrheiten und schließlich die generelle Wahrheitsunfähigkeit folgen. Umgekehrt kann man ohne den Mut, wahr zu werden mit sich selbst, den Erlöser nicht erkennen und ihm nicht glauben.“27

In diesem Blick zwischen Erlöser und Erlösungsbedürftigen begründen sich die Neuwerdung des Menschen durch das Handeln Gottes und die daraus folgende Umgestaltung des christlichen Lebens. Joseph Ratzinger führt das zusammen, indem er für den Menschen entlastend feststellt: „Mit der Aufforderung zur Umkehr ist also nicht die verkrampfte Anspannung ständigen moralischen Hochleistungswillens gemeint, sondern das Aushalten in der Sensibilität für die Wahrheit und das Sich-Halten an dem, der uns die Wahrheit nicht nur erträglich, sondern fruchtbar und heilend macht.“28

Dieser Beweggrund kirchlicher Bußpastoral birgt deshalb die Motivation für die rechtlichen Bestimmungen zur Disposition des Pönitenten, wie sie insbesondere die Normen der cc. 987 – 991 CIC/1983 i. V. m. c. 959 CIC/1983 formulieren: die rechte Disposition, die Reue über begangene Sünden, der Vorsatz zur Besserung, das vollständige Bekenntnis, die Verpflichtung des jährlichen Bekenntnisses schwerer Sünde, die freie Beichtväterwahl.29 Die rechtlichen Verpflichtungen und Empfehlungen zum Empfang des Bußsakraments finden somit ihren Ausgangspunkt im Glauben, der in seinem lebendigen Vollzug stets auf Bekehrung und Erneuerung angelegt ist. 4. Veränderung und Treue Schließlich tritt ein letztes Moment im Verständnis dessen hinzu, was als Metanoia im Sakrament der Buße seinen wirkmächtigen Vollzug findet. Mit dem Verweis 27

Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 519. Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 520. 29 Vgl. dazu Aymans–Mörsdorf, KanR III, S. 290 – 293. Zur Beichte der sog. lässlichen Sünden gemäß c. 988 § 2 CIC/1983 s. Andrea Migliavacca, La „Confessione frequente di devozione“. Studio teologico-giuridico sul periodo fra i Codici del 1917 e del 1983 (= Tesi Gregoriana. Serie Diritto Canonico 17), Roma 1997; dazu auch Hans Heimerl, Erstbeichtalter und Beichtfreiheit, in: ThPQ 127 (1979), S. 49 – 53; ebenso: Erstbeichte vor der Kommunion. Brief des Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Joseph Ratzinger, an die Religionslehrer, in: OR (D), Nr. 48 vom 02. 12. 1977, S. 8 – 9. 28

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auf eine Schrift des bekannten katholischen Philosophen Dietrich von Hildebrand30 versucht Joseph Ratzinger die „innere Einheit von radikaler Veränderung und radikaler Treue“ zum Ausdruck zu bringen.31 Er stimmt der Auffassung von Hildebrand zu, wenn dieser in der „Halbierung der Metanoia“ den eigentlichen „Grund der Krise des Christentums von heute“ sieht.32 Man folge heute mehr dem, was man meint und tut, also dem Weichen, dem Geschmeidigen, als dem, was der Anspruch des Wortes Gottes für das Leben als Herausforderung für den Christen hervorbringe. In der christlichen Umkehr geht es jedoch nicht einfach und ausschließlich um Veränderung – dann wäre Metanoia falsch verstanden –, sondern um jene Treue zum neuen Leben, das dem Christen in der Taufe geschenkt wurde. Christus ist darin der Weg und das Ziel, auf dem und auf das hin christliche Existenz sich zu bewegen hat. Das schließt Veränderung des Lebens ein, aber nicht um der Veränderung willen, sondern um der Treue des Glaubens willen und gegenüber dem Glauben. Deshalb konstatiert Joseph Ratzinger: „Veränderungsbereitschaft auf Christus hin hat nichts zu tun mit der Richtungslosigkeit des Schilfrohrs, das jedem Wind folgt; sie hat nichts zu tun mit einer Unentschiedenheit der Existenz, einer billigen Beeinflussbarkeit, die sich nach jeder Richtung herumschieben lässt. Sie ist zugleich ein Festwerden in Christus […]. Christliche Metanoia ist sachlich mit Pistis (Glaube, Treue) identisch, eine Veränderung, die Treue nicht ausschließt, sondern ermöglicht.“33

Metanoia bleibt folglich ein Grundauftrag an den Christen, der im Sakrament der Beichte neu aktualisiert und begnadet wird. In seiner Ansprache an die Teilnehmer des Kurses der Apostolischen Pönitentiarie über das Forum Internum vom 07. März 2008 formulierte Benedikt XVI. diesen Umstand wie folgt: „Das Bemühen der Hirten und besonders der Beichtväter muss auch dahin gehen, die enge Verbindung zwischen dem Sakrament der Versöhnung und einem Leben, das wirklich auf die Bekehrung ausgerichtet ist, deutlich zu machen. Zwischen der Praxis des Sakraments der Beichte und einem Leben, das danach strebt, Christus aufrichtig nachzufolgen, muss eine Art unaufhaltsamer ,guter Kreislauf‘ entstehen, in dem die Gnade des Sakraments das Bemühen, treue Jünger des Herrn zu sein, unterstützt und nährt.“34

In Verbindung mit dem Recht aller Gläubigen, aus den geistlichen Gütern der Kirche Hilfe zu empfangen (c. 213 CIC/1983; c. 16 CCEO), ist in diesem Verständnis der Metanoia zugleich die Bereitschaft aller Gläubigen eingeschlossen, „je nach ihrer 30 Vgl. Dietrich von Hildebrand, Die Umgestaltung in Christus, Einsiedeln 19503, hier S. 11 – 29. 31 Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 77. 32 Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 78. 33 Ratzinger, Glaube als Umkehr (Anm. 21), S. 79. 34 Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer eines von der Apostolischen Pönitentiarie veranstalteten Kurses über das Forum Internum (07. 03. 2008) (online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2008/march/documents/hf_ben-xvi_spe_ 20080307_penitenzieria-apostolica.html [Stand: 15. 12. 2016]).

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eigenen Stellung […] ein heiliges Leben zu führen sowie das Wachstum der Kirche und ihre ständige Heiligung zu fördern“ (c. 210 CIC/1983; c. 13 CCEO).35

III. Spendeform des Bußsakraments Den rechtstheologischen Grundlinien zum Bußsakrament fügen sich jene Normen zur Spendeform des Bußsakraments hinzu, die sich in der Ansprache von Benedikt XVI. an die Schweizer Bischöfe als ganz von der Person her gedacht erweisen. In Übereinstimmung mit den Normen der cc. 960 – 963 CIC/1983 und ausgehend von der sakramentalen Absolutionsformel Ego te absolvo a peccatis tuis unterstreicht er die personale Struktur jedes Sakraments, insbesondere aber des Bußsakraments: „Diese sakramentale Struktur ist im Übrigen auch das, was der Mensch heute braucht: Er steht vor Gott nicht als Teil eines Kollektivs, sondern mit seinem Namen. So ruft Gott ihn an. Gerade so wird er fähig zur Gemeinschaft, die von Personen her wächst oder verfällt, wo Menschen zu ersetzbaren Teilen eines Kollektivs werden.“36

Hier wird der theologische Grund für die ordentliche Form des Bußsakraments erkennbar, innerhalb derer nach c. 960 CIC/1983 das persönliche und vollständige Bekenntnis und die Absolution den einzigen Weg darstellen, auf dem ein Gläubiger, der sich schwerer Sünden bewusst ist, mit Gott und der Kirche wiederversöhnt wird.37 Allein physische oder moralische Unmöglichkeiten begründen die Suche nach anderen legitimen Weisen der Versöhnung, die insbesondere in Gebeten sowie Werken der Umkehr und Buße bestehen. Die in den cc. 961 – 963 CIC/1983 detailliert geregelte Generalabsolution stellt hingegen eine „geistliche Nothilfe“38 dar, die allein in Todesgefahr (c. 961 § 1, 18 CIC/1983) oder einer anderen, vom Diözesanbischof unter Beachtung der Partikularnorm der Bischofskonferenz zu beurteilenden schwe35 Vgl. zur Problematik einer rechtlichen Verpflichtung geistlicher Haltungen Ludger Müller, Streben nach Heiligkeit – eine Rechtspflicht? Über Möglichkeiten und Grenzen rechtlicher Ordnung in der Kirche, in: AfkKR 166 (1997), S. 468 – 480. 36 Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 529. 37 Auf die rechtsgeschichtlich nachweisbare beständige Dimension des Einzelbekenntnisses in der kirchlichen Bußentwicklung verweist Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 530 – 533, bes. S. 532: „Die Geschichte zeigt demgegenüber ganz eindeutig, dass sich als lebenskräftig auf Dauer nur die auf der Basis judenchristlicher Überlieferung im monastischen Bereich entwickelte Form der persönlichen und wiederholbaren Beichte erwiesen hat, deren allen Christen als Sündern aufgegebene Übung auch für jeden Einzelnen die Schwelle zum Bekenntnis und zur Buße überschreitbar macht. Umgekehrt muss man sagen: Nur diese Gestalt gibt der Kirche Lebenskraft. Keine andere Form hat sich auf Dauer behaupten können. Dass sie bei allen Unterschieden in der praktischen Ausformung ihrer Grundweise gemeinsamer Besitz von Ost und West ist, hat zum einen anthropologische Gründe, verweist aber zum anderen auf die Herkunft aus dem gemeinsamen Grund biblischer Überlieferung.“ 38 Aymans–Mörsdorf, KanR III, S. 306.

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ren Notlage (c. 961 § 1, 28 CIC/1983) gespendet werden darf. Sowohl die kodikarischen Bestimmungen (cc. 961 § 1, 28 u. 962 – 963 CIC/1983) als auch die bischöflichen Partikularnormen verdeutlichen die rechtliche Unbestimmtheit des Begriffs der gravis necessitas39, verneinen aber zugleich das generelle Vorliegen einer entsprechenden Situation im Rahmen von Wallfahrten oder an Tagen vor den kirchlichen Hochfesten. Die Generalabsolution gilt deshalb als „unselbständiges Bußinstitut“40, das weder die Einzelbeichte noch die allein im Bußrituale vorgesehene „Bußandacht“41 zu ersetzen vermag.42 Mit dem Blick auf das Bußsakrament bemängelt Joseph Ratzinger daher, dass das Thema der (persönlichen) Reue nicht mehr im Zentrum der Fragestellung nach der Form der Beichte stehe. Das Ausfallen der Reue sei aber letztlich der wahre Grund für die Überbeanspruchung der Generalabsolution. Daraus folgernd weist er nachdrücklich auf die Komplementarität der Elemente Reue, Bekenntnis und Wiedergutmachung auf Seiten des Pönitenten, des Urteils auf Seiten der Kirche durch die sakramentale Mittlerschaft des Priesters sowie der Absolution von Seiten Gottes durch die priesterliche Absolutionsvollmacht hin.43 Nicht zuletzt deswegen erinnert c. 978 § 1 CIC/1983 den Priester daran, dass er „in gleicher Weise die Stelle eines Richters wie die eines Arztes einnimmt und von Gott zugleich zum Diener der göttlichen Gerechtigkeit wie auch Barmherzigkeit bestellt ist, der der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen dient“.44 Wie entfaltet sich die hier gezeichnete Komplementarität im Sakrament? Im Sakrament begegnen sich nach Joseph Ratzinger die Einzelpersonen (Pönitent und Priester), die Gemeinschaft der Kirche und Gott: „Das Sakrament realisiert im personalen Dialog des Heils das ,Ich‘ Christi und das ,Du‘ des Gläubigen, die sich in der Gemeinschaft der Kirche begegnen“.45 Diese persönliche Dimension drückt sich 39 Vgl. Christoph Ohly, Gravis Necessitas. Erwägungen zu einem unbestimmten Begriff der kirchlichen Gesetzbücher, in: AfkKR 175 (2006), S. 473 – 485. 40 Aymans–Mörsdorf, KanR III, S. 311. 41 Vgl. Christoph Ohly, Ein Plädoyer für die Belebung einer außerkodikarischen Form des Bußsakraments, in: AfkKR 170 (2001), S. 74 – 105. 42 Diese Grundbestimmungen sind in jüngerer Zeit wiederholt betont worden; vgl. Papst Johannes Paul II., MP „Misericordia Dei“ (07. 04. 2002), in: AAS 94 (2002), S. 452 – 459 (dt.: VApSt 153); vgl. Joseph Kardinal Ratzinger, „Misericordia Dei” on certain aspects of the celebration of the Sacrament of Penance, in: OR (E), Nr. 19 vom 08. 05. 2002, S. 5; dazu eingehender Christoph Ohly, Das Motu proprio „Misericordia Dei“. Perspektiven und Konsequenzen, in: AfkKR 171 (2002), S. 72 – 92. 43 Vgl. Joseph Kardinal Ratzinger, Les normes pastorales du sacrament de pénitence. Intervention du cardinal Ratzinger, in: Pensée catholique 208 (1984), S. 30 – 35. 44 Vgl. Christoph Ohly, Der Priester als Richter und Arzt? Zur Bedeutung von c. 978 § 1 CIC im Kontext einer Wiederbelebung des Bußsakramentes, in: BThF 118/Beiheft (2007), S. 367 – 383. 45 Ratzinger, Les normes pastorales (Anm. 43), S. 34: „[…] Le sacrament se réalise dans le dialogue personnel de salut où le ,moi‘ du Christ et le ,toi‘ de l’homme se trouvent dans la communion de l’Eglise.“

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selbst im sozialen Charakter jeder Sünde aus, der jedoch allein im persönlichen Bekenntnis als einem wahrhaft sozialen Akt an der Wurzel aufgedeckt werden kann.46 Johannes Paul II. hat deshalb in seiner ersten Enzyklika „Redemptor Hominis“ vom „Recht des Erlösers“ gesprochen,47 dem einzelnen Gläubigen im Sakrament der Buße begegnen zu dürfen, nicht der anonymen Menge von Gläubigen. Diesem „göttlichen Recht“ habe die Kirche zur Realisierung zu verhelfen. Darin ruht ihr Einsatz für das Einzelbekenntnis und die Einzelabsolution als dem ordentlichen und einzigen Weg der sakramentalen Sündenvergebung. Die Kirche besitzt folglich nicht die Vollmacht, die Generalabsolution als ordentliche Form des Bußsakramentes festzulegen.48 Im Gegenteil: Die Aufwertung der Generalabsolution zur ordentlichen Form des Bußsakramentes würde die Förderung der heute weit verbreiteten Depersonalisierung und des damit einhergehenden Kollektivismus unterstützen.49 Daher ist sie gemäß den universal- und partikularkirchlichen Normen lediglich in Notsituationen, in denen es um die Frage nach dem Seelenheil des Gläubigen geht, gültig und erlaubt. In den erkennbaren Tendenzen der jüngeren Kirchengeschichte kann deshalb ein Ungleichgewicht aufgedeckt werden, das einer Heilung zugeführt werden muss: „Das, was eigentlich persönlich sein müsste – Bekenntnis und Lossprechung –, wird kollektiviert. Das, was gemeinschaftliche Gestalt verlangt – der Lebensstil der Buße, die Umsetzung von Bekehrung in Leben –, wird in die Gesinnung zurückgenommen. Aber so kann keine christliche Lebensgestalt erwachsen und keine christliche Veränderung der Welt geschehen, in der Umkehr in die sozialen Dimensionen eindringt.“50

Im Zusammenhang mit diesen an den Maßgaben der kirchlichen Normen ausgerichteten Überlegungen stellt Joseph Ratzinger dennoch die Frage nach einer zukünftigen Entwicklung in der Form des Bußsakraments. Für ihn ist eine stärkere Einbeziehung des persönlichen und des communialen Gedankens nicht nur möglich, sondern partiell notwendig, wie das Beichtgespräch oder die gemeinsame Vorbereitung auf das Einzelbekenntnis im Rahmen einer „Bußandacht“ zeigt.51 Beide stellen die ekklesiologische Dimension des Bußsakramentes stärker heraus, wie sie sich kodikarisch in den Bestimmungen zum Ort der Beichte widerspiegeln (c. 964 CIC/1983).52 Allerdings gibt er aufgrund der Erfahrungen von Beichtgesprächen zu bedenken: 46

Vgl. Ratzinger, Les normes pastorales (Anm. 43), S. 34 – 35. Johannes Paul II., Enz. „Redemptor Hominis“ (04. 03. 1979), in: AAS 71 (1979), S. 257 – 324 (dt.: VApSt 6), Nr. 33. 48 Vgl. Ratzinger, Les normes pastorales (Anm. 43), S. 35: „Les normes de la Sacrée Congrégation pour la Doctrine de la foi, en monstrant les limites posées a iure divino à notre volonté ne ferment pas la porte, mais l’ouvrent au contraire à une fructeuse réflexion sur la réconciliation et sur la pénitence chrétienne dans le monde moderne.“ 49 Vgl. Ratzinger, Les normes pastorales (Anm. 43), S. 35. 50 Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 533. 51 S. Anm. 41. 52 Vgl. dazu Ludwig Schick, „Außerhalb des Beichtstuhles dürfen Beichten nur aus gerechtem Grund entgegengenommen werden“ (c. 964 § 3 CIC). Kanonistisch-pastorale Über47

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„Mir wird zunehmend unwohl dabei, wenn mit leichter Gebärde die frühere häufige Weise des Beichtens als schematisch, äußerlich, gewohnheitsmäßig und daher wertlos hingestellt wird. Auch das Selbstlob klingt mir immer bitterer, mit dem man dann die jetzt zahlenmäßig reduzierten, dafür aber umso persönlicher gewordenen Beichten herausstellt. In allzu beredten Beichtgesprächen kann auch leicht eine Art von Koketterie und eine Geschäftigkeit des Erklärens auftreten, die am Schluss kaum noch Schuld übrig lässt. Umgekehrt stand hinter dem Schematischen mancher früherer Beichten ein großer innerer Ernst, dem es an äußerer Ausdruckmöglichkeit fehlte.“53 Und er mahnt an, das Bußsakrament sei keine „Gesprächsveranstaltung“: „Nicht neue Formen brauchen wir, mit denen wir immer mehr ins Äußerliche abgleiten, sondern Bildung und Besinnung, jene seelische Vertiefung, ohne die alles Feiern schnell verfliegende Äußerlichkeit bleibt.“54

IV. Priesterliches Handeln Schließlich eröffnen die Ausführungen von Benedikt XVI. an die Schweizer Bischöfe den Blick auf den Spender des Bußsakraments. Nach c. 965 CIC/1983 beruht die persönliche Begegnung mit der göttlichen Barmherzigkeit in Jesus Christus gemäß göttlichen Rechts auf der priesterlichen Vermittlung: „Minister sacramenti paenitentiae est solus sacerdos.“ Es handelt sich mit der sakramentalen Absolutionsvollmacht um eine der Aufgaben, die den besonderen Dienst kennzeichnen, den der sacerdos (Bischof und Priester) „in persona Christi capitis Ecclesiae“ zu leisten berufen ist.55 Er repräsentiert an dieser Stelle in personaler Weise Christus, der sich dem Sünder in und durch den Priester mit verzeihender und barmherziger Liebe zuwendet, nicht allein zeichenhaft, sondern real, wirkmächtig und personal vermittelt. Durch die Gesten und die sakramentalen Absolutionsworte macht der Priester vor allem die Liebe Gottes sichtbar, der sich in Christus in Fülle geoffenbart hat. Wenn der Priester das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung spendet, handelt er, „als Zeichen und Werkzeug der barmherzigen Liebe Gottes zum Sünder“.56 Was sich hier vollzieht, ist demnach das Mysterium der Liebe, das Werk der barmherzigen Liebe des Herrn, das durch das Handeln des Priesters sakramental vermittelt wird. Der sakramentale Werkzeugcharakter des Priesters in der Beichte ist für Benedikt XVI. nichts Äußerliches, sondern Folge und Frucht seiner ontologischen Teillegungen zum Beichtort, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hrsg.), Iuri canonico promovendo. FS Schmitz (65), Regensburg 1994, S. 207 – 226; vgl. auch Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer eines von der Apostolischen Pönitentiarie veranstalteten Kurses über das Forum Internum (11. 03. 2010), in: OR (D), Nr. 12 vom 26. 03. 2010, S. 9. 53 Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 523 – 524. 54 Ratzinger, Umkehr, Buße und Erneuerung (Anm. 21), S. 527. 55 S. LG 10 i. V. m. cc. 207, 208, 1008 u. 1009 CIC/1983; vgl. dazu u. a. George Augustin/ Kurt Koch (Hrsg.), Priestertum Christi und priesterlicher Dienst (= Theologie im Dialog 9), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013. 56 So die Aussage in 1465 KKK.

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habe an der Person Jesu Christi, seiner seinshaften Verähnlichung mit ihm im und durch das Sakrament der Weihe. Nicht die Funktion steht an erster Stelle, sondern das Sein. In seiner Ansprache vom 19. Februar 2007 an die Mitarbeiter der Apostolischen Pönitentiarie formuliert er es so: „Bei diesem geheimnisvollen Prozess der inneren Erneuerung ist der Beichtvater kein passiver Zuschauer, sondern ,persona dramatis‘, das heißt aktives Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit.“57

Deshalb darf der Priester nicht vergessen, „dass er in diesem Sakrament berufen ist, die Aufgabe des Vaters, des geistlichen Richters, des Meisters und des Erziehers auszuüben“.58 Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss der Priester dafür sorgen, dass die Heilsbotschaft in ihm selbst verwurzelt ist und er sich von ihr in der Tiefe verwandeln lässt. Der Priester kann nicht Vergebung und Versöhnung predigen, wenn er nicht persönlich davon durchdrungen ist. Beinahe väterlich appelliert daher Benedikt XVI. an die Priester: „Wenn es auch wahr ist, dass es in unserem Dienst verschiedene Weisen und Mittel gibt, um unseren Brüdern die barmherzige Liebe Gottes zu vermitteln, so ist es jedoch in der Feier dieses Sakraments, wo wir es in der vollkommensten und höchsten Form tun können. Christus hat uns, liebe Priester, auserwählt, die einzigen zu sein, die in seinem Namen die Sünden vergeben können: Es handelt sich also um einen besonderen kirchlichen Dienst, dem wir den Vorrang geben müssen.“59

Folglich erinnert er in einer Ansprache an die Pönitentiarie vom 16. März 2007 an die geistlichen Eigenschaften der Priester für die Erfüllung dieses Dienstes: „Das alles erfordert, dass der im Dienst des Bußsakraments stehende Priester selbst von einem ständigen Streben nach Heiligkeit beseelt ist. Der Katechismus der Katholischen Kirche stellt diesen Anspruch ganz hoch, denn er bekräftigt: ,Der Beichtvater […] muss zuverlässig wissen, wie ein Christ zu leben hat, in menschlichen Dingen Erfahrung haben und den, der gefallen ist, achten und sich ihm gegenüber feinfühlig verhalten. Er muss die Wahrheit lieben, sich an das Lehramt der Kirche halten und den Pönitenten geduldig der Heilung und vollen Reife entgegenführen. Er soll für ihn beten und Buße tun und ihn der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen‘ (Nr. 1466). Um diese wichtige Sendung zu vollbringen, soll der Priester im Herzen immer mit dem Herrn vereint und so dem Lehramt der Kirche bezüglich der Morallehre treu sein in dem Bewusstsein, dass das Gesetz des Guten und des Bösen nicht von den Situationen, sondern von Gott bestimmt wird.“60

57 Benedikt XVI., Ansprache an die Pöniteniarie der römischen Basiliken und die Prälaten und Offiziale der Apostolischen Pönitentiarie (19. 02. 2007), in: AAS 99 (2007), S. 250 – 252, dt.: OR (D), Nr. 9 vom 02. 03. 2007, S. 9. 58 Benedikt XVI., Ansprache (Anm. 57), S. 9. 59 Benedikt XVI., Ansprache (Anm. 57), S. 9. 60 Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer eines von der Apostolischen Pönitentiarie veranstalteten Kurses über das Forum Internum (16. 03. 2007), in: OR (D), Nr. 13 vom 30. 03. 2007, S. 9.

Die Rechtsnormen zur Feier des Bußsakraments

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Der Leitgedanke der Überlegungen von Joseph Ratzinger zum priesterlichen Dienst im Bußsakrament ist ohne Zweifel der des ontologischen Fundaments: agere sequitur esse, das Handeln folgt dem Sein.61 Nur das, was existiert, vermag zu handeln, und umgekehrt, wird aus dem Handeln das dahinter verborgenen Sein sichtbar. Zugleich geben die Gedanken zu erkennen, dass sich das Sein in der Funktion nicht allein äußerlich zeigt, sondern von der Notwendigkeit eingeholt wird, tatsächlich die gesamte Existenz des Priesters zu bestimmen. Mit anderen Worten: Das Sein, das in der Funktion hervortritt und wirksam wird, muss ein Leben lang geistlich eingeholt und vertieft werden, damit es tatsächlich die gesamte Existenz des Priesters prägt.

V. Reforminstrument der Neuevangelisierung In einer gemeinsamen Grundlinie sieht das päpstliche Lehramt mit und seit dem II. Vatikanischen Konzil das Sakrament der Buße als ein herausragendes Mittel zur Erneuerung der Kirche und damit zugleich als ein wertvolles Instrument jener Neuevangelisierung, zu der seit Papst Paul VI. immer wieder aufgerufen wird.62 Für Joseph Ratzinger ist die Feier des Sakraments der Versöhnung selbst Verkündigung und daher der für das Werk der Neuevangelisierung zu beschreitende Weg. Er ist davon deshalb überzeugt, weil die Heiligkeit des Getauften, die im Bußsakrament von Gott selbst erneuert wird, der „Lebenstrom“ der Kirche ist. So formulierte Papst Benedikt in seiner Ansprache an den Kurs der Apostolischen Pönitentiarie vom 09. März 2012: „Die wirkliche Bekehrung des Herzens, das Sich-Öffnen gegenüber dem verwandelnden und erneuernden Wirken Gottes, ist der ,Antrieb‘ jeder Reform und wird zu einer wahren evangelisierenden Kraft. In der Beichte wird der reuige Sünder durch das ungeschuldete Wirken der göttlichen Barmherzigkeit gerechtfertigt, ihm wird vergeben und er wird geheiligt. Er lässt den alten Menschen hinter sich, um den neuen Menschen als Gewand anzulegen. Nur wer sich zutiefst von der göttlichen Gnade hat erneuern lassen, kann die Neuheit des Evangeliums in sich selbst tragen und daher verkündigen.“63 61

Dieses scholastische Prinzip betont v. a. Thomas von Aquin, der in der „Summa contra gentiles“ formuliert: „agere sequitur ad esse in actu“ (ScG, III, 69). 62 Papst Paul VI., Ap. Schreiben „Evangelii Nuntiandi“ (08. 12. 1975), in: AAS 68 (1976), S. 5 – 76 (dt. in: NKD 57, S. 32 – 195), bes. Nr. 52; vgl. dazu George Augustin/Klaus Krämer (Hrsg.), Mission als Herausforderung. Impulse zur Neuevangelisierung (= Theologie im Dialog 6), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2011; Rino Fisichella, Was ist Neuevangelisierung?, Augsburg 2012; Karl Kertelge, Neutestamentliche Bemerkungen zum Stichwort „Neuevangelisierung“, in: Johannes Joachim Degenhardt (Hrsg.), Die Freude an Gott – unsere Kraft. FS Knoch (65), Stuttgart 1991, S. 408 – 416; Timo Klein, Neuevangelisierung bei Benedikt XVI. 100 päpstliche Texte für die Zukunft, Heiligenkreuz 2015; Andreas Wollbold, Mission vor der eigenen Tür? Eine Synopse missionstheologischer Modelle, in: Matthias Sellmann (Hrsg.), Deutschland – Missionsland (= QD 206), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2004, S. 69 – 91. 63 Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer eines von der Apostolischen Pönitentiarie veranstalteten Kurses über das Forum Internum (09. 03. 2012), in: OR (D), Nr. 12 vom 23. 03. 2012, S. 8.

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So verstanden ist jede Beichte ein gnadengewirkter Schritt, der zur Neuevangelisierung und zur Reform der Kirche beiträgt. Sie ist das Hilfsmittel jener Öffnung des Herzens, jener Sensibilität für die Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit, die es gestattet, den Blick auf Gott zu richten, damit er in das Leben des Menschen eintritt und mit ihm in der Welt wirkt. In diesem Dienst stehen die kodikarischen Normen zur Feier des Bußsakramentes. Daher sind sie konsequent in einer Theologie des Kirchenrechts, die sich dem Glauben der Kirche als „Erkenntnisquelle“64 ihrer Rechtsordnung verpflichtet weiß, zu lesen, zu entfalten und anzuwenden. Sie gehören zu den kodikarischen Rechtssätzen, die darauf abzielen, der kirchlichen Gemeinschaft eine Ordnung zu geben, „die der Liebe, der Gnade und dem Charisma Vorrang einräumt“65, um so der Erneuerung der Kirche in ihrem Wesen und ihrer Sendung zu dienen.

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Aymans–Mörsdorf, KanR I (Anm. 3), S. 146. Johannes Paul II., ApK „Sacrae Disciplinae Leges“ (25. 01. 1983), in: AAS 75/2 (1983), S. VII – XIV (dt. in: Codex Iuris Canonici, lat.-dt. Ausgabe, Kevelaer 20178, S. X – XXIII). 65

Aktuelle tauf- und gliedschaftsrechtliche Fragen am Beispiel von Muslimen und Christen des Ostens Von Beatrix Laukemper-Isermann Im Fächerkanon katholischer Theologie gehört das Kirchenrecht zur praktischen Theologie. Entsprechend beschäftigt sich dieser Aufsatz mit praxisorientierten Fragen, die nicht der alltäglichen Routine kirchenrechtlichen Handelns entsprechen, sondern des näheren Hinschauens bedürfen und mit den gesellschaftlichen und damit auch kirchlichen Veränderungen in den europäischen Ländern zu tun haben. Es geht dabei vor allem um die Flüchtlingsfrage, um die Migration von Menschen muslimischen Glaubens, die Christen werden wollen, und um die Christen der Ostkirchen, die zur lateinischen Kirche übertreten wollen, weil ihre eigene Rituskirche in ihrer Umgebung nicht vertreten ist. Die deutschen Bischöfe nahmen die Anforderungen, die sich daraus in unserem Land ergeben, zum Anlass, sich in mehreren Arbeitshilfen zum Thema Taufe und Taufkatechumenat zu äußern.1 Diese stehen wie der CIC/1983 und der CCEO, das Gesetzbuch der orientalischen Kirchen, im Hintergrund meiner Überlegungen. Hinsichtlich der Aufnahme von orthodoxen Christen ist deren Taufrecht und Rituszugehörigkeit zu beachten und auf jeden Fall ist jeder Anklang von Proselytismus zu vermeiden. Um die Bedeutung dieser Fragestellung zu verdeutlichen, seien einige Zahlen genannt. So gab es im Bistum Münster in den Jahren 2002 bis 2015 insgesamt 56 Konversionen aus der orthodoxen Kirche verbunden mit dem notwendigen Rituswechsel. Die Taufe von muslimischen Migranten stellt durch die Flüchtlingsbewegung der letzten Zeit eine neue Herausforderung dar. Auch hierzu die verfügbaren Zahlen: Die DBK gab 2009 die Zahl von 300 Taufen muslimischer Mitbürger bekannt. Eine offizielle Zählung gibt es nicht. In den Pfarreien ist aber eine Entwicklung hin zur Taufbitte muslimischer Migranten erkennbar. Dieses Thema wird sowohl von Seiten der Kirchen als auch in der Gesellschaft diskutiert. Im Raum steht der Vorbehalt, die Taufbitte erfolge nicht aus Glaubensgründen, sondern um leichter Asyl zu erhalten.

1 Erwachsenentaufe als pastorale Chance. Impulse zur Gestaltung des Katechumenats (März 2001), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 160), Bonn 2001; Christus aus Liebe verkündigen. Zur Begleitung von Taufbewerbern mit muslimischem Hintergrund (24. 08. 2009), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 236), Bonn 2009; Christen und Muslime in Deutschland (23. 09. 2003), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 172), Bonn 2003.

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I. Die Taufe als Weg in die Gemeinschaft der Christgläubigen Bis heute ist statistisch gesehen der „Normalfall“ der Aufnahme in die Kirche die Säuglingstaufe, wobei die Taufe von Kindern im Schulalter oder die Erwachsenentaufe mit vorbereitendem Katechumenat zunehmend an Bedeutung gewinnt. Im CIC/ 1983 wird an erster Stelle in den entsprechenden Normen cc. 851 – 852 CIC/1983 unter der jeweiligen 18 die Erwachsenentaufe genannt, unter 28 werden im Anschluss die Bestimmungen zur Kindertaufe angeführt. Entsprechend gibt es auch die Riten für die Erwachsenen- und für die Kindertaufe, zudem als Studienausgabe einen Ritus zur Eingliederung von Kindern im Schulalter in die Kirche.2 Die kirchenrechtlichen Erfordernisse stellen sich in diesen Fällen weitestgehend unkompliziert dar. Die vorgesehene Form des Erwachsenenkatechumenats wird allerdings aus den unterschiedlichsten Gründen nicht von jedem Taufbewerber angenommen. Dabei spielt die Zeitdauer bis hin zur Taufe oftmals eine Rolle, aber auch die persönliche Beanspruchung durch den Katechumenat. Der Zeitfaktor entsteht z. B. im Rahmen einer geplanten Eheschließung oder in Verbindung mit dem Wunsch, eine Patenschaft zu übernehmen. 1. Erlaubtheitsvoraussetzungen für die Taufe C. 865 § 1 CIC/1983 nennt als Erlaubtheitsvoraussetzung für die Taufe Erwachsener den Willen zum Empfang der Taufe, die hinreichende Kenntnis der grundlegenden Glaubenswahrheiten und der christlichen Pflichten sowie die Erprobung der christlichen Lebensführung im Katechumenat.3 Schon an diesem Punkt scheiden sich die Geister. Ist damit eine Taufe ohne den katechumenalen Weg unerlaubt? Kann durch das Beharren auf den katechumenalen Weg, wie er im „Ritus der Eingliederung Erwachsener in die Kirche“ ausgearbeitet ist, einem Menschen, der diesen Weg so nicht gehen möchte, die Taufe verweigert werden? In der Neuauflage des „Handbuch des katholischen Kirchenrechts“ schreibt Alfred E. Hierold dazu: „Das Taufkatechumenat, das der erwachsene Täufling durchlaufen soll, hat zum Ziel, festzustellen, ob er zu einem christlichen Leben fähig ist und die feste Absicht erkennen lässt, ein solches auch nach der Taufe zu führen. Es [das Taufkatechumenat] kann aber ebenso wenig wie eventuell ein Taufgespräch zur unabdingbaren Voraussetzung für die Taufe gemacht werden, wenn auf andere Weise Taufbitte, Taufglaube und Taufversprechen ausreichend feststehen. Dann kann die Taufe nicht verweigert oder aufgeschoben werden. Ein Taufaufschub wegen einer tieferen Vorbereitung kann dem zu Taufenden als sinnvoll nahegelegt werden, ist aber nicht gerechtfertigt, 2 Vgl. Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche. Grundform, Manuskriptausgabe zur Erprobung, hrsg. v. den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, Trier 2001; Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebiets, Freiburg i. Br. u. a., 20072 ; Die Eingliederung von Kindern im Schulalter in die Kirche, Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebiets, hrsg. v. den Liturgischen Instituten Salzburg/Trier/Zürich 1986. 3 Vgl. Eingliederung Erwachsener (Anm. 2), S. 32 – 137.

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wenn er zu einem glaubensgemäßen Leben bereit ist und einen seiner geistigen Fassungskraft entsprechenden Glauben hat.“4 Insbesondere spielt hier die Feier der Zulassung zur Taufe durch den Bischof eine Rolle, die voraussetzt, dass die Katechumenen in die Bischofskirche kommen. Nicht alle Taufbewerber sind dazu bereit oder in der Lage. Da der Ritus selbst die Feier der Zulassung in der Pfarrkirche ermöglicht, kann aus dieser Entscheidung des Taufbewerbers kein Argument gegen seine Taufe abgeleitet werden. In der „Allgemeinen Pastoralen Einführung“ des Ritusbuches wird der Weg des Katechumenats als eine missionarische und pastorale Herausforderung angesehen: „Dabei liegt in der Taufbitte Jugendlicher bzw. Erwachsener und der Vorbereitung im Katechumenat eine große Chance, zu einer Vertiefung des Glaubens und zu einer Verlebendigung von Gemeinde und Kirche zu kommen.“5 Auch diese Äußerung sieht im katechumenalen Weg eine gute pastorale Möglichkeit, spricht aber nicht für den Aufschub oder gar die Verweigerung der Taufe bei Ablehnung des Katechumenats in Vollform. Das kirchliche Gesetzbuch schweigt zu dieser Frage, nennt aber auch an keiner Stelle explizit ein Recht auf die Taufe unter allen Umständen.6 Rüdiger Althaus nennt folgende Stichworte hinsichtlich der Zulassung von Erwachsenentaufen ohne den Katechumenat: den missionarischen Auftrag der Kirche, die Heilsnotwendigkeit der Taufe (c. 849 CIC/1983) und die Religionsfreiheit, wie sie im II. Vatikanischen Konzil anerkannt und festgeschrieben wurde (DH 3, 3).7 Die Taufe bedarf aber nichtsdestotrotz einer eingehenden Vorbereitung, es sei denn der Täufling befindet sich in Todesgefahr (c. 865 § 2 CIC/1983). 2. Die Taufe von Muslimen Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen gerade in der derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Situation weltweit die Bitten muslimischer Mitbürger und Flüchtlinge um die Taufe. Es gibt diese Bewegung von Menschen ehemals muslimischen Glaubens zum Christentum. So weist nur eine Gemeinde im Bistum Münster neun Taufen muslimischer Mitbürger auf, die sich zusammen über ein Jahr gemeinsam in der Pfarrgemeinde vorbereiten ließen und vorbereitet haben. Auch aus anderen Gemeinden sind solche Taufbitten bekannt, wo sich nach entsprechender Vorbereitung ehemalige Muslime katholisch taufen ließen. Die evangelische Kirche ist diesbezüglich ebenfalls aufgeschlossen und aktiv, beklagt aber viele unvorbereitete 4

Alfred E. Hierold, Taufe und Firmung, in: HdbkathKR3, S. 1152 – 1162, hier S. 1159 f. Eingliederung Erwachsener (Anm. 2), S. 8. 6 Vgl. Hierold, Taufe und Firmung (Anm. 4), S. 1159, der einerseits von dem Recht des Ungetauften auf Aufnahme in die Kirche spricht, andererseits aber das Wesen der Taufe als Sakrament damit kontrastiert. Er zieht c. 843 § 1 CIC/1983 heran, um doch von einem Recht auf Taufe zu sprechen, wenn die rechte Disposition vorliegt, die Person um die Taufe bittet und kein Hinderungsgrund vorliegt. 7 Vgl. Rüdiger Althaus, c. 865, Rdnr. 2b, in: MK CIC (Stand: April 2017). 5

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Taufen muslimischer Flüchtlinge durch einige evangelische Freikirchen. Erst vor wenigen Tagen wurde ein Antrag auf Taufe von sieben erwachsenen Flüchtlingen gestellt, die sich schon lange mit dem christlichen Glauben beschäftigen und nun, nachdem sie in Deutschland angekommen sind, getauft werden möchten. Aufgrund noch vorhandener Sprachprobleme stellt sich die Situation der Vorbereitung auf die Taufe schwierig dar, aber die Taufbewerber machen durch ihr gesamtes Verhalten die Ernsthaftigkeit ihres Taufwunsches deutlich. Es geht ihnen um die Zugehörigkeit zu Gott und um die drängende Sorge um das eigene Heil. Bei der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) vom 07. Juni 2017 befassen sich mehrere Artikel mit dem Problem der Flüchtlingstaufen, insbesondere derer von muslimischen Taufbewerbern. Man gehe nicht leichtfertig mit diesen Situationen um, vielmehr brauche es „einen monatelangen Prozess der Vorbereitung und der Prüfung, bevor jemand getauft und in die Kirche aufgenommen wird“.8 Die evangelische Kirche betont laut einem Bericht der KNA vom 08. Juni 2017 ebenfalls die sorgfältige Vorbereitung von Flüchtlingen, die sich taufen lassen wollen: „Die Taufe sei kein ,Verwaltungsakt‘. Entscheidend sei […] die Frage, wie ein Bewerber auf die Idee zur Taufe gekommen sei: womöglich schon in der Heimat oder durch die Unterstützung einer Kirchengemeinde hierzulande.“9 Mit der Taufbitte von Einzelpersonen oder ganzen muslimischen Familien sind jedoch spezielle Fragen verbunden. Worin besteht das Motiv für die Taufbitte? Sollte jemand beabsichtigen, sich nur taufen zu lassen, um leichter Asyl zu bekommen, befindet er sich in einem Irrtum, was die Selbstverständlichkeit dieser Schlussfolgerung anbelangt: „Der bloße Wechsel auf dem Papier erhöht indes nicht die Chance, als Asylbewerber anerkannt zu werden“, betont die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die diesbezüglichen Kommentare sind jedenfalls sehr unterschiedlich und hängen von den Regelungen in den einzelnen Herkunftsländern ab, was die Behandlung von getauften ehemaligen Muslimen anbelangt.10 Deutlich wird das aus einem Bericht der Rhein-Neckar-Zeitung vom 21. Januar 2017, in dem es heißt: „Es ist die nackte Verzweiflung! Der 40-jährige Mohammed Jafari Ehsan möchte sich offen und ehrlich zum Christentum bekennen – auch wenn er dann mit dem Tod in seiner Heimat Afghanistan rechnen muss. Das ist ihm egal. Als Flüchtling fühlt er sich wie ein 8

Vgl. KNA vom 07. 06. 2017, S. 3: Bischöfe: Kirche geht nicht leichtfertig mit Taufen um. KNA vom 08. 06. 2017: Bischof lehnt Pauschalverdacht gegen getaufte Flüchtlinge ab. 10 Vgl. Wahrer Glaube oder Asyltrick. Wenn sich Flüchtlinge taufen lassen, erhöht das nicht ihre Anerkennungschance, in: WN vom 26. 04. 2016; Konversion zum Christentum – Immer mehr Flüchtlinge lassen sich taufen, in: Focus online vom 28. 10. 2016 (online verfügbar unter: www.focus.de/politik/deutschland/konversion-zum-christentum [Stand: 08. 07. 2017]); vgl. auch www.katholisch.de (Stand: 08. 07. 2017): Dort gibt es eine differenzierte Darlegung zu dieser Frage mit dem Ergebnis: Muslime, die sich taufen lassen und in ihrem Herkunftsland damit in Todesgefahr schweben, werden leichter Asyl erhalten als diejenigen, in deren Ländern die Konversion zum christlichen Glauben nicht diese schwerwiegende Konsequenz hat; vgl. Silvia Tellenbach, Die Apostasie im islamischen Recht (Originalveröffentlichung: L’apostasia nel diritto islamico, Daimon – Annuario die diritto comparato delle regioni 1 (2001), S. 53 – 70. 9

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Mensch ohne Heimat – seine Zuflucht findet er in der Religion.“ So sind es vor allem der Iran, Irak und Afghanistan, wo die Taufe eines Moslem mit der Todesstrafe geahndet wird. Umso wichtiger ist es, im jeweiligen Taufgespräch diese Information zu thematisieren, denn sie ermöglicht und fordert eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem, was Taufe bedeutet. Die Praxis zeigt allerdings, dass die Taufbitten von muslimischen Flüchtlingen mehr mit einer echten Zuwendung zum christlichen Glauben als mit bloßem Schein zu tun haben. In den meisten Fällen wird die Freiheit und Barmherzigkeit in den christlichen Kirchen als Grund für die Taufbitte genannt. Die Taufe wird erstrebt, um sich von der strengen und teilweise von Gewalt geprägten Struktur des muslimischen Glaubens abzuwenden. So auch die Beschreibung in einem Zeitungsbericht: Nachdem Ehsan als fünfjähriges Kind aus Angst vor Krieg und Armut mit seiner Familie in den Iran ausgewandert war, wurde er im Alter von 23 Jahren wieder nach Afghanistan abgeschoben. Dort wurde er unter dem Verdacht, ein iranischer Spion zu sein, festgenommen und gefoltert. Mit Unterstützung von Familienangehörigen und Freunden floh die Familie erneut in den Iran, Ehsan aber setzte seine Flucht zusammen mit seinen Schwestern über die Türkei nach Griechenland fort und lernte dort den christlichen Glauben kennen. Er ließ sich taufen. Durch Vermittlung von Amnesty International konnte er in Deutschland einreisen, soll aber – obwohl er eine Arbeitsstelle hat – nach Afghanistan abgeschoben werden. Niemand in Afghanistan wisse von seinem Christsein, damit wäre seine Sicherheit gewährleistet. Ehsan jedoch fürchtet in seiner Heimat eine erneute Verfolgung. Das ist ein Beispiel für die besondere Situation muslimischer Flüchtlinge, die getauft werden möchten. Diese Menschen gehen mit der Taufe nicht nur ein hohes Lebensrisiko ein, denn bei Bekanntwerden zieht ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben wenn nicht die Todesstrafe, so doch schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen nach sich wie z. B. den Ausschluss vom Erbe, Vermögensverlust, Einschränkung der Rechtsfähigkeit z. B. in Bezug auf Vertragsabschlüsse, Auflösung der Ehe, wenn beide Partner sich vom islamischen Glauben trennen. Dieser Aspekt gehört unbedingt in die Taufvorbereitung, um dem Katechumenen eine klare, verantwortungsbewusste Entscheidung im Bewusstsein aller eventuellen Konsequenzen zu ermöglichen. Entsprechend dauert z. B. die Taufvorbereitung von Muslimen im Nahen Osten drei Jahre, in Deutschland mehrere Monate bis zu einem Jahr. 3. Und das Kirchenrecht? Was aber hat diese gesellschaftspolitische Situation mit dem Kirchenrecht zu tun? Gibt es zu dieser Problematik Antworten seitens des Kirchenrechts? Jedenfalls nicht direkt. Einige Normen im Taufrecht könnten allerdings weiterhelfen, z. B. c. 849 CIC/1983, die Aussage zur Heilsnotwendigkeit der Taufe: „Die Taufe ist die Eingangspforte zu den Sakramenten, ihr tatsächlicher Empfang oder wenigstens das Verlangen danach ist zum Heil notwendig“, oder zu den Erlaubtheitsvoraussetzungen in c. 865 § 1 CIC/1983: „Damit ein Erwachsener getauft werden kann, muss er den Wil-

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len zum Empfang der Taufe bekundet haben; er muss über die Glaubenswahrheiten und über die christlichen Pflichten hinreichend unterrichtet und durch den Katechumenat in der christlichen Lebensführung erprobt sein; er ist auch aufzufordern, seine Sünden zu bereuen.“ Hier wird eine Spannung zwischen den rechtlichen und theologischen Vorgaben erkennbar – Heilsnotwendigkeit versus Anforderungen an die notwendige Vorbereitung der Taufe –, die für die jeweilige Entscheidung einen Ermessensspielraum offenhält. Wenigstens das Verlangen nach der Taufe ist zum Heil notwendig. Ist das hilfreich? Dass Menschen, die gerne die Taufe empfangen würden, sich von Christus beschützt und auf ihrem Weg begleitet fühlen dürfen, obwohl sie wegen ihrer politischen und gesellschaftlichen Lebenssituation auf das äußere Zeichen der Taufe verzichten müssen und bislang verzichtet haben? Dieser Weg ist jedenfalls kirchenrechtlich nicht versperrt und betrifft letztlich die gesamte Tauftheologie. Der Gedanke an die Begierdetaufe kommt hier zum Tragen.11 Trotzdem wird es nach wie vor das Bedürfnis geben, sich deutlicher als nur innerlich von der bisherigen Religion des Islam abzuwenden und um die Taufe als Zeichen des Heils zu bitten und den christlichen Glauben damit auch nach außen hin zu bekennen. In diesem Fall besteht neben der Notwendigkeit zum Katechumenat mit allen spezifischen Implikationen ein Anspruch auf die Spendung der Taufe. Der Taufaufschub bis zur Erlangung des Asyls kann nur dann eine Möglichkeit sein, wenn der Taufbewerber dem ausdrücklich zustimmt. Notwendig ist in diesem Zusammenhang noch die Diskussion der Patenfrage. Gemäß c. 872 CIC/1983 soll – soweit es geschehen kann („quantum fieri potest“) dem erwachsenen Täufling ein Pate gegeben werden, der ihm bei der christlichen Initiation beisteht. Die Übernahme des Patenamtes setzt aufgrund der gestellten Aufgabe selbstverständlich voraus, dass die betreffende Person selbst katholisch ist: „er [der Pate] muss katholisch und gefirmt sein sowie das heiligste Sakrament der Eucharistie bereits empfangen haben; auch muss er ein Leben führen, das dem Glauben und dem zu übernehmenden Dienst entspricht“ (c. 874, 38 CIC/1983). Gerade in Bezug auf muslimische Taufbewerber ist diese Norm von besonderer Bedeutung, denn der Pate – immer mitgemeint die Patin – sollte nach Möglichkeit für den Taufbewerber sowohl vor als auch nach der Taufe eine wichtige Bezugsperson in puncto Glaubenswissen und Glaubensleben sein. In der seelsorglichen Praxis wird sich jedoch in Bezug auf die muslimischen Taufbewerber häufig die Frage stellen, inwiefern sie überhaupt in einem solchen Umfeld leben, dass sie einen katholischen Paten mit all den geforderten Voraussetzungen benennen können. Zwar ist auch eine Taufe ohne begleitenden Paten gültig, aber sicherlich pastoral gesehen in diesen Fällen nicht wünschenswert. Dieses Problem zu lösen, wird eine bleibende pastorale Frage sein. Der Ritus für die Taufen Erwachsener sieht eine volle Initiation mit Spendung von Taufe und Firmung sowie Empfang der hl. Kommunion vor. Der Priester, der den An11

Vgl. Theodor Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 19844, S. 96.

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trag stellt, den Katechumenen taufen zu dürfen, hat mit dem vom Diözesanbischof (per Spezialmandat auch vom Generalvikar und dessen Stellvertreter) erteilten Auftrag zur Taufe auch die Vollmacht zur Firmung (c. 883, 28 CIC/1983).12 Pastoral gesehen könnte es jedoch von Vorteil sein, das Sakrament der Firmung in den beschriebenen Situationen nicht unmittelbar mit der Taufe zu verbinden, sondern auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben und die Zwischenzeit für eine weitere Katechese zu nutzen. Dann aber ist der Taufspender nicht mehr zugleich der Firmspender, sondern in diesen Fällen ist ordentlicher Spender der Firmung der Bischof (Diözesanund Weihbischof) bzw. der ihm rechtlich Gleichgestellte (vgl. c. 368 CIC/1983).13 4. Der notwendige Schutz der Daten Gemäß c. 535 § 1 CIC/1983 muss in jeder Pfarrei neben anderen Kirchenbüchern ein Taufbuch vorhanden sein, c. 877 § 1 CIC/1983 schreibt die Eintragung der gespendeten Taufe durch den Pfarrer des Taufortes verbindlich vor. In den deutschen Diözesen besteht darüber hinaus aufgrund des Staat-Kirche Verhältnisses eine Meldepflicht in Bezug auf Taufe, Konversion und Rekonziliation an die staatlichen Behörden, insbesondere an das Einwohnermeldeamt (zwecks Eintragung des Konfessionsmerkmals) und die Finanzbehörde (zwecks Einzugs der Kirchensteuer). Insgesamt stellt sich diesbezüglich die Frage, ob und wie die Taufbucheinträge vor unerlaubter Weitergabe geschützt sind. So gibt es Fristen, ab wann ein Taufbuch eingesehen werden darf, und zwar nicht in der Pfarrei, sondern im jeweiligen Bistumsarchiv. Vor diesem Zeitpunkt können zwar Auszüge aus dem Taufbuch ausgestellt werden, es darf aber keine Einsicht gewährt werden. Die Taufscheine bzw. Auszüge aus dem Taufbuch dürfen nur auf Antrag der betreffenden Person ausgestellt werden, nicht auf Antrag eines Dritten. Damit soll der Datenschutz hinreichend gesichert sein. Diese Sicherung ist insbesondere bei Taufbewerbern, die vom Islam zum christlichen Glauben übertreten wollen, äußerst wichtig, deren Taufbucheinträge auch mit einem Sperrvermerk versehen werden könnten, der deutlich macht, dass nicht ohne weiteres ein Taufschein oder ein Auszug aus dem Taufbuch ausgestellt werden darf.

12 „Von Rechts wegen haben die Befugnis, die Firmung zu spenden: […] 28 für die betreffende Person der Priester, der kraft seines Amtes oder im Auftrag des Diözesanbischofs jemand, der dem Kindesalter entwachsen ist, tauft oder als bereits Getauften in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufnimmt“ (c. 883, 28 CIC/1983). 13 C. 882 CIC/1983: „Der ordentliche Spender der Firmung ist der Bischof; gültig spendet dieses Sakrament auch der Priester, der mit dieser Befugnis kraft allgemeinen Rechts oder durch besondere Verleihung der zuständigen Autorität ausgestattet ist“ sowie c. 883, 18: „Von Rechts wegen haben die Befugnis, die Firmung zu spenden: 18 innerhalb der Grenzen ihres Bereichs jene, die vom Recht dem Diözesanbischof gleichgestellt sind.“ C. 368: „Teilkirchen, in denen und aus denen die eine und einzige katholische Kirche besteht, sind vor allem die Diözesen, denen, falls nichts anderes feststeht, die Gebietsprälatur und die Gebietsabtei, das Apostolische Vikariat und die Apostolische Präfektur sowie die für dauernd errichtete Apostolische Administration gleichgestellt sind.“

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II. Die Aufnahme von orientalisch-katholischen und orthodoxen Christen in die lateinisch-katholische Kirche Als theologische Grundlage gelten diesbezüglich vor allem die Äußerungen der Konzilsväter des II. Vaticanum. So beginnt das Dekret über die katholischen Ostkirchen „Orientalium ecclesiarum“ mit dem Satz: „Die Einrichtungen, liturgischen Bräuche, kirchlichen Überlieferungen und die christliche Lebensordnung der Ostkirchen schätzt die katholische Kirche hoch. In ihnen leuchtet nämlich, da sie ja durch ehrwürdiges Alter ausgezeichnet sind, die Überlieferung auf, die von den Aposteln über die Väter vorliegt und die einen Teil des von Gott geoffenbarten und ungeteilten Erbes der gesamten Kirche darstellt“ (mit Verweis auf P. Leo XIII., Litt. Ap. „Orientalium dignitas“, 30. 11. 1894). Die Konzilsväter erkennen die Vielfalt der orientalischen Riten als eine „wunderbare Gemeinschaft“, als Vielfalt in der Einheit an, die bewahrt werden soll. Die katholisch orientalischen „ecclesiae sui iuris“ sind der pastoralen Führung des Römischen Bischofs und seinem Primat untergeordnet (OE 3). Das Eigenrecht aber soll weiterhin Bestand haben, und zwar sowohl in den westlichen, als auch in den östlichen Kirchen (OE 5). Das gilt in Bezug auf die östlichen Patriarchen, die Ordnung der Sakramente, die Feier des Gottesdienstes und die Ökumene mit den getrennten Kirchen der Orthodoxie. Die Eingliederung in eine orthodoxe oder eine katholisch orientalische Eigenkirche geschieht in Form der vollen Initiation durch Taufe, Firmung und Eucharistie. Trotzdem müssen in Bezug auf die Aufnahme in die lateinische Kirche einige Besonderheiten beachtet werden. So müssen orientalische Katholiken ihren Ritus wechseln, um in die lateinisch-katholische Kirche aufgenommen werden zu können. „Ritus“ meint hier nicht nur die Form der liturgischen Feier, sondern die gesamte Verfassung der ecclesia sui iuris, wie sie im Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen festgelegt ist. Dementsprechend wird der Rituswechsel durch die Normen des CCEO und das Motu proprio „De Concordia Inter Codices“ vom 31. Mai 2016 geregelt. Mit diesem Motu proprio sind Angleichungen zwischen dem lateinischen und dem ostkirchlichen Gesetzbuch vorgenommen worden, die den interrituelen Umgang miteinander regeln. @ Ab Vollendung des 14. Lebensjahres kann jeder Täufling frei wählen, welcher Rituskirche (ecclesia sui iuris) er angehören will (c. 30 CCEO). @ Niemand darf einen Christgläubigen zum Übertritt in eine andere Kirche sui iuris zwingen (c. 31 CCEO). @ Niemand kann ohne Zustimmung des Apostolischen Stuhls (d. h. der Orientalenkongregation) zu einer anderen Kirche sui iuris übertreten. @ Wenn es sich aber um einen Gläubigen einer Eparchie einer Kirche sui iuris handelt, so kann dieser zu einer Rituskirche, die einer anderen Eparchie untersteht, sich aber in demselben Territorium befindet, übertreten. Die Zustimmung des Apostolischen Stuhls wird präsumiert, aber die Bischöfe beider Eparchien müssen zustimmen (c. 32 § 2 CCEO).

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@ Während es bislang gemäß c. 33 CCEO bislang nur das Recht der Frau war, zur Rituskirche ihres Mannes überzutreten, und zwar im Zuge der Eheschließung oder auch danach, hat das Motu proprio „De Concordia Inter Codices“ vom 21. Mai 2016 diesbezüglich zu einer Anpassung an c. 112 § 1, 28 CIC/1983 geführt, so dass dieses Recht zum Rituswechsel ohne römische Genehmigung nun beiden Ehepartnern zusteht. Wird diese Ehe aber gelöst, sind beide Partner frei, zu ihrer ursprünglichen Rituskirche zurückzukehren. @ Wenn Eltern oder der katholische Partner einer konfessionsverschiedenen Ehe zu einer anderen ecclesia sui iuris übertreten, wird das unter 14-jährige Kind derselben Rituskirche zugeschrieben. Nach Vollendung des 14. Lebensjahres ist ein Übertritt zur ehemaligen Rituskirche möglich (c. 34 CCEO u. c. 112 § 1, 38 CIC/1983). @ Nicht katholisch Getaufte, die der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche zustimmen, behalten in der ganzen Welt den Ritus, den sie pflegen und nach Kräften bewahren und werden dementsprechend der ecclesia sui iuris desselben Ritus zugeschrieben (c. 35 CCEO, im CIC/1983 trotz der Anpassung nicht enthalten). @ Allein der über längere Zeit geübte Brauch, die Sakramente nach dem Ritus einer anderen ecclesia sui iuris zu empfangen, bringt nicht die Aufnahme in diese Kirche mit sich (c. 112 § 2 CIC/1983; Art. 2 MP „De concordia inter Codices“). @ Jeder Rituswechsel ist vom Moment der öffentlichen Verkündigung vor dem Ortsordinarius oder dem eigenen Pfarrer oder einem dazu von einem anderen delegierten Priester und zwei Zeugen rechtswirksam, es sei denn der Apostolische Stuhl hat etwas anderes bestimmt (Art. 3 MP „De concordia inter Codices“ i. V. m. c. 535 CIC/1983). @ Der Rituswechsel ist wie die anderen Angaben über den kirchlichen Status auch in die Taufbücher einzutragen (Art. 3 MP „De concordia inter Codices“ i. V. m. c. 535 CIC/1983). D. h.: Da orthodoxe Christen nicht der katholischen Kirche angehören, müssen sie, wenn sie lateinisch-katholisch werden wollen, zur katholischen Kirche konvertieren und den Ritus wechseln. Denn durch die Konversion werden sie gemäß c. 35 CCEO in die katholische Kirche desselben orientalischen Ritus aufgenommen, dem sie vor der Konversion angehörten. Der Rituswechsel ist entweder den oben angeführten Normen des CCEO entsprechend bei der Kongregation für die Orientalischen Kirchen zu beantragen oder ist mit der Genehmigung des Ortsordinarius zur Konversion gegeben.

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III. Schlussgedanken Kirchenrecht – Stütze und Hilfe für die Pastoral? Oder Machtinstrument und Konservativismus? Diese Frage kann man sich angesichts der geschilderten Schwierigkeiten stellen. Die aktuelle Flüchtlingsfrage, die Bitte von Muslimen um ihre Taufe, stellt ein Problem für die christlichen Kirchen dar. Da der CIC/1983 kein Recht auf die Taufe formuliert und den Empfang der Taufe an den persönlichen Glauben, das Glaubenswissen und die der Christus und der Kirche entsprechende Lebensführung bindet, bleibt diese Frage der jeweiligen Einzelsituation überlassen. Das Glaubenswissen kann und soll durch eine entsprechende katechumenale Vorbereitung in der zuständigen Pfarrei erworben werden. Ob aber die verlangte Intention und Disposition gegeben ist, wirklich katholischer Christ werden zu wollen, dürfte schwer erkennbar sein. Kaum einer, der sich nicht aus Glaubensgründen um die Taufe bemüht, wird seine echte Intention in Bezug z. B. auf den Asylantrag deutlich machen. Sollte er das doch tun, liegt ein genügender Grund vor, die Taufe auf den Zeitpunkt nach dem Asylbescheid zu verschieben, um eine aufrichtige Entscheidung zum Christwerden und -sein zu fördern. Aber eine grundsätzliche Unterstellung, dass jeder um die Taufe bittende Flüchtling diesen Schritt nur um seines Aufenthaltsrechtes willen gehe, ist auch unter Rücksichtnahme auf entsprechende Stellungnahmen der christlichen Kirchen sicher nicht angemessen. In Bezug auf die Konversion orthodoxer Christen und die Aufnahme katholischer Ostchristen in die lateinisch-katholische Kirche ist im Blick zu behalten, welche Rituskirchen bzw. orthodoxe Kirchen mittlerweile in Deutschland vertreten sind.14 Denn auf diesem Hintergrund kann vermieden werden, dass ostkirchliche katholische Christen oder auch Angehörige der orthodoxen Kirche zur lateinisch-katholischen Kirche übertreten, um überhaupt Zugang zu den Sakramenten zu bekommen. Dabei wäre weder der Rituswechsel noch die Konversion notwendig, um zu den Sakramenten, wie sie nach lateinischem Ritus gespendet werden, Zutritt zu haben, denn in c. 844 § 3 CIC/1983 ist diese Erlaubnis für die orthodoxen Christen, die darum bitten, gegeben. Schließlich sei auf das oberste Gebot der Kirche: salus animarum lex – das Heil der Seelen ist das allen anderen Normen vorangehende Gesetz – verwiesen. Das ist meines Erachtens eine Aufforderung, nicht restriktiv, sondern unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelsituation die Gesetze anzuwenden. Dazu passt auch eine Äußerung von Franziskus in dem Apostolischen Schreiben „Amoris Laetita“: „Es ist wahr, dass die allgemeinen Normen ein Gut darstellen, das man niemals außer Acht lassen oder vernachlässigen darf, doch in ihren Formulierungen können

14 Einen Überblick kann man mit der Broschüre der DBK Christen aus dem Orient. Orientierung über christliche Kirchen im Nahen Osten und Nordafrika und die pastorale Begleitung ihrer Gläubigen in Deutschland, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 283), Bonn 2016 gewinnen.

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sie unmöglich alle Sondersituationen umfassen.“15 Dieser Satz bezieht sich auf den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, aber es ist wohl keine Fehlinterpretation, ihn als eine allgemeine Ermahnung anzusehen, was die Suche nach Recht und Gerechtigkeit anbelangt.

15 Franziskus, Adh. Ap. „Amoris laetitia“ (19. 03. 2016), in: AAS 108 (2016), S. 311 – 446 (dt.: VApSt 204), Nr. 304.

„Wir haben genügend Priester. Nur, wir weihen sie nicht.“1 Für mutige Vorstöße in der Zulassungsfrage zum amtlichen Priestertum Von Andreas Weiß

I. Einleitung Jüngst hat der mit dieser Festschrift zu Ehrende in einem Artikel über den Diakonat2 unter anderem zur „Zölibatspflicht der Kleriker“ geschrieben. Wenn der Jubilar sich dort auch überwiegend mit dem Verbot zum Eingehen einer Ehe für den Ständigen Diakon3 befasst hat, so kommt er nicht umhin, auf der Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils und c. 277 § 1 CIC/1983 ein Auge auch auf den Zölibat der Priester in der lateinischen Kirche4 zu werfen. Die dortigen Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für diese Zeilen, die sich auf die römisch-katholische Kirche5 in Deutschland beschränken. 1

Ein Wort Karl Rahners, zitiert nach: Erwin Teufel, Ehe alles zu spät ist, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 2013, S. 46. Zur Thematik auch ders., „Wir haben genügend Priester. Nur, wir weihen sie nicht“. Zur Diskussion um die Viri probati, in: AnzSS 9/2013, S. 32 – 35. 2 Ludger Müller, Der Diakonat – eine oftmals übersehene Weihestufe im CIC/1983. Zugleich ein Beitrag zum ius semper reformandum, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), Paderborn 2016, S. 149 – 165. 3 Wenn folgend der Begriff Diakon verwendet wird, ist damit stets der diaconus permanens gemeint und nicht der Diakon als Durchgangsstufe und Ausbildungsstadium zur Priesterweihe. 4 Die Literatur zur Entstehung des Zölibates und seiner Bedeutung für das Priesteramt in der lateinischen Westkirche ist beinahe unüberschaubar und kann hier nur begrenzt berücksichtigt werden. 5 In den katholischen Ostkirchen wird die Ehelosigkeit nur für Bischöfe verlangt (c. 180, 38 CCEO); c. 373 CCEO kennt die zölibatäre Lebensform für Kleriker und unterstreicht wegen ihrer endzeitlichen Zeichenhaftigkeit („um des Himmelreiches willen gewählt“) deren Hochschätzung nach der Tradition der universalen Kirche als „dem Priestertum sehr angemessen“. Im gleichen Canon wird jedoch im Satz 2 ebenso betont, dass der Stand (!) der verheirateten Kleriker in Ehren zu halten ist, „der in der Praxis der jungen Kirche und der orientalischen Kirchen durch die Jahrhunderte bestätigt ist“ (Urkirche und Tradition als Begründungslinien). Nach c. 758 § 3 CCEO kann die Priesterweihe auch verheirateten Diakonen erteilt werden; vgl. Thomas McGovern, Der Zölibat in der Ostkirche, in: FKTh 14 (1998),

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Als zweite Hintergrundfolie dienen das Memorandum zur Frage neuer Zugangswege ins Kirchliche Amt mit dem Titel „Zeit zum Handeln“, das die Initiative pro concilio e. V. am 12. Dezember 2016 verabschiedet und am 09. Januar 2017 veröffentlicht6 hat. Und ebenso der Brief der elf Priester des Weihejahrgangs 1967 der Erzdiözese Köln, mit dem diese tags darauf sich an Klerus und Öffentlichkeit wandten und ihre sieben Reformvorschläge7 als Wegweiser in die Zukunft der Kirche bei uns unterbreiteten. Der Beitrag will zugleich an das „Memorandum zur Zölibatsdiskussion“ vom 09. Februar 19708 erinnern, das damals neun namhafte Professoren der Theologie unterzeichnet haben, allesamt Berater der „Kommission für Fragen des Glaubensund der Sittenlehre“ der DBK, unter ihnen Alfons Deissler, Karl Rahner, Rudolf Schnackenburg und Otto Semmelroth sowie die heutigen Kardinäle Walter Kasper, Karl Lehmann und Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. Sie wandten sich vertraulich9 an die Diözesanbischöfe der damaligen BRD und erbaten eine ergebnisoffene Überprüfung der Zölibatsfrage, ein Unterfangen, von dem sich die Bischöfe heute „weder durch die bisherige Praxis der Kirche noch durch die Erklärungen des Papstes“10 und – so darf man hinzufügen – auch nicht durch Äußerungen von Kardinälen oder Dikasterien der Römischen Kurie als dispensiert betrachten dürfen. Das Thema ist also gewiss nicht neu, aber keinen Millimeter auf der Entscheidungsebene der Bischöfe vorangekommen.

II. Ehelosigkeit 1. als Charisma Es kann und soll bei den folgenden Überlegungen nur darum gehen, die verpflichtende Auferlegung des Zölibats via Gesetz zu überprüfen, nicht aber seine freie Wahl aufgrund eines geschenkten Charismas und damit die Bedeutsamkeit der zölibatären Lebensform an sich infrage zu stellen. Das gebietet schon der Respekt vor den großen S. 99 – 123; Felix Dillier, Warum verheiratete Priester? Begründung und Erfahrungen der ostkirchlichen Praxis, St. Ottilien 2001. 6 Das Memorandum „Zeit zum Handeln“ der Initiative pro concilio e. V. ist unter www.proconcilio.de (Stand: 16. 01. 2017) einsehbar. 7 Der „offene Brief“ unter dem Titel „Sieben Wegweiser für die Zukunft“ ist auf der Homepage des Kölner Domradios dokumentiert (online verfügbar unter: https://www.domra dio.de/themen/erzbistum-koeln/2017 - 01 - 10/der-brief-der-priester-des-weihejahrgangs-1967im-wortlaut [Stand: 13. 01. 2017]). 8 Memorandum zur Zölibatsdiskussion, in: Orientierung 34 (1970), S. 69 – 72 (online verfügbar unter: http://www.orientierung.ch/pdf/1970/JG%2034_HEFT%2006 – 07_DATUM% 2019700331.PDF [Stand: 20. 12. 2016]). 9 Am 06. 02. 1970, also drei Tage vorher, waren 84 Professoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit einem Aufruf zur Zölibatsfrage an die Öffentlichkeit getreten. 10 Memorandum zur Zölibatsdiskussion 1970 (Anm. 8), S. 72.

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Verdiensten vieler Priester und Bischöfe und weniger Diakone in Vergangenheit und Gegenwart, die unter dem Verzicht auf eigene Ehe und Familie erfolgten und dankbar anzuerkennen11 sind. „Die von einer tiefen Befähigung (sprich einem Charisma) getragene, freiwillig gewählte und schöpferisch gelebte Ehelosigkeit ist und bleibt eine wichtige, womöglich sehr zeichenhafte Form christlichen Lebens!“12 Dies bestätigen zweifelsohne die Ordensleute und Eremiten, in deren Tradition der freiwillige Verzicht auf Ehe und die geschlechtliche Enthaltsamkeit als starkes eschatologisches Zeichen originär beheimatet ist. Mit Recht unterstreicht daher das Memorandum von pro concilio: „Der charismatische Zölibat ist und bleibt eine wesentliche Lebensform für das Priestertum in unserer Kirche.“13 Für den zölibatären Kleriker besitzt diese Lebensform freilich nur dann Potenzial für sein Leben und Wirken, wenn sie nicht als Last erlebt wird, nicht in eine elitär-kastenmäßige Sonderstellung samt ihrem Standesdünkel und auch nicht aus Angst vor Intimität in eine „pseudospirituelle Isolation“14, sondern wenn sie christliche Lebenskunst einladend ausstrahlt und „kommunikative Existenz und Praxis“15 fördert. 2. als Pflicht Der Zölibat begegnet in der lateinischen Westkirche in der Form einer gesetzlichen Verpflichtung für alle Kleriker. C. 277 § 1 CIC/1983 lautet: „Clerici obligatione tenentur servandi perfectam perpetuamque propter Regnum coelorum continentiam, ideoque ad coelibatum adstringuntur, quod est peculiare Dei donum, quo quidem sacri ministri indiviso corde Christo facilius adhaerere possunt atque Dei hominumque servitio liberius sese dedicare valent.“16

Das Zweite Vatikanische Konzil hatte in Nr. 16 Abs. 3 des Dekrets über Dienst und Leben der Priester „Presbyterorum ordinis“ die Zölibatspflicht für jene bekräftigt, „die zum Priestertum ausersehen sind“; außerdem hatte es in Nr. 29 Abs. 2 der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ verfügt, dass „verheiratete Männer reiferen Alters“ zur Diakonenweihe zugelassen werden können, ebenso „geeignete junge Männer, für die jedoch das Gesetz des Zölibats in Kraft bleiben muss.“17 Das bedeu11

Initiative pro concilio, Zeit zum Handeln (Anm. 6), S. 11. Hanspeter Schmitt, Charisma als Pflicht? Zur Ambivalenz der Zölibatsnorm, in: MThZ 62 (2011), S. 278 – 287, hier S. 280. 13 Initiative pro concilio, Zeit zum Handeln (Anm. 6), S. 11. 14 Schmitt, Charisma (Anm. 12), S. 282. 15 Schmitt, Charisma (Anm. 12), S. 282. 16 Dt.: „Die Kleriker sind gehalten, vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen zu wahren; deshalb sind sie zum Zölibat verpflichtet, der eine besondere Gabe Gottes ist, durch welche die geistlichen Amtsträger leichter mit ungeteiltem Herzen Christus anhangen und sich freier dem Dienst an Gott und den Menschen widmen können.“ 17 Eine Begründung für die Zölibatspflicht der Diakone wird nicht gegeben; ähnlich lapidar Paul VI., MP „Sacrum diaconatus ordinem“ (18. 06. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 697 – 704, 12

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tet: Das geltende Gesetzbuch verlangt mehr als das letzte Konzil, es bindet in c. 277 § 1 CIC/1983 alle Kleriker ohne Ausnahme an die Zölibatsverpflichtung, also auch die verheirateten Diakone18 und alle, die als Verheiratete zu Priestern19 geweiht werden. Die Zölibatspflicht entsteht nicht aus dem Versprechensakt in der Weiheliturgie dem Bischof gegenüber, „sondern durch Gesetz, und zwar mit der Diakonenweihe und von da an.“20 Konsequenz daraus: Dann gilt sie generell auch für verheiratete Diakone und für zölibatäre selbst in dem Fall, falls die Ablegung des Zölibatversprechens im Weihegottesdienst vergessen worden ist. Die als Verheiratete geweihten Diakone und Priester sind nur von der Einlösung der „vollkommenen und ständigen Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen“ entbunden, solange ihre Ehe besteht.21 Und obgleich es sich materialiter um ein Versprechen handelt – so Überschrift und Wortlaut im Rituale –, stellt die Verletzung der Zölibatspflicht keinen Bruch des früher gegebenen Versprechens dar, sondern eine als Gesetzesverletzung in der Regel zu ahndende Straftat. In der Entwicklung der Rechtsnormen für den Diakonat kann man an drei Beobachtungen ablesen, wie ernsthaft die Bemühungen zur Behauptung der Zölibatspflicht bis heute sind. Zum einen lässt sich dies aus der Streichung des c. 279 § 2 Schema CIC 1982 erkennen, worauf der Jubilar mit Recht verweist22. Denn bis zur päpstlichen Schlussredaktion des CIC/1983 hatte dieser Paragraph ausdrücklich festgehalten, dass für verheiratete Diakonatsbewerber die in § 1 der Norm stehende Verpflichtung zum Zölibat nicht gelten soll. Bereits 1972 war freilich schon in der zweiten Textfassung die Ausnahmeregelung des § 2 durch die Hinzufügung eingeII, 4; c. 1037 CIC/1983. In der Codex-Reformkommission wurde konsequenterweise der Vorschlag abgelehnt, unverheirateten Männern nach Erhalt der Diakonenweihe eine Eheschließung zu gestatten (Com 16 [1984], S. 174). 18 Dass Verheiratete zum Diakonat zugelassen und geweiht werden, lässt sich im CIC/1983 nur indirekt erschließen. Die Möglichkeit wird im zweiten Satzteil des c. 1031 § 2 CIC/1983 erwähnt, der das Zugangsalter zum Diakonat regelt, sowie (noch verschämter) im Relativsatz des c. 236, 28 CIC/1983, der sich mit Ausbildungsfragen des am letzten Konzil wiederbelebten Weiheamtes befasst. Weitere Fundstellen sind c. 281 § 3 CIC/1983 (Unterhalt und Versorgung) sowie c. 1037 CIC/1983 (Zölibatsversprechen eines Diakonatsbewerbers, „qui non sit uxoratus“) und c. 1042, 18 CIC/1983 (bestehende Ehe als Weihehindernis). 19 Z. B. verheiratete anglikanische, lutherische oder altkatholische Priester, die zur katholischen Kirche konvertieren und eine Dispens vom Zölibat erhalten, um das Weihesakrament empfangen zu können. Diese Ausnahmen erfolgen seit 1951. 20 Heinrich J. F. Reinhardt, c. 277, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: November 1996). 21 Elisabeth A. Kandler-Mayr, Wiederheirat eines verwitweten Diakons. Überlegungen zur impliziten Zölibatsbindung, in: Richard Hartmann/Franz Reger/Stefan Sander (Hrsg.), Ortsbestimmungen: Der Diakonat als kirchlicher Dienst, Frankfurt a. M. 2009 (= Fuldaer Studien 11), S. 161 – 169, hier S. 169 spricht von „impliziter Zölibatsbindung“. Der rechtliche Unterschied zwischen den beiden Gruppen verheirateter Geistlicher besteht darin, dass die verheirateten Diakonatsbewerber qua gesetzlicher Regelung zur Weihe zugelassen werden können, die verheirateten Kandidaten für die Priesterweihe hingegen dazu eine Zölibatsdispens des Papstes benötigen. 22 Müller, Diakonat (Anm. 2), S. 152.

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schränkt worden: „[…] qui tamen et ipsi, amissa uxore, ad coelibatum servandum tenentur.“23 Nach dem Tod der Ehefrau müssen demgemäß auch zuvor verheiratete Diakone den Zölibat einhalten. Zum anderen ergibt sich beim verheirateten Diakon die rechtliche Bindung an den Zölibat indirekt aus dem diesen flankierend schützenden Ehehindernis der Weihe nach c. 1087 CIC/1983. „Nach dem Empfang der Weihe sind die Diakone […] kraft traditioneller Kirchendisziplin zu einer Eheschließung unfähig.“24 Auch hier wurde in der Schlussredaktion des CIC/1983 unter Vorsitz des Papstes die vorgesehene gesetzliche Freistellung25 der Diakone durch die Streichung des § 2 der Norm des Schema CIC 1982 verworfen, für die in der Congregatio Plenaria 1981 noch 38 von 56 stimmberechtigten Mitgliedern votiert hatten. Für diese de iure zölibatären Diakone meldet Ludger Müller mit Fug und Recht einen Vorbehalt gegen die kodikarische Verpflichtung zur Ehelosigkeit26 an: Bei einem verheirateten Diakon könne – so bereits Winfried Aymans – „nicht davon ausgegangen werden, dass die ihm durch die Umstände auferlegte Ehelosigkeit die göttliche Gabe des Zölibats einschließt.“27 Dieser Diakon hatte ja seine Gründe, die zölibatäre Lebensweise nicht zu wählen: Ihm fehlt das Charisma28 dazu. Deshalb ist, solange am Ehehindernis der Weihe für verwitwete Diakone festgehalten wird, eine großzügige Dispenspraxis angesagt, „die der besonderen Berufung des verheirateten Diakons wie auch den Problemen des täglichen Lebens des verwitweten Diakons entspricht.“29 Und drittens: Von der Verpflichtung zur Einhaltung des Zölibats kann nur der Papst befreien – so hoch liegt die Messlatte! 23

Com 24 (1992), S. 296. Paul VI., MP „Sacrum diaconatus ordinem“ (Anm. 17), III, 16. 25 Die durch ein Rundschreiben der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vom 06. 06. 1997 an die Diözesanbischöfe und die Generaloberen der Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens eingeräumte Dispensmöglichkeit (Prot.N. 263/97, unverändert abgedruckt in: Enchiridion Vaticanum, Documenti ufficiali della Santa Sede, 16. Bd., Bologna 1999, S. 448 – 453) wurde von demselben Dikasterium mit Schreiben vom 13. 07. 2005 (Prot.N. 1080/05; Zfsg. in: Notitiae 46 [2009], S. 107 f.) durch den Wegfall des dritten Dispensgrundes (pflegebedürftige Eltern oder Schwiegereltern) und die Koppelung der beiden anderen Dispensgründe des vom Bischof attestierten „großen pastoralen Nutzens“ des Dienstes als Diakon und der „Sorge für minderjährige Kinder“ auf Anordnung von Papst Benedikt XVI. hin (Schreiben vom 07. 07. 2005) deutlich eingeschränkt. 26 Müller, Diakonat (Anm. 2), S. 152. Müller weist die Aporien der Zölibatspflicht für verwitwete Diakone überzeugend auf. Zur Problematik ebenso Kandler-Mayr, Wiederheirat (Anm. 21) mit weiterer Lit. 27 Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 158. 28 C InstCath/C Cler, Grundnormen für die Ausbildung der Ständigen Diakone (22. 02. 1998), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= VApSt 132), Bonn 1998, S. 21 – 66 unterstreichen jedoch im Hinblick auf die Zölibatspflicht: Diese ist „ein dem heiligen Dienst besonders angemessenes Gesetz, unter das sich freien Willens jene stellen, die das Charisma dazu empfangen haben.“ (S. 42). 29 Müller, Diakonat (Anm. 2), S. 154. Angeblich soll Papst Franziskus die zuständige Kongregation angewiesen haben, ihm keine Anträge von Diakonen auf Dispens vom Wiederverheiratungsverbot mehr vorzulegen. 24

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3. Charisma als Pflicht? Ist es aber legitim, das Charisma des Zölibats zur conditio sine qua non der Weihezulassung nichtverheirateter Diakone und Priester zu machen? Die Reflexion dieser Frage ist nicht nur in der Systematischen Theologie zu erörtern, sondern ebenso auf dem Boden heutiger Pastoralerfahrungen, und sie ist überaus dringlich. Im Frühjahr 2016 erklärte Prälat Hartmut Niehaus, Regens des Priesterseminars in Münster und Vorsitzender der Deutschen Regentenkonferenz: „Das System, wie es bisher besteht, ist am Ende und die Zahl der Priesteramtskandidaten ist quasi an der Nulllinie angekommen.“30 Wegen des Zölibats wagen junge Theologen heute mehr denn je nicht, ihrer Berufung zu folgen. Und nicht wenige Priester geraten unter anderem wegen der Konsequenzen der Zölibatsverpflichtung in große persönliche Schwierigkeiten, vereinsamen zusehends, zerbrechen infolge des Leidensdrucks innerlich und scheitern am Priesteramt. Man muss kein Prophet sein um zu erkennen: Aufgrund der in den kommenden Jahren voraussichtlich nicht deutlich zunehmenden Zahl an Neupriestern wird sich die Personalsituation in den Gemeinden vor Ort noch verschärfen, womöglich mitunter dramatische Ausmaße annehmen. Bloße Durchhalteparolen helfen nicht weiter. Es wäre vielmehr angesagt, dass die Bischöfe angesichts dieser Entwicklung ihrer Hirtenverantwortung entsprechend der Realität unverblümt ins Angesicht schauen und beherzte Schritte31 wagen. „Wir brauchen dringend mutige Vorstöße in der Zulassungsfrage zu den Weiheämtern“, so mahnen die Kölner Priester in ihrem offenen Brief. Und Papst Franziskus erwartet „kühne Vorschläge“ zum Umgang mit dem Priestermangel von den Bischofskonferenzen, die eine Änderung für ihr Territorium herbeiführen wollen, wie er Bischof Erwin Kräutler am 04. April 2014 in einer Privataudienz32 wissen ließ. Dazu müsste die Diskussion in der dogmatisch nicht verminten Frage des Zölibats ohne Denk- und Redeverbote auch auf Bischofsebene endlich begonnen werden. Und was geschieht dort? Nichts! Unsere Bischöfe schweigen, auf die Tagesordnung von Gremien kommt die Thematik nicht bzw. sie soll/darf dort nicht auftauchen. Die Kirchenleitungen lassen die Seelsorge sehenden Auges zusammenbrechen. Die Zölibatsfrage ist in c. 277 § 1 CIC/1983 keinesfalls endgültig geklärt und entschieden, sie stellt vielmehr eine Materie des ius semper reformandum dar. Auch Bischöfe33 räumen mitunter ein, dass sie sich eine Modifikation vorstellen könnten. 30

Interview vom 17. 04. 2016, in: Kirche + Leben. Bistumszeitung Münster; vgl. dazu den Bericht im Katholischen Sonntagsblatt der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Ausg. 18/2016. 31 Die Lösung kann nicht in immer noch größeren Einheiten liegen, weil das die ohnehin überlasteten Pfarrer und Seelsorger/innen noch mehr überfordern würde. 32 http://plattformbelomonte.blogspot.de/2014/04/bischof-krautler-bei-papst-franziskus.html (Stand: 28. 12. 2016). 33 Der argentinische Bischof Sergio Buenanueva hat anlässlich des Verlustes in seiner Diözese San Francisco in Cordoba von gleich vier Priestern im Jahr 2016, die wegen Liebesbeziehungen ihr Amt aufgegeben haben, zu einer Debatte über die Zukunft des Zölibats aufgerufen. Er sei sich sicher, dass es irgendwann möglich sein werde, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen (Katholisches Sonntagsblatt Rottenburg-Stuttgart Nr. 51/52 vom 18./25. 12. 2016, S. 8). Norbert Brun-

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Sogar Kardinäle34 pflichten vereinzelt bei. Allen voran sei der derzeitige Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zitiert: Der Zölibat ist nach ihm „nicht exklusiv, wie das Zweite Vatikanische Konzil in Presbyterorum ordinis sagte, indem es erklärte, dass er ,nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert [ist], wie die Praxis der frühesten Kirche und die Tradition der Ostkirchen zeigt, wo es neben solchen, die aus gnadenhafter Berufung zusammen mit allen Bischöfen das ehelose Leben erwählen, auch hochverdiente Priester im Ehestand gibt‘.“35 Nicht nur aus dieser Äußerung wird klar ersichtlich, dass der Zölibat das Wesen der priesterlichen Berufung nicht tangiert. Welche Gründe werden dann für den Pflichtcharakter des Zölibats ins Feld geführt? Es sind zum einen biblisch verankerte Argumentationsketten: Jesus selbst habe ehelos gelebt, in Mt 19,11 f. die Ehelosigkeit „um des Himmelreiches willen“ empfohlen und damit eine zölibatär geprägte Amtsentwicklung der Kirche angestoßen. Gewiss! Daneben ist aber auch dreierlei festzuhalten: Die Berufung ins Amt bedeutete nicht die Trennung von Frau und Kindern, wie das Beispiel des Petrus als verheirateter Apostel nach biblischem Befund belegt. Und Paulus empfiehlt in 1 Kor 7 die Ehelosigkeit für alle Christen, also nicht aus amtstheologischen Motiven. Dabei dürfte die Naherwartung der Wiederkunft Christi eine nicht unerhebliche ner, bis Juli 2014 Bischof von Sitten/Schweiz, sagte: „Ich halte es für möglich, den Pflichtzölibat für Priester abzuschaffen. Denn es gibt keine Wesens-Verbindung zwischen dem Zölibat und dem Priestertum. Als eine mögliche Lebensform für Priester muss der Zölibat zwar bestehen bleiben – als ein besonders starkes Zeichen der Nachfolge Christi. In der Geschichte der Kirche wurde der Zölibat von Beginn weg als die privilegierte Form des priesterlichen Seins betrachtet. Daneben sollte es aber auch die Möglichkeit geben, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen.“, in: „Den Pflichtzölibat abschaffen“. Interview vom 29.11. 2009 (in: http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/ den_pflichtzoelibat_abschaffen_1.4078224.html [Stand: 29. 12.2016]); Interview mit Bischof Felix Gmür (Basel/Schweiz), in: http://www.videoportalsf.tv/video?id=159c710ceec547c3-a6cd8a7c88155bfd (Stand: 29. 12. 2016); „Ackermann will über Zölibat sprechen“. Anzeige vom 14. 02. 2011, in: http://www.saarbruecker-zeitung.de/aufmacher/lokalnews/Trier-Mainz-Ackermann-Zoeli bat-Kirche-verheiratete-Priester;art27857,3633751 (Stand: 28. 12. 2016). 34 Z. B. zeigte Christoph Kardinal Schönborn nach einer Meldung vom 17. 05. 2010 Verständnis für den vor der Pension stehenden Eisenstädter Bischof Paul Iby, der den Pflichtzölibat infrage gestellt hatte. „Die Sorgen, die Bischof Iby hier zum Ausdruck gebracht hat, sind unser aller Sorgen.“ Bischof Iby hatte gemeint, dass die Aufhebung des Pflichtzölibats für die Weltpriester sicher eine Erleichterung wäre; in: http://derstandard.at/1271376820918/Schoen born-fuer-Debatte-ueber-Pflichtzoelibat (Stand: 20. 12. 2016). Manuel Kardinal Clemente, Patriarch von Lissabon, forderte hinsichtlich der von Rom anerkannten Disziplin in den katholischen Ostkirchen einen ehrlicheren Umgang mit dem Thema Ehelosigkeit der Priester (Die Zölibats-Täuschung in der Weltkirche, in: CiG 68 [2016], S. 490). 35 http://www.katholisches.info/2016/02/10/priesterzoelibat-nach-dem-vorbild-christi-kardi nalstaatssekretaer-man-kann-darueber-reden-aber-ohne-eile/ (Stand: 21. 12. 2016). Karl Kardinal Lehmann, emeritierter Bischof der Diözese Mainz, mahnte jüngst die Bischöfe zu mehr Beweglichkeit und nannte als Beispiel ausdrücklich u. a. den Zölibat. „Franziskus will, dass wir neue Wege erkunden. Manchmal muss man nicht erst darauf warten, bis sich der ganze große Tanker bewegt. […] Was hindert uns daran, verheiratete Ständige Diakone auch zu weihen, damit sie priesterliche Dienste übernehmen können?“, in: Katholisches Sonntagsblatt Rottenburg-Stuttgart, Nr. 47 vom 20. 11. 2016.

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Rolle gespielt haben. Und schließlich sind in den frühchristlichen Gemeinden verheiratete Amtsträger eher der Normalfall (1 Tim 3,1 ff.; Tit 1,5 ff.). Eine zeitlos bindende Pflicht zur Ehelosigkeit für kirchliche Amtsträger lässt sich jedenfalls aus dem biblischen Befund nicht konsistent herleiten.36 Die zweite Argumentationsschiene pro Zölibat ist systematischer Art: Der Zölibat entspreche der Ganzhingabe an Christus, sei dem Dienst als Priester im Hinblick auf dessen kirchlich-pastorale Verfügbarkeit „wesensgemäß“37, wenn auch nicht wesensnotwendig. Dass die charismatisch gelebte Ehelosigkeit eine wertvolle Grundform priesterlicher Existenz sein kann und theologisch wie kirchlich bedeutsam ist, wird niemand ernsthaft in Abrede stellen können. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zölibat an sich nicht zum normativen Wesen weltpriesterlicher Existenz gehört. Der Priesterberuf kann sich auf der Basis einer ehelichen Liebe genauso zeichenhaft entfalten wie auf der Basis einer verantworteten Entscheidung für den Zölibat, die sich aus einem Charisma speist und so zum Segen wird. Es ist ein Gebot der Redlichkeit, die in den katholischen Ostkirchen – wie in der Orthodoxie – überwiegend verheiratet anzutreffenden Priester nicht nur nicht zu verschweigen, sondern die Priesterehe als eine von zwei frei wählbaren und gleichwertigen Alternativen38 priesterlicher Lebensform auch in der Westkirche bereit zu stellen. „Was grundsätzlich möglich ist, kann nicht grundsätzlich unmöglich sein.“39 Bestes Beispiel hierfür sind in der lateinischen Kirche die konvertierten ehemals altkatholischen, protestantischen oder anglikanischen Pfarrer, die als zugestandene Ausnahme ihre Ehe fortsetzen dürfen. Mit dem Zölibat fällt keinesfalls die Zeichenhaftigkeit des Priestertums. Warum erhebt die Westkirche dann den Zölibat zur generellen Zulassungsvoraussetzung für die Priesterweihe und zwingt so auch diejenigen zur Ehelosigkeit, die dieses Charisma nicht haben? Aber das tut sie doch gar nicht, werden andere entgegnen. Jeder Priesteramtskandidat der lateinischen Kirche leiste das Zölibatsversprechen schließlich freiwillig, ein Vorgang, der wie das Eheversprechen eine lebenslange Verpflichtung mit sich bringe. Von Nötigung könne man nicht sprechen. Oder vielleicht doch? Wird die zölibatäre Lebensform nicht oft „um des Berufes willen angenommen, aber nicht gewählt“?40 Und müssen nicht bindende Versprechen wegen der sich daraus ergebenden Verpflichtungen theologisch-ethisch begründet sein? Dieser zuletzt genannten Anforderung genügt die Zölibatsnorm nicht. Es ist nämlich nicht opportun, rechtlich von Amts wegen aufzuerlegen, was nicht zwingend dem Wesen des Priesteramtes entspricht und oft keine spirituelle Quelle in 36

Vgl. dazu überzeugend Schmitt, Charisma (Anm. 12), S. 284 f. So Kurt Koch noch als Bischof von Basel, in: Pfarreiforum St. Gallen 10/2005, S. 3. 38 Wer behauptet, dass mit der Entkoppelung von Ehelosigkeit und Zulassung zum Priesteramt das zölibatäre Priestertum „aussterben“ würde, scheint wenig Vertrauen in das Charisma zu haben, das den Zölibat trägt. 39 Oft gefallene Aussage von Karl-August Fink in dessen Vorlesung, zitiert nach Michael Broch, Liebe ist teilbar. Morgenansprache in SWR 4 am 16. 03. 2016 zum Thema Zölibat. 40 Kölner Priester, Sieben Wegweiser (Anm. 7), S. 2. 37

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der Seelsorge erschließt. Theologie und Praxis der katholischen Ostkirchen zeigen klar auf, dass die Ehelosigkeit nicht dergestalt unabdingbar sein kann, dass an ihrer Nichtakzeptanz eine priesterliche Berufung scheitern muss bzw. überhaupt daran zu messen ist. Und ist es zu verantworten, dass – auch wegen des Zölibats – ein Priester Gefahr läuft, an seinem Amt als Mensch und Christ aufgrund fruchtloser Vereinsamung oder hilfloser Arbeitshetze Schaden zu nehmen oder in ihm gar zu zerbrechen? Abschließend sei ein Argument in den Blick genommen, das aufgrund seiner Wichtigkeit alle anderen überragt: Darf die Gewährleistung der sonntäglichen Eucharistiefeier als zentraler Vollzug des christlichen Lebens durch eine sekundäre, weil theologisch und damit auch rechtlich nicht unbedingt erforderliche Norm behindert, ja vielleicht sogar verunmöglicht werden – der Zölibatspflicht? Im Katalog der Rechte aller Christgläubigen ist denselben in c. 213 CIC/1983 das Grundrecht auf die Feier der Sakramente und die Verkündigung des Wortes Gottes garantiert: „Ius est christifidelibus ut ex spiritualibus Ecclesiae bonis, praesertim ex verbo Dei et sacramentis, adiumenta a sacris pastoribus accipiant.“41 Dieses grundlegende Christenrecht umfasst insbesondere die Feier der Eucharistie, die in c. 897 CIC/1983 als „Gipfelpunkt und Quelle“ des gesamten christlichen Lebens42 bezeichnet wird. Daraus leitet sich als Konsequenz das sog. Sonntagsgebot ab, die in c. 1247 CIC/1983 gesatzte Verpflichtung der Gläubigen, am Sonntag und den gebotenen Feiertagen an einer Messe teilzunehmen. In c. 1248 § 2 CIC/1983 wird jedoch der Fall eingeräumt, dass unter anderem „wegen Fehlens eines geistlichen Amtsträgers […] die Teilnahme an einer Eucharistiefeier unmöglich ist“, wobei den Gläubigen dann Ersatzmaßnahmen „sehr empfohlen“ werden. Wenn freilich die Feier der Eucharistie ein Wesensvollzug der Kirche ist, dann ergibt sich daraus zwingend die Verpflichtung des Bischofs, alles dafür zu tun, dass eine solche pastorale Notsituation nicht oder, wenn schon nicht zu vermeiden, möglichst selten in seiner Diözese entsteht. Bei der gegenwärtigen Entwicklung der Zahl der Priesteramtskandidaten und der gegebenen Überalterung der in Deutschland zur Verfügung stehenden Priester wird jedoch das Gegenteil eintreten. Solche Fälle werden zunehmen. Wer als verantwortlicher Diözesanbischof in dieser Situation nicht bereit ist, neue Zulassungsbedingungen zum Priesteramt ernsthaft zu überlegen, der sollte vorsichtig sein, von „schweren Sünden“ zu reden, wo Gläubige der Sonntagspflicht nicht genügen. Im Hinblick auf die salus animarum als dem nach c. 1752 CIC/1983 höchsten Ziel allen (rechtlichen)

41 Dt.: „Die Christgläubigen haben das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen.“ 42 Der KKK entfaltet in den Nrn. 2181 – 2182 die Bedeutung der Teilnahme an der sonnund feiertäglichen Eucharistie für den einzelnen Christen wie für die Gemeinschaft der Glaubenden trefflich: „Wer diese Pflicht absichtlich versäumt, begeht eine schwere Sünde“, so beendet der Katechismus seine offizielle Position zum Kirchengebot als genauerer Bestimmung des „Gesetzes des Herrn“.

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Tuns in der Kirche43 wird er stattdessen mögliche Lösungen beherzt angehen und nicht vorschnell die Lösung des Problems auf die Ebene der Weltkirche schieben. Das funktioniert inzwischen auch nicht mehr, denn Papst Franziskus erinnert an das Subsidiaritätsprinzip und damit an die primäre Verantwortung des einzelnen Bischofs für seine Diözese; er erwartet „mutige Vorschläge“ von den Bischofskonferenzen, die eine Änderung für ihr Gebiet herbeiführen wollen. Es stimmt mich traurig, dass die Dialogfreudigkeit über das Thema bei der Mehrheit der Mitglieder der DBK immer noch wenig ausgeprägt erscheint, wie Insider bestätigen. Derweil hatte schon die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971 – 1975) anerkannt, dass, „wenn die Heilssorge der Kirche schwerwiegend gefährdet ist, alle noch so wichtigen Gesichtspunkte, die nicht aus Gründen der verbindlichen Glaubenslehre (iure divino) notwendig sind, zurücktreten“44 müssen und „dass außerordentliche pastorale Notsituationen die Weihe von in Ehe und Beruf bewährten Männern erfordern können.“45 Die Gemeinsame Synode hat zugleich die Verpflichtung der Bischöfe zur Prüfung der Frage festgeschrieben, ob eine solche pastorale Notsituation schon heute gegeben oder in absehbarer Zeit in Deutschland zu erwarten sei; und sie hat die Entwicklung von Lösungen zur Sicherstellung eines geordneten Heilsdienstes in den Gemeinden46 angemahnt. Die Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart in den Jahren 1985/86 hat die DBK in einem Votum gebeten, die Weihe von „bewährten Männern“ „neu zu überdenken und die nötigen Schritte zu unternehmen.“47 Das Wegducken und Verweigern der Prüfung des ehelosen Priestertums unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der salus animarum konterkariert jedenfalls faktisch die zentrale Wahrheit, dass die Kirche wesensgemäß aus den Sakramenten lebt, zuvorderst der Eucharistie. Die Messe als Mittelpunkt ihres Lebens gerät so fahrlässig in Gefahr. Schadet die lateinische Kirche damit nicht selbst ihrem Glaubwürdigkeitsanspruch?48

43 C. 1752 CIC/1983: „[…] servata aequitate canonica et prae oculis habita salute animarum, quae in Ecclesia suprema lex esse debet.“ 44 Beschluß „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“, in: Gemeinsame Synode. Offizielle Gesamtausgabe, 1. Bd., Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 581 – 636, hier S. 628 (Kap. 5.4: Nachwuchsförderung, Ausbildung, neue Zugangswege). 45 Beschluß „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“ (Anm. 44), S. 628. 46 Beschluß „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“ (Anm. 44), S. 629. 47 BO Rottenburg-Stuttgart, Beschlüsse der Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart 1985/86, Rottenburg 1986, S. 187 f. 48 Teufel, Ehe alles zu spät ist (Anm. 1), S. 46 wirft diese Frage im Hinblick auf die Weihe von verheirateten konvertierten Priestern aus anderen Kirchen auf und der Tatsache der bisher allgemeinen Verweigerung der Weihe von katholisch getauften viri probati zu Priestern.

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III. Ordo und Ehe Hinter der Frage nach der Weihe von viri probati zu Priestern steckt eine tieferliegende Problematik, nämlich die des Zusammengehens von Ehe und Weihe bzw. der Verhältnisbestimmung der beiden Sakramente. Auf diesen theologischen Dauerbrenner kann hier nur in Federstrichen eingegangen werden. Das Spannungsfeld von Ehe und Ordo ist katholischerseits im Westen trotz 50-jähriger Erfahrung mit verheirateten Diakonen noch unzureichend aufgearbeitet. Zwei Punkte meine ich jedoch festhalten zu können: Ehe und Weihe verlangen eine selbstlose die ganze Person umfassende Hingabe, sie gleichen sich in ihrer inneren Struktur. Ordo und Ehe sind die Sakramente, bei denen nicht das eigene Ich im Vordergrund steht, sondern vorrangig andere Menschen: bei der Ehe der Partner und die Kinder, bei der Weihe die Gemeinde. Man empfängt diese Sakramente nicht in erster Linie für sich, sondern ad alios, um dadurch auch die eigene Gottesbeziehung zu stärken. Beide Sakramente sind auf Dauer und Treue zur getroffenen Entscheidung angelegt; sie „ergänzen einander und entfalten sich, wenn die Prioritäten von den Partnern richtig getroffen werden.“49 Als verheirateter Amtsträger muss der Diakon sich immer bewusst bleiben, dass er zuerst das Sakrament der Ehe gefeiert und danach das Sakrament der Weihe empfangen hat, zu dem auch seine Frau „Ja“ sagte. Dann bleibt die Ehe der natürliche Ort, wo der Diakon mit den Belastungen und Freuden aus seinem Dienstamt eine Beheimatung erfährt. Dann werden beide Sakramente gegenseitig zu „Quellen menschlichen und spirituellen Wachstums.“50 Und: Der verheiratete Diakon neigt unter anderem durch die Rückbindung an Ehe und Familie weniger dazu, sein durch die Weihe erlangtes kirchliches Amt falsch als etwas klerikal Herausgehobenes mit entsprechendem Standesbewusstsein und -dünkel zu verstehen. Frau und Kinder helfen ihm, die „Bodenhaftung“ zu bewahren. Zur Konvergenz der beiden Sakramente will ich neben der Erfolgsgeschichte des Diakonates auch auf die praktischen Erfahrungen im Collegium Orientale in Eichstätt verweisen. In diesem ostkirchlichen Priesterseminar leben zölibatäre Priester mit ihren verheirateten Berufskollegen und deren Familien sowie Priesteramtskandidaten in beiderlei Lebensformen miteinander und legen so Zeugnis für die Vielfalt priesterlicher Berufungen ab. Es ist ja ein Spezifikum des christlichen Ostens, einerseits eine hohe Wertschätzung für den ehelos lebenden Priester zu empfinden – hier spielt sicher der Einfluss aus dem Mönchtum eine nicht unbedeutende Rolle –, und andererseits einen positiven Bezug zum verheirateten Priestertum als einer urchristlichen Tradition bewahrt zu haben. Interessant ist dabei, dass beide Alternativen in der gesamten Orthodoxie und der überwiegenden Mehrheit der katholischen Ostkirchen als „unterschiedliche Berufungen mit einer je eigenen Berechtigung“51 betrach49

Kandler-Mayr, Wiederheirat (Anm. 21), S. 161. Montserrat Martinez Deschamps, Ehe und Diakonat, eine einzigartige und bereichernde Verbindung, in: Diaconia Christi 51 (2016), S. 158 – 167, hier S. 161. 51 Thomas Kremer, Das Collegium Orientale in Eichstätt als Ort der Ausbildung verheirateter Priester, in: Slavorum Apostoli. Rundbrief der Aktionsgemeinschaft Kyrillos und Methodios e. V., Eichstätt 4/2016, S. 10. 50

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tet werden. Was besagt: Das Charisma des Priestertums und das der Ehelosigkeit sind weder per se identisch noch zwingend aneinander52 gebunden. Die Erfahrungen in den Heimatkirchen der Kollegiaten belegen zudem, „dass aus der organischen Verbindung von Ehe- und Weihesakrament großer pastoraler Segen hervorgehen kann. So ist die Priesterehe keineswegs ein widerwillig gebilligtes Zugeständnis. Sie bringt vielmehr die besondere Wertschätzung des Ehesakramentes als Zeichen der Gegenwart der Liebe Gottes zum Ausdruck, welches sich organisch mit der priesterlichen Sendung verbindet.“53 Man sieht es im Collegium Orientale als „ureigene Aufgabe an, der Tradition des verheirateten Priestertums positiv zu begegnen, und zwar als Form pastoral-spirituellen Reichtums der ganzen Kirche.“54

IV. Wege zur Abhilfe der bedrängenden Notsituation Der Pflichtcharakter des Zölibates für den priesterlichen Dienst via Kirchengesetz ergibt sich aus den genannten Gründen somit keinesfalls konsistent. Die erst 1139 auf dem Zweiten Laterankonzil für das Priesteramt in der lateinischen Kirche rechtlich statuierte Pflicht zur Ehelosigkeit hatte sich historisch angebahnt (z. B. Synode von Elvira, von Ankyra und Neozäsarea). Die heutige kirchenrechtliche Festlegung ist aber für eine Änderung offen, weil nicht das ius divinum tangiert ist und gewichtige Argumente eine Öffnung der kirchlichen Disziplin in diesem Punkt nahelegen. Hielte man trotz massiver theologisch-ethischer Gegengründe disziplinarisch daran fest, käme das einem Rechtspositivismus gleich, der im verantworteten Umgang gerade mit dem kirchlichen Recht nicht angesagt ist. Wenn also der Handlungsbedarf erkannt und eine Lösung des Problems möglich ist, bleibt die Frage zu klären, wie es zur Veränderung kommen kann. Das Ziel wäre zum einen über eine Ausweitung der Dispenspraxis zu c. 277 § 1 CIC/1983 zu erreichen. Immer wieder wurden in der Geschichte auf diesem Weg vom Papst verheiratete Kandidaten zur Priesterweihe zugelassen oder konnten, wenn sie erst nach Erhalt einer gültigen Weihe zur katholischen Kirche konvertierten, in dieser ihre Weihevollmachten ausüben. Warum sollte diese Dispenspraxis nicht auch auf die viri probati übertragen werden können, so fragt Richard Puza?55 Der jeweilige Diözesanbischof würde so dem Papst einen qualifizierten verheirateten Kandidaten gleichsam zur 52

Wie nur konnte die Bischofssynode 1971 zwischen Weiheamt und Ehelosigkeit eine intima cohaerentia, ja sogar eine plena concordantia erkennen? 53 Kremer, Das Collegium Orientale in Eichstätt als Ort der Ausbildung verheirateter Priester (Anm. 51), S. 10. 54 Kremer, Das Collegium Orientale in Eichstätt als Ort der Ausbildung verheirateter Priester (Anm. 51), S. 10. 55 Richard Puza, Sollen angesichts des Priestermangels und unter Hinweis auf das Recht der Gemeinde auf Seelsorger viri probati zu Priestern geweiht werden können?, in: Elmar Güthoff/Stefan Korta/Andreas Weiß (Hrsg.), Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst. GS Fürst (= AIC 50), Frankfurt a. M./Berlin/Brüssel u. a. 2013, S. 461 – 465, hier S. 464.

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Weihe vorschlagen und von ihm die Befreiung vom Zölibat erbitten, damit er selber nach Erhalt der päpstlichen Dispens durch die Weihe dieses Mannes einer priesterlosen Gemeinde zu ihrem pastor proprius verhelfen kann. Dieser Weg kann jetzt schon de lege lata beschritten werden. Er ist freilich umständlich, verlangt in jedem Einzelfall den Gang nach Rom und ist als Gnadenakt von der wohlwollenden Entscheidung des Papstes abhängig. Letzteres täte sich ändern, wenn der Papst seine Dispensvollmacht an die Diözesanbischöfe allgemein oder wenigstens an die Oberhirten einer nationalen Bischofskonferenz delegieren würde, die dem Priestermangel durch die Weihe verheirateter „bewährter Männer“ begegnen will. Unter Papst Franziskus dürfte jedoch ein anderer Weg wahrscheinlicher sein. Es kann inzwischen kaum mehr bezweifelt werden, dass bei diesem Bischof von Rom die Strukturprinzipien Kollegialität, Synodalität und Subsidiarität eine größere Bedeutung in der Leitung der Gesamtkirche haben als bei seinen Vorgängern. Er redet nicht nur davon und pflegt nicht nur einen neuen Amtsstil, sondern eröffnet auch neue Räume für die universalkirchliche Mitverantwortung der Bischöfe. Er will sehr entschieden eine Dezentralisierung der kirchlichen Entscheidungsinstanzen, wo immer dies möglich ist, und ebenso nach dem alten Rechtsgrundsatz Was alle angeht, soll auch von allen behandelt werden, eine breite Einbindung der Christgläubigen in den Prozess der Entscheidungsfindung. Dies belegen die Erfahrungen der Bischofssynode 2014/15. Deshalb sollen nach Franziskus die nationalen Bischofskonferenzen und damit die Ortsbischöfe mehr Entscheidungskompetenzen erhalten. In der schon erwähnten Privataudienz56 am 04. April 2014 für Erwin Kräutler, dem damaligen Bischof der Prälatur Xingu im Amazonasgebiet, hat Papst Franziskus das Beispiel eines mexikanischen Bischofs erwähnt, der den Priestermangel in seiner Diözese dadurch entschärfte, dass er 300 verheiratete Gemeindeleiter zu Diakonen – aus dem Duktus der Schilderung zu folgern, wohl auch später zu Priestern – geweiht habe. Und er erinnerte an den Vorschlag des südafrikanischen Bischofs Fritz Lobinger, die dort in der Gemeindeleitung eingesetzten und in dieser Aufgabe erfahrenen Teams of Elders zu ordinieren, damit sie mit ihren Gemeinden auch Eucharistie feiern könnten. „Macht mir mutige Vorschläge!“ hat Franziskus die Bischöfe aufgefordert, ein Wort, das für internationale Schlagzeilen gesorgt hat. In Brasilien wird auf zwei Ebenen bereits an solchen Vorschlägen gearbeitet.57 Der Weg könnte analog dem Vorgehen zur Wiedereinführung des Ständigen Diakonates verlaufen: Antrag der nationalen Bischofskonferenz, Genehmigung durch den Papst, Entscheidung über die diözesane Umsetzung durch den Ortsbischof. Ob die Bischöfe Deutschlands das Signal gehört haben? Ob sie das Memorandum der Initiative pro concilio oder der Brief der Kölner Priester wachrüttelt?

56 Vgl. Erwin Kräutler (in Zusammenarbeit mit Josef Bruckmoser), Habt Mut! Jetzt die Welt und die Kirche verändern, Innsbruck/Wien 2016, S. 88 – 92. 57 Vgl. Kräutler, Habt Mut! (Anm. 56), S. 110.

Kirchliches Sanktions- und Verfahrensrecht

Zum Verhältnis von Gerichts- und Generalvikar Von Michael Benz Der Diözesanbischof leitet die ihm anvertraute Diözese gemäß c. 391 § 1 CIC/ 1983 „mit gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt“. Während die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt dem Diözesanbischof persönlich vorbehalten ist und auch nicht delegiert werden kann (c. 391 § 1 CIC/1983 i. V. m. 135 § 2 CIC/ 1983), soll die Ausübung der ausführenden und der richterlichen Gewalt im Regelfall durch die hierfür vom Recht vorgesehenen Stellvertreter, den Generalvikar und den Gerichtsvikar, erfolgen. Dies geht zurück auf die Leitsätze für die Reform des kirchlichen Gesetzbuches von 1967, denen die Unterscheidung von gesetzgebender, verwaltender und richterlicher Funktion der einen Leitungsgewalt ein zentrales Anliegen war.1

I. Die Diözesankurie Die Diözesankurie, wie c. 469 CIC/1983 sie umschreibt, „besteht aus jenen Einrichtungen und Personen, die dem Bischof bei der Leitung der ganzen Diözese helfen“. Hervorgehoben werden die Bereiche der Pastoral, der Verwaltung und der Rechtsprechung. Zwingend verlangt der CIC/1983 vom Diözesanbischof die Bestellung eines Generalvikars (c. 475 § 1 CIC/1983)2 sowie eines Gerichtsvikars, der im Regelfall nicht zugleich Generalvikar sein darf (c. 1420 § 1 CIC/1983).3 1 Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 372 – 390; Georg Bier, Diözesane Kurie. Einführung vor 469, in: MK CIC (Stand: November 2015); Peter Platen, Die Diözesankurie, in: HdbKathKR3, S. 639 – 651; Helmut Pree, Die Ausübung der Leitungsgewalt, in: HdbKathKR3, S. 207 – 233, hier S. 224 – 228; Heribert Schmitz, Probleme in der Diözesankurie zwischen Verwaltung und Rechtsprechung, in: Winfried Aymans/Stephan Haering/ders. (Hrsg.), Iudicare inter fideles. FS Geringer (65), St. Ottilien 2002, S. 433 – 459. 2 Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 378; Georg Bier, c. 475, Rdnr. 1, in: MK CIC (Stand: November 2015); Severin Lederhilger, Art. Generalvikar, in: LKStKR 2, S. 62 f.; Richard Puza (Hrsg.), Art. Generalvikar, in: ders. (Hrsg.), Lexikon kirchlicher Amtsbezeichnungen der Katholischen, Evangelischen und Orthodoxen Kirchen in Deutschland, Stuttgart 2007, S. 106. 3 Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 378; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 298; Martin Hülskamp, „Der Gerichtsvikar bildet mit dem Bischof ein Gericht“. Zum Zuordnungsverhältnis des Offizials zum Diözesanbischof und dessen Besonderheiten, in: Rüdiger Althaus/Franz Kalde/Karl-Heinz Selge (Hrsg.), Saluti hominum providendo. FS Hentze (= BzMK 51), Essen 2008, S. 141 – 153; Klaus Lüdicke, c. 1420, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: November 2015).

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Jedoch nicht nur in den Personen, sondern in der gesamten Struktur4 der Kurie soll dem Anliegen der Unterscheidung der Vollmachten Rechnung getragen werden. „Im Sinne der vom Gesetzgeber geforderten Funktionentrennung besteht die Diözesankurie in der Praxis regelmäßig aus zwei voneinander verschiedenen Behörden, nämlich aus der unter der Leitung des Generalvikars stehenden Verwaltungsbehörde, im deutschen Sprachraum als ,Ordinariat‘ oder ,Generalvikariat‘ bezeichnet, und dem unter der Leitung des Gerichtsvikars stehenden Diözesangericht, das in einigen Bistümern auch die Bezeichnung ,Offizialat‘ oder ,Konsistorium‘ trägt.“5 Der Diözesanbischof allein ist der Leiter der gesamten Kurie, wie sie in c. 469 CIC/1983 umschrieben ist, denn der Moderator der Kurie6 ist entgegen seiner Amtsbezeichnung ausschließlich für den Verwaltungsbereich nicht aber für den Gerichtsbereich einschließlich der Gerichtsverwaltung zuständig. Dies ergibt sich schon daraus, dass c. 472 CIC/1983 die „Gegenstände und Personen, die in der Kurie zur Ausübung der richterlichen Gewalt gehören“, dem Prozessrecht zuweist und die Geltung der folgenden Kanones auf den Bereich der Diözesanverwaltung eingrenzt. Darüber hinaus fällt auch die Koordination des pastoralen Wirkens der General- und Bischofsvikare nicht in den Aufgabenbereich des Moderators der Kurie. Zusammenfassend kann deshalb festgestellt werden: In den Aufgabenbereich des Moderators der Kurie „gehört dann innerhalb der Kurie alles, was nicht in die pastorale Zuständigkeit von General- und Bischofsvikaren fällt, also sowohl das pastorale Handeln der übrigen kurialen Mitarbeiter als auch der gesamte bürokratisch-organisatorische Bereich inklusive der rein bürokratischen Aufgaben der General- und Bischofsvikare (wobei gemäß can. 472 das Gerichtswesen grundsätzlich ausgenommen bleibt).“7 Somit steht fest, dass auch dann, wenn der Generalvikar zum Moderator der Kurie ernannt ist, die Kompetenzbereiche des Generalvikars und des Gerichtsvikars innerhalb der Diözesankurie klar voneinander zu unterscheiden sind. Gerichts- und Generalvikar stehen unter der ausschließlichen Gesamtleitung des Diözesanbischofs gleichberechtigt nebeneinander. Für die konkreten Strukturen, die praktischen Erfordernisse und die gewohnten Abläufe in den Diözesankurien stellt sich in vielfältigen Zusammenhängen die Frage, wie diese Trennung der Funktionen im Einzelnen umzusetzen und dem Anliegen des Gesetzgebers Rechnung getragen werden kann, ohne auf der einen Seite die Eigenständigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung zu unterlaufen und auf der anderen Seite effektive Abläufe sicherzustellen. Um diese Fragen auf einer verlässlichen Grundlage behandeln zu können, werden zunächst die Ämter des General- und Gerichtsvikars kurz in den Blick genommen.

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Vgl. Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 639; Schmitz, Probleme (Anm. 1), S. 433 u. 435. Bier, Diözesane Kurie, Rdnr. 3 (Anm. 1). 6 Vgl. Georg Bier, c. 473, in: MK CIC (Stand: November 2015); Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 645 f. 7 Bier, c. 473, Rdnr. 9 (Anm. 6). 5

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II. Der Generalvikar Der Generalvikar ist Inhaber eines Kirchenamtes (c. 145 § 1 CIC/1983) und verfügt über die mit dem Amt verbundene allgemeine ordentliche, jedoch stellvertretende ausführende Gewalt. Er ist gemäß c. 134 § 2 CIC/1983 Ortsordinarius. Während im Konzilsdekret „Christus Dominus“ noch gesagt wird, in der Kurie rage „das Amt des Generalvikars hervor“8, wird dies im CIC/1983 nicht mehr aufgegriffen, und damit „jeglicher Spekulation hinsichtlich eines Über/Unterordnungsverhältnisses von Generalvikar und Bischöflichem Vikar den Boden entzogen.“9 Vielmehr eröffnet der CIC/1983 die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen mehrere Generalvikare (c. 475 § 2 CIC/1983) sowie bei Bedarf Bischofsvikare (c. 476 CIC/1983) zu ernennen, die alle dem Diözesanbischof in der Verwaltung zur Seite stehen (vgl. c. 391 § 1 u. 473 CIC/1983). Der Generalvikar kann vom Diözesanbischof frei ernannt und ebenso frei abberufen werden (c. 477 § 1 CIC/1983). Der Generalvikar besitzt in der ganzen Diözese jene potestas executiva, die von Rechts wegen dem Diözesanbischof zukommt, mit Ausnahme dessen, was dem Diözesanbischof vom Recht vorbehalten ist, sich dieser darüber hinaus selbst vorbehalten oder einem anderen General- oder Bischofsvikar zugeordnet hat (c. 479 CIC/1983).10 Die enge Verbindung zwischen Diözesanbischof und Generalvikar verdeutlicht c. 480 CIC/1983, der den Generalvikar verpflichtet, den Diözesanbischof über alle wichtigen Amtsgeschäfte zu unterrichten und ihm zugleich verbietet, gegen den Willen oder die Absicht des Diözesanbischofs zu handeln. Das Amt des Generalvikars ist so eng mit dem des Diözesanbischofs verbunden, dass er mit dem Diözesanbischof aus seinem Amt ausscheidet und bei einer Suspendierung des Diözesanbischofs auch seine Amtsgewalt suspendiert ist (c. 481 CIC/1983), soweit er nicht der Weihe nach Bischof ist (c. 481 § 2 CIC/1983). Auch wenn der Generalvikar immer noch als alter ego des Diözesanbischofs bezeichnet wird,11 kann dies nur in einem übertragenen Sinn ausgesagt werden, da keine „juridische Identität von Generalvikar und Diözesanbischof angenommen werden“12 kann. Der Generalvikar handelt zwar im Namen des Diözesanbischofs, aber nicht mit Wirkung gegen diesen. Denn innerhalb „der Verwaltungshierarchie hat der Diözesanbischof gegenüber dem Generalvikar gemäß c. 1734 § 3, 18 als Superior hierarchicus zu gelten, da es dem Diözesanbischof – von der aus besonderen Gründen vorgenommenen Einschränkung in c. 65 § 3 abgesehen – möglich ist, Entschei8

CD 27. Roland Scheulen, Das Amt des „Vicarius Episcopalis“. Ein kirchenrechtlicher Beitrag zur Ämterstruktur in der Partikularkirche (= FzK 11), Würzburg 1991, S. 205. 10 Lederhilger, Generalvikar (Anm. 2), S. 62. 11 Vgl. Bier, c. 475, Rdnr. 2 (Anm. 2); Platen, Diözesankurie, (Anm. 1), S. 643; Lederhilger, Generalvikar, (Anm. 2) S. 62. 12 Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 643. 9

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dungen seines Generalvikars aufzuheben, für nichtig zu erklären, zu ersetzen oder zu ändern. Insofern gegen Akte des Generalvikars beim Bischof ein förmliches Rechtsmittel eingelegt werden kann, kommt ein solches Handeln des Generalvikars dem Handeln des Bischofs nicht gleich, da gegen ein Handeln des Bischofs ein Rechtsmittel nicht beim Bischof, sondern bei der diesem im Sinne der Verwaltungshierarchie übergeordneten römischen Kurialbehörde einzulegen ist. Was die Rechtsmittel angeht, stehen einander Entscheidungen aufgrund vom Bischof delegierter ausführender Leitungsgewalt und aufgrund potestas ordinaria vicaria exsecutiva damit gleich. In beiden Fällen ist das Rechtsmittel beim Diözesanbischof einzulegen.“13

III. Der Gerichtsvikar Der Gerichtsvikar,14 der auch Offizial genannt wird (c. 1420 § 1 CIC/1983), ist ebenfalls Inhaber eines Kirchenamtes (c. 145 § 1 CIC/1983) und verfügt über die mit dem Amt verbundene allgemeine ordentliche, jedoch stellvertretende richterliche Gewalt (c. 1420 § 2 CIC/1983). Er ist aber nicht Ordinarius gemäß c. 134 § 1 CIC/198315. Die Ernennung mehrerer Gerichtsvikare ist nicht möglich. Es können dem Gerichtsvikar jedoch Vizegerichtsvikare zur Seite gestellt werden (c. 1420 § 3 CIC/1983). Der Gerichtsvikar wird auf bestimmte Zeit, meist fünf Jahre, ernannt und kann nur aus einem rechtmäßigen und schwerwiegenden Grund seines Amtes enthoben werden (c. 1422 CIC/1983).16 Auch bei einem Ausscheiden des Diözesanbischofs aus dem Amt bleibt der Gerichtsvikar im Amt. Er kann vom Diözesanadministrator nicht abberufen werden, bedarf jedoch der Bestätigung durch den neuen Diözesanbischof (c. 1420 § 5 CIC/1983). Der Gerichtsvikar fällt seine Entscheidungen mit Wirkung gegen den Diözesanbischof, an den deshalb eine Berufung gegen ein vom Gerichtsvikar gefälltes Urteil nicht möglich ist.17 Durch die Bestellung eines Gerichtsvikars wird jedoch die Vollmacht des Diözesanbischofs, in seiner Diözese selbst Recht zu sprechen, in keiner Weise aufgehoben.18 Der Gerichtsvikar ist in seinen richterlichen Entscheidungen vom Diözesanbischof unabhängig und nicht weisungsgebunden.19 13

Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 643. Vgl. Aymans–Müller–Mörsdorf, KanR VI, S. 298 f.; Elmar Güthoff, Gerichtsverfassung und Gerichtsordnung, in: HdbKathKR3, S. 1661 – 1672, hier 1663 f.; Lüdicke, c. 1420 (Anm. 3); Richard Puza, Art. Gerichtsvikar, in: ders. (Hrsg.), Lexikon kirchlicher Amtsbezeichnungen der Katholischen, Evangelischen und Orthodoxen Kirchen in Deutschland, Stuttgart 2007, S. 107 f.; Lorenz Wolf, Art. Gerichtsvikar, in: LKStKR 2, S. 87. 15 Vgl. Hülskamp, Gerichtsvikar (Anm. 3), S. 145 f.; Hubert Socha, c. 134, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: November 2015). 16 Klaus Lüdicke, c. 1422, in: MK CIC (Stand: November 2015). 17 Lüdicke, c. 1420, Rdnr. 5 (Anm. 3). 18 Lüdicke, c. 1419, Rdnr. 8, in: MK CIC (Stand: November 2015). 14

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Während der Generalvikar an Stelle des Diözesanbischofs als dessen Vertreter handelt, bildet der Gerichtsvikar mit dem Diözesanbischof ein Gericht (c. 1420 § 2 CIC/1983). Durch den Gerichtsvikar spricht der Diözesanbischof Recht. Deshalb wird auch gesagt, dass der Gerichtsvikar und der Diözesanbischof auf einem einzigen Richterstuhl sitzen. Der Gerichtsvikar ist in vollem Sinne und nicht nur in analoger Weise alter ego des Diözesanbischofs.20 Auch wenn Papst Franziskus im Motu proprio „Mitis iudex Dominus Iesus“ (MIDI) vom 15. August 201521 im Hinblick auf Ehenichtigkeitsverfahren die Ausübung der richterlichen Funktion durch den Diözesanbischof selbst betont und fördert (vgl. c. 1673 § 1, c. 1683 u. c. 1988 MIDI), bleibt die Notwendigkeit zur Bestellung eines Gerichtsvikars bestehen und wird dessen zentrale Rolle für die Rechtsprechung in der Diözese betont (vgl. c. 1676 u. c. 1685 MIDI). Der Gerichtsvikar ist Leiter der Gerichtsverwaltung. Unter seine Zuständigkeit fällt die Verantwortung für die gesamte Organisation des Gerichtsbetriebes einschließlich der Dienstaufsicht über die Gerichtsmitarbeiter und der Sorge um die für eine funktionierende Rechtsprechung notwendigen Rahmenbedingungen.22 „[I]m einzelnen gehören zum Aufgabenbereich der Gerichtsverwaltung im diözesanen Bereich: die Gerichtsorganisation (Einrichtung des Diözesangerichts, Ernennung und Abberufung der Richter und der übrigen Gerichtspersonen [Aktuar, Notar, auch für Sekretariat, Registratur, Archiv sowie dienst- und arbeitsrechtliche Angelegenheiten], Zulassung von Anwälten, Bereitstellung der finanziellen Mittel in personeller, räumlicher und sächlicher Hinsicht); ferner: die Vertretung des Gerichts nach außen und die interne Geschäftsführung durch den Offizial (einschließlich der Dienstaufsicht [u. a. Erlaß von Dienstvorschriften, Geschäftsverteilung, Überwachung der geordneten Erledigung] und der Sitzungspolizei) und die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses durch Kirchenanwalt und Bandverteidiger.“23

19

Lüdicke, c. 1419, Rdnr. 6 (Anm. 18). Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR I, S. 341; Hülskamp, Gerichtsvikar (Anm. 3), S. 148 – 152; Puza, Gerichtsvikar (Anm. 14), S. 108. 21 Franziskus, MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 958 – 970. 22 Lüdicke, c. 1419, Rdnr. 3 (Anm. 18); ders., c. 1420, Rdnr. 7 (Anm. 3); Güthoff, Gerichtsverfassung (Anm. 14), S. 1660; Andreas Weiß, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: HdbKathKR3, S. 1647 – 1660, hier 1660. 23 Schmitz, Probleme (Anm. 1), S. 450. 20

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IV. Zur Verhältnisbestimmung von Gerichtsvikar und Generalvikar Gerichts- und Generalvikar sind die beiden hervorgehobenen Stellvertreter des Diözesanbischofs, jeder für seinen je eigenen Zuständigkeitsbereich.24 Sie haben als gemeinsamen Auftrag, dem Rechtsschutz in der Kirche zu dienen, da jede physische oder juristische Person das Recht hat, „die kirchliche Autorität um Rechtsschutz anzurufen. Dieser kann grundsätzlich auf zweifache Weise gewährt werden: durch die Gerichtsbarkeit und durch die Verwaltung. Die beiden Formen der Ausübung von Leitungsgewalt decken sich in dem Ziel der Rechtsanwendung; sie unterscheiden sich aber dadurch, dass die Verwaltung auf Antrag oder auch eigeninitiativ, eventuell weisungsgebunden in den Schranken des Rechts ,in weitgehend freiem Vorgehen selbst Recht für den Einzelfall setzen kann‘, während der kirchliche Richter nur auf Antrag hin tätig wird und äußerlich unabhängig sowie nur an sein Gewissen und das geltende Recht gebunden dieses in den formalisierten Verfahrensabläufen des Prozessrechts ausschließlich anwenden kann.“25 Trotz der Unterscheidung der Zuständigkeitsbereiche von Gerichtsvikar und Generalvikar gibt es in der alltäglichen Praxis zahlreiche Berührungspunkte. So vertritt im Regelfall der Generalvikar im Bereich des weltlichen Rechts die Diözese in der Bundesrepublik Deutschland sowohl in ihrer Eigenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts und wie auch als Arbeitgeber. Es wird beklagt, die „Grenzen zwischen Allgemeiner Verwaltung und Gerichtsverwaltung seien nicht hinreichend gewahrt, wenn Aufgaben der Gerichtsverwaltung (Gerichtsorganisation, Stellenplan, Auswahl der Gerichtspersonen, dienst- und arbeitsrechtliche Angelegenheiten) durch das Generalvikariat/Ordinariat wahrgenommen werden.“26 Andererseits gibt es zahlreiche Angelegenheiten, die alleine schon aufgrund der Vorgaben der staatlichen Rechtsordnung für alle Mitarbeiter der Diözese einheitlich geregelt werden müssen, so z. B. die Arbeitszeit, die Zeiterfassung, die freien Tage, Abrechnung von Dienstreisen, Anerkennung und Auszahlung von Mehrarbeits- und/oder Überstunden, Gewährung von Zuschlägen, Versteuerung von Honoraren oder geldwerten Vorteilen, Erfüllung der Sozialabgabenpflicht). Auch die immer wieder kritisch hinterfragte Praxis von Diözesanbischöfen, dem Generalvikar generell und ohne Benennung im Einzelnen alle Spezialmandate zu übertragen,27 sorgt für Unklarheiten in der Zuständigkeit, da auch im Bereich des Prozessrechts bestimmte Handlungen dem Diözesanbischof vorbehalten sind und bei Vornahme durch einen Vertreter des Diözesanbischofs, z. B. durch den Generalvikar, immer eines Spezialmandates bedürfen.28 Höchst fraglich ist, ob eine solche 24

Schmitz, Probleme (Anm. 1), S. 436 f. Weiß, Grundfragen (Anm. 21), S. 1651 f. 26 Schmitz, Probleme (Anm. 1), S. 440. 27 Socha, c. 134, Rdnr. 8 (Anm. 15); Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 641 f. 28 Auflistung entsprechender Normen in Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 382 f. 25

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generelle Erteilung aller Spezialmandate an den Generalvikar die Spezialmandate im Bereich des Prozessrechts umfasst. Erschwert wird die praktische Umsetzung der Unabhängigkeit des Gerichtsvikars für den gesamten Bereich der Gerichtsverwaltung auch durch die Tatsache, dass in zahlreichen Diözesen der Gerichtsvikar zugleich Mitarbeiter des Generalvikars für die verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten ist und auch Mitarbeiter des Gerichts zugleich in verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten für den Generalvikar tätig werden. Schließlich gibt es eine Reihe von Fällen, in denen ein koordiniertes Vorgehen von General- und Gerichtsvikar effizient und kostengünstig erscheint. So wird es in den wenigsten Fällen sinnvoll erscheinen, dass der Gerichtsvikar für die Instandhaltung und Pflege der Gerichtsräume eine eigene Gebäude- und Hausverwaltung unterhält. Je nach örtlichen Gegebenheiten wird dies aufgrund der technischen Gegebenheiten (gemeinsame Infrastruktur mit einem einzigen Wasser-, Abwasser-, Strom-, Heizungs-, Telefon- und IT-System) unmöglich oder zumindest mit extrem hohen Investitionskosten verbunden sein. Und auch bei einem gemeinsam zu nutzenden Gebäudezugang wird es im Regelfall auch nur einen gemeinsamen Pforten-/Empfangsdienst geben. Im Hinblick auf diese nicht zu trennenden Angelegenheiten könnte die Auffassung vertreten werden, dass diese zwar das Gericht berühren, letztlich aber das Gericht und die Gerichtsmitarbeiter genau so treffen, wie alle anderen Einrichtungen und Mitarbeitenden in der Bischöflichen Kurie. Unter Rückgriff auf die im Staatskirchenrecht verwendete Formel der „für alle geltenden Gesetze“ würde der Zuständigkeitsbereich des Generalvikars auf alle Verwaltungsangelegenheiten erstreckt, die das Gericht und seine Mitarbeiter nicht anders trifft, als alle anderen Einrichtungen und Mitarbeiter der Kurie. Diese Form der Verwaltung wäre danach Teil der Allgemeinen Verwaltung, für die der Generalvikar von Amts wegen zuständig ist. Dem steht jedoch die Aussage des c. 472 CIC/1983 entgegen, die im Lichte der oben dargestellten mens legislatoris (c. 17 CIC/1983) eine Einschränkung der Zuständigkeit des Gerichtsvikars in dieser Weise nicht zulässt. Der Gerichtsbereich einschließlich der Gerichtsverwaltung ist und bleibt dem Generalvikar entzogen!29 Müssen nun angesichts dieses Befundes die erforderlichen Maßnahmen im organisatorischen, personellen bis hin zum baulichen Bereich gefordert und umgesetzt werden, um die Unabhängigkeit des Gerichtsvikars vom Generalvikar in der Praxis zur Geltung zu bringen oder gibt es rechtskonforme Lösungswege, die auf der einen Seite die Unabhängigkeit des Gerichtsvikars wahren und andererseits ein gedeihliches Zusammenwirken zum Nutzen der gesamten Diözese ermöglichen?

29 S. ausführliche Begründung bei Helmuth Pree, Zuständigkeitsfragen innerhalb der Diözesankurie, in: AfkKR 184 (2015), S. 488 – 498, hier S. 493 – 495.

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1. Kooperation Unproblematisch ist ein gemeinsames Handeln von Gerichts- und Generalvikar in Fragen, die sowohl das Gericht als auch die Allgemeine Verwaltung, bzw. die Gerichtsmitarbeiter wie auch die Mitarbeiter der Allgemeinen Verwaltung betreffen. Zu denken ist hier an gemeinsam unterzeichnete Erlasse und Verordnungen hinsichtlich der Gewährung von Dienstbefreiung für bestimmte Anlässe oder Durchführung gemeinsamer Fortbildungsveranstaltungen oder Besinnungstage, Regelungen zum Zutritt zum Dienstgebäude oder Nutzung von Dienstfahrzeugen und vieles mehr. Da in diesen Fällen jeder für seinen Bereich originär zuständig ist, stellt sich die Frage einer Kompetenzüberschreitung nicht. 2. Der Gerichtsvikar als Mitarbeiter in der Allgemeinen Verwaltung In all den Angelegenheiten, in denen der Gerichtsvikar oder auch sonstige am kirchlichen Gericht tätige Personen zugleich im Bereich der Allgemeinen Verwaltung tätig sind, unterstehen sie in allen Fragen, welche die Tätigkeit im Bereich der Allgemeinen Verwaltung betreffen, dem Generalvikar. Dieser kann im Rahmen seiner Zuständigkeit sowohl Maßnahmen zur Arbeitsorganisation wie auch inhaltliche Vorgaben für die Erfüllung dieser Aufgaben machen. So hat z. B. die Bearbeitung von Ehevorbereitungsprotokollen einschließlich der Anträge auf Feststellung der Nichtigkeit einer Ehe wegen Formmangels auf dem Verwaltungsweg nach den Vorgaben des Generalvikars zu erfolgen. Er hat auch dafür zu sorgen, dass die notwendigen Rahmenbedingungen zur Erfüllung dieser Aufgaben sowohl in personeller wie in sächlicher Hinsicht bereitgestellt werden. Sache des Gerichtsvikars ist es, in einer solchen Konstellation darauf zu achten, dass die Erfüllung der Aufgaben des Gerichts durch die Mitarbeit in der Allgemeinen Verwaltung nicht beeinträchtigt wird. Sollte es darüber zwischen dem Gerichtsvikar und dem Generalvikar zu Auseinandersetzungen kommen, die nicht im gegenseitigen Einvernehmen und unter Beachtung der je eigenen Verpflichtungen beigelegt werden können, hat der Diözesanbischof als der für die gesamte Kurie Verantwortliche30 geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sowohl die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben der Allgemeinen Verwaltung wie auch des Gerichts zu gewährleisten. 3. Akte der Gerichtsverwaltung durch die Allgemeine Verwaltung Häufig werden durch den Generalvikar oder die Allgemeine Verwaltung im Generalvikariat/Ordinariat Angelegenheiten der Gerichtsverwaltung behandelt und es stellt sich die Frage, ob der Generalvikar oder die in seinem Auftrag Tätigen in un-

30

Vgl. Bier, c. 473 (Anm. 6); Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 645 f.

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zulässiger Weise ihre Kompetenz überschreiten und die Unabhängigkeit des Gerichtsvikars und des Gerichts in rechtswidriger Weise beeinträchtigen. Im Folgenden sollen einige denkbare Lösungsansätze im Hinblick auf die rechtliche Möglichkeit wie auch auf die praktische Umsetzbarkeit erörtert werden. Der Generalvikar und die in seinem Bereich Tätigen handeln: (1) gegen den Willen des Gerichtsvikars; (2) mit Zustimmung oder auf Bitten des Gerichtsvikars; (3) im besonderen Auftrag des Diözesanbischofs gegebenenfalls aufgrund der von diesem generell oder im Einzelnen erteilten Spezialmandate. Zu (1): Wie oben aufgezeigt, ist der Bereich der Gerichtsverwaltung dem Generalvikar entzogen. Wenn er in diesem Bereich ohne Abstimmung oder gar gegen den ausgesprochenen Willen des Gerichtsvikars tätig wird, handelt er außerhalb seines Kompetenzbereichs (vgl. c. 31 § 1 u. 35 CIC/1983) und damit aufgrund fehlender Vollmacht ungültig. Allein der Diözesanbischof als originärer Gerichtsherr kann im Bereich der Gerichtsverwaltung gegen den Wille des Gerichtsvikars handeln. Zu (2): Zunächst verbietet c. 135 § 3 CIC/1983 die Delegation richterlicher Gewalt mit Ausnahme von Handlungen, die der Vorbereitung eines Dekrets oder Urteils dienen, wie etwa die Delegation zur Anhörung von Zeugen gemäß c. 1561 CIC/1983. Die Delegation ausführender Gewalt, sei sie ordentliche, delegierte oder subdelegierte Gewalt, wird in den cc. 137 – 142 CIC/1983 behandelt. Die Delegation von Akten der Gerichtsverwaltung wird in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnt. Da die Gerichtsverwaltung jedoch echte „administrative Tätigkeit innerhalb der Gerichtsbarkeit“31 ist, kann diese Lücke unter Rückgriff auf c. 19 CIC/1983 geschlossen werden, indem auch für die Delegation von ausführender Gewalt im Bereich des Gerichts die cc. 137 – 142 CIC/1983 herangezogen werden. Bei der Delegation von Aufgaben der Gerichtsverwaltung an den Generalvikar bzw. an dessen Mitarbeiter handelt es sich nicht um eine Delegation a iure, sondern um eine Delegation a homine, welche in der Form eines Dekretes für den Einzelfall gemäß c. 48 CIC/1983 schriftlich auszufertigen ist (c. 37 CIC/1983). Die schriftliche Ausfertigung ist jedoch nicht zur Gültigkeit gefordert.32 Die Delegation muss aber „zu ihrer Wirksamkeit ein Minimum rechtlicher Publizität aufweisen, d. h. wenigstens irgendwie nach außen hin wahrnehmbar kundgetan werden, sei es explizit oder implizit. Der rein innere Willensakt des Deleganten genügt ebenso wenig wie eine delegatio interpretativa oder praesumpta. Sie muss weiters zur Gültigkeit individuell bestimmten Personen gegeben werden und den Inhalt der delegierten Befugnis nach

31

Pree, Leitungsgewalt (Anm. 1), S. 227. Vgl. Hubert Socha, c. 37, in: MK CIC (Stand: November 2015); Pree, Leitungsgewalt (Anm. 1), S. 217 f. 32

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der Art der Gewalt, nach dem Anwendungsbereich und der zeitlichen Dauer hinreichend genau festlegen.“33 Wenn der Gerichtvikar der für die Einstellung von Mitarbeitern zuständigen Stelle der Allgemeinen Verwaltung mitteilt, dass im Gericht eine bestimmte Stelle vakant ist und hierfür das entsprechende Verfahren zur Besetzung der Stelle durchzuführen sei, kann die Delegation zur Ausschreibung der Stelle bis hin zur Unterzeichnung des Arbeitsvertrages durch den Generalvikar und der anschließenden Besoldung als gegeben angesehen werden. Ähnliches kann für die Erfüllung von Diensten zur Instandhaltung der Räume des Gerichts angenommen werden, wenn der Gerichtsvikar die Meldung eines entsprechenden Bedarfs an die zuständige Stelle der Allgemeinen Verwaltung veranlasst. Der Erlass von Dienstanweisungen oder Verwaltungserlassen, die auch die Mitarbeiter des Gerichts binden sollen, kann dem Generalvikar als übertragen angesehen werden, wenn der Gerichtsvikar in die Erstellung einbezogen oder zumindest darüber informiert wurde mit dem Hinweis, dass diese Maßnahme in der gesamten Kurie einheitlich zur Anwendung kommen solle. Es ist in diesem Fall die Pflicht des Gerichtsvikars darauf zu achten, dass keine Maßnahmen verfügt werden, die die Unabhängigkeit des Gerichts oder die Ausübung der richterlichen Aufgaben einschränken oder gar unmöglich machen. Schweigt er, muss er mit der Gefahr rechnen, dass eine zumindest stillschweigende Delegation angenommen wird, da aufgrund dieser weitgehend gewohnten Abläufe die Einbindung in die Erarbeitung bzw. die Information hierüber als Bitte um die entsprechende Delegation angesehen werden kann. Zu (3): Aufgrund der weithin anzutreffenden Praxis der Diözesanbischöfe, dem Generalvikar generell und ohne Benennung im Einzelnen alle Spezialmandate zu übertragen,34 stellt sich die Frage, ob dem Generalvikar aufgrund dieser generell erteilten Spezialmandate auch jene übertragen sind, die den Bereich des Prozessrechts betreffen. Konkret betrifft dies die Pflicht des Diözesanbischofs, den Gerichtsvikar selbst (c. 1420 § 1 CIC/1983) sowie die Richter (c. 1421 CIC/1983) zu bestellen, das Recht, den im Amt befindlichen Gerichtsvikar nach dem Ende der Sedisvakanz zu bestätigen (c. 1420 § 5 CIC/1983) sowie „schwierigere oder bedeutendere Prozesse einem mit drei oder fünf Richtern besetzten Gericht“ zu übertragen (c. 1425 § 2 CIC/1983), die Bestellung von Vernehmungsrichtern (c. 1428 CIC/1983), die Entscheidung darüber, „ob das öffentliche Wohl gefährdet sein kann oder nicht“ (c. 1431 § 1 CIC/ 1983), die Erlaubnis zur Beweiserhebung durch den Richter einer anderen Diözese (c. 1496 § 2 CIC/1983), die Vollstreckung von Urteilen des eigenen Gerichts, wenn dieses in erster Instanz entschieden hat (c. 1653 § 1 CIC/1983), oder als Diözesanbischof eines Berufungsgerichts die Vollstreckung des Urteils bei Weigerung oder 33 34

Pree, Leitungsgewalt (Anm. 1), hier S. 217 Socha, c. 134, Rdnr. 8 (Anm. 15); Platen, Diözesankurie (Anm. 1), S. 641 f.

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Untätigkeit des zuständigen Diözesanbischofs (c. 1653 § 2 CIC/1983), Erlass des Dekrets zur Trennung getaufter Ehegatten (c. 1692 § 1 CIC/1983), Anordnung der Durchführung eines Nichtvollzugsverfahrens (c. 1699 § 1 CIC/1983) und Angehen des Apostolischen Stuhls um Rat bei besonderen Schwierigkeiten des Nichtvollzugsverfahrens (c. 1699 § 2 CIC/1983), Bekanntgabe des Reskripts zur Auflösung der nicht vollzogenen Ehe und Beauftragung der zuständigen Pfarrer mit den entsprechenden Einträgen (c. 1706 CIC/1983) sowie schließlich die Todeserklärung gemäß c. 1707 CIC/1983 einschließlich des Angehens des Apostolischen Stuhls um Rat bei unsicheren und verwickelten Fällen. Diese Übersicht zeigt, dass es hier um Vorgänge geht, die in tiefgreifender Weise die Ausübung der richterlichen Vollmacht betreffen. Eine Bestellung oder Bestätigung des Gerichtsvikars (c. 1420 §§ 1 u. 5 CIC/1983) aufgrund der generell erteilten Spezialmandate oder die Bestellung von Richtern durch den Generalvikar stehen in unvereinbarem Gegensatz zum Prinzip der Gewaltenunterscheidung, wie es für die Reform des kanonischen Rechts maßgeblich war.35 Selbst die Erteilung eines ausdrücklichen Spezialmandats im Bereich des Prozessrechts an den Generalvikar ließe sich kaum mit den oben aufgezeigten Grundsätzen der Gewaltenunterscheidung in der Kirche vereinbaren. Eine Kompetenz des Generalvikars im Bereich des Gerichts aufgrund der ohnehin problematischen Erteilung von generellen Spezialmandaten muss entschieden verworfen werden.

V. Zusammenfassung Die Unterscheidung der in der einen bischöflichen Vollmacht beruhenden gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalten findet in den Stellvertreterämtern des Gerichts- und Generalvikars ihren sichtbaren Ausdruck. Dennoch sind bei Wahrung der Unabhängigkeit des Gerichts und der auf dieser Ebene alleinigen Zuständigkeit des Gerichtsvikars für die Gerichtsverwaltung Wege der Zusammenarbeit zwischen Gerichts- und Generalvikar im Rahmen der geltenden Rechtsordnung möglich, häufig üblich und oft auch notwendig. Dies ist zum einen der Weg des gemeinsamen Handelns36 zum anderen der Weg der Delegation von Aufgaben der Gerichtsverwaltung an den Generalvikar bzw. dessen Mitarbeiter.37 Ein Handeln des Generalvikars oder der Allgemeinen Verwaltung ohne Delegation oder gegen den Willen des Gerichtsvikars38 ist ebenso unzulässig wie ein Handeln des Generalvikars im Bereich der Gerichtsverwaltung auf der Grundlage der generell erteilten Spezialmandate.39 35

Vgl. Anm. 1. S. o. IV.1 Kooperation. 37 S. o. IV.3 zu (2). 38 S. o. IV.3 zu (1). 39 S. o. IV.3 zu (3). 36

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Daraus ergibt sich sehr klar, dass das Tätigwerden des Generalvikars oder seiner Mitarbeiter im Bereich der Gerichtsverwaltung unabdingbar eine konstruktive Zusammenarbeit der beiden Vertreter des Diözesanbischofs zum Wohle der gesamten Diözese zur Voraussetzung haben. Durch geeignete Vorgaben und Maßnahmen dafür zu sorgen, dass diese Zusammenarbeit gelingt, ist in erster Linie Sache des Diözesanbischofs, der allein die ihm anvertraute Diözese „mit gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt“ leitet (c. 391 § 1 CIC/1983).

Maßnahmen der Österreichischen Bischofskonferenz bei Missbrauch und Gewalt Zivilrechtliche Aspekte Von Burkhard Josef Berkmann

I. Das Unterstützungssystem der Österreichischen Bischofskonferenz Die große Welle von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs erreichte die Kirche in Österreich Anfang des Jahres 2010. Die Österreichische Bischofskonferenz (ÖBK) versuchte, schnell darauf zu reagieren. Während der Kirche vorgeworfen wurde, sie habe in der Vergangenheit die Täter geschützt und Vorfälle vertuscht, wurde nun klar eine Option für die Opfer ergriffen. Die Bischofskonferenz erließ eine Rahmenordnung1, die am 01. Juli 2010 in Kraft getreten ist. Sie trägt den Titel: „Die Wahrheit wird euch frei machen. Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt“. Diese Rahmenordnung enthält psychologische und rechtliche Informationen sowie konkrete Handlungsanweisungen, Statuten und Normen. Zu der neu geschaffenen Struktur gehören Einrichtungen auf der nationalen und auf der diözesanen Ebene. Seit 2016 liegt eine überarbeitete Fassung2 der Rahmenordnung vor, in die als eigener rechtlicher Teil eine „Verfahrensordnung“3 integriert ist.

1 Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich: Die Wahrheit wird euch frei machen. Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt (21. 06. 2010), hrsg. v. der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 2010 (= Rahmenordnung/2010). 2 Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich: Die Wahrheit wird euch frei machen. Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt (2., überarb. u. erg. Ausgabe 2016), hrsg. v. der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 2016 (= Rahmenordnung/2016). 3 Verfahrensordnung bei Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs und Gewalt (beschlossen von der ÖBK im März 2016), in: Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich: Die Wahrheit wird euch frei machen. Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt (2., überarb. u. erg. Ausgabe 2016), hrsg. v. der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 2016 S. 39 – 51 (= Verfahrensordnung/2016).

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1. Einrichtungen auf der nationalen Ebene Der Vorsitzende der ÖBK, Kardinal Schönborn, ersuchte im Frühjahr 2010 die ehemalige Landeshauptfrau des Bundeslandes Steiermark, Waltraud Klasing, die Aufgabe einer Unabhängigen Opferschutzanwältin (UOA) zu übernehmen. Zu ihrer Unterstützung rief sie ein 8-köpfiges Gremium zusammen, die Unabhängige Opferschutzkommission (UOK), die am 26. April 2010 ihre Arbeit aufnahm.4 Die UOA übernahm die Aufgabe, Meldungen von Opfern entgegenzunehmen. In einer Clearingphase werden daraufhin der Sachverhalt und die verursachten Folgen erhoben. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse trifft die UOK eine Entscheidung über therapeutische und finanzielle Hilfen für das Opfer. Die Höhe der finanziellen Hilfen orientiert sich an der Rechtsprechung der österreichischen Zivilgerichte zum immateriellen Schadenersatz und ist in vier Kategorien gestaffelt: 5.000, 15.000, 25.000 Euro und Beträge darüber. Um dem Vorwurf von Vertuschungen zuvorzukommen, wird großer Wert auf die Unabhängigkeit der Kommission gelegt. Ohne Vorbedingungen, ohne Einflussmöglichkeit und ohne juristische Abwehrmöglichkeit übertrug die Kirche die Verantwortung für die Entschädigungen an eine unabhängige Kommission5 und setzt deren Entscheidungen um.6 Das Ziel ist, den Opfern unabhängig von Verjährungsfristen schnell und unbürokratisch zu helfen.7 Zum Zweck der Finanzierung hat die ÖBK mit 10. Juli 2010 die Kirchliche Stiftung Opferschutz gegründet.8 Es handelt sich um eine öffentliche juristische Person des kirchlichen Rechts, die auch Rechtspersönlichkeit im staatlichen Recht besitzt.9 Ihre Aufgabe besteht darin, Opfern materielle Hilfeleistung zur Finanzierung notwendiger Beratungs- und Therapiemaßnahmen sowie finanzielle Hilfe anzubieten.10 2. Einrichtungen auf der diözesanen Ebene In jeder Diözese ist eine Ombudsstelle eingerichtet. Ihre Aufgabe besteht darin, Ansprechpartner für mutmaßliche Opfer zu sein und eine Unterstützung für erste the4

Vgl. http://www.opfer-schutz.at/material/pas/PA-100426-praes-komm.pdf. (Stand: 05. 04. 2017). 5 Caroline List, Längst fälliger Paradigmenwechsel eingeleitet. Das Modell der UOK, in: UOA/UOK, Zwischenbericht über 2 Jahre Tätigkeit (17. 04. 2012), S. 20 – 22, hier S. 20 (online verfügbar unter: http://www.opfer-schutz.at/material/pas/Zwischenbericht-UOA_UOK120417.pdf [Stand: 05. 04. 2017]). 6 Laut Rahmenordnung/2016 (59) sind die Beschlüsse der Kommission bezüglich Maßnahmen, Therapien und finanzieller Hilfeleistungen für alle Einrichtungen der katholischen Kirche in Österreich maßgeblich, insbesondere für die Stiftung Opferschutz. 7 List, Paradigmenwechsel (Anm. 5), S. 21. 8 Kirchliche Stiftung Opferschutz, Statut (10. 07. 2010), in: ABl. ÖBK, Nr. 52 vom 15. 05. 2010, S. 10 – 14, II.4 (= Statut/Stiftung). 9 Vorsitzender der ÖBK, Dekret (10. 07. 2010), in: ABl. ÖBK, Nr. 52 vom 15. 05. 2010, S. 14 – 15, II.4. 10 § 2 Abs. 1 Statut/Stiftung (Anm. 8).

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rapeutische Maßnahmen zuzusprechen.11 Außerdem ist in jeder Diözese eine diözesane Kommission eingerichtet. Ihre Aufgabe besteht darin, zu den Fällen, die ihr von der Ombudsstelle oder vom Ordinarius vorgelegt werden, Erhebungen durchzuführen, auf deren Grundlage eine möglichst umfassende und objektive Beurteilung des Sachverhalts zu gewährleisten und dem Ordinarius entsprechende Empfehlungen für Maßnahmen zu geben.12 Seit 01. Juni 2011 gibt es eine Änderung im Verfahrensablauf. Bis dahin nahm die UOA selbst Meldungen mutmaßlicher Opfer entgegen. Seither gehen die Erstmeldungen bei den Ombudsstellen der Diözesen ein und werden an die UOA weitergeleitet. Das hat mehrere Vorteile: Zum einen wird die UOA entlastet und zum anderen erlangt die Diözese von Anfang an Kenntnis von den Vorfällen, so dass sie bereits Erhebungen durchführen und Maßnahmen ergreifen kann. Vorher erfuhr sie erst davon, wenn sie zur Zahlung aufgefordert wurde. Die Unabhängigkeit ist weiterhin gewahrt, weil die Ombudsstellen weisungsfrei gestellt sind und jedes entsprechende Gesuch weiterleiten müssen. Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes liegt nicht darin, das von der ÖBK geschaffene System innerhalb des Kirchenrechts zu verorten,13 sondern seine Einordnung in das österreichische Zivilrecht zu klären. Welche Schuldverhältnisse entstehen und bestehen zwischen Täter, Opfer und der betroffenen kirchlichen juristischen Person? Aus welchem Rechtsgrund erfolgen die Zahlungen? Die meisten Überlegungen werden sich um das Thema Schadensersatz bewegen, obwohl es sich nicht bei jeder Leistung um Schadensersatz handelt. Die strafrechtliche Seite bleibt hingegen ausgeklammert. Erst am Ende der Ausführungen wird das kanonische Vermögensrecht in den Blick kommen, weil kirchliches Vermögen von den zivilrechtlichen Vorgängen in beträchtlichem Maße betroffen ist.

II. Österreichisches Zivilrecht 1. Ersatzpflicht des unmittelbaren Schädigers Jedermann ist berechtigt, vom Schädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern (§ 1295 Abs. 1 ABGB). Schädiger ist im gegebenen Zusammenhang die Person, die den sexuellen Missbrauch bzw. die physische oder psychische Gewalt ausgeübt hat. Durch ihr Verhalten entsteht ein zivilrechtliches Schuldverhältnis zwischen ihr und der geschädigten Person. Letztere hat eine Schadenersatzforderung gegenüber der Ersteren. Damit eine Ersatzpflicht 11

§ 7 Verfahrensordnung/2016 (Anm. 3). § 16 Verfahrensordnung/2016 (Anm. 3). 13 Das geschah bereits an anderer Stelle: Burkhard J. Berkmann, Verfahren bei sexuellem Missbrauch und Gewalt. Die österreichische Rahmenordnung im Licht des gesamtkirchlichen Rechts, in: DPM 21/22 (2014/15), S. 19 – 43. 12

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entsteht, müssen mehrere Voraussetzungen vorliegen, die hier nicht vertieft zu werden brauchen: Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden. Die einschlägige Regelung findet sich in § 1328 ABGB: „Wer jemanden durch eine strafbare Handlung oder sonst durch Hinterlist, Drohungen oder Ausnützung eines Abhängigkeits- oder Autoritätsverhältnisses zur Beiwohnung oder sonst zu geschlechtlichen Handlungen mißbraucht, hat ihm den erlittenen Schaden und entgangenen Gewinn zu ersetzen sowie eine angemessene Entschädigung für die erlittene Beeinträchtigung zu leisten.“ Bei sexuellem Missbrauch kommen vor allem drei Arten von Schadenersatz in Betracht: Verdienstentgang14, sonstige materielle Schäden (insbesondere Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung) und ideelle Schäden (Schmerzengeld). Verdienstentgang kann bei sexuellen Missbräuchen die Folge psychischer Beeinträchtigung sein.15 Als ideelle Schäden sind auch Beeinträchtigungen des Opfers zu entschädigen, die noch nicht als Beeinträchtigung der – psychischen – Gesundheit verstanden werden können, wie etwa bloße „Ungemach-“ oder „Unlustgefühle“.16 Die oben zitierte Fassung des § 1328 ABGB beruht auf der Novelle BGBl. 1996/ 759 und steht erst seit 01. Januar 1997 in Kraft. Davor waren nur außereheliche Beischlafhandlungen mit Frauen vom Tatbestand erfasst. Außerdem war nur der materielle Schaden zu ersetzen. Der alten Rechtslage kommt nach wie vor große Bedeutung zu, wenn man bedenkt, dass die der UOA gemeldeten Taten im Durchschnitt vor 45 Jahren begangen worden waren.17 Allerdings war schon unter der alten Rechtslage eine Entwicklung in der Rechtsprechung zu verzeichnen, die sich auf verwandte Tatbestände stützte, welche auch einen Ersatz des immateriellen Schadens vorsahen. Bei Vergewaltigung und geschlechtlicher Nötigung war dies der Tatbestand der damit einhergehenden Freiheitsberaubung (§ 1329 ABGB), bei Missbrauch war es der Tatbestand der Körperverletzung (§ 1325 ABGB), der ebenso Schädigungen der geistigen Gesundheit umfasst.18 In veröffentlichten Urteilen wurde je nach Schwere der Tat und ihrer Folgen ein Ersatz des ideellen Schadens zwischen ca. 4.000 und 55.000 Euro zugesprochen.19

14 Um Verdienstentgang geltend zu machen, muss die geschädigte Person konkrete und detaillierte Behauptungen zu ihrem tatsächlichen Verdienst einerseits und ihrem ohne die Missbrauchsvorfälle erzielbaren Verdienst andererseits aufstellen (vgl. OLG Innsbruck, Entscheidung 3R34/13v [11. 04. 2013], Nr. 7.1). 15 Rudolf Reischauer, in: Peter Rummel, ABGB3, § 1328 ABGB, Rz. 12 (Stand: 01. 01. 2004). 16 Reischauer, § 1328 ABGB (Anm. 15), Rz. 14. 17 Brigitte Lueger-Schuster, Psychotraumatologische Fragestellungen zu Gewalt und Missbrauch in der Katholischen Kirche, Wien 2012, S. 43 (online verfügbar unter: http:// ppcms.univie.ac.at/fileadmin/usermounts/luegerb8/Abschlussbericht_20121207.pdf [Stand: 05. 04. 2017]). 18 Vgl. Reischauer, § 1328 ABGB (Anm. 15), Rz. 14a u. 14b. 19 Vgl. Reischauer, § 1328 ABGB (Anm. 15), Rz. 14b.

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2. Ersatzpflicht einer kirchlichen juristischen Person Kann es vorkommen, dass die kirchliche Einrichtung, für die der Schädiger tätig war, für den Schaden einstehen muss? Für fremde, widerrechtliche Handlungen, an denen jemand nicht teilgenommen hat, ist er in der Regel auch nicht verantwortlich (§ 1313 ABGB). Von diesem Grundsatz gibt es aber Ausnahmen. Ein Geschäftsherr, der für eigene Angelegenheiten andere Personen einsetzt, erweitert damit seinen Aktionsradius. Dieser Vorteil wird gesetzlich dadurch ausgeglichen, dass er unter bestimmten Voraussetzungen für das Verhalten von Gehilfen einstehen muss. In diesen Fällen kann der Geschädigte seine Forderung gegenüber dem unmittelbaren Schädiger und gegenüber dem Geschäftsherrn geltend machen. Wenn der Geschäftsherr eine kirchliche juristische Person, der Schädiger aber ein nach dem evangelischen Rat der Armut lebender Mensch ist, verspricht es meist mehr Erfolg, die Schadenersatzforderung an den Geschäftsherrn zu richten, weil dieser liquider ist. Im gegebenen Zusammenhang ist die Haftung für Erfüllungs- und Besorgungsgehilfen näher zu betrachten.20 Bei der Erfüllungsgehilfenhaftung (§ 1313a ABGB) haftet der Geschäftsherr für einen Schaden, den der Gehilfe anrichtet, wie für eigenes Verschulden. Voraussetzung dafür ist, dass der Geschäftsherr dem Geschädigten zu einer Leistung verpflichtet ist, d. h. dass zwischen ihnen z. B. durch Vertrag ein Schuldverhältnis besteht. Ferner ist erforderlich, dass der Schaden bei der Erfüllung dieser Leistungspflicht entstanden ist, d. h. aufgrund der Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis.21 Bei der Besorgungsgehilfenhaftung (§ 1315 ABGB) hingegen besteht kein Schuldverhältnis zwischen dem Geschäftsherrn und dem Geschädigten. Hier haftet der Geschäftsherr nur, wenn er sich zur Besorgung seiner Angelegenheiten einer habituell untüchtigen oder wissentlich einer gefährlichen Person bedient hat. Eine haftbarmachende Schädigung muss in der Ausführung einer Besorgung ihre Ursache haben.22 Was das Thema dieses Aufsatzes betrifft, kann die strengere Erfüllungsgehilfenhaftung also nur zum Tragen kommen, wenn zwischen der kirchlichen Einrichtung und der minderjährigen Person ein Schuldverhältnis besteht. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn es sich um den Träger einer kirchlichen Schule handelt, der aufgrund eines Schulvertrags zu Leistungen gegenüber einem Kind verpflichtet ist. 20

Übrigens wurden im Kirchenrecht selbst Rechtsinstitute entwickelt, denen zufolge die juristische Person haftet, welcher der Obere vorsteht, der in Ausübung seines Amtes mangelnde Sorgfaltspflicht an den Tag gelegt hat: Culpa in eligendo, in vigilando, in custodiendo; vgl. Helmuth Pree/Bruno Primetshofer, Das kirchliche Vermögen, seine Verwaltung und Vertretung. Handreichung für die Praxis, Wien 20102, S. 152. 21 Nicht abschließend geklärt ist, ob über § 1313a ABGB nur für Vertragsverletzungen oder auch für Delikte einzustehen ist. Bejahend Reischauer, § 1313a ABGB (Anm. 15), Rz. 2. Verneint man diese These, so entfällt in Missbrauchsfällen eine Haftung nach § 1313a ABGB, sofern der Missbrauch nur ein Delikt und nicht zugleich eine Vertragsverletzung darstellt. 22 Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 7.

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Zudem muss der Schaden aber durch die Erfüllung dieser Verpflichtung entstanden sein, nicht nur anlässlich der Erfüllung. In einem konkreten Gerichtsprozess sind daher Feststellungen zum näheren Inhalt der Missbrauchsvorfälle erforderlich, zumal der Geschäftsherr nicht für Schäden haftet, die ohne inneren sachlichen Zusammenhang mit der Erfüllungshandlung bloß gelegentlich derselben von Gehilfen verursacht werden.23 Sind die Voraussetzungen für die Erfüllungsgehilfenhaftung nicht gegeben, so kann die Besorgungsgehilfenhaftung zum Tragen kommen. Hier sind zwei alternative Tatbestandsmerkmale zu unterscheiden. Im ersten Fall ist der Gehilfe für die Besorgung der übertragenen Angelegenheiten habituell untüchtig. Damit ist die fehlende Eignung für die zu verrichtende Tätigkeit gemeint. Ursache der Untüchtigkeit können auch persönliche Anlagen sein, doch macht eine strafbare Handlung, die inhaltlich mit der auszuübenden Tätigkeit nichts zu tun hat, nicht untüchtig und selbst einschlägige strafbare Handlungen müssen nicht Ausdruck von Untüchtigkeit sein.24 Pädophilie muss nicht für jegliche Tätigkeit untüchtig machen. Liegt dieses Tatbestandsmerkmal nicht vor, so könnte aber das andere gegeben sein: Der Geschäftsherr hat sich wissentlich einer gefährlichen Person bedient. Gefährlich ist, wer durch seine körperliche und seelische Veranlagung ein Risiko für seine Umgebung im Allgemeinen darstellt, was z. B. auf Personen zutrifft, die zu strafbaren Handlungen neigen.25 Voraussetzung ist, dass die Gefährlichkeit für die Schädigung ursächlich war und dass die übertragenen Aufgaben die Einwirkungsmöglichkeit des Gehilfen auf den Geschädigten begünstigten.26 Das ist z. B. dann der Fall, wenn ein pädophiler Priester in einem Bereich eingesetzt wird, der ihm den Kontakt mit Kindern erleichtert. Der Geschäftsherr haftet jedoch nur dann, wenn er von der Gefährlichkeit Kenntnis hatte. Die meisten Fälle, in denen überhaupt eine Haftung einer kirchlichen juristischen Person für fremdes Verhalten anzunehmen ist, dürften unter den Tatbestand der wissentlich gefährlichen Person fallen. Das ist zugleich der für den Geschädigten ungünstigste Tatbestand, weil er sowohl die Gefährlichkeit des Gehilfen als auch das Wissen des Geschäftsherrn beweisen muss.27 Führt die Gefährlichkeit zur Untüchtigkeit, so kann sich der Geschädigte auch auf diesen Tatbestand stützen, der für ihn günstiger ist,28 weil er das Wissen des Geschäftsherrn nicht beweisen muss. Die Anwendung dieser theoretischen Prinzipien kann nun anhand von Fallbeispielen aus der Judikatur veranschaulicht werden. Der erste Fall29 betrifft eine Schü23

OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11.04.02013), Nr. 7.2. Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 3. 25 Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 10. 26 Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 11. 27 Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 14. 28 Reischauer, § 1315 ABGB (Anm. 15), Rz. 10. 29 OGH, Gz. 3Ob120/06b (13. 09. 2006).

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lerin im Gymnasium und Internat eines Konvents. Eine Ordensschwester, die Psychologie und Philosophie unterrichtete, nahm sich der Schülerin an Nachmittagen und Abenden im Sinne seelischer Unterstützung bei Problemen an. Dabei missbrauchte sie sie zu geschlechtlichen Handlungen, was schwere seelische und körperliche Folgen hervorrief. In diesem Fall war zu prüfen, ob es sich um eine Erfüllungsgehilfenhaftung nach § 1313a ABGB handelt. Das Erstgericht bejahte dies wegen des mit den Eltern der Schülerin abgeschlossenen Ausbildungsvertrags. Das Berufungsgericht bestätigte die Verurteilung der Ordensschwester, wies aber das Klagebegehren gegen den Konvent ab. Das wurde unter anderem damit begründet, dass die Erfüllungsgehilfenhaftung nach § 1313a ABGB nicht zum Tragen kommt, weil die schädigenden Handlungen bloß „anlässlich“ der Erfüllung des Ausbildungs- und Betreuungsvertrags gesetzt worden sind. Der OGH musste in seiner Revisionsentscheidung auf diese Frage nicht mehr eingehen. Der zweite Fall betrifft die Besorgungsgehilfenhaftung. Der betreffende Pater verging sich im Bereich des Klosters bereits einmal an zwei Buben, die keine Schüler der Klosterschule waren. Dafür wurde er zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt. Der Vorfall gelangte zur Kenntnis des damaligen Abtes und des Priors, doch lässt sich nicht mehr feststellen, ob diese auch von der Verurteilung erfuhren. Jedenfalls wurde der Pater vom damaligen Abt für die Dauer eines Monats von seinen kirchlichen Aufgaben suspendiert und es wurde ein Vermerk über diesen Vorfall in den Personalakt des Paters eingelegt. Der Prior informierte den Nachfolger dieses Abtes über die polizeiliche Vernehmung, doch wurde ihm nichts über eine Verurteilung berichtet. Der Hinweis in der Personalakte wurde später entfernt.30 Der neue Abt bestellte den betreffenden Pater ein Jahr nach der Verurteilung zum Erzieher und Lehrer am Gymnasium und mehrere Jahre später zum Regens des Internats. Es kam zu sexuellem Missbrauch. Der OGH stellt dazu fest: „Mit der Bestellung einer Person, deren kriminelle sexuelle Neigungen den Verantwortlichen bekannt waren, zum Regens eines Internats, in dem Schüler zu betreuen sind, die als Opfer dieser Neigungen geradezu prädestiniert sind, liegt ein schuldhaftes Fehlverhalten, das die Beklagte ersatzpflichtig macht, wenn sich die von ihr geschaffene Gefahr wie im vorliegenden Fall tatsächlich realisiert.“31 Implizit bedeutet dies, dass eine Information, die der Institution einmal zugegangen ist, dieser zuzurechnen ist, auch wenn ein Aktenvermerk nicht mehr vorhanden ist und ein späterer Abt nichts von einer früheren Verurteilung erfahren haben sollte.32 30

OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013). OGH, Gz. 1Ob124/13 m (18. 07. 2013), Nr. 4. In dieser OGH-Entscheidung ging es um dasselbe Kloster und um denselben Täter wie in der eben zitierten OLG-Entscheidung, so dass die Informationen verknüpft werden können. Die Kläger waren aber verschieden. 32 In diesem Zusammenhang ist Art. XX Abs. 1 des Österreichischen Konkordats zu erwähnen: „Im Falle der strafgerichtlichen Belangung eines Geistlichen oder einer Ordensperson hat das staatliche Gericht sofort den für den Belangten zuständigen Diözesanordinarius zu verständigen und demselben raschestens die Ergebnisse der Voruntersuchung und gegebenenfalls das Endurteil des Gerichtes sowohl in der ersten als in der Berufungsinstanz zu 31

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In derselben Sache fährt der OGH fort: „Im Übrigen kann auch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Beklagte sich im Sinn des § 1315 ABGB wissentlich einer gefährlichen Person bedient hat und dass es zum Missbrauch des Klägers nicht gekommen wäre, wenn der Täter nicht im Internat tätig gewesen wäre und nicht aufgrund der von der Beklagten eingeräumten Leitungsposition die Möglichkeit gehabt hätte, sich den Kläger als Opfer auszusuchen.“33 Damit hat der OGH auch das für den Tatbestand der gefährlichen Person erforderliche Faktum bejaht, dass durch den Einsatz der Person in einem bestimmten Bereich deren Einwirkungsmöglichkeiten begünstigt werden. Das ist bemerkenswert, weil die Abtei einen haftungsbegründenden Zusammenhang zwischen der Bestellung des Täters zum Regens des Internats und dem Missbrauch leugnen wollte, weil sich dieser außerhalb des Klosters ereignet hatte. Der Regens hatte den Kläger nämlich aufgefordert, ihm bei einer Arbeit behilflich zu sein und ihn gebeten, dafür mit seinem Auto auf eine Berghütte des Klosters mitzufahren. Dass sich eine derartige Gelegenheit für den Täter nicht geboten hätte, wenn er dem Kläger nicht als Internatsleiter bekannt und von ihm wegen seiner allgemein bekannten Gewaltbereitschaft auch gefürchtet gewesen wäre, kann dem OGH zufolge keinem vernünftigen Zweifel unterliegen. Da der OGH in dieser Sache ohnehin eine Haftung nach § 1315 ABGB bejahte, sah er von näheren Erörterungen zur Frage der Erfüllungsgehilfenhaftung nach § 1313a ABGB ab.34 Wer für fremdes Verschulden haftet, kann gemäß § 1313 ABGB vom Schuldtragenden Rückersatz verlangen. Damit ist klar gestellt, dass der für fremdes Handeln Haftende wirtschaftlich gesehen nur das Durchgangsstadium der Haftung bilden soll, letztlich aber den Schuldtragenden der Nachteil treffen soll.35 Wenn die betreffende kirchliche Institution Schadenersatz geleistet hat, bleibt ihr also das Recht, vom unmittelbaren Schädiger Rückersatz zu verlangen. Freilich wird dies in vielen Fällen unrealistisch sein, etwa wenn der Schädiger mittellos oder schon verstorben ist. Trifft nicht nur den Gehilfen ein Vorwurf, sondern auch den Geschäftsherrn, so ist der Rückgriffsanspruch im Sinne des § 1304 ABGB zu kürzen.36 Wenn den Geschäftsherrn bei der Auswahl eines Gehilfen ein Verschulden trifft, hat der Gehilfe gegenüber dem Geschäftsherrn aber kein Recht auf Verkürzung des Regressanspruchs.37 Ein Gehilfe kann keine Kürzung des Regressanspruchs erreichen, indem er darauf hinweist, dass er Gewohnheitsverbrecher sei und der Geschäftsherr dies hätte erkennen können.38

übermitteln.“ Wenn diese Information tatsächlich übermittelt wurde, wird niemals mehr eingewandt werden können, von der Gefährlichkeit der Person sei nichts bekannt gewesen. 33 OGH, Gz. 1Ob124/13 m (18. 07. 2013), Nr. 4. 34 OGH, Gz. 1Ob124/13 m (18. 07. 2013), Nr. 4. 35 Reischauer, § 1313 ABGB (Anm. 15), Rz. 4. 36 Reischauer, § 1313 ABGB (Anm. 15), Rz. 4. 37 Reischauer, § 1313 ABGB (Anm. 15), Rz. 5. 38 Reischauer, § 1313 ABGB (Anm. 15), Rz. 5.

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3. Verjährung Die Verjährung von Entschädigungsklagen ist in § 1489 ABGB mit zwei verschiedenen Fristen geregelt. Grundsätzlich gilt eine dreijährige Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem „der Schade und die Person des Beschädigers dem Beschädigten bekannt wurde“. Daneben besteht in zwei Sonderfällen eine dreißigjährige Frist: erstens, wenn dem Geschädigten Schade und Schädiger nicht bekannt wurden, und zweitens, wenn der Schaden durch eine gerichtlich strafbare Handlung entstanden ist, die nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist. Sexueller Missbrauch von Unmündigen (bis Vollendung des 14. Lebensjahrs) ist in Österreich mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen (§ 207 Abs. 1 StGB). Verschiedene Qualifikationen des Delikts führen zu einem höheren Strafrahmen. Geschlechtliche Handlungen mit einer minderjährigen Person (bis Vollendung des 18. Lebensjahrs) unter Ausnützung eines Autoritätsverhältnisses – etwa als Lehrer oder Erzieher – sind mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen (§ 212 StGB). Vergewaltigung ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen (§ 201 Abs. 1 StGB). Derartige Delikte lösen also die dreißigjährige Frist aus. Das gilt jedoch nur im Hinblick auf den unmittelbaren Schädiger, weil nur dieser das Delikt begangen hat. Wird der Schadenersatz gegenüber der mithaftenden Institution geltend gemacht, so bleibt es bei der dreijährigen Frist. Diese Auslegung entspricht jedenfalls der ständigen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre. In dem oben erwähnten Fall einer Schülerin gelangte der OGH folglich zu dem Ergebnis, dass gegenüber dem Schwesternkonvent die dreijährige Frist maßgeblich ist.39 Indessen mehren sich Stimmen in der Lehre, die eine Anwendung der langen Frist auf die haftbare juristische Person befürworten.40 Teils wird dies damit begründet, dass das Argument, wonach eine juristische Person keine Straftat begehen könne, seit dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz obsolet sei.41 Teils wird es damit begründet, dass die ratio der längeren Frist darin liege, Verbrechensopfern mehr Zeit zu geben, weil sie typischerweise unter einer Belastung leiden, die oft nicht ohne Weiteres weggesteckt wird und der raschen Anspruchsverfolgung – sei es aus Scham, Angst, Verdrängung oder anderen Gründen – entgegenstehen kann.42 Dieser

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OGH, Gz. 3Ob120/06b (13. 09. 2006). Z. B. Michael Bydlinski, in: Peter Rummel, ABGB3, § 1489 ABGB, Rz. 5 (Stand 01. 01. 2002); Max Leitner, Zur kurzen Verjährungsfrist des § 1489 ABGB. Anmerkung zur Missbrauchsentscheidung 1 Ob 124/13 m, in: ÖJZ 2014/5, S. 45 – 46, hier S. 46. 41 Vgl. Max Leitner, Zur Schadenersatzverjährung bei Zurechnung fremder strafbarer Handlungen. Korrespondenz zum Aufsatz Vollmaiers in VbR 2013, 43, in: VbR (2014) S. 28 – 29, hier S. 29. 42 Leitner, Zur Schadenersatzverjährung bei Zurechnung fremder strafbarer Handlungen (Anm. 41), S. 29. 40

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Schutzzweck bestehe gleichermaßen gegenüber dem unmittelbaren Schädiger wie gegenüber der haftbaren Institution. In dem erwähnten Fall referierte der OGH die Meinung, der zufolge auch für juristische Personen die lange Frist gelten solle, wenn ihre Organe ein Delikt begehen. Er stellte aber klar, dass selbst unter Annahme dieser Meinung die Lehrerin kein Organ wäre, weil dafür die Teilnahme an der Leitung und am Verbandswillen notwendig ist.43 Erfüllungsgehilfen sind also keineswegs automatisch Organe. Wenngleich es für haftbare juristische Personen also bei der dreijährigen Frist bleibt, können die Umstände in einem konkreten Fall dazu führen, dass die Verjährung selbst Jahrzehnte nach der Tat noch nicht abgelaufen ist. Zwei solcher Konstellationen, welche die Gerichte hinsichtlich Sexualdelikte durch einen Ordensmann beschäftigt haben, werden im Folgenden besprochen. Erstens beginnt die dreijährige Frist erst ab Kenntnis von Schaden und Schädiger zu laufen. Das ist in dem Sinn zu verstehen, dass dem Geschädigten alle Umstände bekannt sein müssen, die den Vorwurf eines schuldhaften Verhaltens eines konkret Ersatzpflichtigen sowie des Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem eingetretenen Schaden begründen.44 Im gegebenen Fall kannte der Geschädigte augenscheinlich den unmittelbaren Schädiger, wusste aber nicht, dass auch die Abtei ersatzpflichtig ist, weil er nicht wusste, dass sie Kenntnis von der Gefährlichkeit des Ordensmannes hatte, weshalb sie gemäß § 1315 ABGB haftet. Der sexuelle Missbrauch ereignete sich im März 1982. Erst im Februar 2012 erlangte das Opfer zufällig Hinweise darauf, dass der Täter bereits vor seiner Bestellung zum Regens wegen sexuellen Missbrauchs an Unmündigen verurteilt worden war und die Verantwortlichen der Abtei wohl in Kenntnis dieser Umstände gewesen waren.45 Daher begann die dreijährige Frist erst im Februar 2012 zu laufen. Zwar trifft den Geschädigten eine Erkundigungsobliegenheit, doch darf diese nicht überspannt werden.46 Zweitens kann die Verjährung gehemmt werden. Gemäß § 1494 ABGB kann die Verjährungszeit nicht beginnen gegenüber Personen, die aus einem Mangel ihrer Geisteskräfte unfähig sind, ihre Rechte selbst zu verwalten, sowie gegenüber Minderjährigen und Personen, die den Vernunftgebrauch nicht haben, sofern diesen Personen keine gesetzlichen Vertreter bestellt sind. Hat die Verjährungszeit bereits begonnen, läuft sie zwar fort, kann aber nie früher als zwei Jahre nach Aufhebung der Hindernisse vollendet werden. Nun tritt bei Opfern schweren sexuellen Missbrauchs häufig das psychische Phänomen der Dissoziation auf. Dabei werden die schmerzlichen Erinnerungen vom „normalen“ Bewusstsein abgespalten, so dass im Weiteren kein Zugriff auf sie möglich ist. Vielmehr werden sie erst durch ein besonderes Er43

OGH, Gz. 3Ob120/06b (13. 09. 2006). Christoph Brenn, Bei Missbrauch in einem Kloster kann der Verjährungsbeginn hinausgeschoben sein, in: EvBl-LS 2013/151, S. 938 – 939, hier S. 938. 45 OGH, Gz. 1Ob124/13 m (18. 07. 2013), Nr. 2. 46 Vgl. OGH, Gz. 1Ob124/13 m (18. 07. 2013), Rz. 3; dazu Leitner, Verjährungsfrist (Anm. 40), S. 46. 44

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eignis präsent, das eine Person naturgemäß nicht willentlich gesteuert auslösen kann, weil ihr gar nicht bewusst ist, dass ihr ein Teil ihres Erinnerungsvermögens fehlt. Es handelt sich um einen Schutzmechanismus des Körpers bei psychischen Traumatisierungen. Dieser Geisteszustand ist der Judikatur zufolge zwanglos unter den Begriff eines Mangels an Geisteskräften im Sinne des § 1494 ABGB zu subsumieren, weil es sich gerade nicht um einen „normalen“ Vorgang oder Zustand der Geisteskräfte handelt.47 Im konkreten Fall verübte ein als Lehrer und Erzieher eingesetzter Ordensmann ab dem Schuljahr 1968/69 bis 1971 sexuellen Missbrauch an einem Schüler des Klostergymnasiums. Dieser wurde nach früherer Rechtslage mit Vollendung des 19. Lebensjahres im Jahr 1973 volljährig. Da seine Eltern damals noch lebten, war er als Minderjähriger nicht unvertreten im Sinne des § 1494 ABGB, aber die Eltern hatten keine Kenntnis von Schaden und Schädiger, so dass die kurze Verjährungsfrist jedenfalls nicht vor 1973 zu laufen begonnen hat.48 Da aber schon vor diesem Zeitpunkt die Dissoziation eingetreten ist, liegt insoweit ein Fall der Fortlaufshemmung vor, so dass der Fristbeginn bis zum Wegfall der Dissoziation hinausgeschoben wurde.49 Das war im März 2010, so dass die kurze Verjährungsfrist erst mit März 2013 ablief. Im Übrigen kann selbst die lange Verjährungsfrist durch Hemmung oder Unterbrechung hinausgezögert werden. Als Hemmungsgrund ist in Missbrauchsfällen wieder vor allem an die Dissoziation zu denken. Im eben erwähnten Fall begann die Frist mit der Schädigungshandlung zu laufen. Da die Eltern noch lebten, war der Minderjährige nämlich nicht unvertreten und auf die Kenntnis von Schaden und Schädiger kommt es bei der langen Frist nicht an. Die Dissoziation bewirkte jedoch eine Ablaufhemmung. Da davon auszugehen ist, dass die Dissoziation vor Eintritt der Volljährigkeit eingetreten ist und dieser Hemmungsgrund erst mit März 2010 weggefallen ist, verbleiben von der dreißigjährigen Frist zumindest noch gut 28 Jahre, so dass sie erst im März 2038 endet.50 Bis dahin wären die Schadenersatzansprüche gegen den unmittelbaren Schädiger also theoretisch gewahrt. Selbst wenn die Verjährung bereits eingetreten wäre, würde dies die Schadenersatzforderung nicht schlechthin beseitigen. Es bleibt eine Naturalobligation zurück, die zwar nicht einklagbar ist, aber wirksam erfüllt werden kann (§ 1432 ABGB). Die Verjährung wird nicht von Amtswegen beachtet, sondern muss eingewendet werden (§ 1501 ABGB). Der Mangel an Durchsetzbarkeit ändert nichts daran, dass der Naturalschuldner wirklich schuldet. Erbringt er die Leistung, so hat er damit eine Verbindlichkeit erfüllt und kann das Geleistete nicht zurückverlangen. Von der Kirche als Werteinstitution wird gerade in Missbrauchsfällen vielfach erwartet, dass sie Schulden auch dann noch begleicht, wenn sie dazu nicht mehr gezwungen werden

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OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 5.4. OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 4.4.1. 49 OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013),Nr. 5.5.1. 50 OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 5.5.2.

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kann.51 Das nimmt ihr freilich nicht die Befugnis, von einem allen Staatsbürgern gesetzlich eingeräumten Recht wie der Verjährungseinrede Gebrauch zu machen.52 Der Unmut über Sexualdelikte an Minderjährigen auch außerhalb des kirchlichen Bereichs führt in der Bevölkerung leicht zu der Forderung, die Verjährung gänzlich abzuschaffen. Dabei darf aber nicht der Sinn vergessen werden, warum es die Verjährung überhaupt gibt: Rechtssicherheit über einen lange unangefochtenen Zustand, Vermeidung von Nachlässigkeit in der Rechtsausübung und Beweisschwierigkeiten nach einem allzu großen zeitlichen Abstand.53 In besonders gelagerten Einzelfällen, in denen Geschädigte an der Ausübung ihrer Rechte wirklich gehindert waren, wird die Frist ohnehin gehemmt, wie die oben genannten Beispiele aus der Judikatur zeigen.

III. Einordnung des Unterstützungssystems in zivilrechtliche Kategorien 1. Zession Wie fügt sich nun das österreichische System der finanziellen Hilfe in die eben beschriebenen zivilrechtlichen Verhältnisse ein? Zu dem bestehenden Schuldverhältnis zwischen dem Geschädigten und dem unmittelbaren Schädiger sowie einer eventuell mithaftenden kirchlichen Einrichtung kommt die Stiftung Opferschutz hinzu. § 2 Z. 3.2.3 ihres Statuts lautet: „Die Stiftung kann gegen Abtretung der entsprechenden Forderungen seitens der Opfer gegen die unmittelbaren Täter einschlägiger Delikte den Opfern Mittel aus dem Stiftungsvermögen zukommen lassen und dann die Forderungen im eigenen Namen gegen schadenersatzpflichtige Personen geltend machen.“ Bevor die Stiftung eine Zahlung tätigt, gibt das mutmaßliche Opfer eine schriftliche Erklärung ab, mit der es seine Forderung in der Höhe des auszuzahlenden Betrags an die Stiftung Opferschutz abtritt und zustimmt, dass die Forderung seitens der Stiftung gegenüber dem Beschuldigten oder gegenüber verantwortlichen Rechtsträgern geltend gemacht werden kann. Zivilrechtlich handelt es sich bei dieser Abtretung der Schadenersatzforderung um eine Zession. Auch Naturalobligationen wie etwa verjährte Forderungen können zediert werden, doch verlieren sie dadurch ihren Charakter als Naturalobligation nicht.54 Eine Zession bedarf nicht der Zustimmung, ja nicht einmal der Verständigung des Schuldners. Solange dieser aber keine Kenntnis von der Zession hat, kann er 51

Z. B. Leitner, Verjährungsfrist (Anm. 40), S. 45. OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 4.2. 53 Gegen eine Verlängerung oder Aufhebung der strafrechtlichen Verjährung bei Kindesmissbrauch argumentiert Klaus Schwaighofer, Kindesmissbrauch: Abschaffung der Verjährung nicht sinnvoll, in: Presse vom 24. 10. 2011, S. 3. 54 Vgl. Rudolf Reischauer, in: Peter Rummel, ABGB3 § 1422 ABGB, Rz. 10 (Stand 01. 01. 2002). 52

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schuldbefreiend an den Altgläubiger zahlen. In Missbrauchsfällen wird allerdings nicht häufig zu erwarten sein, dass der Schuldner von sich aus an den Geschädigten zahlt. Wenn der Zessionar die Forderung geltend machen will, wird es freilich nötig sein, mit dem Schuldner Kontakt aufzunehmen. Das Statut der Stiftung Opferschutz spricht allgemein von der Geltendmachung gegenüber „schadenersatzpflichtigen Personen“. Dabei ist zunächst an den unmittelbaren Schädiger zu denken. Daneben ist aber die entsprechende kirchliche Einrichtung ersatzpflichtig, wenn die im vorangegangenen Abschnitt behandelten Voraussetzungen für eine Geschäftsherrnhaftung gegeben sind. In manchen Fällen tut sich die Stiftung Opferschutz leichter als die mutmaßlichen Opfer, Geld von Ersatzpflichtigen zurückzufordern. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Diözesen ersatzpflichtig sind, da deren Bischöfe dieses System selbst gewollt und die Stiftung Opferschutz eingerichtet haben. Bei dem Bischof unterstellten Priestern legt sich eine Reduktion der Besoldung nahe, solange die honesta sustentatio (c. 384 CIC/1983) nicht tangiert ist. Wenn die Stiftung sich die Forderung von der betroffenen Institution begleichen lässt, kann diese nach § 1313 ABGB wieder vom unmittelbaren Schädiger Rückersatz verlangen. In Österreich ist die Praxis, wie häufig von Priestern Rückersatz verlangt wird, von Diözese zu Diözese sehr unterschiedlich. Dieses System der Forderungsabtretung bietet sowohl dem mutmaßlichen Opfer als auch der Kirche Vorteile. Dem Opfer wird erspart, die Forderung selbst gerichtlich geltend zu machen.55 Damit werden ihm das Prozess- und das Liquiditätsrisiko ebenso abgenommen wie eventuelle Beweisprobleme und die Gefahr einer Verjährungseinrede.56 Die Kirche hat den Vorteil, sich nicht als Beklagte auf einen Prozess einlassen zu müssen. Außerdem kann sie damit in der Öffentlichkeit unter Beweis stellen, dass sie gemäß ihrem christlichen Selbstverständnis Opfern schnell und unbürokratisch hilft. Dennoch dürfen die im österreichischen System enthaltenen Schwierigkeiten nicht übersehen werden, welche die Kehrseite der genannten Vorteile darstellen. Schwierigkeiten treten vor allem in den folgenden drei Punkten auf: (1) Zu hohe Auszahlungen: Die „schnelle und unbürokratische Hilfe“ geht damit einher, dass das Bestehen der Schadenersatzforderung dem Grunde und der Höhe nach nicht restlos geprüft wird. Bis zum 01. Juni 2011 nahm die UOA selbst Meldungen mutmaßlicher Opfer entgegen und traf ihre Entscheidung im Wesentlichen auf der Grundlage eines Clearings.57 Die Beschuldigten und 55

Vgl. Rahmenordnung/2010 (Anm. 1), Nr. B.5.3. Auch bei verjährten Forderungen finden Zahlungen statt, vgl. UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen, in: Zwischenbericht über 2 Jahre Tätigkeit (17. 04. 2012), hrsg. v. UOK, S. 33, Nr. 3. 55 % der von der UOA behandelten Vorfälle haben sich vor 1970 ereignet, 44 % von 1970 bis 1999 und 1 % seit 2000 (http://www.ombudsstellen.at/ [Stand: 05. 04. 2017]). 57 UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen (Anm. 56), S. 33, Nr. 4: „Die Unabhängige Opferschutzkommission entscheidet 56

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die kirchlichen Oberen konnten dazu nicht Stellung nehmen. Seither laufen die Meldungen zwar auf der diözesanen Ebene ein, doch nehmen die Ombudsstellen und die diözesanen Kommissionen auch nur eine Plausibilitätsprüfung vor, die mit einem Gerichtsprozess nicht vergleichbar ist. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass in manchen Fällen mehr bezahlt als geschuldet wird. Besteht die abgetretene Forderung dem Grunde oder der Höhe nach nicht, so kann sich der Zessionar zwar mit den entsprechenden zivilrechtlichen Mitteln58 gegen den Zedenten zur Wehr setzen. In der gegebenen Konstellation wird davon aber nur in Fällen grob missbräuchlicher Ausnützung des Systems Gebrauch gemacht59 und die Erfolgsaussichten sind gering. Ist die Forderung richtig und lediglich uneinbringlich, wird sich die Stiftung nicht auf Gewährleistung berufen, denn der springende Punkt des Systems liegt ja gerade darin, dass sie auch solche Forderungen übernimmt, um den Opfern zu helfen. (2) Ersatzpflichtige verweigern die Zahlung: Die Stiftung Opferschutz kann die erworbene Forderung gegenüber schadenersatzpflichtigen Personen geltend machen. Unmittelbare Schädiger verweigern aber bisweilen die Zahlung, weil sie sich etwa auf Verjährung oder das Fehlen von Beweisen berufen. Kirchliche Einrichtungen bringen zudem möglicherweise vor, dass kein Grund für eine Mithaftung vorliegt. Alle Risiken, die dem mutmaßlichen Opfer erspart wurden, treffen nun eben den Zessionar. (3) Ersatzpflichtige sind nicht vorhanden: Es kann vorkommen, dass unmittelbare Schädiger nicht auffindbar oder schon verstorben sind. Während gegen Tote kein Strafverfahren mehr geführt werden kann, erlischt der Schadenersatzanspruch mit dem Tod nicht. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht zu beanstanden, dass mutmaßliche Opfer im österreichischen System auch dann Leistungen erhalten, wenn die Beschuldigten schon verstorben sind. Die Schadenersatzpflicht geht auf die Erben über. Freilich wird die Stiftung Opferschutz sich gut überlegen, diese zu belangen. Je nachdem, ob eine unbedingte oder eine bedingte Erbserklärung abgegeben wurde, kann die Forderung ins Leere gehen. Schließlich kann es vorkommen, dass auch eine mithaftende kirchliche Einrichtung nicht mehr vorhanden ist, weil etwa das betroffene Ordensinstitut aufgelassen wurde. Falls es überhaupt Rechtsnachfolger gibt, ist es oft schwierig, diese ausfindig zu machen und von ihnen Geld zurückzuerhalten.

nicht (wie Gerichte) nach einem förmlichen Beweisverfahren, sondern nur aufgrund einer groben Plausibilitätsprüfung der Darstellung der Opfer, die sich zuvor einem professionellen Clearing durch ausgewiesene Experten aus dem Fachgebiet der klinischen Psychologie und/ oder der Psychiatrie unterzogen haben, gegebenenfalls jedoch unter Einbeziehung der Ergebnisse eines bereits abgeschlossenen Strafverfahrens.“ 58 Z. B. Schadenersatz oder Gewährleistung (vgl. § 1397 ABGB). 59 Z. B. bei einer Falschbeschuldigung, etwa wenn der Priester nach der Zahlung von der Sache erfährt und das vorgetäuschte Opfer vor Gericht erfolgreich auf Unterlassung der Beschuldigung klagt.

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Die beschriebenen Schwierigkeiten sind dem österreichischen System immanent und werden von der Kirche durchaus bewusst in Kauf genommen. Schließlich soll den Opfern möglichst unkompliziert geholfen werden und angesichts des schon erlittenen Leids sollen sie nicht noch juristische und faktische Hürden überwinden müssen, um zu ihrem Recht zu kommen. Diese Lasten übernimmt die Kirche. Wenn die Stiftung Opferschutz abgetretene Forderungen nicht einbringen kann, entstehen freilich finanzielle Lücken, die durch die anderen im Statut vorgesehenen materiellen Mittel aufgefüllt werden müssen: Dotation durch die ÖBK in Kooperation mit der Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs und der Vereinigung der Frauenorden Österreichs (§ 2 Z. 3.2.1), Dotation durch sämtliche übrigen Einrichtungen der Kirche, insbesondere jene, in deren Wirkungsbereich einschlägige Delikte geschehen sind (§ 2 Z. 3.2.2) sowie Erträge aus Subventionen und Förderungen, Spenden oder letztwillige Zuwendungen und ähnliche Einnahmen (§ 2 Z. 3.2.4). 2. Andere mögliche Kategorien Neben der Zession kennt das Zivilrecht selbstverständlich weitere Rechtsformen, die für den Umgang mit sexuellem Missbrauch und Gewalt genützt werden können. In dem Unterstützungssystem, das die ÖBK geschaffen hat, spielen sie keine oder nur eine geringe Rolle. Den Betroffenen bleibt es aber unbenommen, sich ihrer anstelle oder in Ergänzung des Unterstützungssystems zu bedienen. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten dargestellt: (1) Schenkung: Die Schenkung ist ein Vertrag, durch den jemand verpflichtet wird, einem anderen eine Sache unentgeltlich zu überlassen (§ 938 ABGB). Die Übernahme einer Forderung in dem Bewusstsein, dass sie uneinbringlich ist oder die Eintreibung gar nicht versucht wird, mag wirtschaftlich als Schenkung empfunden werden, ist es aber juristisch betrachtet nicht. Dennoch gibt es im Unterstützungssystem der ÖBK Elemente, die als Schenkung qualifiziert werden können. So können die diözesanen Ombudsstellen Krisenintervention leisten und vermitteln bei Bedarf psychotherapeutische und gegebenenfalls seelsorgliche Hilfe.60 Die diözesanen Ombudsstellen können als erste Anlaufstellen für Opfer die Kosten der notwendigen Therapien übernehmen61 und sind mit einem Budget für akute Hilfeleistung ausgestattet.62 Diese Erst- bzw. Soforthilfe der Ombudsstellen beruht mehr auf der aktuellen Bedürftigkeit als auf dem geprüften Bestehen eines Schadenersatzanspruchs, so dass es sich um eine Unterstützung ex caritate handelt. Schenkungen können wegen Motivirrtums angefochten werden (§ 901 ABGB). Werden einem mutmaßlichen Opfer 500 Euro geschenkt, um eine Reise

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§ 8 Verfahrensordnung/2016 (Anm. 3). § 60 Verfahrensordnung/2016 (Anm. 3). 62 § 13 Verfahrensordnung/2016 (Anm 3). 61

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zur UOA zu finanzieren, so liegt darin kein Anerkenntnis eines Schadenersatzanspruchs, das die Verjährung unterbräche.63 (2) Vergleich: Ein Vergleich ist die unter beiderseitigem Nachgeben einverständliche neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter Rechte (§ 1380 ABGB). Das Instrument des Vergleichs wird bei Schadenersatzforderungen wegen sexuellen Missbrauchs häufig gewählt, weil die Höhe des Anspruchs strittig ist und ein Gerichtsprozess für beide Seiten mit Nachteilen verbunden wäre. Der Vergleich beseitigt die bisherige Unsicherheit endgültig. Wenn sich später herausstellen sollte, dass die Forderung höher gewesen wäre, kann die Differenz nicht vor Gericht eingeklagt werden. Das österreichische Unterstützungssystem beruht bewusst nicht auf dem Prinzip des Vergleichs. Es bleibt dem mutmaßlichen Opfer unbenommen, vor Gericht mehr zu fordern, als die UOK festgelegt und die Stiftung Opferschutz ausgezahlt hat.64 Der Empfänger der Zahlung muss nur schriftlich zur Kenntnis nehmen, dass der zugesagte Betrag auf eine allenfalls von ihm gegenüber dem Beschuldigten geltend zu machende Forderung anzurechnen ist. Wenn die Stiftung Opferschutz die Schadenersatzforderung nicht in der vollen Höhe übernimmt, handelt es sich um eine Teilzession. Da sich die UOK bei der Höhe des Betrags aber ohnehin an der Rechtsprechung der österreichischen Zivilgerichte zum immateriellen Schadenersatz orientiert,65 ist kaum mit Nachforderungen zu rechnen. Bei Vergleichen einigen sich die Parteien hingegen oft auf einen niedrigeren Betrag, weil die Höhe der Forderung eben nicht sicher ist. Außerdem wird bei Vergleichen oft eine Schweigepflicht für den Geschädigten vereinbart. Das österreichische System lehnt dies aber bewusst ab, um jeden Anschein von Vertuschung abzuwehren.66 (3) Schiedsspruch: Die Schiedsgerichtsbarkeit ist ein juristisches Mittel zur Streitbeilegung außerhalb staatlicher Gerichte. Sie beruht auf der Vereinbarung der Parteien, sich von vornherein dem Schiedsspruch zu unterwerfen. Ein Schiedsverfahren bietet sich bei Schadenersatzansprüchen wegen sexuellen Missbrauchs an, wenn die Parteien die Nachteile eines Zivilprozesses vermeiden wollen und sich allein auf keinen Vergleich einigen können. Im österreichischen System führen die Ombudsstellen und die diözesanen Kommissionen Erhebungen durch, auf deren Grundlage die UOK einen Betrag angibt. Dabei handelt es sich jedoch um kein Schiedsverfahren. Ähnlich wie ein Vergleich würde ein Schiedsverfahren die Sache abschließend regeln, so dass keine weitergehenden Forderungen mehr geltend gemacht werden könnten. Andererseits wäre der 63

OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 4.1. UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen (Anm. 56), S. 33, Nr. 8: kein Verzicht auf die Geltendmachung weitergehender Ansprüche auf dem ordentlichen Rechtsweg. 65 UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen (Anm. 56), Nr. 2. 66 UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen (Anm. 56), Nr. 8: keine Schweigepflicht. 64

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Schädiger in ein Schiedsverfahren als Partei voll einzubinden, was bei den Erhebungen im österreichischen System einen Mangel darstellt. (4) Amtshaftung: Wenn ein Schaden bei der Ausübung hoheitlicher Tätigkeit entsteht, ist auch an Amtshaftung zu denken. Darunter versteht man die Haftung des Bundes, der Länder, der Gemeinden und sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts für den Schaden, den die als ihre Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze durch ein rechtswidriges Verhalten schuldhaft zufügen (§ 1 Abs. 1 AHG). Im kirchlichen Bereich ist die Amtshaftung dann relevant, wenn kirchliche Organe mit staatlicher Hoheitsverwaltung betraut sind. Das ist z. B. dann der Fall, wenn ein kirchlicher Träger eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht führt.67 Die Judikatur qualifiziert eine von einem parteifähigen Orden betriebene Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht als beliehenes Unternehmen zur Erfüllung hoheitlicher Schulaufgaben.68 Bei Missbrauchsvorfällen ist jedoch genau zu differenzieren, in welchem Bereich sich diese ereignet haben. Hat ein Erzieher Schäden in der Freizeit zugefügt, sind die Ansprüche gegen den Erzieher selbst zu richten.69 Ereigneten sich die Vorfälle in einem privaten Schülerheim, das dem Gymnasium nur angeschlossen war, scheidet eine Amtshaftung mangels hoheitlicher Tätigkeit ebenso aus.70 Wenn die Misshandlungen jedoch außerhalb der Freizeit in einer sogenannten Höheren Internatsschule stattgefunden haben, sind die Erzieher als Organe im Sinn des § 1 Abs. 2 AHG zu qualifizieren.71 Die Rechtsfolge ist, dass der Geschädigte den Schadenersatz gegen das Organ im ordentlichen Rechtsweg nicht geltend machen kann (§ 9 Abs. 5 AHG). Stattdessen ist der Schadenersatz direkt vom Rechtsträger zu begehren (§ 8 AHG). Amtshaftung trifft in diesem Rahmen nicht den Schulerhalter, sondern in der Regel den Bund.72 Hat der Rechtsträger dem Geschädigten den Schaden ersetzt, so kann er nur dann vom Organ Rückersatz fordern, wenn es vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat (§ 3 Abs. 1 AHG). Zu beachten ist aber, dass zusätzlich eine vertragliche Haftung aufgrund eines Internatsvertrags oder Schulaufnahmevertrags bestehen kann, so dass in diesem Umfang auch der Rechtsweg gegen den unmittelbaren Schädiger zulässig ist.73

67 Stefan Schima, Nicht im Namen Gottes! Im Rahmen der Hoheitsverwaltung?, in: ecolex (2014), S. 856. 68 OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 3.3. 69 OGH, Gz. 1Ob29/14 t (27. 03. 2014), Nr. 5.1. 70 OGH, Gz. 1Ob29/14 t (27. 03. 2014), Nr. 5.2. 71 OGH, Gz. 1Ob29/14 t (27. 03. 2014), Nr. 5.3. 72 Christoph Brenn, Amtshaftung für Vorfälle im Internat, in: EvBl (2014), S. 910 – 913, hier S. 911. 73 OLG Innsbruck, Gz. 3R34/13v (11. 04. 2013), Nr. 3.4.

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IV. Gesamtbetrachtung 1. Würdigung des Systems Juristisch betrachtet steht im Kern des Unterstützungssystems, das die ÖBK geschaffen hat, das Zessionsmodell. Das wird von der Öffentlichkeit und selbst von manchen Akteuren des Systems aber nicht immer klar gesehen. Die UOK selbst erklärte: „Bei der Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen an Opfer von sexuellem Missbrauch und/oder physischen oder psychischen Übergriffen im Verantwortungsbereich der römisch-katholischen Kirche handelt es sich nicht um Schmerzengeldzahlungen im juristischen Sinn, sondern um eine Geste der Übernahme von Verantwortung durch die Kirche für unaufgeklärte oder jedenfalls ohne ausreichende Konsequenzen gebliebene Vorkommnisse in der Vergangenheit und einen Mangel an Selbstkontrolle in kirchlichen Institutionen.“74 Zwar ist richtig, dass es sich um keine Schmerzengeldzahlung handelt. Es ist aber auch nicht einfach eine Geste, sondern die Zahlung für eine Forderungsabtretung, wobei die Forderung sehr wohl immateriellen Schadenersatz, also Schmerzengeld, beinhaltet. Zudem ist „Übernahme der Verantwortung durch die Kirche“ ein schillernder Ausdruck, weil nicht klar wird, ob Verantwortung im juristischen Sinn von Schuld oder Haftung – etwa Gehilfenhaftung – oder in einem unbestimmten umgangssprachlichen Sinn verstanden wird. Außerdem bleibt der Ausdruck Kirche vage. Ist jene kirchliche juristische Person gemeint, in deren Wirkungsbereich die Vorfälle passiert sind, oder die ÖBK, die das System geschaffen hat, oder die Stiftung Opferschutz, welche die Zahlungen tätigt? In der Theorie ist mit dem Zessionsmodell eine beachtliche und juristisch klare Lösung gelungen. Den Opfern von sexuellem Missbrauch und Gewalt wird rasch und unbürokratisch geholfen, indem eine kirchliche Einrichtung ihren Schadenersatzanspruch übernimmt und ihnen dafür eine finanzielle Leistung in der entsprechenden Höhe erbringt. Die kirchliche Einrichtung leistet die Zahlung klar aufgrund eines Rechtstitels. Indem sie Inhaberin der Forderung wird, wahrt sie die Möglichkeit, den geleisteten Betrag von den Ersatzpflichtigen einzuziehen. Somit scheint das System ausgeglichen zu sein. Aber genau in diesem Punkt zeigen sich die Probleme in der Praxis. Die Schadenersatzforderung ist in vielen Fällen schlichtweg uneinbringlich, sei es dass sie verjährt ist, sei es dass der Schädiger verstorben oder zahlungsunfähig ist. Die Diözesen und Orden leisten Zahlungen für Personen, die in ihrem Wirkungsbereich tätig sind oder waren, ohne zu prüfen, ob wirklich eine Gehilfenhaftung vorliegt. In vielen Fällen läuft das System letztlich darauf hinaus, dass kirchliche Rechtsträger schlechterdings das Geld aufbringen, das mutmaßliche Opfer angesichts ihres Leids erhalten. Insofern ist die oben zitierte Erklärung der UOK durchaus realitätsnah.

74 UOK, Grundsätze für die Zuerkennung finanzieller und traumapsychologischer Hilfeleistungen (Anm. 56), S. 33, Nr. 1.

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Infolgedessen muss man sich fragen, ob man sich mit dem Zessionsmodell nicht selbst etwas vormacht. Die Diözesen und Orden nehmen bewusst in Kauf, dass sie das System letztlich unabhängig davon finanzieren, ob sie selbst eine Gehilfenhaftung trifft und ob die abgetretenen Schadenersatzforderungen eingebracht werden können. Sie erhalten dieses Unterstützungssystem nicht unbedingt aufgrund einer rechtlich fassbaren, eigenen Schuld oder Haftung, sondern aus einem moralischen Bewusstsein heraus, Opfer nicht im Regen stehen zu lassen. Gewiss verdient eine solche Haltung Anerkennung. 2. Einordnung in das kirchliche Vermögensrecht Neben der zivilrechtlichen Einordnung des österreichischen Unterstützungssystems ist seine Stellung im innerkirchlichen Vermögensrecht zu untersuchen, zumal keine geringen Vermögenswerte im Spiel sind. Mit Stand vom 11. März 2016 wurden den Opfern bisher in Summe 22 Millionen Euro zuerkannt, davon 17,6 Millionen Euro als Finanzhilfen und 4,4 Millionen Euro für Therapien.75 Da sowohl die kirchliche Stiftung Opferschutz als auch die Diözesen und die Institute des geweihten Lebens öffentliche juristische Personen sind, ist ihr Vermögen Kirchenvermögen und unterliegt den Bestimmungen des fünften Buches des CIC (c. 1257 § 1 CIC/1983).76 Die Veräußerung von Kirchenvermögen ist zwar nicht grundsätzlich verboten, aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden.77 Bei der Übernahme unsicherer Forderungen handelt es sich um veräußerungsähnliche Rechtsgeschäfte, weil sich die Vermögenslage dadurch verschlechtern könnte (c. 1295 CIC/1983).78 Wenn diese einen bestimmten Wert überschreiten, ist ein gerechter Grund erforderlich wie z. B. dringende Notwendigkeit, offenbarer Nutzen, Frömmigkeit, Caritas oder ein anderer gewichtiger pastoraler Grund (c. 1293 § 1, 18 CIC/1983). Die Wertgrenze liegt in Österreich bei 80.000 Euro.79 Die einzelnen Zahlungen der Stiftung Opferschutz überschreiten diese Grenze in der Regel nicht. Eine Zusammenrechnung mehrerer Zahlungen im Sinne des c. 1292 § 3 CIC/1983 findet grundsätzlich nicht statt, da es sich um separate Fälle handelt. Außerdem erfolgen die Zahlungen gewöhnlich nicht aus dem Stammvermögen (vgl. c. 1291 CIC/1983), so dass schon aus diesem Grund die Bestimmungen der cc. 1291 – 1294 CIC/1983 nicht anzuwenden sind.80 Des Weiteren stellen Zahlungen durch die Stiftung Opferschutz normalerweise keine Akte der außerordentlichen Verwaltung dar, die als solche besonderen Regelungen unterlägen (vgl. c. 1281 CIC/1983), denn die Zahlungen entsprechen ge75

http://www.ombudsstellen.at/ (Stand: 05. 04. 2017). Zutreffend weist § 3 Abs. 2 Statut/Stiftung auf die Grundsätze des Kirchenrechts für Vermögensverwalter hin. 77 Heimerl/Pree, VermR, Rz. 4/57. 78 Als Beispiele nennen Heimerl und Pree: Schiedsvertrag, Vergleich, Schuldübernahme und alle Risikogeschäfte (ebd., Rz. 4/44). 79 ABl. ÖBK 2008/45/II.4, S. 11. 80 Vgl. Heimerl/Pree, VermR, Rz. 4/34. 76

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rade der bestimmungsgemäßen Nutzung des Stiftungsvermögens und gehören daher zur ordentlichen Verwaltung. Welche Geschäfte hingegen zustimmungsbedürftig sind, legt § 5 des Stiftungsstatuts fest.81 Obwohl demzufolge besondere Genehmigungserfordernisse des Kirchenrechts in der Regel nicht zutreffen, handelt es sich doch um Kirchenvermögen, das auf jeden Fall kirchenspezifischen Zwecken vorbehalten ist (vgl. c. 1254 § 2 CIC/1983). Daher ist es legitim zu fragen, welche Zwecke mit dem österreichischen Unterstützungssystem erfüllt werden. Das gilt umso mehr, als es sich in Summe um erhebliche Beträge handelt. Von einer dringenden Notwendigkeit wird zu sprechen sein, wenn eine kirchliche juristische Person eine tatsächlich bestehende Schuld begleicht. Heinrichsmeier verlangte zudem, dass die Schuld fällig ist und ein Zugriff des Gläubigers im Wege der Zwangsvollstreckung vermieden werden kann.82 Diese zur Rechtslage gemäß CIC/ 1917 gemachte Äußerung erscheint heute jedenfalls zu streng, nachdem das kanonische Veräußerungsverbot gelockert worden ist. Die Kirche vertritt im Allgemeinen ein Rechtsverständnis, das nicht auf die zwangsweise Durchsetzung abstellt, sondern die Dimension der Gerechtigkeit hervorhebt. Daher wäre sie in ihrem eigenen Verhalten nicht kohärent, wenn sie mit Zahlungen warten würde, bis eine Zwangsvollstreckung droht. Gerechtfertigt ist daher auch die Tilgung verjährter Schulden, da diese wirklich bestehen, wenngleich sie nicht mehr gerichtlich eingeklagt werden könnten. Der Veräußerungsgrund der caritas wird dann in Betracht kommen, wenn finanzielle und therapeutische Hilfen aufgrund der unmittelbaren Bedürftigkeit und unabhängig von einer geprüften Schadenersatzforderung gewährt werden (s. o. III.2, zu „Schenkung“). Die Zahlungen erfolgen freiwillig und dienen der Linderung von Leid. Gegen eine solche Qualifizierung spricht aber, dass die Bedürftigkeit nicht das einzige Kriterium ist, sondern ebenso die Verursachung im kirchlichen Bereich. Sobald eine bestehende Schadenersatzforderung mit Regressansprüchen übernommen wird und die Zahlung auf weitergehende Ansprüche anrechenbar ist, kann nicht mehr von caritas gesprochen werden. Schließlich wollen sich die Opfer keineswegs als Empfänger karitativer Hilfen verstanden wissen, sondern als Geschädigte, denen eine Genugtuung gebührt. Allenfalls kann bei der Zession ein Moment der caritas gegeben sein, wenn der Zessionar dem Geschädigten diverse Risiken und Aufwendungen abnimmt, ohne deswegen das Entgelt für die Forderungsabtretung zu reduzieren (s. o. III.1.). Ein pastoraler Grund liegt jedenfalls dann vor, wenn seelsorgliche Hilfe geleistet wird, wie sie in der österreichischen Rahmenordnung ebenfalls vorgesehen ist.83 81

Z. B. Rechtsgeschäfte, die nicht zum gewöhnlichen Betrieb der Stiftung gehören und in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung 20.000 Euro im Einzelfall übersteigen (Z. 5). 82 Clemens Heinrichsmeier, Das kanonische Veräußerungsverbot im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Amsterdam 1970, S. 29. 83 § 8 Verfahrensordnung/2016 (Anm 3).

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Papst Benedikt XVI. bezeichnete Heilung und Hilfe, Beistand und Versöhnung für die Opfer als große seelsorgliche Verpflichtung.84 Wenn es darum geht, die Verwendung kirchlichen Vermögens zu begründen, muss jedoch über die einzelnen Opfer hinaus das gesamte kirchliche Umfeld berücksichtigt werden. Der offenbare Nutzen und ein wichtiger pastoraler Grund für das österreichische Unterstützungssystem als Ganzes liegen nämlich darin, verloren gegangene Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Kirche ein Stück weit wieder zu gewinnen. Darin ist ein Signal an die Öffentlichkeit zu sehen, Versäumnisse der Vergangenheit ernsthaft aufzuarbeiten. Liebmann spricht von einem „kirchenpolitisch-pastoralen Geniestreich“ Kardinal Schönborns.85 Durch eine Synthese mehrerer Veräußerungsgründe lässt sich demzufolge das gesamte System mit allen seinen Einzelelementen rechtfertigen. Es kann somit ohne Bruch in das universalkirchliche Vermögensrecht eingeordnet werden, wenngleich zu bemerken ist, dass dieses derartige Ausgaben offenbar nicht eigens bedacht hat. 3. Vergleich mit dem deutschen System Die Besonderheiten des österreichischen Systems treten noch deutlicher zutage, wenn es mit dem deutschen System verglichen wird. Bei nicht verjährten Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen empfiehlt die Deutsche Bischofskonferenz eine außergerichtliche Einigung mit den Anspruchstellern, gegebenenfalls mit Methoden der außergerichtlichen Streitbeilegung (z. B. Mediation).86 Nur bei eingetretener Verjährung sind so genannte „Leistungen in Anerkennung des Leids“ vorgesehen.87 Diese sollen jedoch primär durch den Täter persönlich erbracht werden und nur subsidiär von der betroffenen kirchlichen Körperschaft, sofern der Täter nicht mehr belangt werden kann oder nicht freiwillig leistet.88 Dafür wird ein Höchstbetrag von 5.000 Euro angegeben, der lediglich in besonders schweren Fällen durch andere oder zusätzliche Leistungen ergänzt wird.89 Um den Anschein einer Schadensersatzzahlung zu vermeiden und der Tatsache der Verjährung Rechnung zu tragen, wird bewusst keine Zahlung in der Höhe eines fiktiven Schadensersatzes gewährt. In 84 Benedikt XVI., Interview mit Journalisten beim Flug in die Vereinigten Staaten von Amerika (15. 04.2008), online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2008/ april/documents/hf_ben-xvi_spe_20080415_intervistausa.html (Stand: 05. 04. 2017). 85 Maximilian Liebmann, Die Societas-perfecta-Doktrin beim Vertuschen des sexuellen Verbrechens, in: Josef Marko/Wolfgang Schleifer (Hrsg.), Staat und Religion. 9. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz (16. Mai 2014), Graz 2014, S. 175 – 179, hier S. 176. 86 Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde (24. 01. 2011), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 246), S. 33 – 38, Art. A. 87 Leistungen in Anerkennung des Leids (Anm. 86), Art. B.III. 88 Leistungen in Anerkennung des Leids (Anm. 86), Art. B.III. 89 Leistungen in Anerkennung des Leids (Anm. 86), Art. B.IV.

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Deutschland wird die Höhe der Zahlung somit in ein Verhältnis zur Intensität der Überprüfung und zur Gewissheit des Vorbringens gesetzt. Dieses Modell kommt ohne Zession von Schadensersatzforderungen aus. Der konkrete Betrag wird – ähnlich der UOK – von einer zentralen Koordinierungsstelle nach Überprüfung der Voraussetzungen angegeben.90 Die anschließende Zahlung erfolgt aber nicht durch eine der Stiftung Opferschutz vergleichbare zentrale Einrichtung, sondern direkt durch die betroffene kirchliche Körperschaft.91 Die Probleme, die der österreichischen Stiftung Opferschutz bei der Einforderung des Geldes begegnen, entstehen daher im deutschen System von vornherein nicht. Die diversen Risiken verbleiben aber beim Opfer. Ergänzend muss freilich erwähnt werden, dass die Deutsche Bischofskonferenz noch in andere Unterstützungssysteme eingebunden ist wie das Ergänzende Hilfesystem der Bundesrepublik Deutschland und die Stiftung Anerkennung und Hilfe, die nach eigenen Kriterien arbeiten.

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Leistungen in Anerkennung des Leids (Anm. 86), Art. C.III.3. Leistungen in Anerkennung des Leids (Anm. 86), Art. C.III.4.

Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983 Von Konrad Breitsching „Das System einer Kodifikation geht davon aus, daß der Gesetzgeber im vornhinein jeden möglichen künftigen Fall regelt, damit der Angehörige der Rechtsgemeinschaft jederzeit wissen kann, welches Handeln erlaubt ist und welches nicht, welche rechtswidrige Tat sanktioniert werden kann und welche nicht. In einem solchen System kann eine Sanktion daher nur verhängt werden, wenn sie zuvor durch Sanktionsgesetz oder Sanktionsgebot angedroht worden ist.“1 Mit diesen Worten bringt der Jubilar zum Ausdruck, was heute von einer modernen, an den Menschenrechten orientierten und Rechtssicherheit schaffen wollenden Rechtskultur zu erwarten ist.2 Im Strafrecht gipfelt diese Rechtskultur im Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege praevia.3 Man möchte daher meinen, dass gerade die Rechtsordnung der Kirche diesem Anspruch in besonderer Weise genügen würde, vor allem, da der Einsatz für die Menschenrechte nach dem heutigen Selbstverständnis der Kirche zu ihrem Sendungsauftrag gehört und die Menschenrechte ein fixer Bestandteil der kirchlichen Soziallehre sind.4 Ferner war der Rechtsschutz der subjektiven Rechte der Gläubigen ein explizites Anliegen der Kodexreform, wie den von der Bischofssynode von 1967 formulierten Reformprinzipien zu entnehmen ist.5 Darüber hinaus 1

Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 248 f. Auch wenn die Bedingungen für umfassende Kodifikationen heute aus verschiedenen Gründen (gesellschaftlicher Pluralismus, die Dynamik gesellschaftlicher Veränderung usw.) deutlich schwieriger geworden sind, so zählt die Kodifikation des Rechts noch immer zu den Errungenschaften einer modernen Rechtskultur; vgl. Christian Starck, Art. Kodifikation, in: StL7 3, Sp. 563 f. 3 In der europäischen Menschenrechtskonvention lautet dieser Grundsatz in Art. 7 (1): „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“ (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz [= dtv 5531], München 20045, S. 401 – 413, hier S. 404). 4 Vgl. Konrad Breitsching, Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, in: ders./Wilhelm Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. FS Mühlsteiger (65) (= KST 46), Berlin 2001, S. 191 – 221, hier S. 196. 5 Vgl. Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, in: Com 1 (1969), S. 77 – 85, hier S. 82 f.; s. dazu auch Wilhelm Rees, Bestrafung ohne Strafgesetz. Die strafrechtliche Generalklausel des c. 1399 des Codex Iuris Canonici, in: Winfried Aymans/KarlTheodor Geringer (Hrsg.), Iuri Canonico Promovendo. FS Schmitz (65), Regensburg 1994, S. 373 – 394, hier S. 374; Heribert Schmitz, Der Codex Iuris Canonici von 1983, in: HdbKathKR2, S. 49 – 76, hier S. 59; Giuseppe Dalla Torre, Qualche considerazione sul prin2

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enthielt das Schema zur LEF aus dem Jahre 1971 in c. 21 eine Formulierung, die eine Bestrafung nur in den vom Gesetz selbst festgelegten Fällen und auf die von ihm bestimmte Weise zuließ.6 In modifizierter Form findet sich dieser Kanon nun in c. 221 § 3 CIC/1983 wieder,7 der das Recht der Gläubigen festhält, „dass kanonische Strafen über sie nur nach Maßgabe des Gesetzes (ad normam legis) verhängt werden“.8 Entsprechend dieser Norm ist in der Regel davon auszugehen, dass die Gläubigen nur auf der Grundlage der Strafgesetze des Kodex oder außerhalb desselben erlassener Strafgesetze belangt werden.9 Zusätzlich verbietet c. 19 CIC/1983 eine Lückenschließung in Strafsachen per Analogie. Doch gemäß c. 1399 CIC/1983 misst das kirchliche Strafrecht dem Grundsatz nulla poena sine lege poenali „keine ausnahmslose Geltung zu, indem es dem Richter bzw. Ordinarius die Befugnis einräumt, eine nicht mit Sanktion bedrohte Gesetzesverletzung mit einer gerechten Strafe zu ahnden, wenn die besondere Schwere der Gesetzesverletzung dies erforderlich macht und zugleich drohenden oder bereits entstandenen Ärgernissen begegnet werden muß.“10

cipio de legalità nel diritto penale canonico, in: Ang 85 (2008), S. 267 – 287, hier S. 268. Ferner wird unter den allgemeinen Prinzipien, die für die Erarbeitung des Strafrechtsschemas leitend waren, ausdrücklich angeführt, dass mit allen Kräften (totis viribus) Sorge getragen worden sei, die Würde der menschlichen Person und den Schutz der Rechte in jeder Hinsicht (omnino) zu achten; vgl. PCR, Schema documenti quo disciplina sanctionum seu poenarum in Ecclesia latina denuo ordinatur, Typis Polyglottis Vaticanis 1973, S. 5. 6 „Nemo puniri potest nisi in casibus ipsa lege definitis atque modo ab eadem determinato“ (PCR, Schema Legis Ecclesiae Fundamentalis. Textus emandatus cum relatione de ipso schemate deque emendationibus receptis, Typis Polyglottis Vaticanis 1971, S. 19). Im abschließenden Entwurf von 1980 lautet c. 21 jedoch nach langer Diskussion in einer offeneren Formulierung wie folgt: „Christifidelibus ius est ut poenis canonicis plectantur, nisi ad normam legis“ (Com 10 [1980], S. 41). 7 Vgl. Josemaría Sanchis, La legge penale e il precetto penale (= MonG 7), Milano 1993, S. 45; Roberto Gottero, La «norma generale» del diritto penale canonico (can. 1399), in: QDE 10 (1997), S. 343 – 354, hier S. 347. 8 Mit c. 221 § 3 CIC/1983 wird der Nulla-poena-Grundsatz an markanter Stelle in die kirchliche Rechtsordnung übernommen; vgl. Ernest Caparros/Michel Thériault/Jean Thorn (Hrsg.), Code of Canon Law Annotated, Montreal 1993, S. 196. 9 Vgl. dazu auch Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 375; Hugo Schwendenwein, Das neue Kirchenrecht. Gesamtdarstellung, Graz u. a. 1983, S. 448. 10 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 249. Während der Reformarbeiten am Kodex wurde zwar die Frage gestellt, ob man im Strafrecht das Legalitätsprinzip in der Form nullum crimen nullaque poena sine lege einführen wolle, sodass die Generalklausel in Gestalt des c. 73 des Strafrechtsschemas zu unterdrücken sei, die Frage wurde aber von den Konsultoren nicht behandelt. Sie wurde vielmehr an die Plenaria der Kardinäle weitergereicht und von dieser verneint; vgl. Congregatio plenaria, in: Com 9 (1977), S. 65 – 82, hier S. 80; Coetus studiorum de iure poenali, in: Com 9 (1977), S. 304 – 322, hier S. 318 u. 321; s. dazu auch Klaus Lüdicke, c. 1399, Rdnr. 1, in: MK CIC (Stand: November 1993); José San José Prisco/ Myriam M. Cortés Diéguez (Hrsg.), Derecho Canonico II. El Derecho en la misión de la Iglesia, Madrid 2006, S. 225 f.; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 44 f.

Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983

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I. Der Normgehalt von c. 1399 CIC/1983 C. 1399 CIC/1983 lautet: „Außer den Fällen, die in diesem oder in anderen Gesetzen geregelt sind, kann die äußere Verletzung eines göttlichen oder eines kanonischen Gesetzes nur dann mit einer gerechten Strafe belegt werden, wenn die besondere Schwere der Verletzung eine Bestrafung fordert und die Notwendigkeit drängt, Ärgernissen zuvorzukommen oder sie zu beheben.“11 Vorweg ist anzumerken, dass gemäß c. 18 CIC/1983 eine enge Interpretation vorzunehmen ist, da es sich hier um eine Strafnorm handelt. Dasselbe fordert der Ausnahmecharakter der Norm, der durch das „nur dann (tunc tantum)“ angezeigt wird.12 Der Kanon erlaubt neben den im Kodex oder anderen Gesetzen konkret angedrohten Strafen in Form einer Generalklausel13 jegliche äußere14 Übertretung eines göttlichen oder kanonischen Gesetzes – sei dieses ein universales oder partikulares, ein kodikarisches oder außerkodikarisches –15 mit einer gerechten Strafe zu belegen. Unter einem göttlichen Gesetz ist hier eine in „authentischer und öffentlicher Form“ vorgelegte Norm bzw. Rechtsnorm zu verstehen, die als unmittelbar anwendbare ausformuliert ist und deren Gehalt (materiales Substrat) auf einen in der Offenbarung bzw. im Wesen des Menschen gründenden Wert oder ein entsprechendes Gut oder Prinzip abzielt.16 Kanonisches Gesetz meint hier ein Gesetz, das von einem kirchlichen Gesetzgeber erlassen ist und nicht unmittelbar dem Schutz eines Aspekts der zuvor genannten Trias dient. Es ist also damit das angezielt, was man herkömmlich als ius

11 Im aktuellen Strafrechtsentwurf lautet c. 1399: „Außer den Fällen, die in diesem oder in anderen Gesetzen geregelt sind, kann die äußere Verletzung eines göttlichen oder eines kirchlichen Gesetzes nur dann mit einer gerechten Strafe belegt werden, wenn die Verletzung und deren Schwere aufgrund der kirchlichen Lehre selbst klar und sicher hervortritt und infolgedessen vernünftigerweise eine Strafe vorgesehen werden kann und nur wenn eine Notwendigkeit drängt, einen Schaden und ein Ärgernis zu beheben.“ (Übers. Verf.); PCLT, Schema recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici, in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), Paderborn 2017, S. 209 – 233, hier S. 232. 12 Vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 51. 13 Mitunter wird sie auch als „Auffangklausel“ bezeichnet; vgl. Rafael M. Rieger, Das Ausscheiden aus dem klerikalen Stand, in: HdbKathKR3, S. 410 – 429, hier S. 419. 14 „Bloße Gedanken, die nicht in die äußere Erscheinung treten, unterliegen wohl der moralischen Beurteilung (können Sünde sein), nicht aber dem Strafrecht […].“ (Schwendenwein, Kirchenrecht [Anm. 9], S. 450). 15 Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 352. 16 Vgl. Helmuth Pree, Ius divinum aus rechtstheoretischer und rechtstheologischer Perspektive, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), Paderborn 2016, S. 479 – 493, hier S. 483 u. 485. „Für das ius divinum als Regelungsgegenstand einer bestimmten Rechtsnorm lässt sich dazu feststellen: Der Normtext ist in jedem Falle und ausschließlich menschlicher Provenienz; der unverfügbare Gehalt liegt im materialen Substrat, welches aber für sich genommen keine anwendbare Rechtsnorm darstellt […].“ (ebd., S. 483).

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mere ecclesiasticum bezeichnet.17 Zu betonen ist ferner, dass c. 1399 CIC/1983 nur bei Übertretung eines Gesetzes, nicht aber bei Übertretung eines Verwaltungsbefehls herangezogen werden kann.18 Da hinsichtlich der Zurechenbarkeit nicht auf Fahrlässigkeit (culpa) verwiesen wird, kann der Kanon nur auf eine vorsätzliche (ex dolo) Gesetzesübertretung angewandt werden (vgl. c. 1321 § 2 CIC/1983),19 d. h. der Täter muss sich seiner rechtswidrigen Handlungsweise bewusst gewesen sein und sie dennoch gewollt haben.20 Um auf eine äußere Verletzung eines nicht mit einer Strafe bedrohten Gesetzes mit einer Strafe reagieren zu können, müssen darüber hinaus zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein. Zum einen muss die Rechtsverletzung einen derartigen Schweregrad21 (specialis gravitas) aufweisen, dass sie geradezu nach einer Bestrafung verlangt,22 zum anderen muss bereits ein Ärgernis eingetreten sein, das es zu beheben 17

Vgl. Bruno Fabio Pighin, Diritto penale canonico. Nuova edizione riveduta e ampliata (= Manuali 8), Venedig 2014, S. 544. 18 Vgl. Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 544; Bernd Eicholt, Geltung und Durchbrechung des Grundsatzes „nullum crimen nulla poena sine lege“ im kanonischen Recht, insbesondere in c. 1399 CIC/1983 (= AIC 39), Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 187 f. Nach Sanchis, Legge penale (Anm. 7), 49 f., ist der Begriff lex in dem Kanon nicht in einem formaljuridischen Sinn zu verstehen. Dies wird man aber nur im Hinblick auf eine lex divina sagen können. Eine solche gilt nämlich bereits als rechtlich verpflichtend, wenn sie durch das Lehramt authentisch formuliert vorliegt, und zwar auch ohne als Gesetz promulgiert worden zu sein. „In Wirklichkeit hat die authentische Auslegung des Wortes Gottes, die vom Lehramt der Kirche vorgenommen wird (vgl. II. Vatikanisches Konzil, dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10 § 2), rechtliche Bedeutung in dem Maß, in dem sie den Rechtsbereich betrifft, und sie benötigt keinen weiteren formellen Übergang, um rechtlich und moralisch bindend zu werden.“ (Johannes Paul II., Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofs der Römischen Rota zur Eröffnung des Gerichtsjahres [29. 01. 2005], in: AfkKR 174 [2005], S. 157 – 160, hier S. 159). 19 S. dazu Schwendenwein, Kirchenrecht (Anm. 9), S. 450 f.; Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 344; Velasio De Paolis/Davide Cito, Le Sanzioni nella Chiesa. Commento al Codice di Diritto Canonico, Città del Vaticano 2000, S. 368; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 51; Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 544. Nach c. 1321 § 2 des Strafrechtsentwurfs könnten in Zukunft auch Fahrlässigkeitsdelikte in Frage kommen: „[…] qui vero id egit ex omissione debitae diligentiae poena minore quam statuta puniatur.“ (PCLT, Schema [Anm. 11], S. 212). 20 Vgl. Reinhold Sebott, Das kirchliche Strafrecht. Kommentar zu den Kanones 1311 – 1399 des Codex Iuris Canonici, Frankfurt a. M. 1992, S. 49. 21 Als Orientierung zur Bemessung der Schwere gelten die Bedeutung der verletzten Vorschrift (gravitas obiectiva) und die innere Haltung und Intention des Täters (gravitas subiectiva); vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 50; s. auch Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 344; Luigi Chiappetta, Il Codice di Diritto Canonico. Commento giuridico-pastorale. II. Libri III-IV-V-VI, Rom 1996, S. 692; Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 191. Der objektive Schweregrad unterscheidet dabei die Straftat von der (bloßen) Sünde; vgl. Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545. 22 Die Dringlichkeit bestimmt sich danach, ob der Schutz des Gemeinwohls eine schnelle Reaktion verlangt, und nicht danach, ob emotionale Gründe, die in der individuellen Situation des Täters oder der sanktionierenden Autorität begründet liegen, dazu drängen oder die Medien einen entsprechenden Druck ausüben; vgl. Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545.

Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983

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gilt, oder ein Ärgernis vorauszusehen sein, das es zu vermeiden gilt.23 Damit hat c. 1399 CIC/1983 gegenüber c. 2222 § 1 CIC/1917 hinsichtlich seiner Anwendbarkeit insofern eine Einschränkung erfahren, als damals die Schwere der Straftat oder die Behebung bzw. Vermeidung eines Ärgernisses je für sich genügten, um eine Bestrafung vorzunehmen.24 Die gegenwärtige Formulierung bringt daher über das „tunc tantum“ hinaus noch stärker den Ausnahmecharakter der Norm zum Ausdruck.25 Ärgernis meint „die nach außen in Erscheinung tretende, Widerspruch hervorrufende, von einem erheblichen Teil der kirchlichen Gemeinschaft mißbilligte Schädigung des kirchlichen Zeugnisses und der Ordnung der Kirche durch die Übertretung eines göttlichen oder kirchlichen Gebotes“26. Darüber hinaus zielt der Begriff auf das Gefährdungspotential der Tat für die Mitchristen wegen der möglichen Verunsicherung im Glauben und in der Disziplin sowie wegen des schlechten Beispiels.27 Die Beurteilung der Schwere der Straftat sowie des Gegebenseins oder wahrscheinlichen Eintretens eines Ärgernisses, was auch die öffentliche Bekanntheit der Gesetzesverletzung als Tatbestandsmerkmal voraussetzt,28 liegt dabei allein im Ermessen des Or23 Nach Primetshofer lässt sich „kein Konfliktfall von der Art konstruieren, daß im Interesse des Seelenheils wessen immer eine Strafe i. e. S. ohne vorausgehendes Strafgesetz oder zumindest vorausgehenden Strafbefehl gerechtfertigt wäre.“ (Bruno Primetshofer, Vom Geist des Codex Iuris Canonici 1983, in: Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften von Bruno Primetshofer, hrsg. v. Josef Kremsmair/Helmuth Pree [= KST 44], Berlin 1997, S. 205 – 224, hier S. 223). Woestman führt als hypothetisches Beispiel den Fall eines Klerikers, Religiosen oder Laien an, der durch antisemitische Publikationen, Radio oder Fernsehen sowie das Internet wiederholt den Holocaust durch die Nazis im 2. Weltkrieg leugnet; vgl. William H. Woestman, Ecclesiastical Sanctions and the Penal Process. A Commentary on the Code of Canon Law Ottawa 20032, S. 155 f. Im Kontext des strafrechtlichen Vorgehens gegen sexuellen Missbrauch von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren durch Kleriker bezog man sich zuletzt mangels anderweitiger Gesetze auf c. 1399 CIC/1983 als Rechtsgrundlage; vgl. Wilhelm Rees, Koordiniertes Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch – Die Normen der Kongregation für die Glaubenslehre über die delicta graviora vom 21. 05. 2010, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 8), Würzburg 2012, S. 67 – 135, hier S. 102. 24 Vgl. dazu Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, 249; Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 185; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 52. Sanchis sieht allerdings in der dringenden Beseitigung bzw. Vermeidung des Ärgernisses den eigentlichen Rechtfertigungsgrund für die Anwendung des c. 1399 CIC/1983; ebd. 53 f. 25 Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 348; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 51 f.; Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545; Raffaele Botta, La norma penale nel diritto della Chiesa (= Strumenti. Diritto. Corso di diritto canonico), Bologna 2001, S. 32. 26 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Ärgernis. II. Kath., in: LKStKR 1, S. 164 – 166, hier S. 164. 27 Vgl. Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 387; Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 192 f. 28 „Ein Ärgernis setzt […] ein öffentlich bekanntes Verhalten voraus. Dieses Verhalten muss zwar nicht allgemein bekannt, darf aber auch nicht vollständig verborgen sein. Nicht ausreichend ist es auch, wenn nur wenige Personen hiervon Kenntnis haben.“ (Eicholt, Geltung [Anm. 18], S. 192); vgl. ferner Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545; Antonio Calabrese, Diritto penale canonico, Città del Vaticano 19962, S. 366.

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dinarius.29 Er hat nämlich darüber zu entscheiden, ob die Bedingungen erfüllt sind, dass auf der Basis von c. 1399 CIC/1983 ein Strafprozess oder eine Bestrafung auf dem Verwaltungswege eingeleitet werden soll (vgl. c. 1718 § 1, 38 CIC/1983).30 Als Straffolge ist eine gerechte Strafe (iusta poena) zu verhängen, die den unbestimmten Strafen zuzuordnen ist. Art und Angemessenheit der Strafe liegen somit im Ermessen des Richters bzw. des Ordinarius. Im konkreten Fall liegt es überdies im Ermessen des Richters bzw. Ordinarius, ob überhaupt mit einer Strafe auf die Rechtsverletzung reagiert werden soll, da die Strafe nur fakultativ (potest) angedroht wird. In der Regel verbietet c. 1349 CIC/1983 im Falle von unbestimmten Strafen die Verhängung von schwereren Strafen.31 Es sollte aber auch aus Fairnessgründen nur auf leichtere Strafen zurückgegriffen werden, „for the alleged offender, however imputable, could neither have anticipated the penalty nor adequately defended himself or herself“32. Da die Strafe fakultativ ist, kann an ihrer Stelle auch eine Strafbuße verhängt werden (vgl. c 1343 CIC/1983). Außerdem sind gemäß c. 1349 CIC/1983 im Falle von unbestimmten Strafen dauerhafte Sühnestrafen ausgeschlossen.33 „Es bleiben daher nur zeitliche Sühnestrafen anwendbar.“34 Denn Beugestrafen fallen ebenso weg, zumal sie gemäß c. 1347 § 1 CIC/1983 eine Verwarnung verlangen, was dem Zweck von c. 1399 CIC/1983, der auf eine schnelle Reaktion aufgrund öffentlichen Interesses ausgerichtet ist, zuwiderlaufen würde.35 Ferner kommen nur Spruchstrafen in Frage, weil der Kanon bezüglich des Eintretens der Strafe ein Eingreifen der

29 Vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 56; Riedel-Spangenberger, Ärgernis (Anm. 26), S. 164. 30 S. dazu Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 103. 31 S. dazu Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 54. 32 Thomas J. Green, Book VI. Sanctions in the Church (cc. 1311 – 1399), in: John P. Beal/ James A. Coriden/ders. (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law. Commissioned by the Canon Law Society of America, New York/Mahawah 2000, S. 1528 – 1605, hier S. 1604. 33 Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 345; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 55; Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545; Green, Book VI (Anm. 32), S. 1604. 34 „Restano pertanto utilizzabili solo le pene espiatorie temporanee“ (De Paolis/Cito, Sanzioni [Anm. 19], S. 369); vgl. auch Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545. 35 „Inoltre, poiché l’inflizione delle censure (scomunica, indertetto, sospensione) richiede che si faccia una previa ammonizione al reo e gli si assegni un tempo congruo per recedere dalla contumacia, cioè per ravvedersi (cf. can. 1347 § 1), ciò diventa incompatibile con il fine della norma generale, che è quello di intervenire quando si renda urgente la necessità di riparare o far cessare uno scandalo“ (Gottero, Norma generale [Anm. 7], S. 345); „The penalty is expiatory rather than a censure, since no warning is necessary for its imposition and its primary focus is not reforming the offender but restoring the violated ecclesial order.“ (Green, Book VI. [Anm. 32], S. 1604); vgl. auch De Paolis/Cito, Sanzioni (Anm. 19), S. 369; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 55; Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 545; Calabrese, Diritto penale (Anm. 28). S, 366; Antonio Benlloch Poveda (Hrsg.), Código de Derecho Canónico. Edición bilingüe, fuentes y comentarios de todos los cánones, Valencia 1993, S. 615.

Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983

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kirchlichen Autorität verlangt.36 Schließlich muss bei der Anwendung noch c. 1324 § 1, 98 als Schuldmilderungsgrund berücksichtigt werden.37

II. Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983 1. C. 1399 CIC/1983 und das Prinzip nulla poena sine lege a) Die Bedeutung des Rechtsprinzips nulla poena sine lege Das Rechtsprinzip – in seinem vollen Wortlaut nullum crimen, nulla poena sine lege poenali praevia lautend38 – bringt das strafrechtliche Legalitätsprinzip zum Ausdruck39 und gehört zum Angelpunkt40 des Strafrechts moderner Demokratien bzw. ist „seit der Aufklärung ein Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafrechts“41. Nach Volker Krey lassen sich aus ihm vier Verbote bzw. Teilprinzipien ableiten, nämlich das Verbot der Statuierung von Strafen durch Gewohnheitsrecht, das Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen, das Verbot der Lückenschließung durch Analogie und schließlich das Verbot unbestimmter Strafbestimmungen bzw. das Bestimmtheitsgebot.42 Letztlich bleibt das Nulla-poena-Prinzip in einer Rechtsordnung nur dann voll aufrecht, wenn alle der genannten Teilprinzipien anerkannt werden.43 36

Vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 54. Vgl. Redazione di QDE (Hrsg.), Codice di diritto canonico commnetato, Mailand 2001, S. 1101. 38 Die Formulierung in seinem bis heute gebräuchlichen Wortlaut geht auf Paul Johann Anselm v. Feuerbach zurück; vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Art. Nulla poena sine lege, in: HRG 3, Sp. 1104 – 1111, hier Sp. 1108; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 94; Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 378 f. 39 Vgl. Karl Heinz Auer, Verfassung und Strafrecht im Kontext rechtsphilosophischer Ethik (= Juristische Schriftenreihe 157), Wien 2000, S. 100; Velasio De Paolis, Art. Nulla poena sine lege, in: Carlos Corral Salvador/ders./Gianfranco Ghirlanda (Hrsg.), Nuovo Dizionario di Diritto Canonico, Mailand 1993, 719 f., hier S. 719. 40 Vgl. Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 267. 41 Peter Kasiske, Strafrecht I: Grundlagen und Allgemeiner Teil (= Kompass Recht), Stuttgart 2011, S. 3; Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 343 f.; zur geschichtlichen Entwicklung und Begründung des Grundsatzes im weltlichen Recht s. Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 107 – 128. 42 Vgl. Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz. Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, Berlin/New York 1983, S. 1; s. dazu auch Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4; Albin Eser, Strafrecht in Staat und Kirche. Einige vergleichende Beobachtungen, in: Dieter Schwab/Dieter Giesen/Joseph Listl/Hans-Wolfgang Strätz (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. FS Mikat (65), Berlin 1989, S. 493 – 513, hier S. 507; Schreiber, Nulla poena (Anm. 36), Sp. 1104 f.; Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 275; José Prisco/Cortés Diéguez, Derecho Canonico (Anm. 10), S. 225; Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 376 f.; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 95 f. 43 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 2. 37

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Das Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung bzw. das „Schriftlichkeitsgebot (lex scripta)“44 zielt auf die Gewinnung von Rechtssicherheit im Sinne von „Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit des Rechts“45, die das geschriebene Recht, insbesondere im Strafrechtsbereich, in einem bedeutend höheren Maße bieten kann als das nicht immer leicht feststellbare Gewohnheitsrecht.46 Im staatlichen Bereich dient das Verbot ferner der Festigung der Gewaltenteilung, da Gewohnheitsrecht in der Regel Richterrecht ist.47 Das Rückwirkungsverbot („lex praevia“)48 dient ebenfalls der Stärkung der Rechtssicherheit.49 „Damit der Rechtsunterworfene sein Verhalten am Inhalt strafrechtlicher Normierungen ausrichten kann, ist es unabdingbares Erfordernis, ,Straftatbestände präzise ex ante festzulegen‘, wodurch auch die Funktion des Strafrechts iS einer Verhaltenssteuerung ex ante deutlich wird.“50 Darüber hinaus würden rückwirkende Strafgesetze mit der Zielsetzung der Generalprävention kollidieren.51 Das Analogieverbot („lex stricta“)52 strebt neben seinem primären Ziel, der Rechtssicherheit, ähnlich wie das Verbot der gewohnheitsrechtlichen Strafbegründung auf die Festigung der Gewaltenteilung und den Schutz vor richterlicher Willkür.53 Selbst wenn ein Strafgesetz wie jedes andere Gesetz ausgelegt werden muss, „ist die Auslegung zu Lasten des Angeklagten aber nur bis zur Grenze des Wortlauts der gesetzlichen Norm erlaubt. Alles was darüber hinaus geht, ist eine verbotene strafbegründende bzw. strafverschärfende Analogie.“54 44

Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4. Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre (= Schriftenreihe der Juristischen Schulung 93), München 201211, S. 39. 46 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 130. Ein „hohes Maß an Rechtssicherheit, wie es von Verboten strafrechtlicher Natur erwartet wird, kann anders [als durch geschriebenes Recht, Verf.] nicht erreicht werden.“ Stefan Seiler, Strafrecht. Allgemeiner Teil I. Grundlagen und Lehre von der Straftat, Wien 2016, S. 32. Nach Kasiske gilt das Verbot der Anwendung von Gewohnheitsrecht im Strafrecht allerdings nur, insofern es zu Lasten des Täters angewandt wird: „Dagegen ist es zulässig, zu Gunsten des Täters die Strafbarkeit auszuschließen oder zu beschränken, etwa durch gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe.“ (Kasiske, Strafrecht [Anm. 41], S. 4). 47 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 130 f. „Gewohnheitsrecht wird ja herkömmlich definiert als ,langdauernde Übung‘, die durch die ,Rechtsüberzeugung der Beteiligten‘ getragen wird. Indes ist es mit dieser vermeintlich ,urdemokratischen‘ Legitimation nicht weit her. Denn tatsächlich ist Gewohnheitsrecht (grundsätzlich) Juristenrecht.“ (ebd., S. 131). 48 Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 5. Das Rückwirkungsverbot gilt jedoch nur für das materielle Strafrecht: „Auch Änderungen in der Rechtsprechung, die für den Täter rückwirkend nachteilige Wirkungen haben, werden vom Rückwirkungsverbot nicht umfasst.“ (ebd.). 49 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 132. 50 Auer, Verfassung (Anm. 39), S. 101. 51 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 133 f. 52 Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4. 53 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 135. 54 Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4.; s. dazu auch Auer, Verfassung (Anm. 39), S. 105. 45

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Schließlich zielt auch das Bestimmtheitsgebot („lex certa“)55 auf die Rechtssicherheit, insbesondere im Sinne der individuellen Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Strafrechts.56 Selbst wenn eine absolute Berechenbarkeit des Rechts nicht erreichbar ist, darf eine menschenrechtsorientierte Rechtskultur nicht auf eine relative Berechenbarkeit verzichten; nicht zuletzt ist Rechtssicherheit durch Gesetzesbestimmtheit Ausdruck der objektiven Qualität des Rechts.57 Gesetzesbestimmtheit schützt ferner vor richterlicher Willkür. „Je präziser die Strafgesetze abgefaßt sind, desto enger ist der Entscheidungsspielraum des Richters.“58 Die Gesetzesbestimmtheit hat in einem Ausmaß zu erfolgen, dass dem Glied der Rechtsgemeinschaft ermöglicht wird, sich eine klare Vorstellung von dem strafbaren Verhalten zu machen.59 Die rechtsgeschichtliche Reflexion des Rechtsprinzips im weltlichen Recht lässt die gesetzliche Bindung der Staatsgewalt zum Schutz des Individuums vor Willkür als rechtspolitischen Hintergrund erkennen.60 Das Nulla-poena-Prinzip verfolgt also zwei Grundanliegen, die Schaffung von Rechtsicherheit und die Vermeidung von Willkür, beides im Dienste der Gerechtigkeit.61 b) Zum Bruch des Nulla-poena Prinzips durch c. 1399 CIC/1983 Der CIC/1917 hatte erstmals in der kirchlichen Rechtsgeschichte unter Beeinflussung der modernen profanen Rechtsentwicklung das Nulla-poena-Prinzip in ausdrücklicher, wenn auch impliziter Form,62 über die Definition der Straftat in c. 2195 § 1 CIC/191763 einer rechtlichen Normierung zugeführt.64 § 2 desselben Ka55

Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4. „Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz müssen die gesetzlichen Tatbestände in ihren Wortlaut präzise gefasst sein, d. h. sie müssen das strafrechtlich verbotene Handeln möglichst exakt beschreiben. Allerdings lässt es sich in der Praxis manchmal nicht vermeiden, dass Tatbestände relativ weit formuliert sind, um alle strafwürdigen Sachverhalte zu erfassen. Eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots kommt daher vor allem dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich darauf beschränkt, das durch Strafe bedrohte Verhalten lediglich durch ein pauschales Unwerturteil zu beschreiben.“ Kasiske, Strafrecht (Anm. 41), S. 4. Nach Seiler, Strafrecht (Anm. 46), S. 33, „muss der Wortlaut einer Strafbestimmung so konkret gefasst sein, dass er einer beliebigen Auslegung Grenzen setzt.“ 57 Vgl. Krey, Strafe (Anm. 42), S. 137. 58 Krey, Strafe (Anm. 42), S. 137. 59 Vgl. Auer, Verfassung (Anm. 39), S. 107 f. 60 Vgl. Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 379. 61 Vgl. Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie und Juristische Methodenlehre (= Grundrisse des Rechts), München 20137, S. 243 f. 62 Vgl. Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 268. 63 „Nomine delicti, iure ecclesiastico, intelligitur externa et moraliter imputabilis legis violatio cui addita sit sanctio canonica saltem indeterminata.“ 64 Vgl. Eser, Strafrecht (Anm. 42), S. 508; Wilhelm Rees, Strafrecht in der Kirche. Kritische Anfragen und Sonderheiten gegenüber dem weltlichen Recht, in: ÖAKR 44 (1995 – 1997), FS Hugo Schwendenwein (70), S. 243 – 264, hier S. 248; ders., Bestrafung (Anm. 5), S. 379 f. 56

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nons stellte den Strafbefehl unter die gleiche Forderung.65 Die Spannung des c. 2222 § 1 CIC/1917, dem Vorgänger von c. 1399 CIC/1983, zu dem in c. 2195 § 1 CIC/ 1917 formulierten Rechtsprinzip,66 trat deshalb im alten Kodex auch deutlicher zu Tage,67 als dies im geltenden Kodex zwischen c. 1399 CIC/1983 und der Wiedergabe des Rechtsprinzips in c. 221 § 3 CIC/1983 der Fall ist.68 Der Paragraph lässt nämlich durch die Formulierung „ad normam legis“ eine gesetzlich geregelte Durchbrechung in der Gestalt des c. 1399 CIC/1983 zu.69 In c. 1321 § 1 CIC/198370 klingt zwar über eine personenbezogene71 Beschreibung der Straftat das Nulla-poena-Prinzip ebenfalls an,72 ist aber seinerseits wiederum in einer Wiese formuliert – Weglassen der Strafandrohung –, die keinen prinzipiellen Widerspruch zu c. 1399 CIC/1983 hervor65 „Nisi ex adiunctis aliud appareat, quae dicuntur de delictis, applicantur etiam violationibus praecepti cui poenalis sanctio adnexa sit.“ Can. 2195 CIC/1917 bestimmte demnach „unmißverständlich, daß eine Straftat nur dann gegeben und eine Bestrafung nur dann zulässig war, wenn dies vor Begehung der Tat durch ein Strafgesetz oder einen Verwaltungsbefehl festgelegt worden war. Diese Bestimmung wollte eine willkürliche rückwirkende Bestrafung verhindern und diente so der Rechtssicherheit.“ (Rees, Bestrafung [Anm. 5], S. 379). 66 In der kanonistischen Doktrin hatte man versucht, diese Spannung aufzulösen, indem man z. B. zwischen einen delictum proprie dictum und einem delictum improprie dictum unterschied (Vermeersch-Creusen), c. 2222 § 1 CIC/1917 als Ausnahme zu dem in c. 2195 § 1 CIC/1917 statuierten Legalitätsprinzip betrachtete (Sole, Chelodi, Falco, Salucci) oder überhaupt c. 2222 § 1 CIC/1917 nicht als Strafnorm im eigentlichen Sinne, sondern als Norm des öffentlichen Rechts ansah (Barberena); vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 40 – 42 mit weiteren Beispielen. Ferner wurde c. 2222 § 1 CIC/1917 als „allgemein gehaltene Strafandrohung“ angesehen, die „dem Grundsatz des kirchlichen Strafrechts: ,Keine Strafe ohne vorausgehende Strafandrohung‘ lückenlose Geltung“ verschaffen würde (Carl Holböck, Handbuch des Kirchenrechts. 2. Bd., 3., 4. und 5. Buch des kirchlichen Gesetzbuches, Innsbruck/Wien 1951, S. 1054). 67 Vgl. Caparros/Thériault/Thorn, Code (Anm. 8), S. 824 f. 68 Allerdings hebt nach Bruno Primetshofer c. 1399 CIC/1983 wegen seiner Positionierung am Ende des Buches VI unter dem Titel „Norma generalis“ die Durchbrechung des Legalitätsgrundsatzes „optisch noch deutlicher“ hervor; vgl. Primetshofer, Geist (Anm. 23), S. 223. 69 Vgl. Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 384; Ulrich Rhode, Kirchenrecht (= Studienbücher Theologie 24), Stuttgart 2015, S. 281; Pighin, Diritto penale (Anm. 17), S. 542, sieht durch die Formulierung „ad normam legis“ das Legalitätsprinzip abgemildert und meint deshalb, dass korrekterweise eher von einem strafrechtlichen „Normativitätsprinzip“ zu reden sei. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 347, spricht in diesem Zusammenhang von einer „vagen Vorschrift“. Damit wurde zwar auf der technisch-formalen Ebene die Spannung gemindert, aber nicht das dahinterliegende, der Kanonistik zur Klärung überlassene Problem: vgl. Giuseppe di Mattia, Equità e riserva di legge nel diritto penale canonico (cann. 221 § 3 e 1399), in: Gruppo Italiano di Docenti di Diritto Canonico (Hrsg.), Le sanzioni nella Chiesa. XXIII Incontro di Studio. Abbazia di Maguzzano – Lonato (Brescia), 1 luglio–5 luglio 1996 (= QdM 5), Mailand 1997, S. 89 – 111, hier S. 100; Sebott, Strafrecht (Anm. 20), S. 234. 70 „Niemand wird bestraft, es sei denn, die von ihm begangene äußere Verletzung von Gesetz oder Verwaltungsbefehl ist wegen Vorsatz oder Fahrlässigkeit schwerwiegend zurechenbar.“ 71 Vgl. Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 383. 72 Vgl. Schwendenwein, Kirchenrecht (Anm. 9), S. 450 f.; Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 268; Eser, Strafrecht (Anm. 42), S. 507.

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ruft.73 Er lädt von seinem Wortlaut her vielmehr ein, auf Basis von c. 1399 CIC/1983 – wenn auch im Rahmen der dort genannten Schranken –, jedwede schwerwiegend zurechenbare äußere Übertretung eines Gesetzes auch ohne vorherige konkrete Strafandrohung Gegenstand einer Bestrafung werden zu lassen.74 Das aktuelle Gesetzbuch will demnach zwar einerseits das Nulla-poena-Prinzip nicht völlig als gestaltbildend zurückweisen,75 verankert es aber dermaßen schwach, dass es systemimmanent76 ohne allzu große Schwierigkeiten unterlaufen werden kann. Hugo Schwendenwein spricht deshalb nicht zu Unrecht von einer „Aushöhlung“77 des Nulla-poena-Prinzips durch den Kanon. Ähnlich reagieren Roberto Gottero, der das Prinzip im geltenden Gesetzbuch als „eine Schachtel ohne Inhalt“78 bezeichnet, und René Pahud de Mortanges, der c. 1399 CIC/1983 eine „Blankettstrafdrohung“79 nennt.80 C. 1399 CIC/1983 betont auf der einen Seite wegen der in ihm enthaltenen und oben dargelegten Einschränkungen durchaus, dass seine Anwendung nur auf extreme Ausnahmefälle bezogen sein kann, auf der anderen Seite aber liegt es letztlich ganz im Ermessen des Ordinarius bzw. Richters – bei letzterem allerdings nur im Rahmen der Ausübung seiner richterlichen Kompetenzen81 –, ob überhaupt und wenn ja, auf welche Weise bestraft werden soll. Dieses doppelte Ermessen hat ein nicht unbedeutendes Ausmaß an Rechtsunsicherheit zur Folge, zumal nicht ausgemacht werden kann, wann und wie über die kirchliche Strafgesetzgebung hinaus zu Strafmaßnahmen gegriffen wird.82 Gottero spricht sogar von einer grenzenlosen 73

Vgl. Norbert Ruf, Das Recht der katholischen Kirche nach dem Codex Iuris Canonici, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1989, S. 341; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 100 f. 74 Vgl. dazu Klaus Lüdicke, Art. Strafen, in: LexKR, Sp. 923 f., hier Sp. 924; José Prisco/ Cortés Diéguez, Derecho Canonico (Anm. 10), S. 226; Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 352. 75 S. dazu René Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung und Vergeltung. Eine Analyse des kirchlichen Straf- und Disziplinarrechts (= Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft. 3. Folge 23), Baden-Baden 1992, S. 181. 76 S. dazu Ruf, Recht (Anm. 73), S. 341. 77 Vgl. Schwendenwein, Kirchenrecht (Anm. 9), S. 134; s. dazu auch Eser, Strafrecht (Anm. 42), S. 508 f.; Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 385. 78 „Sembra tuttavia che la vage previsione del can. 221 e l’inserzione del can. 1399 riducano le garanzie in campo penale a una scatola vuota di contenuto, vanificando le pur buone intenzioni che la formulazione stessa dei due canoni lascerebbe traparire.“ (Gottero, Norma generale [Anm. 7], S. 347). 79 Pahud de Mortanges, Vergebung (Anm. 75), S. 180. 80 Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 269 spricht von einer „norma in bianco“; Louis de Naurois/Audomar Scheuermann, Der Christ und die kirchliche Strafgewalt, München 1965, S. 48, nannten c. 2222 § 1 CIC/1917 „eine strafrechtliche Generalklausel für jedwede schwere und ärgerniserregende Gesetzesverletzung“. 81 Vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 56 f. 82 „In base a ciò la conoscenza del fedele sulle conseguenze penali delle proprie azioni si riduce paradossalmente a sapere che potrà essere colpito penalmente per ogni violazione di

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Weite (l’ampieza vastissima) der Anwendungsmöglichkeiten des Kanons, insbesondere, weil es unmöglich sei, in einer unmissverständlichen Weise zu präzisieren, was unter den Tatbestandsmerkmalen einer „specialis violationis gravitas“ bzw. „necessitas scandala praeveniendi vel reparandi“ zu verstehen sei.83 C. 1399 CIC/ 1983 tangiert somit insbesondere das Bestimmtheitsgebot des Nulla-poena-Prinzips.84 Ebenso steht c. 1399 CIC/1983 im Konflikt mit dem Analogieverbot, das in c. 19 CIC/1983 ausdrücklich für Strafmaßnahmen festgehalten ist,85 zumal er in Extremfällen faktisch zu Lückenschließung auffordert.86 Insofern die Anwendung des c. 1399 CIC/1983 vorwiegend durch die kirchlichen Gerichte erfolgt, wird von diesen nicht nur das Analogieverbot unterlaufen, indem sie sich bei der Anwendung der Generalnorm zweifelsohne an bereits bestehenden Strafrechtstatbeständen orientieren, sondern auch das Verbot der Strafrechtsbegründung auf dem Wege des Gewohnheitsrechts, da eine gehäufte Anwendung richterrechtliches Gewohnheitsrecht zur Folge hätte, was wieder c. 221 § 3 CIC/1983 widerspricht, der festhält, dass Strafen „nur nach Maßgabe des Gesetzes (nicht nach Maßgabe des Rechts!) angewendet werden dürfen“87. Ebenso wird trotz der einschränkenden Tatbestandsmerkmale des Kanons und unter Heranziehung weiterer zu beachtender Normen (c. 18 CIC/1983, c. 1342 § 2 CIC/1983, c. 1349 CIC/1983 etc.)88 die Gefahr eines willkürlichen Vorgehens in der Sache wegen der Ermessensproblematik nicht ganz von der Hand zu weisen sein,89 was bei einer zu häufigen Anwendung des Kanons zu einer Destabilisierung des Vertrauens in die Rechtsordnung führen kann. Dass eine solche Entwicklung vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt ist, zeigen die cc. 221 § 3 und 1321 § 1 CIC/1983, doch eröffnet c. 1399 CIC/1983 eben die Möglichkeit einer Untergrabung dieser Abnorme ecclesiastiche o di diritto divino che possa essere ritenuta particolarmente grave o pericolosa per i suoi effetti di cattivo esempio nei confronti della comunità ecclesiale!“ (Gottero, Norma generale [Anm. 7], S. 351 f.). 83 Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 352; s. dazu auch Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 393; Botta, Norma penale (Anm. 25), S. 30, verweist auf den „bemerkenswerten Umfang des Ermessensspielraums“ des Kanons, der letztlich das Nulla-poena-Prinzip derogiere. 84 Vgl. Rees, Bestrafung, (Anm. 5), S. 390; Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 182. 85 Vgl. Rees, Bestrafung, (Anm. 5), S. 390; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 97. 86 Vgl. Botta, Norma penale (Anm. 25), S. 29 f. 87 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 96. Dass c. 1399 CIC/1983 dem Verbot der Strafbegründung durch Gewohnheitsrecht nicht widerspricht, wie ebd. vertreten wird, trifft daher nur bedingt zu. 88 „These provisions are specifically designed to protect the faithful against an arbitrary or unjust use of the principle contained in the canon“ (Gerard Sheehy/Ralph Brown/Donal Kelly/ Aidan McGrath [Hrsg.], The Canon Law. Leter & Spirit. A Practical Guide to the Code of Canon Law, London 1995, S. 810). 89 Vgl. Breitsching, Menschenrechte (Anm. 4), S. 214; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 62. Deshalb meint auch Green, Book VI (Anm. 32), S. 1604: „Great caution should be employed in applying this canon […]“.

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sicht. Da das kirchliche Strafrecht über das hier angesprochene Ermessen hinaus aufgrund von weiteren Ermessen einräumenden Normen (z. B. unbestimmte und fakultative Strafen) stark geprägt wird (Prinzip des Ermessens90), ist es prinzipiell in besonderer Weise für Willkür anfällig.91 Dieses Risiko wird durch c. 1399 CIC/1983 in einem nicht unerheblichen Maße erhöht,92 mag auch die Zielsetzung all dieser Normen die Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit und die Realisierung der pastoralen Ausrichtung des Kirchenrechts sein, die durch entsprechende Handlungsspielräume gewährleistet werden sollen.93 Zur Rechtfertigung von c. 1399 CIC/1983 wird auf den besonderen bzw. geistlichen Charakter des kanonischen Rechts gegenüber dem weltlichen Recht verwiesen,94 der eine solche Norm fordern würde bzw. eine Modifizierung der strengen Gesetzlichkeit im kirchlichen Strafrecht verlange. Gottero bringt eine Übersicht der diesbezüglich vorgebrachten Argumente.95 Vor allem wird auf den Ursprung des Prinzips in einem von der Aufklärung inspirierten liberal-demokratischen Staatskonzept verwiesen, das im Gesetz in erster Linie ein Schutzmittel der Rechte des Einzelnen gegenüber den Übergriffen der staatlichen Autorität sah. Diese grundlegende Gegensätzlichkeit zwischen den Bürgern und den öffentlichen Vollmachtsträgern sei der Kirche, die im Gegensatz zum Staat an höhere, übernatürliche Ziele gebunden 90 Vgl. Caparros/Thériault/Thorn, Code (Anm. 8), S. 866; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 65. 91 So meint Audomar Scheuermann, Zum Strafrecht des CIC/1983, in: Winfried Aymans/ Anna Egler (Hrsg.), Fides et ius. FS Georg May (65), Regensburg 1991, S. 203 – 210, hier S. 205, nicht zu Unrecht: „Hier eröffnet sich freilich das Feld der unterschiedlichen subjektiven Beurteilung und erwachsen die Möglichkeiten zu vielfältiger Ungleichbehandlung der Straftäter. Meist ist es doch so, daß der Bischof einen Weg sucht, wie er auf eine förmliche Bestrafung verzichten kann. Wie unterschiedlich werden Bischöfe und Richter Milde oder Strenge zeigen? Es ist ja vieles ihrem persönlichen Ermessen anheimgegeben […].“; s. dazu auch Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 97; Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 87; Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 64 f. Die bevorstehende Reform des kirchlichen Strafrechts dürfte hier dankenswerterweise einen anderen Kurs fahren. So sieht der derzeitige Entwurf in zehn Kanones einen Wechsel von unbestimmten Strafen zu bestimmten vor; vgl. Elmar Güthoff, Ein Überblick über die im zweiten Teil des Strafrechts des CIC (cann. 1364 – 1399) geplanten Änderungen, in: ders./Stefan Korta/Andras Weiß (Hrsg.), Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst (= AIC 50), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 157 – 165, hier S. 159. Es ist Güthoff zuzustimmen, wenn er meint, es wäre der Klarheit dienlicher, auch die restlichen unbestimmten Strafandrohungen durch bestimmte zu ersetzen. Ebenso finden sich ebd. eine Reihe fakultativer Strafen durch obligatorische ersetzt. 92 Vgl. dazu Eicholt, Geltung (Anm. 18), S. 166 f. 93 Dalla Torre kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass c. 1399 CIC/1983 mehr oder weniger nur hinsichtlich der Bestimmung der Strafe das Legalitätsprinzip verletzt, ansonsten jedoch mit den Unterprinzipien des strafrechtlichen Legalitätsprinzips übereinstimmt; s. dazu Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 257 – 279. 94 „Lo richiede la natura particolare della Chiesa, che non è una società come quella statale, ma ha come esigenza e fine primario la salus animarum“ (Calabrese, Diritto penale [Anm. 28], S. 365); vgl. Ruf, Recht (Anm. 73), S. 357. 95 Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 348 – 350.

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sei, fremd. Ferner sei das Prinzip an den Grundsatz der Gewaltenteilung gebunden, wohingegen das kanonische Recht nur eine Gewaltenunterscheidung kenne.96 Insbesondere gestatte es die Ausrichtung auf die salus animarum nicht, ein Verhalten unbestraft zu lassen, das sich gegen das der Kirche eigentümliche Heil richte, auch wenn dieses Verhalten von keinem Strafgesetz tangiert sei. Die pastorale Ausrichtung des kanonischen Strafrechts sei daher mit einer strengen Anwendung des Nulla-poena-Prinzips nicht vereinbar. So meinte man während der Ausarbeitung des neuen Kodex, die notwendige Elastizität des kanonischen Rechts auch im Strafrecht aufrechterhalten zu müssen.97 Diese Elastizität wird auch in der gegenwärtigen Kanonistik als Qualitätssiegel des kanonischen Strafrechts betrachtet.98 Ferner wird auf die kanonische Billigkeit verwiesen, die in besonderen Fällen eben verlange, dass eine Bestrafung nicht deshalb unterbleiben könne, weil eine Strafandrohung fehle.99 Das Prinzip der salus animarum, das die gesamte Rechtsordnung und jede einzelne ihrer Normen durchziehe, führe dazu, dass überall dort, wo das Seelenheil in Gefahr stehe, die aequitas canonica folgerichtig das Nulla-poena-Prinzip neutralisiere.100 In der Kodexreformkommission favorisierte man den Kanon „because it is impossible to list comprehensively all delicts notably impairing the Church’s integrity and mission.“101 Diesen Begründungsversuchen ist entgegenzuhalten, dass das gegenwärtige Gesetzbuch für die orientalischen Kirchen keine derartige Generalnorm kennt. Überdies engt der CCEO durch c. 1414 § 1 CCEO das ad normam legis in c. 24 § 3 CCEO, der im Wortlaut beinahe identisch c. 221 § 3 CIC/1983 wiedergibt, durch tantum auf die

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S. zu diesem Argument auch Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 389 f. Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 347. 98 Vgl. die referierten Positionen bei Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 58. In jüngerer Vergangenheit hat auch Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 272 f., den Charakter der Elastizität des kanonischen Rechts um der salus animarum Willen als wesentlichen Grund dafür herausgestrichen, dass die Rechtssicherheit und das damit verbundene Legalitätsprinzip im kanonischen Recht nicht denselben Stellenwert haben können wie im staatlichen. 99 „Zwar muss jeder und jede Gläubige die Sicherheit haben, gerecht beurteilt zu werden. Die kanonische Billigkeit verlangt jedoch, dass im Fall eines schwerwiegenden Ärgernisses, das nicht ungestraft bleiben kann, eine Bestrafung nicht ausgeschlossen ist, weil eine entsprechende Strafandrohung fehlt.“ (Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, hier S. 1579); vgl. auch ders., Bestrafung (Anm. 5), S. 392; Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 112. 100 Vgl. Botta, Norma penale (Anm. 25), S. 28. 101 Green, Book VI (Anm. 32), S. 1604. „Der spezifische Charakter der Kirche als Heilsgemeinschaft bietet Angriffsflächen, die nicht alle von vornherein kalkulierbar sind, so daß sich die möglicherweise auftretenden Verletzungen ihrer Ordnung auch nicht in ausschließlicher Aufzählung festlegen lassen. Die Kirche wird sich daher nicht dazu verstehen können, daß alles, was nicht ausdrücklich durch eine mit Strafsanktion bewehrte Norm verboten ist, straffrei bleiben sollte“ (Richard A. Strigl, Die einzelnen Strafnormen, in: HdbKathKR1, S. 941 – 950, hier S. 948). 97

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Übertretung eines Straf-gesetzes oder Straf-befehls ein.102 Ferner verbietet das in c. 1404 § 2 CCEO formulierte Analogieverbot ausdrücklich eine Bestrafung auch in den Fällen, die als strafenswerter zu beurteilen seien als die geregelten.103 Damit widerlegt der CCEO in der Kanonistik vorgetragene Behauptungen, „dass der kirchliche Gesetzgeber auf die allgemeine Norm des c. 1399 nicht verzichten kann.“104 Eine strengere Beachtung des Legalitätsprinzips im kanonischen Recht ist jenem somit nicht wesensfremd.105 Nach Giuseppe di Mattia ist es vielmehr offensichtlich, dass der CCEO das Prinzip der strengen Legalität in der Gestalt des bekannten Axioms nullum crimen, nulla poena sine praevia lege poenali aufnimmt.106 Was den Verweis auf die aequitas canonica betrifft, so ist anzumerken, dass diese in der Tradition des kanonischen Rechts in der Regel eher dazu dient, die Härte des Gesetzes zu mildern:107 „Bei der Rechtsanwendung ist immer der [!] ,salus animarum‘ im Auge zu behalten. Der allgemein gültige Grundsatz der ,aequitas‘ ist ein tragendes Prinzip der gesamten kirchlichen Rechtsordnung und kann gegebenenfalls selbst zur Umwandlung einer geltenden Norm unter dem Gesichtspunkt einer größeren Milde und Barmherzigkeit führen, da die pastorale Liebe nicht die strenge Anwendung des Gesetzes fordert, sondern das wahre Wohl der Gläubigen zu verwirklichen sucht.“108 102 „Il can. 1414 stabilisce che ,è soggetto alle pene soltanto chi abbia violato una legge penale o un precetto penale‘: si noti l’avverbio soltanto, che manca nel parallelo canone latino, e il preciso rimando a leggi e precetti penali“ (Gottero, Norma generale [Anm. 7], S. 354). 103 Vgl. Dalla Torre, Considerazione (Anm. 5), S. 268 f. 104 Vgl. Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 391. 105 „La conferma che il principio di legalità non sia naturalmente estraneo al diritto canonico ci viene anche dalla nuova codificazione orientale“ (Gottero, Norma generale [Anm. 7], S. 354). Auch während der Kodexreform gab es eine Reihe von Autoren, die für eine explizite Einfügung des Legalitätsprinzips in das Strafrechtssystem der Kirche plädierten; vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7). S. 43 f. 106 Vgl. Di Mattia, Equità (Anm. 69), S. 93 u. 106. 107 Vgl. Paul VI., Ansprache vom 8. Februar 1973 an die Richter und Beamten der S. R. Rota zu Eröffnung des neuen Gerichtsjahres 1973: Über die kanonische Billigkeit, in: AfkKR 142 (1973), S. 111 – 119, hier S. 115. Zur geschichtlichen Entwicklung des Begriffs der aequitas canonica s. Pier Giovanni Caron, Die «aequitas canonica», in: Conc(D) 113 (1977), S. 437 – 442. Der Gedanke der Milderung des rigor iuris liegt auch der aequitas in der Entwicklung des weltlichen Rechts zugrunde; vgl. Marcel Senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss mit Bildern, Schemen, Register, Chronologie und Biographien, Zürich/ Wien 1997, S. 218 – 220. 108 Franz Pototschnig, Das kanonische Recht und die pastoralen Aufgaben der Kirche. (Bericht über den internationalen Kanonistenkongress an der Gregoriana im Februar 1977), in: ÖAKR 28 (1977), S. 102 – 108, hier S. 106. „Wenn für die Anwendung der Rechtsgrundsätze zur Lückenschließung die Beachtung der kanonischen Billigkeit vorgeschrieben wird, dann bedeutet das einmal, daß das natürliche Gerechte bei der Anwendung des gesetzlichen Gerechten zu beachten ist, zum anderen, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze mit Barmherzigkeit, Menschlichkeit und christlicher Liebe anzuwenden sind, wobei das Wohl der Kirche und das Heil der Seelen zu beachten sind. In der Regel wird die Billigkeit auf eine Lockerung der Strenge der Normen hinauslaufen“ (Georg May/Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1984, S. 242).

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Papst Paul VI., der das Hauptanliegen der aequitas canonica ebenfalls in der Milderung des rigor iuris sieht,109 räumt darüber hinaus zwar durchaus ein, dass sie in manchen Fällen auch Strafen verschärfen kann, aber nicht, dass sie Strafen zu schaffen verlangt, wo solche fehlen. Dies würde auch der Grundausrichtung der aequitas canonica widersprechen, wie sie Heinrich von Susa (Hostiensis) in unübertrefflicher Weise als „iustitia dulcore misericordia temperata“110 definiert hat. Hinsichtlich des Arguments der bloßen Gewaltenunterscheidung im kanonischen Recht ist Folgendes anzumerken: Selbst wenn das kirchliche Recht keine Gewaltentrennung kennt, sollten dennoch auch in der Kirche die Gewaltenfunktionen klar auseinandergehalten werden.111 Es sollte immer genau erkennbar sein, in welcher Funktion ein kirchlicher Vollmachtsträger tätig wird. Ferner haben die kirchlichen Gerichte, durch die in der Regel die Bischöfe Recht sprechen, keine Gesetzgebungskompetenz. Diese würden aber im Falle einer häufigen Anwendung der Generalnorm über die Bildung von Gewohnheitsrecht im oben dargelegten Sinne in einer so heiklen Materie wie des Strafrechts indirekt in den Bereich der Gesetzgebung eindringen. Überhaupt ist es nicht nachvollziehbar, warum bei einer bloßen Gewaltenunterscheidung die Berücksichtigung des Grundanliegens des Nulla-poena-Prinzips nicht befolgt werden sollte. Schließlich ist mit Pighin darauf hinzuweisen, dass das kanonische Recht gegenüber c. 1399 CIC/1983 „eine weniger problematische und vielleicht wirkungsvollere Alternative“ anzubieten hat: „Die Möglichkeit, […] eine bestimmte und nicht dauerhafte Strafe mittels des Strafbefehls festzusetzen, um sehr schnell gegen schwere Verletzungen eines durch keine Strafe geschützten Gesetzes einzuschreiten, wenn diese aus Anlass des bekannt gewordenen Ärgernisses eine rasche Reaktion erfor-

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S. Paul VI., Ansprache (Anm. 107), S. 115: „Wenn das soziale Leben die näheren Bestimmungen des menschlichen Gesetzes aufdrängt, so sind jedoch von seinen Normen, die unvermeidlich generell und abstrakt sind, die konkreten Umstände, in denen die Gesetze angewendet werden, nicht vorauszusehen. Angesicht dieses Problems hat das Recht versucht, den rigor iuris zu verbessern, richtigzustellen und auch zu korrigieren; dies geschieht durch die Billigkeit, die so die menschlichen Bestrebungen nach einer besseren Gerechtigkeit verwirklicht. Im kanonischen Recht bildet die Billigkeit, die die christliche Tradition von der römischen Iurisprudenz übernommen hat, die Vorzüge seiner Gesetze, Norm ihrer Anwendung, eine Glaubenshaltung, die die Strenge des Gesetzes mäßigt. Billigkeit als menschlich korrigierendes Element und als Gleichgesichtsfaktor im Geistesprozeß, der den Richter beim Erlassen eines Urteils begleiten muß, findet man in den Dekretalen und in der ganzen Geschichte des kanonischen Rechts, wenn auch unter verschiedener Bezeichnung.“ 110 Henricus a Segusia Cardinalis Hostiensis, Summa Aurea, Lib.V, tit. De dispensationibus. n. 1, fol. 436 vb. Lugduni 1586, hier zitiert nach Caron, Aequitas canonica (Anm. 107), S. 437. 111 So sprach sich auch die Bischofssynode von 1967 in Prinzip 7 zur Kodexreform für eine klare Kompetenzunterscheidung aus: „Admisso hoc principio, potestatis ecclesiasticae clare distinguantur diversae functiones, videlicet legislativa, administrativa et iudicialis, atque apte definiantur a quibusdam organis singulae functiones exerceantur.“ (Principia [Anm. 5], S. 83); s. dazu auch Primetshofer, Geist (Anm. 23), S. 217.

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dern.“112 Wie der Jubilar richtig bemerkt, bedeutet die Möglichkeit des Strafbefehls gemäß c. 1319 CIC/1983 zwar ebenfalls eine Durchbrechung des strafrechtlichen Legalitätsprinzips,113 aber im Unterschied zu c. 1399 CIC/1983 trifft in diesem Fall die Strafe wegen der vorausgehenden Androhung weniger unvermittelt, insofern sie die Möglichkeit der Rückkehr zu einem normgerechten Verhalten vor der Bestrafung einräumt. Die Wiedergutmachung möglicher bereits eingetretener Schäden kann über eine Schadensersatzklage eingefordert werden. Die Ausrichtung der kirchlichen Rechtsordnung auf die salus animarum kann jedenfalls in einem hinreichenden Maße durch das bestehende Instrument des Strafbefehls geschützt werden.114 Darum meint auch Gottero, man sollte das Legalitätsprinzip nicht unter der Formel nullum crimen sine lege (praevia), sondern unter der Formel nullum crimen, sine norma peonali (praevia) in die kanonische Rechtsordnung übernehmen.115 2. C. 1399 CIC/1983 und der Grundsatz der Zurückhaltung im kirchlichen Strafrecht C. 1317 CIC/1983 sieht die Androhung von Strafen nur dann als gerechtfertigt, wenn die Sicherung der Disziplin der Kirche dies wirklich erfordert.116 Der Jubilar spricht in diesem Zusammenhang von dem „Grundsatz der Zurückhaltung“117, den das kirchliche Sanktionsrecht auszeichnet. Dieser Grundsatz liegt ganz auf der Linie der Prinzipien zur Kodexreform, welche in der Nr. 9 die Reduzierung der Strafen forderte,118 sowie der Re112 „Sul piano dell’utilità, il ricorso al can. 1399 appare piuttosto discutibile, dal momento che il sistema penale canonico prevede un’alternativa meno problematica e forse più efficace: la possibilità di costituire […] pene determinate e non perpetue mediante il precetto penale, intervenendo così prontamente a fronte di violazioni gravi di una legge senza copertura penale, le quali richiedano, a causa del notevole scandalo provocato, una risposta tempestiva.“ (Pighin, Diritto penale [Anm. 17], S. 544). 113 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 98. „Die Verletzung eines sanktionsbewehrten Gesetzes steht gleich die Verletzung eines sanktionsbewehrten Verwaltungsbefehls (Sanktionsgebot), der zum Ersatz für ein fehlendes oder zur Verschärfung eines schon bestehenden Gesetzes erlassen werden kann“ (ebd. S. 101). Mit der Anwendung des Instruments des Strafbefehls geht eine Verwischung der Grenzen der Gewaltenkompetenzen einher, da durch die potestas executiva in die potestas legislativa ergänzend eingegriffen wird; vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 64. Darum fordert Sanchis, ebd., S. 66, auch eine Beschränkung der Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls auf jene Autoritäten, die über potestas legislativa verfügen. 114 Vgl. Caparros/Thériault/Thorn, Code (Anm. 8), S. 866 f.; Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 354. 115 Vgl. Gottero, Norma generale (Anm. 7), S. 354. 116 „In a word, the power to enact and inflict penalties should be used sparingly, only insofar as necessary, to build up the body of Christ. Its intemperate or imprudent use could wound rather than heal the weak.“ (Woestman, Sanctions [Anm. 23], S. 18). 117 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 135. Sebott, Strafrecht (Anm. 20), S. 38, spricht von einem „Sparsamkeitsprinzip“. 118 Vgl. Principia (Anm. 5), S. 84 f.

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latio zu den Prinzipien, die eine zurückhaltende Strafgesetzgebung verlangte.119 Dies wurde schließlich auch im Gesetzbuch weitgehend umgesetzt.120 Die allgemeinen Prinzipien zum Strafrechtsschema haben gerade jenen Normen eine große Bedeutung beigemessen, „die dahin tendieren, dass der Gebrauch der Strafen in der Kirche zurückhaltend sein solle und eher andere Instrumente, pastorale oder auch rechtliche, angewendet werden sollen, bevor man auf Strafen ausweiche.“121 Papst Paul VI. erinnerte überdies im Motu proprio „Humanum consortium“, das zur Promulgation des Strafrechtschemas von 1973 gedacht war, an die in c. 2214 § 2 CIC/1917122 beinahe wörtlich übernommene an die Bischöfe und andere Ordinarien gerichtete Mahnung des Konzils von Trient zu einer zurückhaltenden Handhabung des Strafrechts und betonte, Strafen eben nur dort anzuwenden, wo es die Aufrechterhaltung der kirchlichen Disziplin fordere.123 C. 1341 CIC/1983124 verpflichtet den Ordinarius dafür zu sorgen, dass eine Bestrafung erst dann erfolgen darf, „wenn er erkannt hat, dass weder durch mitbrüderliche Ermahnung noch durch Verweis noch durch andere Wege des pastoralen Bemü119 Vgl. Relatio circa „Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant“, in: Com 1 (1969), S. 86 – 91, hier S. 91. 120 So wurde das Strafrecht insgesamt von 222 Kanones auf 89 reduziert, das spezielle Strafrecht von 101 auf 89; vgl. Scheuermann, Strafrecht (Anm. 91), S. 201; s. auch Heribert Schmitz, Codex Iuris Canonici, in: HdbKathKR3, S. 70 – 100, hier S. 90; Sebott, Strafrecht (Anm. 20), S. 19 f.; Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 391; Winfried Schulz, Was ist neu am neuen Kirchenrecht?, in: ThGl 72 (1982), S. 127 – 156, hier S. 138, sprach von „rechtsrezessiven Bestrebungen“ des gegenwärtigen Gesetzbuches, die sich im Strafrecht als bewusst vollzogene Reduzierung niedergeschlagen haben. Im gegenwärtigen Strafrechtsentwurf ist diesbezüglich eine leichte Rücknahme zu erkennen, da es sich als notwendig erwiesen hat, eine Reihe neuer Straftatbestände (z. B. die der Glaubenskongregation vorbehaltenen delicta graviora aus 2010) in das kodikarische Strafrecht aufzunehmen; vgl. Güthoff, Überblick (Anm. 91), S. 161 – 163. 121 PCR, Schema documenti (Anm. 5), S. 6. 122 „Die Bischöfe und die anderen Ordinarien sollen eingedenk sein, dass sie Hirten und nicht Verfolger sind und dass sie ihren Untergebenen so vorzustehen haben, dass sie über diese nicht herrschen, sondern sie gleichsam wie Söhne und Brüder lieben und sich bemühen sollen, sie durch Mahnen und Warnen vom Verbotenen abzuhalten, damit sie nicht gezwungen werden, jene bei einer begangenen Straftat mit den geforderten Strafen zu belegen. Wenn jene dennoch wegen der menschlichen Gebrechlichkeit sündigen sollten, ist die Vorschrift des Apostels zu bewahren, jene zu rügen, zu bitten, in aller Güte und Geduld zu tadeln, da Wohlwollen gegenüber den zu Korrigierenden oft mehr vermag als Strenge, Ermahnung mehr als Bedrohung, Liebe mehr als Vollmacht. Wenn man aber wegen der Schwere der Straftat den Stab benötigt, dann muss man mit der Strenge die Sanftmut, mit der Verurteilung die Barmherzigkeit, mit dem Ernst die Milde anwenden, damit ohne Härte die für das Volk heilsame und notwendige Disziplin gewahrt bleibe und die Zurechtgewiesenen gebessert werden oder, wenn sie nicht zu Einsicht kommen wollen, die übrigen wegen des heilsamen Beispiels des gegen jene vorgebrachten Tadels von Fehltritten abgehalten werden.“ (Übers. Verf.); vgl. Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, 3. Bd., Konzilien der Neuzeit, Paderborn u. a. 2002, S. 698 f. 123 Paul VI., MP „Humanum consortium“, in: PCR, Schema documenti (Anm. 5), S. 11 – 15, hier S. 12. 124 Velasio De Paolis und Davide Cito sehen in diesem Kanon einen Schlüsselkanon zum Verständnis des kirchlichen Strafrechts; s. dazu De Paolis/Cito, Sanzioni (Anm. 19), S. 211.

Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983

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hens ein Ärgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann.“ Denn das letzte Ziel ist ja nicht jenes, zu strafen, sondern, das Ziel der Strafe, das ein Dreifaches ist, nämlich Beseitigung des Ärgernisses, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Besserung des Täters, zu erreichen.125 Strafen können daher auch in der Kirche nur ultima ratio sein,126 was ihren subsidiären127 Charakter unterstreicht. Der Kanon erlegt somit wie c. 1317 CIC/1983 hinsichtlich des Strafens äußerste Zurückhaltung auf. Heranzuziehen sind hier ferner c. 1313 CIC/1983 §§ 1 – 2, gemäß welchen nach einer Gesetzesänderung nach Begehung der Tat die für den Täter günstigere Norm zur Anwendung kommen muss (applicanda est) (§ 1) bzw. bei einer späteren Aufhebung des Gesetzes oder auch nur der Strafe, diese sofort entfällt (§ 2128). Da c. 1341 CIC/1983 erst nach Abschluss der Voruntersuchung, die die Existenz einer Straftat erhärtet hat,129 zum Tragen kommt, wird dadurch nochmals unterstrichen, dass Strafen in der Kirche nur als äußerstes Mittel anzuwenden sind, dem alle anderen Lösungswege vorgezogen werden sollen.130 Es ist unschwer zu erkennen, dass c. 1399 CIC/1983 wegen seines potentiell weiten Anwendungsbereichs diesem das kanonische Strafrecht in besonderer Weise kennzeichnenden Grundsatz der Zurückhaltung zuwiderläuft, ebenso dem damit verbundenen Anliegen einer Reduzierung der Straftatbestände. Selbst Autoren, die c. 1399 CIC/1983 für opportun halten, betonen: „In Abwägung der kritischen Anfragen sollte c. 1399 nur mit großer Vorsicht angewandt werden. Dies erklärt sich daraus, daß das kirchliche Strafrecht von der Tendenz bestimmt ist, Strafverfahren von vornherein zu vermeiden.“131

III. Abschließende Bemerkung Auch wenn die kirchliche Rechtsordnung und folglich auch das kirchliche Strafrecht Ziele verfolgen, die sich von der Zielsetzung staatlicher Rechtsordnungen un125

Vgl. De Paolis/Cito, Sanzioni (Anm. 19), S. 212. Vgl. Robert J. Kaslyn, Title I: The Obligations and Rights of all the Christian Faithful [cc. 208 – 223], in: Beal/Coriden/Green, Commentary (Anm. 32), S. 245 – 290, hier S. 282; Green, Book VI (Anm. 32), S. 1537 u. 1558. „Church authorities should normally not impose penalties too quickly but rather use all available non-penal legal-pastoral options before imposing penalties.“ 127 Vgl. Lüdicke, Strafen (Anm. 74), Sp. 923 f. Zum subsidiären Charakter kirchlicher Strafen s. auch Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 82 f u. 125. 128 „Dieser Paragraph zeigt in seiner ganzen Deutlichkeit, dass das Strafrecht auf größtmögliche Milde angelegt ist.“ (Sebott, Strafrecht [Anm. 20], S. 28). 129 „Il can. 1341 vuole pertanto offrire i criteri sulla opportunità di avviare un processo penale, quando gli elementi strettamente giuridici esistono tutti“ (De Paolis/Cito, Sanzioni [Anm. 19], S. 212). 130 „The ordinary should consider a penal procedure as the means of last resort – when nothing else works.“ (Woestman, Sanctions [Anm. 23], S. 68). 131 Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 393. 126

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terscheiden, so beansprucht das kanonische Recht dennoch als richtiges Recht anerkannt zu werden.132 Als solches sollte es nicht hinter allseits anerkannte Errungenschaften einer modernen, an den Menschenrechten orientierten Rechtsordnung um der eigenen Glaubwürdigkeit willen zurückbleiben.133 Denn, wenn auch der Nulla-poena-Grundsatz nicht in jeder Hinsicht als naturrechtliche Forderung angesehen werden mag,134 so ist dem Jubilar zuzustimmen, wenn er in dem Grundsatz einen naturrechtlichen Kern erkennt.135 Hier sei auch an Albin Esers erinnert, der darüber seine Verwunderung zum Ausdruck bringt, im kirchlichen Strafrecht eine Norm vorzufinden, die an strafrechtliche Generalnormen totalitärer Systeme erinnert.136 Dass das grundlegende Ziel der salus animarum auch ohne die Generalklausel des c. 1399 CIC/1983 erreicht werden kann, beweist der CCEO, der über keine derartige Klausel verfügt. Das Kirchenrecht verfügt über eine Reihe strafrechtlicher Mittel (wie Strafbefehl, Strafsicherungsmittel, Strafbußen), aber auch über andere Maßnahmen (wie Schadensersatzklage, Amtsenthebung, Entzug der Lehrbefugnis, Rechteinschränkungen eines peccator manifestus etc.), die es der kirchlichen Autorität im Falle eines schweren Vergehens eines Kirchenglieds gestatten, klar Position zu beziehen. Sollten sich die genannten Möglichkeiten einmal tatsächlich als unzureichend erweisen, ist für künftige Fälle de lege ferenda Vorsorge zu treffen.137 Manche der hier angestellten Überlegungen mögen sehr theoretisch und abstrakt klingen, aber sie zeigen, wohin die Potenzialitäten des c. 1399 CIC/1983, konsequent zu Ende gedacht, führen können. Deshalb ist Roberto Gottero zuzustimmen, wenn er sagt: „In bin überzeugt, dass can. 1399 in das Strafrechtssystem der Kirche ein Element von schwerer Disharmonie hineinbringt, ,die sich wegen der Unverhältnismäßigkeit seiner Potenzialitäten nicht rechtfertigen lässt‘.“138

132 S. Prinzip 1 der Kodexreform: „Inprimis novus Codex indolem iuridicam omnino retineat oportet cum spiritu proprio. Indolem dicimus iuridicam quam postulat ipsa natura socialis Ecclesiae, quae in potestate iurisdictionis, ab ipso Christo hierarchiae tributae, fundatur.“ (Principia [Anm. 5], S. 78). 133 Vgl. Primetshofer, Geist (Anm. 23), S. 224. 134 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 95; Redazione di QDE, Codice (Anm. 37), S. 1101; De Paolis, Nulla poena (Anm. 39), S. 720; s. auch Chiappetta, Codice (Anm. 21), S. 692: „Il principio della legalità della pena: ,Nulla poena sine lege‘ è diritto positivo umano, non di diritto naturale.“ 135 „Einen naturrechtlichen Kern dieses Prinzips kann man allerdings insofern erkennen, als es einem willkürlichen Vorgehen mit den Mitteln der Strafe widerspricht und so die fundamentale Forderung der Gerechtigkeit zur Durchsetzung bringen will.“ (Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 95). 136 Vgl. Eser, Strafrecht (Anm. 42), S. 510 f.; s. auch Rees, Bestrafung (Anm. 5), S. 385 f. 137 Vgl. Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 72. 138 „Sono convinto che il can. 1399 introduca un elemento di grave disarmonia nel sistema penale della Chiesa, ,che non si giustifica, a causa della sproporzione con le sue potenzialità‘.“ (Gottero, Norma gernerale [Anm. 7], S. 353). Gottero knüpft hier wörtlich an Sanchis, Legge penale (Anm. 7), S. 62 an.

Strafe oder Sanktion? Überlegungen zum ordensrechtlichen Institut der auferlegten Exklaustration Von Stephan Haering

I. Sanktionen und Strafen: Vorbemerkungen Das ernsthafte Versagen von Gläubigen und Gliedern der Gemeinde gehört zu jenen Erfahrungen, welche die Kirche seit ihren Anfängen machen musste. Der Abfall vom Glauben und von der Gemeinschaft der Kirche sowie die verschiedenen Formen sittlichen Versagens der Menschen und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten waren in jeder Phase der Kirchengeschichte zu beobachtende Phänomene. So stand die Kirche stets vor der Herausforderung, mit Problemen solcher Art umzugehen und durch geeignete Maßnahmen darauf zu reagieren sowie eine Besserung der Verhältnisse herbeizuführen. Bereits von der frühen Kirche wurde ein eigenes Bußwesen entwickelt, das sich im Laufe der Jahrhunderte weiter entfaltet und rechtlich erheblich differenziert hat.1 Ein wichtiges Mittel zur Bewältigung schwerwiegender Vergehen im Bereich der Kirche ist in der Gegenwart das kanonische Strafrecht, wie es vor allem im sechsten Buch des CIC/1983 vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Im vierten Band des AymansMörsdorf’schen Lehrbuchs des kanonischen Rechts (2013), welcher zu weiten Teilen von Ludger Müller verfasst worden ist, plädiert dieser dafür, in Abweichung vom bisherigen fachlichen Sprachgebrauch, nicht mehr vom kirchlichen Strafrecht zu sprechen, sondern stattdessen den Ausdruck „Sanktionsrecht“ zu verwenden.2 Er rechtfertigt dies vor allem mit der Entscheidung des Gesetzgebers des CIC/1983, das entsprechende Buch mit dem Titel „De sanctionibus in Ecclesia“ (cc. 1311 – 1399 CIC/1983) zu überschreiben. Bei dieser, nur formalen Begründung belässt es Müller aber nicht. Auch inhaltliche Elemente lassen sich, so führt er aus, für die Op-

1 Vgl. Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KST 41), Berlin 1993, S. 116 – 171 sowie ders., Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, hier S. 1570 – 1572. 2 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 78 f.

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tion, hier dem umfassenderen Begriff der Sanktion gegenüber dem der Strafe den Vorzug zu geben, geltend machen.3 Denn Strafen, wie sie auch in anderen, außerkirchlichen Rechtskreisen gegen straffällig gewordene Glieder der Gesellschaft angewendet werden, verfolgen immer ein dreifaches Ziel: Es geht zum einen um Sühne für das begangene Unrecht, d. h. dem Täter soll vergolten werden, was er Böses getan hat. Ein zweites Ziel ist die Besserung des Täters, die dadurch erreicht werden soll, dass man ihm das Schädliche und Verwerfliche seines Verhaltens deutlich vor Augen führt. Dabei soll die Strafe nach Möglichkeit so gestaltet werden, dass es dem Täter erleichtert wird, sich von seinem schlechten Verhalten äußerlich und innerlich zu distanzieren. Schließlich geht es bei der Bestrafung auch um den Schutz und die Förderung der ganzen Rechtsgemeinschaft. Dieses dritte Ziel wird erreicht durch die spezial- und generalpräventive Wirkung einer Bestrafung, d. h. der bestrafte Täter und andere mögliche Täter werden von einem strafbaren Tun abgehalten, weil sie erkennen, dass schwerwiegende Vergehen empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen. Die Gestaltung der Strafen kann darüber hinaus idealerweise so erfolgen, dass die ganze Rechtsgemeinschaft und insbesondere jene, die durch die Straftat unmittelbar geschädigt worden sind, eine Wiedergutmachung erfahren und vor künftigem Schaden geschützt werden.4 Im kirchlichen Bereich gibt es allerdings auch Zwangsmaßnahmen gegen ein schuldig gewordenes Kirchenglied, die im sechsten Buch des CIC/1983 geregelt werden und nicht die genannte Trias der Strafzwecke aufweisen. Es handelt sich um die Zensuren (Exkommunikation, Suspension, Interdikt)5, bei denen der erstgenannte Strafzweck der Sühne und Vergeltung weitestgehend ausfällt. Vielmehr kann jener Täter, der sich solche Sanktionen zugezogen hat, sich bekehrt und seine Widersetzlichkeit aufgibt, sogar einen bedingten Anspruch auf Aufhebung der verhängten Zensur geltend machen (vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983).6 Die Position Müllers, für die Erfassung des Inhalts des sechsten Buches des CIC/ 1983 den weiter gefassten Begriff Sanktionsrecht an Stelle von Strafrecht zu verwenden, kann also nachvollziehbare Argumente anführen. Ob diese Terminologie sich jedoch in der deutschsprachigen Kanonistik und darüber hinaus allgemein durchsetzen wird, muss hier dahingestellt bleiben. Wilhelm Rees, der in der neuesten Auflage 3 Der Legislator des CCEO gibt dem Titel XXVII dieses Gesetzbuchs, der sachlich dem Buch VI des CIC/1983 entspricht, dagegen die Bezeichnung „De sanctionibus poenalibus in Ecclesia“ (Strafsanktionen in der Kirche) und unterstreicht damit offensichtlich seine Absicht, ein eigentliches Strafrecht vorzulegen. 4 Vgl. Thomas J. Green, Sanctions in the Church, in: John P. Beal/James A. Coriden/ Thomas J. Green (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law. Commissioned by the Canon Law Society of America, New York/Mahawah 2000, S. 1529 – 1531; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 83 – 86. 5 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 177 – 182. 6 Vgl. dazu auch Ludger Müller, Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes in der Kirche, in: ders./Wilhelm Rees (Hrsg.), Geist – Kirche – Recht. FS Gerosa (65) (= KST 62), Berlin 2014, S. 267 – 284.

Strafe oder Sanktion?

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des Handbuchs des katholischen Kirchenrechts (2015) sämtliche Beiträge verfasst hat, die das sechste Buch des CIC/1983 betreffen, hat dort an der herkömmlichen Begrifflichkeit festgehalten.7 Auch Stefan Muckel gebraucht in der jüngsten Auflage des juristischen Kurz-Lehrbuchs zum Kirchenrecht (2014) den Ausdruck Strafrecht zur Bezeichnung der entsprechenden Materie.8 Gleiches gilt für Ulrich Rhode in seinem neuen kirchenrechtlichen Studienbuch (2015).9 Der vorliegende Beitrag will sich einer kirchenrechtlichen Zwangsmaßnahme zuwenden, die zwar nicht im sechsten Buch des CIC/1983 geregelt ist, aber jedenfalls dem dort normierten Aufenthaltsgebot bzw. -verbot sachlich ziemlich nahekommt (vgl. c. 1336 § 1, 18 CIC/1983). Es gilt die Frage zu beleuchten, ob die den Religiosen auferlegte Exklaustration nur den allgemeinen Charakter einer Sanktion besitzt oder ob sie auch als Strafe verhängt werden kann.10

II. Die Exklaustration im Allgemeinen und die Rechtsstellung des exklaustrierten Ordensmitglieds Die kirchliche Rechtsordnung kennt das Rechtsinstitut der Exklaustration von Ordensmitgliedern seit langem.11 In den geltenden Gesetzbüchern für die lateinische 7 Vgl. Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts (Anm. 1); ders., Straftat und Strafe, in: HdbKathKR3, S. 1591 – 1614; ders., Einzelne Straftaten, in: HdbKathKR3, S. 1615 – 1643. 8 Vgl. Heinrich de Wall/Stefan Muckel, Kirchenrecht. Ein Studienbuch, 4., überarb. Auflage, München 2014, S. 230 – 235. 9 Vgl. Ulrich Rhode, Kirchenrecht (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 24), Stuttgart 2015, S. 279 – 284. 10 Mit dieser Fragestellung hat sich der Verfasser in knapperer Form bereits in seinem Vortrag beim XV. Kongress der Consociatio Internationalis Studio Iuris Canonici promovendo, der 2014 an der Catholic University in Washington, D.C. (USA) stattfand, befasst; vgl. Stephan Haering, Imposed Exclaustration as a Penal Sanction for Religious?, in: Crime and Punishment. Nature, Problems and Perspectives of Canonical Penal Law and Its Relation to Civil Law. Proceedings of the XV International Congress of Canon Law (in Druck). 11 Vgl. Elizabeth McDonough, Exclaustration: Canonical Categories and Current Practice, in: Jurist 49 (1989), S. 568 – 606; Teodoro Angel Bahillo Ruiz, Vida fraterna en común y ausencia de la casa religiosa, in: ComRelMiss 76 (1995), S. 219 – 258; Madeleine Ruessmann, Exclaustration. Its nature and use according to current law (= Tesi Gregoriana. Serie Diritto Canonico 1), Rom 1995; dies., Aspects of Exclaustration, in: PerRCan 84 (1995), S. 237 – 266; Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 711 – 715; Guido Lagomarsino, L’esclaustrazione dei religiosi nel Codex: l’odierna normativa di diritto sostanziale con cenni a quella previgente, in: Apoll 70 (1997), S. 169 – 183; Rose McDermott, Dealing with the Difficult Religious, in: Patrick J. Cogan, Selected Issues in Religious Law, Washington 1997, S. 57 – 65; Patrick T. Shea, Exclaustration, in: Canon Law Society of America Proceedings 59 (1997), S. 267 – 281; Joachim Steinbach, Die Exklaustrationsverfahren im geltenden Recht, in: OK 39 (1998), S. 305 – 320; Joachim Budin, Die Rechtsstellung exklaustrierter Ordenskleriker. Ein Rechtsvergleich zwischen dem Recht der lateinischen Kirche und dem Recht der katholischen Ortskirchen (= BzMK 29), Essen 2001; Bruno Primetshofer, Ordensrecht auf der Grundlage des CIC 1983 und des CCEO unter Berücksichtigung des staatlichen Rechts der Bundesre-

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Kirche (CIC/1983) und für die orientalischen Kirchen (CCEO) wird die Exklaustration in engem Zusammenhang mit dem Austritt aus dem Ordensinstitut behandelt. Sowohl im CIC/1983 als auch im CCEO finden sich die Kanones zur Exklaustration und zum Ordensaustritt in ein und derselben systematischen Einheit. Im CIC/1983 trägt der betreffende Artikel, in dem auch die Exklaustration geregelt wird, nur die Überschrift „De egressu ab instituto“ (cc. 686 – 693 CIC/1983); im CCEO sind die entsprechenden Abschnitte mit „De exclaustratione et de discessu a monasterio“ (cc. 489 – 496 CCEO) bzw. „De exclaustratione et de discessu ab ordine vel congregatione“ (cc. 546 – 550 CCEO) überschrieben. Der Gesetzgeber scheint damit ausdrücken zu wollen, dass die Exklaustration gewöhnlich den ersten Schritt zum Austritt aus dem Institut bedeutet.12 Damit aber ist das Rechtsinstitut der Exklaustration nicht vollständig erfasst, auch wenn sie in vielen individuellen Fällen den Übergang zum definitiven Austritt bildet und der gesamte Vorgang mit der Säkularisation des Ordensmitglieds beendet wird. Die rechtlichen Regelungen besagen, dass die Exklaustration einem Mitglied, das aus schwerwiegendem Grund einen entsprechenden Antrag stellt, vom obersten Leiter (Generaloberer, Abtpräses) mit Zustimmung seines Rates für einen Zeitraum von höchstens drei Jahren gewährt werden kann.13 Der Entscheidung des obersten Leiters über den Antrag auf Exklaustration gehen gewöhnlich weitere Schritte voraus, etwa die Abgabe einer Stellungnahme des für den Antragsteller zuständigen höheren Oberen; diesbezüglich können eigenrechtliche Bestimmungen gelten.14 Bei der Exklau-

publik Deutschland, Österreichs und der Schweiz, Freiburg i. Br. 20034, S. 269 – 274; Jobe Abbass, The Consecrated Life. A Comparative Commentary of the Eastern and Latin Codes, Ottawa 2008, S. 205 – 222; Yuji Sugawara, Esclaustrazione di un membro dall’istituto religioso (cann. 686 – 687), in: PerRCan 97 (2008), S. 423 – 454; Juan Miguel Anaya Torres, La separazione dall’istituto di vita consacrata. II. L’esclaustrazione, in: QDE 24 (2011), S. 303 – 337; Dominicus M. Meier, Rechtsschutz in den Instituten des geweihten Lebens, in: Thomas Schüller/Martin Zumbült (Hrsg.), Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. FS Lüdicke (70) (= BzMK 70), Essen 2014, S. 215 – 235, hier S. 227 – 229; Jacinto Fernández, Art. Esclaustrazione, in: Dizionario degli istituti di perfezione 3, Roma 1976, Sp. 1271 – 1281; Reinhold Sebott, Art. Exklaustration, in: LexKR, Sp. 276 f.; Jorge Horta, Art. Exclaustración, in: DGDC 3, S. 821 – 824; Stephan Haering, Art. Exklaustration, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 182 – 186. 12 Die weiteren Ausführungen beziehen sich allein auf die Normen des CIC/1983; für den Geltungsbereich des CCEO ließe sich aber weithin Entsprechendes darlegen. 13 C. 686 § 1 CIC/1983: „Supremus Moderator, de consensu sui consilii, sodali a votis perpetuis professo, gravi de causa concedere potest indultum exclaustrationis, non tamen ultra triennium, praevio consensu Ordinarii loci in quo commorari debet, si agitur de clerico. Indultum prorogare vel illud ultra triennium concedere Sanctae Sedi vel, si de institutis iuris dioecesani agitur, Episcopo dioecesano reservatur.“ 14 Vgl. Dominicus M. Meier, Art. Eigenrecht, in: ders./Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 150 – 155 (Lit.).

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stration eines Klerikers ist außerdem die Zustimmung des Ortsordinarius einzuholen, in dessen Gebiet sich der exklaustrierte Ordenskleriker aufhalten muss.15 Eine Verlängerung der Exklaustration über drei Jahre hinaus oder die Gewährung einer von vornherein für länger als drei Jahre vorgesehenen Exklaustration kann bei Instituten päpstlichen Rechts nur vom Apostolischen Stuhl verfügt werden, bei Instituten diözesanen Rechts dagegen vom Diözesanbischof. Bei diözesanrechtlichen Instituten, die Niederlassungen in mehreren Bistümern besitzen, ist in einem solchen Fall, sofern das Eigenrecht diesbezüglich keine Regelung trifft, sowohl von der Zuständigkeit des Diözesanbischofs des Hauptsitzes auszugehen, als auch von der Zuständigkeit jenes Diözesanbischofs, in dessen Bistum die Niederlassung liegt, zu der das betroffene Mitglied gehört. Die Zuständigkeit für die Exklaustration von Nonnen16 (moniales) liegt, ungeachtet der Dauer der Exklaustration und des päpstlichoder diözesanrechtlichen Status des betreffenden Klosters, exklusiv beim Apostolischen Stuhl.17 Ein exklaustriertes Mitglied ist von Rechts wegen von jenen Verpflichtungen befreit, die mit seiner neuen Lebenssituation nicht vereinbar sind.18 Das Urteil darüber, welche Verpflichtungen während der Exklaustration ruhen, steht dem exklaustrierten Mitglied nicht einfach selbst zu. Denn es gilt, dass das Mitglied bezüglich der Gestaltung der Exklaustrationszeit nicht gänzlich frei ist, sondern hinsichtlich des Aufenthaltsorts und der Tätigkeiten an die Genehmigung bzw. die Weisung des eigenen Oberen gebunden bleibt. Es hängt also auch vom zuständigen Ordensoberen ab, welche Verpflichtungen ruhen und in welchem Umfang das exklaustrierte Mitglied diesbezüglich selbst Entscheidungen treffen darf. Das Tragen des Ordenskleides19 ist ihm gestattet, sofern im Exklaustrationsindult keine andere Verfügung getroffen wird. Ein exklaustriertes Mitglied ist auch der Sorge des Ortsoberhirten anvertraut, insbesondere wenn es sich um einen exklaustrierten Ordenskleriker handelt; dies gilt auch dann, wenn das exklaustrierte Mitglied nicht im Dienst des Bistums oder eines anderen kirchlichen Rechtsträgers arbeitet. Der zuständige Ortsordinarius 15

Vgl. Budin, Die Rechtsstellung exklaustrierter Ordenskleriker (Anm. 11). Vgl. Evelyne D. Menges, Art. Nonne, in: LexKR, Sp. 680 f.; Aidan McGrath, Art. Monjas de clausura, in: DGDC 5, S. 464 – 467; Dominicus M. Meier, Art. Nonne, in: ders./ Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 299 f. 17 C. 686 § 2 CIC/1983: „Pro monialibus indultum exclaustrationis concedere unius Apostolicae Sedis est.“ 18 C. 687 CIC/1983: „Sodalis exclaustratus exoneratus habetur ab obligationibus, quae cum nova suae vitae condicione componi nequeunt, itemque sub dependentia et cura manet suorum Superiorum et etiam Ordinarii loci, praesertim si de clerico agitur. Habitum instituti deferre potest, nisi aliud in indulto statuatur. Voce tamen activa et passiva caret.“; vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 137 – 186. 19 Vgl. Stephan Haering, Art. Ordenskleidung, in: LKStKR 3, S. 95 f.; Eutimio Sastre Santos, Art. Hábito religioso, in: DGDC 4, S. 285 – 287; Rüdiger Althaus, Art. Ordenskleid, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 321 – 323. 16

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muss daher stets darüber unterrichtet werden, wenn ein exklaustriertes Ordensmitglied sich in seinem Sprengel dauerhaft aufhält. Bezüglich des kanonischen Wohnsitzes20 eines exklaustrierten Ordensmitglieds sind unterschiedliche rechtliche Konstellationen möglich. Handelt es sich um das Mitglied eines Instituts mit rechtlich selbständigen Klöstern (monasterium sui iuris), wie bei den Mönchs- und Kanonikerorden (Benediktiner, Zisterzienser, Augustiner-Chorherren, Prämonstratenser), dann bleibt auch der Exklaustrierte seinem Kloster adskribiert, weil der Fortbestand der Ordensanbindung in keiner anderen Form möglich ist als in dieser; er behält daher gemäß c. 103 CIC/1983 dort auch seinen kirchlichen Hauptwohnsitz (domicilium). Zusätzlich erwirbt er einen Nebenwohnsitz (quasi-domicilium) an jenem Ort, an dem er während der Exklaustrationszeit tatsächlich wohnt (vgl. c. 102 § 2 CIC/1983). Ordensmitglieder aus zentralistisch organisierten Instituten, z. B. Mendikanten, Jesuiten und Angehörige anderer neuzeitlicher Verbände, hingegen verlieren mit der Exklaustration in aller Regel die Zuordnung zu einer Ordensniederlassung und damit den gesetzlichen Wohnsitz gemäß c. 103 CIC/1983. Sie bleiben aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Ordensprovinz auch während der Exklaustration genügend an das Institut rückgebunden und haben, der Natur ihrer rechtlichen Sonderstellung entsprechend, keinen fiktiven Wohnsitz mehr in einem Kloster. Ihr kirchlicher Wohnsitz als Exklaustrierte ergibt sich aus dem tatsächlichen Wohnort (vgl. c. 102 § 1 CIC/1983). Es ist allerdings auch nicht völlig auszuschließen, dass exklaustrierte Mitglieder solcher Verbände während der Zeit ihrer Ausgliederung, entweder aufgrund eigenrechtlicher Bestimmung oder kraft Verfügung des Höheren Oberen einer bestimmten Niederlassung zugeschrieben bleiben. Dann befinden sie sich bezüglich des kirchlichen Wohnsitzes in derselben Situation wie exklaustrierte Angehörige der Klöster eigenen Rechtes.21 Während der Dauer der Exklaustration besitzt das betroffene Mitglied in seinem Institut weder aktives noch passives Stimmrecht.22 Es muss daher auch nicht seitens des Instituts über jene Vorgänge unterrichtet werden, die im Hinblick auf die Ausübung des Stimmrechts relevant sind, und es besitzt gleichfalls keinen Anspruch auf eine entsprechende Einsichtnahme oder Verständigung. Ein exklaustriertes Mitglied kann auch keine Ämter im Orden wahrnehmen; dies liegt in der Natur der Exklaustration. 20

Vgl. Heinrich J.F. Reinhardt, Art. Wohnsitz. II. Kath., in: LKStKR 3, S. 896 f.; Miquel Delgado, Art. Domicilio, in: DGDC 3, S. 473 – 476. 21 Ähnlicher Ansicht, allerdings ohne Differenzierung zwischen Religiosen aus Klöstern eigenen Rechts und Mitgliedern zentralistischer Verbände, ist Helmuth Pree, c. 103, Rdnr. 5, in; MK CIC (Stand: November 1995). Walser geht für alle exklaustrierten Ordensleute vom Fortbestehen des Wohnsitzes in ihrem bisherigen Kloster aus (vgl. Markus Walser, Die Bedeutung des Wohnsitzes im kanonischen Recht. Eine Untersuchung zu cc. 100 – 107 CIC [= DiKa 9], St. Ottilien 1993, S. 60). 22 Vgl. Franz Kalde, Art. Stimmrecht, in: LKStKR 3, S. 616; G. Paolo Montini, Art. Votación, in: DGDC 7, S. 967 – 971.

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Anlässlich einer Exklaustration müssen rechtzeitig auch Fragen bezüglich der wirtschaftlichen Situation des exklaustrierten Mitglieds geklärt werden. Das Mitglied ist während der Exklaustrationszeit grundsätzlich verpflichtet, seinen Unterhalt aus eigener Arbeit zu bestreiten bzw. den ihm möglichen Beitrag dazu zu leisten. Bei einem exklaustrierten Ordenskleriker kommt auch eine Tätigkeit im kirchlichen Bereich auf der Basis eines Gestellungsvertrags23 zwischen dem Institut und dem Dienstgeber, z. B. einem Bistum oder einer anderen kirchlichen Rechtsperson, in Betracht. Das Institut ist in einem solchen Fall verpflichtet, dem Mitglied ausreichende Mittel für dessen eigenen Lebensunterhalt zur Verfügung zu stellen.

III. Die auferlegte Exklaustration gemäß c. 686 § 3 CIC/1983 Die eingangs getroffene allgemeine Feststellung, dass die Kirche zu jeder Zeit damit konfrontiert worden ist, dass Gläubige in erheblichem Maße versagen, lässt sich auch für spezielle Teilbereiche des kirchlichen Lebens machen. Trotz einer prinzipiell idealen persönlichen Einstellung der Mitglieder kam und kommt es auch in Klöstern und Ordensverbänden dazu, dass Brüder oder Schwestern sich in irgendeiner Weise schuldig machen. Bereits die Klosterregel des hl. Benedikt von Nursia aus dem 6. Jahrhundert etwa wendet diesem Thema breite Aufmerksamkeit zu und formuliert Grundsätze und praktische Anweisungen für den Umgang mit einem Mönch, der sich ernstlich verfehlt hat.24 Zu den möglichen Sanktionen, welche die Benediktsregel nennt, gehören auch der Ausschluss des schuldigen Mönchs aus dem Kloster oder die vorübergehende Unterbrechung seiner Teilhabe am Gemeinschaftsleben.25 Im allgemeinen Kirchenrecht ist eine dem vorläufigen Ausschluss aus der Klostergemeinschaft vergleichbare Zwangsmaßnahme erst in neuerer Zeit eingeführt worden. Der CIC/1983 kennt neben der Exklaustration auf Antrag des betreffenden Mitglieds auch die hoheitlich auferlegte Exklaustration (c. 686 § 3 CIC/1983) und unterscheidet sich darin vom früheren Gesetzbuch CIC/1917, wo eine entsprechende Bestimmung noch fehlte.

23 Vgl. Lars Westinger/Elisabeth Kandler-Mayr, Art. Gestellung/Gestellungsvertrag, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 202 – 209. 24 Benedicti regula, recensuit Rudolf Hanslik (= Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 75), Vindobonae 1977; vgl. Uwe Kai Jacobs, Die Regula Benedicti als Rechtsbuch. Eine rechtshistorische und rechtstheologische Untersuchung (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 16), Köln/Wien 1987; Michaela Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002; dies., Der Regel als Lehrmeisterin folgen. Aufsätze und Vorträge zur Benediktusregel (= Regulae Benedicti Studia. Traditio et Receptio 24), St. Ottilien 2013. 25 Vgl. Regula Benedicti, cap. 23 – 28.

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Die auferlegte Exklaustration kann aus schwerwiegenden Gründen über ein Ordensmitglied verhängt werden.26 In einem solchen Fall erfolgt die Exklaustration also ohne einen eigenen Antrag oder sogar gegen den Willen des Mitglieds. Unabhängig von der Dauer der Exklaustration ist für die Setzung dieser Maßnahme bei Instituten päpstlichen Rechts der Apostolische Stuhl zuständig, bei Instituten diözesanen Rechts der Diözesanbischof. Vorausgehen muss ein entsprechender Antrag des obersten Leiters des Ordensinstituts, dem dessen Rat zugestimmt hat. Der Diözesanbischof kann also niemals von sich aus einem Ordensmitglied die Exklaustration auferlegen. Der Apostolische Stuhl verfügt dagegen aufgrund des Jurisdiktionsprimats prinzipiell über die Möglichkeit, von sich aus die Ordensautonomie zu durchbrechen und sogar gegen den Willen der Ordensorgane einem Ordensmitglied die Exklaustration aufzuerlegen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der ordentlichen Exklaustration und der auferlegten Exklaustration besteht also darin, dass die erste in der Regel durch ordenseigene Organe gewährt wird, während die zweite nur durch ordensexterne hierarchische Autoritäten verfügt werden kann. Die rechtliche Stellung eines Mitglieds, dem die Exklaustration auferlegt wird, ist dennoch grundsätzlich dieselbe wie jene eines Mitglieds, das auf eigenen Antrag hin exklaustriert worden ist. Es lebt nicht mehr in der Ordensgemeinschaft und besitzt kein Stimmrecht mehr. Während jedoch im Fall des auf eigenen Antrag exklaustrierten Mitglieds die Exklaustration eine Gunst bedeutet, steht bei der auferlegten Exklaustration der Entzug von Rechten im Vordergrund, nämlich des Rechts auf Leben in der Ordensgemeinschaft und des Stimmrechts im Orden. Die Gründe für das Auferlegen der Exklaustration können vielfältig sein. Unter Umständen gibt ein schuldhaftes Verhalten des betreffenden Mitglieds den Anlass dazu; es können jedoch auch andere Ursachen ausschlaggebend sein. Die Gründe für die Maßnahme können sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ordensgemeinschaft liegen.27 Die Auferlegung der Exklaustration erfolgt regelmäßig auf unbefristete Zeit. Wenn dies der Fall ist, scheint eine periodische Prüfung der Frage geboten, ob die Maßnahme noch zweckmäßig, gerecht und angemessen scheint, zumal der Gesetzgeber ausdrücklich verlangt, dass Billigkeit und Liebe gewahrt werden müssen.28 Die rechtlichen Bestimmungen schließen aber nicht aus, dass eine Exklaustration zeitlich befristet auferlegt wird. Deshalb kann die kirchliche Autorität auch die Exklaustration von vornherein für eine beschränkte Zeitspanne verfügen. Dies kann als 26 C. 686 § 3 CIC/1983: „Petente supremo Moderatore de consensu sui consilii, exclaustratio imponi potest a Sancta Sede pro sodale instituti iuris pontificii vel ab Episcopo dioecesano pro sodale instituti iuris dioecesani, ob graves causas, servata aequitate et caritate.“; vgl. Anne Bamberg, L’exclaustration imposée. Compétences et responsabilités du Modérateur suprême et de l’Évêque diocésain, in: Vie consacrée 76 (2004), S. 176 – 188. 27 Vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 72 – 74. 28 Vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 131 – 135.

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ein Signal an das betroffene Mitglied verstanden werden, dass es nicht dauerhaft in dieser Form separiert werden soll, sondern die Option einer Rückkehr bleibt. In einem solchen Fall wäre vor Ablauf der Exklaustrationsfrist zu prüfen, ob die Gründe für eine derartige Ausgliederung weiterhin gegeben sind und deshalb die Maßnahme zu verlängern ist, oder ob das Mitglied wieder voll in die Gemeinschaft eingegliedert werden kann. Das Ordensmitglied, dem die Exklaustration auferlegt wird, kann gegen diese Maßnahme die allgemeinen Rechtsmittel ergreifen, die gegen kirchliche Verwaltungsakte zur Verfügung stehen. Es kann also zunächst die Rücknahme der Maßnahme beantragen und dann in einem weiteren Schritt bei dem zuständigen hierarchischen Oberen Beschwerde gegen die Exklaustration einlegen.29

IV. Strafcharakter der auferlegten Exklaustration? Die auferlegte Exklaustration wird vom Gesetzgeber nicht unter den kirchlichen Strafen aufgeführt. Sie zählt auch nicht zu den gesetzlich vorgesehenen Strafsicherungsmitteln oder Bußen (cc. 1339 – 1340 CIC/1983) und ist damit kein Instrument des kodikarischen Strafrechts (Liber VI CIC/1983). Des Weiteren scheint die Tatsache, dass eine Exklaustration auf Antrag des betreffenden Ordensmitglieds hin gewährt werden kann, völlig dagegen zu sprechen, dass man die Exklaustration in Zusammenhang mit einer Strafe bringen kann. Wenn man jedoch c. 1336 § 1 CIC/1983 in Betracht zieht, wo in abstrakter Weise mögliche Sühnestrafen genannt werden, dann sind bestimmte Merkmale auch bei der auferlegten Exklaustration wiederzuerkennen.30 C. 1336 § 1, 18 CIC/1983 etwa nennt als eine mögliche Sühnestrafe das Verbot oder Gebot, sich an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet aufzuhalten.31 Ein solches Aufenthaltsverbot und gegebenenfalls sogar ein Aufenthaltsge-

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Vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 76 f.; Stephan Haering, Das Verfahren zur Entlassung von Professmitgliedern aus einer Ordensgemeinschaft, in: Folia Theologica et Canonica 1 (2012), S. 199 – 216, hier S. 214 f. 30 Zum erweiterten Katalog kirchlicher Sühnestrafen, wie er im Schema des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte aus dem Jahr 2011 für einen novellierten Liber VI CIC/1983 vorgesehen ist, vgl. Elmar Güthoff, Ein Überblick über die im ersten Teil des Strafrechts des CIC (cc. 1311 – 1363) geplanten Änderungen, in: AfkKR 181 (2012), S. 75 – 89, hier S. 79 – 82; demnach soll künftig beispielsweise auch der Entzug des aktiven und passiven Stimmrechts, der stets mit der Exklaustration verbunden ist, als Sühnestrafe aufgeführt werden. Zum Projekt dieser Strafrechtsreform allgemein Juan Ignacio Arrieta, Il progetto di revisione del Libro VI del Codice di Diritto Canonico, in: AfkKR 181 (2012), S. 57 – 74. 31 C. 1336 § 1 CIC/1983: „Poenae expiatoriae, quae delinquentem afficere possunt aut in perpetuum aut in tempus praefinitum aut in tempus indeterminatum, praeter alias, quas forte lex constituerit, hae sunt: 18 prohibitio vel praescriptio commorandi in certo loco vel territorio; […]“; vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 185 f.; Dominicus M. Meier, Aufent-

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bot sind mit einer auferlegten Exklaustration verbunden. Denn das derart exklaustrierte Mitglied darf sich nicht mehr in der Ordensniederlassung aufhalten. Es kann ihm auch vorgeschrieben werden, an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet zu leben. C. 1336 § 1, 28 CIC/1983 nennt ferner als eine mögliche Sühnestrafe den Entzug eines Rechtes.32 Auch dieses Merkmal findet man bei der auferlegten Exklaustration wieder. Einem exklaustrierten Ordensmitglied werden sogar mehrere Berechtigungen entzogen. Es handelt sich zunächst um das Recht, in einer Ordensniederlassung oder jedenfalls innerhalb des Ordensverbands zu leben. Diese volle Zugehörigkeit zum Ordensinstitut drückt sich insbesondere in dem vollen Stimmrecht aus, welches den endgültig eingegliederten Mitgliedern zukommt. Das Stimmrecht aber wird bei der Exklaustration entzogen, sowohl in aktiver als auch in passiver Hinsicht. Das exklaustrierte Mitglied kann sich demnach nicht mehr an Abstimmungen im Ordensinstitut beteiligen, auch nicht durch einen Vertreter; es kann auch nicht zu Ämtern des Instituts gewählt werden. Da es an den ordensinternen Entscheidungsprozessen keinen Anteil mehr hat, erhält es auch nicht die Informationen, die zur Mitwirkung an diesen Vorgängen erforderlich sind. Dem exklaustrierten Ordensmitglied kann das Recht entzogen werden, das Ordenskleid zu tragen. Ein solches Verbot verhindert, dass es äußerlich als Mitglied des Verbandes erkennbar bleibt. Schließlich werden die Rechte eines exklaustrierten Ordensmitglieds insofern eingeschränkt, als der Anspruch auf Versorgung durch das Ordensinstitut während der Exklaustration in der Regel ausgesetzt wird. Das bedeutet, dass das exklaustrierte Ordensmitglied seinen Lebensunterhalt durch die eigene Arbeit bestreiten muss und, abgesehen von Ausnahmefällen, nicht erwarten darf, eine regelmäßige Zahlung oder andere wirtschaftliche Unterstützung des Instituts zu erhalten. Natürlich sind auch die im Institut lebenden Mitglieder zu einem arbeitsamen Leben verpflichtet und gehalten, ihren Teil beizutragen, dass das Ordensinstitut wirtschaftlich bestehen und seine Aufgaben erfüllen kann. Diese Tätigkeiten sind aber zumeist nicht unmittelbar auf die Sicherung des individuellen Lebensunterhalts ausgerichtet. Vielmehr gewährt das Institut seinen Mitgliedern alles, was zum alltäglichen Leben notwendig ist. Mit der Auferlegung der Exklaustration ist gewöhnlich auch der Entzug eines Amtes oder einer Aufgabe verbunden. Dies entspricht einer anderen gemäß c. 1336 § 1, 28 möglichen Sühnestrafe.33 Das betroffene Ordensmitglied dürfte gewöhnlich irgendwelche Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft oder in deren Auftrag haltsverbot, in: ders./Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 46 f. 32 C. 1336 § 1 CIC/1983: „[…] 28 privatio potestatis, officii, muneris, iuris, privilegii, facultatis, gratiae, tituli, insignis, etiam mere honorifici; […]“; vgl. Green, Sanctions in the Church (Anm. 4), S. 1554; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 186 f. 33 Vgl. Green, Sanctions in the Church (Anm. 4), S. 1554; Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 186 f.

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ausgeübt haben, die ihm nun entzogen werden. Es widerspricht der Eigenart einer Exklaustration, dass das betroffene Mitglied weiterhin Ämter oder Aufgaben innerhalb der Ordensgemeinschaft ausübt. Insofern ergibt es sich bei fast jeder Exklaustration, dass dem Betroffenen die bisher innegehabten Aufgaben weggenommen werden. Schließlich könnte man die Tatsache, dass eine auferlegte Exklaustration nur als Maßnahme einer hierarchischen Autorität (Apostolischer Stuhl, Diözesanbischof) und nicht als Verfügung ordensinterner Organe möglich ist, als Argument dafür ins Feld führen, dass hier hoheitliche kirchliche Gewalt in Form der Strafverhängung, und zwar auf dem Verwaltungsweg, zur Anwendung kommt. Es gibt also einige Argumente, die dafür sprechen, die Auferlegung der Exklaustration als eine mögliche Strafe für schuldig gewordene Ordensleute zu betrachten. Auf der anderen Seite spricht manches dafür, die gestellte Frage zu verneinen und die auferlegte Exklaustration nicht zu den kirchlichen Strafen zu rechnen. Ein erster Anhaltspunkt ist hier das Faktum, dass die auferlegte Exklaustration als solche nicht im Katalog der kanonischen Sühnestrafen genannt wird. Sie nimmt nur Elemente auf, die auch bei Strafen vorkommen. Als Vergleichspunkt sei hier nur die Suspension von einem kirchlichen Amt genannt, die einerseits als kanonische Strafe (Zensur) gilt, andererseits aber auch als Ordnungsmaßnahme ohne Strafcharakter eingesetzt werden kann. Nicht jeglicher Entzug von Rechten hat also schon den Charakter einer Strafe, sondern er kann auch anderweitig begründet und gerechtfertigt sein. Ein besonders gewichtiges Argument gegen einen Strafcharakter der auferlegten Exklaustration lässt sich aus einem Vergleich dieser Maßnahme mit der Entlassung aus dem Ordensinstitut gewinnen.34 Die beiden Rechtsinstitute haben zweifellos eine 34 Vgl. Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 723 – 734; Jobe Abbass, Dismissal from Religious Institutes of the Latin and Eastern Catholic Churches, in: ComRelMiss 78 (1997), S. 361 – 392; Darius Borek, La dimissione dei religiosi a norma del can. 694 del Codex del 1983: È una pena espiatoria latae sententiae?, in: ComRelMiss 81 (2000), S. 67 – 95; Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 11), S. 279 – 304; Sharon Holland, Canonical Dismissal from Institutes of Consecrated Life and Societies of Apostolic Life, in: Studies in Church Law 2 (2006), S. 61 – 84; Juan M. Anaya Torres, La expulsión de los religiosos. Un recorrido histórico que muestra el interés pastoral de la Iglesia (= Tesi Gregoriana. Serie Diritto Canonico 77), Roma 2007; Augustine Mendonça, Dismissal of a Religious from the Religious Institute for the Delict of Abortion, in: Studies in Church Law 3 (2007), S. 425 – 435; Victor G. D’Souza, Automatic Dismissal of the Religious from the Religious Institute on the Ground of Marriage, in: Studies in Church Law 6 (2010), S. 445 – 452; Marek Stokłosa, Il ruolo del superiore maggiore nel processo di dimissione dei religiosi dall’istituto, in: Janusz Kowal/Joaquín Llobell (Hrsg.), „Iustitia et iudicium“. Studi di diritto matrimoniale e processuale canonico in onore di Antoni Stankiewicz (= StudG 89), Roma 2010, S. 2215 – 2233; Stephan Haering, Die Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband, in: Ludger Müller, Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin/Münster 2011, S. 107 – 126; Nikolaus Schöch, Das Verfahren zur Entlassung eines Mönchs mit feierlicher Profess aus dem Kloster gemäß cann. 497 – 503 CCEO unter Berücksichtigung möglicher Rekurse, in: Elmar Güthoff/Stefan Korta/Andreas Weiß (Hrsg.), Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst (= AIC 50), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 507 – 531; Janusz Kowal, Art. Expulsión del instituto, in:

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gewisse Nähe zueinander und lassen sich miteinander vergleichen. C. 695 CIC/1983 handelt davon, dass ein Ordensmitglied, das bestimmte Straftaten begangen hat, aus dem Ordensinstitut entlassen werden muss.35 Im Strafrecht des CIC/1983 (Buch VI) ist bei den entsprechenden Straftaten nicht von einer Entlassung aus dem Ordensinstitut als Strafsanktion die Rede.36 Dies ist ein erster Anhaltspunkt dafür, dass die Entlassung aus dem Institut keine Strafe darstellt. Er könnte allerdings durch die Überlegung ins Wanken gebracht werden, dass die Entlassung einen erheblichen Entzug von Rechten bedeutet. Ein weiteres bedeutendes Argument gegen den Strafcharakter der Entlassung enthält c. 1342 § 2 CIC/1983, wo zum Ausdruck kommt, dass Strafen für immer nur in einem gerichtlichen Strafprozess verhängt werden können.37 Es ist zwar bekannt, dass der Apostolische Stuhl auf der Grundlage außerkodikarischer Normen auch anders verfährt und Strafen für immer, etwa die Entlassung aus dem Klerikerstand, durchaus auch auf dem Verwaltungsweg ergehen können.38 Hier ist indes allein vom Gesetzbuch und dessen innerer Logik her zu argumentieren. Vor diesem Hintergrund kann man nun festhalten, dass die Entlassung aus einem Ordensinstitut keine nur vorübergehende, sondern eine Maßnahme mit Dauercharakter ist. Ein Mitglied, das entlassen wird, scheidet nicht auf Zeit aus dem Institut aus, sondern für immer.39 Die Entlassung geschieht in einem speziell geordneten VerwalDGDC 3, S. 877 – 882; Stephan Haering, Art. Entlassung (Säkularisierung), in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 162 – 168. 35 Es handelt sich um Straftaten gegen Leib und Leben von Menschen sowie um Sexualdelikte; vgl. Holland, Separation of Members from the Institute (Anm. 34), S. 865 f.; Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 11), S. 285 – 287. 36 Vgl. cc. 1397, 1398 u. 1395 CIC/1983. 37 C. 1342 § 2 CIC/1983: „Per decretum irrogari vel declarari non possunt poenae perpetuae, neque poenae quas lex vel praeceptum eas constituens vetet per decretum applicare.“; vgl. Green, Sanctions in the Church (Anm. 4), S. 1559 f.; Klaus Lüdicke, c. 1342, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: November 1993); Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 184. 38 Vgl. Art. 21 § 2 Normen der Glaubenskongregation als Strafgericht aus dem Jahr 2010; s. C DocFid, Normae de gravioribus delictis (21. 05. 2010), in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430 (dt. in: AfkKR 179 [2010], S. 169 – 179); vgl. dazu allgemein Davide Cito, Las nuevas normas sobre los „delicta graviora“, in: IusCan 50 (2010), 643 – 658; ders., Nota alle nuove norme sui „Delicta graviora“, in: IusE 22 (2010), S. 787 – 799; Federico R. Aznar Gil, Los „graviora delicta“ reservados a la Congregación para Doctrina de la Fe. Texto modificado (2010), in: REDC 68 (2011), S. 283 – 313; Thomas J. Green, Sacramentorum Sanctitatis Tutela: Reflections on the Revised May 2010 Norms on More Serious Delicts, in: Jurist 71 (2011), S. 120 – 158; Damián G. Astigueta, Ultime modifiche al Motu proprio Delicta graviora, in: Sz. Anzelm Szuromi (Hrsg.), Il quindicesimo anniversario dell’Istituto di Diritto Canonico „ad instar facultatis“ dell’Università Cattolica Pázmany Péter, Budapest 2011, S. 69 – 87. 39 Die Entlassung eines Mitglieds schließt dessen spätere Wiederaufnahme in das Ordensinstitut freilich nicht völlig aus. Es dürfte allerdings kaum einmal vorkommen, dass sowohl das entlassene Mitglied als auch die Verantwortlichen des Instituts sich dazu bereitfinden, einen erneuten Eintritt zu beantragen bzw. zuzulassen; vgl. aber auch Regula Benedicti, cap. 29, wo sogar eine dreimalige Möglichkeit der Wiederaufnahme in Betracht gezogen wird.

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tungsverfahren, das mit einer dauerhaften Konsequenz endet.40 Weil aber im Strafgesetz vorgesehen ist, dass Strafen für immer nur in einem gerichtlichen Strafprozess verhängt werden können, kann die Entlassung aus dem Ordensinstitut keine Strafe sein; denn ihr geht kein gerichtlicher Prozess, sondern lediglich ein Verwaltungsverfahren voraus.41 Bei einem Ergebnis auf immer, wie es die Entlassung aus dem Orden bedeutet, kann es sich, wenn kein Gerichtsprozess durchgeführt worden ist, nicht um eine Strafe im strengen kanonischen Sinne handeln. Die Entlassung ist demnach, wenn man sich c. 695 CIC/1983 vor Augen hält, eine besondere kanonische Sanktion, die zu einer Strafe hinzukommt. Wenn nun die Entlassung, bei welcher, ähnlich wie bei der auferlegten Exklaustration, die hierarchische Autorität einbezogen werden muss, keine Strafe ist, sondern im Fall des c. 695 CIC/1983 eine spezielle, die Strafe begleitende Ordenssanktion, dann kann man diese Erkenntnis analog auch auf die auferlegte Exklaustration anwenden. Die zuletzt angestellten Überlegungen können freilich noch eine weitere, partiell dem oben Gesagten sogar widersprechende Erkenntnis fördern, dass nämlich im kanonischen Recht die Grenzen zwischen kanonischen Strafen im strengen Sinne und anderen Formen von Sanktionen nicht scharf gezogen werden. Hier wird mittelbar auch wieder recht deutlich sichtbar, dass man in der Kirche keine Trennung der Gewalten, sondern nur deren Unterscheidung kennt. Für den betroffenen Gläubigen ist es vom Ergebnis her ziemlich gleichgültig, ob die ihm auferlegten Einschränkungen und Rechtsentzüge von einer kirchlichen Strafe oder von einer Verwaltungsmaßnahme herrühren. Insoweit ist es auch für das von der auferlegten Exklaustration betroffene Ordensmitglied relativ unbedeutend, ob es sich hier mit einer Strafe oder mit einer anderen Form von Sanktion konfrontiert sieht. Denn es scheint – gerade weil die Entlassung aus dem Ordensinstitut als eine die zugezogene Strafe begleitende Sanktion zu bewerten ist – keineswegs ausgeschlossen, dass auch die Exklaustration als Sanktion für ein Fehlverhalten auferlegt wird.

V. Möglichkeiten und Grenzen für die Anwendung der auferlegten Exklaustration Das kirchliche Gesetzbuch nennt selbst keine konkreten Tatbestände, bei denen die Auferlegung der Exklaustration in Betracht gezogen werden kann oder muss. Es bleibt also zunächst einem pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Ordensorgane überlassen abzuwägen, ob die Einleitung des Verfahrens unter den jeweils gegebenen Umständen angemessen ist. Letztlich ist es der für die Auferlegung der Exklaustration zuständigen hierarchischen Autorität (Apostolischer Stuhl, Diözesanbi40

Vgl. Haering, Verfahren zur Entlassung von Professmitgliedern (Anm. 29). Bei Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 190 f., wird hingegen die Entlassung als eine „Sühnestrafe für immer“ eingestuft. 41

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schof) überantwortet, die Gründe für die vom Institut beantragte Exklaustration eines Mitglieds zu würdigen und nach eigenem Urteil eine Entscheidung darüber zu treffen. Schwer vorstellbar ist die Anwendung der auferlegten Exklaustration, wenn der dafür angegebene Grund nicht mit einem irgendwie zurechenbaren Verhalten des betroffenen Mitglieds zusammenhängt. Die Erkrankung eines Mitglieds und deren Behandlung in einer externen Einrichtung sind ein gesetzlicher Grund für eine erlaubte Abwesenheit vom Kloster, für die es nicht einmal eine qualifizierte Erlaubnis braucht.42 Für die Rechtmäßigkeit eines Aufenthalts des Ordensmitglieds außerhalb des Klosters wegen Krankheit genügt also allein die Verfügung oder Zustimmung des kompetenten Ordensoberen, um die möglicherweise vom Mitglied ausgehende Störung des Gemeinschaftslebens zu beheben. Unter ganz besonderen Umständen kann die Auferlegung der Exklaustration aber die ultima ratio sein, wenn es unumgänglich erscheint, die häusliche Lebensgemeinschaft mit einem Mitglied zumindest auf einen erheblichen Zeitraum hin zu beenden. Die folgenden Ausführungen setzen dabei voraus, dass die Situation, die dadurch bewältigt werden soll, mit einer (strafwürdigen) Verfehlung des Mitglieds zusammenhängt. Wenn die Exklaustration als begleitende Sanktion zu einer kanonischen Strafe hinzukommt und der Aufarbeitung einer Straftat dient, muss bei der Verfügung der Maßnahme auch das Gewicht der betreffenden Straftat berücksichtigt werden. Eine Exklaustration kommt, wenigstens zunächst, sicher nicht in Betracht, wenn es um Straftaten geht, bei denen das Gesetz die Durchführung eines Entlassungsverfahrens vorschreibt. Nur wenn bei diesem Anlass deutlich wird, dass eine Entlassung angesichts des Gewichts der Verfehlung, deren sich das Mitglied schuldig gemacht hat, nicht angemessen wäre, könnte auf die auferlegte Exklaustration als eine insgesamt gesehen mildere Form der Sanktion zurückgegriffen werden.43 Die Auferlegung der Exklaustration bringt das betroffene Ordensmitglied, was das alltägliche Leben angeht, in eine ähnliche Situation wie die Entlassung. Das Mit42

C. 665 § 1 CIC/1983: „Religiosi in propria domo religiosa habitent vitam communem servantes, nec ab ea discedant nisi de licentia sui Superioris. Si autem agatur de diuturna a domo absentia, Superior maior, de consensu sui consilii atque iusta de causa, sodali concedere potest ut extra domum instituti degere possit, non tamen ultra annum, nisi causa infirmitatis curandae, ratione studiorum aut apostolatus exercendi nomine instituti.“; vgl. Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 11), S. 209 – 211; Juan Miguel Anaya Torres, La separazione dall’istituto di vita consacrata. I. L’assenza dalla comunità, in: QDE 23 (2010), S. 456 – 470; Rudolf Henseler, Art. Abwesenheit (absentia a domo religiosa), in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 27 – 30; s. auch Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 213 – 231, wo ein Vergleich zwischen Exklaustration und erlaubter Abwesenheit gemäß c. 665 § 1 CIC/1983 angestellt wird. 43 Vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 231 – 240 (Vergleich zwischen Exklaustration und Entlassung).

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glied lebt außerhalb der Ordensgemeinschaft, hat keine rechtliche Möglichkeit, auf Entscheidungen im Institut Einfluss zu nehmen und muss selbst für seinen Unterhalt sorgen. Mit der Auferlegung der Exklaustration wird in der Regel auch das Verbot verbunden sein, die Ordenskleidung zu tragen. Die grundlegende Anbindung an das Institut bleibt jedoch bestehen und das Mitglied kann auf die Fürsorge durch das Institut zählen, wenn ein besonderer Notfall eintreten sollte. Aus der Sicht des Ordensinstituts hat die auferlegte Exklaustration teilweise ähnliche Vorteile wie eine Entlassung. Sie sondert das betroffene Mitglied von der Gemeinschaft ab und erzielt damit, abgesehen vom bedingten Wegfall der wirtschaftlichen Sorge für das Mitglied, zwei verschiedene Effekte. Zum einen verhindert diese Aussonderung, dass ein schuldig gewordenes Ordensmitglied durch seine Präsenz in der Gemeinschaft einen schädlichen Einfluss auf andere Mitglieder des Ordensinstituts ausübt. Zum anderen wird durch die Aussonderung des schuldigen Mitglieds mittels der Exklaustration nach innen und nach außen hin deutlich sichtbar gemacht, dass sich das Ordensinstitut von diesem Mitglied bzw. dessen strafbarem Verhalten distanziert. Durch das dem Betroffenen auferlegte Verbot, das Ordenskleid zu tragen, kann eine solche Distanzierung noch besonders augenfällig werden. Es darf freilich ein Problem nicht übersehen werden, welches sowohl bei einer Entlassung aus dem Ordensinstitut als auch bei der Auferlegung der Exklaustration infolge einer Straftat auftreten kann. In beiden Fällen wird das schuldig gewordene Mitglied aus seinem bisherigen Lebensumfeld entfernt und es muss, an einem anderen Ort und in der Regel weithin auf sich gestellt, einen neuen Anfang setzen. Bis dahin stand es in der Gemeinschaft eines Ordensinstituts und hatte eine sichere soziale Anbindung; diese entfällt mit einer Exklaustration weitgehend. Damit fällt aber auch jene soziale Kontrolle des Verhaltens des Einzelnen, der in eine alltägliche Lebensgemeinschaft eingebunden ist, weg. Gerade wenn es um Straftaten wie etwa den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen oder ähnliche Delikte geht,44 kann die soziale Isolierung des schuldig Gewordenen die Gefahr eines Rückfalls in solche Taten womöglich sogar steigern. In einer solchen Situation muss nach Auffassung des Verfassers das Interesse des Ordensinstituts, sich von den Straftaten des fehlbaren Mitglieds durch eine Entlassung oder eine Exklaustration zu distanzieren, sogar zurücktreten hinter das Anliegen, künftige Straftaten möglichst zu verhindern. Wenn das Verbleiben des schuldigen Mitglieds in der Gemeinschaft dafür die günstigeren Bedingungen gewährleistet, sollte von der Entlassung oder der Exklaustration abgesehen und eine andere, für diesen speziellen Fall passendere Maßnahme gesetzt werden. Die Auferlegung der Exklaustration erfolgt gewöhnlich ohne eine Befristung. Wenn sie als begleitende Sanktion nach Begehen einer Straftat eingesetzt wird, sollte 44 Vgl. Patrick R. Lagges, Art. Abuso sexual de menores, in: DGDC 1, S. 97 – 103; Thomas Schüller/Elisabeth Kandler-Mayr, Art. Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch, in: Dominicus M. Meier/Elisabeth Kandler-Mayr/Josef Kandler (Hrsg.), 100 Begriffe aus dem Ordensrecht, St. Ottilien 2015, S. 279 – 288 (Lit.).

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dem Mitglied jedoch eine künftige Aufhebung der Exklaustration als Möglichkeit in Aussicht gestellt werden. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass auch ein exklaustriertes Mitglied dem Ordensoberen unterstellt und damit auch dessen pastoraler Fürsorge anvertraut bleibt. Der Obere muss dieses Mitglied auch während der Zeit der Exklaustration begleiten, die Gestaltung der Lebenssituation des Exklaustrierten mitbestimmen und ihm jene möglichen Hilfen gewähren, die ihn schließlich wieder zu einem Leben gemäß der Ordensberufung zurückführen können.45 Auch wenn die auferlegte Exklaustration keine kanonische Strafe im strengen rechtlichen Sinne ist, müssen, wenn sie als begleitende Sanktion nach einer Straftat zur Anwendung kommen soll, jene Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die bei Verhängung einer Strafe maßgeblich sind. Gemeint sind die Besserung des Täters, die Sühne für das geschehene Unrecht und der Schutz der Gemeinschaft. Bei der Auferlegung der Exklaustration als begleitender Sanktion stehen der Schutz der Gemeinschaft und die Besserung des Täters gegenüber der Sühnefunktion im Vordergrund. Wenn diese beiden Ziele durch die Exklaustration voraussichtlich erreicht werden können, dann sollten die Verantwortlichen der Ordensinstitute auch zu diesem Mittel greifen und bei der hierarchischen Autorität den Antrag auf Auferlegung der Exklaustration stellen. Wenn die angestrebten Ziele später einmal erreicht worden sind, entfällt der Grund für die Exklaustration. Dann ist es die Aufgabe der Ordensoberen, das exklaustrierte Mitglied in die Gemeinschaft zurückzuholen und bei der zuständigen hierarchischen Autorität den Antrag auf Beendigung der Exklaustration zu stellen. Die Anwendung des Rechtsinstituts der Exklaustration als einer begleitenden Sanktion nach Begehen einer Straftat hat sich dann als angemessen und zielführend erwiesen.

VI. Zusammenfassende Bemerkungen Auf Ludger Müller geht, wie zu Beginn ausgeführt, die Anregung zurück, die im sechsten Buch des CIC/1983 geregelte Materie als „Sanktionsrecht“ zu bezeichnen. Dafür lassen sich, wie dargelegt, durchaus gute Argumente geltend machen, die sich teils aus der vom Gesetzgeber selbst gewählten Terminologie, teils aus der Eigenart des kanonischen Strafrechts (Liber VI CIC/1983) ergeben. Im Lehrbuch des kanonischen Rechts von Aymans–Mörsdorf, an dessen jüngstem Band der Jubilar Ludger Müller, dem diese Ausführungen gewidmet sind, in erheblichem Maße mitgewirkt hat, wurde dieser Gedanke von den Autoren konsequent umgesetzt. Die vorstehenden Ausführungen zur auferlegten Exklaustration haben indes deutlich gemacht, dass sich ein kanonisches Sanktionsrecht nicht in den im sechsten Buch des CIC/1983 enthaltenen Bestimmungen erschöpft, sondern im Gesetzbuch für die lateinische Kirche selbst auch andernorts Regelungen mit sanktionsrechtlichem Charakter vorzufinden sind. Im Ordensrecht, das Bestandteil des zweiten Buchs des CIC/ 45

Vgl. Ruessmann, Exclaustration (Anm. 11), S. 193 – 209.

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1983 ist, gilt das beispielsweise nicht nur für die hier erörterte exclaustratio imposita, sondern auch für die Entlassung aus dem Institut. Vor diesem Hintergrund kann man die Frage stellen, ob es insgesamt angemessen ist, den Begriff des Sanktionsrechts auf das Buch VI des CIC/1983 anzuwenden bzw. ihn diesem vorzubehalten und dabei zugleich den seit langem eingeführten Begriff des Strafrechts abzulösen bzw. diesen gewissermaßen auf eine zweite, systematisch niedrigere Ebene zurückzusetzen. Weder der Terminus Strafrecht noch der Ausdruck Sanktionsrecht umschreiben zugleich umfassend und exklusiv den Inhalt des genannten sechsten Buches des CIC/1983. Es ist also kein entscheidender Gewinn an begrifflicher Schärfe mit der Einführung des neuen Terminus Sanktionsrecht verbunden. Dennoch wäre ein Preis für diese Veränderung zu entrichten, der darin besteht, dass das Strafrecht im Bereich des Kirchenrechts eine gewisse Abwertung erfährt. Dies mag man als der Eigenart der kanonischen Rechtsordnung angemessen betrachten. In der Wahrnehmung der kirchlichen Rechtsordnung von außen her, etwa seitens der weltlichen Rechtswissenschaft oder allgemein der säkularen Öffentlichkeit, könnte dies allerdings dazu beitragen, dass die Bedeutung eines wichtigen kirchenrechtlichen Teilgebietes nunmehr als herabgesetzt und die Bereitschaft der Kirche, schwerwiegendem Fehlverhalten der Gläubigen, insbesondere der kirchlichen Mitarbeiter bzw. der Kleriker und Ordensleute, mit der Verhängung von Strafen zu begegnen, als reduziert angesehen werden. Ferner lässt die Erörterung des Rechtsinstituts der auferlegten Exklaustration auch erkennen, dass die eigentlichen Strafen, welche die kanonische Ordnung vorsieht, nicht immer die faktisch am schwersten wiegenden Maßnahmen (Sanktionen) gegen fehlbare Gläubige sind. Die zwangsweise Verfügung der Exklaustration kann weit tiefer in das konkrete Leben eines straffällig gewordenen Ordensmitglieds eingreifen als dies beispielsweise einzelne Rechtsentzüge tun, wie sie als Sühnestrafen in c. 1336 § 1, 28 CIC/1983 vorgesehen sind.46 Insoweit können die kanonischen Strafen auch nicht generell als die gewichtigsten Sanktionen des Kirchenrechts beschrieben werden. Auch wenn, wie in diesem Beitrag vertreten, die auferlegte Exklaustra46 In Anbetracht dessen erscheint es auch ziemlich problematisch, dass das Verfahren zur Auferlegung der Exklaustration, bis zur abschließenden Entscheidung inklusive, ohne direkte Beteiligung des betroffenen Ordensmitglieds durchgeführt werden kann; die Möglichkeiten des Rechtsschutzes sind hier zu wenig ausgeprägt; vgl. dazu neuerdings Dominicus M. Meier, Barmherziges Kirchenrecht? Recht als Grundlage für ein gerechtes und barmherziges Handeln 3 (Ordensrecht 34), in: Erbe und Auftrag 92 (2016), S. 450 – 456, hier S. 452 f. Für das Thema des vorliegenden Beitrags sind auch die kürzlich erschienenen Vorträge eines Studientags der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom über die auferlegte Trennung von Ordensleuten von ihrer Gemeinschaft einschlägig, die für den Beitrag selbst aber nicht mehr berücksichtigt werden konnten: Yuji Sugawara, Separazione imposta ai membri dell’istituto religioso, in: PerRCan 106 (2017), S. 177 – 189; Delfina Moral Carvajal, Esclaustrazione imposta di un religioso. Applicazione pratica, in: PerRCan 106 (2017), S. 190 – 216; Stanislaw Morgalla, Separare o sperare? Alcuni aspetti psicologici dell’esclaustrazione utili per i superiori, in: PerRCan 106 (2017), S. 217 – 231.

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tion keine kanonische Strafe im strengen Sinne ist oder als solche verhängt werden darf, kann sie von den Betroffenen doch in hohem Maße als solche empfunden werden. Darüber hinaus wurde hier von Neuem ersichtlich, dass die Bereiche des autoritativen kirchlichen Handelns in Judikative und Exekutive nicht streng voneinander geschieden sind, sondern sich überlappen bzw. ineinander übergehen (vgl. cc. 1720 u. 1721 CIC/1983). In der Tat kennt die Kirche keine durchgängig strenge Scheidung der verschiedenen Weisen zur Ausübung ihrer hoheitlichen Vollmacht. In den kommenden Jahren wird sich erweisen, ob der von Ludger Müller an prominenter Stelle eingeführte Vorschlag, nunmehr den neuen Ausdruck Sanktionsrecht zu gebrauchen, der bislang nur vereinzelt von anderen Autoren aufgegriffen wurde, von der deutschsprachigen Kanonistik und darüber hinaus breiter rezipiert oder ob der traditionelle Terminus Strafrecht weiterhin allgemein Verwendung finden wird.

Ne bis in idem Kanonistische Überlegungen zu einem alten Rechtssprichwort angesichts problematischer Aspekte der Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts Von Heribert Hallermann Bei der strafrechtlichen Verfolgung von sexuellem Missbrauch im Bereich der katholischen Kirche kann es zu folgender Situation kommen:1 Unter dem Druck der öffentlichen Meinung zeigt sich ein Kleriker, der bis dahin als unbescholten gilt, beim zuständigen kirchlichen Missbrauchsbeauftragten selbst an. Gegenstand der Anzeige sind über sechs Jahre andauernde sexuelle Handlungen an einem Jungen, der zur Zeit der ersten Übergriffe etwa acht Jahre alt war. Der Missbrauchsbeauftragte nimmt in einem Gespräch unter vier Augen die mündlich vorgetragene Selbstanzeige in Form einer Aktennotiz entgegen und leitet diese sowohl an die Staatsanwaltschaft2 als auch an den zuständigen Ordinarius des Klerikers weiter. Die Staatsanwaltschaft nimmt unmittelbar darauf umfangreiche Ermittlungen wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs auf. Schließlich wird der Kleriker wegen mehrerer Straftaten gemäß § 176 Abs. 1 StGB rechtskräftig zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bei der Strafzumessung schöpft das Gericht den möglichen Strafrahmen von zehn Jahren Haft zu weniger als einem Drittel aus. Der zuständige Ordinarius ordnet mittels eines Dekrets im Sinne des c. 1719 CIC/ 1983 und ohne einen möglichen, nach kanonischem Recht sanktionierten Straftatbe1 Bei dem geschilderten Fall handelt es sich um fiktive Personen und Ereignisse. Jede Ähnlichkeit mit einem tatsächlichen Fall wäre rein zufällig. 2 Mit der Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft entspricht der Missbrauchsbeauftragte der Weisung der deutschen Bischöfe gemäß Nr. 29 der „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ i. d. F. v. 26. 08. 2013, in: Aufklärung und Vorbeugung. Dokumente zum Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (31. 03. 2014), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= AH 246), Bonn 2014, S. 16 – 33 (= Leitlinien DBK/2013), wonach die staatliche Strafverfolgungsbehörde zu informieren sei, sobald ein Verdacht auf eine Straftat nach dem 13. Abschnitt oder weiterer sexualbezogener Straftaten des Strafgesetzbuchs an Minderjährigen oder erwachsenen Schutzbefohlenen bestehe; Georg May, Anzeige und Anzeigepflicht bei Missbrauchsfällen, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. FS Paarhammer (65) (= KST 58), Berlin 2012, S. 951 – 974 stellt diese Meldepflicht grundsätzlich in Zweifel, weil es dafür keine rechtliche Grundlage gemäß StGB gebe.

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stand konkret zu benennen, eine kanonische Voruntersuchung gemäß c. 1717 CIC/ 1983 wegen sexuellen Missbrauchs an und betraut den Missbrauchsbeauftragten damit, die Voruntersuchung durchzuführen. Tatsächlich wird von diesem aber kein einziger selbständiger Schritt einer kanonischen Voruntersuchung unternommen, vielmehr scheint er den staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen zugleich auch die Funktion der kanonischen Voruntersuchung zuzumessen. Er übersieht dabei allerdings, dass die Staatsanwaltschaft wegen einer möglichen Straftat nach Maßgabe des StGB und nicht wegen einer kanonisch sanktionierten Straftat ermittelt. Seitens des Voruntersuchungsführers gibt es daher weder ein Gespräch mit dem Kleriker noch ein Gespräch mit dem Geschädigten noch irgendeinen Versuch, die näheren Umstände und die strafrechtliche Zurechenbarkeit der angezeigten Straftat nach Maßgabe des kanonischen Rechts zu klären. Aus der rechtskräftigen Verurteilung des Klerikers durch das weltliche Gericht wegen erwiesener Vergehen gegen § 176 Abs. 1 StGB zieht der Voruntersuchungsführer in seinem abschließenden Bericht an den Ordinarius ohne weiteres den Schluss, dass aufgrund dieser Verurteilung eine Straftat gemäß c. 1395 § 2 CIC/1983 sehr wahrscheinlich sei. Von einer bewiesenen Straftat nach kanonischem Recht geht der Voruntersuchungsführer jedoch nicht explizit aus. In Mitteilungen an die Staatsanwaltschaft und in Pressemitteilungen versichert der Missbrauchsbeauftragte und Voruntersuchungsführer allerdings schon längst vor dem Urteilsspruch und somit auch lange vor dem Abschluss seiner eigenen Voruntersuchung, dass der betreffende Kleriker in Folge des vom weltlichen Gericht gesprochenen Urteils eine zusätzliche kirchliche Strafe zu erwarten habe und dass die Strafe der Entlassung aus dem klerikalen Stand sehr wahrscheinlich zu erwarten sei.3 Von außen betrachtet entsteht aufgrund dieses fiktiven Falls der Eindruck, als ob der betreffende Kleriker entgegen dem Rechtsgrundsatz Ne bis in idem4 für ein und dieselbe Straftat doppelt bestraft werden solle, nämlich einmal vom weltlichen Gericht und einmal vom kirchlichen Gericht. Ebenso entsteht der Eindruck, dass das kirchliche Strafrecht lediglich die Funktion einer Art von Annexrecht besitze und insofern die kirchliche Bestrafung eine mögliche oder auch notwendige Folge der Bestrafung durch ein weltliches Gericht sei. Dies führt notwendigerweise zur Frage nach der Eigenart des kirchlichen Strafrechts. Des Weiteren könnte man aufgrund dieses fiktiven Falls ebenfalls vermuten, dass das weltliche und das kirchliche Strafrecht identische Rechtsgüter schützen. Aus all dem ergäbe sich entweder die Frage, ob das kirchliche Strafrecht nicht völlig überflüssig ist, oder aber, ob seine additive Anwendung bei Katholiken nicht zu einer erheblichen Ungleichheit bei der Bestrafung deutscher Staatsbürger bei identischen Straftaten führt.

3

Vgl. demgegenüber die zurückhaltende unbestimmte Strafandrohung in c. 1395 § 2 CIC/ 1983: „iustis poenis puniatur, non exclusa, si casus ferat, dimissione e statu clericali.“ 4 Vgl. Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 20077, S. 140.

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Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. In diesem Beitrag wird es aber stärker darum gehen, problematische Aspekte der Anwendung des kirchlichen Sanktionsrechts deutlicher herauszuarbeiten, als dass diese Fragen im Rahmen des vorliegenden Beitrags erschöpfend bearbeitet werden könnten.5 Dabei richtet sich das Interesse im Wesentlichen auf den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und insofern auch auf den Geltungsbereich des deutschen Strafgesetzbuchs vom 15. Mai 1971 in der Fassung vom 10. Dezember 2015 (StGB).

I. Die Eigenart des kirchlichen Strafrechts Wilhelm Rees weist zu Recht darauf hin, dass das „für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland geltende Strafgesetzbuch […] keine Aussage über seine Existenzberechtigung“6 enthält. Im Unterschied dazu betont das geltende Gesetzbuch der lateinischen Kirche mit c. 1311 CIC/1983 in ähnlicher Weise wie das vorgängige Gesetzbuch in c. 2214 CIC/19177 die Berechtigung der katholischen Kirche, ein eigenes Strafrecht zu besitzen und dieses gegenüber den eigenen Gläubigen anzuwenden. Aus dieser rechtfertigenden Aussage lässt sich schließen, dass die Strafgewalt der Kirche im Lauf ihrer Geschichte vielfach und von ganz unterschiedlichen Seiten bestritten worden war.8 1. Die Strafgewalt der Kirche im System der societas perfecta In Reaktion auf die Bestreitung kirchlicher Eigenrechtsmacht von Seiten der neu entstandenen Nationalstaaten sowie auch seitens absolutistischer Herrscher hatten vor allem Kanonisten der sog. Würzburger Schule seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Teildisziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum (IPE) entwickelt.9 Mit der für das IPE zentralen Lehre von der Kirche als einer societas iuridice perfecta sollte einerseits zum Ausdruck gebracht werden, dass die Kirche „aufgrund ihrer Stiftung durch Jesus Christus alle zur Verwirklichung ihres Heilsauftrags erfor5 In diesem Zusammenhang wird allgemein auf verschiedene grundlegende Beiträge zum kirchlichen Strafrecht von Ludger Müller verwiesen, dem dieser Beitrag gewidmet ist. 6 Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KST 41), Berlin 1993, S. 39. 7 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser einleitenden Bestimmung vgl. Peter Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe, in: Ludger Müller/Alfred E. Hierold/Sabine Demel/Libero Gerosa/ders. (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe: Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Münster 2006, S. 9 – 22, hier S. 13 – 15. 8 Vgl. die Übersicht bei Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 43 – 50; vgl. auch Philipp Hergenröther, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2., neu bearb. Auflage v. Joseph Hollweck, Freiburg i. Br. 1905, S. 538. 9 Vgl. Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 50 – 51 sowie Reinhold Sebott, Art. Ius Publicum Ecclesiasticum, II. Kath., in: LKStKR 2, S. 339 – 340.

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derlichen rechtlichen Befugnisse“10 besitzt. Andererseits sollte mit dieser Lehre betont werden, dass der Kirche diese Befugnisse einschließlich der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als ihr eigenes Recht zukommen, das sie folglich nicht in Vertretung oder im Auftrag oder aufgrund eines Zugeständnisses des Staates ausübt.11 Dem entsprechend versteht Joseph Hollweck die Strafgewalt der Kirche als „ein Attribut des imperium, der höchsten, souveränen Autorität eines sozialen Verbandes“,12 und er folgert: „Die Leugnung der Strafgewalt der Kirche führt […] notwendig zur Leugnung ihrer Selbständigkeit, ihrer Sichtbarkeit und damit ihres gottgewollten Wesens.“13 Stephanus Sipos begründet den Zusammenhang von Strafgewalt und Eigenständigkeit der Kirche in derselben Weise: „Ius poenale competit Ecclesiae, quia a) ut societas perfecta ius habet ad omnia media, quae sunt necessaria vel utilia ad finem consequendum. […] b) Uti societas perfecta Ecclesia habet plenam iurisdictionem seu imperium (maiestas, uti Romani dicebant, souverenitas).“14 Die Eigenständigkeit der Kirche im Sinne ihrer Unabhängigkeit von jeder weltlichen Macht einerseits und die Strafgewalt der Kirche als Konkretion und Ausdruck ihrer Souveränität gehören in dieser Argumentationslinie untrennbar zusammen und bedingen sich wechselseitig.15 Auf dieser Grundlage betonte auch c. 2214 § 1 CIC/1917 das angeborene und eigene Recht der Kirche, unabhängig von jeder menschlichen Autorität die ihr untergebenen Straftäter sowohl mit geistlichen als auch mit weltlichen Strafen in ihren Rechten einzuschränken.16 Obwohl das kirchliche Strafrecht dem Schutz der kirchlichen Gemeinschaft dienen und der Kirche die Mittel zur Verfügung stellen sollte, um schwerwiegenden Störungen des Gemeinschaftslebens wirkungsvoll begegnen zu können,17 verhängte die Kirche zur Sanktionierung von Rechtsverstößen nicht nur geistliche, sondern auch zeitliche oder weltliche Strafen und beanspruchte zudem, bei der Verfolgung von Straftaten, auch wenn diese lediglich das kirchliche Recht betrafen, die Hilfe des „weltlichen Arms“, also des Staates in Anspruch neh10 Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 51; vgl. auch Sebott, Art. Ius Publicum Ecclesiasticum (Anm. 9), S. 339. 11 Vgl. Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 50 – 51. 12 Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 8), S. 537. 13 Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 8), S. 538. 14 Stephanus Sipos, Enchiridion Iuris Canonici. Ad usum scholarum et privatorum, Pécs 1926, S. 899. 15 Vgl. Dagmar Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch. Die Begründung der kirchlichen Strafgewalt vom Ius Publicum Ecclesiasticum bis zum CIC/1983 (= AIC 43), Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 64 – 65 mit der diesbezüglichen Position Ottavianis sowie Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: ders./Alfred E. Hierold/Sabine Demel/Libero Gerosa/ Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe: Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Münster 2006, S. 183 – 202, hier S. 184 – 187. 16 Vgl. c. 2214 § 1 CIC/1917: „Nativum et proprium Ecclesiae ius est, independens a qualibet humana auctoritate, coercendi delinquentes sibi subditos poenis tum spiritualibus tum etiam temporalibus.“ 17 Vgl. Mörsdorf, Lb III (11. Auflage), S. 294.

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men zu können.18 Als mögliche Straftäter wurden von c. 2214 § 1 CIC/1917 nicht nur Katholiken, sondern alle Personen erfasst, die nach Maßgabe des kirchlichen Strafrechts irgendein Delikt verwirklicht hatten.19 Im System der Kirche als societas iuridice perfecta griff das kirchliche Strafrecht infolgedessen über den unmittelbaren kirchlichen Bereich hinaus und beanspruchte zudem wenigstens in Einzelfällen,20 sich zur Verfolgung kirchenrechtlich sanktionierter Straftatbestände auch des weltlichen Strafrechts bedienen zu können. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem kirchlichen und dem weltlichen Strafrecht, die sich aufgrund dessen notwendigerweise stellte, wurde grundlegend mit c. 2198 CIC/1917 beantwortet.21 Demnach stand die Verfolgung einer Straftat, die ausschließlich einen Rechtsverstoß gegen das kirchliche Recht verwirklichte, nur der kirchlichen Autorität zu, die allerdings, sofern sie dies für notwendig oder angemessen hält, auch die Hilfe des weltlichen Arms in Anspruch nehmen konnte. Insofern war die Verfolgung rein kirchlicher Straftaten durch eine weltliche Autorität ausgeschlossen. Eine Straftat hingegen, die gegen das weltliche Recht verstieß, wurde, mit Ausnahme der Fälle des privilegium fori22 gemäß c. 120 CIC/1917, von der zuständigen zivilen Autorität nach Maßgabe ihres eigenen Rechts verfolgt, unbeschadet dessen, dass die Kirche für die Bestrafung der gemeinsam mit dieser Straftat gegebenenfalls begangenen Sünde zuständig war.23 Eine Straftat hingegen, welche die Rechtsordnungen beider Gesellschaften verletzte, konnte von beiden Autoritäten verfolgt werden.24 Aus kirchlicher Sicht kam insofern dem eigenen Strafrecht im Vergleich mit dem weltlichen Strafrecht ein umfassenderer Geltungsanspruch zu. 18

Vgl. Wilhelm Rees, Art. Bracchium saeculare, in: LKStKR 1, S. 299 – 300. Vgl. Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe (Anm. 7), S. 14 – 15. 20 Beispiele hierfür finden sich bei Rees, Bracchium saeculare (Anm. 18). 21 Vgl. c. 2198 CIC/1917: „Delictum quod unice laedit Ecclesiae legem, natura sua, sola ecclesiastica auctoritas persequitur, requisito interdum, ubi eadem auctoritas necessarium vel opportunum iudicaverit, auxilio brachii saecularis; delictum quod unice laedit legem societatis civilis, iure proprio, salvo praescripto can. 120, punit civilis auctoritas, licet etiam Ecclesia sit in illud competens ratione peccati; delictum quod laedit utriusque societatis legem, ab utraque potestate puniri potest.“ 22 Das privilegium fori wollte seitens des kirchlichen Rechts sicherstellen, dass Streit- und Strafsachen gegen Geistliche ausschließlich vor dem kirchlichen Gericht verhandelt wurden, um auf diese Weise zu verhindern, dass Laien über Geistliche richten konnten. Die tatsächliche Durchsetzbarkeit dieses klerikalen Standesprivilegs hing von der jeweiligen weltlichrechtlichen Gesetzeslage ab; vgl. hierzu ausführlich Mörsdorf, Lb I (11. Auflage), S. 264 – 265 sowie Stephan Haering, Kirche und Staat in der Sicht des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Auswirkungen im Codex Iuris Canonici, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), Paderborn 2016, S. 83 – 98, hier S. 90 – 91. 23 Vgl. Mörsdorf, Lb III (11. Auflage), S. 304. 24 Mörsdorf, Lb III (11. Auflage), S. 304, Anm. 1 führt als Beispiele für solche „gemischten Straftaten“ beispielhaft Gotteslästerung, Verletzung der Totenruhe, Meineid, Straftaten gegen das Leben, die Freiheit, das Eigentum, die Ehre und die guten Sitten an. 19

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2. Die Eigenständigkeit des kirchlichen Strafanspruchs Auch die geltende Rechtsordnung der lateinischen Kirche reklamiert mit c. 1311 CIC/1983 die Eigenständigkeit des kirchlichen Strafanspruchs.25 Dabei fehlt, ebenso wie in c. 2214 § 1 CIC/1917, „eine irgendwie geartete Erläuterung, worauf sich dieser Strafanspruch der Kirche gründet oder wo er sich herleitet.“26 Peter Krämer stellt zutreffend fest, dass sich sowohl die Formulierung wie auch der Aussagegehalt des c. 1311 CIC/1983 eng an die Bestimmung des c. 2214 CIC/1917 anlehnen und insofern kaum Ansatzpunkte für eine Reform des Strafrechts zu erkennen sind, welche das II. Vatikanische Konzil nahegelegt hätte.27 Dennoch scheint sich der Adressat dieser einleitenden Norm und damit auch der Aussagegehalt verändert zu haben: Mit der Betonung der Unabhängigkeit des kirchlichen Strafanspruchs von jeder weltlichen Autorität in c. 2214 CIC/1917 hatte die Kirche in apologetischer Absicht die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des kirchlichen Strafrechts gegenüber dem Staat zum Ausdruck gebracht. Insofern war der mitunter übergriffige Staat28 der Adressat dieser auf Unabhängigkeit und Autonomie bedachten kirchlichen Selbstbehauptung. In der heute geltenden Textgestalt des c. 1311 CIC/1983 ist, möglicherweise vor dem Hintergrund von GS 76, 329 diese betonte Abgrenzung entfallen, ohne dass damit der Anspruch der Autonomie kirchlichen Strafrechts aufgegeben worden wäre. Ebenso findet der in c. 2198 CIC/1917 normierte Rückgriff auf den weltlichen Arm im geltenden kirchlichen Strafrecht keine Erwähnung mehr.30 In Verbindung mit den cc. 1 und 11 CIC/1983 kann daher als Adressat dieser kirchlichen Selbstaussage nur die ganze Gemeinschaft der katholischen Gläubigen angenommen werden, die der lateinischen Kirche angehören.31 Der Aussagegehalt des c. 1311 CIC/1983 hat sich damit gegenüber dem des c. 2214 CIC/1917 gewandelt. Er will nunmehr im Sinne der Selbstvergewisserung zum Ausdruck bringen, dass „der Sanktionsanspruch mit der Kirche selbst gegeben ist, also ihr nicht etwa im Laufe der Ge25 Vgl. c. 1311 CIC/1983: „Nativum et proprium Ecclesiae ius est christifideles delinquentes poenalibus sanctionibus coercere.“ 26 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 182 – 183. Obwohl sich dieses Zitat unmittelbar auf den Text des c. 1 § 1 Schema 1973 bezieht, gilt es der Sache nach auch für den Text des c. 1311 CIC/1983. 27 Vgl. Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe (Anm. 7), S. 13; vgl. auch Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 366 – 367, der unter Berufung auf Listl am Selbstanspruch der Kirche als societas iuiridice perfecta festhält und darin ihren Strafanspruch begründet sieht. 28 Vgl. Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe (Anm. 7), S. 14; vgl. auch Haering, Kirche und Staat (Anm. 22), S. 86. 29 Vgl. insbes. GS 76, 3: „Communitas politica et Ecclesia in proprio campo ab invicem sunt independentes et autonomae.“ 30 Vgl. Rees, Bracchium saeculare (Anm. 18), S. 300 sowie Haering, Kirche und Staat (Anm. 22), S. 92. 31 Vgl. John A. Renken, The Penal Law of the Roman Catholic Church. Commentary on Canons 1311 – 1399 and 1717 – 1731 and Other Sources of Penal Law, Ottawa 2015, S. 40 sowie Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 367.

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schichte (z. B. durch die weltliche Macht) zugestanden worden ist.“32 Eine solche Selbstvergewisserung ad intra ist schon insofern erforderlich, als die eigene Sanktionsvollmacht der Kirche nicht nur von außen, also etwa von Seiten des Staates, sondern vor allem auch aus ihren eigenen Reihen heraus bestritten wurde.33 Zu Beginn der Reform des kirchlichen Strafrechts wurde nochmals das Bemühen erkennbar, den Sanktionsanspruch der Kirche im IPE begründen zu wollen. So wurde noch im 9. Leitsatz zur Codexreform, der von der Bischofssynode 1967 beschlossen worden war, das Sanktionsrecht damit begründet, dass jeder societas perfecta die Zwangsgewalt als ius proprium zukomme und somit auch der Kirche nicht abgesprochen werden könne.34 Aber bereits im Schema Libri VI/1973 wurde diese Begründung nicht mehr erwähnt. Vielmehr wurde das Sanktionsrecht in der eigenen Natur und im übernatürlichen Auftrag der Kirche verankert, die Gläubigen auf dem Weg des Heils zu bewahren und sie gegebenenfalls mit entsprechenden Mitteln auf diesen Weg zurückzuführen. Insofern wurde die Möglichkeit der Kirche, zu sanktionieren, in der Liebe begründet.35 Dementsprechend lautete der Text des c. 1 § 1 Schema Libri VI/1973: „Nativum et proprium Ecclesiae ius est christifideles poenalibus sanctionibus coercendi qui legem vel praeceptum violaverint vel scandalum dederint.“36 Dass allerdings auch die geltende Fassung des c. 1311 CIC/1983 wenigstens mittelbar und teilweise noch auf das IPE zurückgeführt wird, wird aus der Tat32

Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 186. Vgl. Mörsdorf, Lb III (11. Auflage), S. 298; Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S.43 – 50; Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, hier S. 1573 – 1574. 34 Vgl. Com 1 (1969), S. 84 – 85: „9. In recognitione iuris poenalis Ecclesiae, principium reducendi poenas in Codice stabilitas, nemo est qui non acceptet. Verum suppressionem omnium poenarum ecclesiasticarum, cum ius coactivum, cuiuslibet societatis perfectae proprium, ab Ecclesia abiudicari nequeat, nemo canonistarum admittere videtur.“; vgl. auch Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 172 – 173. 35 Vgl. Paul VI., MP „Humanum Consortium“ (01. 12. 1973), in: PCR, Schema Documenti quo Disciplina Sanctionum seu Poenarum in Ecclesia Latina denuo ordinatur (Reservatum), Typis Polyglottis Vaticanis 1973, S. 11 – 15, hier S. 11, Nr. 1: „In regimine ac gubernatione cuiusvis societatis inter homines visibiliter constitutae usus potestatis coactivae universaliter stabilitus est. In iure autem ecclesiastico coercibilitas necessario regatur oportet et in praxim deducitur secundum naturam et indolem ipsius Ecclesiae, quae est societas ordinis supernaturalis bonum totale omnium filiorum suorum quaerens, non solum bona sua cum eisdem largissime communicando, verum etiam illos in viam salutis conservando opportunis adhibitis remediis, ne eam derelinquant, et in bonum ordinem, quando ab eo deficiant, salutariter restituantur. Haec est caritas quae in Ecclesia diffunditur […]“; vgl. in diesem Sinne auch Renken, The Penal Law of the Roman Catholic Church (Anm. 31), S. 15: „Penal law is an instrument of grace in the Church. It performs a preeminently pastoral function, as it has from the earliest days. It reflects the constant and universal call to holiness of the disciples […]“; zum MP „Humanum Consortium“ vgl. Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 334 – 335. 36 Schema Libri VI/1973 (Anm. 35), S. 16; vgl. hierzu Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 182 – 183; zum weiteren Fortgang der Textredaktion bis zum c. 1311 CIC/1983 vgl. Eduardus N. Peters, Incrementa in Progressu 1983 Codicis Iuris Canonici with a multilingual introduction, Montréal 2005, S. 1135. 33

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sache ersichtlich, dass der CIC/Fontes zu c. 1311 CIC/1983 als Quelle an erster Stelle den vom IPE inspirierten c. 2214 § 1 CIC/1917 angibt, dann allerdings auch auf LG 8 und GS 76 verweist.37 Mit diesen beiden Texten „kommt die konziliare CommunioEkklesiologie zum Tragen, es wird die Kirche nicht als societas perfecta bezeichnet, sondern als in dieser Welt unabhängig bestehende sichtbare Gemeinschaft (vgl. GS 76), die als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe als komplexe Wirklichkeit aus göttlichen und menschlichen Elementen existiert (vgl. LG 8). Durch die Angabe dieser beiden Konzilstexte kommt für can. 1311 CIC/1983 eine neue Sichtweise der Kirche ins Spiel. Damit öffnet sich die Grundlage des kirchlichen Strafanspruchs über den Ansatz des IPE hinaus.“38 Im Zusammenhang dieses Beitrags kann es nicht darum gehen, die theologische Begründung des Strafanspruchs der Kirche ausführlich darlegen und vertiefen zu wollen.39 Es soll an dieser Stelle lediglich als zentraler Punkt festgehalten werden, dass die lateinische Kirche mit c. 1311 CIC/1983 unter Rückbezug auf ekklesiologisch signifikante Texte des II. Vatikanischen Konzils ihre ihr eingestiftete Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auch in den Fällen zum Ausdruck bringt, in denen sie gegen straffällig gewordene Gläubige vorgehen muss. Das eigene kirchliche Strafrecht ist insofern nicht mehr, wie im IPE, Garant für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, sondern es ergibt sich aus ihrer eigenen Sendung, „das Reich Christi und Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen“40 sowie aus der Notwendigkeit, diese Sendung und ihr darin begründetes Wesen mit aller Konsequenz zu verwirklichen und gegebenenfalls auch strafrechtlich zu schützen 3. Die eigenen Strafmittel und Strafzwecke der Kirche Eng bezogen auf die Begründung des kirchlichen Strafanspruchs sind die Zwecke oder Ziele, die mit kirchlichen Strafen verfolgt werden.41 Die Hauptziele kirchlichen Strafens wiederum kommen in den beiden kirchlichen Strafarten zum Ausdruck, nämlich in den Zensuren oder Besserungsstrafen (censurae oder poenae medicinales) einerseits und den Sühnestrafen (poenae expiatoriae) andererseits.42 Sühnestrafen verfolgen im Blick auf die kirchliche Communio sowohl einen spezial- als auch 37

Vgl. PCI, Codex Iuris Canonici. Fontium annotatione et indice analytico-alphabetico auctus, Città del Vaticano 1989, S. 359 zu c. 1311. 38 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 205 – 206 (kursive Hervorhebung im Original). 39 Vgl. hierzu die Übersicht in Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15) S. 228 – 240 sowie Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 187 – 192. 40 LG 5. 41 Vgl. Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 183; Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 215 sowie Klaus Lüdicke, c. 1312, Rdnr. 10, in: MK CIC (Stand: Juli 1992). 42 Vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 217 – 219.

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insbesondere einen generalpräventiven Zweck. Sie „haben den Sinn, den Täter und mögliche weitere Täter durch Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Rechtsminderungen von weiteren Verstößen gegen die Rechtsordnung abzuhalten.“43 Insofern verfolgen die Sühnestrafen einen stärker auf die kirchliche Gemeinschaft gerichteten Zweck.44 Die Zensuren hingegen „sind das typische Sanktionsmittel der Kirche […] Sie stellen die Reaktion der Kirche auf ein solches Verhalten von Christgläubigen dar, durch welches ein in schwerwiegender Weise störender Widerspruch zur kirchlichen Communio herbeigeführt wird. Zensuren haben mithin in erster Linie die Funktion der Abgrenzung und stehen im Dienst an der Glaubwürdigkeit der Kirche.“45 Die Beugestrafen zielen vor allem auf die Besserung des Straftäters ab46 und sind so sehr auf diese Zwecksetzung bezogen, dass ein Täter, der seine Widersetzlichkeit aufgegeben hat, gemäß c. 1358 § 1 CIC/1983 einen Rechtsanspruch auf Nachlass der Strafe besitzt.47 Als weitere gemeinschaftsbezogene Strafzwecke lassen sich dem c. 1341 CIC/198348 die Behebung des durch die Straftat entstandenen Ärgernisses sowie die Wiederherstellung der Gerechtigkeit entnehmen.49 Im Zusammenhang dieses Beitrags kommt der Feststellung von Ludger Müller besondere Bedeutung zu, dass die Zensuren als typische kirchliche Sanktionen ein Spezifikum kirchlichen Rechts darstellen und insofern „bezüglich Wesen und Funktion in keiner Weise mit den Strafen identifiziert werden [können], wie sie aus dem weltlichen Recht bekannt sind.“50 Die Eigenständigkeit des kirchlichen Strafanspruchs hängt demnach untrennbar mit der Eigenart kirchlicher Strafen und Strafzwecke zusammen. In dem Fall, dass die eigenen Strafzwecke und Strafmittel der Kirche zugunsten anderer, etwa staatlicher Sanktionen, völlig aufgegeben oder vernachlässigt würden, könnte auch der eigene Strafanspruch der Kirche keinen Bestand

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Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 196. Vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 219; Renken, The Penal Law of the Roman Catholic Church (Anm. 31), S. 34 – 35 sowie Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts (Anm. 33), S. 1577. 45 Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 196 (Kursive Hervorhebung im Original). Daneben haben sie auch eine general- sowie eine spezialpräventive Aufgabe; vgl. auch Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts (Anm. 33), S. 1577. 46 Vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 218 – 219 sowie Renken, The Penal Law of the Roman Catholic Church (Anm. 31), S. 17. 47 Vgl. c. 1358 § 1 CIC/1983: „Remissio censurae dari non potest nisi delinquenti qui a contumacia, ad normam can. 1347, § 2, recesserit; recedenti autem denegari nequit.“; vgl. auch Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 194. 48 Vgl. c. 1341 CIC/1983: „Ordinarius proceduram iudicialem vel administrativam ad poenas irrogandas vel declarandas tunc tantum promovendam curet, cum perspexerit neque fraterna correctione neque correptione neque aliis pastoralis sollicitudinis viis satis posse scandalum reparari, iustitiam restitui, reum emendari.“ 49 Vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 219. 50 Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 194. 44

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mehr haben.51 Festzuhalten bleibt zudem, dass gemäß c. 1312 § 2 CIC/198352 alle von der Kirche eingesetzten Strafmittel „immer im Einklang mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche stehen [müssen]. Diese Festlegung stellt eine Begrenzung dar, durch die deutlich wird, dass nicht jedwede oder willkürliche Strafen angewendet werden können, sondern nur solche, die sich mit dem Wesen der Kirche vereinbaren lassen.“53 Dieselbe Festlegung und Begrenzung gilt auch bezüglich der Straftaten, die mittels kirchlicher Strafmittel sanktioniert werden können und sollen. So hat Papst Paul VI. die angezielte Straffung des kirchlichen Strafrechts im Motu proprio „Humanum Consortium“ unter anderem damit begründet, dass das kirchliche Strafrecht mit der Natur der Kirche in Einklang stehen und dass es mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche übereinstimmen müsse.54 Daraus ergibt sich, dass durch das kirchliche Strafrecht nur noch die Straftaten sanktioniert werden sollen, die mit dem Leben der christlichen Gemeinschaft in so starkem Maße unvereinbar sind, dass sie auf jeden Fall eine Rechtsminderung erfordern.55 Weil das ganze kirchliche Strafrecht aber dem Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte verpflichtet ist,56 muss der Gesetzgeber diejenigen Handlungen definieren, die – vorbehaltlich der erforderlichen Schuld57– strafbar sind. Dies ist in den sieben Titeln des Teils II des Buches VI des CIC/1983 erfolgt.58 Diese sieben Titel verdeutlichen, dass dem kirchlichen Strafrecht nicht alle möglichen strafbaren Handlungen von Gläubigen unterfallen, sondern nur solche, die sich aus der Missachtung oder Schädigung entweder der Natur oder der Sendung der Kirche oder eines besonderen kirchlichen Auftrags ergeben. Mit anderen Worten: Es kann dem kirchlichen Strafrecht nur um den Schutz 51 Vgl. Renken, The Penal Law of the Roman Catholic Church (Anm. 31), S. 15: „[…] any penal law which reflects any other modus vivendi is foreign to the Church and must be rooted out.“ (Kursive Hervorhebung im Original); vgl. auch ebd., Anm. 3. 52 Vgl. c. 1312 § 2 CIC/1983: „Lex alias poenas expiatorias constituere potest, quae christifidelem aliquo bono spirituali vel temporali privent et supernaturali Ecclesiae fini sint consentaneae.“ 53 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 15), S. 216 – 217 sowie Lüdicke, c. 1312 (Anm. 41), Rdnr. 19; vgl. auch den Wortlaut des c. 1317 CIC/1983, der die Möglichkeit der Kirche, Strafen aufzustellen, auf den Schutz der kirchlichen Disziplin begrenzt: „Poenae eatenus constituantur, quatenus vere necessariae sint ad aptius providendum ecclesiasticae disciplinae. Dimissio autem e statu clericali lege particulari constitui nequit.“ 54 Vgl. Paul VI., MP „Humanum Consortium“ (Anm. 35), Nr. 2. 55 Vgl. Paul VI., MP „Humanum Consortium“ (Anm. 35), Nr. 3: „Quapropter visum est ut in hac Nostra generali lege, ea tantum delicta recenseantur, quae cum vita in societate christiana adeo sint incompatibilia, ut ea perpetrantes debeant a participatione munerum ecclesiasticorum arceri, […]“; vgl. auch Rees, Die Strafgewalt der Kirche (Anm. 6), S. 335. 56 Vgl. Schema Libri VI/1973 (Anm. 35), Principia Generalia, S. 5: „Itaque totum ius poenale […] et ut humanae personae dignitas et iurium tuitio omnino observentur.“ 57 Vgl. c. 1321 CIC/1983. 58 Vgl. Klaus Lüdicke, Einleitung vor 1364, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: November 1993) mit dem Hinweis auf diesbezügliche Mängel, die insbes. bei ders., c. 1399, Rdnrn. 2 – 4, in: MK CIC (Stand: November 1993) ausgeführt werden.

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spezifisch kirchlicher Werte und um die Bedürfnisse der Communio gehen.59 Ludger Müller resümiert daher zutreffend: „Sanktionen in der Kirche verdeutlichen bestehende Grenzen und sind legitim, weil sie so dem Aufbau der kirchlichen Communio dienen. Sanktionen in der Kirche sind aber nur dann legitim, wenn sie so angewendet werden, dass sie dem Aufbau der kirchlichen Communio auch tatsächlich dienen.“60

II. Die Bestrafung von sexuellem Missbrauch als Ernstfall eines eigenständigen kirchlichen Strafanspruchs Aus dem ersten Abschnitt ergibt sich, dass die geltende kirchliche Rechtsordnung die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des kirchlichen Strafanspruchs betont. Dieser eigene Strafanspruch der Kirche wird nicht mehr mit dem Konzept der Kirche als einer societas iuride perfecta begründet,61 sondern findet seinen theologischen Grund in der Sendung der Kirche, die verwirklicht und – gegebenenfalls auch mit Mitteln des Strafrechts – geschützt werden muss. Die von der Kirche in Anspruch genommenen Strafmittel und die von ihr verfolgten Strafzwecke müssen stets in Einklang stehen mit dem übernatürlichen Ziel der Kirche und mit ihrer Sendung.62 Diese allgemeine Feststellung soll im Folgenden auf den spezifischen Fall bezogen werden, dass ein Fall von sexuellem Missbrauch bestraft werden soll, der von einem Kirchenglied begangen wurde. Dabei handelt es sich um eine Straftat nach weltlichem Recht und auch, wenigstens nach verbreiteter Auffassung, um eine Straftat nach kirchlichem Recht. Es geht dabei nicht um eine „gemischte Straftat“ im Sinne des c. 2198 CIC/1917,63 sondern um eine Handlung, die sowohl nach Maßgabe des weltlichen als auch nach Maßgabe des kirchlichen Strafrechts unter den in den einzelnen Rechtsordnungen normierten Voraussetzungen und somit mit je verschiedener Begründung strafbewehrt ist. Es geht also um eine Situation, bei der die in GS 76,3 formulierten Prinzipien zum Verhältnis von Kirche und Staat berücksichtigt werden müssen: Die Unabhängigkeit und Autonomie beider Seiten ebenso wie die Tatsache, dass der jeweilige Dienst des Staates und der Kirche an der persönli59

Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1344, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: November 1993). Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen (Anm. 15), S. 202 (Kursive Hervorhebungen im Original). 61 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: HThKVatII 4, S. 581 – 886, hier S. 801 – 802. 62 Vgl. Stephan Haering, Reichweite und Grenzen des kirchlichen Strafrechts im Vorgehen gegen Sexualstraftäter. Bestandsaufnahme und Ausblick, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 9), Würzburg 2012, S. 211 – 242, hier S. 213 – 214: „Das kirchliche Strafrecht hat die Aufgabe, die Sendung der Kirche zu schützen und zu fördern. […] Das kirchliche Strafrecht blendet im Allgemeinen […] jene Bereiche menschlichen Fehlverhaltens aus, die im weltlichen Strafrecht genügend Berücksichtigung erfahren.“ 63 Vgl. Mörsdorf, Lb III (11. Auflage), S. 304. 60

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chen und gesellschaftlichen Berufung des gleichen Menschen mit je verschiedener Begründung erfolgt.64 Dies gilt auch für eine gegebenenfalls erforderliche strafrechtliche Korrektur der betreffenden Person. Das bedeutet: Wenn eine nach beiden Rechtsordnungen strafbare Handlung verfolgt werden soll, kann sich der Staat weder der kirchlichen noch die Kirche der staatlichen Begründung für ihre jeweiligen Sanktionen bedienen, sondern beide müssen sich auf ihre je eigene Begründung berufen. Sollte diese zur Wahrung der gegenseitigen Unabhängigkeit und Autonomie notwendige Differenz nicht beachtet werden, würden von staatlicher Seite die religiöse Neutralität und von kirchlicher Seite die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom Staat gefährdet. 1. Die Begründung des sexuellen Missbrauchs im deutschen Strafrecht Der Begriff sexueller Missbrauch begegnet in einer Reihe von Normen des geltenden Strafgesetzbuches (StGB): Der § 174 StGB behandelt den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen,65 wobei eine mögliche Straftat von allen verwirklicht werden kann, denen andere Personen zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut sind. Dabei kommt ein zwischen zwei Personen bestehendes Über- und Unterordnungsverhältnis in den Blick, das sich im kirchlichen Kontext unter Umständen „schon daraus ergeben [kann], dass ein Pfarrer oder Beichtvater seine kirchliche Autorität zur Ausübung tatsächlichen Einflusses auf junge Gemeindeglieder einsetzt.“66 Sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen gemäß § 174 a StGB hingegen bezieht sich in spezifischer Weise auf den in § 174 a Abs. 1 – 2 StGB genannten Personenkreis und kann nur von solchen Personen verwirklicht werden, die für die Behandlung, Pflege und Beaufsichtigung der genannten Personengruppe verantwortlich sind oder denen im Einzelfall Betreuungsaufgaben übertragen wurden.67 Der sexuelle Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses gemäß § 174 c StGB „setzt den Abschluss eines […] Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsvertrages“68 oder ein psychotherapeutisches Behandlungsverhältnis voraus, so dass als mögliche Täter nur Angehörige spezifischer Berufsgruppen in Frage kommen.69 Der sexuelle Missbrauch von Kindern70 im Sinne des § 176 StGB hingegen kann ebenso wie der schwe64 Vgl. GS 76, 3: „Communitas politica et Ecclesia in proprio campo ab invicem sunt independentes et autonomae. Ambae autem, licet diverso titulo, eorumdem hominum vocationi personali et sociali inserviunt.“; vgl. auch Haering, Kirche und Staat (Anm. 22), S. 88. 65 Vgl. Klaus Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, München 200418, S. 1186. 66 Kristian Kühl, Strafgesetzbuch. Kommentar, München 201127, S. 805, Rdnr. 6. 67 Vgl. Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 810, Rdnr. 6. 68 Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 813, Rdnr. 4. 69 Vgl. Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 814, Rdnr. 7. 70 Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1186.

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re sexuelle Missbrauch von Kindern gemäß § 176 a StGB von allen denkbaren Tätergruppen verwirklicht werden. Dies gilt ebenso für den sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge nach § 176 b StGB. In den §§ 177 – 178 StGB werden die spezifischen Begriffe „sexuelle Nötigung“71 und „Vergewaltigung“ verwendet. Der sexuelle Missbrauch widerstandsunfähiger Personen wird in § 179 StGB normiert, wobei für die Verwirklichung des spezifischen Tatbestands entweder die psychische oder die körperliche Widerstandsunfähigkeit vorausgesetzt werden muss.72 Der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen73 wird gemäß § 182 StGB sanktioniert. Zusammen mit den §§ 181 a (Zuhälterei), 181 b (Führungsaufsicht), 181 c (Vermögensstrafe und Erweiterter Verfall), 183 (Exhibitionistische Handlungen), 183 a (Erregung öffentlichen Ärgernisses), 184 (Verbreitung pornographischer Schriften), 184 a (Verbreitung gewalt- oder tierpornographischer Schriften), 184 b (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften), 184 c (Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Schriften), 184 d (Verbreitung pornographischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste), 184 e (Ausübung der verbotenen Prostitution), 184 f (Jugendgefährdende Prostitution) und 184 g (Begriffsbestimmungen) bilden diese Normen den 13. Abschnitt des StGB, der mit „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“74 überschrieben ist.75 Der Begriff sexueller Missbrauch erweist sich insofern als ein auf sexuelle Handlungen76 bezogener Sammelbegriff, der auf ganz verschiedene, gegen die sexuelle Selbstbestimmung einer Person gerichtete Tathandlungen abhebt77 und insofern im jeweiligen Fall notwendig der Spezifizierung bedarf. Ein lediglich allgemeiner Tatvorwurf des sexuellen Missbrauchs erscheint daher als unzureichend. Dabei muss allerdings eine entsprechende Handlung, damit sie als sexuelle Handlung im strafrechtlichen Sinne gewertet wer71

Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1185. Vgl. Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 834, Rdnrn. 4 – 5. 73 Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1185 – 1186. 74 Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 798. 75 Vgl. Matthias Pulte, Strafanspruch des Staates – Strafanspruch der Kirche. Der juristische Umgang mit den Delicta Graviora. Rechtsdogmatische Anmerkungen, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/ders. (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 9), Würzburg 2012, S. 39 – 65, hier S. 44: „Insgesamt 25 Paragraphen dieses mehrfach modifizierten Abschnitts des StGB befassen sich mit allen möglichen Varianten strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität einer Person.“ Klaus Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten. Die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Berlin/Heidelberg 2012, S. 7 – 10 u. 12 weist auf die frühere Umschreibung des 13. Abschnitts mit „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ hin und führt aus, dass mit dem Wechsel der Überschrift ein Kriterienwechsel für die strafrechtliche Relevanz bestimmter Handlungen einhergeht. Insbesondere sei die Neigung zu einer Identifizierung von Strafrecht und Moral wie auch die Auffassung überwunden worden, das Strafrecht habe die allgemeine Sittenordnung zu schützen. 76 Vgl. zur Erläuterung des strafrechtlichen Begriffs sexuelle Handlung Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1185. Zur Begriffsbestimmung der sexuellen Handlung vgl. § 184 g StGB; vgl. auch Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 36 – 40. 77 Vgl. Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 45. 72

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den kann, gemäß § 184 g StGB „im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit“ sein. Aus der Überschrift des 13. Abschnitts des StGB „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ ergibt sich bereits der klare Hinweis auf das durch die einschlägigen Strafbestimmungen geschützte Rechtsgut: Es ist „nicht die allgemeine Sittlichkeit, sondern die Freiheit der Entscheidung über die geschlechtliche Betätigung, ferner die ungestörte sexuelle Entwicklung des jungen Menschen oder der Schutz vor schwerwiegenden sexuellen Belästigungen.“78 Es geht insofern um ein Abwehrrecht des Einzelnen, das die „Freiheit vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet [enthält], d. h., dem potentiellen Opfer sollen die psychischen und physischen Bedingungen für seine Fähigkeit erhalten bleiben, selbst zu entscheiden, ob und auf welche Art und Weise es zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem konkreten Ort in ein sexualbezogenes Geschehen involviert werden will oder nicht.“79 Die Freiheit vor Fremdbestimmung im sexuellen Bereich ist Teil der Menschenwürde und umfasst das Recht eines Menschen, dass „seine Person nicht zum bloßen Objekt oder Werkzeug sexuellen Begehrens Dritter herabgewürdigt wird.“80 Dabei muss die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung als geschütztes Rechtsgut in einem weiten und allgemeinen Sinn verstanden werden, weil „namentlich das Interesse an der ungestörten sexuellen Entwicklung der Jugend, die sich als besonderer Aspekt dieser Freiheit begreifen lässt, […] eingeschlossen bleiben“81 muss.82 Der Begriff sexueller Missbrauch, der im StGB nicht definiert wird, wäre insofern zu verstehen als eine Beeinträchtigung der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung von einiger Erheblichkeit und insbesondere auch als ein Verhalten oder Tun, das geeignet ist, die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu stören. 2. Die Begründung des sexuellen Missbrauchs im universalkirchlichen Recht Im Unterschied zum StGB findet der Begriff sexueller Missbrauch in universalkirchlichen strafrechtlichen Normen keine Verwendung, weder als Sammelbegriff noch zur Umschreibung eines konkreten Tatbestands. Üblicherweise findet dort die Tatbestandsumschreibung peccatum contra sextum Decalogi praeceptum Ver-

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Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1184; vgl. auch Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 13 sowie Friedrich-Christian Schroeder, Art. Sexualdelikte, Sexualstrafrecht, in: LThK3 9, Sp. 509 – 511, hier Sp. 509, der bezüglich des vom deutschen Strafrecht geschützten Rechtsgutes zum selben Ergebnis kommt und u. a. auf den entsprechenden Titel des schweizerischen Strafgesetzbuches „Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität“ hinweist. 79 Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 13. 80 Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 5 81 Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 798. 82 Vgl. Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 33 – 35 u. 169 – 171.

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wendung,83 wobei die in cc. 1457 – 1458 CCEO verwendete Formulierung peccatum contra castitatem offenkundig als Synonym verwendet wird.84 Beiden Formulierungen mangelt es an gesetzgeberischer Klarheit; sie „wirken unbeholfen, juristisch unpräzise und daher höchst auslegungsbedürftig.“85 Klaus Lüdicke wertet diese Formel als eklatanten Missgriff des Gesetzgebers,86 denn der Gesetzgeber meine mit der Sünde gegen das sechste Gebot nicht, was er schreibt, und gehe insofern weit über die Sünde des Ehebruchs hinaus.87 Angesichts der vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang verwendeten unscharfen Rechtsbegriffe und der daraus resultierenden Schwierigkeit, die sich bei der Umschreibung einzelner Straftatbestände ergibt, muss umso deutlicher die Frage gestellt werden, welche Rechtsgüter mit Hilfe des kirchlichen Strafrechts geschützt werden sollen.88 Hierzu ist vor allem die Methode der systematischen Auslegung heranzuziehen, welche die Stellung eines einzelnen Rechtssatzes innerhalb eines größeren sachlichen und systematischen Zusammenhangs berücksichtigt.89 Die Strafnorm des c. 1395 § 2 CIC/1983 ist rechtssystematisch innerhalb des zweitens Teils des sechsten Buches „De sanctionibus in Ecclesia“ in den Titel V „De delictis contra speciales obligationes“ eingeordnet. Eine Sünde gegen das sechste Gebot kann demnach nur derjenige verwirklichen, der auf dem Gebiet der Sexualmo83 Vgl. cc. 977, 982 u. 1395 §§ 1 – 2 CIC/1983 sowie C DocFid, Normae de gravioribus delictis (21. 05. 2010), in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430 (= SST/2010); Abdruck in: AfkKR 179 (2010), S. 169 – 179, Art. 4 § 1 n. 1 u. n. 4, Art. 6 § 1 n. 6. 84 Vgl. Sabrina Pfannkuche, Die Sünde gegen das sechste Gebot – eine Analyse der geltenden Rechtsordnung der katholischen Kirche und der jüngeren Rechtsgeschichte, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/dies./Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 9), Würzburg 2012, S. 243 – 278, hier S. 253 u. 277; vgl. auch Heribert Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker nach kanonischem Strafrecht, in: AfkKR 172 (2003), S. 380 – 391, hier S. 384 – 385 sowie Wilhelm Rees, Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker. Anmerkungen aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 9), Würzburg 2012, S. 392 – 426, hier S. 402. 85 Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 53. 86 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1395, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: November 2012) sowie ders., Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger. Eine Problemanzeige, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. FS Paarhammer (65) (= KST 58), Berlin 2012, S. 619 – 638, hier S. 621 – 623. 87 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1387, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: November 1993). Zur Auslegungsproblematik vgl. ders., c. 1395, Rdnr. 4a–b (Anm. 86) sowie den aufschlussreichen Beitrag von Pfannkuche, Die Sünde gegen das sechste Gebot (Anm. 84), die ebd., S. 278 zu dem Ergebnis kommt: „Generell sollte im Hinblick auf die Formulierung der Sünde gegen das sechste Gebot berücksichtigt werden, dass sie offensichtlich mehr verwirrt als nützt. Kirchenrechtliche Formulierungen sollten eindeutig sein und keinen Zweifel an Aussage und Umfang zulassen.“ 88 Vgl. Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 55. 89 Vgl. Georg May/Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 210 – 213.

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ral durch besondere gesetzliche Verpflichtungen gebunden ist. Dies gilt gemäß c. 277 § 1 CIC/1983 für alle zum Zölibat, also zu einer vollkommenen und immerwährenden sexuellen Enthaltsamkeit verpflichteten Kleriker sowie gemäß c. 599 CIC/1983 für alle, die mittels eines Gelübdes oder eines anderen qualifizierten Versprechens den evangelischen Rat der Keuschheit übernommen haben. Strafrechtlich relevante Verstöße gegen dieses Gebot müssen „nach außen hin in Erscheinung getreten, äußerlich feststellbar und schwerwiegend vorwerfbar sein.“90 Als geschütztes Rechtsgut ist insofern die zölibatäre Lebensweise der Kleriker auszumachen.91 Im Fall des c. 1387 CIC/1983, der rechtssystematisch in den Titel II „De munerum ecclesiasticorum usurpatione deque delictis in iis exercendis“ eingeordnet ist, geht es dem Gesetzgeber um den Schutz des Bußsakraments.92 Insofern hebt das kirchliche Strafrecht gemäß dem Grundsatz, dass dieses dem Ziel und der Sendung der Kirche entsprechen muss, in diesen beiden Fällen auf den Schutz geistlicher Rechtsgüter ab, was unter anderem auch im Titel des Motu proprio „Sacramentorum Sanctitatis tutela“ zum Ausdruck kommt.93 Insofern ist festzustellen, dass das kirchliche Strafrecht bei der Ahndung von Sexualdelikten oder Sittlichkeitsvergehen94 eine völlig andere Perspektive aufweist als das geltende weltliche Strafrecht,95 das sich dem Schutz der sexuellen Integrität verpflichtet weiß; die Opferperspektive ist dem kanonischen Strafrecht fremd.96 Dieser Befund wird erhärtet durch die Feststellung, dass für ein peccatum contra sextum Decalogi praeceptum ausschließlich zum Zölibat verpflichtete Kleriker sowie zum jungfräulichen Leben verpflichtete Ordensleute97 als mögliche Straftäter in Betracht kommen,98 nicht aber die übrigen Glieder der Kirche. Das Rechtsgut der sexuellen Integrität wird durch das universalkirchliche Strafrecht lediglich mittelbar und im Hinblick auf die möglichen Täter nur partiell geschützt.99 Die von Heribert Schmitz getroffene Feststellung, dass das mit c. 1395 § 2 CIC/ 1983 geschützte Gut „das sexuelle Persönlichkeitsrecht oder das sexuelle Selbstbe-

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Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker (Anm. 84), S. 386. Vgl. Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 56; Haering, Reichweite und Grenzen (Anm. 62), S. 214 – 215; Pfannkuche, Die Sünde gegen das sechste Gebot (Anm. 84), S. 247 u. 277. 92 Vgl. Pfannkuche, Die Sünde gegen das sechste Gebot (Anm. 84), S. 277. 93 Vgl. Johannes Paul II., MP „Sacramentorum Sanctitatius tutela“ (30. 04. 2001), in: AAS 93 (2001), S. 737 – 739; vgl. auch Haering, Reichweite und Grenzen (Anm. 62), S. 214. 94 Vgl. Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker (Anm. 84), S. 380 u. 386 sowie Rees, Sexueller Missbrauch von Minderjährigen (Anm. 84), S. 401. 95 Vgl. Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 55 sowie Haering, Reichweite und Grenzen (Anm. 62), S. 215. 96 Vgl. Pulte, Strafanspruch (Anm. 75), S. 56. 97 Vgl. c. 695 § 1 CIC/1983. 98 Vgl. Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker (Anm. 84), S. 384. 99 Vgl. Haering, Reichweite und Grenzen (Anm. 62), S. 215. 91

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stimmungsrecht“100 sei, kann sich lediglich auf einen mittelbaren Schutz der sexuellen Integrität durch das universalkirchliche Strafrecht beziehen. Klaus Lüdicke, auf den Schmitz sich beruft, spricht nämlich nicht vom geschützten Rechtsgut, sondern von „Schutzgedanken“, die durch die Qualifizierungen des c. 1395 § 2 CIC/1983 angesprochen werden, und nennt, ausgehend von der Qualifikation cum minore den „Schutz der physischen und psychischen Integrität eines im sexuellen Handeln noch nicht einwilligungsfähigen Opfers.“101 Schließlich umschreibt Schmitz den Begriff sexueller Missbrauch gemäß c. 1395 § 2 CIC/1983 so: Er umfasst „alle Sittlichkeitsvergehen, die einen Verstoß gegen das Gebot der Keuschheit, also gegen das für Kleriker geltende Gebot zur vollkommenen und immerwährenden Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen […] darstellen, das sexuelle Persönlichkeitsrecht der betroffenen Person in irgendeiner Weise, vornehmlich durch Wort, Bild oder manuelle Betätigung, verletzen, nach außen in Erscheinung getreten und äußerlich feststellbar sind.“102 Mit dem Versuch, den Begriff sexueller Missbrauch ausgehend von c. 1395 § 2 CIC/1983 definitorisch zu umschreiben, wird ein vom weltlichen Strafrecht geprägtes und dort inhaltlich gefülltes Konzept auf das universalkirchliche Strafrecht übertragen, dem dieser Begriff unbekannt ist.103 Angesicht der ganz unterschiedlichen, durch die beiden Rechtsordnungen primär geschützten Rechtsgüter der sexuellen Integrität im weltlichen Strafrecht einerseits und der zölibatären Lebensform im kirchlichen Strafrecht andererseits, wirkt die unterschiedslose Verwendung der Bezeichnung sexueller Missbrauch schon im Blick auf die jeweilige Zielrichtung der Rechtsnormen und der durch sie jeweils geschützten Rechtsgüter verunklarend. Ebenso wird dadurch erschwert, den jeweils eigenständigen, unabhängigen und legitimen Strafanspruch des Staates einerseits und der Kirche andererseits ins Bewusstsein zu heben. Die mangelnde Unterscheidung bezüglich der Rechtsgüter sowie der Zielrichtung der jeweiligen Strafverfolgung könnte sogar zu der falschen Auffassung führen, dass die Kirche diesbezüglich einen eigenen, vom Recht des Staates abgeschotteten Sonderbereich in Anspruch nehmen will.104 100

Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker (Anm. 84), S. 388. Lüdicke, c. 1395, Rdnr. 4b (Anm. 86); ders., Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger (Anm. 86), S. 623 spricht ebd. von „rechtlichen Schutzgütern“ und nennt auch „wenn auch nur im Wege der Auslegung zu erreichen, einen Tatbestand der Verletzung des sexuellen Persönlichkeitsrechts“. Insgesamt fällt dort auf, dass Lüdicke den gesetzessystematischen Zusammenhang des c. 1395 § 2 CIC/1983 bei seiner Auslegung vernachlässigt. 102 Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker (Anm. 84), S. 388. 103 Im Rundschreiben der Glaubenskongregation vom 03. 05. 2011 wird der Begriff abuso sessuale, also sexueller Missbrauch verwendet, allerdings ohne dass er näher erläutert oder eingegrenzt würde; vgl. C DocFid, Lettera circolare per aiutare le Conferenze Episcopali nel preparare Linee guida per il trattamento dei casi di abuso sessuale nei confronti di minori da parte di chierici (03. 05. 2011), in: AAS 103 (2011), S. 406 – 412. 104 Dieser möglichen aber irrigen Auffassung tritt Haering, Reichweite und Grenzen (Anm. 62), S. 213 u. 216 entschieden entgegen. 101

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3. Die Gleichsetzung von staatlichem und kirchlichem Strafrecht durch die Leitlinien der DBK Ungeachtet der je unterschiedlichen Zielrichtungen der beiden Rechtsordnungen hat die DBK mit ihren Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch105 im Hinblick auf die von ihr allgemein mit sexueller Missbrauch bezeichneten Straftaten die notwendige Unterscheidung zwischen den jeweils geschützten Rechtsgütern und Zielrichtungen ignoriert106 und so eine weitgehende Gleichsetzung zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Strafrecht vorgenommen. Die Leitlinien DBK/ 2010 formulierten in Nr. 2 unter der Überschrift „Der Begriff des ,sexuellen Missbrauchs‘ im Sinne der Leitlinien“: „Diese Leitlinien beziehen sich auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs, soweit sie an Minderjährigen begangen werden.“ Auch wenn nach dem zitierten Wortlaut mit Leitlinien DBK/2010 Nr. 2 lediglich der Anwendungsbereich der Leitlinien festgelegt wird, wird doch, ausgehend von der unmittelbar vorangestellten Überschrift, der Begriff sexueller Missbrauch so definiert, wie ihn die DBK innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs verstanden wissen will.107 Demnach werden seitens der DBK als sexueller Missbrauch alle und nur die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bezeichnet, soweit sie an Minderjährigen begangen wurden. Sexuellen Missbrauch von Erwachsenen gibt es im Unterschied zu den im 13. Abschnitt des StGB sanktionierten Straftaten nach dem in den Leitlinien DBK/2010 formulierten bischöflichen Verständnis nicht.108 Während nach Maßgabe des StGB die tatbestandsmäßige Verwirklichung einer strafbaren 105

Vgl. die Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (23. 8. 2010), abgedruckt in: AfkKR 179 (2010), S. 562 – 569 (= Leitlinien DBK/2010) sowie Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2). 106 Vgl. Heribert Hallermann, Präzisierung und Erleichterung? Die Überarbeitung der Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der DBK, in: KuR 2013, S. 178 – 203, hier S. 183 mit Anm. 41 sowie S. 189 – 192; Leitlinien DBK/2013, Nr. 2 führt zwar aus: „Den seitens der Kirche Handelnden muss daher stets bewusst sein, dass es bezüglich der hier zu berücksichtigenden strafbaren Handlungen in den beiden Rechtsbereichen unterschiedliche Betrachtungsweisen geben kann (z. B. bzgl. des Kreises der betroffenen Personen, des Alters des Opfers, der Verjährungsfrist).“ Dabei wird aber der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Rechtsbereichen nicht genannt: die verschiedenen geschützten Rechtsgüter und die je unterschiedliche Begründung des sexuellen Missbrauchs. 107 Im Zusammenhang dieser Abhandlung wird nicht eingegangen auf die Problematik, dass es sich bei den Leitlinien nicht um ein Gesetz der Bischofskonferenz, sondern um diözesanes Recht handelt, das allerdings in den meisten deutschen Diözesen keine Rechtskraft erlangt hat; vgl. hierzu ausführlich Hallermann, Präzisierung und Erleichterung? (Anm. 106), S. 201 – 202, sowie ders., Kunst kommt von Können. Betrachtungen zur Gesetzgebungskunst am Beispiel der Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der DBK, in: AfkKR 182 (2013), S. 386 – 425. 108 Diese Feststellung korrespondiert mit dem Wortlaut des c. 1395 § 2 CIC/1983 und den dort festgelegten Altersgrenzen möglicher Opfer. Mit Art. 6 § 1 n. 1 SST/2010 (Anm. 83) ist die Altersgrenze potentieller Opfer auf 18 Jahre angehoben worden und markiert so die Volljährigkeitsgrenze gemäß c. 97 § 1 CIC/1983.

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Handlung konstitutiv für eine Straftat109 des sexuellen Missbrauchs ist, weitet Leitlinien DBK/2010 Nr. 3 den Begriff sexueller Missbrauch auch auf nicht strafbare Handlungen aus: „Zusätzlich finden sie entsprechende Anwendung bei Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine Grenzüberschreitung darstellen.“110 Während sich das weltliche Strafrecht bei der Bestimmung der einschlägigen Straftatbestände um ein Höchstmaß an Präzisierung bemüht,111 begibt sich die DBK mit den Begriffen „Grenzüberschreitung“ sowie „pastoraler, erzieherischer, betreuender oder pflegerischer Umgang mit Kindern und Jugendlichen“ in einen rechtlichen Graubereich, der straftatbestandsmäßig kaum abgrenzbar ist und der mit dem Bemühen des weltlichen Strafrechts um klare Abgrenzung zwischen strafbaren und nicht strafbaren Handlungen kollidiert. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass die Leitlinien DBK/2010 die vom kanonischen Strafrecht im Blick auf ein peccatum contra sextum Decalogi Praeceptum geschützten spezifischen Rechtsgüter nicht ansprechen und weder implizit noch explizit darauf Bezug nehmen.112 Ein Bezug wird ausschließlich zum weltlichen Strafrecht hergestellt, das offensichtlich als eine Art Interpretation der einschlägigen kanonischen Strafnormen verwendet wird. Insofern wird seitens der DBK die begrenzende Norm des c. 1317 CIC/1983 ebenso wenig beachtet wie die klare Weisung des c. 18 CIC/ 1983, wonach Gesetze, die eine Strafe festsetzen, stets der engen Auslegung unterliegen, die sich „hinsichtlich des Tatbestands und der Rechtsfolge am kleinsten vom Gesetzestext gedeckten Inhalt“113 orientiert, so dass Strafgesetze nicht auf irgendwie ähnliche oder vergleichbare Tatbestände ausgeweitet werden können, vor allem dann nicht, wenn sich diese Ähnlichkeit lediglich aufgrund umgangssprachlich verallgemeinernder Begriffe wie sexueller Missbrauch, nicht aber aufgrund der Tatbestandsmerkmale sowie der jeweils geschützten Rechtsgüter ergibt. Die Leitlinien DBK/2013 versuchen gegenüber der Vorgängerfassung zu ergänzen und zu differenzieren. Vor allem fällt auf, dass nun auch explizit auf kirchenrechtliche Normen Bezug genommen wird. So wird in Leitlinien DBK/2013 Nr. 2 wiederum unter der Überschrift „Der Begriff des ,sexuellen Missbrauchs‘ im Sinne der Leitlinien“ einleitend ausgeführt: „Diese Leitlinien berücksichtigen die Bestimmungen sowohl des kirchlichen wie auch des weltlichen Rechts. Der Begriff sexueller Missbrauch im Sinne dieser Leitlinien umfasst strafbare sexualbezogene Handlungen.“114 Nicht berücksichtigt wird wiederum, dass die in den beiden Rechtsordnungen jeweils geschützten Rechtsgüter nicht identisch sind. Mit der Wendung strafbare sexualbe109 Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1261 – 1262. Vgl. auch § 11 Abs. 5 und 6 StGB sowie Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 57 – 58, Rdnrn. 18 – 19. 110 Leitlinien DBK/2010 (Anm. 105), Nr. 3. 111 Vgl. etwa Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75). 112 Vgl. Hallermann, Präzisierung und Erleichterung? (Anm. 106), S. 184. 113 Hubert Socha, c. 18, Rdnr. 3a, in: MK CIC (Stand: Februar 2012). 114 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2.

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zogene Handlungen wird ein Begriff verwendet, der ausschließlich dem 13. Abschnitt StGB zuzuordnen und dem universalkirchlichen Strafrecht unbekannt ist. Insofern geben die deutschen Bischöfe zu erkennen, dass sie sich – abweichend vom kanonischen Recht – mit ihren Leitlinien dem Schutz der durch das weltliche Strafrecht geschützten sexuellen Selbstbestimmung verpflichtet fühlen.115 Der Schutz der zölibatären bzw. jungfräulichen Lebensweise oder des Bußsakraments hingegen wird mit dem Begriff strafbare sexualbezogene Handlungen nicht angesprochen. Allerdings wird mit Leitlinien/2013 Nr. 2 der Begriff sexueller Missbrauch unterschiedslos auf Straftaten aus beiden Rechtsbereichen angewendet. Er bezieht sich demnach „sowohl auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt sowie weitere sexualbezogene Straftaten des Strafgesetzbuchs (StGB) als auch auf solche nach can. 1395 § 2 CIC i. V. m. Art. 6 § 1 SST, nach c. 1387 CIC/1983 in Verbindung mit Art. 4 § 1 n. 4 SST wie auch nach can. 1378 § 1 CIC i. V. m. Art. 4 § 1 n. 1 SST, soweit sie an Minderjährigen oder Personen begangen werden, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist (Art. 6 § 1 n. 1 SST).“116 Demnach wäre sowohl ein strafrechtlich relevanter Verstoß gegen die Zölibatsverpflichtung im Sinne des c. 1395 § 2 CIC/1983 als auch die Straftat der Sollizitation im Sinne des c. 1387 CIC/ 1983 wie auch die verbotene Lossprechung eines Mitschuldigen an einer Sünde gegen das sechste Gebot im Sinne des c. 1378 § 1 i. V. m. c. 977 CIC/1983 seitens der DBK als sexueller Missbrauch definiert, obwohl es bei diesen kanonisch sanktionierten Straftaten um alles andere als um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geht. Auch mit den Leitlinien DBK/2013 soll der Begriff sexueller Missbrauch ausgedehnt werden auf nicht strafbare Handlungen,117 „die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen eine Grenzverletzung oder einen sonstigen sexuellen Übergriff darstellen.“118 Auch „Grenzverletzungen“ und „sexuelle Übergriffe“ sollen demnach Fälle von sexuellem Missbrauch darstellen, selbst wenn es sich um „Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit“119 handelt. Näherhin geht es dabei um „alle Verhaltens- und Umgangsweisen mit sexuellem Bezug gegenüber Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen, die mit vermeintlicher Einwilligung, ohne Einwilligung oder gegen den ausdrücklichen Willen erfolgen. Dies umfasst auch alle Handlungen zur Vorbereitung, Durchführung und Geheimhaltung sexualisierter Gewalt.“120 115 Vgl. in diesem Sinne auch Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 1: „In ihrer Verantwortung für den Schutz der Würde und Integrität junger Menschen und erwachsener Schutzbefohlener haben sich die deutschen Bischöfe auf die folgenden Leitlinien verständigt.“ 116 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2. 117 Trotz der fehlenden Präzisierung sind damit wohl nur sexualbezogene Handlungen im Sinne des 13. Abschnitts des StGB gemeint und nicht irgendwelche Handlungen. 118 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2. 119 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2. 120 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2.

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Die Folgen einer solchermaßen undifferenzierten und nivellierenden Begrifflichkeit121 können vielfältig sein: Zum einen besteht die Gefahr der Bagatellisierung selbst schwerster Straftaten in diesem Bereich, weil bspw. von einer Handlung mit sexuellem Bezug unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit bis hin zu einer wiederholten Vergewaltigung unter Anwendung von brutaler Gewalt unterschiedslos alles sexueller Missbrauch ist. Zum anderen geht bei diesem Sprachgebrauch leicht das Bewusstsein dafür verloren, dass es der Kirche eigene Rechtsgüter gibt, die durch einschlägige strafrechtliche Normen und deren sachgerechte Anwendung geschützt werden sollen. Zum dritten kann der Eindruck entstehen, dass die kirchliche Gerichtsbarkeit parallel oder konkurrierend zur weltlichen Gerichtsbarkeit versucht, dieselben Straftaten zu verfolgen und zu ahnden und sie gegebenenfalls einer doppelten Bestrafung zuzuführen.122 Und weil es nach Maßgabe des geltenden kirchlichen Rechts stets nur um Kleriker geht, welche die einschlägigen Straftaten verwirklichen können, könnte sich auch der Verdacht aufdrängen, die Kirche wollte in Anknüpfung an längst überholte Privilegien für ihre straffällig gewordenen Kleriker wieder das privilegium fori zur Geltung bringen.123 Ein Motiv für die seitens der DBK gewollte, aufgrund der divergierenden Inhalte, Zielsetzungen und zu schützenden Rechtsgüter aber nicht möglichen weitgehenden Gleichsetzung von staatlichem und kirchlichem Strafrecht im Bereich des sexuellen Missbrauchs kann den Leitlinien DBK/2013 sowie zugeordneten Dokumenten124 entnommen werden und verdient Beachtung: Der DBK geht es offenkundig um den strafrechtlichen Schutz von pastoralen Beziehungen und darum, dass solche Beziehungen der Seelsorge, der Beratung und der Pflege nicht durch asymmetrische sexuelle Beziehungen überlagert und verfälscht werden. Dies kommt etwa dort zum 121

Vgl. etwa Adrian Loretan, Die Menschenwürde – eine Herausforderung für die Kirchenrechtswissenschaft, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), Paderborn 2016, S. 99 – 113, hier S. 112: „Dies trifft z. B. auf das kanonische Recht zu, weil sexuelle Vergewaltigung einer Frau oder eines Kindes gleichgesetzt wird mit anderen Tatbeständen wie versuchte Eheschließung eines Klerikers, die keineswegs die Menschenwürde eines Menschen verletzen, vorausgesetzt, dass beide Partner der Ehe zustimmen.“ 122 Lüdicke, Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger (Anm. 86), S. 631 verweist darauf, dass sich eine Verbindung zwischen staatlicher und kirchlicher Strafe nicht begründen lässt; auch decken sich die Kriterien für die Strafbarkeit in beiden Rechtsordnungen nicht. 123 Vgl. weiter oben Anm. 22. 124 Vgl. etwa Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Handreichung für katholische Schulen, Internate und Kindertageseinrichtungen (25. 11. 2010), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB. Kommission für Erziehung und Schule 32), Bonn 2010, S. 5: „Weil wir davon überzeugt sind, dass jeder einzelne Mensch als Geschöpf und Abbild Gottes eine unantastbare Würde hat, müssen sich katholische Bildungseinrichtungen durch eine Kultur der gegenseitigen Achtung, des Respekts und der Wertschätzung auszeichnen. In besonders scharfem Gegensatz zu diesem Anliegen steht es, wenn Mädchen, Jungen oder junge Erwachsene sexualisierte Gewalt erfahren, da diese verheerende Folgen für die seelische und körperliche Entwicklung haben kann.“

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Ausdruck, wo, immer noch unter der Überschrift „Der Begriff des ,sexuellen Missbrauchs‘ im Sinne der Leitlinien“,125 auf mögliche Grenzverletzungen oder sexuelle Übergriffe „im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen“126 abgehoben wird. Die erwachsenen Schutzbefohlenen werden dabei verstanden als „behinderte, gebrechliche oder kranke Personen, gegenüber denen Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine besondere Sorgepflicht haben, weil sie ihrer Fürsorge oder Obhut anvertraut sind“.127 In den Leitlinien DBK/2013 Nr. 1 wird auf den schweren Schaden hingewiesen, der durch den sexuell geprägten Missbrauch pastoraler Beziehungen „der Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Sendung“128 zugefügt wird. In diesem Zusammenhang wird Papst Benedikt XVI. mit der Äußerung zitiert: „Es ist eine besonders schwere Sünde, wenn jemand, der eigentlich den Menschen zu Gott helfen soll, dem sich ein Kind, ein junger Mensch anvertraut, um den Herrn zu finden, ihn stattdessen missbraucht und vom Herrn wegführt. Dadurch wird der Glaube als solcher unglaubwürdig, kann sich die Kirche nicht mehr glaubhaft als Verkünderin des Herrn darstellen.“129 Der – auch strafrechtliche – Schutz von pastoralen Beziehungen und die Sorge um eine Atmosphäre des Vertrauens in solchen Beziehungen ist nicht nur ein legitimes, sondern auch ein notwendiges und genuin kirchliches Anliegen. Der Missbrauch pastoraler Beziehungen, das heißt ein Verhalten im seelsorglichen, beratenden oder pflegerischen Kontext, durch das ein die Menschenwürde130 beschädigendes oder sittenwidriges Ziel angestrebt wird, kann beziehungsweise muss gemäß c. 1389 § 1 CIC/1983 als Amtsmissbrauch, abusus potestatis aut muneris, bestraft werden.131 Die DBK bezieht diese Norm aber nicht in ihre Begriffsbestimmung des sexuellen Missbrauchs und in die dort genannten Rechtsgrundlagen ein, sondern sucht stattdessen Rückhalt in den kumulativ in Anspruch genommenen Normen des 13. Abschnitts des StGB, die sich für diesen angestrebten Schutzzweck allerdings als untauglich erweisen. Während der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen im Sinne des § 174 StGB offenkundig auch von Priestern „in ihrer Funktion als Religionslehrer […], nicht aber im Rahmen der allgemeinen seelsorgerischen Beziehungen eines Priesters zu den minderjährigen Mitgliedern

125

Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Überschrift vor Nr. 2. Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 2. 127 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 3. 128 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 1. 129 Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 1, Anm. 4. 130 Vgl. Anm. 124. 131 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, Lb IV, S. 233 – 234. Die Formulierung abusus potestatis aut muneris grenzt dabei den möglichen Täterkreis nicht auf Kleriker ein, sondern umfasst alle Personen, die ein Kirchenamt innehaben, eine kirchliche Aufgabe ausüben oder im Auftrag und im Namen der Kirche tätig sind. 126

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seiner Gemeinde“132 erfüllt werden kann, können der sexuelle Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen im Sinne des § 174 a StGB, der sexuelle Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung gemäß § 174 b StGB sowie der sexuelle Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses nach § 174 c StGB von Seelsorgern im Rahmen der ordentlichen seelsorglichen Tätigkeit nicht verwirklicht werden.133 So zählen zum möglichen Täterkreis des § 174 c StGB „Angehörige derjenigen Berufsgruppen, die aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation psychotherapeutische Behandlungen durchführen und berechtigt sind, die Bezeichnung ,Psychotherapeut‘ zu führen.“134 Diese Voraussetzung trifft regelmäßig für Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht zu. Die Straftat des § 174 a StGB kann nur im Rahmen spezifischer Obhutsverhältnisse wie einer Beaufsichtigung oder Betreuung begangen werden,135 während der Straftatbestand des § 174 b StGB, der auf die Ausnutzung einer Amtsstellung abhebt, nur von Amtsträgern im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwirklicht werden kann.136 Mit dem Begriff Amtsträger werden insbesondere Beamte, Richter und vergleichbare in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehende Personen erfasst, während kirchliche Amtsträger und Amtsträger anderer Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts grundsätzlich aus diesem Amtsträgerbegriff ausscheiden.137 Helfende und beratende Verhältnisse sowie Beziehungen im Rahmen der Seelsorge werden folglich durch diese Normen des StGB nicht geschützt; ein solcher Schutz würde auch nicht in die Kompetenz des weltlichen Strafrechts fallen, weil die Seelsorge selbst und somit auch ihr Schutz zum Kernbereich der eigenen Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgesellschaften zählen.138

132 Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 221; vgl. auch Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 805, Rdnr. 6. 133 Vgl. Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 809, Rdnrn. 3 – 4, S. 811, Rdnr. 2, S. 813 – 814, Rdnrn. 4 – 5 jeweils mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 137 – 168. 134 Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 149. 135 Vgl. Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 140 – 141. 136 Vgl. Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 166 – 167. 137 Vgl. Kühl, Strafgesetzbuch (Anm. 66), S. 52 – 57, Rdnrn. 3 – 17, hier insbes. S. 56, Rdnr. 10: „Nicht hierher gehören Träger von Ämtern in Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts, es sei denn, dass ihnen Aufgaben der öffentlichen (staatlichen oder kommunalen) Verwaltung besonders übertragen sind.“; vgl. auch Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten (Anm. 75), S. 166 – 167 mit Auflistung des möglichen Täterkreises. 138 Vgl. Dirk Ehlers, Art. Angelegenheiten, eigene, in: LKStKR 1, S. 102 – 103 sowie Ansgar Hense, Kirche und Staat in Deutschland, in: HdbKathKR3, S. 1830 – 1865, hier S. 1850 – 1853.

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III. Die Anwendung des staatlichen und des kirchlichen Strafrechts in Fällen von sexuellem Missbrauch durch Kleriker: Ne bis in idem Der bis hierhin erhobene Befund ist eindeutig: Auch wenn stets derselbe allgemeine, mitunter sogar nivellierende Begriff sexueller Missbrauch verwendet wird, werden damit in der staatlichen Rechtsordnung einerseits und in der kirchlichen Rechtsordnung andererseits ganz unterschiedliche strafrechtlich relevante Gegenstände bezeichnet und überwiegend divergente Ziele verfolgt. Eine explizite Benennung von Straftaten als sexueller Missbrauch erfolgt nur in den Normen des StGB. Die entsprechenden Bestimmungen wollen die sexuelle Selbstbestimmung und nicht etwa eine bestimmte sittliche Ordnung schützen. Das kirchliche Strafrecht hingegen will mit den einschlägigen Normen insbesondere das Sakrament der Buße und die zölibatäre beziehungsweise jungfräuliche Lebensweise schützen; insofern erfolgt die Übertragung des Begriffs sexueller Missbrauch auf kanonische Straftatbestände in inadäquater Form. Weil sowohl der Staat als auch die katholische Kirche den Anspruch erheben, als sexueller Missbrauch bezeichnete Straftaten strafrechtlich zu verfolgen, soll abschließend danach gefragt werden, ob beziehungsweise wie in ein und demselben Fall die beiden Strafrechte angewendet werden können. Dabei ist davon auszugehen, dass auch dieser Bereich dem Verhältnis entsprechen muss, das generell für das Verhältnis zwischen Kirche und Staat gilt. Insofern müssen die je eigenen Zuständigkeiten und Kompetenzen beider Seiten respektiert und es darf keiner Kompetenzvermischung Vorschub geleistet werden.139 Aus Sicht der katholischen Kirche lässt sich hierzu festhalten, „dass auf die Eigenart und Eigenständigkeit der Kirche großer Wert gelegt wird und sich daraus notwendig die Forderung nach einer Trennung des staatlichen und des kirchlichen Bereichs ergibt. Eine derartige Trennung schließt aber Kooperation nicht aus, ganz im Gegenteil.“140 Der deutsche Verfassungsstaat hat dieses Verhältnis namentlich mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 u. 3 WRV durch „eine gemäßigte, ,hinkende‘ Trennung von Staat und Kirche“141 sowie durch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften bestimmt, das heißt durch die Freiheit der Kirchen bei der Ordnung und Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten, zu denen ausdrücklich auch die eigene kirchliche Gerichtsbarkeit zählt.142 Diese Gewährleistung wird jedoch begrenzt durch die Schranke des für alle 139

Vgl. Haering, Kirche und Staat (Anm. 22), S. 92. Haering, Kirche und Staat (Anm. 22), S. 90; vgl. auch Stefan Muckel, Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: HdbKathKR3, S. 1769 – 1790, hier S. 1781 – 1783. 141 Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 20047, S. 1314, Rdnr. 2 (Die im Original verwendete Kursivsetzung wurde nicht übernommen). 142 Vgl. Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Anm. 141), S. 1316, Rdnr. 7; vgl. auch Hense, Kirche und Staat in Deutschland (Anm. 138), S. 1839 – 1840 u. 1852. 140

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geltenden Gesetzes, so dass die Kirchen bei der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten und somit auch bei der Ausübung der eigenen Gerichtsbarkeit nicht freigestellt sind von der Beachtung solcher Gesetze, die für die Kirchen und deren Glieder dieselbe Bedeutung haben wie für jedermann.143 Insofern unterfallen auch Kirchenglieder, die eine Straftat des sexuellen Missbrauchs im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) begehen, der Geltung des StGB144 und somit der Strafverfolgung, die aufgrund des Gewaltmonopols des Staates145 den staatlichen Gerichten und deren Vollstreckungsorganen zukommt. Der staatlichen Strafverfolgung entsprechender Taten kommt insofern stets vorrangige Bedeutung zu.146 Sie kann auch nicht durch eine kirchliche Strafverfolgung ganz oder teilweise ersetzt werden. Die Ermittlungsarbeit der staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu einem angezeigten Fall des sexuellen Missbrauchs dient der Prüfung der Frage, ob eine oder mehrere Straftaten im Sinne des 13. Abschnitts des StGB verwirklicht worden sind. Gegebenenfalls müssen hierfür entsprechende Beweise erhoben werden. Gemäß Art. 22 GG handelt es sich dabei um ein ausschließliches Vorbehaltsrecht der staatlichen Gerichte.147 Die staatlichen Behörden sind aufgrund der religiös-weltanschaulichen Neutralität des deutschen Verfassungsstaates148 zudem weder befugt noch zuständig um zu ermitteln, ob zusätzlich oder zugleich als sexueller Missbrauch bezeichnete Straftaten nach kanonischem Recht begangen worden sind. Umgekehrt kann auch der Voruntersuchungsführer im Sinne des c. 1717 § 3 i. V. m. c. 1428 § 3 CIC/1983 nur dahingehend ermitteln, ob eine Straftat nach Maßgabe des kanonischen Strafrechts verwirklicht wurde oder nicht. Er besitzt weder Zuständigkeit noch Kompetenz um etwa anstelle der staatlichen Behörden oder ergänzend zu ihnen bezüglich möglicher Straftaten nach Maßgabe des staatlichen Strafrechts zu ermitteln.149 Die Aussage in den Leitlinien DBK/2013 Nr. 29, dass im Rahmen des kirchlichen Vorgehens gegebenenfalls „Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat nach dem 13. Abschnitt oder weiterer sexualbezogener Straftaten des Strafgesetzbuchs (StGB) an Minderjährigen oder erwachsenen Schutzbefohlenen“ gewonnen werden könnten, wirkt in dieser Hinsicht zumindest sehr missverständlich. 143

Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Anm. 141), S. 1317, Rdnr. 9. Vgl. § 3 StGB. 145 Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 577. 146 Vgl. in diesem Sinne auch Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 22: „Sofern dadurch die Aufklärung des Sachverhalts nicht gefährdet und die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden nicht behindert werden, […]“ u. Nr. 32: „Besteht die Gefahr, dass die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden behindert wird, muss die kirchenrechtliche Voruntersuchung ausgesetzt werden.“ Dass es sich bei der staatlichen Ermittlungsarbeit einerseits und der kanonischen Voruntersuchung im Sinne des c. 1717 CIC/1983 anderseits um verschiedene und voneinander unabhängige Verfahren handelt, ist den zitierten Stellen implizit zu entnehmen, wenngleich dort nicht mit der nötigen Deutlichkeit darauf hingewiesen wird. 147 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Anm. 141), S. 1037 – 1038, Rdnr. 11. 148 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Anm. 141), S. 162, Rdnr. 5 sowie Art. 4 Abs. 1 GG. 149 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Anm. 141), S. 1108 – 1116, Rdnrn. 1 – 17 mit Art. 101 GG. 144

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Aufgrund der mangelnden Identität der jeweiligen Straftatbestände sowie der durch staatliches Recht einerseits und kirchliches Recht andererseits geschützten je unterschiedlichen Rechtsgüter beweist ein durch gerichtliches Urteil150 festgestellter Verstoß gegen eine Norm des 13. Abschnitts des StGB nicht ohne Weiteres, dass vom Täter auch eine einschlägige Straftat nach kanonischem Recht, etwa ein Verstoß gegen c. 1395 § 2 CIC/1983 i. V. m. Art. 6 § 1 n. 1 – 2 SST/2010, begangen worden wäre. Ein rechtskräftiges Urteil in einem Fall von sexuellem Missbrauch nach StGB ist jedoch geeignet, den Verdacht einer entsprechenden Straftat nach kanonischem Recht zu erhärten151 und kann insofern für den kirchlichen Voruntersuchungsführer beziehungsweise für den zuständigen Ordinarius ein Anhaltspunkt im Sinne des c. 1718 § 1 CIC/1983 sein, der die Einleitung weiterer Verfahrensschritte bedingt. In jedem Fall muss seitens der Kirche bezüglich eines möglichen kanonischen Straftatbestands selbständig ermittelt und entsprechendes Beweismaterial gesammelt werden. Der gemäß Art. 103 Abs. 3 GG garantierte Schutz vor einer mehrmaligen Bestrafung ein und derselben Tat sowie vor einer erneuten Strafverfolgung gemäß dem Rechtssprichwort Ne bis in idem wird durch ein rechtmäßiges kanonisches Strafverfahren nicht tangiert,152 insofern andersgeartete Straftatbestände verfolgt werden als im weltlichen Strafrecht. Sollte die kirchliche Seite allerdings den Anspruch erheben, der Verurteilung durch das weltliche Gericht ein kirchliches Urteil in derselben Sache folgen zu lassen ohne die Durchführung eigener Ermittlungen und ohne tragfähige Beweise für das Begehen einer nach kanonischem Recht sanktionierten Straftat, wäre dieser Schutzbereich wohl gefährdet. Auch das kanonische Prozessrecht hält mit c. 1642 CIC/1983 für seinen Bereich am Rechtsgrundsatz Ne bis in idem fest.153 Die katholische Kirche besteht zu Recht mit c. 1311 CIC/1983 auf der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ihres Strafanspruchs gegenüber Gläubigen, die einen kanonischen Straftatbestand verwirklicht haben. Dabei geht es generell um den Schutz der kirchlichen Sendung und insofern nicht darum, parallel oder auch konkurrierend zum weltlichen Strafrecht in ein und derselben Sache auch kirchlicherseits tätig werden zu wollen. Angesichts der Tatsache, dass die geltenden Leitlinien DBK/2013 unter Verwendung der verunklarenden und nivellierenden Begrifflichkeit sexueller Missbrauch die notwendige Unterscheidung zwischen dem staatlichen Strafanspruch einerseits und dem kirchlichen Strafanspruch andererseits weitgehend vermissen lassen, muss auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden, dass damit die Kir150

Vgl. Weber, Rechtswörterbuch (Anm. 65), S. 1383. Vgl. Leitlinien DBK/2013 (Anm. 2), Nr. 34. 152 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz (Anm. 141), S. 1149 – 1150, Rdnrn. 57 – 59. 153 Vgl. Redazione di QDE (Hrsg.), Codice di Diritto Canonico Commentato, Milano 20042, S. 1259 zu c. 1642. Die von Klaus Lüdicke, c. 1397, Rdnr. 6 i. V. m. c. 1344, Rdnr. 6 vorgetragene Überlegung zum Rechtgrundsatz Ne bis in idem bezieht sich im Unterschied zu den oben genannten Straftaten auf solche, die sich in tatbestandlicher Hinsicht in beiden Rechtsordnungen entsprechen und sowohl nach kirchlichem als auch nach staatlichem Gesetz strafbar sind. 151

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che selbst die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ihres Strafanspruchs in Fällen eines peccatum contra sextum Decalogi praeceptum aufgeben könnte. Nur die Verfolgung der eigenen kirchlichen Strafzwecke garantiert nämlich die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des kirchlichen Strafanspruchs. Bei einem Vorgehen der Kirche, das sich ausschließlich an den Strafnormen des 13. Abschnitts StGB orientiert, käme es möglicherweise zu einer Ingerenz der Kirche in staatliche Belange und gegebenenfalls zu einem Verstoß gegen den in Kirche und Staat gleichermaßen geltenden Rechtsgrundsatz Ne bis in idem.

Mitis Iudex Anmerkungen zum Handeln des kirchlichen Richters Von Alfred E. Hierold Papst Franziskus hat sein Motu proprio vom 15. August 20151 eingeleitet mit den Worten „Mitis Iudex Dominus Iesus“. Ähnlich beginnt sein zweites Motu proprio vom gleichen Tag mit den Worten „Mitis et misericors Iesus“2. Diese Aussagen sind unmittelbar bezogen auf den Herrn Jesus Christus, der ein milder Richter ist und einmal sein soll. Diese Attribute sind aber m. E. nicht allein auf den Herrn der Kirche beschränkt gesehen, sondern der Papst hat quasi die beiden Päpstlichen Schreiben zur Reform des kanonischen Verfahrens für Ehenichtigkeitserklärungen mit den Änderungen im CIC/1983 und im CCEO unter dieses Motto gestellt. Dies soll als Anlass dienen, über das Handeln des kirchlichen Richters ganz allgemein nachzudenken, insbesondere ob und wann dieser ein mitis iudex sein kann.

I. Zur Terminologie Die Bezeichnung mitis iudex bezogen auf Jesus Christus ist eine Neuerung; sie ist kein klassischer Hoheitstitel Jesu.3 Die Bezeichnung selbst ist weder in der klassischen lateinischen4 noch in der christlichen griechischen oder lateinischen Literatur bekannt, zumal die Bezeichnung auch nicht in der Heiligen Schrift vorkommt. Auch in der Liturgie ist der Titel mitis iudex nicht verwendet, ebenso wenig im kanonischen Recht.5 In den Schriften des Alten6 und Neuen Testaments7 werden Gott und Jesus als 1 Franziskus, MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (MIDI) (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 958 – 967, mit „Ratio Procedendi“ (RP), in: AAS 107 (2015), S. 967 – 970 (dt: https://w2/va tican.va/content/francesco/de/motu_proprio/documents/papa-francesco [Stand: 07. 09. 2016]); vgl. dazu: Patricia M. Dugan/Luis Navarro/Ernest Caparros (Hrsg.), The Reform Enacted by the m.p. Mitis Iudex, Washington 2016. 2 Franziskus, MP „Mitis et misericors Jesus“ (MM) (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 946 – 957. 3 Vgl. Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, Göttingen 19855. 4 Vgl. Aegidus Forcellini, Lexicon totius Latinitatis III, hrsg. v. Josephus Perin, Bologna 1965, S. 262. 5 Vgl. Hartmut Zapp, Codex Iuris Canonici. Lemmata. Stichwortverzeichnis, Freiburg i. Br. 1986.

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gerechte Richter angesprochen. In der Folge wird in der Liturgie Jesus Christus als der iustus iudex angefleht.8 Dieser terminologische Befund zeigt, dass übertragen auf den Richter von ihm erwartet wird, dass er gerecht ist und der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Es ist nun die Frage, wie der Richter gerecht und milde zugleich sein kann. Dabei soll nicht übersehen werden, dass die neuen Normen des Papstes für die Betroffenen eine Milderung darstellen können, z. B. durch den eventuellen Wegfall der zweiten Instanz. Diese Normen hat der Richter anzuwenden. Dann liegt aber die Milde nicht beim Richter, sondern beim Gesetzgeber. Was den Richter betrifft, sollen die folgenden Überlegungen deutlich machen.

II. Allgemeine Grundsätze des richterlichen Handelns 1. In formeller Hinsicht Im Gegensatz zur Verwaltung ist die Rechtsprechung9 in formeller Hinsicht dadurch charakterisiert, dass der Richter nur tätig wird auf Antrag nach dem alten Grundsatz: Wo kein Kläger, da kein Richter. Wird an den Richter ein Antrag, näherhin eine Klage gerichtet, muss er tätig werden, und sei es nur, um die Klage abzuweisen; sonst verweigert er das Recht und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein ungerechter Richter zu sein.10 So ist die Rechtsprechung eine mittelbare und subsidiäre Tätigkeit. Der Richter muss sich an die prozessualen Normen und Formen halten. Ein Zuwiderhandeln oder ein Außerachtlassen der entsprechenden Normen kann die Nichtigkeit des Urteils zur Folge haben. Der Richter genießt eine große Unabhängigkeit; er ist nur an das Recht und an das eigene Gewissen gebunden; er ist frei von Weisungen einer höheren Autorität. Diese Unabhängigkeit heißt äußere Unabhängigkeit. Diese muss auch gesichert sein durch eine feste Stellung. Der Richter muss aber ebenso nach innen frei und unabhängig, d. h. unbefangen sein. Ein Hang zur Milde darf ihn nicht dazu verführen, parteiisch zu sein. 6 In Ps 7,12 lautet die Übersetzung der Vulgata: „Deus iudex iustus et fortis.“ In Jes 11,4 wird vom kommenden Messias laut Vulgata ausgesagt: „Iudicabit in iustitia pauperes.“; in Jes 14,32 wird ein „iustus iudex“ verkündet. 7 In 2 Tim 4,8 ist vom kritischen Richter die Rede. 8 Vgl. den Vers „Iuste iudex ultionis“ in der Sequenz „Dies Irae“ beim Requiem für die Verstorbenen. 9 Vgl. Benedictus Ojetti, Commentarium in CIC, Rom 1927; Klaus Mörsdorf, Rechtsprechung und Verwaltung im kanonischen Recht, Freiburg i. Br. 1941; Alfred. E. Hierold, Vorgehen auf dem Verwaltungs- oder auf dem Gerichtsweg?, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 25 – 38. 10 Vgl. Lk 18,1 – 8.

Mitis Iudex – Anmerkungen zum Handeln des kirchlichen Richters

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2. In materieller Hinsicht Die Entscheidung des Richters wird gerne als Wahrspruch bezeichnet, da er die Wahrheit zu eruieren und möglichst zweifelsfrei festzustellen hat. Beim richterlichen Tun steht der Wert des Erkennens im Vordergrund; so spricht man beim Urteil auch von richterlicher Erkenntnis. In der Folge der Gedanken Montesquieus charakterisiert man die richterliche Tätigkeit dahin, dass im Richterspruch nicht der Mensch, sondern das Gesetz spricht. Danach stelle sich die richterliche Tätigkeit als ein Syllogismus dar, in dem das Gesetz den Obersatz, der erwiesene Tatbestand den Untersatz und das Urteil den Schlusssatz liefert. Bei dieser Typisierung darf aber nicht übersehen werden, dass dem Richter in der Bewertung des Obersatzes, d. h. in der Auslegung des Gesetzes, insbesondere aber des Untersatzes, d. h. des Tatbestandes, ein Feld des Ermessens eingeräumt ist, wo auch Milde einen Platz haben kann, wenn es z. B. um die Verhängung einer Strafe geht. Wenn also der Richter kein Automat ist, sondern seine Erfahrung, sein menschliches Verstehen, sein juristisches Können und seine Persönlichkeit den Inhalt des Spruches beeinflussen können, so bleibt doch die Forderung, dass er der Rechtsnorm und dem Tatbestand entsprechend handeln muss. Der Richter muss herausfinden, was wahr und gerecht ist. Das Ziel des richterlichen Tuns ist die Verwirklichung des Rechts und damit die Anwendung des Rechts als Selbstzweck, sein Urteil ein Rechtsentscheid. Jeder Streit muss einmal ein Ende haben; dem dient das Faktum, dass eine Entscheidung in Rechtskraft erwächst. Nur so kann der Rechtsfrieden in der Gemeinschaft gewahrt werden. Wenn der Richter in seinem Urteil entschieden hat, was er für wahr und gerecht erkannt hat, kann er dies nicht einfach wieder umstoßen und sein Urteil schnellstens aufheben. Es erwächst in Rechtskraft. Dies schließt aber nicht aus, dass ein anderer sowohl die Rechtslage als auch die Fakten anders sieht und interpretiert und so zu einer anderen Entscheidung kommt. Bei der Ausübung richterlicher Tätigkeit gelten m. E. auch im kanonischen Recht diese allgemeinen Grundsätze in formeller und in materieller Hinsicht und werden durch eigene Normen geregelt.

III. Richterliches Handeln nach dem kanonischen Recht 1. In formeller Hinsicht Auch der kirchliche Richter wird nur auf Klage hin tätig; deshalb bedarf es zur Eröffnung eines Verfahrens der Klage einer Partei oder mehrerer Parteien; denn „der Richter kann über keine Sache befinden, sofern nicht ein den gesetzlichen Er-

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fordernissen entsprechender Klageantrag von jemandem, der ein rechtliches Interesse geltend machen kann, oder vom Kirchenanwalt vorliegt.“11 Bevor eine Klage zur Annullierung einer Ehe erhoben wird, soll eine „vorgerichtliche oder auch pastorale Untersuchung“ unternommen werden, die dem Ziel dient, dass Gläubige, die an der Gültigkeit ihrer Ehe zweifeln oder von der Nichtigkeit derselben überzeugt sind, „ihre Situation erkennen und nützliche Elemente für die eventuelle Durchführung eines gerichtlichen Prozesses, sei es des ordentlichen oder des kürzeren, sammeln.“12 Diese Untersuchung muss nicht unbedingt von einer rechtskundigen Person, sondern soll eventuell vom Pfarrer oder von dem durchgeführt werden, der die Ehegatten auf die Feier der Trauung vorbereitet hat.13 „Die pastorale Untersuchung sammelt nützliche Elemente zur eventuellen Einbringung der Sache vor dem zuständigen Gericht durch die Ehegatten oder ihren Rechtsbeistand. Es muss gefragt werden, ob die Parteien darin einig sind, einen Antrag auf Nichtigerklärung einzureichen.“14 Die Klageschrift muss bestimmte Standards erfüllen, d. h. sie muss vor allem zum Ausdruck bringen, bei welchem Gericht die Klage erhoben wird, was und von wem etwas begehrt wird; sie muss angeben, auf welches Recht und, wenigstens allgemein, auf welche Tatsachen und welche Beweismittel sich der Kläger zum Nachweis einer Klagebehauptung stützt.15 Der Richter muss zuerst prüfen, ob er zuständig ist und ob der Kläger rollenfähig ist. Für Ehenichtigkeitsprozesse, die dem Apostolischen Stuhl nicht vorbehalten sind, sind zuständig: das Gericht des Eheschließungsortes oder das Gericht des Wohnsitzes oder des Nebenwohnsitzes einer oder beider Parteien oder das Gericht des Ortes, an dem die meisten Beweise tatsächlich zu erheben sind. Der Richter, der zu einem positiven Ergebnis gekommen ist, muss handeln und durch Dekret baldmöglichst die Klageschrift annehmen oder ablehnen,16 sonst macht er sich einer Rechtsverweigerung schuldig. In Ehesachen muss der Richter zur Überzeugung gelangt sein, dass die Ehe irreparabel gescheitert ist, so dass das eheliche Zusammenleben nicht wiederhergestellt werden kann.17 Der Richter ist frei von Weisungen,18 aber an ein geordnetes Verfahren gebunden, wie es in den kanonischen Normen oder in der Prozessordnung niedergelegt ist, dessen Außerachtlassung in wichtigen Dingen die Nichtigkeit seiner Amtshandlungen

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C. 1501 CIC/1983. Art. 2 RP. 13 Vgl. Art. 3 RP. 14 Art. 4 RP. 15 Vgl. c. 1504 CIC/1983; Art 15 RP. 16 Vgl. c. 1505 § 1 CIC/1983; c. 1676 § 1 MIDI. 17 C. 1675 MIDI. 18 Vgl. c. 1608 CIC/1983. 12

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zur Folge hat.19 Er ist an die gesetzlichen Beweisregeln gebunden. Diese sollen nicht zum Gängeln des Richters dienen, sondern wollen den Weg zum Finden der Wahrheit weisen, die dadurch nicht abgewürgt werden darf. Dem kirchlichen Richter eignet die äußere und innere Unabhängigkeit. Da der Bischof selbst Gerichtsherr ist und in Ehenichtigkeitssachen selbst entscheiden kann,20 hat er von Haus aus niemanden, der ihm Weisungen in einer Prozesssache erteilen könnte. Man kann zwar einwenden, dass die anderen kirchlichen Richter nicht die Festigkeit im Amt haben wie die staatlichen Richter, da sie nach c. 1422 CIC/ 1983 nur auf eine bestimmte Zeit ernannt werden, aber ihre Beständigkeit kommt doch zum Ausdruck, da nach c. 1420 § 5 CIC/1983 das Amt des Gerichtsvikars und seiner Helfer bei Sedisvakanz nicht erlischt und diese vom Diözesanadministrator nicht ihres Amtes enthoben werden können. Auch der Diözesanbischof kann sie nach c. 1422 CIC/1983 nur aus einem rechtmäßigen und schwerwiegenden Grund ihres Amtes entheben, wozu Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung oder andere Dienstvergehen zählen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass für den kirchlichen Richter besondere Anforderungen bezüglich seiner kanonistischen Kenntnisse bestehen. Sowohl der Gerichtsvikar und der Vizeoffizial als auch die Diözesanrichter haben Doktoren oder wenigstens Lizentiaten des kanonischen Rechts zu sein.21 Nach Art. 8 § 1 RP hat der Diözesanbischof dafür Sorge zu tragen, dass eventuell durch Fort- und Weiterbildungskurse Personen ausgebildet werden, die in dem zu errichtenden Gericht für Ehesachen ihren Dienst zu leisten vermögen. Für den Richter gelten die Prinzipien der Unparteilichkeit und der Unbefangenheit, d. h. auch der inneren Unabhängigkeit. Der Richter darf keine Partei bevorzugen oder benachteiligen. Deshalb verbietet das kirchliche Gesetz die Annahme irgendwelcher Geschenke;22 und jedes gesetzwidrige Verhalten wird neben der Verpflichtung zum Schadenersatz unter Strafe gestellt.23 Mit einer Strafandrohung wendet sich c. 1386 CIC/1983 gegen jene, die richterliche und nicht-richterliche Amtspersonen durch Bestechung zum Amtsmissbrauch verleiten. In eigener Sache ist der Richter naturgemäß befangen. Deshalb gilt für ihn der eherne Grundsatz: „Nemo iudex in propria causa.“24 Daher darf der Richter in keiner

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Vgl. cc. 1425 § 1, 1437 § 1, 1433, 1603 § 3, 1620 u. 1622 CIC/1983. Vgl. c. 1673 § 1 MIDI; vgl. dazu Bernd Dennemarck, Der Diözesanbischof als „milder Richter“? Anmerkungen zum Motu Proprio Mitis Iudex Dominus Iesus, in: Markus Graulich/ Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione fideliium. FS Hallermann, Paderborn 2016, S. 273 – 285. 21 Cc. 1920 § 4 u. 1421 § 3 CIC/1983. 22 Vgl. c. 1456 CIC/1983. 23 Vgl. c. 1457 CIC/1983. 24 Vgl. C. 1; 2 C. 4 q. 4. 20

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Sache tätig werden, die ihn persönlich berührt, sei es wegen Verwandtschaft oder Schwägerschaft,25 sei es wegen Freundschaft oder Feindschaft. Um den Parteien die Möglichkeit der Ablehnung wegen Befangenheit zu geben, müssen ihnen die Namen der an dem Verfahren beteiligten Richter, auch des Vernehmungsrichters und der nicht-richterlichen Beamten mitgeteilt werden. Die Ablehnung wird im Weg der Einrede geltend gemacht und als Zwischenstreit auf schnellstem Weg entschieden.26 Das Prinzip der inneren Unabhängigkeit bindet den Richter auch in Verfahren zur Ehenannullierung, d. h. der Richter darf nicht aus Mitleid mit den Ehepartnern oder aus pastoralen Erwägungen die kirchlichen Normen außer Acht lassen oder aus Milde ein falsches Urteil fällen. Darum mahnt Papst Franziskus in der Einführung zu seinem Motu proprio als Prinzip an, dass der mögliche Einzelrichter, der vom Bischof eingesetzt wird und Kleriker sein muss, „bei der pastoralen Ausübung der eigenen richterlichen Gewalt sicherstellen muss, dass man in keinerlei Laxismus verfalle.“27 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gilt, wie bereits gesagt, auch für den kirchlichen Richter. Das heißt, dass er an keinerlei Weisung anderer gebunden, sondern nur dem Recht und seinem Gewissen unterworfen ist. C. 1608 § 1 CIC/1983 verlangt, dass der Richter bei der Fällung des Urteils die moralische Gewissheit über die zur Entscheidung stehende Sache haben muss, d. h. dass „jeglicher vernünftige positive Zweifel, eines Rechts- und Tatsachenirrtums ausgeschlossen ist, auch wenn die reine Möglichkeit des Gegenteils nicht ausgeschlossen werden kann.“28 Diese Gewissheit muss der Richter nach c. 1608 § 2 CIC/1983 dem entnehmen, was aufgrund der Gerichtsakten bewiesen ist. Er muss die Beweise nach seinem Gewissen würdigen, unbeschadet der gesetzlichen Vorschriften über die Wirksamkeit bestimmter Beweismittel nach c. 1602 § 3 CIC/1983. 2. In materieller Hinsicht Das Urteil des Richters ist ein Rechtsentscheid. Die Aufgabe des kirchlichen Richters besteht darin, die abstrakte Rechtsnorm auf einen konkreten Fall anzuwenden; Gesetz und Tatbestand bilden für ihn die Grundlagen für sein unparteiisches Urteil. Er hat das Gesetz zu kennen und den Tatbestand zu erheben. Dazu ist es notwendig, auch den Verklagten oder bei Eheverfahren die nichtklagende Partei zu hören.29 Der Grundsatz Audiatur et altera pars ist das erste Wesenselement des Gerichtsverfahrens. Daraus ergibt sich auch der Anspruch auf Beweisführung und Verteidigung. 25

Vgl. c. 1448 CIC/1983. Vgl. c. 1451 CIC/1983. 27 MIDI Fundamentalprinzip II. 28 Art. 12 RP. 29 Vgl. c. 1676 § 1 MIDI. 26

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Der Richter muss den Sachverhalt aufklären. Dies erfordert die Beachtung der Beweismittel. Der Richter darf also die von den Parteien angebotenen Beweis- und Verteidigungsmittel nicht zurückweisen. In Dingen, die das Allgemeinwohl angehen, ist er verpflichtet, alle Beweise zu erheben, die ihm selbst als notwendig erscheinen. In den Ehenichtigkeitsverfahren können gemäß c. 1678 §1 MIDI „das gerichtliche Geständnis und die Erklärungen der Parteien – möglicherweise gestützt durch Zeugen zur Glaubwürdigkeit derselben Parteien – volle Beweiskraft haben, was vom Richter unter Abwägung aller Indizien und Beweisstützen zu beurteilen ist, sofern nicht andere Elemente hinzukommen, die sie abschwächen.“ Nach § 2 desselben Canons kann die Aussage eines einzigen Zeugen den Beweis erbringen, „wenn es sich um einen qualifizierten Zeugen handelt, der über von ihm amtlich behandelte Dinge aussagt, oder bei dem die sachlichen und persönlichen Umstände dies nahelegen.“ Und nach § 3 dieses Canons hat sich „in Prozessen mit dem Klagegrund des geschlechtlichen Unvermögens oder des Konsensmangels wegen Geisteskrankheit oder der Anomalie psychischer Natur […] der Richter der Hilfe eines oder mehrerer Sachverständiger zu bedienen, sofern dies aufgrund der Umstände nicht offenkundig als zwecklos erscheint.“ Hinsichtlich der Rechtskraft ist beim kirchlichen Richter nach seinem Urteil seine Instanz erschöpft. Er kann über sein Urteil in den Sachfragen nicht mehr verfügen; es erwächst in Rechtskraft. Es tritt die gehobene Rechtsvermutung ein, dass es wahr und gerecht ist. Das Verfahren ist zunächst abgeschlossen; das Urteil schafft Recht zwischen den Parteien oder stellt die Nichtigkeit einer Eheschließung fest. Das Urteil kann dann vollzogen werden.30 Fühlt sich eine Partei durch das Urteil beschwert oder wird ein Fehlurteil vermutet, so besteht das Recht auf Berufung in der Voraussicht, dass ein höheres, mit größerer Richterzahl besetztes und darum weniger irrtumsfähiges Gericht das Rechte erkennen wird.

IV. Milde im Gerichtswesen Nach der grundlegenden Einteilung des c. 1400 CIC/1983 zerfällt das gemeingerichtliche Verfahren in zwei Hauptarten, in das Streitverfahren (iudicium contentiosum) und in das Strafverfahren (processus poenalis). 1. Das Streitverfahren (iudicium contentiosum) Das gemeingerichtliche Streitverfahren dient dem gerichtlichen Schutz gefährdeter oder verletzter Rechts- und Besitzverhältnisse physischer oder juristischer Personen sowie der Feststellung rechtlich erheblicher Tatbestände, die diese Personen an30 Nach dem MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ kann ein Urteil der ersten Instanz, das die Nichtigkeit der Ehe festgestellt hat, vollzogen werden, wenn keine Berufung eingelegt worden ist; es bedarf keiner zweiten Instanz (vgl. c. 1679 MIDI).

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gehen.31 Damit ist jedwedes Recht mit der gemeingerichtlichen Klage geschützt, wenn das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes vorsieht. So können alle streitigen Sachen Gegenstand der gerichtlichen Klage sein. Die Vermutung spricht für den gerichtlichen Schutz. Zu den Angelegenheiten, bei denen es um die Erforschung der Wahrheit geht, zählen die Gültigkeit von bestimmten Sakramenten und der damit verbundene Status einer Person. So hat der Gesetzgeber für Verfahren, die die Gültigkeit der Eheschließung zu prüfen haben, eigene Verfahrensnormen erlassen.32 Der gemeingerichtliche Eheprozess hat es mit der Frage zu tun, ob ein Ehevertrag wegen behaupteter Mängel nichtig ist oder nicht. Es handelt sich mithin um eine Nichtigkeitsklage. Im Weiheprozess des geltenden Rechts geht es nur um die Nichtigkeit der Weihe selbst und indirekt um den daraus folgenden juristischen Status einer Person.33 In allen diesen Verfahren geht es um die Feststellung von Tatsachen, also um das Finden des Wahren und Gerechten. Hier hat Milde wohl keinen Platz, was aber nicht heißt, dass mit den Parteien in inhumaner und unchristlicher Strenge umgegangen werden soll. Sie haben ein Anrecht auf die pastorale Sorge der Amtsträger der Kirche. Diese schließt aber nicht aus, dass mit Sorgfalt die Wahrheit gesucht wird.

2. Das Strafverfahren (processus poenalis) Obgleich der kirchliche Strafprozess34 im geltenden Recht gegenüber dem CIC/ 1917 eine Verbesserung erfahren hat, kommt er in der Praxis kaum vor. Dies mag daran liegen, dass der Gesetzgeber damit rechnet, dass eine Strafsache nach Möglichkeit schon im Vorfeld des Prozesses durch Maßnahmen des Ordinarius bereinigt werden kann und deshalb nicht bis zum Richter kommen muss.35 Letztlich entscheidet der Ordinarius, ob auf dem gemeingerichtlichen Weg oder auf dem Verwaltungsweg vorgegangen werden soll.36 Er kann aber den Verwaltungsweg nur wählen, wenn die Straftat sicher feststeht und die Strafklage nicht verjährt ist.37 In Übereinstimmung 31 C. 1400 § 1 CIC/1983; vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 403 – 529; Elmar Güthoff, Das Streitverfahren, in: HdbKathKR3, S. 1673 – 1686. 32 Cc. 1671 – 1707 CIC/1983; dazu PCLT, Instr. servanda a tribunalibus dioecesanis et interdioecesanis in pertractandis causis nullitatis matrimonii „Dignitas Connubii“ (25. 01. 2005), Città del Vaticano 2005. Diese Normen wurden geändert durch das MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (Anm. 1). 33 Vgl. cc. 1708 – 1712 CIC/1983; vgl. Yves Kingata, Die Weiheverfahren, in: HdbKathKR 3, S. 1722 – 1732. 34 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 579 – 587; Stefan Ihli, Die Strafverfahren, in: HdbKathKR3, S. 1733 – 1748. 35 Vgl. c. 1341 CIC/1983. 36 Vgl. c. 1718 § 1, 38 CIC/1983. 37 C. 1720, 38 CIC/1983.

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mit der früheren Lehre ist heute wohl unbestritten, dass die Verhängung der schwersten Strafen notwendig ein gemeingerichtliches Verfahren erfordert. So fordert c. 1342 § 2 CIC/1983: „Strafen für immer können nicht durch Dekret verhängt oder festgestellt werden, auch nicht Strafen, für die eine Verhängung durch Dekret in dem diese Strafen festsetzenden Gesetz oder Verwaltungsbefehl verboten ist.“ Diesem Grundsatz, dass die schwersten Strafen nur auf dem gemeingerichtlichen Weg verhängt werden dürfen, widerstreiten die Kompetenzen, die die Glaubenskongregation hat in Bezug auf Straftaten gegen den Glauben und über Strafftaten gegen die Sitten und solche, die bei der Feier der Sakramente begangen werden. „Sie kann nach Maßgabe des allgemeinen Rechts oder ihres eigene Rechts kanonische Strafen feststellen oder verhängen.“38 Wenn hier sehr schwere Strafen, wie Exkommunikation, Interdikt, Suspension oder Entlassung aus dem geistlichen Stand verhängt werden, wäre das gemeingerichtliche Verfahren angezeigt. Ähnlich verhält es sich mit den Sondervollmachten, die die Kleruskongregation in Bezug auf die Entlassung von Priestern aus dem Klerikerstand erhalten hat.39 Das Strafverfahren besteht aus zwei grundlegenden Komponenten: der Erhebung des Straftatbestandes durch Beweise und die Strafverhängung. Bei der Feststellung der Straftat ist die Wahrheit zu ergründen, damit niemand ungerecht verurteilt wird. Hier ist zunächst nicht Milde angesagt, aber das Vorgehen muss so geschehen, dass der Ruf der beschuldigten Person nicht unnötig verletzt und in der Öffentlichkeit beschädigt wird. Was das Strafurteil oder die Strafzumessung betrifft, ist Milde durchaus ein wichtiger Faktor. So kann der Richter gemäß c.1343 CIC/1983 nach seinem Gewissen und klugem Ermessen eine Strafe mildern oder an ihrer Stelle eine Buße auferlegen, wenn Gesetz oder Verwaltungsbefehl dem Richter die Vollmacht geben, eine Strafe zu verhängen oder nicht. Ebenso kann er nach c. 1344 CIC/1983 die Strafverhängung auf eine günstigere Zeit verschieben, wenn durch eine übereilte Bestrafung ein größeres Übel entstehen könnte. Er kann auch von der Verhängung einer Strafe absehen oder eine mildere Strafe verhängen, „wenn der Schuldige gebessert ist und das Ärgernis behoben hat oder er hinreichend von einer weltlichen Autorität bestraft worden ist oder diese Bestrafung vorauszusehen ist.“ Milde ist also angesagt, wenn der Strafzweck der Resozialisierung erreicht ist. Mit Milde kann auch rechnen, wer zum ersten Mal „nach einem untadeligen Leben straffällig geworden ist und keine Notwendigkeit drängt, ein Ärgernis zu beheben.“ Dazu sind bei der Strafzumessung nach c. 1324 § 1 CIC/1983 eine ganze Reihe von Strafmilderungsgründen zu beachten, z. B. geminderter Vernunftgebrauch, bei Minderjährigen, bei Furcht und Zwang, bei unverschuldeter Unkenntnis des Gesetzes oder des Verwaltungsbefehls usw. Ähnliche Tatbestände benennt auch c. 1345 CIC/1983, wo der Richter von jedweder 38

Art. 52 PastBon; vgl. Johannes Paul II., MP „Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis“ (30. 04. 2001). Das MP ist ohne die „Normae“ promulgiert in: AAS 93 (2001), S. 737 – 739; Neufassung vom 21. 05. 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430. 39 Vgl. C Cler, Schreiben vom 18. 04. 2009 (Prot.N. 2009 0556). Das Schreiben ist nicht veröffentlicht.

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Bestrafung absehen kann, wenn er der Überzeugung ist, auf andere Weise könne eine Besserung des Straftäters eher gefördert werden. In der Strafgerichtsbarkeit ist also dem Richter ein weites Feld eröffnet, Milde walten zu lassen. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass es nach c. 1326 CIC/1983 auch Gründe zur Strafverschärfung gibt, z. B. wenn der Straftäter in seinem strafwürdigen Verhalten verharrt, wenn er sich in einer höheren Stellung befindet oder seine Autorität oder sein Amt zum Begehen einer Straftat missbraucht hat oder wenn er Vorsichtsmaßnahmen unterlassen hat. Deshalb sollte es auch nach der Auffassung von Papst Johannes Paul II. gegenüber Priestern, die Minderjährige missbraucht haben, keine Toleranz und keine Milde geben.

V. Strenge und Milde Diese Überlegungen zeigen, dass es für den kirchlichen Richter nicht nur darum geht, die Gesetze akkurat und formalistisch anzuwenden, sondern dem Einzelfall gerecht zu werden. Dabei gilt auch für ihn der Grundsatz des c. 1752 CIC/1983, dass das Heil der Seelen „in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss.“ Zugleich verweist der c. 1752 CIC/1983 auf ein tragendes Prinzip der kanonischen Rechtsordnung, nämlich auf die aequitas canonica,40 die Strenge und Milde bedeuten kann und die nicht nur das Urteil des kirchlichen Richters, sondern jedes Handeln in der Kirche bestimmen soll.

40 Zur aequitas canonica s. Hubert Müller, Art. Aequitas canonica, in: LexKR, Sp. 24 – 26; Thomas Schüller, Art. Aequitas canonica, in: LKStKR 1, S. 35 f.; ders., Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie (= FzK 14), Würzburg 1993.

Burchard von Worms (1000 – 1025) und die Entwicklung des kirchlichen Strafrechts Von Lotte Kéry Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms (ca. 1012 – 1022), eine der wichtigsten kirchenrechtlichen Sammlungen aus der Zeit vor dem „Decretum Gratiani“ (ca. 1140), enthält auch zahlreiche Bestimmungen, die man dem Strafrecht zuordnen kann und die auf die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit durch den Bischof hindeuten. Dabei stellt sich jedoch die Frage nach der Abgrenzung – zum einen gegenüber einer weltlichen Strafgerichtsbarkeit, die nach gängiger Forschungsmeinung im früheren Mittelalter nur sehr rudimentär ausgeprägt war, und zum anderen gegenüber dem kirchlichen Bußwesen, das selbst bei schweren Vergehen, solange sie nicht öffentlich geworden waren, in der Zuständigkeit des Pfarrpriesters lag. Als Sanktion im Rahmen der bischöflichen Strafgerichtsbarkeit wurde in erster Linie die paenitentia publica, deren Rekonziliation dem Bischof vorbehalten war, durch entsprechende Beugestrafen erzwungen, wie etwa durch die Exkommunikation oder das Anathem, aber auch mit Hilfe der weltlichen Gewalt, etwa durch Enteignung oder Exil.1 Von zentraler Bedeutung für die Ausübung einer kirchlichen Strafgerichtsbarkeit durch den Bischof des früheren Mittelalters ist das Sendgericht.2 In neueren Beiträgen wurde betont, dass die Entstehung der Sendgerichtsbarkeit im 9. Jahrhundert mit einem neuen Selbstbewusstsein der Bischöfe seit dem Konzil von Paris 829 in Verbindung stehe sowie mit ihrem Bestreben stärker in die einzelnen Gemeinden hineinzuwirken.3 Das Sendgericht war indessen kein Strafgericht im heutigen Sinne, sondern verfolgte in einem umfassenderen Rahmen Verstöße gegen die Vorschriften zur

1 Vgl. dazu mit weiteren Hinweisen Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln/ Weimar/Wien 2006, S. 37 – 50 („Die paenitentia publica als Element des kirchlichen Strafrechts“). 2 Zur Bedeutung und Einordnung des Sendgerichts mit Blick auf das kirchliche Strafrecht und eine weltliche Strafgerichtsbarkeit vgl. auch Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 16 – 118. 3 Vgl. dazu mit weiteren Hinweisen jetzt Stefan Dusil, Zur Entstehung und Funktion von Sendgerichten. Beobachtungen bei Regino von Prüm und in seinem Umfeld, in: Matthias Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, 3. Bd., Wien/Köln/Weimar 2012, S. 369 – 409. Der Begriff Wandergericht ist in in diesem Zusammenhang jedoch unpassend.

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christlichen Lebensführung, wozu die Verhandlung von Zehntsachen4 genauso gehören konnte wie die Durchsetzung des Sonntagsgebotes oder Vergehen, die nach heutiger Vorstellung als Strafdelikte gelten, wie Mord und Totschlag, Diebstahl und Raub. Auch nach Ausweis der Kirchenrechtssammlung des Bischofs Burchard von Worms nahm das Sendgericht eine zentrale Stellung für die Ausübung der bischöflichen Gerichtsbarkeit ein. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten an der Übernahme des Sendordo mit den fast 90 Fragen zum Laiensend aus dem Sendhandbuch des Regino von Prüm5, das als wichtigste Quelle für das bischöfliche Sendgericht des früheren Mittelalters gelten kann.6 Aber auch insgesamt stützte Burchard sich für die Zusammenstellung seines „Liber decretorum“ in besonderem Maße auf Reginos Sendhandbuch, dem er ca. 600 der ca. 1800 Kapitel seiner Sammlung entnahm und das gerade auch durch seine „Wiederverwertung“ in Burchards Dekret „seine bedeutsame Nachwirkung“ erfahren hat.7 Jedoch lassen sich auch Anhaltspunkte für eine Abgrenzung der Sendgerichtsbarkeit zum Bußwesen finden. So wird eine Unterscheidung zwischen den vom Sendgericht zu behandelnden Verstößen gegen die kirchliche Ordnung, den Sendsachen, und der Sünde im Allgemeinen bereits durch den Eidestext vorgegeben, den Regino für die Sendzeugen vorschlägt. Danach gehören die Sendsachen (synodales causae) in die Zuständigkeit des Bischofs.8 Vor allem jedoch in dem Kanon zur Durchführung 4

Vgl. dazu Albert Michael Koeniger, Die Sendgerichte in Deutschland, München 1907, S. 133; Franz Kerff, Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit bis zum Decretum Gratiani, in: ZRG.K 75 (1989), S. 23 – 57, hier S. 45. 5 Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, unter Benutzung der Edition von F. W. H. Wasserschleben, hrsg. u. übers. v. Wilfried Hartmann (= Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 42), Darmstadt 2004, hier S. 234 – 251, II, 1 – 5; Decr. Burch. I, 90 – 94 (hier zitiert nach folgender Ausgabe: Decretorum Libri XX, ergänzter Neudruck der editio princeps Köln 1548, hrsg. v. Gérard Fransen/Theo Kölzer, Aalen 1992), fol. 11r–14v. 6 Vgl. dazu auch Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 79 – 88. 7 Sendhandbuch (Anm. 5), S. 7. Burchard hat nach der Berechnung von Hartmann ca. 600 der 909 Regino-Kapitel – „fast zwei Drittel seines Werkes“ – in sein Dekret aufgenommen. „Über Burchards Dekret, von dem noch über 80 Handschriften aus dem 11.–13. Jahrhundert erhalten sind und das bis in Gratians Dekret (um 1140) einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kirchenrechts ausübte, hat Reginos Handbuch also weitergewirkt.“ (ebd.). 8 Regino II, 3 (Anm. 5), S. 236: „A modo in antea, quidquid nosti aut audisti aut postmodum inquisiturus es, quod contra Dei voluntatem et rectam Christianitatem in ista parochia factum est aut futurum erit, si in diebus tuis evenerit, tantum ut ad tuam cognitionem quocunque modo perveniat, si scis aut tibi indicatum fuerit, synodalem causam esse et ad ministerium episcopi pertinere.“; vgl. auch Decr. Burch. I, 92 – 93 (Anm. 5), fol. 11va–b. Der Sendeid wurde auch in das „Decretum Gratiani“ aufgenommen: C. 35 q. 6 c. 7. In Burchards Dekret wurde lediglich der konkrete Bezug auf den Bischof von Trier durch einen allgemeinen Hinweis auf den Bischof ausgetauscht; zum Inhalt vgl. auch Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 5. Bd., Berlin 1895, S. 427, Anm. 3: „[…] d. h. auf kirchliche Vergehen im Gegensatz zur Sünde.“; so auch Daniel

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der bischöflichen Visitation („Qualiter episcopus suam parochiam debet circumire“), der angeblich auf ein Konzil von Rouen zurückgeht, wird eine Abgrenzung zu den „minores et leviores causae“ vorgenommen, um deren correctio und emendatio sich die Priester zu kümmern hätten.9 Zur Begründung werden indessen allein praktische Gesichtspunkte angeführt, und zwar, dass der Aufenthalt des Bischofs in der betreffenden Gemeinde, der ja auch Kosten verursache, nicht unnötig verlängert und der Bischof durch die Behandlung solcher leichteren Vergehen nicht unnötig ermüdet werden soll. Regino hatte diesen Canon an den Anfang des zweiten Buches zum Laiensend gestellt, seine Quelle konnte jedoch ebensowenig wie eine Vorlage für die Kapitel II, 1 – 5, die einen Sendordo vorgeben, identifiziert werden.10 Deshalb wurde auch vermutet, dass es sich vielleicht um eine Eigenschöpfung Reginos handelt oder dieser Sendordo vielleicht aus einer entsprechenden Praxis der Bischöfe von Trier abgeleitet wurde.11 Auch im „Decretum Burchardi“ beginnt der Fragekatalog, der als Grundlage für die inquisitio des Sendgerichts dienen soll,12 mit 14 Fragen zu Tötungs- und Körperverletzungsdelikten (= ca. 1/6 der 88 bzw. 89 Sendfragen zum Laiensend insgesamt), die schon nach Reginos Anweisung als erste auf dem Laiensend behandelt werden sollten und damit auch als schwerste Vergehen eine besondere Bedeutung für das bischöfliche Sendgericht erhalten. Sie werden später noch durch weitere Fragen zu diesem Thema ergänzt.13 Ein deutlicher Anhaltspunkt für die Haltung Bischof Burchards von Worms ist auch in seinem Hofrecht, der „Lex familiae Wormatiensis ecclesiae“ (ca. 1023), zu finden, in dem er als kirchlicher Grundherr in einzigartiger Weise die vor allem auch im Rahmen des Fehdewesens überhandnehmenden Tötungsdelikte mit bisher ganz unüblichen Unrechtsfolgen, wie den auf Abschreckung zielenden Leibesstrafen, zu bekämpfen suchte. Dass diese Sanktionen auch in einem Diplom HeinLambrecht, De parochiale synode in het oude bisdom Doornik gesitueerd in de Europese ontwikkeling, 11de eeuw – 1559, Brüssel 1984, S. 14. 9 Regino II, 1 (Anm. 5), S. 234: „Deinde, adscitis secum presbyteris, qui illo in loco servitium debent exhibere episcopo, quidquid de minoribus et levioribus causis corrigere potest, emendare satagat, ut pontifex veniens nequaquam in facilioribus negotiis fatigetur, aut ibi immorari amplius necesse sit, quam expensa sufficiat.“; vgl. Decr. Burch. I, 90 (Anm. 5), fol. 11rb. 10 Regino II, 1 – 5 (Anm. 5), S. 234 – 253; vgl. Decr. Burch. I, 90 – 94 (Anm. 5), fol. 11rb–14va; vgl. Hartmut Hoffmann/Rudolf Pokorny, Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Textstufen – Frühe Verbreitung – Vorlagen (= MGH Hilfsmittel 12), München 1991, S. 176: „unidentifiziert […], erstmals faßbar bei Regino.“ 11 Entsprechende Hinweise enthalten die epistolae formatae in c. I, 450 u. 451; vgl. Regino (Anm. 5), S. 223 – 228 u. 20 (Praefatio) mit Anm. 3. 12 Decr. Burch. I, 94 (Anm. 5), fol. 11vb: „,Prima interrogatio episcopi aut eius missi‘. Est in hac parochia homicida, qui hominem aut spontanea voluntate, aut cupiditatis aut rapacitatis causa, aut casu, aut nolens, aut coactus, aut pro vindicta parentum, aut in bello, aut iussu domini, aut proprium seruum occiderit.“ 13 Decr. Burch., I, 94, interr. 74, 75, 79, 80, 81 (Anm. 5), fol. 14ra–b.

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richs II. von 1023 (DH II 501) genannt werden, deutet darauf hin, dass Burchard sich wohl zum einen das Einverständnis des Königtums für seine ungewöhnliche Maßnahme sichern wollte, zum anderen aber wohl auch die weltliche Gewalt zum Einschreiten gegen solche Tötungsdelikte drängte, denn auch die Initiative für diese Urkunde, deren Verfasser anscheinend aus dem Kreis der Wormser Kleriker stammte, ist wohl Burchard zuzuschreiben.14 Seiner „rechtsschöpferischen Kraft“ wurde es zugeschrieben, dass man versuchte eine „manifeste Konfliktflage durch eine Neuordnung des zur Verfügung stehenden Instrumentariums unter Kontrolle zu bringen“.15 Dass es sich hierbei um ein besonderes Anliegen des Bischofs von Worms handelte, zeigt sich auch in seiner kirchenrechtlichen Sammlung, dem „Liber decretorum“. Der Bischof tritt hier im Rahmen der Sendgerichtsbarkeit als zuständige Instanz dafür in Erscheinung, dass die Tötung und schwere Verletzung von Menschen in den einzelnen Pfarreien nicht ungesühnt bleibt. Darauf deutet nicht nur die vollständige Übernahme der detaillierten Sendfragen zu Tötungs- und Körperverletzungsdelikten aus Reginos Sendhandbuch hin, die auch die unterschiedlichen Schuldformen, Beweggründe und Begehungsformen berücksichtigen, sondern auch die Einfügung eines eigenen Buches „De homicidiis“ in sein Dekret, in dem die Bestimmungen zusammengestellt wurden, die das Vorgehen der bischöflichen Gerichtsbarkeit bei Vergehen gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen begründen und anleiten sollten. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem die neuen Texte, die Burchard hier ohne bisher identifizierbare Vorlagen einfügte sowie die grundlegenden inhaltlichen Veränderungen, die er an seinen Vorlagen anbrachte – ein Vorgehen, das ihm sogar den Vorwurf der Fälschung eingetragen hat.16 Wie Hartmut Hoffmann und Rudolf Pokorny bei ihren eingehenden paläographischen und kodikologischen Untersuchungen zu den verschiedenen Entstehungsstufen des Dekrets feststellten, hat Burchard auch insgesamt „an seinem Dekret anscheinend immer aufs neue gefeilt.“17 So wurden etwa in einer dritten oder vierten Entstehungsstufe allein in dem von ihnen als älteste vollständige Überlieferung des Dekrets identifizierten Doppelcodex Vaticanus Palatinus lat. 585 und 586 (= V) und zum Teil auch gleichzeitig mit dem Frankfurter Codex, Stadt- und Universitätsbi14

Vgl. dazu mit den entsprechenden Nachweisen Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 90 – 92. Dietmar Willoweit, Unrechtsfolgen in Hof- und Dienstrechten des 11. und 12. Jahrhunderts. Mit einer Anmerkung zum Verhältnis von geistlicher Buße und weltlicher Sanktion vor der Ausbreitung des peinlichen Strafrechts, in: Norbert Brieskorn/Paul Mikat/Daniela Müller/ ders. (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. FS Trusen (70) (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 72), Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 109 – 127, hier S. 115; vgl. Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 91. 16 S. dazu unten Anm. 35; zum Problem der Fälschung bei Burchard vgl. auch Hoffmann/ Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 158 f.; Greta Austin, Shaping Church Law Around the Year 1000. The Decretum of Burchard of Worms, Farnham 2009, S. 208 – 221: „Was Burchard a Forger?“ 17 Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 58. 15

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bliothek, Barth. 50 (= F) am Ende der Bücher noch einmal Nachtragskapitel hinzugefügt. Als solche Nachträge dürfen im Buch VI („De homicidiis“) die Kapitel 46 – 49 gelten,18 die sowohl in der „Capitulatio“ als auch im Textcorpus des Vaticanus Pal. lat. 585 und der Frankfurter Handschrift später hinzugefügt wurden.19 Ziel des vorliegenden Beitrags soll es jedoch sein, die noch in einer frühen Entstehungsphase des Dekrets20 nach bisher unbekannten Vorlagen ergänzten und deutlich veränderten Kapitel des VI. Buches einer inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Analyse zu unterziehen, um aus diesen Beispiele mögliche Vorstellungen des Wormser Bischofs im Hinblick auf die Entwicklung des kirchlichen Strafrechts abzuleiten.

I. Die Tötung von Bischöfen und anderen geweihten Personen (Decr. Burch. VI, 5 und VI, 6) Große Bedeutung misst Burchard offenkundig einem wirkungsvolleren Vorgehen gegen die Tötung von Bischöfen und anderen geweihten Personen bei. Gleich zu Anfang des VI. Buches schließt er unter der Rubrik „De homicidiis, et calumniis episcoporum, et reliquorum ordinum“ zwei entsprechende Kapitel unmittelbar an jene vier Kapitel an, die er den ausführlichen Bußbestimmungen für die vorsätzliche Tötung eines Menschen gewidmet hatte (Decr. Burch. VI, 1 – 4). Dazu greift er die beiden Teile einer sehr umfangreichen und mit ihren Einzelbestimmungen auch sehr detaillierten „Doppelfälschung“ auf, die von Hoffmann und Pokorny als „Ps.-Thionville, Konzilsakten“ und „Ps.-Thionville, Kapitular“ bezeichnet werden und unter dem Titel „Concilium et capitulare de clericorum percussoribus“ in den MGH Capitularia ediert wurden.21 Beide Texte dokumentieren, wenn auch mit entsprechenden Schwerpunktverlagerungen, Beschlüsse für ein gemeinsames Vorgehen von Bischöfen und Herrschern gegen solche Missetäter, die sich Übergriffe gegen Leib und Leben von Bischöfen

18 Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 46: „Buch VI: In V [Vaticanus Pal. lat. 585 – 586] sind die cc. 46 – 49 der Capitulatio von Hand B [Frankfurt, Barth. 50] und einer weiteren Hand nachgetragen worden, […].“ 19 Vgl. dazu Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 46: „Die cc. 47 – 49 [des VI. Buches] sind überhaupt als allerletzte ins Dekret aufgenommen worden, denn sie sind selbst in dem Bamberger Codex, der ja sonst eine glatte Abschrift bietet und von der vorausgegangenen Umgestaltung des Texts nichts ahnen läßt, als Nachträge zu erkennen.“ 20 Mangels einer kritischen Edition des „Liber decretorum“ werden hier für den Textvergleich der von Gérard Fransen und Theo Kölzer herausgegebene Faksimiledruck der Editio princeps, Köln 1548 (Anm. 5), sowie die bereits genannte Hs. Vaticanus Pal. lat. 585 – 586 zugrunde gelegt. 21 Concilium et capitulare de clericorum percussoribus, ed. v. Alfred Boretius, MGH Capitularia regum Francorum 1, Hannover 1883, S. 359 – 362, Nr. 176.

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und anderen geweihten Personen zuschulden kommen lassen.22 Je nach Weihegrad des Opfers wird sowohl die zeitliche Dauer der kirchlichen Buße als auch die Höhe der gleichzeitig zu entrichtenden weltlichen Buße, des Wergeldes (compositio), und des Banngeldes (bannus episcopalis) gestaffelt. Zudem wird im Hinblick auf Subdiakone, Diakone und Priester die Höhe der geistlichen und weltlichen Buße sowie des Banngeldes noch zusätzlich danach unterschieden, ob eine Tötung begangen wurde oder eine Verletzung, von der sich das Opfer wieder erholt hat (conualuerit). Entscheidend ist dabei, dass nicht nur die Banngelder, die als Bischofsbann dem Bischof zu entrichten waren, sondern auch die Wergelder (compositiones) sowohl nach Aussage des Konzilstextes als auch des Herrscherkapitulars in vollem Umfang an den Bischof gehen sollen. Dass dies nicht selbstverständlich war, zeigt eine entsprechende Bestimmung des Konzils von Tribur (895), die eine Dreiteilung der compositio für einen Priester vorsieht: „precium weregeldi tripartita partiatur divisione; id est: altari, cui ordinatus fuerat, pars una, episcopo, in cuius diocesi erat, altera, tertia parentibus, de quibus orta fuerat.“23 Hier werden also mit einem weiteren Drittel des Wergeldes nicht nur der Altar, dem der Priester zugeordnet war, sondern auch die Verwandten des getöteten Priesters bedacht. Möglicherweise geht die übliche Vorgehensweise jedoch eher aus einer Bestimmung der sog. „Capitula a Benedicto Levita singillatim tradita“ (I, 186) hervor, die schon bei Regino (II, 41) und Burchard selbst (VI, 11) zu finden ist, später aber auch von Bernhard von Pavia für seine „Breviarium“ (1 Comp. 5.32.2) übernommen wurde und von dort in den „Liber Extra“ (X 5, 37, 2) gelangte. Dort heißt es, dass die compositio für einen getöteten Priester zwar dem Bischof zukomme, zu dessen Diözese er gehörte, jedoch in der Weise, dass die eine Hälfte der Kirche zugeteilt werde, der er vorgestanden habe, die andere Hälfte aber als Almosen für sein Seelenheil gerecht zu verteilen sei, denn niemand scheine ihm als Erbe näher zu stehen als derjenige, der ihn „dem Herrn zugesellt hat“24. Wie die Forderung nach der Zahlung des bannus episcopalis im Konzilstext zeigt,25 wird der Bischof hier nicht nur als Empfänger des Wergeldes in seiner Eigen22

Decr. Burch. VI, 5 u. 6 (Anm. 5), fol. 101rb–102rb. Concilium Triburiense 895, ed. v. Alfred Boretius/Victor Krause, MGH Capitularia regum Francorum 2, Hannover 1897, S. 196 – 249, Nr. 252, S. 215 – 216, c. 4, hier S. 215. 24 Vgl. dazu auch Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 476 – 480 (mit den entsprechenden Nachweisen). 25 Z. B. für den Fall des Priesters: Decr. Burch. VI, 5 (Anm. 5), fol. 101vb: „Si quis presbyterum calumniatus fuerit, et spassauerit, sex Quadragesimas sine subditis annis poeniteat, et Dc. solidos cum triplici sua compositione, et episcopalibus bannis triplicibus episcopo componat. Si autem mortuus fuerit, duodecim annorum poenitentia secundum canones ei imponatur, et DCCCC. solidos cum triplici compositione sua, et episcopalibus bannis triplicibus componat.“; vgl. dazu auch den entsprechenden Text des Kapitulars, in dem die Zahlungen an den Bischof nicht genauer spezifiziert werden: Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 102ra: „Si presbyterum quis male tractauerit, et spassauerit, secundum eius episcopi sententiam poeniteat, et DCCCC. solidos episcopo componat. Si autem mortuus fuerit, ut synodus diiudicauerit poeniteat, et mille CC. solidos episcopo componat.“ 23

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schaft als Repräsentant der durch den Tod oder die Verletzung des Klerikers geschädigten Kirche dargestellt. Darüber hinaus gilt er auch als der für diesen Fall zuständige Inhaber einer vom König abgeleiteten öffentlichen Gerichtsgewalt, dem in solchen Fällen das Banngeld zusteht. Im Kapitular wird der Bischof zudem als derjenige angesprochen, dem hinsichtlich der hier festgehaltenen kirchenrechtlichen Bestimmungen und herrscherlichen Beschlüsse (decreti nostri sanctionibus) Gehorsam zu leisten sei und vor dessen Gericht man bei Strafe zu erscheinen habe.26 Dieser bischöflichen Gerichtsbarkeit wird durch die anschließende herrscherliche Strafandrohung nachhaltige Unterstützung gewährt. Demjenigen, der ihr in den vorliegenden Fällen nicht Folge leistet, wird nicht nur das kirchliche Strafurteil angedroht (primum canonica sententia feriatur), sondern zugleich auch schwerwiegende weltliche Strafmaßnahmen: Er soll im gesamten Reich (in nostro regno) keine Lehen mehr innehaben und seine Eigengüter sollen mit dem Bann belegt sowie nach Jahr und Tag dem Fiscus zugeschlagen werden (ad fiscum nostrum redigatur). Nach seiner Ergreifung soll er ins Exil verwiesen werden und so lange dort in Haft bleiben (custodiatur et constringatur), bis er unter diesem Zwang (coactus) Gott und seiner heiligen Kirche Wiedergutmachung geleistet hat.27 Auch in der Kasuistik der verschiedenen Vergehen und ihrer Ahndung nehmen die Bischöfe eine Sonderstellung ein: Zum einen durch die Ausweitung der Vergehen auf die Ergreifung und Festsetzung (comprehenderit) sowie auf die Beleidigung (dehonestaverit) von Bischöfen, zum anderen aber auch durch die weiter gesteigerte Höhe der kirchlichen Bußen und des Wergelds.28 Für den Fall der Tötung eines Bischofs verlautet dagegen im Konzilstext nichts von einem Wergeld oder einem Banngeld wie dies für die Inhaber der anderen Weihegrade vorgesehen war, sondern es wird nur die kirchliche Buße für den Täter (homicida) angesprochen, die mit dem Rat der Komprovinzialbischöfe des Getöteten festgelegt werden soll, falls es sich um eine fahrlässige (casu et non sponte) Tötung handelt. Hier klingt an, dass man die genaueren Umstände der Tat bei der Bestimmung des Bußmaßes zu berücksichtigen 26 Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 102rb: „Et hoc de nostro adiecimus, ut si quis in his supradictis sanctorum canonum nostrique decreti sanctionibus episcopis inobediens et contumax extiterit, primum canonica sententia feriatur: Deinde in nostro regno beneficium non habeat, et alodis eius in bannum mittatur, et si annum unum et diem in nostro banno permanserit, ad fiscum nostrum redigatur, et captus in exilium religetur, et ibi tam diu custodiatur et constringatur, donec coactus Deo et sanctae Ecclesiae satisfaciat, quod prius gratis facere noluerat.“ 27 Vgl. dazu das Zitat in Anm. 26. 28 So heißt es im Konzilstext, dass alle Anschläge (insidiae) auf einen Bischof, sei es eine Gefangennahme (comprehenderit) oder auch nur eine Ehrverletzung (dehonestaverit) mit einer 10-jährigen Buße (decem Quadragesimas cum subditis annis) zu sühnen sei sowie mit der dreifachen compositio eines getöteten Priesters (vgl. Decr. Burch. VI, 5 [Anm. 5], fol. 101rb). Im Kapitular ist dagegen für diesen Fall nur allgemein von einer Buße „secundum canonum statuta“ und dem dreifachen Wergeld eines nicht getöteten Priesters die Rede, zugleich wird jedoch auch auf die Rechtsansprüche verwiesen, die im vorherigen Kapitel anscheinend beschrieben und bestätigt worden seien („cum iustitiis quae in superiori capitulo scriptae et confirmatae esse videntur“ [Decr. Burch. VI, 6, fol. 102ra–b]).

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gedenkt. Dies gilt jedoch nicht im Fall einer vorsätzlichen Tötung, hier steht die Buße fest: der Täter soll zeit seines Lebens weder Fleisch essen noch Wein trinken, er soll den Rittergürtel ablegen und für immer ohne Hoffnung auf eine Ehe bleiben.29 Für die vorsätzliche Tötung eines Bischofs wird im Kapitular dagegen lediglich auf die Beschlüsse der in Thionville versammelten Bischöfe verwiesen sowie auf die Zustimmung des Herrschers und der Fürsten ganz Germaniens und Galliens für die dort festgelegte kirchliche Buße.30 Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass Burchard hier einen in der Vorlage nicht vorhandenen Zusatz anbringt, der offenbar auch die Zahlung der Wergelder und Banngelder durch den Täter sicherstellen sollte, denn dort heißt es, dass der Täter auch das Geld zahlen solle, das „von uns“ (d. h. vom Herrscher und seinen fideles) der „verwitweten“ Kirche zugestanden worden sei: „[…] et pecuniam a nobis concessam Ecclesiae viduatae persoluat.“31 Eine entsprechende Passage war in seiner Vorlage lediglich im einleitenden Teil des Konzilstextes zu finden.32 Burchards Quelle für diese beiden umfangreichen Kapitel (VI, 5 u. 6), die ein gemeinsames Vorgehen kirchlicher und weltlicher Organe mit deutlich erhöhten Wergeldern33 für die Tötung und Verletzung von Bischöfen und anderen geweihten Personen postulieren, wurde aufgrund innerer Unstimmigkeiten schon früh als (Doppel-)Fälschung erkannt.34 Es wurde sogar vermutet, dass es der „so oft fröhlich fälschende Burchard“ selbst gewesen sei,35 der mit dem Pseudokonzil und dem Pseudokapitular von Thionville nicht nur gefälschte Kapitel in sein Dekret aufgenommen, sondern sie überhaupt erst in die Überlieferung eingeführt habe.36 Dagegen hat Gerhard Schmitz zu bedenken gegeben, wie unwahrscheinlich es sei, dass Burchard, der Kapitularien gerne mit falschen Inskriptionen versehe und sie in der Regel kirchlichen Autoritäten zuord-

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Decr. Burch. VI, 5 (Anm. 5), fol. 101rb. Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 102ra–b: „[…] a primatibus totius Germaniae et Galliae, benigna collaudatione collaudatum est.“ 31 Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 102rb; vgl. dagegen Concilium et capitulare, MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 362, Z. 10 – 12 mit Anm. k). Dieser Zusatz fehlt auch in der von Baluze benutzten Hs. Vaticanus Pal. lat. 583. 32 MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 360, Z. 46 – S. 361, Z. 1: „[…] ut praefatae res per pecuniam ab imperatoribus et a sibi sacerdotibus ad defensionem concessam, et per poenitentiam determinentur episcoporum iuditio […].“; s. dazu unten Anm. 48. 33 Vgl. dazu die Einleitung zur Edition, MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 360. 34 Vgl. MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 359 f.; ausführlich dazu Gerhard Schmitz, Die Waffe der Fälschung zum Schutz der Bedrängten? Bemerkungen zu gefälschten Konzils- und Kapitularientexten, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986, Teil II: Gefälschte Rechtstexte – Der bestrafte Fälscher, Hannover 1988, S. 79 – 110, hier S. 94 – 110, bes. S. 100 – 106. Den „endgültigen Fälschungsbeweis“ führte Georg Phillips, Die große Synode von Tribur, in: SB Wien 49 (1865), S. 713 – 784, hier S. 755 – 759. 35 Emil Seckel, Zu den Acten der Triburer Synode 895, in: NA 18 (1893), S. 380. 36 Vgl. Schmitz, Waffe der Fälschung (Anm. 34), S. 106. 30

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ne, auf die Idee gekommen sein sollte, selbst ein Kapitular zu fälschen.37 Dieses Argument verfängt hier jedoch möglicherweise nicht, da Burchard das zweite der beiden Kapitel (VI, 6) in seiner Inskription als ein Capitulare ecclesiasticum anspricht,38 das bei Tribur von Karl (dem Großen?) mit Zustimmung der Großen Galliens und Germaniens erlassen worden sei. Er lässt es also durchaus als ein Herrscherkapitular gelten, auch wenn er es im Unterschied zur übrigen Überlieferung zugleich als erstes Kapitel eines Konzils von Tribur bezeichnet und es damit in den kirchlichen Rechtskreis einbezieht.39 Auszuschließen ist Burchards eigene Fälschertätigkeit hier jedoch vor allem aufgrund der Überlieferung. Inzwischen wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die beiden ältesten Handschriften, welche die „Doppelfälschung“ (Gerhard Schmitz) unabhängig von Burchards Dekret vollständig überliefern – die Hs. Gotha, Forschungsbibliothek I, 84 und der Codex Vaticanus Palatinus lat. 583 – älter sind als das „Decretum Burchardi“, was wohl „eher gegen eine Komposition Burchards spricht als für sie“40. Für seine kritische Edition des „Concilium et capitulare de clericorum percussoribus“ von 1883 hatte Alfred Boretius unter anderem auch die Version des „Decretum Burchardi“ miteinbezogen.41 Dabei zeigt sich, dass diese aufgrund ihrer Varianten der Fassung im Druck von Baluze am nächsten kommt,42 der angibt, einen „codex vetustissimus Vaticanus“ anhand von Kollationen zum Vergleich herangezogen zu haben, die ihm aus Rom zugesandt wurden. Dieser Vatikanische Codex wurde inzwischen mit dem Codex Vaticanus Palatinus latinus 583 identifiziert.43 Wie eine Über37

Schmitz, Waffe der Fälschung (Anm. 34), S. 106; zu dem noch nicht gelösten Problem der Inskriptionen bei Burchard vgl. Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 159; vgl. dazu auch Austin, Church Law (Anm. 16), S. 199 – 221 (Kap. 11: ,Making Sense of Burchard’s Textual Alterations‘), mit dem Versuch, die Veränderungen der Inskriptionen und der Texte im Dekret zu systematisieren; zu den Inskriptionen vgl. bes. S. 209 – 212. 38 Zu der von der Kapitularienforschung wegen der nicht immer klaren Abgrenzbarkeit kritisch gesehenen Einteilung der Kapitularien nach kirchlichen oder weltlichen Inhalten vgl. François Louis Ganshof, Was waren die Kapitularien?, Darmstadt 1961, S. 27 f. 39 Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 10vb: „Ex concil. Triburiensi cap. 1. Capitulum ecclesiasticum apud Triburiam a Carolo et primis Galliae et Germanie˛ collaudatum et subscriptum.“; zu den unterschiedlichen Inskriptionen in den verschiedenen Überlieferungen dieser Doppelfälschung vgl. die Einleitung des Herausgebers Alfred Boretius in: MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 359, Z. 16 – 29. 40 Max Kerner, Studien zum Dekret des Bischofs Burchard von Worms, Teil 1 – 2, Aachen 1971, S. 126; so auch Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 131 f., Anm. 95; vgl. die Beschreibung der Hss. Gotha I 84 u. Vaticanus Pal. lat. 583 bei Hartmut Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich, 1986, S. 238 f. (1. Bd.) u. 259 f. mit Abb. 111 im Tafelwerk (2. Bd.); vgl. auch Schmitz, Waffe der Fälschung (Anm. 34), S. 99 mit Anm. 74 u. 75 – 79 mit Angaben zu den Handschriften. 41 MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 359, Nr. 3 der in der Einleitung genannten Überlieferungszeugen. 42 Étienne Baluze, Capitularia regum Francorum 1, 2ème edition, ed. v. Pierre de Chiniac, Paris 1780 (= Mansi 17 B Sp. 625 – 630). 43 Vgl. dazu Schmitz, Waffe der Fälschung (Anm. 34), S. 99 mit den entsprechenden Nachweisen in Anm. 75.

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prüfung an dieser Handschrift jedoch zeigt, hat Baluze bei entsprechenden Abweichungen offenkundig Burchards mehrfach deutlich abweichender Version den Vorzug gegeben. Da er seinen eigenen Angaben zufolge drei Codices aus der Bibliotheca Vaticana Palatina benutzte („usi etiam sumus tribus codicibus Palatinis bibliothecae Vaticanae“),44 kann man vielleicht sogar vermuten, dass er außer dem Vaticanus Pal. lat. 583 auch die frühe Burchard-Handschrift Codex Vaticanus Palatinus latinus 585 – 586 für seinen Druck heranzog, auf die demnach seine Übereinstimmungen mit Burchards Version zurückgingen. Nicht zuletzt belegt auch der oben dargelegte Inhalt der beiden Kapitel, dass Burchard im vorliegenden Fall gar keinen Grund hatte zu verheimlichen, dass er sich hier auch auf ein Herrscherkapitular stützte, ging es ihm doch auch darum zu zeigen, dass die Mörder und Angreifer von Klerikern auch Sanktionen von seiten der weltlichen Gewalt zu erwarten hätten und die weltliche Gewalt in Gestalt des Herrschers „Karl“ bereit war, die dafür zuständige bischöfliche Gerichtsbarkeit mit Nachdruck zu unterstützen, wie vor allem aus den Strafandrohungen im Schlussteil des fiktiven Kapitulars hervorgeht.45 Schon in der Einleitung des Konzilstextes hatte man darauf hingewiesen, dass die in Thionville versammelten Bischöfe sich an den „Fürsten“ gewandt hätten, um demütig seine Zustimmung dafür zu erbitten, dass Übergriffe auf die Priester Christi nach den bereits bestehenden Konzilsbestimmungen vollständig ausgemerzt würden. Er sollte sich damit einverstanden erklären, dass diejenigen, die „unter Mißachtung der Gottesfurcht gegen die Diener Gottes wüteten“, sich der bischöflichen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen hätten und durch ein kirchliches Urteil getroffen würden.46 Gleichzeitig sollte jedoch auch nach den Kapitularien der früheren Könige verfahren werden, wonach bei Angriffen ein Geldbetrag vorgesehen sei und zwar nicht „pro levigatione paenitentiae“, d. h. um die kirchliche Buße durch eine Geldzahlung zu verringern, wie es in seiner Vorlage heißt,47 sondern nach Burchards offenbar wohlüberlegter Textänderung „zum Trost für die Kirche“ (pro consolatione sanctae Ecclesiae) und damit als eine Wiedergutmachung für die Tat. Die angeblich in Thionville versammelten Bischöfe bitten den Herrscher, dass die vorgenannten Dinge (praefatae res) durch das Urteil der Bischöfe entschieden werden (determinarentur 44

Vgl. Schmitz, Waffe der Fälschung (Anm. 34), S. 99, Anm. 75. Vgl. oben bei Anm. 27. 46 Decr. Burch. VI, 5 (Anm. 5), fol. 101ra–va: „In concilio apud Theodonis villam […] decretum est, ut communi consensu et humili deuotione supplicarentur auribus principis, si suae pietati complaceret, ut calumnia in Christi sacerdotes peracta, iuxta synodalica determinaretur pleniter statuta, hoc idem episcoporum iudicio placeret, si ex toto secundum potestatem eorum posset definiri, id est, ut canonica ferirentur sententia, hi videlicet, qui timorem domini postponentes, in ministros suos grassare praesumerent.“ 47 MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 360, Z. 46. Damit ist wohl eine Redemption der Buße gemeint, wie sie zuweilen für die späteren Jahre der Buße angeboten wird; vgl. etwa Decr. Burch. VI, 3 (Anm. 5), fol. 101ra: „[…] potestatem habeat redimendi praetaxato precio ubicunque est.“ (bezogen auf das zweite und dritte Jahr der Buße für eine vorsätzliche Tötung). 45

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episcoporum iudicio), ein Urteil, das sowohl das Geld, das schon die Kaiser (imperatores) den Priestern zu ihrem Schutz zugestanden hätten, als auch die kirchliche Buße umfassen sollte.48 Nach Burchards Darstellung sollte man sich also nicht durch eine Geldzahlung von einer schweren Buße freikaufen können, sondern die Zahlung einer weltlichen Buße sollte als Ausgleich für die Tat in erster Linie der Wiedergutmachung, vielleicht aber aufgrund ihrer bisher ungekannten Höhe auch der Abschreckung und damit einem erhöhten Schutz der Kleriker vor solchen Gewalttaten dienen. Burchard verankert mit der Übernahme dieser umfangreichen und sehr detaillierten Doppelfälschung, deren Entstehung offenbar nicht auf ihn selbst zurückgeht, zusätzlich zu den kirchlichen Bußen auch hohe weltliche Strafen für gewaltsame Übergriffe auf Kleriker in seinem Dekret, wobei jedoch, wie dort ebenfalls festgehalten wird, das Urteil in der Hand des zuständigen Bischofs verbleiben soll. Bei seiner Umsetzung ist man jedoch auf die tatkräftige Unterstützung durch die weltliche Gewalt angewiesen. Diese soll nach Aussage des Kapitulars nicht nur die Leistung der kirchlichen, sondern auch der weltlichen Bußen, die den Bischöfen in ihrer doppelten Eigenschaft als Vorsteher der geschädigten Kirche und als zuständige Gerichtsherrn zugute kommen sollen, durch die Androhung von Zwangsmaßnahmen, wie Verlust der Lehnsfähigkeit, Exil und Enteignung, durchsetzen – und zwar nicht aus eigenem Recht, sondern lediglich als ein Vollstreckungsorgan im Auftrag des Bischofs. Von Exkommunikation und Anathem als kirchliche Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Bußen ist dagegen nur andeutungsweise die Rede.49 Die offenbar unabdingbare Mitwirkung der weltlichen Gewalt wird somit auf eine der bischöflichen Gerichtsbarkeit untergeordnete, wenn auch sehr wirkungsvolle, Amtshilfe reduziert. Die hier dargestellte konzertierte Aktion von geistlicher und weltlicher Obrigkeit der „Gallia und Germania“ oder besser gesagt der Kirchenprovinzen Reims, Trier (Köln) und Mainz,50 erinnert zudem an ähnliche Bestimmungen der Gottesfrieden, die vor allem im Südwesten des ehemaligen Karolingerreiches zur Zeit der Abfassung des „Decretum Burchardi“ am Anfang des 11. Jahrhunderts ihre 48

Decr. Burch. VI, 5 (Anm. 5), fol. 101va: „Quod si vero pietati eius complaceret, iuxta capitula regum praecedentium, ubi eorum prouisio misericorditer in offensis pecuniae quantitatem interposuit, pro consolatione sanctae Ecclesiae, ut praefatae res per pecuniam ab imperatoribus sacerdotibus ad defensionem concessam, et per poenitentiam determinarentur episcoporum iudicio, si pietas illius collaudare voluerit, sic definiri eis complaceret.“ 49 S. o. Anm. 26 („primum canonica sententia feriatur“). 50 Am Anfang des Konzilskapitels wird betont, dass an der Versammlung in Thionville alle Bischöfe Galliens und Germaniens und damit des gesamten Karolingerreiches entweder persönlich oder zumindest durch Boten teilnahmen, ein Konzil, das somit aufgrund seiner Teilnehmer auch das gesamte Reich als Geltungsbereich beanspruchen konnte. Namentlich genannt werden die Erzbischöfe Haistulf von Mainz (813 – 825), Hetti von Trier (814 – 847) und Ebbo von Reims (816 – 835), die zusammen mit ihren Suffraganen erschienen seien. Der nach Haistulf an zweiter Stelle genannte Erzbischof Hadabald von Köln (819 – 841) fehlt in der Version des Burchardschen Dekrets; vgl. Decr. VI, 5 (Anm. 5), fol. 101rb sowie MGH Capit. 1 (Anm. 21), S. 360, Z. 33 – 37.

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Blütezeit erlebten. Auch sie hatten sich unter der Leitung von Bischöfen gemeinsam mit weltlichen Großen unter anderem den Schutz der Kleriker vor gewaltsamen Übergriffen auf die Fahnen geschrieben, konstituierten sich jedoch im ostfränkisch-deutschen Teil des früheren Karolingerreiches erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts und dann auch nur vereinzelt im Westen (Lüttich 1081/2, Köln 1083). Zu ihren Merkmalen gehört ebenfalls die Umschreibung eines Geltungsbereiches für ihre Beschlüsse, die Nennung der anwesenden und für ihre Durchsetzung eintretenden geistlichen und weltlichen Führer, das Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Buße, ergänzt durch die Bannbuße oder das Banngeld, und schließlich die Androhung von geistlichen Zwangsmaßnahmen wie Exkommunikation und Interdikt und weltlichen wie Enteignung und Exil, um die für die einzelnen schweren Vergehen verhängten geistlichen und weltlichen Bußen auch tatsächlich durchzusetzen und eine Wiedergutmachung durch die Täter zu erzwingen. Hinzu kommt, dass auch die Gottesfrieden ihre Wurzeln in der Kapitulariengesetzgebung der Karolingerzeit hatten.51

II. Die Tötung eines öffentlichen Büßers (Decr. Burch. VI, 20) Geradezu ein Gegenstück zu diesen beiden umfangreichen Kapiteln bietet ein unidentifiziertes und erstmals hier fassbares Kapitel, das im „Decretum Burchardi“ mit der Inskription „Ex decret. Siluest. papae“ und ohne Rubrik zu finden ist (VI, 20).52 Hier wird die in Reginos Sendhandbuch für einen solchen Fall vorgesehene weltliche Strafe gegen eine kirchliche ausgestauscht. Burchard hat sich hier zwar offenkundig an einem Regino-Kapitel orientiert, das der Kapitularien-Sammlung des Ansegis entstammt,53 dieses jedoch mit Blick auf die bischöfliche Strafgerichtsbarkeit überarbeitet, indem er die weltliche Strafe, die sich aus dem dreifachen Strafgeld (bannum nostrum), zahlbar an den König, und aus dem Wergeld (wirigeldum), das an die Verwandten zu entrichten war, zusammensetzte, durch eine Verdoppelung der kirchlichen Buße für die vorsätzliche Tötung eines Menschen ersetzte.54 Während diese nach Burchards eigener detaillierter Beschreibung55 insgesamt sieben Jahre dauern und mit der Wiederzulassung zur Kommunion enden sollte, verlangt er im vorliegen51

154. 52

Vgl. dazu ausführlich Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 134 – 233 sowie dort auch S. 147 –

Vgl. Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 206. Collectio Capitularium Ansegisi IV, 17, ed. v. Gerhard Schmitz, MGH Capitularia regum Francorum. Nova Series 1, Hannover 1996, S. 629: „Qui hominem publicam poenitentiam agentem interfecerit, bannum nostrum in triplo componat et wirgildum eius proximis eius persolvat.“; vgl. Regino II, 30 (Anm. 5), S. 264: „De eo, qui hominem publicam poenitentiam agentem interficit. ,Ex Capitularium Lib. III. cap. XVII.‘“ 54 Decr. Burch. VI, 20 (Anm. 5), fol. 103ra: „De eadem re“ (unpassend mit Blick auf c. 19) („Ex decret. Siluest. papae“): „Si quis hominem publice poenitentem interfecerit, ut homicidium sponte commissum dupliciter poeniteat, et nisi in fine non communicet.“ 55 Vgl. Decr. Burch. VI, 1 – 4 (Anm. 5), fol. 100va–101rb. 53

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den Fall außer ihrer Verdoppelung auch noch die lebenslängliche Exkommunikation des Täters, die erst im Angesicht des Todes aufgehoben werden kann (nisi in fine non communicet). Er tauscht also für dieses Verbrechen, das an einem öffentlichen Büßer begangen wurde, die weltliche Strafe gegen eine kirchliche aus, macht damit jedoch auch klar, dass sein Rechtsbuch für eine weltliche Bestrafung nicht zuständig ist und sich nur auf die bischöfliche Gerichtsbarkeit bezieht – eine Abgrenzung, die Regino offenkundig so noch nicht vorgenommen hatte. Besonderen Schutz benötigte der öffentliche Büßer, weil er wegen der Tat, die er nun büßte, zugleich auch die Rache der Verwandten seines Opfers fürchten musste. So heißt es im ersten Kapitel des VI. Buches über die öffentliche Buße bei vorsätzlicher Tötung, dass diese verschoben werden sollte, wenn dem Büßer nach dem Leben getrachtet werde, bis der Bischof einen Frieden mit dessen Feinden vermittelt habe.56

III. Die Tötung im Krieg (Decr. Burch. VI, 23) Für einen schwierigen Grenzfall, die auch heute noch umstrittene Frage der persönlichen Schuld bei der Tötung eines Menschen im Krieg, greift Burchard über Regino hinaus auf ihre gemeinsame Vorlage zurück, ein Teilkapitel aus dem Bußbuch des Hrabanus Maurus,57 das Regino mit zwei Ausschnitten auf zwei verschiedene Materien (RP II, 16 u. RP II, 50) aufgeteilt hatte, so dass seine Fassung Burchard nicht als unmittelbare Vorlage gedient haben kann.58 So nutzte Regino einen Ausschnitt aus diesem Teilkapitel, um für den Fall einer unabsichtlichen Tötung die Möglichkeit des Asyls zu begründen,59 und setzte in einem späteren Kapitel zwei weitere Ausschnitte des Textes zu einem zusammen, um darzulegen, wie mit denjenigen umzugehen sei, die eine im Krieg begangene Tötung für bedeutungslos hielten.60 Burchard hingegen fügte dieses bei Hrabanus Maurus zu findende Teilkapitel vollständig, wenn auch mit leichten Veränderungen und einigen Auslassungen unter

56 Decr. Burch. VI, 1 (Anm. 5), fol. 100vb: „Et si forte habuerit insidiatores vitae suae, interim differatur ei poenitentia, donec ab episcopo pax ei ab inimicis concedatur, […].“ 57 Hrabanus Maurus, Paenitentiale ad Heribaldum, c. 4, 2. Teil (Migne PL 110 Sp. 471C – 472D); vgl. auch Paenitentiale ad Otgarium c. 15, 2. Teil (Migne PL 112, Sp. 1411D–1413 A); vgl. dazu auch Raymund Kottje, Tötung im Krieg als rechtliches und moralisches Problem im früheren und hohen Mittelalter (7.–12. Jh.), in: Hans Hecker (Hrsg.), Krieg in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 2005, S. 17 – 39, hier S. 30 f. zu den beiden Bußbüchern des Hrabanus an Erzbischof Otgar von Mainz (826 – 847) und Bischof Heribald von Auxerre (828 – 857). 58 Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), geben hier keine Provenienz an; vgl. dazu auch Kottje, Tötung im Krieg (Anm. 57), S. 32, Anm. 60. 59 Regino II, 16 (Anm. 5), S. 256: „De eadem re“ (vgl. ebd., II, 15: „De homicidiis non sponte commissis“). 60 Regino II, 50 (Anm. 5), S. 274 f.

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der Rubrik „De illis qui in publico bello homicidia committunt“ in sein Dekret ein.61 Er führt diesen Text jedoch nicht auf das Bußbuch des Hrabanus Maurus zurück, sondern auf ein Konzil von Mainz,62 dem er möglicherweise eine größere Geltungskraft zumisst.63 Laut Eingangssatz geht es darum, dass gewisse Leute die Tötung von Menschen in einer erst kürzlich stattgefundenen kriegerischen Auseinandersetzung entschuldigten und behaupteten, dass es nicht notwendig sei, für jede einzelne Tötung Buße zu tun.64 Durch seine umfassendere Übernahme der Argumentation aus dem Bußbuch des Hrabanus,65 grenzt Burchard die Tötung im Krieg noch deutlicher als Regino gegen eine unabsichtlich begangene, zufällige Tötung ab, für die man Asyl beanspruchen und gewähren könne. D. h., es geht hier nicht darum, dass man beim Holzfällen ohne Absicht einen Freund bei einem Unfall getötet hat, sondern es stellt sich die Frage, ob diejenigen sich in den Augen Gottes als unschuldig darstellen können (quasi innoxios excusare possint), die aus Habsucht, der Wurzel allen Übels und dem Götzendienst vergleichbar, einen so ruchlosen Tod anstreben und wegen der Gunst ihrer weltlichen Herren das Gebot des ewigen Herrn missachten, indem sie keinesfalls unabsichtlich und zufällig (casu), sondern vorsätzlich (per industriam) die Tötung eines Menschen begehen.66 Betont werden hier nicht nur die generell sündhaften Motive für eine Tötung im Krieg (avaritia, idolorum seruitus), sondern durch die Auslassung des Wortes defen61 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103rb–103vb: „Oportet autem diligentius eos admonere, qui homicidia in bello perpetrata pro nihilo ducunt, excusantes se non ideo necesse habere de singulis facere poenitentiam, eo quod iussu principum peractum sit, et Dei iudicio ita finitum. Scimus enim quod Dei iudicium semper iustum est, et nulla reprehensione dignum.“ 62 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103rb: „Ex concil. Mogunti. cap. 2“. 63 Vgl. dazu auch Kottje, Tötung im Krieg (Anm. 57), S. 32, Anm. 60. 64 Hrabanus Maurus, Paenitentiale, Migne PL 110, Sp. 471C–472D. Hrabanus bezieht sich hier auf die berühmte Schlacht von Fontenoy 841, in dem die Heere der Söhne Ludwigs des Frommen, das Heer Kaiser Lothars I. auf der einen Seite und auf der anderen die verbündeten Heere seiner Brüder Ludwigs des Deutschen und Karls des Kahlen, in einem „Bruderkrieg“ einander gegenübergestanden hatten; vgl. Nithardi Historiarum libri IIII, hier II, 10, ed. v. Ernst Müller, MGH SS rer. Germ. 44, Hannover/Leipzig 19073, S. 24 – 27; vgl. dazu ausführlich Kurt-Georg Cram, Iudicium Belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, Münster/Köln 1955, S. 20 – 47; Kottje, Tötung im Krieg (Anm. 57), S. 29 f. u. s. u. Anm. 67. 65 Auch Burchard lässt ganze Passagen weg, aber auffälligerweise sind in Kap. VI, 23 seines Dekrets bis auf wenige Worte die gleichen Textpassagen zu finden, wie zusammengenommen in den beiden Kapiteln Reginos. 66 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103va: „Sed tamen oportet eos considerare qui hanc necem nefariam [defendere fehlt auch in Vat. Pal. lat. 585, fol. 268v] cupiunt, utrum se coram oculis Dei quasi innoxios excusare possint, qui propter auaritiam, quae omnium malorum radix est, et idolorum seruituti comparatur, atque propter favorem dominorum suorum temporalium, aeternum dominum contempserunt, et mandata illius spernentes, non casu sed per industriam homicidium fecerunt.“

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dere wird der Sinn so verändert, dass eine Tötungsabsicht vorausgesetzt wird. Das göttliche Gebot Du sollst nicht töten gilt jedoch auch im Krieg und eine Tötung im Krieg kann nicht mit einer unabsichtlichen Tötung durch einen Unfall gleichgesetzt werden, nur weil die Tat auf Befehl des Fürsten geschehen ist und (angeblich) ein Gottesurteil vollstreckte (eo quod iussu principum peractum sit, et Dei iudicio ita finitum).67 Demjenigen, der vorsätzlich einen anderen Menschen getötet hat (occiderit), ist jedoch, wie schon im AT festgelegt wurde, das Asyl zu verweigern und er ist dem Verwandten des Getöteten ohne jedes Mitleid auszuliefern.68 Vor allem am Ende seines Kapitels übernimmt Burchard eine ausführlichere Passage aus dem Paenitentiale des Hrabanus Maurus als Regino, der lediglich hatte anklingen lassen, dass im Hinblick auf eine Rechtfertigung mit dem Befehlsnotstand ein großer Unterschied (magna distantia) bestehe zwischen einem rechtmäßigen Fürsten und einem aufrührerischen Tyrannen69. Burchard bedient sich hier jedoch erneut ausgiebiger bei Hrabanus Maurus, um zur genaueren Begründung noch hinzuzufügen, dass der Tyrann danach strebe, den Frieden innerhalb der Christenheit umzustürzen, während der rechtmäßige Fürst mit Waffen gegen die Ungerechtigkeit und für die Verteidigung der Gerechtigkeit streite.70 Durch diese Ergänzung klingt noch deutlicher die Vorstellung vom „gerechten Krieg“ an, mit der gleichsam eine Hintertür offen gehalten wird, um die Tötung eines Menschen auf Befehl eines gerechten 67 Hrabanus bezieht sich hier offenkundig auf die von Nithard wiedergegebene Argumentation der Bischöfe, dass man auf beiden Seiten für die Gerechtigkeit gestritten habe und der Ausgang der Schlacht als Gottesurteil zu betrachten sei, so dass die Anstifter und Vollstrecker der Auseinandersetzung als Gottes schuldlose Diener zu gelten hätten. Wer jedoch aus niederen Motiven zu diesem Kriegszug geraten oder sich an ihm beteiligt habe, soll im geheimen sein Vergehen beichten und nach dem Maß seiner Schuld verurteilt werden; vgl. Nithard, Historiarum libri IIII (Anm. 64), S. 28, Z. 26 – S. 29, Z. 2: „Quam ob rem unanimes ad concilium omnes episcopi confluunt, inventumque in conventu publico est, quod pro sola iusticia et aequitate decertaverint, et hoc Dei iuditio manifestum effectum sit, ac per hoc inmunis omnis Dei minister in hoc negotio haberi, tam suasor quam et effector, deberetur; at quicumque consciens sibi aut ira aut odio aut vana gloria aut certe quolibet vitio quiddam in hac expeditione suasit vel gessit, esset vere confessus secrete secreti delicti et secundum modum culpe diiudicaretur.“; vgl. dazu auch Kottje, Tötung im Krieg (Anm. 57), S. 29. 68 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103va: „De eo vero qui per industriam aliquem occiderit, in Exodo scriptum est: Si quis de industria et per insidias occiderit proximum, ab altari meo euelles eum ut moriatur. Et in Deuteronomio: Si quis odio habens proximum suum, insidiatus fuerit vitae eius, et surgens percusserit eum et mortuus fuerit, et fugerit ad unam de supradictis urbibus, mittens seniores ciuitatis illius, et rapient eum de loco refugii, et tradent eum in manus proximi eius cuius sanguis effusus est, et moriatur, nec misereberis eius.“ 69 Regino II, 50 (Anm. 5), S. 276: „Sed inter haec sciendum est, quod magna distantia est inter legitimum principem et seditiosum tyrannum.“ 70 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103vb: „Si ergo illum quem dominus dignum morte esse iudicavit, reum non esse quis dicit, quomodo contrarius legi Dei non existit, qui hoc quod Deus precepit, cassum esse contendit: Sed inter haec sciendum est, quod magna distantia est inter legitimum principem, et seditiosum tyrannum, inter eum qui subuertere nititur Christianae pacis tranquillitatem, et illum qui armis contra iniquitatem, certat defendere aequitatem.“

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Fürsten doch noch als eine Tat gelten zu lassen, die eher einer unabsichtlichen Tötung als einem vorsätzlichen Mord gleichzusetzen ist. Eine konkrete Bußleistung oder Strafe für die Tötung eines Menschen im Krieg wird hier nicht gefordert, sondern nur dargelegt, in welchem Fall in Übereinstimmung mit Aussagen des Alten Testaments dem Täter Asyl gewährt werden kann, das ihn vor der Rache der Verwandten und damit vor dem Tod bewahren soll. Wie an den deutlich veränderten Anfangsworten seines Kapitels zu erkennen ist,71 verfolgt Burchard in erster Linie das Ziel, den Priestern seiner Diözese in aller Ausführlichkeit und mit entsprechenden Belegen aus dem Alten Testament zu erklären, dass diejenigen, die in einem Krieg Menschen töten, sorgfältig dazu angeleitet werden müssen, in jedem einzelnen Fall eine Buße zu leisten, da sie in den Augen Gottes keinesfalls als unschuldig gelten können.72 In die Bußpraxis überführt wurde dieser Grundsatz im 5. Kapitel des 19. Buches, das zwar auf Reginos „Ordo ad dandam poenitentiam“ aufbaut, jedoch, wie schon Paul Fournier darlegte, stark erweitert und umgestaltet wurde.73 Dort wird die Frage zur Tötung im Krieg folgendermaßen formuliert: „Fecisti homicidium in bello iussu legitimi principis, qui pro pace hoc fieri iusserat, et interfecisti tyrannum qui pacem peruertere studuit, tres quadragesimas per legitimas ferias poeniteas. Si autem aliter fuerit, id est, sine iussu legitimi principis, ut homicidum sponte commissum poeniteas, id est, carrinam unam cum septem sequentibus annis.“74

Die Unterscheidung zwischen Fürst und Tyrann wird zwar auch hier aufgegriffen, aber der Akzent anders gesetzt: Die Tötung eines Menschen im Krieg auf Befehl des rechtmäßigen Fürsten und mit dem Zweck der Wiederherstellung des Friedens wird mit der Tötung des friedenstörenden Tyrannen auf eine Stufe gestellt: Sie sollen jeweils mit drei Quadragesimen gebüßt werden, während eine Tötung, die sich nicht nicht auf den Befehl des rechtmäßigen Fürsten berufen kann, wie eine vorsätzliche Tötung zu büßen sei, nämlich mit einer 40 tägigen Buße, die sich mit entsprechenden

71 Decr. Burch. VI, 23 (Anm. 5), fol. 103rb: „Oportet autem diligentius eos admonere […].“ 72 Vgl. dazu die Zitate in Anm. 61 u. 66. 73 Vgl. Paul Fournier, Études critiques sur le Décret de Burchard de Worms, in: ders., Mélanges de droit canonique, ed. v. Theo Kölzer, 1 (1983) S. 247 – 391, hier S. 323 – 326; vgl. dazu v. a. auch Ludger Körntgen, Fortschreibung frühmittelalterlicher Bußpraxis. Burchards „Liber Corrector“ und seine Quellen, in: Wilfried Hartmann, Bischof Burchard von Worms, 1000 – 1025 (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 100), o. O. 2000, S. 199 – 226, bes. S. 220 – 223. 74 Decr. Burch. XIX, 5, interr. 9 (Anm. 5), fol. 189rb; vgl. auch Regino I, 304 (Anm. 5), S. 160: „Fecisti homicidium […] aut iubente domino tuo, aut in publico bello. […] Si in bello, quadraginta dies [poenitere debes].“; vgl. dazu auch Regino II, 51 (Anm. 5), S. 276: „Si quis hominem in bello publico occiderit, XL dies poeniteat.“ Dieses Kapitel wurde entgegen der Angabe von Kottje (Tötung im Krieg, Anm. 57, S. 28 mit Anm. 46) von Burchard nicht übernommen.

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Änderungen und Erleichterungen in den Folgejahren über sieben Jahre erstrecken soll.75 Auch hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass nach Burchards Ansicht eine Tötung im Krieg zwar unterschiedlich bewertet werden kann, aber niemals, selbst dann nicht, wenn sie auf Befehl eines rechtmäßigen Fürsten erfolgt, der für den Frieden kämpft, ganz ohne Buße bleiben darf, da mit ihr in jedem Fall ein Gebot Gottes übertreten wird.

IV. Die Tötung Ungläubiger (Decr. Burch. VI, 33) Auch aus den tiefgreifenden Veränderungen, die Burchard an dem Kapitel vorgenommen hat, das eine Tötung von Juden und Heiden aus Hass oder Habsucht behandelt, geht seine theologisch begründete Rechtsauffassung hervor. Für sein entsprechendes Dekret-Kapitel hat Burchard gegenüber Reginos Version, die wohl ursprünglich auf einen Kanon des Konzils von Worms zurückgeht,76 die Begründung im zweiten Teil völlig neu gestaltet. Nach dem Wortlaut seiner Vorlage sollte derjenige, der aus Hass oder Habgier einen Juden oder Heiden getötet hatte, wie ein Mörder (homicida) büßen, da es sich dabei keineswegs um ein leichtes Vergehen handele. Zur Begründung verwies man darauf, dass bereits dem Volk des Alten Bundes (antiquo populo) befohlen worden sei, auswärtige Völker nur dann mit Krieg zu überziehen (bellum inferre), wenn sie den angebotenen Frieden zurückwiesen (respuerint), das heißt, ihnen sollte die Möglichkeit zur Unterwerfung gegeben werden, bevor man sich anschickte sie zu vernichten.77 Burchard führt nun eine ganz anders geartete Begründung an, indem er zu bedenken gibt, dass man durch eine Tötung von Juden und Heiden, die aus niederen Motiven wie Hass oder Habsucht erfolge, sowohl ein Abbild Gottes als auch die Hoff-

75 Vgl. Decr. Burch. VI, 1 – 4 (Anm. 5), fol. 100va–101rb und die Rubriken zu den Kap. 2 – 4, fol. 101ra: „Quid in primo, [resp. c. 3: „secundo et tercio“, c. 4: „in reliquis quatuor“] annis obseruare debet.“ 76 Vgl. auch c. 3 (27) des Konzils von Worms (868), ed. v. Wilfried Hartmann, MGH Concilia 4, Hannover 1998, S. 265, Z. 3 – 6: „De eo, qui meditatione odii vel propter avaritiam paganum occiderit.“ Dieses Kapitel entspricht wiederum einer Passage aus einer Dekretale Nikolaus’ I. an Erzbischof Liutbert von Mainz (JE 2869 – MGH Epistolae 6, ed. v. Ernst Perels, Berlin 1925, S. 689, Z. 19 – 21); vgl. Hartmann, MGH Conc. 4 (Anm. 76), S. 265, Anm. 7; Wilfried Hartmann, Das Konzil von Worms 868. Überlieferung und Bedeutung, Göttingen 1977, S. 56 – 76, geht im Gegensatz zu Sdralek davon aus, dass das Schreiben keine Fälschung auf der Grundlage von Wormser Canones von 868 darstellt. 77 Regino II, 94 (Anm. 5), S. 296: „,Qui propter cupiditatem Iudaeum vel paganum occiderit. Ex Concilio Moguntiacensi‘: Qui odii meditatione vel propter cupiditatem Iudaeum vel paganum occiderit, quia non leve vitium committitur, ut homicidam convenit poenitere, quandoquidem nec exteris gentibus, nisi oblatam pacem respuerint, bellum est populo antiquo penitus inferre praeceptum [Deut. 20, 10 – 12].“

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nung auf eine Bekehrung dieses Ungläubigen vernichte, und fordert deshalb für eine solche Tat eine 40-tägige Buße bei Wasser und Brot.78 Die Veränderung, die Burchard an dieser Stelle vornahm, wurde als eine Abschwächung des Judenschutzes und somit auch als ein Indiz für eine eher judenfeindliche Haltung Burchards gewertet.79 Friedrich Lotter hat dem jedoch zu Recht entgegengehalten, dass die „Strafzumessung“, bei der Burchard sich offenkundig an der Buße für eine Tötung im Krieg orientiert habe,80 zwar deutlich hinter der in den früheren Texten angeführten Vorschrift zurückbleibe, dass der Täter wie ein Mörder zu büßen habe. Trotzdem sei Burchards Anweisung „wohl eher als eine Präzisierung, gegenüber der eher unverbindlichen und gewiß wenig wirksamen Aussage des Wormser Kanons aufzufassen“.81 Außerdem verweist Lotter darauf, dass gerade Burchard, der hier von der Hoffnung auf eine zukünftige Bekehrung der Ungläubigen spricht, damit den Mord an den Juden ebenso in eschatologische Zusammenhänge rücke, wie dies auch in seinem letzten Buch, dem „Liber Speculator“, der vom Heilsgeschehen und dem jüngsten Gericht handelt, zu erkennen sei. Dort führt Burchard „Gregor den Großen als Gewährsmann einer theologischen Begründung für die Duldung jüdischer Existenz“ an82, indem er aus den „Moralia“ Gregors I. die Stelle zitiert, wonach beim Jüngsten Gericht gemäß der bekannten Weissagung des Elias alle Juden „zum Glauben zusammenströmen, und in den Schutz dessen, vor dem sie geflohen waren, zurückkehren“; anschließend werde jenes, durch die vielfältige Ansammlung der Völker außerordentliche, Gastmahl gefeiert.83 78 Decr. Burch. VI, 33 (Anm. 5), fol. 104va: „,De illo qui propter cupiditatem Iudaeum interfecerit‘. Ex concil. Mogunti. cap. 6: Qui odii meditatione vel propter cupiditatem Iudaeum, vel paganum occiderit, quia imaginem Dei, et spem futurae conuersionis extinxerat, XL. dies in pane et aqua poeniteat.“ 79 Vgl. dazu Friedrich Lotter, Zur Ausbildung eines kirchlichen Judenrechts bei Burchard von Worms und Ivo von Chartres, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987, S. 69 – 96, hier S. 75. 80 Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 75 zitiert dazu das oben genannte Regino-Kap. II, 51 (vgl. hierzu Anm. 74) und zwei Kapitel aus dem „Decretum Burchardi“: VI, 16, wo es um die Buße für eine nicht-vorsätzliche Tötung geht, u. VI, 48, wo die Buße für die Tötung von christlichen Gefangenen als „Kollateralschäden“ bei der Bekämpfung von Heiden festgelegt wird, übersieht jedoch die deutlich höhere Buße in dem hier besprochenen einschlägigen Kap. XIX 5, 9 des Dekrets (vgl. das Zitat oben bei Anm. 74), die für eine Tötung im Krieg eine Buße von mindestens drei Quadragesimen verlangt. 81 Lotter, Judenrecht (Anm. 79) S. 75. 82 Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 74: „[…] sed extremo [tempore] Israelitae omnes ad fidem, cognita Eliae praedicatione, concurrunt, atque ad eius protectionem quem fugerant redeunt; et tunc illud eximium multiplici aggregatione populorum conuiuium celebratur.“; vgl. S. Gregorii Magni Moralia in Iob, ed. v. Marcus Adriaen (= CCSL 143B), Turnhout 1985, S. 1792, Z. 115 – 118. 83 Decr. Burch. XX, 97 (Anm. 5), fol. 236ra–b: „,Quod in nouissimis omnes Israelitae per praedicationem Helie˛ conuerti debeant.‘ Sed extremo Israelitae omnes ad fidem cognita Heliae praedicatione concurrunt, atque ad eius protectionem quem fugerant redeunt: et tunc illud eximium multiplici aggregatione populorum conuiuium celebratur.“

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Burchard nimmt damit die über Augustinus vermittelte paulinische Vorstellung auf, dass „die neutestamentlichen Verheißungen auch für die Juden gültig seien und diese im Rahmen des Heilsgeschehens in der Gegenwart wie in der Zukunft eine wichtige Funktion zu erfüllen hätten“84. Diese theologische Begründung greift Burchard auch für seine Bußvorschrift im VI. Buch seines Dekrets auf, die er einem angeblichen Mainzer Konzil zuschrieb, von einer Strafe im eigentlichen Sinne ist hier jedoch keine Rede. Entscheidend ist, dass Burchard sowohl im Juden als auch im Heiden ein Abbild Gottes erkennt und gleichzeitig die von Regino angeführte Begründung verwirft, die Juden und Heiden zu Fremden stempelte.85 Mit seiner eher an der Praxis orientierten Bußforderung sorgte er zugleich dafür, dass solche Vergehen auch tatsächlich gesühnt wurden, wie die entsprechende Sendfrage im ersten Buch zeigt: „Est aliquis qui propter cupiditatem Iudaeum vel paganum interfecerit“86, mit der Burchard nun wieder im Anschluß an Regino dafür sorgen wollte, daß „die Erhebung der Anklage gegen einen Judenmörder nicht der Willkür überlassen blieb, sondern das bischöfliche Sendgericht derartige Fälle von Amts wegen aufzupüren und zu ahnden hatte“87, und damit, so wäre noch zu ergänzen, die Bußleistung nicht allein von der Einsicht des Sünders abhängig machte, wie man aufgrund des entsprechenden Kapitels im VI. Buch vermuten könnte.

V. Die Tötung des Ehepartners 1. Die Zuständigkeit der kirchlichen Strafgerichtsbarkeit (Decr. Burch. VI, 37) Unter den Kapiteln, die entweder neu, d. h. ohne dass eine Provenienz aus früheren kirchenrechtlichen Sammlungen nachgewiesen wäre, in das VI. Buch des „Decretum Burchardi“ aufgenommen oder zumindest nachhaltigen Veränderungen unterzogen wurden, finden sich mehrere, die sich mit der Tötung des Ehepartners und verschiedenen Aspekten der Bestrafung aber auch des Schuldnachweises beschäftigen. Dass ein solcher Fall, in dem ein Mann seine Frau aufgrund ihres angeblichen Ehebruches getötet hatte, grundsätzlich vor ein Gericht gehörte, hatte schon Regino angedeutet, indem er die Formulierung „sine culpa“ im Text des Wormser Kapitulars durch „absque lege sine causa et certa probatione“ ersetzte,88 die sich jedoch nicht auf das Tö84

Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 74 – 75. Vgl. Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 75. 86 Decr. Burch. I, 94, 79 (Anm. 5), fol. 14r; vgl. Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 75. 87 Lotter, Judenrecht (Anm. 79), S. 75. 88 Regino II 75 (Anm. 5), S. 288: „Quicunque propria uxore derelicta vel absque lege sine causa et certa probatione interfecta, aliam duxerit uxorem, armis depositis publicam agat poenitentiam et, si contumax fuerit, comprehendatur a comite et ferro vinciatur et in custodiam mittatur, donec res ad nostram notitiam deducatur.“; vgl. Capitulare pro lege habendum 85

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tungsdelikt bezieht, sondern die Ansicht voraussetzt, dass nach weltlichem Recht ein Mann ungestraft seine Frau töten dürfe, wenn sie Ehebruch begangen hat.89 Die Veränderung, die Burchard an diesem auf das Kapitular von Worms (829) zurückgehenden Regino-Kapitel anbringt, bezieht sich auf die Folgen einer solchen Tat für denjenigen, der seine Frau ohne Schuldnachweis tötet. Seiner Anweisung zufolge soll die öffentliche Buße, die in einem solchen Fall zu verrichten sei, nicht vom Grafen mit weltlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden, bis die Sache dem Herrscher zur Kenntnis gelangt, sondern vom Bischof selbst mit Hilfe des Anathems: Erweist sich der Täter seinem Bischof gegenüber als unbeugsam und ungehorsam, dann soll er solange mit dem Anathem belegt werden, bis er einlenkt90. Die Formulierung „si contumax fuerit et episcopo suo inobediens extiterit“ fand sich auch oben in Kap. VI, 6 schon zur Beschreibung der zentralen Voraussetzung dafür, dass trotz aller herrscherlichen Unterstützung bei der Durchsetzung des Urteils die bischöfliche Gerichtsbarkeit als zuständige Instanz zu gelten hatte.91 In einem Zusatz überträgt Burchard dieses „Gesetz“ (lex) auch noch auf den Fall der Tötung des Herrn (senior) und fügt damit den gesamten Sachverhalt in einen größeren Zusammenhang ein – der Tötung eines Menschen, der dem Täter durch ein besonderes Gehorsams- und Treueverhältnis nahe steht.92 Aus dem neu formulierten Dekret-Kapitel geht jedoch nicht hervor, ob hier allein der Bischof die öffentliche Buße gegen den Widerstand des Täters durchsetzen soll und man vollständig auf die Unterstützung durch die weltliche Gewalt verzichtet. Die Veränderung gegenüber seiner Vorlage ist wohl erneut in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Burchard die Absicht verfolgte, ein Rechtsbuch für den Bischof und die kirchliche Gerichtsbarkeit vorzulegen: Ihm geht es allein um die Behandlung dieser Tat durch das bischöfliche Gericht, die seinen Angaben zufolge durch das Kap. 26 der Dekretale eines Papstes Pius vorgegeben ist, jedoch in Wirklichkeit auf die von ihm selbst vorgenommene Umformulierung eines Kapitels aus dem Wormser Herrscherkapitular zurückgeht. Wormatiense (829) c. 3, ed. v. Alfred Boretius/Victor Krause, Hannover 1897, MGH Capitularia 2, 1, S. 18, Z. 29 – S. 19, Z. 2: „[…] vel sine culpa interfecta […].“ 89 Vgl. dazu Hartmann, Regino (Anm. 5), S. 286, der darauf hinweist, dass bereits im Titel des Regino-Kapitels II, 73 („De his qui uxores occidunt“) darauf angespielt werde, „dass nach weltlichem Recht ein Mann ungestraft seine Frau töten darf, wenn sie Ehebruch begangen hat.“ (Anm. 145). 90 Decr. Burch. VI, 37 (Anm. 5), fol. 105ra: „Quicunque propriam uxorem absque lege, vel sine causa et certa probatione interfecerit, aliamque duxerit uxorem, armis depositis, publicam agat poenitentiam. Et si contumax fuerit, et episcopo suo inoebediens extiterit, anathematizetur, quousque consentiat. Eadem lex erit illi, qui seniorem suum interfecerit.“ 91 Vgl. Decr. Burch. VI, 6 (Anm. 5), fol. 102rb: „[…] ut si quis in his supradictis sanctorum canonum nostrique decreti sanctionibus episcopis inobediens et contumax extiterit […].“; s. o. bei Anm. 26. 92 Vgl. dazu auch Decr. VI, 39 (Anm. 5), fol. 105rb, zu der Ehefrau, die ihren Mann als ihren „Herrn und Meister“ getötet hat („[…] quia dominum et seniorem suum occidit […].“); vgl. hier bei Anm. 100.

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2. Die Anpassung des Beweisstandards (Decr. Burch. VI, 38) Im anschließenden Kapitel geht es dann jedoch auch um den Nachweis des Tötungsdeliktes, „si maritus uxorem, aut uxor maritus interfecerit“93. Von Regino übernimmt Burchard den auf biblische Begründung zurückgeführten Grundsatz,94 dass das Urteil im Fall einer Tötung des Ehepartners keine Rücksicht auf das Geschlecht des Täters nehmen dürfe, da es vor Gott kein Ansehen der Person gebe. Bei einer entsprechenden Anklage müsse deshalb auch das gleiche Beweisverfahren zur Prüfung der Anklage durchgeführt werden.95 Auch Burchard bezieht sich dabei auf das Konzil von Mainz,96 ergänzt diese Vorlage jedoch durch einen längeren Zusatz, in dem er das in solchen Fällen anzuwendende Beweisverfahren genauer erläutert: Leugnet der Beschuldigte und kann er nicht durch offenkundige Indizien überführt werden, dann soll er zwölf Eideshelfer aufbieten, wenn er ein Freier ist, und sich als Unfreier durch ein Gottesurteil, die Probe des heißen Eisens, reinigen. Wird er jedoch von seiner Gemahlin auf dem Sterbebett vor einem oder zwei Zuhörern (audientibus) laut beschuldigt, für ihren Tod verantwortlich zu sein, so gilt er zwar dadurch noch nicht als überführt (non ideo erit victus), aber die Anforderungen an den Beweis seiner Unschuld werden deutlich gesteigert: Als Freier muss er 72 Eideshelfer aufbieten und als Unfreier kann er sich nur durch die Unschuldsprobe mit zwölf glühenden Pflugscharen reinigen. Das gleiche Gesetz gilt, wie ausdrücklich hinzugefügt wird, für den Ehemann, der seine Frau beschuldigt.97 Hoffmann und Pokorny weisen auf die Analogie zu c. 7 des VI. Buches hin, wo in Anlehnung an das c. 24 des Konzils von Mainz (847) Ähnliches für die Tötung eines Priesters vorgeschrieben wird,98 wobei jedoch auch hier schon im „Decretum Burchardi“ eine deutliche Verschärfung vorgenommen wurde, da in dem genannten Konzilskanon lediglich von 12 Eideshelfern die Rede ist, während Burchard die Zahl auf 72 erhöhte.99 So wurde die hohe Anforderung an einen Unschuldsbeweis 93

Decr. Burch. VI, 38 (Anm. 5), fol. 105ra. Vgl. Lev 19,15: „[…] non facies quod iniquum est nec iniuste iudicabis nec consideres personam pauperis nec honores vultum potentis […]“ u. Dtn 1,17 „nulla erit distantia personarum ita parvum audietis ut magnum nec accipietis cuiusquam personam quia Dei iudicium est […].“ 95 Regino II, 73 (Anm. 5), S. 286; vgl. Mainz (852) c. 13, 2. Teil, ed. v. Wilfried Hartmann, MGH Concilia 3, Hannover 1984, S. 250, Z. 5 – 11. 96 Decr. Burch. VI, 38 (Anm. 5), fol. 105ra, „Ex concil. Mogunti. cap. 1“. 97 Decr. Burch. VI, 38 (Anm. 5), fol. 105rb: „[…] Eadem lex erit marito, uxorem accusanti.“ 98 Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 205; vgl. MGH Conc. 3 (Anm. 95), S. 173, Z. 7 – 11: „,De occisis presbiteris in gradu positis‘. Qui presbiterum occidit, XII annorum ei penitentia secundum canones priorum inponatur; aut si negaverit, si liber est, cum XII iuret; si autem servus, per XII vomeres ferventes se purget. Convictus noxa usque ad ultimum vitae tempus miliciae cingulum deponat et uxorem amittat.“; so auch Regino, Sendhandbuch II, 43 (Anm. 5), S. 270 f. 99 Vgl. Decr. Burch. VI, 7 (Anm. 5), fol. 102rb „Qui presbyterum occiderit XII. annorum ei poenitentia secundum canones imponatur aut si negauerit, si liber est, cum LXXII. iuret. Si 94

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für den Fall der Tötung eines Geistlichen offensichtlich auf dem Weg der Analogiebildung in eine entsprechende Vorschrift für den Gattenmord umgegossen, aber nur für den Fall, der einen höheren Standard für den Unschuldsbeweis verlangte, weil die Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung sehr hoch war. 3. Die Umwandlung der Buße in eine Strafe (Decr. Burch. VI, 39) Im Fall der Ehefrau, die ihren Mann vergiftete oder durch irgendeine Zauberkunst umbrachte, weil dieser Unzucht beging, ist Burchard strenger als Regino, der hier für ein solches Delikt eine zehnjährige Buße fordert, weil sie ihren „Herrn und Meister“ getötet habe.100 Burchard verlangt mit derselben Begründung, dass die Täterin die Welt verlassen und in einem Kloster – wohl ohne zeitliche Beschränkung – Buße tun soll: „seculum relinquat, et in monasterio poeniteat“101. Mit dieser Umwandlung der Buße in die Strafe der lebenslänglichen Verbannung ins Kloster102 sollte wohl auch ausgeschlossen werden, dass die Täterin nach der Ableistung ihrer Buße eine neue Verbindung eingeht. 4. Die Tötung der schuldlosen Ehefrau (Decr. Burch. VI, 40) Eine besondere Bedeutung für dieses Thema hat Burchard offenbar einem Mahnschreiben des Erzbischofs und Patriarchen Paulinus von Aquileja (787 – 802) an einen gewissen Heistulf beigemessen, das er in voller Länge in sein Dekret einfügte (VI, 40).103 Obwohl dieses Schreiben auch von Hrabanus Maurus in seinem Brief an einen Chorbischof von Straßburg erwähnt und zur Übermittlung in alio pictacio (in einem anderen kurzen Brief) angekündigt wird,104 und auch Hinkmar von Reims es

autem seruus, super duodecim vomeres feruentes se expurget. Conuictus noxae usque ad ultimum vitae tempus militiae cingulo careat, et absque spe coniugii maneat.“ (so auch Vaticanus Pal. lat. 585, fol. 266r: „ex concilio Mogont. c. 24“). 100 Regino II, 84 (Anm. 5), S. 290; Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 207 („unidentifiziert, erstmals faßbar bei Regino“). Burchard schrieb es fälschlich dem Konzil von Elvira (306 – 314) zu, wie ein vorausgegangenes Kapitel bei Regino (II, 82), auf das sich dieser mit unde supra und De eadem re offensichtlich bezog. 101 Decr. Burch. VI, 39 (Anm. 5), fol. 105rb: „Si mulier maritum suum causa fornicationis veneno interfecerit, aut quacunque arte perimere facit, quia dominum et seniorem suum occidit, seculum relinquat, et in monasterio poeniteat.“ 102 Vgl. dazu auch Kéry, Gottesfurcht (Anm. 1), S. 44 f. 103 Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol. 105rb–105vb (Epist. Paulini Foro Iuliensi episcopi ad Heistulfum); vgl. Paulinus patriarcha Aquileiensis Haistulfo, qui uxorem suam occiderat, de poenitentia agenda praecepta dat. (794?), ed. v. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4, Berlin 1895, S. 520 – 522, Nr. 16. 104 Hrabani (Mauri) abbatis Fuldensis et archiepiscopi Moguntiacensis Epistolae, ed. v. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 5, Berlin 1899, S. 379 – 516, hier S. 507, Nr. 53.

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nach Auskunft Flodoards an Erzbischof Wulfad von Bourges versandte,105 konnte bisher nicht festgestellt werden, woher Burchard es bezog. Hoffmann und Pokorny geben keine Provenienz für dieses Dekret-Kapitel an, obwohl einige Handschriften, die den Brief des Paulinus von Aquileja überliefern, in enger Beziehung zur Überlieferung des „Decretum Burchardi“ stehen: etwa die Münchener Handschriften Clm 3853 (dort: fol. 315v) und Clm 27246 (dort: fol. 86 – 88), der ihn sogar unmittelbar im Anschluss an das Schreiben Nikolaus’ I. an Bischof Ratold von Straßburg enthält, das Burchard als Vorlage für ein weiteres Kapitel im VI. Buch diente, mit dem er die detaillierten Bußleistungen, die für die Tötung der eigenen Mutter zu absolvieren seien, vorschreibt (Decr. Burch. VI, 46), ein Kapitel, das jedoch zu den oben erwähnten Nachträgen gehört,106 die hier nicht genauer betrachtet werden sollen. Der Clm 27246 überliefert den Brief des Paulinus nach Ausweis der Edition in der noch nicht von Burchard bearbeiteten Version. Bei einem Vergleich mit der MGHEdition zeigt sich zudem, dass die Version dieses Briefes, die ins „Decretum Burchardi“ aufgenommen wurde, von allen dort berücksichtigten Textzeugen derjenigen in der Handschrift Brüssel 495 – 505, fol. 14 – 16, am nächsten steht, einer Handschrift, die auch die „Collectio Dionysio-Hadriana“ überliefert und als deren Schriftheimat das nordöstliche Frankreich (Aurivalle) gilt, wo sie sehr wahrscheinlich schon in der Mitte bzw. im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts entstand.107 Für die Aufnahme in das „Decretum Burchardi“ wurde der Brief des Paulinus von Aquileja an einen gewissen Heistulf jedenfalls erkennbar überarbeitet,108 und zwar offenbar in erster Linie, um den Text verständlicher zu machen. Dies gilt vor allem für die beiden Ratschläge (consilia), die dem Täter für eine wirkungsvolle Buße zugunsten seines zukünftigen Seelenheils vermittelt werden sollen, wobei Burchard noch mit eigenen Zusätzen die Warnung vor dem selbst verschuldeten ewigen Tod verstärkt und den Rat erteilt, dass es leichter und heilsamer sei, seine Sünden unter der Obhut eines Andern zu betrauern.109 105 Vgl. Flodoardus Remensis. Historia Remensis ecclesiae III, c. 21, ed. v. Martina Stratmann, MGH SS 36, Hannover 1998, S. 278 mit Anm. 97. 106 Vgl. dazu oben bei Anm. 18. Zum Clm 27246 als mögliche Vorlage vgl. auch Austin, Church Law (Anm. 16), S. 215, Anm. 80. 107 Hs. Brussel 495 – 505, fol. 14 – 16, s. X (vgl. Joseph van den Gheyn, Catalogue des manuscrits de la Bibliothèque royale de Belgique, 4. Bd., Bruxelles 1904, Nr. 2494, S. 3 – 5); vgl. Georg Heinrich Pertz, Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 7 (1839), S. 811; vgl. Lotte Kéry, Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400 – 1140). A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature, Washington D. C. 1999, S. 14: Hs. der „Collectio Dionysio-Hadriana“, saec. IXmed– 3/4, nordöstliches Frankreich (Aurivalle). 108 Schon Ernst Dümmler wies darauf hin, dass Burchard den Brief an mehreren Stellen erweitert habe; vgl. MGH Epp. 4 (Anm. 103), S. 522, Anm. 1: „[…] pluribus locis amplificavit […].“ Der Satz „Non enim vult Deus mortem peccatoris, sed ut convertatur ad penitentiam et vivat.“ (Ez. 33,11) fehlt dagegen in Burchards Version (vgl. hier S. 521, Z. 18). 109 Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol. 105rb–vb, hier fol. 105va: „[…] post VII. annos poenitentia peracta, dimittere eam per approbatam causam poteras si voluisses, occidere eam

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Ungewöhnlich ist der vorliegende Text vor allem deshalb, weil Paulinus dem offenbar hoch gestellten Mörder110 zwei verschiedene Möglichkeiten der Buße für sein schweres Verbrechen, die grausame Tötung seiner schuldlosen Ehefrau, vorschlägt und ihn auffordert, das zu wählen, was ihm besser und leichter erscheine. Er lässt dem Täter die Wahl zwischen einer lebenslänglichen Buße in der Abgeschiedenheit des Klosters, unter der Aufsicht des Abtes und mit Unterstützung der Mönche, und der Ableistung der paenitentia publica „in mundo“. Burchard lässt jedoch die Passage weg, in der betont wird, dass der Sünder, wenn er die zweite Möglichkeit wählt, zwar im eigenen Haus und in der Welt bleiben könne, damit jedoch ohne Zweifel die schwierigere, härtere und schlechtere Möglichkeit wähle.111 Stattdessen fordert er kategorisch und ohne Umschweife als Voraussetzung für die Ableistung der lebenslänglichen öffentlichen Buße in mundo, dass der Büßer die Waffen ablegen und jede weltliche Beschäftigung aufgeben müsse.112 Offenkundig hat Burchard diesen Brief jedoch nicht allein wegen der in einem solchen Fall zu verlangenden Bußleistungen im vollen Umfang in sein Dekret aufgenommen, sondern auch weil Paulinus hier eine Art Präzedenzfall beschrieb. Er verurteilte nicht nur mit Abscheu das Verbrechen und seine sozialen Folgen, vor allem für die nun verwaisten Kinder, sondern verdammte das Verbrechen Heistulfs an seiner schuldlosen Ehefrau auch als Selbstjustiz, die im Nachhinein mit Hilfe einer einzigen Aussage eines verbrecherischen Zeugen gerechtfertigt werden sollte. Dabei hätte doch selbst die Aussage eines rechtschaffenen Zeugen allein nicht ausgereicht, um die Ermordete bei Lebzeiten zu verurteilen oder den Täter nach ihrem Tod zu entlasten. Hier wird noch deutlicher als in Kap. VI, 37 ein gerichtliches Vorgehen beim Verdacht des Ehebruchs gefordert.113 Statt auf solch verbrecherische Weise Selbstjustiz zu üben, hätte Heistulf den Rechtsweg beschreiten und zunächst den Sachverhalt des nullatenus debuisti. Duo consilia proponimus tibi. Accepta tecum deliberatione duorum, elige magis quod placeat, et miserere animae tuae. Et tu hic in isto angusto tempore positus, ne sis tu ipse tuimet homicida, et in aeternum pereas, relinque hoc malignum seculum quod te traxit ad tam immanissimum peccati facinus. Ingredere monasterium, humiliare sub manu abbatis, et multorum fratrum precibus adiutus, observa cuncta simplici animo quae tibi ab abbate fuerint imperata, si forte ignoscat infinita Dei bonitas peccatis tuis. Istud consilium ut certissime scias leuius et salubrius est, ut sub alterius custodia lugeas deflenda peccata.“ 110 In dem oben erwähnten Brief des Hrabanus Maurus an den Straßburger Chorbischof ist vom Brief des Patriarchen Paulinus an Heistulf, den König von Italien, die Rede (MGH Epp. 5 [Anm. 104], S. 507, Z. 34 – 36); vgl. oben bei Anm. 104. 111 Paulinus von Aquileja, MGH Epp. 4 (Anm. 103), S. 521, Z. 27 – 29: „Sin autem penitentiam publicam permanens in domo tua vel in hoc mundo vis agere, quod tibi gravius et durius et peius esse non dubites, ita ut agere debeas, te exhortamur. Omnibus diebus quibus vixeris penitere debes.“ 112 Decr. Burch. VI (Anm. 5), fol. 105va: „Secundum autem consilium tale est. Arma depone, et cuncta secularia negocia dimitte. Carnem et sagimen omnibus diebus vitae tuae non comedas, […].“ Nur bei Paulinus: „Omnibus diebus quibus vixeris penitere debes.“ (MGH Epp. 4 [Anm. 103], S. 521, Z. 29). 113 S. o. Anm. 88.

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(angeblichen) Verbrechens (causa criminis) eingehend erforschen müssen. Wenn seine Frau dann tatsächlich für schuldig befunden worden wäre, hätte sie auf dem Weg des Gesetzes ihre Strafe (ultionis vindictam) empfangen müssen. In diesem Fall hätte Heistulf sie verstoßen können, nachdem sie aufgrund der ihr nachgewiesenen Tat eine siebenjährige Buße abgeleistet hatte.114 Deutliche Veränderungen hat Burchard schließlich fast ausschließlich an den detailliert beschriebenen Vorschriften für eine Ableistung der Buße in mundo angebracht. Sie sind zwar inhaltlich im Wesentlichen mit denjenigen identisch, die Paulinus vorgeschlagen hatte, wurden jedoch aus nicht erkennbaren Gründen zum Teil anders formuliert und in einer anderen Reihenfolge vorgetragen. Wortwörtlich übernommen wurde dann Burchards Version dieses zweiten Ratschlags im 19. Buch des Dekrets, dem „Liber Corrector“, seinem Bußbuch, in der interrogatio 24 des 5. Kapitels. Dort wird der Fall der getöteten Ehefrau zusammen mit demjenigen des getöteten Herrn (senior) in den interrogationes 23 und 24 behandelt115 – zwei dem Täter Nahestehende, die jedoch mit ihm nicht blutsverwandt sind. Zu vermuten ist, dass Burchard seine gegenüber dem Brief des Paulinus etwas veränderte Version in Buch VI schon mit Blick auf eine entsprechende Verwendung in seinem Bußbuch und damit auch zum Zweck einer besseren Verständlichkeit und Umsetzbarkeit in der Lebenssituation seiner Zeit umformulierte. Dies trifft jedoch für den ersten Ratschlag (interrogatio 23) zur Ableistung der Buße im Kloster nicht zu, der hier für das Bußbuch gegenüber der Fassung in Buch VI auf das Wesentliche verkürzt wurde.116 Die entscheidende Veränderung gegenüber seiner Vorlage, dem Brief des Paulinus von Aquileja, besteht jedoch darin, dass Burchard die pastorale Bußanweisung des Paulinus für das VI. Buch seines Dekrets zu einer mit Strafe bewehrten kirchenrechtlichen Vorschrift umfunktionierte. So lässt er am Ende eine Textpassage weg, wo dem Delinquenten für den Fall der Mißachtung dieser heilsamen Ermahnung angekündigt wird, dass er nicht nur in den Fallstricken des Teufels gefangen bleiben werde, sondern auch im Unterschied zu den übrigen Kindern Gottes auf die hilfrei114 Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol. 105rb–105va: „Prius causa criminis subtiliter erat investiganda, et tunc si rea fuisset inuenta secundum legis tramitem debuit excipere ultionis vindictam. Nam et si verum, quod absit, fuisset, sicut ille adulter mentitus est, post VII. annos paenitentia peracta, dimittere eam per approbatam causam poteras si voluisses, occidere eam nullatenus debuisti.“ 115 Vgl. Decr. Burch. XIX, 5, interr. 23 – 24 (Anm. 5), fol. 190rb–190va, die deutliche Anklänge an den Brief des Paulinus aufweisen. Hier sind die beiden Ratschläge auf zwei interrogationes aufgeteilt. 116 Der erste Ratschlag (interr. 23) zur Ableistung der Buße im Kloster wurde für das Bußbuch gegenüber der Fassung in Buch VI noch weiter verkürzt, auf den Herrn bezogen jedoch auch die Anstiftung zur Tat als bußwürdiges Vergehen mit angesprochen: Decr. Burch. XIX, 5, interr. 23 (Anm. 5), fol. 190rb: „Occidisti seniorem tuum, vel in consilio fuisti ut occideretur, vel uxorem tuam partem corporis tui: duo consilia proponimus tibi, elige horum duorum quod tibi charius [!] sit. Istud unum est: Relinque istud fragile seculum, et ingredere monasterium, et humiliare sub manu abbatis: et cuncta quae tibi ab eo fuerint imperata, simplici animo obserua.“

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chen, das Erbarmen Gottes anrufenden Gebete der Kirche verzichten müsse.117 Stattdessen wird ihm in Burchards Version für die Nichterfüllung dieses heilsamen Ratschlags das „unauflösliche Anathem“ angedroht.118 Dieser Passus fehlt jedoch nicht nur im Schreiben des Paulinus, sondern auch in der sonst wortgleich aus dem VI. Buch übernommenen Interrogatio 24 seines Bußbuches (XIX 5, 24), wo der Abschnitt mit dem tröstlichen Versprechen endet, dass der Büßer am Ende seines Lebens, wenn er den Rat befolgt habe, das Viaticum empfangen könne: „In ultimo autem termino vitae tuae, pro viatico si obseruaueris consilium, ut accipias, tibi concedimus.“119 Damit zeigt sich auch in aller Deutlichkeit die unterschiedliche Funktion der beiden Dekret-Bücher: Im Bußbuch geht es allein um die schwere Buße, die für die Tötung der Ehefrau (partem corporis tui) oder auch des eigenen Herrn (senior) verhängt werden soll, dessen Tötung zugleich einen Treuebruch darstellt. Nach Aussage des Kapitels im VI. Buch soll diese öffentliche Buße jedoch von der bischöflichen Strafgerichtsbarkeit durch die Androhung des Anathems erzwungen werden und nimmt dadurch den Charakter einer Strafe an. Der Täter soll so lange unter dem unauflöslichen Anathem verbleiben und damit aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sein, bis er die Buße auf sich nimmt und somit „Gott und der hl. Kirche Genugtuung leistet“120.

VI. Ergebnisse Wie die Analyse einiger Kapitel aus dem VI. Buch des „Decretum Burchardi“ über Vergehen gegen Leib und Leben zeigt, die ohne Vorlagen in anderen kanonistischen Sammlungen oder aber mit deutlichen inhaltlichen Veränderungen in den „Liber decretorum“ aufgenommen wurden, ist Burchard auch in seiner kirchenrechtlichen Sammlung rechtsschöpferisch tätig gewesen. Er hat nicht nur Texte ge117 Paulinus von Aquileja, MGH Epp. 4 (Anm. 103), S. 522, Z. 18 – 23: „Sin autem aliter feceris et sanctae matris ecclesiae tam salubrem admonitionem despexeris, ipse tibi sis iudex et in laqueo diaboli, quo inretitus teneris, permanebis. Sanguis tuus super caput tuum; nos alieni a consortio tuo, pro aliorum filiorum Dei salute ipso opitulante omni sollicitudine intenti innitimur desudare et Domini attentius misericordiam cotidie implorare, qui cum patre et Spiritu sancto vivit et regnat Deus in trinitate perfecta per omnia secula seculorum. Amen.“ 118 Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol.105vb: „Sin autem aliter feceris, et sancte˛ matris Ecclesiae salubre consilium despexeris, ipse tibi sis iudex, et in laqueo diaboli quo irretitus teneris maneas, sanguisque tuus sit super caput tuum: nos alieni a consortio tuo, et sub indissolubili anathemate permaneas, donec Deo, et sanctae Ecclesie˛ satisfacias.“ 119 Decr. Burch. XIX, 5, 24 (Anm. 5), fol. 190va; vgl. auch Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol. 105vb: „In ultimo termino vitae tuae pro viatico, si obseruaueris consilium, ut accipias, tibi concedimus.“; vgl. auch Paulinus von Aquileja, MGH Epp. 4, S. 522, Z. 9 – 11: „[…] in ultimo tamen exitus vitae tuae die pro viatico, si merueris et si sit qui tibi tribuat, tantummodo venialiter ut accipias, tibi concedimus.“ 120 Decr. Burch. VI, 40 (Anm. 5), fol. 105rb: „[…] et sub indissolubili anathemate permaneas, donec Deo, et sanctae Ecclesie˛ satisfacias.“

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sammelt, sondern auch einen Beitrag zur Entwicklung des kirchlichen Strafrechts geleistet. Dies geschah jedoch nie ganz ohne eine autoritative Vorlage, selbst wenn er deren Inhalte in fundamentaler Weise veränderte. Ihn jedoch als Fälscher zu betrachten, weil man mehr auf die wortgetreue Übernahme der Vorlagen als auf die inhaltliche Bedeutung der Texte achtet, geht an der eigentlichen Zielsetzung seiner Änderungen vorbei, die eher von dem Bemühen geprägt waren, eine umfassende und konsistente Rechtssammlung zur Verfügung zu stellen, die möglichst viele der in der Praxis auftauchenden Fragen in allen denkbaren Facetten ohne erkennbare Widersprüche behandelte. Dabei ging es ihm im Zweifelsfall tatsächlich mehr um die Vermittlung bestimmter Vorschriften als um die wortgetreue Übermittlung von Autoritäten. Obwohl hier nur einige wenige Kapitel genauer untersucht wurden, zeichnet sich doch ab, dass eines der Ziele, die er mit seiner Sammlung verfolgte, in der Etablierung einer möglichst eigenständigen bischöflichen Strafgerichtsgerichtsbarkeit bestand, die nur in Extremfällen, wie gewaltsamen Übergriffen auf Bischöfe und andere geweihte Personen, auf die Unterstützung des weltlichen Arms und die abschreckende Wirkung drastischer weltlicher Strafen im Rahmen einer Amtshilfe angewiesen sein sollte. Mit neuen Akzenten versehene Begründungen für bestimmte Strafvorschriften waren nicht nur, wie die kirchliche Strafgerichtsbarkeit im Allgemeinen, vom Bußwesen geprägt, sondern auch von theologisch geprägten Grundüberzeugungen, die vor allem in seinen Kapiteln zur Tötung im Krieg und zur Tötung Ungläubiger zur Geltung kommen. Die soziale Verantwortung, die Burchard als bischöflicher Grundherr mit der Aufzeichnung seines Hofrechts erkennen ließ, zeigt sich auch an den Textänderungen, die er im Hinblick auf ein schweres Verbrechen innerhalb der eigenen Familie, die Tötung der Ehefrau, für notwendig erachtete, eine Tat, die mit dem Vorwurf des Ehebruchs gerechtfertigt wurde, für die Burchard jedoch unter Androhung des Anathems die Ableistung einer lebenslänglichen Buße fordert. Ihm ging es nicht nur um eine deutlichere Verurteilung und Bestrafung dieser Praxis, die er mit Paulinus von Aquileja als Selbstjustiz brandmarkt, sondern auch um eine deutliche Anhebung des Beweisstandards für den Täter. Schon vorher hatte man sich bemüht, wie die wiederholte Forderung nach einer gerichtlichen Untersuchung bei Ehebruchsvorwürfen zeigt, auch den Anlass für ein solches Verbrechen zu beseitigen und stattdessen als Strafe für den Ehebruch eine langjährige Buße und die Verstoßung des schuldigen Ehepartners vorgesehen. All dies deutet darauf hin, dass die Veränderungen in Burchards Dekret, wie schon Hartmut Hoffmann und Rudolf Pokorny aus ihren Handschriftenanalysen abgeleitet haben und auch Greta Austin als Ergebnis ihrer Untersuchungen formuliert hat, vor allem auf sein Anliegen zurückzuführen sind, das kirchliche Recht den Verhältnissen seiner eigenen Zeit und seinen Erfahrungen als Seelsorger und bischöflicher Gerichtsherr anzupassen, und zwar in einem Jahrhundert, das „die Methode des Sic

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et non und die gratianschen Dicta noch nicht erfunden hatte“121, auch wenn es vielleicht etwas zu weit geht, im „Decretum Burchardi“ bereits „the origin of systematic legal reasoning in medieval Europe“ zu sehen.122 Aber auch dies ist letztlich eine Definitionsfrage.

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Hoffmann/Pokorny, Dekret (Anm. 10), S. 159. Austin, Church Law (Anm. 16), S. 239.

„Soll etwa nur Hochhuth den ehrwürdigen Priester Bernhard Lichtenberg für sich in Anspruch nehmen dürfen?“ Die Seligsprechungs-Initiative aus dem Erzbischöflichen Amt Görlitz 1964 Von Gotthard Klein

I. Am 16. November 1943 – einem trüben Herbsttag1 in Berlin, die Luftkriegslage hatte sich trügerisch beruhigt2 – wurde Bernhard Lichtenberg3 zu Grabe getragen. 1 Vgl. Täglicher Wetterbericht des Deutschen Reichswetterdienstes 68 (1943), Nr. 320, S. 1. 2 Zwei Tage später begannen massierte britische Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt; vgl. Laurenz Demps (Hrsg.), Luftangriffe auf Berlin. Die Berichte der Hauptluftschutzstelle 1940 – 1945, Berlin 2012, S. 251 ff. (Tab.). 3 Vgl. u. a. Alfons Erb, Bernhard Lichtenberg. Dompropst von St. Hedwig zu Berlin, Berlin 1946 (19685); Heinz Kühn, Blutzeugen des Bistums Berlin, Berlin 1950, S. 29 – 44 (19522 : S. 29 – 44 u. 193 – 195); Karl Fischer, Kämpfer des guten Kampfes Bernhard Lichtenberg, in: Christlicher Widerstand gegen den Faschismus (= Bibliothek der CDU 4), Berlin 1955, S. 77 – 81; Kurt Magiera, Bernhard Lichtenberg. „Der Gefangene im Herrn“, Berlin 1963; Benedicta Maria Kempner, Priester vor Hitlers Tribunalen, München 1966 (19963), S. 227 – 237; Walter Hruza, Dompropst Bernhard Lichtenberg. Artikel zum Seligsprechungs-Prozeß, Berlin 1967; Karl Grobbel, Bernhard Lichtenberg (= Christ in der Welt 14), Berlin 1967 (19892); Otto Ogiermann, Bis zum letzten Atemzug – Der Prozeß gegen Bernhard Lichtenberg, Dompropst an St. Hedwig in Berlin, Leipzig 1968 (19834 u. d. T.: Bis zum letzten Atemzug – Das Leben und Aufbegehren des Priesters Bernhard Lichtenberg); SC CausSS (Hrsg.), Berolinen. Beatificationis seu Declarationis Martyrii servi Dei Bernardi Lichtenberg […] Positio super scriptis, Rom 1975; H. G. Mann [i. e. Friedrich Hagemann], Prozeß Bernhard Lichtenberg. Ein Leben in Dokumenten, Berlin 1977; Ulrich von Hehl/Christoph Kösters/Petra Stenz-Maur u. a. (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung (= VKZ.A 37), Mainz 1984, S. 255 f. (Bd. 1, Paderborn/München/ Wien/Zürich 19984, S. 480); Paolo Molinari, Art. Lichtenberg, Bernhard, in: BiblSS, App. I, Rom 1987, S. 783 – 785, App. II, Rom 2000, S. 784; Gotthard Klein (cur.), Berolinen. Canonizationis Servi Dei Bernhard Lichtenberg […] [Positio super martyrio], hrsg. v. C CausSS, Prot.N. 1202, 1. Bd.: Informatio, 2. Bd.: Summarium – Documenta, 3. Bd.: Summarium – Depositiones testium, Rom 1992; C CausSS (Hrsg.), Berolinen. Beatificationis seu Declarationis Martyrii Servi Dei Bernardi Lichtenberg […] Relatio et vota congressus peculiaris super martyrio die 30 Martii an. 1993 habiti, Rom 1993 (Prot.N. 1202); C CausSS, Berolinen.

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Auf den Tag genau sechs Jahre zuvor hatten die residierenden Domherren bei St. Hedwig Lichtenberg zum Dompropst gewählt.4 Die Dignitas post Pontificalem major5 wurde einem katholischen Priester verliehen, der an der Wende zum 20. Jahrhundert aus Schlesien in die Reichshauptstadt versetzt worden war. Geboren wurde Bernhard Lichtenberg am 03. Dezember 1875 in Ohlau als Sohn eines „kleinen Kaufmanns“6. In Distanz zum preußischen Obrigkeitsstaat wuchs er während des Kulturkampfes als zweitältester von vier Brüdern im Kreise der kirchlich exponierten Decretum super martyrio (02. 07. 1994), in: AAS 86 (1994), S. 990 – 992; Dieter Hanky, Bernhard Lichtenberg. Priester – Bekenner – Martyrer. „… ein Priester ohne Furcht und Tadel …“, Berlin 1994; Georg Kardinal Sterzinsky, Hirtenwort zur Seligsprechung Bernhard Lichtenbergs, hrsg. v. der Pressestelle des Erzbistums Berlin, Berlin 1995; ders., Texte zu Bernhard Lichtenberg, hrsg v. der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Erzbischöflichen Ordinariats, Berlin 1996; Erich Kock, Er widerstand. Bernhard Lichtenberg. Dompropst bei St. Hedwig Berlin, Berlin 1996; Aufhebung des Sondergerichtsurteils gegen Bernhard Lichtenberg (17. 06. 1996), in: NJW 1996, H. 41, S. 2740 – 2742 (Kurzfassung in: KirchE 34 [1996] [2000], S. 201 – 207); Christian Feldmann, Wer glaubt, muß widerstehen. Bernhard Lichtenberg – Karl Leisner, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1996, S. 15 – 146; Heinz Hürten, Bernhard Lichtenberg. Zur Seligsprechung eines Seelsorgers, in: StdZ 214 (1996), S. 372 – 380; H. G. Mann [i. e. Friedrich Hagemann], Bernhard Lichtenberg oder Die Taten eines Menschen sind die Konsequenzen seiner Grundsätze. Dialog für drei Stimmen und dokumentarischer Anhang (= FH-Geschenkbuch 2), Berlin 1996; Johannes Paul II., Lit. Ap. „Ego veni“ (23. 06. 1996), in: AAS 89 (1997), S. 87 f.; Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem dritten Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden (21.–23. 6. 1996), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= VApSt 126), Bonn o. J., S. 57 – 73; Martin Höllen, Er widerstand – Bernhard Lichtenberg. Begleitheft zur Videokassette 42 55244, Berlin 1997; Gotthard Klein, Seliger Bernhard Lichtenberg, Regensburg 1997; Ursula Pruß, Seliger Dompropst Bernhard Lichtenberg, in: Helmut Moll (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 1. Bd., Paderborn/München/Wien/Zürich 1999 (20146), S. 104 – 110; Kevin Spicer, Last Years of a Resister in the Diocese of Berlin: Bernhard Lichtenberg’s Conflict with Karl Adam and his Fateful Imprisonment, in: Church History 70 (2001), S. 248 – 270; Lucia Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001, S. 267 – 276; Tomasz Zagała, Kapłan w s´wiecie bez boga. Ksia˛dz Bernard Lichtenberg z Oławy (1875 – 1943), Wrocław 2003; MartR (2004), S. 608; Kevin P. Spicer, Resisting the Third Reich. The Catholic Clergy in Hitler’s Berlin, DeKalb 2004, S. 160 – 182 u. 213 – 220; Israel Gutman (Hrsg.), Lexikon der Gerechten unter den Völkern. Teil: Deutsche und Österreicher, hrsg. v. Daniel Fraenkel/Jakob Borut, Göttingen 2005, S. 180 – 182; Brenda Gaydosh, Seliger Bernhard Lichtenberg. Steadfast in spirit, he directed his own course, Ph. D. American Univ. Washington D. C. 2010; Barbara Stühlmeyer/Ludger Stühlmeyer, Bernhard Lichtenberg. Ich werde meinem Gewissen folgen, Kevelaer 2013; Caroline von Ketteler/ Philipp von Ketteler, Bernhard Lichtenberg. Sein Leben für Kinder erzählt, Münster 2014. 4 Zur Kapitelssitzung vgl. Walter Adolph, Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen Kirchenkampf 1935 – 1943, bearb. v. Ulrich von Hehl (= VKZ.A 28), Mainz 1979, S. 190; zum Wahlmodus Statuta Capituli Ecclesiae Cathedralis ad Sanctam Hedwigem Berolinensis vom 15. 04. 1932/29. 01. 1935, cap. XXXI: „Collatio Dignitatis sedi Apostolicae reservata est et quidem sec[undum] concordat[i] [Borussici] art[iculum] 8 alternatim ad instantiam capituli et Episcopi.“ (Diözesanarchiv Berlin [DAB] IV/36). 5 Ernennungsbreve Pius’ XI., Rom, 18. 01. 1938, abgedruckt in: ABl. Berlin 10 (1938), S. 13 f., hier S. 13. 6 Hürten (Anm. 3), S. 372.

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Familie auf. Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium seiner Heimatstadt studierte er Theologie an den Universitäten in Innsbruck und Breslau. Am 21. Juni 1899 wurde er von Fürstbischof Kardinal Kopp (1837 – 1914) zum Priester geweiht.7 Nach einer ersten Anstellung als Kaplan in Neisse8 war er dann seit August 1900 ohne Unterbrechung im Großraum Berlin seelsorglich tätig: zunächst als Hilfsgeistlicher in Friedrichsberg-Lichtenberg (1900 – 1902)9, in Charlottenburg (1902 – 1903)10 und in der Berliner Luisenstadt (1903 – 1905).11 Nach diesen pastoralen Lehrjahren übernahm der noch nicht ganz dreißigjährige Geistliche seine erste selbständige Seelsorgestelle als Kuratus und Kirchenbauer in Friedrichsfelde-Karlshorst (1905 – 1910);12 es folgte eine Anstellung als Kuratus in Pankow (1910 – 1913).13 Auf Wunsch des Fürstbischöflichen Delegaten wurde er 1913 Pfarrer von Herz Jesu in Charlottenburg14. Trotz einer Fülle unüberwindbar erscheinender finanzieller und personeller Engpässe gelang es ihm, von der übergroßen Pfarrei, die mehr als 30000 Katholiken zählte, fünf neue Kuratien abzutrennen. Die für die Neuerrichtung der Filialkirchen erforderlichen Gelder trug Lichtenberg auf zwölf mehrwöchigen Kollektenreisen15 zusammen. Als Mandatsträger der Zentrumspartei, der er bis zu ihrem Untergang 1933 angehörte, verstand er die politische Interessenvertretung in der Stadtverordneten- bzw. Bezirksversammlung von Charlottenburg als besondere Form priesterlicher Weltverantwortung.16 Doch lässt er sich im Rückblick nicht auf die Aufgaben eines „kirchlichen Managers“ reduzieren.17 Das Priestertum blieb die Mitte seiner Existenz. Auszeichnend für den leidenschaftlichen Seelsorger 7 8

S. 4. 9

S. 2.

Eintrag im Weihebuch, Breslau, 21. 06. 1899 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 9). VO des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau, Nr. 359 vom 15. 08. 1899, VO des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau, Nr. 372 vom 15. 09. 1900,

10 Schematismus des Bisthums Breslau und seines Delegatur-Bezirks für das Jahr 1903, Breslau o. J., S. 89. 11 VO des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau, Nr. 412 vom 15. 11. 1903, S. 86. 12 VO des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau, Nr. 435 vom 15. 10. 1905, S. 70. 13 VO des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau, Nr. 498 vom 15. 12. 1910, S. 114. 14 Handbuch des Bistums Breslau und seines Delegatur-Bezirks für das Jahr 1914, Breslau o. J., S. 111. 15 In den Jurisdiktionsbezirken Breslau (1916, 1917, 1918, 1919, 1928), Köln (1920, 1921), Münster (1923), Basel-Lugano (1924), Freiburg (1925), Rottenburg (1926) und Schneidemühl (1927) (vgl. DAB III/2 – 15 – 5). 16 „Weltliche Sorgen des geistlichen Amtes“ nannte Lichtenberg im Rückblick seine kommunalpolitische Tätigkeit (DAB V/26. Scripta S. D., fasc. IX, fol. 35 sq.). Die nach c. 139 CIC/1917 erforderliche Genehmigung seines Ortsordinarius zur Annahme eines politischen Mandats hatte er ohne Schwierigkeiten erhalten (vgl. etwa Klein, Positio II [Anm. 3], S. 29); weitere Dokumente: DAB III/2 – 10. 17 Hürten (Anm. 3), S. 374.

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Lichtenberg war die Verbindung von bekenntnisfroher Frömmigkeit, praktischer Nächstenliebe und politischem Gespür. Nach der Errichtung des Bistums Berlin wurde Lichtenberg 1931 residierender Domkapitular18, 1932 Dompfarrer an St. Hedwig19 und 1938 schließlich Dompropst. Im Bischöflichen Ordinariat war er zuständig für die Visitation der weiblichen Ordensniederlassungen, für Alkoholkranke, Konvertiten, Siedler und vor allem für die vom nationalsozialistischen Regime als Nichtarier verfolgten Katholiken, die seit August 1938 in einem eigenen kirchenamtlichen Hilfswerk20 caritativ und pastoral betreut wurden. Besonders bekannt geworden ist Lichtenbergs öffentliches Gebet, das er unter dem Eindruck des Pogroms der sog. Reichskristallnacht vom 09. November 1938 in der St.-Hedwigs-Kathedrale gesprochen hat: „Was gestern war, wissen wir. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt der Tempel. Das ist auch ein Gotteshaus.“21 Danach hat Lichtenberg jeden Abend für die „schwer bedrängten nichtarischen Christen und Juden“22 wie auch für alle anderen Notleidenden und Verfolgten öffentlich in St. Hedwig gebetet. In einer Einschätzung des Sicherheitsdienstes der SS vom 26. April 1940 galt er als „ein fanatischer Kämpfer für die kath[olische] Sache und ein ebenso fanatischer Gegner des Nationalsozialismus, der für ihn Häresie und Gottlosigkeit zugleich ist. Seine Hauptarbeit bestand in der letzten Zeit in der Organisation eines Hilfswerkes für nichtarische Christen, denen er durch Empfehlungsschreiben und Ausstellen von Zeugnissen die Ausreise aus Deutschland erleichtern und ermöglichen wollte.“23

18 ABl. Berlin 3 (1931), S. 9; zugleich erfolgte die Ernennung zum Ordinariatsrat (ebd.) und wenig später die Ernennung zum iudex prosynodalis (ebd., S. 74). 19 ABl. Berlin 4 (1932), S. 60; Schematismus des Bistums Berlin für das Jahr 1934, Berlin o. J., S. 26. 20 Vgl. u. a. Lutz-Eugen Reutter, Die Hilfstätigkeit katholischer Organisationen und kirchlicher Stellen für die im nationalsozialistischen Deutschland Verfolgten, phil. Diss., Hamburg 19692 [masch.]; gekürzte Fassung u. d. T.: Katholische Kirche als Fluchthelfer im Dritten Reich. Die Betreuung von Auswanderern durch den St. Raphaels-Verein, Recklinghausen/ Hamburg 1971; Wolfgang Knauft, Unter Einsatz des Lebens. Das Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin für katholische „Nichtarier“ 1938 – 1945, Berlin 1988; Heinrich Herzberg, Dienst am höheren Gesetz. Dr. Margarete Sommer und das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, Berlin 2000; Jana Leichsenring, Die Katholische Kirche und „ihre Juden“. Das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ 1938 – 1945, Berlin 2007. 21 Erinnerungen von Elisabeth Kleemann, geb. Fröling, als Anlage zu ihrem Schreiben an Margarete Sommer, [Berlin-]Spandau-West, 01.10.[19]45 (DAB V/20 – 5). 22 Selbstaussage von Bernhard Lichtenberg in seinem Lebenslauf, Berlin, 29. 5. 1942 (Klein, Positio II [Anm. 3], S. 252); vgl. auch Zeugenaussagen ex auditu bzw. ex visu (ebd. III, S. 14, 37, 42, 70, 129, 144, 154, 174, 214 f., 220, 223, 232 u. 244). 23 Heydrich an Himmler, Berlin, 26. 04. 1940 (Bundesarchiv [BArch], R 58, Nr. 5886, Teil II, Bl. 244 – 249, hier Bl. 249). Der Verf. dankt Dr. Wolfgang Dierker für diesen Hinweis.

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Aufgerüttelt durch Bischof Graf Galens „Brandpredigt“24, protestierte Lichtenberg am 26. August 1941 gegen die sog. Euthanasie-Morde an körperlich und geistig Behinderten: „auf meiner priesterlichen Seele liegt die Last der Mitwisserschaft an den Verbrechen gegen das Sittengesetz und das Staatsgesetz. Aber wenn ich auch nur einer bin, so fordere ich doch von Ihnen, Herr Reichsärzteführer, als Mensch, Christ, Priester und Deutscher Rechenschaft für die Verbrechen, die auf Ihr Geheiß oder mit Ihrer Billigung geschehen, und die des Herrn über Leben und Tod Rache über das deutsche Volk herausfordern.“25 Für Sonntag, den 26. Oktober 1941, bereitete er eine Kanzelvermeldung vor, die sich gegen eine anonyme – tatsächlich aber von der NSDAP reichsweit verbreitete – antisemitische Flugschrift26 richtete: „In Berliner Häusern wird“, so schrieb Lichtenberg, „ein anonymes Hetzblatt gegen die Juden verbreitet. Darin wird behauptet, daß jeder Deutsche, der aus angeblicher falscher Sentimentalität die Juden irgendwie unterstützt, und sei es auch nur durch ein freundliches Entgegenkommen, Verrat an seinem Volke übt. Laßt Euch durch diese unchristliche Gesinnung nicht beirren, sondern handelt nach dem strengen Gebote Jesu Christi: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“27 Zur Vermeldung kam es nicht mehr, da Lichtenberg am 23. Oktober 1941 von der Gestapo „wegen staatsfeindl[icher] Betätigung“28 festgenommen wurde. In aller Offenheit bekannte er im Verhör am 25. Oktober 1941, „daß ich die Evakuierung [der Juden] mit all ihren Begleiterscheinungen innerlich ablehne, weil sie gegen das Hauptgebot des Christentums gerichtet ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘, und ich erkenne auch im Juden meinen Nächsten, der eine unsterbliche, nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffene Seele besitzt. Da ich aber diese Regierungsverfügung nicht [ver]hindern kann, war ich entschlossen, deportierte Juden und Judenchristen in die Verbannung zu begleiten, um ihnen dort als Seelsorger zu dienen. Ich benutze diese Gelegenheit, um die Geheime Staatspolizei zu bitten, mir diese Erlaubnis zu geben.“29 Der Schlussbericht der Gestapo vom 03. November 1941 hob Lichtenbergs „abträgliche Einstellung“ zum nationalsozialistischen Regime und seiner Rassenpolitik hervor, zumal sich Lichtenberg mehrfach zum Einsatz in der Lagerseelsorge bereit erklärte30, wie sie die Gestapo 24 Gehalten in der Lambertikirche, Münster, 03. 08. 1941 (Druck: u. a. Peter Löffler [Bearb.], Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933 – 1946, 2. Bd. [= VKZ.A 42], Mainz 1988, S. 874 – 883). Diese Predigt ließ Bernhard Lichtenberg in seinem Pfarrbüro heimlich abschreiben und durch zuverlässige Boten Berliner Geistlichen zustellen (vgl. Klein, Positio III [Anm. 3], S. 128 f. u. 186 f.). 25 Druck: u. a. Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 34 f. 26 Faks.: Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 39 – 42. 27 Druck: u. a. Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 44. 28 Einlieferungsanzeige (Klein, Positio II [Anm. 3], S. 159). 29 Verhörprotokoll (Druck: u. a. Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg [Anm. 3], S. 44 – 52, hier S. 48 f.). 30 In den Gestapo-Vernehmungen am 25.10. und 03. 11. 1941, in einem Schreiben vom 04. 11. 1942 an seinen Strafverteidiger, in einem Schreiben vom 15. 03. 1943 an seine Haus-

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für das Ghetto Litzmannstadt (Łódz´) in Aussicht gestellt, aber nicht ernsthaft erwogen hatte.31 Am 03. November 1941, nach zwölf Tagen in Gestapo-Gewahrsam in Plötzensee, erließ der Amtsrichter Haftbefehl gegen Lichtenberg. Er wurde in die Untersuchungshaftanstalt Alt-Moabit in Berlin eingeliefert. Gegen diesen Haftbefehl legte Lichtenberg Beschwerde ein, die aber am 08. November vom Sondergericht zurückgewiesen wurde. Durch das öffentliche Gebet habe Lichtenberg den „öffentlichen Frieden gestört“. Die in dem Gebet sich äußernde Kritik an staatlichen Maßnahmen sei zugleich „hetzerisch“. Lichtenberg sei des Vergehens gegen das Heimtückegesetz in zwei Fällen und des Kanzelmissbrauchs in einem Falle dringend verdächtig und seine Inhaftierung daher gerechtfertigt, „weil nach der Einlassung des Beschuldigten anzunehmen sei, daß er die Freiheit zur Wiederholung der Straftat mißbrauchen wird, und es bei der Schwere der Tat nicht erträglich wäre, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen.“32 Aufgrund des Berichts von seiten des Generalstaatsanwalts beim Landgericht in Berlin vom 02. Dezember 194133, ergänzt am 05. Januar 194234, ordnete der Reichsminister der Justiz am 03. März 1942 die Strafverfolgung an.35 Am 22. Mai 1942 verurteilte das Sondergericht I beim Landgericht Berlin36 Lichtenberg „wegen Kanzelmißbrauchs in einem Falle und wegen Vergehens gegen § 2 des Heimtückegesetzes in einem weiteren Falle zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren Gefängnis, auf welche die erlittene Polizei- und Untersuchungshaft angerechnet wird“37, und zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 1185,78 RM. Gegen das Urteil des Sondergerichts war kein Rechtsmittel zulässig.38 Die Zahlung der dotationsmäßigen staatlichen Bezüge an Lichtenberg wurde eingestellt.39 Am 29. Mai 1942 erfolgte die Überführung Lichtenbergs aus der Untersuchungshaftanstalt in das Strafgefängnis Tegel in Berlin, in dem er – mit Ausnahme der Lazarettaufenthalte – bis zum Ende der Strafhaft verblieb. Am 29. September 1943 konnte Bischof Graf Preysing (1880 – 1950) eine Grußbotschaft Papst Pius’ XII. Lichtenberg persönlich übermithälterin und am 29. 09. 1943 noch einmal gegenüber seinem Bischof (Nachweise: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 163, 166, 278 f., 291 u. 310). 31 Ludwig Volk † (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, 4. Bd. (= VKZ.A 38), Mainz 1985, S. 99, Anm. 1. 32 Druck: u. a. Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 55 – 57, hier S. 57. 33 Klein, Positio II (Anm. 3), S. 201 – 206. 34 Klein, Positio II (Anm. 3), S. 169 f. 35 Klein, Positio II (Anm. 3), S. 217 f. 36 Das Sondergericht bestand aus dem Landgerichtspräsidenten Wulf Boeckmann (1881 – 1970) und den Beisitzern Landgerichtsrat Dr. Paul Hinke (1904 – 1997) und Landgerichtsrat Ernst Herfurth (1901 – 1958); Staatsanwalt war Walther Nuthmann (1888 – 1968). 37 Urteilsausfertigung (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 235 – 242, hier S. 235). 38 § 16 (1) VO der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten, 21. 03. 1933, RGBl I 1933, S. 136 – 138, hier S. 137); § 26 VO über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte u. sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften, 21. 02. 1940, RGBl I 1940, S. 405 – 411, hier S. 408. 39 RMfdkA an Preysing, Berlin, 17. 08. 1942 (Klein, Positio II [Anm. 3], S. 270).

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teln: „Es hat Uns […] getröstet“, schrieb der Papst, „daß die Katholiken, gerade auch die Berliner Katholiken, den sogenannten Nichtariern in ihrer Bedrängnis viel Liebe entgegengebracht haben, und Wir sagen in diesem Zusammenhang ein besonderes Wort väterlicher Anerkennung wie innigen Mitgefühls dem in Gefangenschaft befindlichen Prälaten Lichtenberg.“40 Der schon vor der Inhaftierung stark angegriffene Gesundheitszustand Lichtenbergs hatte sich während der Haft infolge mangelhafter Ernährung und aufregender Begleitumstände des Gefängnisalltags entscheidend verschlechtert. Wegen einer fortschreitenden Nieren- und Harnwegserkrankung sowie einer Dekompensation des Herzens musste er mehrfach stationär behandelt werden. Noch am Tage der vorgesehenen Entlassung befand er sich im Gefängnislazarett in einem sehr schlechten Allgemeinzustand. Er wurde aber nicht entlassen, sondern der Gestapo „rücksistiert“ und in das Arbeitserziehungslager Wuhlheide in Friedrichsfelde gebracht.41 Das Reichssicherheitshauptamt verfügte die Einweisung in das Konzentrationslager Dachau, obwohl sein besorgniserregender Gesundheitszustand aktenkundig war.42 Die mehrfach durch den Unterhändler des Episkopats Bischof Heinrich Wienken (1883 – 1961) vorgetragenen Anträge des Berliner Bischofs, Lichtenberg – der „vom Tode gezeichnet“ sei – in ein Krankenhaus verlegen zu lassen, wurden von der Gestapo ignoriert.43 Mit einem Sammeltransport traf der „Schubgefangene“ Lichtenberg am 03. November 1943 in Hof ein. Am nächsten Morgen wurde er wegen seines offensichtlich lebensbedrohlichen Gesundheitszustandes „gefängnisärztlich“ in das Stadtkrankenhaus in Hof überwiesen.44 Dort ist er am Herz-Jesu-Freitag, dem 05. November 1943, gegen 18 Uhr verstorben.45 Als Toter entkam Lichtenberg dem Zugriff der Gestapo, die ihn bereits in Dachau vermutete. Sein Leichnam wurde nicht eingeäschert,46 sondern ortspolizeilich frei40 Pius XII. an Preysing, Vatikanstadt, 30. 04. 1943 (Druck: u. a. ADSS II, S. 318 – 327, hier S. 323). 41 Vgl. Erinnerungsbericht des ehemals im Arbeitserziehungslager Wuhlheide tätigen Wachtmeisters Graczyk, Stettin, 19. 05. 1954 (Druck: u. a. Ogiermann [Anm. 3], S. 251 – 253). 42 Mitteilung der Gestapo-Leitstelle Berlin über die Verfügung des Reichssicherheitshauptamtes an den Generalstaatsanwalt, Berlin, 28. 10. 1943 (Druck: u. a. Mann, Prozeß Bernhard Lichtenberg [Anm. 3], S. 114). 43 Preysing an RMfdkA, Berlin, 08. 11. 1943 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 318 f.). 44 Gefängnisärztliche Überweisung, Hof, 04. 11. 1943 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 316). 45 Krankenblatt, Hof, 04./05. 11. 1943 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 316 f.); Sterbeurkunde (Druck: ebd., S. 317 f.). 46 Verstorbene „Schutzhäftlinge“ der Sicherheitspolizei wurden generell eingeäschert. „Die Einäscherung hat, wenn besondere Umstände nicht vorliegen, erst dann zu erfolgen, wenn von seiten der Angehörigen der Wunsch, den Verstorbenen noch einmal zu sehen, nicht innerhalb der vom Lager vorgeschriebenen dreitägigen Frist vorgebracht ist“ (RdErl des RFSSuChdDtPol im RMdI vom 21. 05. 1942: Druck Allgemeine Erlaß-Sammlung (AES) des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Teil 2, Berlin 1934 – 1944, 2 F VIII f; BArch, RD 19/ 3).

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gegeben und dann auf Initiative von Bischof Graf Preysing nach Berlin gebracht und hier bestattet.47 Nach dem Pontifikalrequiem in der St.-Sebastian-Kirche48 im Wedding erfolgte die Beisetzung auf dem St.-Hedwigs-Friedhof in der Liesenstraße.49 Mehr als 5000 Menschen, unter ihnen 185 Geistliche, sollen daran teilgenommen haben.50

II. Die vom nationalsozialistischen Regime intendierte damnatio memoriae misslang. Heinrich Himmlers zynische Prognose, „[i]n unser[e]n Tagen ist es nicht mehr möglich, zum Märtyrer zu werden. […] Wir machen es so, daß Leute dieser Art vergessen werden“51, erfüllte sich nicht. Lichtenbergs exemplarische Bewährung als Mensch, Christ, Priester und Glaubenszeuge fand nach Kriegsende über den kirchlichen Raum hinaus einige Beachtung.52 Mochten Evakuierung, Flucht und Vertreibung den Zusammenhalt der Katholiken an Lichtenbergs ehemaligen Wirkungsstätten behindert oder auf Dauer unterbrochen haben, so mehrten sich dennoch Berichte von Gläubigen, die davon überzeugt waren, daß ihnen auf Lichtenbergs Fürsprache hin geholfen worden sei, etwa durch außergewöhnliche Heilung von Krankheit oder durch Befreiung in auswegloser Lage. Die fama sanctitatis post mortem53 verstummte seitdem nicht mehr. 1946 erschien die erste Biographie Lichtenbergs aus

47 Als Beauftragte des Berliner Bischofs sorgten Offizial Alois Piossek (1889 – 1953) und Domvikar Bernhard Schwerdtfeger (1914 – 1981) für die Überführung des Leichnams nach Berlin; vgl. ihren Bericht, Berlin, 13. 11. 1943 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 323 – 326). 48 Nur wenige Tage später, am 22. 11. 1943, wurde die St.-Sebastian-Kirche von Brandbomben getroffen und erlitt ein ähnliches Schicksal wie die St.-Hedwigs-Kathedrale, die bereits am 01./02. 03. 1943 zerstört worden war. 49 Der Friedhof heißt seit 1991 Alter Domfriedhof St. Hedwig (ABl. Berlin 63 [1991], S. 104). 50 Handschriftlicher Vermerk vom 20. 11. 1943 im RMfdkA auf dem Schreiben Preysings vom 08. 11. 1943 „Betrifft: Ableben des Dompropstes Bernhard Lichtenberg“; BArch, R 5101, Nr. 23335, Bl. 71 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 318 f., hier S. 319); vgl. etwa die Bildserie des Augenzeugen Dr. Erhard Lux (1909 – 1981) (DAB IX/1 – Bildnummer 9176,00 ff.). 51 Himmlers Dictum, das der Primas der norwegischen Staatskirche Eivind Berggrav (1884 – 1959) überliefert hat, bezog sich exemplarisch auf Martin Niemöller (1892 – 1984), zitiert nach Alex Johnson, Eivind Berggrav. Mann der Spannung, Göttingen 1960, S. 184 – 191, hier S. 187 f. 52 Davon zeugen eine Fülle von Schriften, mehrere Bücher, Filme, Rundfunksendungen und Ausstellungen. Straßen, Plätze und Einrichtungen tragen seinen Namen. Einen Überblick bietet die chronologisch sortierte Auswahlbibliographie d. Verf., online verfügbar unter: www. dioezesanarchiv-berlin.de/bibliographie-bernhard-lichtenberg/ (Stand: 10. 11. 2016). 53 Vgl. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 613.

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der Feder von Alfons Erb.54 Im selben Jahr bestimmte das Bischöfliche Ordinariat Berlin Lichtenbergs Todestag, den 05. November, als diözesanen Gedenktag für die Priester und Laien, „die der nationalsozialistischen Christenverfolgung […] zum Opfer gefallen sind“55. 1950 erhielt sein Grab eine neue Gestalt und wurde in die Grablege des Berliner Domkapitels einbezogen.56 Eine weitere Gedenkinitiative entstand auf dem Gebiet der Herz-Jesu-Pfarrei in Berlin-Tegel. Die pastoral notwendige Gründung einer neuen Seelsorgestelle ließ sich mit dem bischöflich gebilligten Vorhaben verknüpfen, eine Bernhard-Lichtenberg-Kapelle zu errichten. Dieser Doppelaufgabe nahm sich mit Verve Lichtenbergs ehemaliger Kaplan Franz Müller (1899 – 1976) an, der auch in West-Deutschland für das Kirchbauprojekt kollektierte.57 Schon bald konnte eine stattliche Kirche nach Plänen von Alfons Leitl (1909 – 1975) fertiggestellt werden – symbolträchtig in unmittelbarer Nähe des Tegeler Gefängnisses gelegen. Von Julius Kardinal Döpfner 1960 dem hl. Bernhard von Clairvaux geweiht, trägt die Kirche inoffiziell den Titel Bernhard-Lichtenberg-Gedächtniskirche.58 Auch der Deutsche Katholikentag, der 1952 erstmals in Berlin stattfand, gedachte in einer eigenen Veranstaltung der Blutzeugen aus jüngster Vergangenheit. Bei dieser Gelegenheit kündigte Bischof Wilhelm Weskamm (1891 – 1956) an, in der Nähe der Hinrichtungsstätte Plötzensee eine Gedenkkirche als „lebendiges Denkmal“59 errichten zu wollen. Mit finanzieller Unterstützung aller westdeutschen Diözesen entstand in den Jahren 1960 – 1963 die avantgardistische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum.60 In der Krypta war eine Grabstätte für Bernhard Lichtenberg vorgesehen. Das Grab blieb aber leer; das Präsidium der Volkspolizei in Ost-Berlin untersagte nämlich 1962 die Überführung der sterblichen Überreste Lichtenbergs über die Sektorengren54 Erb, Bernhard Lichtenberg (Anm. 3). Das Buch erschien zuletzt in 5. Auflage 1968 (24.–26. Tsd.). 55 Eintragung v. 10. 07. 1946, in: Protokollbuch des BO Berlin (DAB I/3a–1); vgl. auch W[alter] A[dolph], Heiliges Vermächtnis, in: Petrusblatt, Nr. 29 vom 21. 07. 1946; Rundschreiben des BO Berlin, Berlin, 15. 10. 1946; Klein, Positio II (Anm. 3), S. 343. Fünfzig Jahre lang hat das Bistum Berlin diesen Gedenktag an Lichtenbergs Todestag begangen. Seit seiner Seligsprechung (1996) wird der diözesanen Blutzeugen am 08.11. gedacht, wohingegen der 05.11. ausschließlich dem neuen Seligen vorbehalten ist. 56 Vgl. Petrusblatt, Nr. 46, 12. 11. 1950; Klein, Positio II (Anm. 3), S. 343 f. Auf dem Grabkreuz stand eine Paraphrase von Ps 45(44),8: „Er liebte die Gerechtigkeit und haßte das Unrecht.“ Das waren auch die novissima verba Papst Gregors VII. gewesen, der sein Leben 1085 im Exil hatte beschließen müssen (vgl. Paul Egon Hübinger, Die letzten Worte Papst Gregors VII. [= RWAkW.G 185], Opladen 1973, S. 9). 57 Vgl. u. a. Franz Müller, „Der Strafgefangene im Herrn“. Erinnerungen an den Großstadtapostel Bernhard Lichtenberg, in: DT, Nr. 45 vom 16. 04. 1958. 58 Vgl. 1960 – 2010 St. Bernhard Tegel-Süd. 50 Jahre Bernhard-Lichtenberg-Gedächtniskirche. FS, Berlin 2010. 59 Gott lebt. Der 75. Deutsche Katholikentag vom 19. bis zum 24. 08. 1952 in Berlin, Paderborn 1952, S. 408. 60 Vgl. Franz Pfeifer (Hrsg.), Gedenkkirche Maria Regina Martyrum Berlin. Zu Ehren der Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit, Lindenberg 2013.

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ze nach West-Berlin, „da auch die Katholiken des Demokratischen Berlin und der Deutschen Demokratischen Republik, in deren Bereich der Dompropst gewirkt habe, ein Anrecht darauf hätten, die Grabstätte dieses bedeutenden Mannes besuchen zu können“61. Genau das aber war aber schon bald nach dem Bau der Berliner Mauer immer seltener möglich. Der Alte Domfriedhof St. Hedwig, der bis an die Grenzbefestigungsanlagen der DDR reichte und in Teilen sogar zugunsten des berüchtigten Todesstreifens eingeebnet worden war, blieb nur einige wenige Stunden in der Woche für Angehörige der dort Bestatteten erreichbar. Der Zugang zu Lichtenbergs Grab war erheblich erschwert und zeitweilig unmöglich62. Seine sterblichen Überreste wurden daher 1965 exhumiert, rekognosziert und in die Unterkirche der St. Hedwigs-Kathedrale übergeführt63, wo sie noch heute ruhen.

III. Schon Kardinal Döpfner (1913 – 1976) war 1959 davon überzeugt, daß Lichtenberg „einen so großen, treuen Weg [bis hin zu seinem heldenhaften Ende] an der Seite des Gekreuzigten“ gegangen sei, „daß wir mit guten Gründen an eine Bestätigung der Kirche durch die Seligsprechung denken können. Aber […], so etwas will aus katholischem Glaubensgeist erbetet werden.“64 Döpfners skeptischer Nachfolger Erzbischof Alfred Bengsch (1921 – 1979) fasste während der dritten Konzilsperiode dann doch den Entschluss zum Handeln. Ein Anstoß von außen scheint den Ausschlag gegeben zu haben. Eine Werktagung der Unio Apostolica65 im Erzbischöfli61

Drews an Weber, Berlin, 05. 07. 1962; Faks.: Dieter Hanky, Im Zeichen des Kreuzes. Von den mittelalterlichen Bistümern zum Bistum Berlin. Ein Gang durch 1000 Jahre Kirchengeschichte, Berlin 1998, S. 112. 62 Vgl. Wolfgang Gottschalk, Die Friedhöfe der St.-Hedwigs-Gemeinde zu Berlin, Berlin 1991. S. 27. 63 Protokoll der Exhumierung und Überführung, Berlin, 26. 08. 1965 (Druck: Klein, Positio II [Anm. 3], S. 351 – 353). 64 Predigt zum Gebetstag der Männer über „Fragen des Friedens“ in der Corpus-ChristiKirche in Ost-Berlin am 05. 11. 1959 (Druck: Julius Kardinal Döpfner, Wort aus Berlin. Rundfunkansprachen und Predigten des Bischofs von Berlin, Berlin 1960, S. 173 – 178, hier S. 177 f.). 65 Die Unio Apostolica (Cleri) ist eine religiöse Vereinigung von Weltpriestern. Sie geht ideell auf das Weltpriesterinstitut des Eichstätter, dann Salzburger Priesters Bartholomäus Holzhauser (1613 – 1658) im Zeitalter der Katholischen Reform zurück, das aber in der Säkularisation aufgehoben wurde. Eine vollständige Neugründung erfolgte 1862 durch Victor Emmanuel Lebeurier (1832 – 1918) in Paris. Die Erzbruderschaft der Weltpriester des heiligsten Herzen Jesu, so der offizielle Name seit 1921, breitete sich weltweit aus. Ihr Wahlspruch (von 1879) lautete: Omnia Sacratissimo Cordi per Mariam Immaculatam! Der erste deutsche Unio-Priesterverein wurde 1908 in Breslau von Maximilian Jüttner (1876 – 1948) gegründet. Nach der kriegsbedingten Zäsur von Flucht und Vertreibung erfolgte 1954 eine Neuformierung im Erzbischöflichen Amt Görlitz auf Initiative von Spiritual Erich Puzik. 1959 gehörten 44 Priester, fast die Hälfte des Görlitzer Klerus, der Unio an; vgl. Konrad Hartelt,

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chen Amt Görlitz hatte sich im Oktober 1964 auf Anregung des Senftenberger Pfarrers Heribert Titze66 mit Bernhard Lichtenberg beschäftigt. 40 Priester votierten für die Eröffnung eines Seligsprechungsverfahrens67. Ortsordinarius Gerhard Schaffran (1912 – 1996) unterstützte das Vorhaben, besprach die Angelegenheit in Rom mit Bengsch und stieß bei ihm auf „keinen grundsätzlichen Widerspruch“68 mehr. Bengsch suchte dann seinerseits Rat bei der Ritenkongregration.69 Durch die römischen Experten ermutigt, gab Bengsch schließlich dem Antrag des Domkapitels70 und dem Drängen zahlreicher Gläubigen71 nach. Am 18. April 1965 eröffnete der Berliner Bischof72 das Vorverfahren zum Seligsprechungsprozeß.73 Nach dem langwierigen zweistufigen Verfahren in West- und Ost-Berlin und dann an der Kurie in Rom erkannte Papst Johannes Paul II. 1994 Bernhard Lichtenberg kirchenamtlich als Märtyrer an.74 Zwei Jahre später erfolgte am 23. Juni 1996 im Berliner Olympiastadion die feierliche Beatifikation am 23. Juni 1996.75 Zum alljährlichen Gedenktag des Seligen Bernhard Lichtenbergs wurde jeweils der 05. November bestimmt. Ferdinand Piontek (1878 – 1963). Leben und Wirken eines schlesischen Priesters und Bischofs (= FQKGO 39), Köln/Weimar/Wien 2008, S. 292. 66 Heribert Titze (1907 – 1971), 1934 kath. Priester (Erzdiözese Breslau), Kaplan in Friedland bei Waldenburg, 1937 Kuratus in Görgersdorf, 1940 Kuratialpfarrer in Calau N. L., 1944 Pfarrer in Lamsdorf, 1947 Pfarrer in Kirchhain, 1949 Caritasdirektor in Cottbus, 1953 Pfarrer in Senftenberg, 1959 Ehrenerzpriester, 1964 residierender Domkapitular in Görlitz, 1966 Dekanats-Erzpriester, 1970 Kuratialpfarrer in Neupetershain; vgl. Nachruf, in: Tag des Herrn, Nr. 49/50 vom 11. 12. 1971, S. 200. 67 S. u. V. 68 Puzik an Bengsch, Neuzelle, 27. 12. 1964; s. u. IX. 69 Präfekt Kardinal Arcadio Larraona (1887 – 1973) empfahl dem Berliner Bischof als Experten den Generalpostulator S. J. Professor Paolo Molinari S. J. (1924 – 2014) und seinen Stellvertreter Professor Peter Gumpel S. J.; Molinari (Anm. 3) wurde 1965 Postulator und Gumpel 1984 Relator der Causa Lichtenberg. 70 Haendly an Bengsch, Berlin, 03. 12. 1964 (Klein, Positio II [Anm. 3], S. 349). 71 Seit Januar 1965 waren in West-Berlin Unterschriften von 77 Priestern und 8730 Gläubigen gesammelt worden (DAB V/26–Kons.). 72 Auf Antrag hatte die Ritenkongregation Bengsch die Zuständigkeit gewährt; SC Rit, Berolinen. Decretum Prot. B.3/965 (23. 02. 1965) (DAB V/26–Kons.). Für die Eröffnung des Vorverfahrens wäre an sich der Bamberger Erzbischof zuständig gewesen, da Lichtenbergs Märtyrertod sich im Erzbistum Bamberg ereignet hatte. Bengsch bat aber die Ritenkongregation am 22. 01. 1965 darum, „ut sim Ordinarius competens iuxta can. 2039, § 1, ad processum informativum instruendum“; seine Eingabe begründete er wie folgt: „Inde ab anno 1900 usque ad mortem Bernardus Lichtenberg Berolini munere sacerdotali functus est. Nulla aderat specialis relatio ad Bambergensem dioecesim quippe quae mere casu dioecesis erat ubi pie in Domino obiit. Memoria autem ipsius viget Berolini.“ 73 Verfügung Bengschs, Berlin, 18. 04. 1965 (Abl. Berlin 37 [1965], S. 25/Amtl. Mitteilungen des BO 108 Berlin[-Ost], Nr. 5, 01. 05. 1965, S. 1). 74 C CausSS, Berolinen. Decretum super martyrio (02. 07. 1994), in: AAS 86 (1994), S. 990 – 992. 75 Johannes Paul II., Lit. Ap. „Ego veni“ (23. 06. 1996), in: AAS 89 (1997), S. 87 f.; Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem dritten Pastoralbesuch in

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IV. Die Initiative aus dem Erzbischöflichen Amt Görlitz ist der Forschung bisher unbekannt geblieben. Erstmals hat Georg May eher beiläufig in einer biographischen Studie über „Priestererzieher aus Schlesien“76 darauf hingewiesen. Die kirchen- und zeithistorisch aufschlußreichen Dokumente aus der Startphase der Causa Lichtenberg werden im Folgenden mit Genehmigung der beteiligten Archive im vollen Wortlaut ediert. Das Kurzregest nennt jeweils Aussteller und Empfänger und rechtsbündig Ort und Datum des Stückes. Die Formalbeschreibung (im Kleindruck) bringt archivischen Fundort, Signatur und Entstehungsstufe der Schriftstücke. Briefkopf, Datum, Betreff, Innenadresse oder Geschäftsgangvermerke berücksichtigt der Dokumentenvorspann; Anschriften und Kontonummern des Ausstellers wurden aber fortgelassen ebenso wie alle Blatt- oder Seitenreklamanten. Der Buchstabenbefund der Vorlage wurde übernommen. Korrekturen, Ergänzungen, Tilgungen oder Hervorhebungen im laufenden Text fanden Aufnahme in den textkritischen Apparat, Auslassungen oder Zusätze des Bearbeiters sind in eckige Klammern gesetzt. Grußformeln und Unterschriften stehen einheitlich rechtsbündig, Abkürzungen wurden in der Regel in Klammern aufgelöst. Der Seitenwechsel wird mit dem Zeichen j markiert, die Seitenzahl weggelassen. Textkritische Anmerkungen (mit hochgestellten Buchstaben) sowie Wort- und Sacherklärungen, Zitat- und Quellennachweise (mit hochgestellten Zahlen) sind auf das dringlich Gebotene beschränkt. Die genannten Personen konnten mit Hilfe der benutzten Archive verifiziert werden; ihren Leitern und Mitarbeitern sowie allen, die mit Auskünften weiterhalfen, sei auch an dieser Stelle nochmals gedankt.

V. [Referat Titzes] [Cottbus, 14. Oktober 1964] Bistumsarchiv Gçrlitz, Bestand Unio Apostolica, Nr. 1: Werktagung der Unio Apostolica am 14. 10. 1964 in Cottbus. – Schreibmaschinendurchschrift ohne Überschrift, Datum und Beglaubigung. – 4 Blätter, 1 Beiblatt, 2 Anlagen.

Es mag heute mancher meinen, Heiligenverehrung sei nicht mehr modern, ja sie werde im Zeitalter der Liturgiereform von der Kirche offiziell zurückgedrängt. Manche Feste wurden gestrichen, während der Quadragesima wird fast kein Heiligenfest mehr gefeiert. Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden, 21.–23. 06. 1996 (= VApSt 126), Bonn o. J., S. 57 – 73. 76 Georg May, Drei Priestererzieher aus Schlesien Paul Ramatschi, Erich Puzik, Erich Kleineidam (= Distinguo 8), Siegburg 2007, S. 61.

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Und doch ist unsere Zeit eine Zeit der Heiligen. Das Kernanliegen der Christenheit von heute ist die Kirche. Das Konzil demonstriert uns diese Wahrheit ad oculos. Und diese Kirche ist eine sichtbare Kirche. Ihre Einheit, ihre Katholizität kann erlebt, gesehen werden, ihre Apostolizität kann dem geistigen Auge durch den Faden der Geschichte sichtbar gemacht werden. Die „Heiligkeit ist Geheimnis – unerreichbar, unberührbar, unaussprechlich: sichtbar, greifbar wird es nur dort, wo es Fleisch wird in den Heiligen“. (I. Fr. Görres77) Wenn daher nach Gottes Willen die Heiligkeit der Kirche aufleuchten soll, dann muß die Kirche die Heiligen leuchten lassen, darum feiert sie auch heute noch trotz Liturgiereform noch mehr als 250 Heiligenfeste78 im Jahre. Jeder Heilige ist ein Werk der Gnade, ein wahres Abbild Christi, ein Strahl aus der Herrlichkeit Gottes. Darum will Gott, daß dieses Bild gesehen und erkannt wird. Weil die Heiligen Bild Christi sind, sollen sie Ihn als Lehrer widerspiegeln und uns Vorbild sein; sollen sie Ihn als Hohenpriester darstellen und uns Fürbitter sein, sollen sie Ihn als den guten Hirten darstellen und uns Schützer sein. Die Kirche greift mitunter Jahrhunderte zurück und stellt einen Heiligen in die neue Zeit, weil er berufen ist, gerade hier zu leuchten. Denken wir an St. Thomas More, der 400 Jahre nach seinem Tode 1935 heiliggesprochen wurde79. Es ist aber auffallend, daß die Kirche nicht von sich aus, ex officio, einen Heiligen „ernennt“; sie wartet immer auf den Anstoß durch die Gläubigen. Siea sollen an die Mutter Kirche herantreten und fragen: Ist das Leuchten, das wir j an diesem Menschen wahrnehmen, echt? Ist das Bild, das dieser Mensch darstellt, das Antlitz Christi? Und die Kirche versperrt sich solchen Fragen nicht. Sie prüft und forscht und wertet und gibt ihr Urteil. Wenn Gott nun in unsere Welt und Zeit Heilige gestellt hat, will Erb, daß sie leuchten, nicht nur den wenigen, die sie kannten; nein, Er will sie auf den Scheffel gestellt wissen80, daß sie von Allen gesehen werden. Will Er auch uns, unserer Zeit, unserem Volk, unserem Stand diese Gnade gewähren? In aller Demut und in gro77

Ida Friederike Görres, Aus der Welt der Heiligen, Frankfurt a. M. 19592, S. 225. Am Vorabend des II. Vatikanischen Konzils hatte Papst Johannes XXIII. im Rahmen einer Rubrikenreform (vgl. „Codex rubricarum Breviarii et Missalis Romani“ [26. 07. 1960]) die Anzahl der Heiligenfeste im Kirchenjahr auf 220 Festtage (10 Tage I. Klasse, 29 Tage II. Klasse und 181 III. Klasse) sowie 44 Tage mit einfachen Kommemorationen reduziert; das postkonziliare „Sanctorale im Calendarium Generale Romanum“ (14. 02. 1969) umfasste dann nur noch 27 Hochfeste und Feste, 63 gebotene und 80 nichtgebotene Gedenktage; Hansjörg Auf der Maur, Feste und Gedenktage der Heiligen, in: GdK 6/1, Regensburg 1994, S. 65 – 357, hier S. 164 u. 172. 79 Zur Heiligsprechung von Thomas More (1478 – 1535) vgl. AAS 27 (1935), S. 202 ff.; Pius XI., Lit. Decr. „Saevis agitata fluctibus“ (19. 05. 1935), in: AAS 28 (1936), S. 185 – 204. a In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. b In der Vorlage: „ER“. 80 Vgl. Mt 5,15; Mk 4,21; Lk 8,16. 78

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ßem Dank möchte ich sagen: „Ja“. Die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland hat so viele Menschen für den Glauben leiden und sterben lassen, von denen man sagen kann – ohne dem Urteil der Kirche vorgreifen zu wollen – sie waren Martyrer, Heilige. Wennc Gott sie uns gegeben haben sollte, dann möge die Kirche prüfen, ob sie „von Gott sind“. Wer aber trägt die Bitte an die Kirche heran? Nur von 3 Opfern des Nationalsozialismus in Deutschland ist mir bisher bekannt, daß ihr Seligsprechungsprozeß eingeleitet ist: Bischof Galen81, Rupert Mayer82, Edith Stein83. Zwei von ihnen gehörten einem Orden an, die sich ihrer annahmen. Wer aber fragt nach den Priestern oder Laien, die aus unserer Diözese stammen oder in ihr weilten und die Opfer der Nazis wurden? Wer weiß viel von Heinz Bello84 aus Breslau? Wer kennt Rudolf Mandrella85 aus Auschwitz? Wer kennt Leben und Sterben von Pfarrer August Froehlichd86 aus Königshütte, von Pfarrer Josef Lenzel87 aus Breslau, von Pfarrer Albert Willimsky88 aus Oberglogau, von Pfarrer Alfons Maria Wachsmann89 aus Greifswald? c

In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. Sel. Clemens August von Galen (1878 – 1946), 1904 Priester (Diözese Münster), 1906 Kaplan an St. Matthias in Berlin, 1911 Kuratus an St. Clemens in Berlin, 1919 Pfarrer von St. Matthias in Berlin, 1929 Pfarrer von St. Lamberti in Münster, 1933 Bischof von Münster, 1946 Kardinalpriester, 1956 Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens, 2005 Seligsprechung (GND: 118537210). 82 Sel. Rupert Mayer S. J. (1876 – 1945), 1899 Priester (Diözese Rottenburg), 1900 Eintritt S. J., Feldgeistlicher im I. Weltkrieg, schwere Kriegsverletzung, 1937 Predigtverbot, 1937 und 1938 zeitweilig in Haft, vom 03. 11. 1939 – 06. 08. 1940 zunächst in Polizeihaft, seit 23. 12. 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen, anschließend Konfinierung bis Kriegsende im Kloster Ettal, 1950 Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens, 1987 Seligsprechung (GND: 11857962). 83 Edith Stein, hl. Teresia Benedicta a Cruce OCD (1891 – 1942), jüd., Philosophin, 1922 Konversion, 1933 Eintritt OCD in Köln, 1938 in Echt, 1942 Deportation und Ermordung als „katholische Nichtarierin“ in Auschwitz, 1962 Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens, 1987 Seligsprechung als Märtyrerin, 1998 Heiligsprechung (GND: 118617230). 84 Heinz Bello (1920 – 1944), kath., nach Abitur (1939) Reichsarbeitsdienst und Medizinstudium, unterbrochen durch Kriegsdienst, wegen beiläufiger Regimekritik am 18. 04. 1944 vom Feldkriegsgericht des Zentralgerichts des Heeres zum Tode verurteilt („Zersetzung der Wehrkraft“), am 29. 06. 1944 in Berlin durch Erschießen hingerichtet (GND: 189463279). 85 Rudolf Mandrella (1902 – 1943), kath., Jurist, Mitglied der Zentrumspartei, 1936 Eheschließung mit Maria Kulke, drei Kinder, 1939 Amtsgerichtsrat in Berlin-Köpenick, seit 1941 Dienst in der Marineverwaltung in Kiel, 1942 Marine-Intendanturrat, im Rahmen der Gestapo-Aktion gegen die katholische Kirche in Pommern („Fall Stettin“) am 05. 02. 1943 verhaftet, am 12. 05. 1943 vom Reichskriegsgericht wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt, am 03. 09. 1943 in Brandenburg durch Enthaupten hingerichtet. d In der Vorlage irrtümlich: „Fröhlich“. 81

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Die nächste Generation wird sie vielleicht schon vergessen haben – und diee Frage an die Kirche hat niemand gestellt. Professor Hermann Hoffmann90 berichtet einmal von seinem letzten Besuch beim Metropoliten von Lemberg, Graf Szeptycky91. Er sah bei ihm auf dem Tische liegen, zur Lektüre aufgeschlagen, die j Biographie über den Breslauer Theologie-

86 August Froehlich (1891 – 1942), nach Kriegsdienst und englischer Kriegsgefangenschaft 1921 kath. Priester (Diözese Breslau), 1921 Kaplan an St. Eduard Berlin-Neukölln, 1924 Kaplan an St. Bonifatius Berlin, 1928 Kaplan an St. Marien Berlin-Spandau, 1929 Kaplan an St. Thomas Berlin-Charlottenburg, 1931 Kuratus an St. Joseph Berlin-Rudow, 1932 Kuratus von St. Paulus Dramburg, 1933 Titl. Pfarrer, 1937 Kuratus von St. Georg Rathenow, zugl. Standortpfarrer i. N., vom 20. 03. 1941 – 08. 04. 1941 Schutzhaft im Gestapo-Gefängnis Potsdam, erneut seit 20. 05. 1941 ebd. wegen Kritik an der Behandlung polnischer Zwangsarbeiterinnen, dann Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Dachau, hier verstorben am 22. 06. 1942 (GND: 123579384). 87 Josef Lenzel (1890 – 1942), 1915 kath. Priester (Diözese Breslau), 1915 Kreisvikar Wohlau in Schlesien, 1916 Kaplan an St. Georg [Berlin-]Pankow St. Georg, 1929 Kuratus von St. Maria Magdalena Berlin-Niederschönhausen, 1930 Titl. Pfarrer ebd., wegen Polenseelsorge am 07. 01. 1942 festgenommen und inhaftiert, dann Arbeitserziehungslager Wuhlheide, im Konzentrationslager Dachau am 03. 07. 1942 verstorben. 88 Albert Willimsky (1890 – 1940), nach Kriegsdienst 1919 kath. Priester (Diözese Breslau), „Utraquist“, 1919 Kaplan an St. Trinitas Beuthen OS, 1922 Kaplan an St. Marien Berlin, 1924 Kuratus in Barth i. P., 1926 Kuratus in Friesack, 1930 Titl. Pfarrer, nach Ausweisung aus Friesack 1935 Kuratus in Gransee, am 01. 10. 1938 Haussuchung und Inhaftierung in Potsdam bis 01. 05. 1939, erneut verhaftet durch die Gestapo vom 01.–11. 5. 1939; 1939 Kuratus in [Stettin-]Podejuch; am 03. 08. 1939 durch das Sondergericht beim Landgericht Berlin wegen Regimekritik („Heimtücke“) zu sechs Monaten Haft verurteilt, die als durch Polizei- und Untersuchungshaft verbüßt galten, am 31. 10. 1939 wegen polenfreundlicher Äußerungen erneut verhaftet, am 22. 02. 1940 im Konzentrationslager Sachsenhausen verstorben (GND: 130469068). 89 Alfons Maria Wachsmann, Dr. phil. (1896 – 1944), nach Kriegsdienst 1921 kath. Priester (Diözese Breslau), 1921 Kaplan an Hl. Kreuz Görlitz, 1924 Kaplan an Herz Jesu Berlin, 1929 Pfarrer von St. Josef Greifswald, zugl. Standortpfarrer i. N., 1942 Vorsitzender des Katholischen Vortragswerks Berlin, am 23. 06. 1943 inhaftiert, vom Volksgerichtshof am 04. 12. 1943 wegen Wehrkraftzersetzung und Verstoßes gegen die Rundfunkverordnung zum Tode verurteilt, am 21. 02. 1944 in Brandenburg durch Enthaupten hingerichtet (GND: 124706932). e In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. 90 Hermann Hoffmann (1878 – 1972), Dr. theol. h. c., 1902 Priester (Diözese Breslau), Kaplan in Naumburg am Queis, 1903 Kaplan in Liegnitz, 1906 Kuratus von St. Antonius in Breslau, 1907 Religions- und Oberlehrer am St. Matthias-Gymnasium in Breslau, 1914 ff. Feldgeistlicher, dann Divisionspfarrer, 1919 Rückkehr an das St. Matthias-Gymnasium, 1925 Beobachter bei der Weltkirchenkonferenz in Stockholm, 1927 freigestellt als Schriftsteller für kirchenhistorische Forschung, nach der Vertreibung aus Breslau 1948 Hausgeistlicher in Leipzig; Mitbegründer des Quickborn, Mitglied des Friedensbundes deutscher Katholiken, der Internationalen Versöhnungsbundes und der Una Sancta (GND: 119035278). 91 Andrij Sˇ eptyc’kyj [Scheptytzky] [Taufname: Alexander] (1865 – 1944), Dr. iur., Dr. theol., 1888 Eintritt OSBM, 1892 Priester, 1899 Bischof der griech.-kath. Kirche in der Ukraine, 1900 Großerzbischof, 1901 Metropolit in Lemberg, 1914 – 1918 in Haft; 1958 Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens, 2015 „Venerabilis Servus Dei“ (GND: 119225085).

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professor Laemmer von P. Schweter92. Sie unterhielten sich über ihren gemeinsamen Lehrer lange Zeit. Dann sagte der Erzbischof schließlich: „Solch ein Mann sollte heiliggesprochen werden. Ihr Schlesier seid undankbar.“93 Trifft das auch auf uns zu? Brauchen wir keinen von den tapferen Männern unseres Standes als Vorbild, Fürsprecher und Schützer? fHat keiner von Gott eine Sendung an uns u[nd] unsere Zeit?f Für mich persönlich steht es fest, daß z. B. der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der aus unserer Diözese stammt und in ihr gewirkt hat, als Heiliger gelitten hat und als Martyrer gestorben ist. Darum bete ich auch: Heiliger Bernhard Lichtenberg[,] bitte für uns, – und die Kirche hindert mich nicht daran, wenn ich es nur privat tue. Warum darf ich aber nicht öffentlich so beten? Weil niemand da ist, der dieg Frage an die Kirche stellt: Trug dieser Mann, der für die Juden betete und dafürh verurteilt wurde und ins Konzentrationslager sollte, nicht die Züge Christi in seinem Antlitz?i j

Es ist auf Grund des Gerichtsspruches erwiesen, daß er verurteilt wurde, weil er die aufgerichteten Rassenschranken durchbrach, weil er damit die Würde der menschlichen Person ohne Rücksicht auf Rassenzugehörigkeit verteidigte, kurz, weil er für seine Brüder und Schwestern, die Juden waren, öffentlich betete. Sollte er eine Sendung von Gott haben für unsere Zeit, für die Völker unserer Tage? Die Sendung, der Welt zu künden, daß die geoffenbarte Wahrheit nicht im Rassenhaß verschüttet wird: Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Fragen wir nicht nur uns, fragen wir die Kirche!j Ich möchte Euch alle fragen: Wollen wir uns nicht zum Sachwalter dieses heiligen Lebens und Sterbens machen? Ich halte das nicht für ein Aufmuntern zu einer gewagten Sache. Kardinal Bertram94 sagte von ihm in einem Brief vom 08. No92 Joseph Schweter, Prälat Dr. Hugo Laemmer 1835 – 1918 oder Die Erbarmungen Gottes im Leben eines heiligmäßigen Gelehrten. Ein Zeit- und Lebensbild, verbunden mit der zweiten Auflage von Laemmers Konversionsschrift Misericordias Domini, Glatz 1926; Hugo Laemmer (1835 – 1918), Dr. phil., Dr. theol., ev., 1857 Habilitation an der ev.-theol. Fakultät in Berlin, 1858 Konversion, 1859 Priester (Diözese Ermland), 1864 Professor für Moraltheologie in Braunsberg, dann Professor für Dogmatik in Breslau, Domkapitular ebd., 1873 zugl. Professor für Kirchengeschichte, 1885 Professor für Kirchenrecht ebd. (GND: 116644044). 93 Hermann Hoffmann, Im Dienste des Friedens. Lebenserinnerungen eines katholischen Europäers, Stuttgart/Aalen 1970, S. 227. f-f Eigenhändig ergänzt. g In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. h In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. i Eigenhändige Ergänzung nachträglich gestrichen: „Sollte er die Sendung haben, der Heilige der Rassenverständig[un]g zu sein?“ j-j Maschinenschriftliche Ergänzung auf Beiblatt. 94 Adolf Bertram, Dr. theol. et iur. can. (1859 – 1945), 1881 Priester (Diözese Hildesheim), 1906 Bischof von Hildesheim, seit 1914 Fürstbischof bzw. Erzbischof (1930) von Breslau,

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vember 1943: „Ich habe stets eine hohe Verehrung für ihn gehabt, weil er mir als einer der edelsten Priester erschien, die mir in meinem langen Leben begegnet sind … [er] bleibt in meiner Erinnerung als Märtyrerk seiner Gesinnung.“95 Als am 09. September 1945 Bischof Konrad von Preysing der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gedachte, hob er aus allen einel Persönlichkeit heraus, die, wie er sagte, „durch ihr ehrwürdiges Alter, durch ihre Stellung, durch ihr fleckenloses Leben und ihren aufrichtigen Charakter uns Vorbild bleiben muß“96: Bernhard Lichtenberg. An sein Sterben knüpft der Bischof die Hoffnung, daß Tertullians Wort sich erfülle: „Das Blut der Martyrer ist der Same neuen Christentums.“97 j Für Kardinal Galen haben die Mitglieder der Confraternitas Sacerdotum Bonae Voluntatis98 an ihren Bischof99 die Bitte gerichtet, den bischöflichen Prozeß über den Ruf der Heiligkeit einzuleiten100. Die Unio apostolica der Diözese Münsterm ist diesem Antrag beigetreten101. Im Oktober 1956 ernannte daraufhin der Bischof von Münster das kirchliche Gericht zur Vorbereitung der Seligsprechung. Wagen doch 1916 Kardinalpriester, seit 1920 Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenzen (GND: 118510134). k Entgegen der Zitatvorlage („Märtyrer“) verwendete Titze den vor allem durch die Messbuch-Übersetzung von Anselm Schott verbreiteten gräzisierenden „Martyrer“-Begriff. 95 Bertram an Franz Lichtenberg (1883 – 1959), Breslau, 08. 11. 1943; Druck u. a.: Erb, Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 69. Zitat nach der Vorlage durch Einfügen von eckigen Klammern verbessert. l In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben. 96 Druck: Hirtenworte in ernster Zeit. Kundgebungen des Bischofs von Berlin Konrad Kardinal von Preysing in den Jahren 1945 – 1947, Berlin 1947, S. 20 – 24, hier S. 20. 97 Tertullian, Apologeticum 50,13 (CCL 1, 171): „Semen est sanguis Christianorum.“ 98 Die 1661 für die Diözesen Münster und Osnabrück gegründete Confraternitas Sacerdotum Bonae Voluntatis sub invocatione Domini Nostri Jesu Christi in cruce morientis hat ihren geistigen Mittelpunkt in dem Marienwallfahrtsort Telgte. 99 Michael Keller (1896 – 1961), nach Abitur (1914) und Kriegsdienst 1921 Priester (Diözese Osnabrück), Kaplan Hamburg-Havestehude, 1931 Pfarrer von St. Marien in HamburgBlankenese, 1933 Domvikar in Osnabrück, Subregens am Priesterseminar, 1939 Regens ebd., seit 1947 Bischof von Münster (GND: 11856112X). 100 Auf ihrer Generalversammlung in Telgte am 10. 07. 1956; s. Anm. 101. m Eigenhändig eingefügt. 101 Unio Apostolica Monasteriensis, gez. Friedr[ich] Sühling, an Confraternitas Sacerdotum Bonae Voluntatis, Münster, 01. 09. 1956: „Die Unio Apostolica Monasteriensis, der etwa 250 Priester angehören, […] macht sich die oben ausgesprochene Bitte [der Confraternitas an den Bischof von Münster, das Seligsprechungsverfahren für Clemens August von Galen zu eröffnen] voll und ganz zu eigen. Sie hat dazu einen besonderen Grund. War doch der hohe Verstorbene mehrere Jahrzehnte treues und eifriges Mitglied der U[nio] A[postolica]. Auch als Bischof schickte er regelmäßig seine Schedula ein. Das erhabene Ziel der U[nio] A[postolica]: Durch heilige Priester zu fruchtbarer Seelsorge! hatte er zutiefst erfaßt. Darum hatte er für alle Fragen der U[nio] A[postolica] stets reges Interesse.“ (Bistumsarchiv Münster [BAM], Bischöfliches Sekretariat, A 39); Mitteilungen des BAM vom 23. 06. 2016.

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auch wir es, unserem Bischof102 in aller Ehrfurcht die entsprechende Bitte für Bernhard Lichtenberg vorzutragen und ihn zu bitten, sie gegebenenfalls an den Bischof von Berlin weiterzuleiten. Auch wir brauchen den Ansporn zum Seeleneifer, zur Liebe und zur Gottestreue, wie sie Bernhard Lichtenberg vorgelebt hat. Oder sind wir zu bequem, oder zu undankbar? Der schwedische Dichter Sven Stolpe103 sagt in seinem Buch über die Jungfrau von Orleans: „Wenn der Teufel das Hervortreten einer edlen und reinen Seele schon nicht verhindern kann, rächt er sich dadurch, daß er das Bild ihrer Seele in der Vorstellung der anderen verdreht.“104 Soll etwa nur Hochhuth105 den ehrwürdigen Priester Bernhard Lichtenberg für sich in Anspruch nehmen dürfen? [Anhang I] O Gott, Du lässt die Heiligkeit Deiner Kirche durch die große Schar der Heiligen immer wieder bezeugen. Zu allen Zeiten sind Glieder des mystischen Leibes Christi für die Glaubenden erkennbar zu vollkommener Liebe gelangt. So bestätigt es uns das Lehramt der Kirche durch die feierlichen Heiligsprechungen. Auch unserer Zeit hast Du das Zeugnis der Heiligen nicht vorenthalten, sondern die Kirche der Gegenwart durch viele Martyrer ausgezeichnet. – In unserer Heimat ist besonders der Opfertod des Berliner Dompropstes Bernhard Lichtenberg von vielen Gläubigen beachtet worden. – Er hat sein Leben hingegeben für das Gebot der Liebe, das die Menschen aller Rassen und Religionen umschließt. Er betete für die verfolgten Juden und für alle ungerecht Gefangenen. Er verteidigte unerschrocken das Evangelium gegen alle Gewalttat. Als getreuer Hirt opferte er alle Jahre seines priesterlichen Wirkens in Gebet und Seeleneifer für die Seinen hin. Darum bitten wir Dich, lass Deinen Diener Bernhard die Ehre der Altäre zuteil werden und uns durch die Kirche bestätigen, daß er uns als bleibendes Zeugnis, als Vorbild der Nachfolge und als Schutzpatron in allen Glaubenskämpfen gesandt ist. Lass an ihm vor aller Welt das Verheißungswort wahr werden: „Die Frommen werden leuchten wie der strahlende Himmel, und die, die viele zur Gerechtigkeit angeleitet haben, wie die Sterne in alle Ewigkeit“ (Dan 12,3). Amen. [Anhang II] 102

Gerhard Schaffran; s. u. VI. Sven Stolpe (1905 – 1996), ev., schwedischer Schriftsteller und Journalist, 1931 Eheschließung mit Karin von Euler-Chelpin, 4 Kinder, 1947 Konversion (GND: 118755617). 104 Sven Stolpe, Das Mädchen von Orléans. Das Schicksal der Jeanne d’Arc. Mit einer Einführung v. Ida Friederike Görres, Frankfurt a. M. 1955, S. 209 (zititiert nach Ida Friederike Görres, Aus der Welt der Heiligen, Frankfurt a. M. 19592, S. 225). 105 Rolf Hochhuth (* 1931), ev., nach der mittleren Reife (1948) Buchhändler, Antiquar und Verlagslektor, 1955 – 1963 im Bertelsmann-Verlag tätig, seit 1963 freier Schriftsteller in Basel und Berlin. Rolf Hochhuth hatte sein papstkritisches Trauerspiel P. Maximilian Kolbe und Bernhard Lichtenberg gewidmet (Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter. Schauspiel. Mit einem Vorwort v. Erwin Piscator, Reinbek b. Hamburg 1963, S. 5). 103

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O Gott, unerforschlich ist Dein heiliger und gerechter Wille in Seinen Höhen und Tiefen. Wir danken Dir, daß Du Deinen Diener Bernhard in seinem priesterlichen Leben hast heranreifen lassen zu einem Manne voll hoher Glaubenstreue, aufrechter Gesinnung und glutvoller Liebe. Du, allwissender Gott, weißt, daß er betend sein Leben hingegeben hat für Dein Gebot der Liebe, das die Menschen aller Rassen und Nationen umschließt. So war er ein Leuchtturm in dunkler Nacht. Darum flehen wir zu Dir, barmherziger Gott, der Du ein treuer Vergelter bist, laß Deinem Diener Bernhard die Ehre der Altäre zuteil werden, auf daß an ihm Dein Wort vor aller Welt wahr werde: „die Frommen werden leuchten wie der strahlende Himmel, und die, die viele zur Gerechtigkeit angeleitet haben, wie die Sterne in alle Ewigkeit“ (Dan. 12,3). Amen.

VI. [Unio Apostolica] an [Schaffran] Cottbus, 14. Oktober 1964 DAB V/26. Documenta varia. – Behändigte Schreibmaschinenausfertigung mit eigenhändigen Unterschriften. 5 Blätter ohne Foliierung.

Hochwürdigster Herr Bischof und Kapitelsvikar! Die heute in Cottbus anläßlich der Werktagung der Unio Apostolica versammelten Priester unserer Erzdiözese beschäftigten sich mit dem Lebensbild des 1943 verstorbenen Berliner Dompropstes Prälat Bernhard Lichtenberg. Er ist in unserer Diözese geboren, hat hier studiert und während seines ersten Priesterjahres in dem engeren Diözesanbereich gewirkt. Von ihm sagt unser verstorbener Kardinal Bertram in einem Kondolenzbriefe an den Bruder des Verstorbenen: „Selten hat eine Nachricht mich so tief erschüttert wie die Kunde von dem tragischen Ende Ihres Bruders, des lieben Dompropstes von Berlin. Ich habe stets eine hohe Verehrung für ihn gehabt, weil er mir als einer der edelsten Priester erschien, die mir in meinem langen Leben begegnet sind. Erfüllt von Glaubenstiefe und echter Frömmigkeit, rastlos seelsorglich tätig, aufgeschlossen für alle Probleme der Gegenwart, mannhaft mutig in Wort und Handeln: so war er eine Zierde des Berliner Klerus. Ihr Bruder bleibt in meiner Erinnerung als Märtyrer seiner Gesinnung.“106

Als am 09. September 1945 Bischof Konrad von Preysing der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gedachte, hat er aus allen einen Persönlichkeit herausgehoben, die, wie er sagte, „durch ihr ehrwürdiges Alter, durch ihre Stellung, durch ihr fleckenloses Leben und ihren aufrichtigen Charakter uns Vorbild bleiben 106 n

Anm. 95. In der Vorlage durch maschinenschriftliche Unterstreichung hervorgehoben.

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muß“107: Bernhard j Lichtenberg. An sein Sterben knüpft der Bischof die Hoffnung, daß Tertullians Wort sich erfüllt: „Das Blut der Martyrer ist der Same neuen Christentums.“108 Sein Biograph Alfons Erb faßt das Urteil über Lichtenberg in die Worte: „Der bleibende Eindruck und die zeugende Kraft, die von Bernhard Lichtenbergs Erscheinung, von seiner Persönlichkeit, von seinem Wort und Wirken ausgingen, beruhten nicht auf einer außergewöhnlichen natürlichen Begabung […], sondern gingen aus seiner ungewöhnlich starken und tiefen Gläubigkeit und Frömmigkeit, aus seiner unerschütterlichen Charakterstärke und mutigen Überzeugungstreue, aus der unantastbaren Reinheit seiner Gesinnung und seines Lebens, aus der Größe und der Glut seiner Liebe hervor. Er war in seiner Gläubigkeit und Treue, in seiner Einfachheit und Geradheit eine Priestergestalt von obiblischer Größeo. Sein Leben war vom Glauben getragen wie das Schiff vom Meere; er wurzelte in der Wahrheit wie ein starker Baum im Mutterboden.“109 Unter dem Eindruck dieser Urteile erlauben wir uns, Euer Exzellenz folgende Bitte vorzutragen und sie gegebenenfalls an den hochwürdigsten Herrn Bischof von Berlin weiterzuleiten: Wir bitten in aller Ehrfurcht, es möge der bischöfliche Informativprozeß über den Ruf der Heiligkeit und der Tugenden bzw. das Martyrium des verstorbenen Dompropstes von St. Hedwig in Berlin, Prälat Bernhard Lichtenberg, gemäß can. 2038110 eingeleitet werden. Unseres Wissens ist außer bei Edith Stein noch bei keinem Deutschen, der als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sein Leben geopfert hat, der Prozeß um die j Seligsprechung eingeleitet worden. Es ist auf Grund des Gerichtsspruches erwiesen, daß er verurteilt wurde propter fidem. Er wurde verurteilt, weil er das Hauptgebot der Liebe auch den Juden gegenüber als verbindlich erklärte, weil er die aufgerichteten Rassenschranken durchbrach, weil er damit die Würde der menschlichen Person ohne Rücksicht auf Rassenschranken verteidigte, weil er für die Juden und seine Mitbrüder in den Konzentrationslagern öffentlich betete. Die Gestapo verweigerte nach Verbüßung der Strafe seine Freilassung, weil sie von seiner Grundsatztreue überzeugt war, schickte den Todkranken als lagerfähig nach Dachau und lieferte ihn damit dem sicheren Tode aus. So ist sein Sterben Blutzeugnis propter fidem111. 107

Anm. 96. Anm. 97. o-o In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben. 109 Erb, Bernhard Lichtenberg (Anm. 3), S. 35; Zitat entsprechend der Vorlage durch Ergänzung eines Auslassungszeichens verbessert. 110 c. 2038 CIC/1917. 111 Vgl. Prospero Lambertini (Benedikt XIV.), De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione, l. 3, cap. 11, n. 1 (Bologna 1737, Neuausgabe Città del Vaticano 2015): 108

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Wenn die Bedeutung der Frage nach dem heroischen Tugendgrade darin liegt, „daß man festzustellen versucht, ob sich die Tugend eines Menschen so ungewöhnlich geäußert hat, daß man von einer rein persönlichen und individuell geformten, aber dennoch hervorragenden und im allgemein menschlichen Bereich von den einzelnen Menschen nicht verkörperten Tugend sprechen kann“112, so dürfte für Lichtenberg dieser Beweis möglich sein.p Bis in sein Sterben hinein hat er sich „die Sehweise, die Gedankenwelt, die Wünsche und das Wollen Gottes in heroischem Grade zu eigen gemacht und damit die Echtheit und Stärke seiner Liebe erwiesen“113. Im allgemeinen eröffnet die Kirche nicht von sich aus einen Heiligsprechungsprozeß; sie wartet, ob die Gläubigen die Bitte an sie herantragen. Wenn wir Priester die Bitte an die Kirche heute wagen, tun wir es in dem Bewußtsein, daß wir das in Sehnsucht j erstreben, was Lichtenberg vorgelebt hat: Seeleneifer, Liebe zu Gott, zur Kirche und zum Nächsten, Glaubenstiefe und Starkmut. Zugleich richten wir mit der Bitte auch die Frage an die Kirche: Sollte er von Gott vielleicht eine Sendung haben für unsere Zeit, für die Völker unserer Tage? Die Sendung, der Welt zu künden, daß nicht im Rassenhaß verschüttet werden darf, was Gott als seinen Willen geoffenbart hat, daß nämlich alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Es wäre erschütternd, wenn Bernhard Lichtenbergs Name und Leben nur von Hochhuth als Zeuge für seine Sache in Anspruch genommen würde. [Es folgen 40 Unterschriften.]

„Martyrium esse voluntariam mortis perpessionem, sive tolerantiam propter fidem Christi, el alium virtutis actum in Deum relatum.“ 112 Karl Schmitt, Einführung, in: Louis Lavelle, Begegnungen mit Heiligen, übers. u. eingel. v. Karl Schmitt, Mainz 1957 (Quatre Saints, Paris 1951), S. 7 – 57, hier S. 20 f. p In der Vorlage irrtümlich: „(Zitat: Karl Schmitt in Louis Lavelle, Begegnungen mit Heiligen, Mainz 1957, S. 64).“ 113 Zitat nicht ermittelt.

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VII. [Unio Apostolica] an [Bengsch] Neuzelle, 01. Dezember 1964 DAB V/26. Documenta varia. – Behändigte Schreibmaschinenausfertigung mit eigenhändigen Unterschriften. 5 Blätter mit 5 Anlagen.

Hochwürdigster Herr Erzbischof! Die am 22. Oktober 1964 in Cottbus anläßlich der Werktagung der qUnio Apostolicaq versammelten 42 Priester unserer Erzdiözese haben sich mit dem Lebensbild des 1943 verstorbenen Berliner Dompropstes, Prälat Bernhardr Lichtenbergs, beschäftigt. Sie haben dabei beschlossen, die Bitte um Einleitung des Seligsprechungsverfahrens für ihn an die zuständige Stelle zu richten. Mit dem Einverständnis unseres Bischofs unterbreiten die unterzeichneten Priester unserer Erzdiözese nunmehr Ew. Exzellenz unser Anliegen. Wir fühlen uns mit dem verstorbenen Berliner Dompropst eng verbunden, denn er ist in unserer Diözese geboren, hat hier studiert und während seines ersten Priesterjahres in dem engeren Diözesanbereich gewirkt. Von ihm sagt unser verstorbener Kardinal Bertram in einem Kondolenzbriefe an den Bruder des Verstorbenen: „Selten hat eine Nachricht mich so tief erschüttert wie die Kunde von dem tragischen Ende Ihres Bruders, des lieben Dompropstes von Berlin. Ich habe stets eine hohe Verehrung für ihn gehabt, weil er mir als einer der edelsten Priester erschien, die mir in meinem langen Leben begegnet sind. Erfüllt von Glaubenstiefe und echter Fröm-jmigkeit, rastlos seelsorglich tätig, aufgeschlossen für alle Probleme der Gegenwart, mannhaft mutig in Wort und Handeln: so war er eine Zierde des Berliner Klerus. Ihr Bruder bleibt in meiner Erinnerung als Märtyrer seiner Gesinnung.“114

Als am 09. November 1945 Bischof Konrad von Preysing der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gedachte, hat er aus allen einet Persönlichkeit herausgehoben, die, wie er sagte; „durch ihr ehrwürdiges Alter, durch ihre Stellung, durch ihr fleckenloses Leben und ihren aufrichtigen Charakter uns Vorbild bleiben muß“115 : Bernhard Lichtenbergu. q-q

In der Vorlage durch Majuskeln hervorgehoben. In der Vorlage durch Majuskeln hervorgehoben. s In der Vorlage durch Majuskeln und Sperrung hervorgehoben. 114 Anm. 95. t In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben. 115 Anm. 96. u In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben. r

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An sein Sterben knüpft der Bischof die Hoffnung, daß Tertullians Wort sich erfüllt: „Das Blut der Martyrer ist der Same neuen Christentums.“116 Sein Biograph, Alfons Erb, faßt das Urteil über Lichtenberg in die Worte: „Der bleibende Eindruck und die zeugende Kraft, die von Bernhard Lichtenbergs Erscheinung, von seiner Persönlichkeit, von seinem Wort und Wirken ausgingen, beruhten nicht auf einer außergewöhnlichen natürlichen Begabung […], sondern gingen aus seiner ungewöhnlich starken und tiefen Gläubigkeit und Frömmigkeit, aus seiner unerschütterlichen Charakterstärke und mutigen Überzeugungstreue, aus der unantastbaren Reinheit seiner Gesinnung und seines Lebens, aus der Größe und der Glut seiner Liebe hervor. Er war in seiner Gläubigkeit und Treue, in seiner Einfachheit und Geradheit eine Priestergestalt von vbiblischer Größev. Sein Leben war vom Glauben getragen j wie das Schiff vom Meere; er wurzelte in der Wahrheit wie ein starker Baum im Mutterboden.“117

Unter dem Eindruck dieser Urteile erlauben wir uns, Euer Exzellenz folgende Bitte vorzutragen: w Wir bitten in aller Ehrfurcht[,] es möge der bischöfliche Informativprozeß über den Ruf der Heiligkeit und der Tugenden bzw. das Martyrium des verstorbenen Dompropstes von St. Hedwig in Berlin, Prälat x

Bernhard Lichtenbergx,

gemäß can. 2038118 eingeleitet werden.w Unseres Wissens ist außer bei Edith Stein noch bei keinem Deutschen, der als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sein Leben geopfert hat, der Prozeß um die Seligsprechung eingeleitet worden. Es ist auf Grund des Gerichtsspruches erwiesen, daß er verurteilt wurde propter fidem. Er wurde verurteilt, weil er das Hauptgebot der Liebe auch den Juden gegenüber als verbindlich erklärte, weil er die aufgerichteten Rassenschranken durchbrach, weil er damit die Würde der menschlichen Person ohne Rücksicht auf Rassenschranken verteidigte, weil er für die Juden und seine Mitbrüder in den Konzentrationslagern öffentlich betete. Die Gestapo verweigerte nach Verbüßung der Strafe seine j Freilassung, weil sie von seiner Grundsatztreue überzeugt war, schickte den Todkranken als lagerfähig nach Dachau und lieferte ihn damit dem sicheren Tode aus. So ist sein Sterben Blutzeugnis propter fidem. Wenn die Bedeutung der Frage nach dem heroischen Tugendgrad darin liegt, „daß man festzustellen versucht, ob sich die Tugend eines Menschen so ungewöhnlich geäußert hat, daß man von einer rein persönlichen und individuell ge116

Anm. 97. In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben. 117 Anm. 109. w-w In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben. x-x In der Vorlage durch Majuskeln hervorgehoben. 118 c. 2038 CIC/1917. v-v

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formten, aber dennoch hervorragenden und im allgemein menschlichen Bereich von den einzelnen Menschen nicht verkörperten Tugend sprechen kann“119, so dürfte für Lichtenberg dieser Beweis möglich sein. Bis in sein Sterben hinein hat er sich „die Sehweise, die Gedankenwelt, die Wünsche und das Wollen Gottes in heroischem Grade zu eigen gemacht und damit die Echtheit und Stärke seiner Liebe erwiesen“120.

Im allgemeinen eröffnet die Kirche nicht von sich aus einen Heiligsprechungsprozeß; sie wartet, ob die Gläubigen die Bitte an sie herantragen. Wenn wir Priester die Bitte an die Kirche heute wagen, tun wir es in dem Bewußtsein, daß wir das in Sehnsucht erstreben, was Lichtenberg vorgelebt hat: Seeleneifer, Liebe zu Gott, zur Kirche und zum Nächsten, Glaubenstiefe und Starkmut. Zugleich richten wir mit der Bitte auch die Frage an die Kirche: Sollte er von Gott vielleicht eine Sendung haben für unsere Zeit, für die Völker unserer Tage? Die Sendung, der Welt zu künden, daß nicht im Rassen-jhaß verschüttet werden darf, was Gott als seinen Willen geoffenbart hat, daß nämlich alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. [Es folgen hier neun Unterschriften und auf den fünf Blättern der Anlage (jeweils mit Kopf: „Unterschriften für das Gesuch vom 01. Dezember 1964 um Einleitung des bischöflichen Informativprozesses über den Ruf der Heiligkeit und der Tugenden bzw. das Martyrium des verstorbenen Dompropstes von St. Hedwig in Berlin, Prälat Bernhard Lichtenberg“) weitere 64 Unterschriften von Priestern.]

VIII. Schaffran an Bengsch Görlitz, 02. Dezember 1964 DAB V/26. Documenta varia. – Behändigte Schreibmaschinenausfertigung mit eigenhändiger Unterschrift auf Kopfbogen mit Wappen: „Gerhard Schaffran j Bischof und Kapitelsvikar“. – Innenadresse am Kopf: „Sr. Exzellenz j Dem Hochwürdigsten Herrn j Herrn Erzbischof Dr. Alfred Bengsch j Bischof von Berlin j Berlin W 8 j Hinter der kath. Kirche 3“. 1 Blatt.

Euer Exzellenz! Wiederholt ist die Bitte an mich herangetragen worden, daß für den verstorbenen Dompropst von St. Hedwig in Berlin, Prälat Bernhard Lichtenbergy, der bischöfliche Informativprozeß über den Ruf der Heiligkeit und der Tugenden bzw. das 119

Anm. 112 mit Anm. o. Zitat nicht ermittelt. In der Vorlage durch Sperrung hervorgehoben.

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Martyrium des verstorbenen Dompropstes gemäß can. 2038121 eingeleitet werden möge. Diese Bitte, die nun von dem Großteil der Priester unserer Erzdiözese an Euer Exzellenz gerichtet wurde, unterstütze ich aus ganzem Herzen und mache sie zu meiner eigenen. Herr Prälat Lichtenberg wird nicht nur von den Priestern, sondern besonders auch von vielen Männern sehr verehrt, wobei besonders sein mutiges Eintreten für die Opfer des Nationalsozialismus und seine Überzeugungstreue bis zu seinem Tod Priestern wie Laien Vorbild sind. Die erhoffte Seligsprechung dieses bis zum Tod gewissens- und glaubenstreuen Priesters würde auch die Gläubigen unserer Zeit erneut in ihrer Gewissens- und Glaubenstreue stärken. Mit verehrungsvollen Grüßen Euer Exzellenz ergebenster z † Gerhard Schaffranz

IX. Puzik122 an Bengsch Neuzelle, 27. Dezember 1964 DAB V/26. Documenta varia. – Behändigte Schreibmaschinenausfertigung mit eigenhändiger Unterschrift. Innenadresse am Kopf: „An Seine Exzellenz j den Hochwürdigsten Herrn Erzbischof j Dr. Alfred Bengsch j Berlin-Weißenseej Gürtelstrasse 8“. 2 Blätter.

Hochwürdigster Herr Erzbischof! Anbei übersende ich ein Schreiben unseres Diözesanklerus, dem ein Brief unseres Kapitelsvikars Bischof Schaffran beiliegt. Wir bitten darin um die Einleitung des Informativprozesses für den verstorbenen Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg. Der Gedanke ist nicht von mir ausgegangen, sondern von Kanonikus Titze (Senftenberg) in einer Werktagung der Unio Apostolica im Juni [19]64 angeregt worden. Die Mitbrüder und auch ich begrüßten den Vorschlag, der Euer Exzellenz von Bischof Schaffran in Rom unterbreitet wurde und keinen grundsätzlichen Widerspruch gefunden hat.

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c. 2038 CIC/1917. Eigenhändige Unterschrift. 122 Erich Puzik, Dr. theol. h. c. (1901 – 1993), 1925 Priester (Diözese Breslau), Kaplan bei St. Vinzenz in Breslau, 1927 Religionslehrer in Neisse, 1928 zum Studium beurlaubt, 1929 Repetent am Konvikt in Breslau, 1934 Spiritual, 1942 – 1946 Pfarrer in Schweidnitz, Vertreibung, 1947 Spiritual am Priesterseminar in Königstein, 1948 – 1967 Spiritual am Priesterseminar in Neuzelle, 1967 – 1970 Regens ebd., 1958 Domkapitular, 1964 Päpstl. Hausprälat, 1975 Dompropst, 1976 Apostolischer Protonotar a. i. p. (GND: 1033018953). z-z

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Gotthard Klein

Wir Deutschen standen aus mancherlei Gründen den Heiligsprechungsverfahren in einer abwartend kühlen Haltung gegenüber, aber die Lage ist wohl nunmehr doch eine andere geworden. Durch das Kirchenschema123 ist die Frage der Heiligenverehrung wieder mehr in den Vordergrund des Interesses gerückt, wie die Ausführungen von Karl Rahner im Heft 5 von Geist und Leben (1964) zeigen124. Die dort vorgetragenen Schwierigkeiten sind wohl nicht allzu schwer zu lösen. Ich glaube, daß schon die Einleitung eines Informativprozesses das Interesse an der Persönlichkeit des verehrten Dompropstes bestärken würde und daß davon viele und kräftige Anregungen für die geistliche Haltung des Klerus und des christlichen Volkes der Ostdiözesen ausgehen könnte[n]. j Ich benutze diesen Anlass, um Ihnen zum neuen Jahre 1965 in alter Verbundenheit Gottes reichen Gnadensegen, Friede und Freude zu wünschen und verbleibe mit herzlichen Grüßen Ihr ergebenster za E[rich] Puzikza

123 LG VII; vgl. Paolo Molinari, La storia del Capitolo VII della Costituzione Dogmatica „Lumen Gentium“. Indole escatologica della Chiesa Pellegrinante e sua unione con la Chiesa Celeste, in: C CausSS (Hrsg.), Miscellanea in occasione del IV centenario della Congregazione per le Cause dei Santi (1588 – 1988), Città del Vaticano 1988, S. 113 – 176. 124 Karl Rahner, Warum und wie können wir die Heiligen verehren? Einige theologische Erwägungen zum VII. Kapitel des Konzilsdekretes „Über die Kirche“, in: GuL 37 (1964), S. 325 – 340. za-za Eigenhändige Unterschrift.

Besitzt die Kirche das Recht zu strafen? Der c. 1311 CIC/1983 und das Postulat einer theologischen Begründung des Strafanspruchs der Kirche Von Reinhard Knittel Auch wenn es indessen eher ruhig geworden ist in der Diskussion zum kanonischen Straf- oder Sanktionsrecht1 – anders als in der Phase der Reform des CIC/ 19172 – und radikale Infragestellungen der Strafgewalt der Kirche auch in der Kanonistik weniger zutage treten, bleibt die theologische Grundlegung des kanonischen Strafanspruchs eine Aufgabe, die es immer wieder neu zu vertiefen gilt. Tatsächlich aber muss den zu ehrenden Jubilar Ludger Müller zugestimmt werden, der zum Ergebnis der diesbezüglichen kanonistischen Vertiefung der letzten Jahrzehnte feststellt: „In den letzten Jahrzehnten ist ein erheblicher kirchenrechtstheoretischer Fortschritt hinsichtlich der Begründung von Sanktionen in der Kirche erreicht worden.“3 In diesem Prozess können verschiedene Ansätze und Wege der Kanonistik weltweit festgestellt werden. Sie alle aber setzen sich mehr oder weniger kritisch mit der einleitenden Norm in c. 1311 CIC/1983 auseinander, die den c. 2214 § 1 CIC/1917 ablöst, ohne die darin terminologisch eindeutig bezeichnete Strafanspruchsbegründung aus der Tradition des Ius Publicum Ecclesiasticum (IPE) aufzugeben. Libero Gerosa etwa fasst die Argumente gegen die genannte Art von Begründungsversuchen zusammen, wenn er sagt: „1. Sie erweist sich als gefährlich, weil sie dazu neigt, die Kirche ausschließlich von der gesellschaftlichen Seite zu sehen, als wäre sie nur eine naturrechtliche Gesellschaft. 2. Es ist nicht erwiesen, daß eine Gesellschaft, die im rechtlichen Sinn vollkommen ist, unbedingt für immer und in jeder Situation über alle wirksamen Mittel verfügen muß. 3. Die Kategorie ,societas perfecta‘, von der 1 Terminologisch soll hier die Weite des VI. Buches des CIC/1983 aufgegriffen werden, wo der Begriff sanctio (poenalis) als Oberbegriff erscheint, aber auch der klassische Begriff poena alternativ mehrfach verwendet wird. 2 Eine gute und genaue Zusammenfassung des kirchlichen Procedere bei der Reform des kanonischen Strafrechts seit der Einsetzung der päpstlichen Kommission zur Revision des Strafrechts am 28. 03. 1963 und in der kanonistischen Diskussion s. Dagmar Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch: Die Begründung der kirchlichen Strafgewalt vom Ius Publicum Ecclesiasticum bis zum CIC/1983 (= AIC 43), Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 171 – 182. 3 Ludger Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: ders./Alfred E. Hierold/ Sabine Demel/Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe: Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 183 – 202, hier S. 183.

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die Lehre des IPE ausgeht, stammt aus dem Naturrecht und ist deshalb ungeeignet, ein theologisches Verständnis des Kirchenrechts zu vermitteln. Von daher kann sie auch ein Strafrecht in der Kirche nicht begründen. Im Grunde ist es immer noch der römische Grundsatz ,ubi societas, ibi ius‘, der vorausgesetzt wird.“4 Wenn auch, unter anderem biographisch bedingt, nicht als „Mann der ersten Stunde“, dafür aber mit der Möglichkeit, die bereits vor ihm getätigten Überlegungs- und Vertiefungswege fruchtbar auswählen und einbauen zu können, muss in diesem kanonistischen Diskussionsprozess zur Strafrechtsbegründung auch Ludger Müller als maßgeblicher Indikator verortet werden. Sein Standpunkt soll in dieser Frage ausgelotet werden anhand von zwei Publikationen aus seiner Feder, entstanden im zeitlichen Abstand von sieben Jahren,5 die sich direkter und ausführlicher mit diesem Thema beschäftigen als andere Publikationen, wo Müller eher grundsätzlich die Auseinandersetzung mit der Tradition des IPE sucht und dabei en passant das Thema Strafrechtsbegründung streift.6 Bevor aber eine genauere Sicht und Diskussion der Position der Begründung des kirchlichen Straf- bzw. Sanktionsanspruchs bei Ludger Müller versucht wird, sollen zunächst einmal wesentliche Linien der Kontextualisierung einer Distanzierung von der herkömmlichen Begründung des Straf- bzw. Sanktionsanspruchs in der Tradition des IPE während des Reformprozesses auf den CIC/1983 hin erläutert werden.

I. Der c. 1311 CIC/1983 – Relikt einer antiquierten oder Ausdruck einer fehlenden Grundlegung der kanonischen Strafrechtsbegründung? Zunächst einmal darf nicht übersehen werden, dass der neunte Leitsatz der Bischofssynode von 1967 die Beibehaltung von kirchlichen Strafen damit begründet, dass die Zwangsgewalt (ius coactivum) jeder societas perfecta eigen sei, was somit auch der Kirche nicht abgesprochen werden könne.7

4 Zitiert aus einer Zusammenfassung der Dissertation von Libero Gerosa mit dem Titel: „La scomunica è una pena? Saggio per una fondazione teologica del diritto penale canonico. Fribourg 1984“ unter dem Titel „Ist die Exkommunikation eine Strafe?“, dt. Übersetzung von T. Lenherr/N. Herzog/J. Rösner, in: AfkKR 154 (1985), S. 83 – 120, hier S. 85 – 86. 5 Hier sei verwiesen auf Ludger Müllers bereits zitierten Beitrag (s. Anm. 3). Besonders zu berücksichtigen ist aber wohl als reifste Frucht aus der Feder von Ludger Müller seine Gesamtdarstellung des Sanktionsrechts in Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 78 – 249. 6 Erinnert sei hier v. a. an den Beitrag Ludger Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre: zwei Quellen des kirchlichen Verfassungsrechts?, in: Sabine Demel/ ders. (Hrsg.), Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 2007, S. 265 – 293. 7 Vgl. Com 1 (1969), S. 84 – 85.

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Hat noch der CIC/1917 wenigstens den Begriff der societas perfecta vermieden, findet er sich nun explizit als Begriff der Korrelation der kirchlichen Strafgewalt. Zusätzlich wird die damit angesprochene Ebene der Begründungslogik des kirchlichen Strafrechts in der Optik des IPE dann auch im ersten Leitsatz über die juridische Natur des reformierten CIC geboten, wo auch das kanonische Strafrecht an die natura socialis Ecclesiae gebunden wird.8 Somit muss zumindest für den Beginn des Reformprozesses angenommen werden, dass die Begründung für die Strafgewalt der Kirche in der herkömmlichen Optik des IPE verblieben ist.9 Vollauf bestätigt wird dies durch die im ersten reformierten Schema 1973 gegebene Begründung für die Notwendigkeit der potestas coactiva in der Kirche: „In regimine ac gubernatione cuiusvis societatis inter homines visibiliter constitutae usus potestatis coactivae universaliter stabilitus est.“10 Deduktiv wird also von allgemein soziologischen Erfordernissen her die Strafgewalt der Kirche begründet und so auch als notwendiger Rechtsanspruch in der kirchlichen societas abgeleitet.11 Damit dürfte als Reflex auch die damalige Sichtweise zumindest der Mehrzahl der Kanonisten vor allem im romanischen Sprachkreis getroffen sein, während in Deutschland gerade im Umfeld der sog. „Münchner Schule“12 bereits vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil kritisch-ablehnendere Positionen gegen diese Begründungsebene aus der Tradition des IPE vorgetragen wurden. Die Vehemenz der Auseinandersetzung als Motor für einen theologischen Begründungsansatz der kirchlichen Strafgewalt konnte natürlich als Grenze auch mit einer gewissen emotionalen Fixierung in dieser Frage Hand in Hand gehen, die eine Art Feindbildwirkung hervorbrachte und dabei ausblendete, dass bei allen Grenzen der apologetischen Optik und Zielsetzung im Begründungsansatz des IPE, damit auch des Ungenügens in ekklesiologisch-theologischer Hinsicht, die sozietäre Natur der irdischen Kirche nicht 8

Vgl. Com 1 (1969), S. 78. Vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 172 – 173. 10 Schema doucmenti quo disciplina sanctionum seu poenarum in Ecclesia latina denuo ordinatus, 11 (zitiert nach: Velasio de Paolis, De sanctionibus in Ecclesia: Adnotationes in Codicem: Liber VI. Rom 1986, S. 22). 11 Der amerikanische Kanonist James H. Provost drückte in seinem Beitrag „Revision of Book V of the Code of Canon Law“, in: StCan 9 (1975), S. 135 – 152, hier S. 144 das ekklesiologische Ungenügen des Schemas mit den Worten aus: „There needs to be a better demonstration that there can be penal law in the Church, and should be penal law at this time. A theological foundation may be possible, but it is not adequately developped in the Schema.“ Gleichzeitig setzt er in Bezug auf den Einleitungscanon des Schemas fort: „What is questionable about this approach is that it would appear to argue more from the Church as a society of any type, rather than from the specific nature of the Church as a special kind of society“ (ebd., S. 145). 12 Vgl. Ludger Müller, Die „Münchner Schule“. Charakteristika und wissenschaftliches Anliegen, in: AfkKR 166 (1997), S. 85 – 118. 9

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einfach fallen gelassen oder abgewertet werden darf, sondern positiv in eine umfassende Theologie der Kirche aufgenommen werden muss. Trotz der Anleihen in Geist und Begrifflichkeit des IPE billigt Audomar Scheuermann diesem ersten Schema 1973 zu, die Zwangsgewalt in der Kirche als „ein von der Liebe durchwirktes Tätigwerden der Kirche, das ganz im Dienst des Heils der Seelen steht“,13 zu begründen und darzulegen. Gleichzeitig wanderte darin ein Teil des früheren c. 2214 § 1 CIC/1917 als c. 1 § 1 an die Spitze des gesamten Normenkomplexes des kanonischen Straf- bzw. Sanktionsrechtes. Zuvor befand sich die Norm nur an der Spitze der pars II (De poenis), eben als Grundlagencanon für die rechtliche Ausübung der Strafgewalt in der Kirche, zusätzlich ekklesial-pastoral abgefangen und spezifiziert durch den § 2, der im Reformprozess aber ausgeschieden wurde. Eben diesem Residuum der Norm von c. 2214 § 1 CIC/1917 wurde, zwar mit einigen Korrekturen, aber vielleicht ohne genügende Rechenschaft über die Tragweite der neuen Positionierung an der Spitze des VI. Buches, die mehr oder weniger intendierte Aufgabe der einleitenden Grundlegung des kirchlichen Strafanspruchs zugewiesen. Schon von der textlichen Genese her ging dies aber weit über die Möglichkeiten, abgesehen davon, dass eine solche Norm der Natur des CIC nach durchaus entbehrlich ist.14 So wurde zwar seitens der Reformgruppe gegen die Kritik jener, die eine Verortung des kirchlichen Strafanspruchs von den Eigenzielen des kirchlichen Straf- bzw. Sanktionsrechtes her und in Einordnung zum Gesamtzusammenhang des kirchlichen Auftrags forderten, darauf verwiesen, dass diese Kontextualisierung nicht Aufgabe der Gesetzgebung, sondern der Lehre sei, aber die maßlos überforderte Norm wurde dennoch beibehalten.15 Auch in der neuen Fassung des Schemas 1973 wird nun also der Kirche ein nativum et proprium ius coercendi mittels Strafsanktionen gegenüber den straffällig gewordenen Gläubigen zugesprochen.16 Ein Vergleich zur Textfassung des c. 2214 § 1 CIC/1917 zeigt, dass neben anderen kleineren Veränderungen (Eingrenzung des Personenkreises, die dem Strafanspruch der Kirche unterliegen, nur auf die katholischen Gläubigen, keine Aufteilung in geistliche und weltliche Strafen mehr, die Verwendung des Begriffs Strafsanktion anstelle von Strafe) der für unsere Fragestellung wichtige Zusatz independens a qualibet humana auctoritate fallen gelassen wurde. Damit aber fiel bezeichnenderweise genau jener Passus weg, der die Optik des IPE zentral traf und wiedergab, nämlich die apologetische Betonung der Autonomie der Gesetzgebung der Kirche angesichts 13 Vgl. Audomar Scheuermann, Das Schema 1973 für das kommende Strafrecht, in: AfkKR 143 (1974), S. 3 – 63, hier S. 4. 14 Vgl. Scheuermann, Das Schema 1973 (Anm. 13), S. 7, wo der Autor diesen einleitenden Canon mit dem Anspruch der Strafgewalt seitens der Kirche als entbehrlich ansieht, wohingegen er ihn in eine lex fundamentalis eingliedern möchte. 15 Vgl. Com 8 (1976), S. 167; Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 185; de Paolis, De sanctionibus in Ecclesia (Anm. 10), S. 13. 16 Vgl. c. 1 § 1 Schema 1973; vgl. Scheuermann, Das Schema 1973 (Anm. 13).

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überzogener Ansprüche des Staates, was auch im Falle der nötigen Ausübung der Zwangsgewalt gelten musste.17 Auch der endgültige Text des c. 1311 CIC/1983 blieb auf diesem Stand, wohl auch deshalb, weil der strafrechtlichen Einleitungsnorm des CIC/1983 keine größere praktische Bedeutung zugedacht war. Peter Krämer bescheinigt der Textgestalt von c. 1311 CIC/1983, trotz enger Anlehnung, gewisse Verbesserungen im Vergleich zum c. 2214 § 1 CIC/1917, aber er wirft auch kritisch ein, die Neufassung habe „von daher kaum Ansatzpunkte für eine Reform aufgenommen, die das Zweite Vatikanische Konzil nahegelegt hätte.“18 Dagegen aber darf nicht übersehen werden, dass die Reformgruppe offensichtlich doch der Ansicht war, dass mit der Begründung des Strafanspruchs in c. 1311 CIC/ 1983 durchaus auch die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils als Quelle und Grundlage repräsentiert werde und damit auch durchaus harmonisierbar sei, da immerhin als Quellen des c. 1311 CIC/1983 die Stellen von LG 8 und GS 76 angeführt werden.19 Von daher stellt sich die Frage: Führt der c. 1311 CIC/1983 notwendig zum Koordinatensystem des IPE zurück, also zu einer Strafrechtsbegründung, die sozialphilosophisch anhebt und daraus dann die spezifisch kirchliche Ebene einfach deduziert? Viele Kanonisten im Umfeld der „Münchner Schule“ vertreten diese These, auch vor dem Hintergrund der Genese der Norm in c. 1311 CIC/1983.20

17 Diese offensichtliche Akzentverschiebung im Wortlaut des Schemas und dann auch der endgültigen Norm in c. 1311 CIC/1983 wird von manchen Kanonisten offensichtlich übersehen oder unterbewertet, vgl. etwa: Giuseppe di Mattia, Il diritto penale canonico a misura d’uomo, in: REDC 47 (1990), S. 639 – 661, hier S. 646, wo er eine kritische Position gegenüber der Formulierung des ius nativum et proprium der Norm in c. 1311 CIC/1983 einnimmt, da sie „einen apologetischen Beigeschmack besitze, ganz anachronistisch und überflüssig“, da ja der CIC/1983 überhaupt Träger von Werten ist, die souverän und ursprünglich sind. Auf die Auslassung des genannten Passus geht der Autor gar nicht ein, sondern für ihn rettet diesen Canon allein die Wahl des Ausdrucks der Adressaten des Strafrechts christifideles im Unterschied zu den subditos des CIC/1917. 18 Peter Krämer, Strafen in einer Kirche der Liebe, in: Ludger Müller/Alfred E. Hierold/ Sabine Demel/Libero Gerosa/ders. (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe: Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 9 – 22, hier S. 13. Einen völlig anderen Weg in der Begründung des kirchlichen Strafrechts geht dann der CCEO, der in c. 1401 einen biblischen Ausgangspunkt wählt, um daraus den kirchlichen Auftrag abzuleiten, der die heilende Wirkung der Strafe am Straftäter in den Vordergrund rückt, die Strafe als Teil des Bußweges sieht, sodass hier eine theologisch-heilsgeschichtliche Begründung präsentiert wird, s. auch Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 213 – 215. 19 Vgl. Domingo Andrés Gutiérrez (Hrsg.), Leges Ecclesiae post Codicem iuris canonici editae, Vol. VII, Rom 1994, 10309, Note 359. 20 Auch Ludger Müller lässt sich dieser Position zuordnen; vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 236 – 238.

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Trotz der geschilderten Abschwächung der apologetischen Optik bleibe der bisherige Deutungsrahmen unausgesprochen weiter bestehen.21 Damit verbunden äußert sich oft ein Bedauern, dass ein wirklicher Perspektivenwechsel in der Strafrechtsbegündung im Sinn einer genuin theologischen Ableitung aus dem Mysterium Ecclesiae nicht erfolgt sei, wobei aber eingewendet werden muss, dass dies weder der primären Aufgabenstellung der Reformkommission noch der Einstellung der Mehrheit der Mitglieder der Kommission entsprochen hätte. Neben dieser negativen Deutung von c. 1311 CIC/1983, mitgetragen vom Interesse einer klaren und definitiven Abgrenzung gegen die Tradition des IPE, gab es aber auch Versuche einer differenzierteren Auseinandersetzung, die einerseits die neuen Akzentverschiebungen im Wortlaut der Norm stärker beachteten, die andererseits aber auch keine radikale Inkommunikabilität zwischen der herkömmlichen Strafrechtsbegründung aus der Tradition des IPE und einer Begründung aus einem neuen biblisch-theologischen Kirchenverständnis im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils sehen wollen.22 Dagmar Schaaf bringt die Grundlage für diese differenzierende Sicht so auf den Punkt: „Gleichwohl ist aber die Formulierung des Strafanspruchs als ius nativum et proprium inhaltlich so offen, zumal sie keine weitere doktrinäre Festlegung erhält, dass sie auch anderen theologischen Strafrechtsbegründungen Platz bietet.“23 Tatsächlich bietet der c. 1311 CIC/1983 nur einen weiten Rahmen, aber keine Strafrechtsbegründung im umfassenden Sinn. Trotz der beibehaltenen Einzelkoordinaten aus der Tradition des IPE kann er auch nicht als Festlegung auf das Koordinatensystem des IPE hin gedeutet werden. Umso mehr wäre der unbefriedigende c. 1311 CIC/1983 auch als Einleitungsnorm des Strafrechts entbehrlich gewesen.24 Als Sinn und als Vorteil der Fassung des derzeitigen c. 1311 CIC/1983, dem ja keine klare Leitidee zugrunde liegt,25 kann gerade dadurch aber doch eine flexible Integrierbarkeit in eine Strafrechtsbegründung angesehen werden, die über das Koordinatensystem des IPE hinausreicht, ja neue Grundlagen und Bezüge integriert.

21

Vgl. Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 279. Dagmar Schaaf nennt solche konzilianten Autoren hinsichtlich des IPE jene, die an der Begründungsstruktur des IPE anknüpfen (vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch [Anm. 2], S. 226 – 228). 23 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 210. 24 Vgl. Scheuermann, Das Schema 1973 (Anm. 13), S. 7. 25 Vgl. Klaus Lüdicke, Einleitung vor c. 1311, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: 2003). 22

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II. Ansätze und Vertiefungen einer theologischen Strafrechtsbegründung bei Ludger Müller Auch wenn Ludger Müller seine Positionierung in der kanonistischen Tradition der „Münchner Schule“ nie verleugnet hat und sich so stets in diesem Sinn auch in die fachliche Diskussion eingebracht hat, muss doch eine ernstzunehmende Auseinandersetzung genauer hinschauen und analysieren. Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass die Beschäftigung mit der Strafrechtsbegründung keineswegs zu den primären kanonistischen Interessensfeldern von Ludger Müller zu gehören scheint, wie schon die Liste und Anzahl der Publikationen auf diesem Gebiet bestätigt. Aber sie gehört sicher nicht zu jenen Themen, die er bloß gestreift oder wo er bloß Positionen anderer rezipiert hätte. Auch in seiner bisher letzten Publikation zu diesem Thema, die dem gesamten sechsten Buch des CIC/1983 gewidmet ist, zu finden in dem von ihm mitherausgegebenen vierten Band der Neubearbeitung des Lehrbuchs „Kanonisches Recht“ von Eduard Eichmann und Klaus Mörsdorf im Jahr 2013,26 beschäftigt sich Ludger Müller mit dem Thema der Begründung des Strafanspruchs der Kirche. Während in seinen vorausgegangenen Beiträgen eine einseitig negative Wertung des Ungenügens der Norm von c. 1311 CIC/1983 und der Bekräftigung ihrer Verortung in der Tradition des IPE vorherrschend war, wird die Wertung in dieser bisher letzten Publikation zum Thema, bei aller substantiellen Übereinstimmung in der Position, doch in den Differenzierungen und Akzenten etwas artikulierter und milder. So etwa hält er bei der Kommentierung dem c. 1311 CIC/1983 immerhin nun doch zugute, dass „einige aufschlußreiche [sic!] Unterschiede“ zwischen der Norm des CIC/1917 und dem c. 1311 des CIC/1983 zu finden seien.27 Dementsprechend werde der Strafanspruch der Kirche in c. 1311 CIC/1983 „nicht mehr so sehr in erster Linie der staatlichen Strafgewalt nachgebildet und dem Staat gegenüber formuliert.“28

26 Vgl. Anm. 5. Ein Vermerk sei auch auf die sehr differenzierte und eher vorsichtige Begründung der Wahl des Begriffs Sanktion und Sanktionsrecht für das Gesamte der Rechtsmaterie des VI. Buches des CIC gestattet, wenn Müller etwa einräumt, dass der Gesetzgeber selbst nicht durchgängig beim Begriff Sanktion geblieben sei, sodass etwa auch der Begriff „Strafrecht“ nicht in jeder Hinsicht bzw. in jedem Zusammenhang ungeeignet sei bzw. auch im Sanktionsrecht Elemente vorhanden seien, die zurecht als Strafe bezeichnet werden können, zudem wenn Müller dagegen die Wahl des Begriffs Sanktionsrecht, trotz aller selbst vorgebrachter Relativierungen, dann positiv von der Assoziationsmöglichkeit des Begriffs Strafe mit dem zivilen Strafbegriff begründet; vgl. ebd., S. 78 – 79. Zur Diskussionslage bietet einen zusammenfassenden Überblick: Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 193. 27 Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 90. Noch in seinem Beitrag „Warum und wozu kirchliche Sanktionen?“ (Anm. 3), S. 186, sieht er hingegen den c. 1311 CIC/1983 bloß „in weitgehender Anlehnung an den CIC von 1917“. 28 Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 90.

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Während er in einem sieben Jahre früher erschienenen Beitrag zum Titel „Warum und wozu kirchliche Sanktionen?“ noch kategorisch zum Schluss kommt: „Die in c. 1311 CIC/1983 zum Ausdruck kommende Auffassung von Grundlage, Sinn und Funktion eines kirchlichen Sanktionsrechts ist also über den Diskussionsstand des IPE nicht hinausgegangen […]“29, findet er nun in c. 1311 CIC/1983 nur noch einen „Rest“ der Strafrechtbegründung vom IPE her.30 Und diesen Rest macht er an der Formel des ius nativum et proprium des c. 1311 CIC/1983 fest.31 Insgesamt kommt Ludger Müller allerdings zu einer abschließend negativen Wertung des Versuchs einer Begründung des Strafrechtsanspruchs durch den c. 1311 CIC/1983: „Das hier zugrundeliegende Verständnis von Sinn und Funktion eines kirchlichen Sanktionsrechts dürfte insgesamt gesehen in theologischer Hinsicht nicht tragfähig sein.“32 Und in seinem Beitrag „Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre“ aus dem Jahr 2007 führt er erläuternd dazu aus: „Insgesamt kann man sicher sagen, dass das Sanktionsrecht des CIC von 1983 schon von seinem Ausgangspunkt her nicht von einer Ekklesiologie der communio, sondern grundsätzlich vom Denken des Ius Publicum Ecclesiasticum geprägt ist. Gerade hinsichtlich wichtiger Bereiche des kirchlichen Sanktionsrechts sind aber die Unterschiede zum weltlichen Strafrecht unübersehbar – man denke nur an die typisch kirchlichen Rechtsinstitute von Glaubensdelikten, Tatstrafen oder Zensuren (sog. „Beugestrafen“) –, so dass hier theologische Aspekte entscheidend sind.“33 Die methodische und inhaltliche Grundlage dieser Wertung bildet die Forderung nach einer Theologie des Kirchenrechts als Legitimierung des kirchlichen Strafbzw. Sanktionsrechts, sodass nur von einer Überprüfung der ekklesiologischen Vorgaben her die Rechtmäßigkeit kirchlicher Strafsanktionen erwiesen werden könne.34 Dabei verweist Ludger Müller auf die Notwendigkeit dieses Weges gerade hinsichtlich der Begründung des Strafanspruchs, da sonst ein falsches Verständnis der kirchlichen Strafsanktionen genährt werden könne, „dass es sich dabei nämlich um eine bloß äußere Organisation der kirchlichen Gemeinde handle, die strukturell von der Kirche als Heilssakrament abweiche.“35

29

Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen? (Anm. 3), S. 186 – 187. Vgl. Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 90. 31 Vgl. Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 90. 32 Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 91. 33 Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 280. 34 So bereits in Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen? (Anm. 3), S. 189. Programmatisch stellt Müller diese Forderung dann auch an den Anfang seiner Abhandlung „Grundfragen des Sanktionsrechts“ (vgl. Müller, Sanktionsrecht [Anm. 5], S. 80). 35 Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 281. 30

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Unerwartet darf bezeichnet werden, dass Müller dann bei seiner bisher letzten Darlegung der „Grundfragen des Sanktionsrechts“ dennoch mit einer zusammenfassenden juristischen Analyse des Begriffs der Strafe und der Strafzwecke ansetzt36, von der er zudem sagt, dass diese Inhalte „z. T. auch innerhalb der Kirche Geltung beanspruchen“ können.37 Im Beitrag „Warum und wozu kirchliche Sanktionen?“ hingegen verweist Müller noch abrupt auf die Quelle der neutestamentlichen Grundlagen des Straf- bzw. Sanktionsrechtes der Kirche, das er konkret in einem Verfahren zum Ausschluss von Gläubigen aus der Gemeinschaft der Kirche (Exkommunikation) festmacht, aus dem sich dann nach und nach ein disziplinäres Verfahren entwickeln konnte, dem es um zwei Ziele ging, nämlich um das „Seelenheil des Delinquenten“, zugleich aber auch um „den Schutz der Gemeinde vor Verwirrung und ,Verunreinigung‘ durch den Kontakt mit schweren Sündern“38. Der Ansatzpunkt für eine systematische Fundierung des kirchlichen Strafrechts in theologischer Hinsicht bildet dann aber konstant bei Ludger Müller die Unterscheidung in die klassischen zwei Arten der kirchlichen Strafsanktionen, der Zensuren einerseits und der Sühnestrafen andererseits.39 Dabei stützt sich Müller auf Arbeiten der beiden ebenfalls der „Münchner Schule“ zuzurechnenden Schweizer Kanonisten Libero Gerosa und Eugenio Correcco, die auch Müllers Forderung nach einer authentischen Theologie des Kirchenrechts und insbesondere des kirchlichen Strafrechts inspirieren.40

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Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 81 – 86. Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 86. 38 Vgl. Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen? (Anm. 3), S. 190. 39 Müller, Warum und wozu kirchliche Sanktionen? (Anm. 3), S. 193: „In diesem Sinn soll hier der Versuch gemacht werden, ausgehend von der Unterscheidung zwischen Zensuren und Sühnestrafen ein theologisch fundiertes System des kanonischen Sanktionsrechts zu entwickeln.“; vgl. auch Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 91. 40 Vor allem die Analyse von Libero Gerosa zum Exkommunikationsbegriff wird auch zur Grundlage Müllers, vgl. Libero Gerosa, Ist die Exkommunikation eine Strafe? (Anm. 4), bes. S. 117 – 120, wo die Thesen zusammenfassend erläutert werden, wonach die Exkommunikation als Grundtypus der kirchlichen Sanktion nicht einmal analog als Strafe bezeichnet werden darf, aber auch keine Disziplinarmaßnahme sei, sodass das kirchliche System der Zensuren und Sühnestrafen ein System von Sanktionen darstelle, das „weder als Strafrecht im wahren und eigentlichen Sinn noch als ausschließlich disziplinäre Ordnung bezeichnet werden kann“ (ebd., S. 119), sondern ein eigenes System mit Elementen der Buße und der Disziplin darstelle. Diesen pönitentialen Charakter der Exkommunikation hält Gerosa trotz vielfacher Kritik aufrecht, vgl. Libero Gerosa, „Communio“ und „Excommunicatio“. Ein Streitgespräch, in: Ludger Müller/Alfred E. Hierold/Sabine Demel/ders./Peter Krämer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe: Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 97 – 110, hier S. 101 – 102; Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 253 – 269. 37

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Die bereits von Libero Gerosa entwickelte These, wonach es sich bei den Zensuren nicht um Strafen im eigentlichen oder weltlichen Sinn handle, vertritt konstant auch Ludger Müller.41 So lehnt dieser auch die in c. 1311 CIC/1983 enthaltene Gewalt der Kirche ab, die im strafrechtlichen Sinn schuldig gewordenen Gläubigen zwingend zurechtzuweisen (coercere), da dies als „in theologischer Hinsicht nicht tragfähig“ qualifiziert werden müsse.42 Die Differenzierung des kanonischen Straf- bzw. Sanktionsrechts zwischen Zensuren und Sühnestrafen gerate bei Ludger Müller, so Dagmar Schaaf, zu einem bedenklichen Auseinanderreißen der kirchlichen Strafgewalt, da „ein Teil der Strafmaßnahmen theologisch begründet wird (Zensuren), der andere Teil hingegen nur als etwas Aufgesetztes oder Angehängtes erscheint (Sühnestrafen).“43 Überhaupt scheint es fraglich zu sein, ob allein vom Ausgangspunkt der Zensuren aus, deren kirchliche Rechtsgeschichte natürlich gut dokumentiert ist, eine theologische Gesamtkonzeption des kanonischen Strafanspruchs und damit des Straf- bzw. Sanktionsrechts der Kirche überhaupt realisierbar ist. Tatsächlich jedenfalls fehlt bislang eine systematisch umfassende Ausfaltung einer rechtstheologischen Begründung des kanonischen Strafanspruchs, die auch stimmig die innere Vielgestaltigkeit der kirchlichen Strafsanktionen einbeziehen und interpretieren könnte. Der kurze Verweis Ludger Müllers, auf den bereits hingewiesen wurde, könnte da aber zielführend weiterführen: Denn vor der Gefahr einer Veräußerlichung des kirchlichen Strafrechts bloß als Teil der nötigen äußeren Organisationsstruktur der Kirche, die Ludger Müller zurecht ablehnt, müsste die Begründung des kirchlichen Strafanspruchs in der theologischen Sicht der Kirche als Heilssakrament verortet werden.

III. Die implizite Potentialität des c. 1311 CIC/1983 für eine theologische Begründung der kirchlichen Strafgewalt Obwohl unbestritten der verbleibende Rest des früheren c. 2214 § 1 CIC/1917 im aktuellen c. 1311 CIC/1983 der Diktion nach die Koordinaten des IPE atmet, verhindert er, gerade wegen der erfolgten Reduzierung im Wortlaut, doch keine alternative Begründung der kirchlichen Strafgewalt. Gerade weil der Zusatz der kirchlichen Strafgewalt, wonach diese independens a qualibet humana auctoritate 41

So auch im bisher letzten Beitrag dazu, vgl. Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 91. Diese Wertung findet sich konsequent auch im bisher letzten Beitrag von Müller, Sanktionsrecht (Anm. 5), S. 91. Eine nähere Begründung der mangelnden theologischen Tragfähigkeit wird hingegen hier nicht geboten, dürfte aber in der Bestreitung des Strafcharakters der Zensuren liegen, denen Bußcharakter zugeschrieben wird, vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 254. 43 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 238. 42

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der Kirche zukommen, ausgelassen wurde, darf daraus geschlossen werden, dass somit das Hauptaugenmerk der Begründung der Strafgewalt auf die Kirche selbst in ihrer göttlich/menschlichen Konstitution und in Hinblick auf ihre Heilssendung verweist. Das in c. 1311 CIC/1983 statuierte ius nativum et proprium der Kirche müsste so nicht als apologetisch intendierte Norm nach außen zu deuten sein, wo die Kirche dieses Recht gegenüber der zivilen Autorität beansprucht, sondern sie müsste primär als eine konstitutionelle Norm interpretiert werden, die der Kirche selbst und ihrer eigenen Sendung wegen iuris divini zukommt.44 Denn was sonst sollte – vor aller apologetischen Bedeutung – das ius nativum ausdrücken wollen, wenn nicht dieses ureigenste Recht der Kirche, das ihr von ihrem göttlichen Ursprung her mitgeteilt und nicht anderswoher verliehen wurde? Die Akzeptanz dieses Prinzips bedingt somit auch die authentische Lebens- und Wirkfähigkeit der Kirche in dieser Welt, als Quasi-Sakrament des Heils für die Menschen. Dazu ist auch die sichtbare Einheit und Ordnung als Gemeinschaft von Gläubigen Voraussetzung. Die Tatsache, dass die indefektibel heilige Kirche durch die Sünde der Glieder in ihrer Gemeinschaftsgestalt befleckt wird, fordert kirchliche Mittel der Wiedergutmachung und der Wiederversöhnung des Sünders. Die kirchliche Bußdisziplin seit den Tagen der Apostel konkretisiert diesen Prozess. Wenn aber eine Sünde zusätzlich zur rechtlichen Verletzung der Gemeinschaftsgestalt der Kirche wird, muss die hoheitliche Hirtengewalt, verdichtet in der dem hl. Petrus und mit ihm dem Apostelkollegium zugesprochenen Schlüsselgewalt,45 Einheit und Disziplin der Kirche auch durch die Ausübung der Strafgewalt wiederherstellen. Damit aber – das ist das Ziel der Strafgewalt in der Kirche, die eben Heilssakrament ist – soll der straffällig gewordene Gläubige, der sich im Ungehorsam außerhalb der kirchlichen Gemeinschaftsgestalt stellt, nicht nur durch moralische Ermahnung, sondern bis hin zur strafweisen Zurechtweisung, zur Umkehr im Sinn der communio und damit zur Erlangung seines individuellen Heils bewegt werden. Dabei muss die Art und Weise der Ausübung der Strafgewalt natürlich immer der Eigenart der Kirche entsprechen, die – nach Charles Journet – als geistliche Gemeinschaft nicht von der Welt ist, also auch in ihrer Zielsetzung müssen die kanonischen Strafen immer das geistliche Ziel der Kirche vor Augen haben, wenn auch irdische und weltliche

44 Vgl. Velasio de Paolis, Aspectus theologici et iuridici in systemate poenalis canonico, in: PerRCan 75 (1986), S. 221 – 254, hier S. 223 – 224. Auch Velasio de Paolis wendet sich gegen eine Begründung des kirchlichen Strafanspruchs aus dem Begriff der societas perfecta, was aber nicht heißt, dass eine rechtsphilosophische Reflexion vom Begriff des Rechtes und dessen Durchsetzbarkeit her keinerlei Grundlage auch für die kirchliche Strafrechtsbegründung ergäbe, aber doch so, dass der Anspruch der kirchlichen Strafgewalt zutiefst aus einer theologischen Sicht der Kirche zu begründen ist, vgl. zur Position von Velasio de Paolis in der Begründung der kirchlichen Strafgewalt: Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 252 – 253. 45 Vgl. Charles Journet, L’Eglise du Verbe Incarné. 1. Bd., Bruges 1962, S. 333.

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Güter Gegenstand von Strafen sein können, weil die Kirche in ihrer irdischen Gestalt eben sichtbar in der Welt ist.46 Der Rückgriff auf eine historisch überholte Konzeption der Kirche als societas perfecta aber kann hier entbehrlich scheinen, da die Strafgewalt einerseits aus der wesensgemäßen Natur des Rechtes selbst ableitbar ist,47 dessen inhärenter Verbindlichkeitscharakter die Grundlage dafür bietet, also ohne Rückgriff auf historische rechtsphilosophische Konzepte, während sie andererseits rechtstheologisch aus einer authentischen Ekklesiologie ableitbar sein muss, die erst die spezifische Legitimität der Ausübung der Strafgewalt in der Kirche Jesu Christi erklären und begründen kann. So aber wird die Strafgewalt der Kirche auch nicht künstlich als Erfordernis bloß an ihre äußere organisatorische und gesellschaftliche Größe angeheftet und von daher abgeleitet werden. Scheint aber nicht die eine der beiden Belegstellen für den c. 1311 CIC/1983 aus GS 76 genau die Tradition des IPE aufzugreifen, wenn dort der Bezugsrahmen von Kirche und politischer Gemeinschaft gewählt wird, um dann ein gegenseitiges Verhältnis von Autonomie und Unabhängigkeit in dem jeweiligen Gebiet zu fordern? Diese Festlegung setzt keineswegs den Begriff einer societas perfecta für die Kirche voraus, wohl aber soll die Kirche als eine eigenständige Größe und Gemeinschaft gesehen sein, die auch in ihrer irdischen Rechtsgestalt diese Eigenständigkeit beanspruchen kann und muss. Für eine adäquate Begründung des Strafanspruchs auf die Kirche hin wurde und wird aber zurecht eingefordert, dass das gesamte Mysterium Ecclesiae auch die juridische Dimension der Kirche trägt und enthält.48 Sie ist also nicht nur ein Anhängsel an die Kirche oder Reflex weltlicher Strafrechtskonzeptionen, sie gehört mit zum Wesensbestand des Mysterium Ecclesiae. Dieses Postulat ergibt sich zwingend und folgerichtig aus der Diskussion zum Reformprozess auf den CIC/1983 und auch in kritischer Auseinandersetzung mit dem c. 1311 des CIC/1983, der allein diese Aufgabe nicht erfüllen kann und will. Gerade in diesem Aufweis, mehr noch in den biblisch-theologischen Sachargumenten gewinnt auch das Thema einer authentisch theologischen Begründung der kirchlichen Strafgewalt bei Ludger Müller und anderen Autoren im Umkreis der „Münchner Schule“ eine kritische Ver46 Journet, L’Église du Verbe Incarné (Anm. 45), S. 342: „On oublie que l’Église est une société visible quand on prétend qu’elle ne peut user des peines intrinséquement temporelles; et l’on oublie qu’elle est une société spirituelle quand on pense qu’elle peut user de ces peines à la manière de l’Êtat.“ 47 Mit Bezug auf eine Grundthese von Velasio de Paolis vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 249. 48 Aus den vielfältigen Forderungen während des Reformprozesses des kanonischen Strafrechts nach einer Vertiefung des theologischen Fundaments der Begründung des kirchlichen Strafanspruchs, sei hier nur stellvertretend auf die ausführliche Stellungnahme von Juan Arias Gómez, El sistema penal canónico ante la reforma del C.I.C, in: IC 15 (1975), S. 211 – 212, verwiesen, wo das kanonische Recht aus dem Mysterium Ecclesiae abgeleitet wird.

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tiefung, da dadurch wertvolle Bausteine für systematisch möglichst vollständige Entwürfe der Begründung des kanonischen Straf- bzw. Sanktionsrechts zur Verfügung gestellt werden. Der primäre lehramtliche Referenzpunkt jedoch, der eine legitime Vielfalt von Wegen der theologischen Strafrechtsbegründung keineswegs ausschließt, bildet LG 8, also die Synthese der heilssakramentalen Kirchenlehre des Zweiten Vatikanischen Konzils.49 Genau diese Dynamik, die auch die juridisch-sozietäre Verfasstheit der irdischen Kirche in den quasi-sakramentalen Heilsauftrag der Kirche und damit in die umfassende communio-Wirklichkeit der Kirche integriert, verunmöglicht a limine auch eine Strafrechtsbegründung, die sich allein auf die sozietäre Gestalt der Kirche außerhalb dieser Dynamik und getrennt von ihr stützen will. Dann nämlich werden folgerichtig zivile oder staatliche Modelle der Strafrechtsbegründung und Strafrechtsausübung zum Maßstab.50 Aber auch ein anderes Missverständnis der heilssakramentalen Dynamik der Kirche findet keine Grundlage auf der Basis der komplexen Natur der Kirche in LG 8: da, wo eine einseitig charismatisch-übernatürliche Sicht der Kirche gegen ihre Rechtsgestalt ausgespielt wird, womit aber ohne Rückhalt in der Fülle der konziliaren Ekklesiologie der kirchliche Strafanspruch als in sich wesenswidrig zur Kirche ausgegrenzt oder abgelehnt wird. Auf der einen Seite kann somit der kirchlichen Strafgewalt eine legitime, ja sogar notwendige Schutzfunktion innerhalb der heilssakramentalen Dynamik der kirchlichen communio zugebilligt werden, sofern die Strafgewalt wirklich aus der komplexen Fülle des Mysterium Ecclesiae begriffen wird, auf der anderen Seite aber darf sich diese Funktion nie aus dieser Dynamik extrahieren oder verselbständigen, sie muss also immer und zuerst auf das Wohl der kirchlichen Gemeinschaft hin und in ihr, dem kirchlichen Dienst an der salus animarum verpflichtet bleiben, so aber in ihrer konkreten Anwendung auch nur als extrema ratio und immer diesem Dienst angemessen. Nur so – getragen von der komplexen Communio-Struktur der Kirche und ihrer heilssakramentalen Dynamik – kann vermieden werden, was Ludger Müller unter Bezug auf eine Kritik von Winfried Aymans zurecht als Gefahr der Missdeutung von LG 8 beschreibt, dass das Kirchenrecht unmittelbar nur als Ausdruck der Societas Ecclesiae verstanden wird, „denn, wenn die Rechtsordnung der Kirche zur sichtbaren Seite, zum Bereich der äußeren Zeichenhaftigkeit gehört, kann das nicht einfach nur bedeuten, dass die ,realitas complexa‘ Kirche als sichtbares soziales Gebilde eben eine rechtliche Ordnung brauche. Diese Auffassung scheint aber gelegentlich 49

Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 288: „Man kann also jedenfalls festhalten, dass es in Art. 8 der Kirchenkonstitution um den sakramentalen Charakter der Kirche geht.“ 50 Der Schweizer Theologe Charles Journet sieht diese Folge, wenn er festsellt, „man vergisst, dass sie [die Kirche] eine geistliche Gesellschaft ist, wenn man denkt, dass sie Strafen nach der Art des Staates auferlegen kann.“

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im Hintergrund zu stehen, wenn Reste einer Societas-Lehre in den geltenden Gesetzbüchern der katholischen Kirche gefunden werden.“51 Dennoch gilt in dieser Dynamik auch, dass eine Übereinstimmung von kirchlicher Rechtsordnung und Theologie der Kirche nicht in jedem Rechtsbereich der Kirche in gleicher Dichte gegeben ist. Neben dem Kern der kirchlichen Verfassungsstrukturen und der Grundelemente des kirchlichen Lebens aus Wort und Sakrament gibt es eben auch peripherere Lebensbereiche der Kirche, deren rechtliche Ordnung zwar keinesfalls dem ius divinum positivum zuwiderlaufen darf und der Sendung der Kirche dienen muss, die aber stärker rechtspragmatische Gesichtspunkte enthalten kann. Das kirchliche Strafrecht gehört – so Ludger Müller – zu einem Rechtsbereich, bei dem theologische Vorgaben in einem höheren Maß zu berücksichtigen sind als peripherere Rechtsbereiche.52 Nur eine Kirchenrechtswissenschaft mit einem klaren theologischen Profil ist dazu in der Lage, wie Ludger Müller, teilweise immer noch prophetisch, betont.53 Eine offene oder bloße verdeckte Fixierung auf das Begründungskonstrukt des IPE wird diesem Anliegen sicher nicht dienen und führt zwangsläufig zu gravierenden rechtstheologischen Defiziten. Aber genauso wenig dient natürlich ein inflationäres Überprofil in dieser Hinsicht, das die komplexe Einheit der Kirche in LG 8 ebenfalls verfehlt, indem die kirchliche Rechtsstruktur in ihrem Eigenwert für den Kirchenbegriff übersehen oder charismatisierend aufgelöst wird. Neben der nötigen ekklesiologischen Basis muss so aber auch die nötige Differenz und die gebotene Transformation in Methode und Logik des kanonischen Rechtes zum Tragen kommen.

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Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 289. Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre (Anm. 6), S. 292. Ludger Müller sieht im c. 1401 CCEO „ein anregendes Beispiel dafür, wie in einem Teilbereich des kanonischen Rechtes das societas-Denken zugunsten einer communio-Theologie überwunden werden kann“ (ebd., S. 281 – 282). C. 1401 CCEO steht in der Rechtstradition der orientalischen Kirchen und widerspiegelt sehr unterschiedliche Kontexte, wobei die biblisch-theologische Sprache starke Anklänge an das Bußwesen erkennen lässt und auf die Bekehrung des Einzelnen fixiert scheint, während die juridische Ebene und Begrifflichkeit fehlt, aber auch die ekklesiale Bezogenheit der Strafgewalt eher davor zurücktritt, vgl. Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 213 – 215. 53 Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch (Anm. 2), S. 293. 52

Katholische Kirche und Menschenrechte Erwartungen an ein künftiges Strafrecht Von Wilhelm Rees Menschenrechte sind im staatlichen Recht, im Völkerrecht und im Europarecht verankert und durch Lehre und Rechtsprechung entfaltet und gestärkt worden. Auch die römisch-katholische Kirche betont immer wieder nachhaltig die Bedeutung und Rolle der Menschenrechte, zugleich auch ihren Beitrag bei deren Entstehung und Durchsetzung,1 wenngleich sie sich lange Zeit mit der Anerkennung der Menschenrechte schwer getan hat. Auffallend ist, dass sowohl in den Bestimmungen des CIC/ 1983 als auch im Schema „Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici“2 Grundund Menschenrechte zwar Berücksichtigung finden, die Bezugnahme darauf und die Ahndung im Fall von Verletzungen jedoch durchaus als ausbaufähig erscheinen. 1 Vgl. Wilhelm Rees, Kanonistische und europäische Aspekte von Religionsfreiheit I und II, in: SKZ 177 (2009), S. 696 – 700 u. SKZ 177 (2009), S. 719 – 723; s. auch Paul Wuthe, Für Menschenrechte und Religionsfreiheit in Europa. Die Politik des Heiligen Stuhls in der KSZE/ OSZE (= Theologie und Frieden 22), Stuttgart 2002; Sebastian Schalk, Vatikanische Menschenrechtspolitik: Ziele, Prinzipien und Instrumente, in: Antonius Liedhegener/Ines-Jacqueline Werkner (Hrsg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik (= Politik und Religion), Wiesbaden 2010, S. 296 – 321; Gertraud Putz, Christentum und Menschenrechte (= Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, N. F. 40), Innsbruck/Wien 1991; Katharina Kunter, Der lange Weg zur Anerkennung: Die Kirchen und die Menschenrechte nach 1945, in: Antonius Liedhegener/ Ines-Jacqueline Werkner (Hrsg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik (= Politik und Religion), Wiesbaden 2010, S. 153 – 174, bes. S. 163 – 165; Tamara Bloch, Die Stellungnahmen der römisch-katholischen Amtskirche zur Frage der Menschenrechte seit 1215. Eine historische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Gewährleistungen im CIC/1983 (= StKR 41), Frankfurt a. M. u. a. 2008. 2 Vgl. PCLT (Hrsg.), Schema recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici (Reservatum), Typis Vaticanis 2011; dazu Elmar Güthoff, Ein Überblick über die im ersten Teil des Strafrechts des CIC (cc. 1311 – 1363) geplanten Änderungen, in: AfkKR 181 (2012), S. 75 – 89; ders., Ein Überblick über die im zweiten Teil des Strafrechts des CIC (cann. 1364 – 1399) geplanten Änderungen, in: ders./Stefan Korta/Andreas Weiß (Hrsg.), Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fürst. In memoriam Carl Gerold Fürst (= AIC 50), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 157 – 165; Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, bes. S. 1588 – 1590; ders., Einzelne Straftaten, in: HdbKathKR 3, S. 1615 – 1643; ders., Evolution im Strafrecht der römisch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform, in: Martin Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte 88), Berlin 2017, S. 165 – 209.

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„Dass die Menschenrechte materiell auch in der Kirche Beachtung finden müssen und darüber hinaus einen kritischen Maßstab für das kirchliche Recht darstellen“, wird, wie Konrad Hilpert bemerkt, „einschränkungslos anerkannt“3. Heute geht es um die Frage, wie die Kirche, die die Achtung und Umsetzung der Menschenrechte von anderen fordert, diese selbst achtet und schützt, nicht zuletzt auch im Bereich des kirchlichen Strafrechts. Die „kirchliche Grundrechtspolitik“ ist für Gerhard Luf „ein wichtiger Prüfstein der Glaubwürdigkeit der Kirche, die bedroht ist, wenn sie Persönlichkeitsrechte zwar gegenüber dem Staat propagiert, aber in ihrem Binnenraum nicht hinreichend achtet und schützt“4. Angesichts vieler Ressentiments gegen die Kirche und hoher Austrittszahlen im deutschsprachigen Raum wird der Umgang der Kirche mit den Menschenrechten mehr und mehr zu einer Frage der Glaubwürdigkeit. Der Jubilar hat sich immer wieder mit dem kirchlichen Straf- bzw. Sanktionsrecht auseinandergesetzt.5 Mit Blick auf den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker fordert er dezidiert, dass der Straftatbestand nicht wie bisher als Verletzung der Zölibatspflicht, „sondern als Verbrechen gegenüber den Opfern“ bewertet wird.6 Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und damit Menschenbzw. Freiheitsrechte rücken so in das Blickfeld. Im Folgenden soll der Verankerung von Menschenrechten im derzeit geltenden kirchlichen Gesetzbuch, vor allem im kirchlichen Strafrecht, nachgegangen werden. Zudem sollen Defizite und künftige Perspektiven aufgezeigt werden.

I. Menschenrechte und Kirche Erste Ansätze in Richtung Menschenrechte finden sich bereits „im antiken Naturrecht der Stoa und in der jüdisch-christlichen Vorstellung von der allen Menschen

3 Konrad Hilpert, Art. Menschenrechte, in: LKStKR 2, S. 778 – 781, hier S. 780; s. auch Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: HdbKathKR3, S. 289 – 301, hier S. 293; Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 80. 4 Gerhard Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, in: HdbKathKR3, S. 42 – 56, hier S. 56; ähnlich auch Alexander Hollerbach, Art. Naturrecht. IV. Katholische Kirche und Naturrecht. 3. Naturrecht und Kirchenrecht, in: StL7 3, Sp. 1312 – 1315, hier Sp. 1314 f.; s. auch Wilhelm Rees, Häresie, Apostasie und innerchristliche Gewalt in kirchenrechtlicher Sicht, in: Georg Plasger/Heinz-Günther Stobbe (Hrsg.), Gewalt gegen Christen. Formen, Gründe, Hintergründe, Leipzig 2014, S. 295 – 327. 5 Vgl. bes. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 78 – 249; Ludger Müller, Zensuren und Strafen im kanonischen Recht. Überlegungen zu Grundfragen des Sanktionsrechtes der Lateinischen Kirche, in: ders./Wilhelm Rees (Hrsg.), Geist – Kirche – Recht. FS Gerosa (65) (= KST 62), Berlin 2014, S. 267 – 284; ders., Warum und wozu kirchliche Sanktionen?, in: ders./Alfred E. Hierold/Sabine Demel/Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.), „Strafecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 183 – 202. 6 Ludger Müller, Sexueller Missbrauch in der Kirche. Kirchenrechtliche Aspekte, in: ThPQ 159 (2011), S. 61 – 70, hier S. 65 f.

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gemeinsamen Würde“7. Praktische Bedeutung gewann dieser Gedanke „jedoch erst nach den geistigen und politischen Umbrüchen des 15. und 16. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Humanismus, Spätscholastik, Reformation und Aufklärung“8. Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 19489 finden sich regionale Erklärungen in allen Teilen der Welt.10 Ausdrücklich verweist die Päpstliche Kommission Justitia et Pax in ihrem Arbeitspapier „Die Kirche und die Menschenrechte“ darauf, dass es in der Geschichte der Kirche Zeiten gegeben habe, „in denen die Menschenrechte in Wort und Tat nicht mit genügender Klarheit oder Energie gefördert oder verteidigt wurden“, ja sogar Phasen, „in denen die geschichtliche Entwicklung zur Anerkennung der Menschenrechte von bürgerlichen und kirchlichen Stellen durch Argumente und institutionelle Strukturen verdeckt wurde, die diesen Fortschritt hemmten“.11 „Zögern, Einsprüche und Vorbehalte“ hätten die Haltung der Kirche gekennzeichnet; weithin sei es „zu heftigen Reaktionen gegen jede Erklärung der Menschenrechte“ gekommen.12 Ein grundlegender Wandel in der Anerkennung der Menschenrechte erfolgte erst mit 7 Corinna Schellenberg, Art. Menschenwürde, Menschenrechte (Th.), in: EvStLex. Neuausgabe, Sp. 1525 – 1530, hier Sp. 1528; zur Entwicklung s. auch Christoph A. Spenlé/Simon Mugier, Geschichte der Menschenrechte: Entwicklungen im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2011, S. 43 – 65. 8 Schellenberg, Menschenwürde (Anm. 7), Sp. 1528. 9 Vgl. UN, Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (10. 12. 1948), online verfügbar unter: http://www.un.org/depts/german/men schenrechte/aemr.pdf (Stand: 01. 08. 2017); zur Erklärung s. Adrian Loretan, Religionen im Kontext der Menschenrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 1 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2010, S. 51 – 53. Juristisch gesehen hat die Erklärung bis heute (nur) den Status einer öffentlichen Willensbekundung. 10 Vgl. ASEAN Human Rights Declaration von 2009 i. d. F. v. 19. 11. 2012, online verfügbar unter: http://asean.org/asean-human-rights-declaration/ (Stand: 01. 08. 2017); African (Banjul) Charter on Human and Peoples’ Rights, in Kraft getreten am 21. 10. 1986, online verfügbar unter: http://www.achpr.org/files/instruments/achpr/banjul_charter.pdf (Stand: 01. 08. 2017), samt Zusatzprotokoll „Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights on the Rights of Women in Africa“, in Kraft getreten 2005, online verfügbar unter: http://www.achpr.org/files/instruments/women-protocol/achpr_instr_proto_women_ eng.pdf (Stand: 01. 08. 2017); American Convention on Human Rights „Pact of San Jose, Costa Rica“ (1969), online verfügbar unter: http://www.oas.org/dil/treaties_B-32_Ameri can_Convention_on_Human_Rights.htm (Stand: 01. 08. 2017); Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom (04. 11. 1950) (Europäische Menschenrechtskonvention [EMRK]), in Kraft getreten am 03. 09. 1953, online verfügbar unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnum mer=10000308 (Stand: 01. 08. 2017). Die Konvention ist in der Republik Österreich mit Verfassungsrang ausgestattet (BGBl. 1964/59). 11 PontConsIus, Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier, in: ders. (Hrsg.), Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier (= Entwicklung und Frieden – Dokumente, Berichte, Meinungen 5), o. O. 19772, S. 3 – 61, hier S. 8, Nr. 17, unter Hinweis auf GS 43. 12 PontConsIus, Arbeitspapier (Anm. 11), S. 8, Nr. 18.

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Papst Johannes XXIII. (1958 – 1963) in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ vom 11. April 1963, in der er die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen als einen „Akt von höchster Bedeutung“ gewertet hat.13 Näherhin hat sich das Zweite Vatikanische Konzil an zahlreichen Stellen zu den Grund- und Menschenrechten bekannt, wenn es in GS 41, 3 herausstellt: „Kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkündet […] die Kirche die Rechte der Menschen, und sie anerkennt und schätzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert.“ Zu diesen Rechten zählt das Konzil unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung (LG 37, 1), das Recht auf Vereinigungsfreiheit (AA 19, 4), das Recht auf freie Standeswahl (26, 2 GS), das Recht auf guten Ruf (GS 26, 2) und das Recht auf Religionsfreiheit (DH).14 Nach Marianne Heimbach-Steins hat die positive Hinwendung des kirchlichen Lehramts zu den Menschenrechten „ihren Ursprung in der Soziallehre der Kirche, in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Herausforderungen, zu denen die Kirche nicht schweigen durfte: der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, den Bedrohungen von Freiheit und Frieden in den Krisen des 20. Jahrhunderts, in der weltweiten Entwicklungsproblematik“.15

II. Kirchliches Recht und Menschenrechte 1. Zur Frage der Übernahme der Menschenrechte in ein kirchliches Gesetzbuch Zwar gehört „das kirchliche Engagement für die Menschenrechte“, wie Konrad Breitsching herausstellt, „wesentlich zum Sendungsauftrag der Kirche“16. Nach wie vor scheint jedoch „der Streit darüber, ob Menschenrechte überhaupt in der Kirche einen Platz haben“, wie Norbert Brieskorn bereits im Jahr 1999 bemerkt hat, „bis 13

Johannes XXIII., Enz. „Pacem in terris“ (11. 04. 1963), in: AAS 55 (1963), S. 257 – 304, hier S. 295, dt. online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/ documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem.html (Stand: 01. 08. 2017); s. auch Adrian Loretan, Wie entwickelt die Römisch-katholische Kirche ein Ja zum demokratischen Rechtsstaat und seinen Grundrechten?, in: ders./Toni Bernet-Strahm (Hrsg.), Das Kreuz der Kirche mit der Demokratie. Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2006, S. 19 – 34, bes. S. 26. 14 Vgl. Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Die Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Texte zur Interpretation eines Lernprozesses (= Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 4), Paderborn/München/ Wien/Zürich 2013. 15 Marianne Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse – Konfliktfelder – Zukunftschancen, Mainz 2001, S. 11; s. auch Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung (= Abhandlungen zur Sozialethik 26), Paderborn/München/ Wien/Zürich 1987. 16 Konrad Breitsching, Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, in: ders./Wilhelm Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. FS Mühlsteiger (75) (= KST 46), Berlin 2001, S. 191 – 221, hier S. 196.

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heute noch nicht ausgestanden“17. Hilpert sieht „die von Kommentatoren häufig gegebene Erklärung, eine Wiederholung der Menschenrechte sei angesichts ihrer Verankerung in staatlichen Verfassungen und Erklärungen überflüssig und könne die ekklesiale Prägung der kirchlichen Grundrechte verdunkeln, […] weder zwingend noch im Blick auf die faktische Ungesichertheit und die andauernden Verletzungen weltweit selbstverständlich“18. Ausdrücklich fordert Adrian Loretan mit Bezug auf die soziale Wirklichkeit der Kirche eine klare Verankerung der Menschenrechte innerhalb des Rechts der römisch-katholischen Kirche.19 Zu bedenken gilt wohl, „dass aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen in Staat und Kirche keine lineare Übernahme staatlicher Grundrechte, sondern eine schöpferische Transformation stattfinden kann, welche die unterschiedlichen Bedingungen berücksichtigt“20. So sind die allgemeinen Menschenrechte „im binnenkirchlichen Raum zwar ebenfalls als Christenrechte zu betrachten“; sie erfahren jedoch „durch ihre Integration in die kirchliche Rechtsordnung je nach dem zur Diskussion stehenden, betroffenen Grundrecht Modifikationen und Einschränkungen“21. 2. CIC/1983 und Menschenrechte Der kirchliche Gesetzgeber spricht im CIC/1983 ausdrücklich den Einsatz der Kirche für die menschliche Person und die Menschenrechte an. So kommt es der Kirche zu, „immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person (personae humanae iura fundamentalia) oder das Heil der Seelen dies erfordern“ (c. 747 § 2 CIC/1983; vgl. c. 595 § 2 CCEO).22 Die Kirche kann also „nicht schweigen, wo die Menschenrechte in Gefahr geraten und mißachtet werden“23. Darüber hinaus kennen die beiden kirchlichen Gesetzbücher der katholischen Kirche, d. h. der CIC/1983 und der CCEO, Grundrechte und listen diese in einem eige17 Norbert Brieskorn, Menschenrechte und Kirche, in: StdZ 217 (1999), S. 3 – 14, hier S. 12. 18 Hilpert, Menschenrechte (Anm. 3), S. 780. 19 Vgl. Adrian Loretan, Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ – eine Herausforderung für die Kirche, in: SKZ 156 (1988), S. 713 – 716. 20 Luf, Grundlagen (Anm. 4), S. 56, unter Hinweis auf Richard Potz, Die Geltung kirchenrechtlicher Normen. Prolegomena zu einer kritisch-hermeneutischen Theorie des Kirchenrechts (= Kirche und Recht 15), Wien 1978, S. 266. 21 Felix Hafner, Kirche im Kontext der Grund- und Menschenrechte (= FVKS 36), Freiburg (Schweiz) 1992, S. 223; s. auch Peter Krämer, Die Idee der Menschenrechte und Grundrechte in der katholischen Kirche, in: ÖAKR 37 (1987/88), S. 229 – 239, hier S. 237. 22 Vgl. Markus Graulich, Die Menschenrechte als Gegenstand kirchlicher Verkündigung – ein Kommentar zu can. 747 § 2 CIC, in: Sven van Meegen/ders. (Hrsg.), Menschen – Rechte. Theologische Perspektiven zum 60. Jahrestag der Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (= Bibel und Ethik 2), Berlin 2008, S. 46 – 68. 23 Heinrich Mussinghoff, c. 747, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: März 1987).

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nen Katalog auf (vgl. cc. 208 – 223 CIC/1983; cc. 11 – 26 CCEO). Diese Grundrechte „sind teils auf das Selbstverständnis der Kirche als Volk Gottes und die aktive Partizipation aller Gläubigen an der Heilssendung der Kirche als Ausdruck der gemeinsamen Heiligung, der Lehre und der Leitung (vgl. c. 211) abgestimmte allgemeine Menschenrechte, teils diesen nachgebildete, aber in der Zugehörigkeit zur Kirche im Sakrament der Taufe (also nicht schon in der Würde der Person) begründete Christenrechte“24. Zur ersten Gruppe rechnet Hilpert das Recht auf freie Meinungsäußerung (vgl. c. 212 § 3 CIC/1983; c. 15 § 3 CCEO), das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (vgl. c. 215 CIC/1983; c. 18 CCEO; einschränkend c. 1374 CIC/1983; c. 1448 § 2 CCEO), das Recht auf freie Wahl des Lebensstandes (vgl. cc. 219 u. 1058 CIC/1983; cc. 22 u. 778 CCEO), das Recht auf Schutz des guten Rufs und der Intimsphäre (vgl. c. 220 CIC/1983; c. 23 CCEO) und das Recht auf kirchlichen Rechtsschutz (vgl. c. 221 CIC/1983; c. 24 CCEO). Zudem wird im Buch III des CIC/1983, „Verkündigungsdienst der Kirche“, das Recht auf religiöse Freiheit (vgl. c. 748 § 1 CIC/1983; keine Parallele im CCEO) verankert.25 Die zweite Gruppe umfasst Rechte, die mit der Zugehörigkeit zur Kirche gegeben sind, wie unter anderem das Recht auf geistliche Hilfen durch Verkündigung und die Spendung der Sakramente.26 Durchaus werden Grenzen der innerkirchlichen Grundrechtsausübung sichtbar, wenn etwa der Austritt aus der Kirche mit gravierenden Rechtsbeschränkungen verbunden ist, Abweichungen von der Lehre der Kirche mit Strafen belegt oder Meinungs- und Forschungsfreiheit eingeschränkt sind.

III. Kirchliches Strafrecht und Menschenrechte Die Kirche muss Vorbild sein, wenn sie nicht an Glaubwürdigkeit verlieren will. Dies gilt auch für die Gestaltung ihrer Rechtsordnung. 1. Ahndung von Menschenrechtsverletzungen Aus der Tatsache, dass der kirchliche Gesetzgeber Handlungen gegen das Leben und die Freiheit des Menschen unter Strafe stellt, geht die Bedeutung hervor, die die Kirche dem Recht auf Leben und den Freiheitsrechten des Menschen zuerkennt. 24

Hilpert, Menschenrechte (Anm. 3), S. 780. Vgl. Ludger Müller, Zum Glauben verpflichtet? Anmerkungen zu c. 748 § 1 CIC, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae Mysterio. FS Aymans (65), St. Ottilien 2001, S. 389 – 404; s. auch ders., Glaubensabwerbung – ein legitimes Mittel der Mission? Mission „zwischen“ Konkurrenz und Toleranz, in: Peter Krämer/Sabine Demel/Libero Gerosa/Alfred E. Hierold/ders. (Hrsg.), Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand (= KB 10), Berlin 2007, S. 113 – 120. 26 Vgl. Hilpert, Menschenrechte (Anm. 3), S. 780; zur Verkündigung s. bes. Christoph Ohly, Die Verkündigung in Predigt und Katechese, in: HdbKathKR3, S. 922 – 934; ders., Der Dienst am Wort Gottes. Eine rechtssystematische Studie zur Gestalt von Predigt und Katechese im Kanonischen Recht (= MThSt.K 63), St. Ottilien 2008. 25

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Peter Krämer verweist auf die möglicherweise geringe „politische oder gesellschaftliche Wirkung kirchlicher Strafsanktionen in dieser Hinsicht“. Doch gehe es „um die Glaubwürdigkeit der Kirche“27. So ist ein Mitglied der Kirche zu bestrafen, das „einen Menschen tötet oder durch Gewalt oder Täuschung entführt, festhält, verstümmelt oder schwer verletzt“ (c. 1397 CIC/1983; cc. 1450 § 1 u. 1451 CCEO).28 Mit dieser Strafandrohung werden „Werte, die dem Menschenrechtskatalog zuzuordnen sind, mit den Mitteln des geistlichen Strafrechts innerkirchlich geschützt“29. Auch die physische Gewaltanwendung gegen den Papst sowie gegen Bischöfe, Kleriker und Religiosen unterliegt einer Bestrafung (vgl. c. 1370 §§ 1 – 3 CIC/1983; c. 1445 §§ 1 – 2 CCEO). Da die in c. 1397 CIC/1983 genannten Maßnahmen nur bei Klerikern bzw. Laien im kirchlichen Dienst Anwendung finden, wird bei anderen Laien das kirchliche Strafrecht praktisch kaum zur Anwendung kommen. René Pahud de Mortanges sieht die unterschiedliche Behandlung von Klerikern und Laien als „unbefriedigend, da die Kleriker in der Regel gleich wie die Laien dem staatlichen Strafrecht unterworfen sind und so im Gegensatz zu diesen doppelt bestraft werden“30. Nach Aymans–Mörsdorf–Müller sollten nicht nur Angriffe auf Kleriker, sondern auch solche „auf einen laikalen kirchlichen Amtsträger sanktioniert werden können, was aufgrund des c. 1370 jedoch nicht möglich ist“31. Das Recht auf Leben wird – im Unterschied zu Art. 3 AEMR – im CIC/1983 nicht ausdrücklich genannt. Jedoch wird die Tötung ungeborenen Lebens, d. h. Abtreibung, sanktioniert (vgl. c. 1398 CIC/1983; c. 1450 § 2 CCEO).32 Das Recht auf Leben und die Ahndung von Vergehen, die dieses Recht missachten, werden in Zukunft einer größeren Beachtung bedürfen, dies vor allem mit Blick auf behindertes Leben oder die Bestimmung des Wunschgeschlechts eines Kindes, nicht zuletzt aber auch mit Blick auf das Recht auf ein würdevolles Sterben. Den Schutz des Lebens am 27 Peter Krämer, Menschenrechte – Christenrechte. Das neue Kirchenrecht auf dem Prüfstand, in: André Gabriels/Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium iustitiae. FS Heinemann (60), Essen 1985, S. 169 – 177, hier S. 171; s. auch Winfried Aymans, Kirchliche Grundrechte und Menschenrechte, in: AfkKR 149 (1980), S. 389 – 409, hier S. 395 f. 28 Ausführlich Raimund Sagmeister, Das neue kirchliche Strafrecht und der Schutz des Lebens, in: Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer/Dieter A. Binder (Hrsg.), Recht im Dienste des Menschen. FG Schwendenwein (60), Graz/Wien/Köln 1986, S. 493 – 516, bes. S. 510 f.; Ilona Riedel-Spangenberger, „Qui homicidium patrat …“. Inwieweit ahndet die Kirche Menschenrechtsverletzungen?, in: Richard Puza/Andreas Weiß (Hrsg.), Iustitia in caritate. FS Rößler (= AIC 3), Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 643 – 654; s. auch Karoline Weiler, Die Beurteilung der Selbsttötung unter besonderer Berücksichtigung kirchenrechtlicher Regelungen (= Rechtsgeschichtliche Studien 59), Hamburg 2013. 29 Aymans–Mörsdorf, KanR II, S. 78. 30 René Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung und Vergeltung. Eine Analyse des kirchlichen Straf- und Disziplinarrechts (= Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft 3/23), Baden-Baden 1992, S. 178, unter Hinweis auf Sagmeister, Strafrecht (Anm. 28), S. 511. 31 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 224. 32 Vgl. dazu Rees, Straftaten (Anm. 2), S. 1638 f.

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Anfang und am Ende sowie mit Blick auf die Todesstrafe hat bereits Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Evangelium vitae“33 im Jahr 1995 herausgestellt. Durch die Aufnahme des Rechts auf Schutz des guten Rufs (vgl. c. 220 CIC/1983; c. 23 CCEO; ferner auch Art. 12 AEMR) in den Grundrechtekatalog des CIC/1983 hat dieses Recht eine deutliche Aufwertung erfahren.34 Im Interesse dieses Schutzes sind die Strafen für Verleumdung und die Zwangsmittel zur angemessenen Wiedergutmachung (vgl. c. 1390 § 2 CIC/1983; c. 1454 CCEO) zu sehen. Der Schutz des guten Rufs muss heute besonders im Fall von Personen gefordert und auch rechtlich verankert werden, die des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Personen angeklagt wurden, dies zumindest bis zu einer rechtmäßig erfolgten Strafverhängung.35 Die für die Verführung einer beichtenden Person durch einen Beichtvater angedrohte Strafe (vgl. c. 1387 CIC/1983; c. 1458 CCEO) schützt Freiheitsrechte, so vor allem das Recht auf Selbstbestimmung.36 Allerdings wäre bei dieser der Kongregation für die Glaubenslehre zur Beurteilung und Ahndung vorbehaltenen Straftat (vgl. Art. 4 § 1, 48 Normae2010) – ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch einer minderjährigen Person durch einen Kleriker – systematisch eine andere Einordnung 33

Vgl. Johannes Paul II., Enz. „Evangelium vitae“ (25. 03. 1995), in: AAS 87 (1995), S. 401 – 522, dt.: VApSt 120, ferner online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/johnpaul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html (Stand: 01. 08. 2017); s. auch Claudio Papale, Il diritto alla vita e il magisterio di Giovanni Paolo II. Profili giuridici, Cittá del Vaticano 2006; Otfried Höffe/Augustin Macheret/Carlos-Josaphat Pinto de Oliveira/Charlotte de Habicht, Johannes Paul II. und die Menschenrechte. Ein Jahr Pontifikat, Freiburg (Schweiz)/Paris 1981. 34 Der Verlust des guten Rufs spielt auch in den cc. 483 § 2, 1048, 1420 § 4, 1421 § 3, 1435, 1483 u. 1741, 38 CIC/1983 eine Rolle. Mit Blick auf die Bestimmungen zur geforderten Voruntersuchung (vgl. cc. 1717 – 1719 CIC/1983; cc. 1468 – 1470 CCEO) sind Ergänzungen vorgesehen; vgl. PCLT, Schema (Anm. 2), cc. 1717 – 1719, S. 16 u. S. 39 f.; zum Rechtsschutz im Rahmen der Voruntersuchung s. Wilhelm Rees, Rechtsschutz im kirchlichen Strafrecht und in kirchlichen Strafverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 75 – 105, hier S. 89 – 92; ders., Faire Verfahren in der Kirche. Rechtsschutz in der römisch-katholischen Kirche, besonders in kirchlichen Strafverfahren, in: Martha Heizer/Hans Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung (= Topos Taschenbücher 763), Kevelaer 2011, S. 255 – 295, hier S. 268 – 270; Stefan Ihli, Die Strafverfahren, in: HdbKathKR3, S. 1733 – 1748, hier S. 1734 – 1737. 35 Vgl. Wilhelm Rees, Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker. Anmerkungen aus kirchenrechtlicher Sicht, in: AfkKR 172 (2003), S. 392 – 426, hier S. 417 f.; s. auch ders., Zur Novellierung des kirchlichen Strafrechts im Blick auf sexuellen Missbrauch einer minderjährigen Person durch Kleriker und andere schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten. Gesamtkirchliches Recht und Maßnahmen einzelner Bischofskonferenzen, in: AfkKR 180 (2011), S. 466 – 513. 36 Nach Klaus Lüdicke, c. 1387, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: November 2001), sind als Beweismittel bei Straftaten innerhalb der Beichte „nur die Aussagen des Pönitenten oder eines Mithörers denkbar. Sie sind aber im Verfahren nicht verwertbar. […] Der Beichtvater ist zudem durch das Beichtgeheimnis an seiner Verteidigung gehindert.“ Zur Strafe wegen einer Falschanzeige wegen Verführung einer beichtenden Person vgl. c. 1390 § 1 CIC/1983 u. c. 1454 CCEO.

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wünschenswert, d. h. nicht unter die Amtsvergehen von Klerikern, sondern in eine evtl. neu zu schaffende Kategorie „Schutz von Menschenrechten“. C. 1390 §§ 1 – 2 CIC/1983 (vgl. c. 1454 CCEO) sieht für eine Falschanzeige eines Beichtvaters, eine andere verleumderische Anzeige einer Straftat oder eine Rufschädigung die Möglichkeit der Verhängung einer gerechten Strafe vor und schützt damit Grundrechte. „Die mit einer Sanktionierung verbundene Klärung der Sachlage mag“, wie Aymans–Mörsdorf–Müller erklären, „für den Betreffenden nachteilig sein; eine Rufschädigung stellt sie schon deshalb nicht dar, weil sie der Wahrheit entspricht“37. Das gelte auch für „das für den Beschuldigten nachteilige Urteil der ersten Instanz in einem Sanktionsverfahren, das in der nächsten Instanz aufgehoben wird, […] weil durch das Urteil keine faktische Öffentlichkeit erreicht wird“38. Der Täter bzw. die Täterin sind zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verpflichtet (ausdrücklich c. 1390 § 3 CIC/1983). Das setzt jedoch voraus, „daß die Kirche dafür ein Druckmittel in der Hand hat“39. Seit frühester Zeit hat die Kirche den Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker verurteilt und entsprechende Handlungen mit Strafe bedroht. Im CIC/1917 wurden zudem diesbezügliche Handlungen durch Laien sanktioniert (vgl. c. 2357 §§ 1 – 2 CIC/1917). Auch das gegenwärtig geltende kirchliche Recht droht Strafen für sexuellen Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker an (vgl. c. 1395 § 2 CIC/1983; keine Parallele CCEO). Allerdings hat der im kirchlichen Gesetzbuch zum Ausdruck gebrachte Wunsch, kirchliches Strafrecht überhaupt nur dann anzuwenden, wenn alle anderen Maßnahmen keinen Erfolg haben (vgl. c. 1341 CIC/ 1983; keine Parallele im CCEO), Ortsbischöfe und höhere Obere davon abgehalten, im Fall von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt Strafmaßnahmen zu verhängen. Die Opfer hatten und haben, wie Adrian Loretan bemerkt, „in der Kirche keinen Grundrechtskatalog, auf den sie sich stützen könnten“40. Die Ahndung des sexuellen Missbrauchs minderjähriger Personen durch Kleriker hat in den Jahren 2001 und 2010 im Sinn des Schutzes von Menschenrechten große Veränderungen und Ergänzungen erfahren.41 Dabei hat der kirchliche Gesetzgeber 37

Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 238. Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 238. 39 Klaus Lüdicke, c. 1390, Rdnr. 10, in: MK CIC (Stand: November 1993). 40 Adrian Loretan, Menschenrechte in der Kirche – ein Schutz vor Machtmissbrauch, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hrsg.), In mandatis meditari. FS Paarhammer (65) (= KST 58), Berlin 2012, S. 263 – 283, hier S. 279; vgl. auch Wilhelm Rees, Sexuelle Übergriffe durch Kleriker. Die Rechte von Opfern und Tätern gemäß dem Strafrecht der römisch-katholischen Kirche und neuere Entwicklungen, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2011, S. 287 – 330. 41 Text der Normen online verfügbar unter: http://www.vatican.va/resources/resources_nor me_ge.html (Stand: 01. 08. 2017); s. auch Rees, Straftaten (Anm. 2), S. 1634 – 1637; ders., Grundfragen (Anm. 2), S. 1584 – 1588; ders., Koordiniertes Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch. Die Normen der Kongregation für die Glaubenslehre über die delicta graviora vom 38

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die Normen nicht nur verschärft. Vielmehr stellt er einer minderjährigen Person von 18 Jahren eine Person gleich, „deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist“ (Art. 6 § 1, 18 Normae2010). Auch wurde „der Erwerb, die Aufbewahrung und die Verbreitung pornographischer Bilder von Minderjährigen unter vierzehn Jahren in jedweder Form und mit jedwedem Mittel durch einen Kleriker in übler Absicht“ unter die schwerwiegenderen Straftaten gegen die Sitten aufgenommen, die der Kongregation für die Glaubenslehre zur Beurteilung und Ahndung vorbehalten sind (Art. 6 § 1, 28 Normae2010).42 Hier erfolgte wohl eine Annäherung an weltliches Recht43 und damit auch ein intensiverer Schutz von Grund- und Menschenrechten. Gemäß den Normae2010 soll „staatliches Recht, das die Anzeige von Verbrechen bei den zuständigen Behörden betrifft, […] immer befolgt werden“. Damit wird allerdings nur gesagt, „dass das jeweilige nationale Recht einzuhalten ist, nicht aber, dass immer Anzeige zu erfolgen habe. […] Wird der Missbrauch nur innerkirchlich verfolgt und der Täter nicht vor einem staatlichen Gericht angezeigt, wie dies wohl in der Mehrheit der Länder geschieht, ist der Rechtsschutz der Opfer zu wenig gewährleistet“44. So hält es Hartmut Kreß für „bedenklich“, dass in der katholischen Kirche „noch 2010 offenbar die Meinung bestand, beim Verdacht auf Missbrauch besäßen die innerkirchlichen Maßnahmen den Vorrang vor den Ermittlungen durch staatliche Behörden“45. Dadurch führt „der Vorrang der kirchlichen Moral und des Kirchenrechts, den die Kirche beansprucht, […] faktisch dazu, dass Betroffenen der Rechtsschutz und der Justizgewährungsanspruch verwehrt bleiben“, so dass sich die Frage stelle, „,wie viel Autonomie und Selbstverwaltung […] dieser Staat hinnehmen [dürfe], ohne seine eigenen Schutzpflichten gegenüber den Opfern zu verletzen‘“46. Sexueller Missbrauch sollte in Zukunft, wie Ludger Müller fordert, „nicht in erster Linie als besonders schwerer Fall eines Zölibatsverstoßes“ gewertet werden, „sondern als Verbrechen gegenüber den Opfern“47. Die Strafbestimmung zum sexuellen Missbrauch minderjähriger Personen erfasst nur Kleriker (vgl. c. 266 §§ 1 – 3 CIC/ 1983; cc. 358, 428 u. 565 CCEO), d. h. Welt- und Ordenskleriker, im Unterschied 21. 05. 2010, in: Heribert Hallermann/Thomas Meckel/Sabrina Pfannkuche/Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= WTh 9), Würzburg 2012, S. 67 – 135. 42 S. dazu Mark L. Bartchak, Child Pornography and the Grave Delict of an Offense against the Sixth Commandment of the Decalogue Committed by a Cleric with a Minor, in: Jurist 72 (2012), S. 178 – 239; s. auch PCLT, Schema (Anm. 2), c. 1395 § 3, S. 15 u. 38. 43 S. für Österreich: § 207a StGB: Pornographische Darstellungen Minderjähriger und § 215a StGB: Förderung der Prostitution und pornographischer Darbietungen Minderjähriger; ferner auch Bundesgesetz vom 31. 03. 1950 über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung (BGBl. 1950/97); für Deutschland s. u. a. § 184b StGB; für die Schweiz Art. 187 – 199 StGB. 44 Loretan, Machtmissbrauch (Anm. 40), S. 279. 45 Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik (= Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 4), Stuttgart 2012, S. 97. 46 Kreß, Ethik der Rechtsordnung (Anm. 45), S. 98, unter Hinweis auf Bayerischer Landtag, Drucksache 16/4128, 11. 03. 2010, 16, 21, 6. 47 Müller, Sexueller Missbrauch (Anm. 6), S. 65 f.

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zum CIC/1917 nicht jedoch auch Laien, seien sie in der Kirche tätig oder nicht.48 Hier sind Ergänzungen wünschenswert und auch angedacht.49 Es geht nicht nur um eine Straftat gegen besondere Verpflichtungen der Kleriker, sondern um Ahndung von Menschenrechtsverletzungen, unabhängig davon von wem sie begangen werden. Wer „aus schuldhafter Nachlässigkeit eine Handlung kirchlicher Gewalt, eines kirchlichen Dienstes oder einer kirchlichen Aufgabe unrechtmäßig zu fremdem Schaden setzt oder unterläßt“, ist mit einer gerechten Strafe zu belegen (c. 1389 § 2 CIC/1983; c. 1464 § 2 CCEO).50 Diese Norm ist die einzige Strafbestimmung im Strafrecht des CIC/1983, in der für fahrlässiges Handeln eine Strafe angedroht ist (vgl. c. 1321 § 2 CIC/1983; c. 1414 § 1 CCEO).51 Hier sollte in Zukunft stärker auf die Verletzung von Menschenrechten geachtet werden. Norbert Lüdecke macht darauf aufmerksam, dass auch Bischöfe den Straftatbestand erfüllen können,52 nicht zuletzt dann, wenn Menschenrechtsverletzungen, wie sexueller Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker, nicht geahndet werden. Die diesbezügliche Menschenrechtsverletzung ist für Papst Franziskus nicht hinnehmbar, wie dessen deutlichen Worte und Initiativen zeigen.53 So errichtete Papst Franziskus im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker am 22. März 2014 eine Kommission zur Vorbeugung und Aufarbeitung von Straftaten an minderjährigen Personen, die eng mit der Kongregation für die Glaubenslehre zusammenarbeitet.54 Auch entstand innerhalb der Kongregation für die Glaubenslehre eine ei48 Vgl. Rees, Vorgehen (Anm. 41), S. 92 – 94; ders., Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= KST 41), Berlin 1993, S. 262. 49 PCLT, Schema (Anm. 2), c. 1395 § 4, S. 15 f. u. 38, plant die Ausweitung der entsprechenden Strafandrohungen des c. 1395 CIC/1983 auch auf jede andere Person, die eine Würde, ein Amt oder einen Dienst in der Kirche hat, d. h. auch auf Laien, wobei Sühnestrafen des c. 1336 bzw. die Privation zu verhängen sind und weitere Strafen hinzugefügt werden können. 50 Vgl. Guillaume Millot, La négligence dans l’exercice des charges. Approche en droit canonique pénal (= Tesi gregoriana. Serie Diritto Canonico 96), Roma 2014; PCLT, Schema (Anm. 2), c. 1376 § 2 (ex c. 1389 CIC), S. 13 u. 33, plant auch die Aufnahme von Ärgernis („aut scandalo“) und sieht Sühnestrafen des c. 1336 Schema vor. 51 Vgl. Wilhelm Rees, Straftaten (Anm. 2), S. 1631 f. 52 So ausdrücklich Norbert Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht, in: MThZ 62 (2011), S. 33 – 60, bes. S. 57 – 59, hier S. 57, mit Blick auf die Nichtahndung von sexuellem Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker seitens der Bischöfe. 53 S. die spezielle Internetseite „Abuso sui minori. La risposta della chiesa“: www.resour ces.va (Stand: 01. 08. 2017); dazu auch Wilhelm Rees, „Es gibt viele alte und überholte Strukturen, wir müssen sie erneuern“ (Franziskus, Predigt im Juli 2013). Visionen und Wünsche von Papst Franziskus mit einem Blick auf das Schrifttum von Johann Hirnsperger, in: Franz Hasenhütl/Matthias Rauch (Hrsg.), Johann Hirnsperger zum 65. Geburtstag. Eine Nachlese zum Festakt am 7. Dezember 2016 (= Verein zur Förderung der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz, H. 16, 1), Graz 2017, S. 19 – 49, hier S. 29 f. 54 Vgl. Franziskus, Chirografo „Minorum tutela actuosa“ per l’istituzione della Pontificia Commissione per la Tutela dei Minori (22. 03. 2014), online verfügbar unter: https://w2.vati

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gene Gerichtssektion, die mögliches Fehlverhalten (Vertuschen) von Bischöfen ahnden soll. Mit einem Motu proprio vom 04. Juni 2016 legte der Papst fest, dass ein Bischof seines Amtes enthoben werden kann, wenn er seinen Amtspflichten beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch nicht genügend nachgekommen ist.55 2. Anfragen an das kirchliche (Straf)recht Wenngleich Menschenrechte im kirchlichen Gesetzbuch durchaus Beachtung finden und Verstöße gegen sie mit Strafen belegt sind, bleiben kritische Anfragen. a) Freiheit des Glaubens Gemäß c. 748 § 2 CIC/1983 (vgl. c. 586 CCEO; ferner auch DH 10; c. 1351 CIC/ 1917) hat niemand „jemals das Recht, Menschen zur Annahme des katholischen Glaubens gegen ihr Gewissen durch Zwang zu bewegen“. Diese Norm entspricht der Forderung des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach „die Würde des Menschen verlangt […], daß er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem Drang oder bloßem äußerem Zwang“ (GS 17)56. Somit muss die Annahme des Glaubens, der Empfang der Taufe und der damit verbundene Eintritt in die Kirche Jesu Christi bzw. die katholische Kirche frei sein. Wie steht es jedoch mit der Bewährung im Glauben und der Freiheit zur Abkehr von der Kirche und damit mit dem Menschenrecht auf Glaubensund Gewissensfreiheit? Zu Recht hat Heribert Schmitz aufgrund der Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Recht auf religiöse Freiheit (vgl. DH 2, 2) bereits im Rahmen der Reform des damals geltenden kirchlichen Gesetzbuchs eine Ergänzung dahingehend gefordert, „daß niemand von irgendeiner menschlichen Macht, auch nicht in der katholischen Kirche, gezwungen werden darf, seinen Glauben gegen sein Gewissen zu bewahren und vor anderen öffentlich zu bekennen“57. Wenngleich es der Kirche „als Glaubensgemeinschaft […] nicht gleichgültig sein [darf], ob und was ihre Glieder glauben“, und es damit durchaus ihre Aufgabe ist, can.va/content/francesco/it/letters/2014/documents/papa-francesco_20140322_chirografo-ponti ficia-commissione-tutela-minori.html (Stand: 01. 08. 2017). 55 Vgl. Franziskus, MP „As a loving Mother“ (04. 06. 2016), online verfügbar unter: https:// w2.vatican.va/content/francesco/en/apost_letters/documents/papa-francesco_lettera-ap_ 20160604_come-una-madre-amorevole.html (Stand: 01. 08. 2017). 56 Adrian Loretan, Das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zum Staat im Kontext der Menschenrechte, in: ders., Kirche – Staat im Umbruch. Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften zum Staat, Zürich 1995, S. 100 – 108. 57 Heribert Schmitz, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, in: GrNKirchR, S. 438 – 440, hier S. 439; s. auch ders., Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, in: AfkKR 146 (1977), S. 381 – 419, hier S. 416.

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„sich in den religiösen Bereich ,einzumischen‘“58, so muss dennoch ein Wechsel des Bekenntnisses bzw. ein Austritt aus der Glaubensgemeinschaft möglich sein. „Eine Religionsgemeinschaft, die für sich korporative Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, ihren Mitgliedern auch individuelle Religionsfreiheit zu gewähren, zum Beispiel das Recht auf Austritt.“59 Franz Pototschnig hat die Strafmaßnahme des c. 1364 § 1 CIC/1983 (vgl. cc. 1436 § 1 u. 1437 CCEO), d. h. Strafmaßnahmen im Fall von Glaubensvergehen, bedauert, „weil sie das Prinzip der Gewissensfreiheit verletzt“60. Verständlich werden diese Strafmaßnahmen wohl nur im Interesse des Schutzes der Glaubensgemeinschaft und der Erhaltung deren Reinheit und Heiligkeit. In Kontinuität zum CIC/1917 (vgl. c. 2216, 1 – 28 CIC/1917) unterscheidet c. 1312 § 1, 1 – 28 CIC/1983 (keine Parallele im CCEO) zwischen den Besserungsstrafen (Beugestrafen) oder Zensuren (poenae medicinales seu censurae) und den Sühnestrafen (poenae expiatoriae).61 Dabei zeigt sich, dass die Besserungsstrafe den Blick mehr auf das Individuum richtet, die Sühnestrafe stärker die Gemeinschaft der Kirche und ihre Ordnung im Blick hat. Generell stellt sich für Ludger Müller die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Zensuren und Sühnestrafen im geltenden Strafrecht der römisch-katholischen Kirche „wirklich konsequent beachtet wird“62. Heute werden Strafmaßnahmen – ungeachtet der nach wie vor geltenden Sorge der Kirche um das Heil des Menschen und die Aufrechterhaltung ihrer Ordnung – nicht mehr vorwiegend oder ausschließlich als Zwangsmaßnahmen in dem Sinn verstanden, dass sie Wohlverhalten der Gläubigen erreichen wollen. Vielmehr will die Kirche, wie Libero Gerosa aufgezeigt hat, durch die Verhängung von Strafmaßnahmen zum Ausdruck bringen, dass die betreffende Person durch ihr Verhalten die kirchliche Gemeinschaft verlassen

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Krämer, Idee (Anm. 21), S. 237. Adrian Loretan, Kirche und Staat in der Schweiz, in: HdbKathKR3, S. 1888 – 1913, hier S. 1902; zu den Konsequenzen s. Ludger Müller, Kirchenaustritt – Konsequenzen innerhalb der Kirche, in: ders./Wilhelm Rees/Martin Krutzler (Hrsg.), Vermögen der Kirche – Vermögende Kirche? Beiträge zur Kirchenfinanzierung und kirchlichen Vermögensverwaltung, Paderborn 2015, S. 193 – 211; ders., Konsequenzen des weltlich-rechtlichen Kirchenaustritts im kirchlichen Eherecht? Thesen zur Reform einer Reform, in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz (= Die österreichischen Bischöfe, H. 10. Bischof DDr. Klaus Küng zur Vollendung des 70. Lebensjahres), Wien 2010, S. 62 – 75; ders., Der Kirchenaustritt – ein Delikt?, in: ebd., S. 76 – 88; s. auch Wilhelm Rees, Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche Problematik, in: ebd., S. 38 – 61. 60 Franz Pototschnig, Zur Wandelbarkeit des unwandelbaren göttlichen Rechts, in: ders./ Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck (= Kirche und Recht 17), Wien 1985, S. 38 – 402, hier S. 387 Anm. 2. 61 Vgl. Rees, Grundfragen (Anm. 2), S. 1577 f.; ders., Straftat und Strafe, in: HdbKathKR3, S. 1591 – 1614, hier S. 1598 – 1603. 62 Hierzu und zu Folgerungen im Blick auf eine Reform des kirchlichen Strafrechts s. Müller, Zensuren (Anm. 5), S. 268. 59

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hat und sich „außerhalb der ,communio plena‘ befindet“63. Die Kirche verurteilt also nicht die (Gewissens-)Entscheidung der einzelnen gläubigen Person, die sie bei aller Sorge um das Heil des einzelnen Menschen respektieren muss, sondern die Auswirkung dieser Entscheidung auf die kirchliche Gemeinschaft im Sinn der Communio. Sie bringt zum Ausdruck und stellt dies in manchen Fällen durch eine ausdrückliche Erklärung auch fest (vgl. c. 1331 § 2 CIC/1983; s. auch c. 1434 CCEO), dass eine Person nach dem Selbstverständnis der Kirche nicht mehr vollwertiges Glied dieser Gemeinschaft sein und alle Rechte, die mit der vollen Gliedschaft gegeben sind, ausüben kann. Für den Fall, dass sich „im Einzelfall zeigt, dass kirchliche Strafverhängung als Zwang wirkt und keine anderen Strafzwecke die Verhängung rechtfertigen“, muss, wie Ansgar Grochtmann, bemerkt, „auf Strafe verzichtet werden: um des Gewissens willen, wie es die Kirche zu schützen berufen ist“64. Mit Blick auf Glaubensvergehen (vgl. c. 1364 §§ 1 – 2 CIC/1983; cc. 1436 § 1 u. 1437 CCEO) kann somit eine Strafe letztlich „nur als Appell an das Gewissen verstanden werden, die eigene Entscheidung zu überdenken“65. Weithin müsste jedoch über den Sinn der Beugestrafen bzw. über das Festhalten an dieser Art der Strafe nachgedacht werden.66 Eine areligiöse Erziehung von Kindern ist im Unterschied zu einer nichtkatholischen Taufe und Erziehung (vgl. c. 1366 CIC/1983; c. 1439 CCEO) im kirchlichen Gesetzbuch nicht mit Strafe bedroht. „Während aber eine areligiöse Erziehung die Frage der Zuordnung zu einer Religion zumindest theoretisch noch offenhält, wird ein Kind durch Taufe oder Erziehung in einer anderen Religion bzw. Konfession endgültig nicht der katholischen Kirche eingegliedert.“67 „Auch wenn dieser Unterschied in der Praxis nicht von hoher Bedeutung sein dürfte, spielt er“, wie Aymans–Mörsdorf–Müller bemerken, „für die Sanktionsandrohung eine entscheidende Rolle“68. Zeigt sich aber mit Blick auf die Androhung einer Strafe bei nichtkatholischer Taufe und Erziehung nicht eine Spannung zwischen der seitens der Kirche geforderten Pflicht zu Taufe und christlicher Erziehung (vgl. cc. 226 § 2, 867 § 1 u. 793 63 Vgl. Libero Gerosa, Communio – Excommunicatio. Zur theologischen und rechtlichen Natur der Exkommunikation, in: Reinhild Ahlers/Peter Krämer (Hrsg.), Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre. FS Schmitz (60), Paderborn 1990, S. 105 – 119, hier S. 115; ders., „Communio“ und „Excommunicatio“. Ein Streitgespräch, in: Ludger Müller/Alfred E. Hierold/Sabine Demel/ders./Peter Krämer (Hrsg.), „Strafecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Berlin 2006, S. 97 – 110, hier S. 105. 64 Ansgar Grochtmann, Justitiabilität der Gewissensfreiheit. Rechtsvergleichende Analyse zur kirchlichen Strafverhängung und zum Schutz des forum internum im Völkerrecht (= AIC 47), Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 206, unter Hinweis auf Helmuth Pree, Forum externum und forum internum. Zur Relevanz des Gewissensurteils im kanonischen Recht, in: AfkKR 168 (1999), S. 25 – 50, hier S. 42. 65 Krämer, Prüfstand (Anm. 27), S. 172. 66 Vgl. Wilhelm Rees, Strafe und Strafzwecke – Theorien, geltendes Recht und Reformen, in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), Paderborn 2017, S. 23 – 60. 67 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 203. 68 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 203.

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§ 1 CIC/1983; cc. 686 § 1 u. 627 § 1 CCEO) und dem Elternrecht sowie dem Recht des Kindes auf Religionsfreiheit? Gerade das Elternrecht wird vom kirchlichen Gesetzgeber klar und deutlich herausgestellt. b) Bestrafung ohne Strafgesetz Die Kirche anerkennt zwar den Grundsatz nulla poena sine lege (vgl. c. 1321 §§ 1 – 2 CIC/1983; c. 1414 § 1 CCEO), nicht jedoch den Grundsatz nulla poena sine lege poenali praevia. Eine Generalnorm ermöglicht nämlich neben den konkreten Strafandrohungen für verschiedene Vergehen eine Bestrafung für äußerlich erkennbare Verletzungen eines göttlichen oder kirchlichen Gesetzes auch dann, „wenn die besondere Schwere der Rechtsverletzung eine Bestrafung fordert und die Notwendigkeit drängt, Ärgernissen zuvorzukommen oder sie zu beheben“ (c. 1399 CIC/1983; vgl. bereits c. 2222 § 1 CIC/1917). Allerdings lässt sich für Bruno Primetshofer „kein Konfliktfall von der Art konstruieren, daß im Interesse des Seelenheils wessen immer eine Strafe i. e. S. ohne vorausgehendes Strafgesetz oder zumindest vorausgehenden Strafbefehl gerechtfertigt wäre“, da der Ausschluss einer Strafe andere „Maßnahmen disziplinärer Art“ nicht verhindere.69 Die Regelung des c. 1399 CIC/1983 soll auch im geplanten überarbeiteten Strafrecht beibehalten, jedoch präzisiert werden.70 Der CCEO kommt ohne eine entsprechende Strafnorm aus. Der in c. 221 § 3 CIC/1983 (c. 24 § 3 CCEO) festgelegte Grundsatz „nulla poena sine lege“ wird also weiterhin in bedenklicher Weise relativiert.71 Ausdrücklich macht Pahud de Mortanges auf die Unvereinbarkeit dieser Strafnorm mit Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK aufmerksam.72 c) Unschuldsvermutung Im weltlichen Bereich ist die Unschuldsvermutung durch Art. 11 Abs. 1 AEMR, aber auch durch Art. 14 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen sowie durch Art. 6 Abs. 2 EMRK garantiert. Zwar verwendet der kirchliche Gesetzgeber im derzeit geltenden kirchlichen Gesetzbuch den stark vorbelasteten Begriff „dolus praesumitur“ (c. 2200 § 2 CIC/1917) 69 Bruno Primetshofer, Vom Geist des Codex Iuris Canonici/1983, in: Karl Amon/ders./ Karl Rehberger/Gerhard Winkler/Rudolf Zinnhobler (Hrsg.), Ecclesia peregrinans. FS Lenzenweger (70), Wien 1986, S. 405 – 417, hier S. 416, abgedruckt in: ders., Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Josef Kremsmair/Helmuth Pree (= KST 44), Berlin 1997, S. 205 – 224, hier S. 223 f. 70 Vgl. PCLT, Schema (Anm. 2), c. 1399, S. 16 u. 39. 71 Kritisch zu der dem heutigen Rechtsempfinden nicht leicht verständlichen Allgemeinen Norm: Pahud de Mortanges, Vergebung (Anm. 30), S. 180 – 182; Werner Böckenförde, Der neue Codex Iuris Canonici, in: NJW 36 (1983), S. 2532 – 2540, hier S. 2537; s. auch Rees, Grundfragen (Anm. 2), S. 1578 f. m. w. N.; vgl. in diesem Band Konrad Breitsching, Kritische Anmerkungen zu c. 1399 CIC/1983, S. 495 ff. 72 Pahud des Mortanges, Vergebung (Anm. 30), S. 182.

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nicht mehr. Er geht somit nicht mehr von einer vorsätzlichen Handlung aus. Vielmehr wird mit der äußeren Verletzung eines Gesetzes oder Verwaltungsbefehls „die Zurechenbarkeit (imputabilitas) vermutet“, sofern nicht etwas anderes offenkundig ist (vgl. c. 1321 § 3 CIC/1983; c. 1414 § 2 CCEO)73. „Durch diese widerlegbare Vermutung wird dem Angeklagten die Aufgabe übertragen, seine Unschuld darzutun“74, d. h. „das Fehlen von Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu beweisen“75. Eine solche Regelung ist jedoch, wie Pahud de Mortanges bemerkt, nicht haltbar, „da durch sie der Betroffene schon zu Beginn des Verfahrens als Schuldiger bezeichnet wird“76. Die Unschuldsvermutung als Menschenrecht sollte in Zukunft wohl stärker zum Ausdruck gebracht werden. d) Aufenthaltsgebot bzw. -verbot Der kirchliche Gesetzgeber rechnet zu den Sühnestrafen auch ein lokal oder territorial begrenztes Aufenthaltsverbot bzw. -gebot (vgl. c. 1336 § 1, 18 CIC/1983 i. V. m. c. 1337 §§ 1 – 2 CIC/1983; c. 1429 §§ 1 – 2 CCEO)77, das Kleriker und Ordensleute treffen kann. Kritisch ist zu fragen, „ob man einen kirchlichen Straftäter strafweise hin- und herschieben kann“78 und ob durch eine derartige Strafmaßnahme nicht die Freiheit und damit ein Grundrecht eines Menschen (vgl. Art. 13 AEMR) wesentlich eingeschränkt wird. „Problematisch, wenn nicht unmöglich dürfte“, wie Aymans–Mörsdorf–Müller zu Recht kritisch herausstellen, „die Anwendung dieser Sanktion [des Aufenthaltsgebots bzw. -verbots] gegenüber Ständigen Diakonen sein, insbesondere wenn diese verheiratet sind oder einem Zivilberuf nachgehen“79. e) Das Ermessen des Richters bei der Strafverhängung Der kirchliche Gesetzgeber eröffnet dem Richter einen weitgehenden Ermessensspielraum, um jedem einzelnen Straffall in vollem Umfang gerecht zu werden.80 Die 73 Kritisch Helmuth Pree, Imputabilitas – Erwägungen zum Schuldbegriff des kanonischen Strafrechts, in: ÖAKR 38 (1989), S. 226 – 243, hier S. 238 f. 74 Vgl. Pahud de Mortanges, Vergebung (Anm. 30), S. 114. 75 Böckenförde, Codex (Anm. 71), S. 2537. 76 Pahud de Mortanges, Vergebung (Anm. 30), S. 115. 77 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Konfinierung, in: LThK3 6, Sp. 241. 78 Klaus Lüdicke, c. 1337, Rdnr. 7, in: MK CIC (Stand: April 1993). 79 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 186; bzgl. Religiosen s. ebd.; s. auch Ludger Müller, Der Diakonat – eine oftmals übersehene Weihestufe im CIC/1983. Zugleich ein Beitrag zum ius canonicum semper reformandum, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), S. 149 – 165, hier S. 157 f. 80 Zu den Strafmilderungs- und Strafausschließungsgründen s. Aymans–Müller–Mörsdorf, KanR IV, S. 116 – 127.

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dem Richter vom kirchlichen Gesetzgeber zugestandenen Möglichkeiten der Strafminderung, des Verzichts auf Strafe usw. können zwar zu einer weitgehenden Einzelfallgerechtigkeit beitragen. Sie können aber auch zu Ungerechtigkeiten sowie zu einer nicht tolerierbaren Rechtfertigungsnot des Richters führen.81 Daher wird als ein Ziel der unter Papst Benedikt XVI. angegangenen, bislang jedoch nicht abgeschlossenen Strafrechtsreform die Reduzierung derjenigen Fälle gefordert, „in denen der kirchlichen Autorität Ermessensspielraum im Hinblick auf die Strafverhängung zukommt“82. Näherhin sollen unbestimmte Strafandrohungen durch bestimmte ersetzt, fakultative Strafandrohungen zu obligatorischen werden. In der Praxis führt dies letztendlich zu einer Verschärfung des kirchlichen Strafrechts. f) Recht auf Gehör und Verteidigung Wenn Menschenrechte gemäß der kirchlichen Lehre aus der Natur des Menschen als Geschöpf Gottes abgeleitet werden, müssen sie, wie Guisep Nay fordert, „auch, ja um so mehr in kirchlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren Geltung und Anwendung finden“83. Ausdrücklich hatte bereits Papst Johannes Paul II. in einer Ansprache an die Mitglieder der Rota Romana vom 26. Januar 1989 unter Hinweis auf c. 1598 § 1 CIC/1983 betont, dass das Verteidigungsrecht „stets unbeeinträchtigt bleiben“ muss.84 Dieser Grundsatz hat gemäß der Maxime Audiatur et altera pars für alle Strafverfahren zu gelten. Mit Blick auf die Lehrbeanstandungsverfahren bemerkt Nay, dass die diesbezügliche Neuordnung dieser Verfahren durch die römisch-katholische Kirche im Jahr 1997 „zwar entscheidende Verbesserungen gebracht hat, aber insbesondere das Menschenrecht des Betroffenen, von Beginn weg und in allen Stadien als Subjekt im Verfahren behandelt und vor jeder Entscheidung gebührend gehört zu werden, immer noch nicht gewährleistet“ ist.85 Grundrechte, wie die Anhö81 Der vom kirchlichen Gesetzgeber eingeräumte Ermessensspielraum muss jedoch in der Praxis „nicht unbedingt von Vorteil sein“; vgl. Hans Paarhammer, Das spezielle Strafrecht des CIC, in: Klaus Lüdicke/ders./Dieter A. Binder (Hrsg.), Recht im Dienste des Menschen. FG Schwendenwein (60), Graz/Wien/Köln 1986, S. 403 – 466, hier S. 403 f. 82 Güthoff, Überblick II (Anm. 2), S. 158, unter Hinweis auf PCLT, Schema (Anm. 2), 1. Rationes quaedam recognitionem suadentes, S. 6, Nr. 3. 83 Kritisch Giusep Nay, Schweizerischer Rechtsstaat und Religionsgemeinschaften: Hilfen und Grenzen, in: Adrian Loretan/Toni Bernet-Strahm (Hrsg.), Das Kreuz der Kirche mit der Demokratie. Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2006, S. 35 – 47, hier S. 45; s. auch Ulrich Rhode, Die Lehrprüfungs- bzw. Lehrbeanstandungsverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 75 – 105, S. 39 – 57; C. DocFid, Agendi ratio in doctrinarum examine (29. 06. 1997), in: AAS 89 (1997), S. 830 – 835, ferner online verfügbar unter: http:// www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19970629_ra tio-agendi_lt.html (Stand: 01. 08. 2017), dt. in: AfkKR 166 (1997), S. 142 – 147. 84 Johannes Paul II., Allocutio ad Romanae Rotae auditores, officiales et advocatos coram admissos (26. 01. 1989), in: AAS 81 (1989), S. 922 – 927, hier S. 922, dt.: AfkKR 158 (1989), S. 130 – 134, hier S. 130. 85 Nay, Rechtsstaat (Anm. 83), S. 45.

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rung des Autors bzw. der Autorin und die Möglichkeit zur Verteidigung, müssen unbedingt gesichert sein, ja – auch wenn heute weithin vorhanden – generell noch verbessert werden. Den Rechtsschutz im Bereich der Lehrprüfungsverfahren „zu verbessern“, liegt für Ulrich Rhode „nicht nur im Interesse der betroffenen Autoren, sondern dient ebenso sehr dem Wohl der kirchlichen Gemeinschaft als ganzer“86. Gegen verhängte Maßnahmen Rekurs einzulegen, ist „ausdrücklich ausgeschlossen“87. Auch mit Blick auf das Nihil obstat-Verfahren gibt es Desiderate und Wünsche. Insgesamt gesehen bedarf es wohl in allen kirchlichen Verfahren einer Verbesserung des Rechtsschutzes im Sinne der Menschenrechte. g) Verwaltungs- oder Gerichtsweg Trotz vielfältiger Bedenken im Rahmen der Reform des kirchlichen Gesetzbuchs im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil88 hat der kirchliche Gesetzgeber im CIC/1983 die Möglichkeit der Strafverhängung auf dem Verwaltungsweg beibehalten (vgl. c. 1342 § 1 CIC/1983; c. 1402 § 2 CCEO). Aymans–Mörsdorf–Müller rechtfertigen das Festhalten damit, dass bei der Anwendung des kirchlichen Strafrechts „eine flexible und schnelle Handlungsmöglichkeit gegeben sein muß“89. Wenn Strafen in den letzten Jahren überhaupt verhängt wurden, geschah dies weithin auf dem Verwaltungsweg.90 Aymans–Mörsdorf–Müller bemerken zwar, dass „durch die ausdrückliche Forderung nach Einräumung der Verteidigungsmöglichkeit (c. 1720, 18) und die Möglichkeit, gegen ein Sanktionsdekret auf dem Weg des hierarchischen Rekurses vorzugehen (cc. 1732 – 1739), der letztlich auch die Möglichkeit des Verwaltungsgerichtsverfahrens vor der Apostolischen Signatur bietet (c. 1445 § 2; Art. 123 PastBon), […] die Parteienrechte auch beim Verwaltungssanktionsverfahren grundsätzlich gesichert“ sind.91 Dennoch bietet das Beschreiten des Gerichtswegs wohl einen intensiveren Rechtsschutz.92 Allerdings sieht die geplante Strafrechtsreform eine Erleichterung bei der Verhängung und Feststellung von Stra86 Rhode, Lehrbeanstandungsverfahren (Anm. 83), S. 57; s. auch ders., Kirchenrecht (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 24), Stuttgart 2015, S. 161 f. 87 Dominicus M. Meier, Schutz der Glaubens- und Sittenlehre, in: HdbKathKR3, S. 974 – 988, bes. S. 982 – 985, hier S. 985. 88 Vgl. Rees, Strafgewalt (Anm. 48), S. 399. 89 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 145 mit Anm. 3, unter Hinweis auf Libero Gerosa, Exkommunikation und freier Glaubensgehorsam. Theologische Erwägungen zur Grundlegung und Anwendbarkeit der kanonischen Sanktionen, Paderborn 1995, S. 360 – 362; s. auch Ludger Müller, Rechte in der Kirche. Die Begründung kirchlichen Verfahrensrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 9 – 24. 90 Zur Strafverhängung s. Ihli, Strafverfahren (Anm. 34). 91 Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 145 f. 92 Dazu Rees, Rechtsschutz (Anm. 34), S. 87 – 104; ders., Verfahren (Anm. 34), S. 266 – 286; s. auch Christoph Ohly, Dekretverfahren versus Gerichtsweg – Sanktionsrechtliche Erwägungen zu einer kodikarischen Alternative, in: Matthias Pulte (Hrsg.), Tendenzen der kirchlichen Strafrechtsentwicklung (= KStKR 25), Paderborn 2017, S. 61 – 80.

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fen auf dem Verwaltungsweg vor.93 Doch gilt es wohl auch in Zukunft die Feststellung von Alfred E. Hierold zu berücksichtigen: „Überall dort, wo es um die Erforschung und Feststellung der Wahrheit geht, muss der gemeingerichtliche Weg eingeschlagen werden. Gerade in einer Gemeinschaft wie der Kirche, die einen hohen Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit erhebt und deren Entscheidungen auch in tiefe geistliche Dimensionen reichen, kann ein gemeingerichtliches Verfahren mehr an Gerechtigkeit hervorbringen als Verfahren auf dem Verwaltungsweg.“94 Im Fall des Verdachts sexuellen Missbrauchs, der der Kongregation für die Glaubenslehre immer zur Kenntnis zu bringen ist, steht es der Kongregation frei, anstelle eines Gerichtsverfahrens ein Verwaltungsstrafverfahren gemäß c. 1720 CIC/1983 (vgl. c. 1486 CCEO) durchzuführen bzw. seitens des jeweiligen Ordinarius führen zu lassen, so dass die Entlassung aus dem Klerikerstand – entgegen der Normierung im CIC/1983 – auch durch ein außergerichtliches Dekret erfolgen kann (vgl. Art. 21 § 2, 18 Normae2010). Die Kompetenzen der Kongregation für die Glaubenslehre bei den delicta graviora widerstreiten daher „eindeutig c. 1342 § 2 CIC (c. 1402 § 2 CCEO), wonach Strafen für immer bzw. sehr schwere Strafen nicht durch ein außergerichtliches Dekret verhängt oder festgestellt werden können“95. Die geplante Strafrechtsreform sieht die Streichung von c. 1342 § 2 CIC/1983 vor, fordert jedoch für die Gültigkeit der Verhängung von Strafen für immer im Strafdekretverfahren die Bestätigung durch den Apostolischen Stuhl.96 Im Begleitschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 26. Juli 2011 wird ein Meinungsurteil „bezüglich der Angemessenheit des Vorschlages eines Rekurses an den Metropoliten zur Bestätigung definitiver Verwaltungsdekrete des Bischofs“ erbeten.97 Eine solche Regelung ist mit der bischöflichen Vollmacht und mit der Stellung des Diözesanbischofs als oberstem Richter seiner Diözese nicht vereinbar. Zudem ist sie von Misstrauen gegenüber der Eigenverantwortlichkeit eines Diözesanbischofs geprägt. Auch wurden der Kongregation für die Evangelisierung der Völker und der Kongregation für den Klerus Sondervollmachten erteilt, die zur Entlassung aus dem Klerikerstand ohne ein Gerichtsverfahren führen. Dies kann im Fall von Priestern, die eine Ehe zu schließen versucht haben, im Konkubinat leben oder in Ärgernis erregender Weise in einer anderen Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs (vgl. c. 1395 §§ 1 – 2 CIC/1983; c. 1453 §§ 1 – 3 CCEO) verharren, geschehen. Eine Entlassung 93 Vgl. PCLT, Schema (Anm. 2), Rationes 1, Nr. 2 u. c. 1342 § 1, S. 6, S. 10 u. 26. Ein Hinweis bzgl. des Rechtsschutzes im Sinn von c. 1720 CIC/1983 ist in c. 1342 § 1 Schema eingefügt; vgl. Güthoff, Überblick I (Anm. 2), S. 76 f. u. 85. 94 Alfred E. Hierold, Vorgehen auf dem Verwaltungs- oder auf dem Gerichtsweg?, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien/Berlin 2011, S. 25 – 38, hier S. 38. 95 Andreas Weiß, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: HdbKathKR3, S. 1647 – 1660, hier S. 1656. 96 Vgl. PCLT, Schema (Anm. 2), c. 1342 § 2, S. 10 u. 26. 97 PCLT, Brief an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen (26. 07. 2011) (Prot.N. 13250/ 2011, nicht veröffentlicht).

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aus dem Klerikerstand ist ferner auch dann möglich, wenn diese für die entsprechende Tat nicht angedroht ist oder auch ohne eine konkrete Strafandrohung (vgl. c. 1399 CIC/1983) und schließlich für den Fall, dass ein Kleriker den priesterlichen Dienst über mehr als fünf Jahre aufgegeben hat.98 Nach Andreas Weiß erfolgt die Entlassung aus dem Klerikerstand im zweiten Sonderfall „unter Umgehung des in c. 1321 §§ 1 – 2 verankerten Grundsatzes nulla poena sine lege poenali praevia sowie der Vorschriften in cc. 1317, 1319, 1342 § 2 und 1349“99. Die dritte Sondervollmacht kann auch rückwirkend angewandt werden, d. h. für Fälle, die vor der Gewährung der Sondervollmacht liegen. Ausdrücklich schließt Art. 11 Abs. 2 AEMR aus, dass jemand wegen einer Handlung verurteilt wird, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war. Kritisch bemerkt Weiß, dass in den genannten Fällen dem Betroffenen ein Rechtsschutz „so gut wie gar nicht gewährleistet“ ist, „muss er doch nicht einmal zwingend in die ,Untersuchungen‘ eingebunden werden“100. Wenngleich die eingeräumten Sondervollmachten aus praktischen Überlegungen heraus geboten erscheinen mögen und nur in begründeten Fällen zur Anwendung kommen, stellt sich die Frage nach Rechtsschutz und Verteidigungsmöglichkeit und damit nach Gewährleistung grundlegender Menschenrechte. Bei derart gravierenden Eingriffen in das Leben eines Menschen müssten Rechtssicherheit und Wahrung menschlicher Grundrechte unbedingt gewährleistet sein, zumal es in diesen Fällen für den Betroffenen kein Rechtsmittel gibt (vgl. c. 333 § 3 CIC/1983; c. 45 § 3 CCEO). Insgesamt gesehen muss die seitens der Leitung der Kirche erfolgte und in die Praxis umgesetzte Bevorzugung des Verwaltungswegs bei der Strafverhängung kritisch hinterfragt und künftig für die Stärkung des Gerichtswegs plädiert werden. h) Verwaltungsgerichtsverfahren auf diözesaner Ebene bzw. der Ebene der Bischofskonferenz Der CIC/1983 kennt kein Verwaltungsgerichtsverfahren auf diözesaner Ebene bzw. auf der Ebene der Bischofskonferenz. Hier liegt unter dem Aspekt des Rechtsschutzes ein Manko vor, wenngleich eine solche Gerichtsbarkeit ursprünglich im

98 Vgl. Stephan Haering, Verlust des klerikalen Standes. Neue Rechtsentwicklungen durch päpstliche Sondervollmachten der Kongregation für den Klerus. Heribert Schmitz zum 80. Geburtstag, in: AfkKR 178 (2009), S. 369 – 395; Rafael M. Rieger, Das Ausscheiden aus dem klerikalen Stand, in: HdbKathKR3, S. 410 – 429, bes. S. 417 – 421. Wie Rieger, ebd., S. 419, Anm. 47 bemerkt, ist eine Anwendung der Vollmacht im Fall der Aufgabe des Dienstes „bei Diakonen nicht ausgeschlossen“; s. auch Rees, Rechtsschutz (Anm. 34), S. 102 – 104; ders., Verfahren (Anm. 34), S. 283 – 286; Andrea D’Auria, La scelta della procedura per l’irrogazione delle pene, in: PerRCan 101 (2012), S. 633 – 668, hier S. 661 – 667; Ihli, Strafverfahren (Anm. 34), S. 1746 – 1748. 99 Weiß, Grundfragen (Anm. 95), S. 1656. 100 Weiß, Grundfragen (Anm. 95), S. 1657.

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Rahmen der CIC-Reform vorgesehen war.101 Allerdings sind gegen eine verwaltungsrechtliche Maßnahme Rekurs (vgl. cc. 1732 – 1739 CIC/1983; cc. 996 – 1006 CCEO), Beschwerde bei der zuständigen Kongregation und Klage bei der Zweiten Sektion der Apostolischen Signatur möglich.102 wobei der Rekursweg zur übergeordneten hierarchischen Instanz, wie Dominicus M. Meier wohl zu Recht herausstellt, „von Gläubigen als wenig erfolgversprechend und als zu umständlich angesehen“ wird.103 Die Vorgabe, den Rechtsschutz im CIC/1983 auszubauen, ist daher wohl keineswegs umfassend erfüllt worden, da nur das Verfahren zum Erlass eines Verwaltungsaktes (vgl. cc. 48 – 58 CIC/1983; cc. 1510 – 1516 CCEO) und die Verwaltungsbeschwerde (vgl. cc. 1732 – 1739 CIC/1983; cc. 996 – 1006 CCEO) geregelt wurden, nicht jedoch die ursprünglich vorgesehene Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der Ebene der Diözesen bzw. einer Bischofskonferenz eingeführt wurde. „Durch das Fehlen eines (wirksamen) Rechtsmittels gegen unberechtigte Verwaltungsdekrete und – infolge der Zunahme strafrechtlicher Entscheidungen auf dem Verwaltungsweg – auch gegen ebensolche Strafdekrete kann dem betroffenen Gläubigen auf diese Weise erheblicher und nur schwer wiedergutzumachender Schaden entstehen.“104 Dies kann jedoch nicht toleriert werden. i) Rechtsmittel gegen die Verhängung einer Strafe Als Rechtsmittel gegen die Verhängung oder Feststellung einer Strafe kommen die Berufung gegen ein richterliches Urteil (appellatio; vgl. cc. 1628 – 1640 CIC/ 1983; cc. 1309 – 1321 CCEO) bzw. die Beschwerde gegen ein Verwaltungsdekret (recursus; vgl. cc. 1732 – 1739 CIC/1983; cc. 996 – 1006 CCEO u. c. 1487 § 1 CCEO) in Betracht. Im Unterschied zu c. 2243 § 1 CIC/1917 hat ein Rechtsmittel auch im Fall einer Beugestrafe „aufschiebende Wirkung“ (vgl. c. 1353 CIC/1983; c. 1487 § 2 CCEO). Diese Neuerung gegenüber dem früheren Recht gewährleistet einen starken Schutz des subjektiven Rechts der straffälligen Person.105 Im Fall 101 Vgl. Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, Nr. 7, in: Com 1 (1969), S. 77 – 85, hier S. 83; cc. 1737 – 1746 u. 1750 – 1763 Schema CIC 1982; dazu Weiß, Grundfragen (Anm. 95), S. 1659. 102 Vgl. Elmar Güthoff, Gerichtsverfassung und Gerichtsordnung, in: HdbKathKR3, S. 1661 – 1672, hier S. 1668; ferner auch Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 589 – 597. 103 Dominicus M. Meier, Recht(e) haben und Recht bekommen sind nicht dasselbe. Anmerkungen zum gegenwärtigen Rechtsschutz in der katholischen Kirche, in: Stephan Haering/ Josef Kandler/Raimund Sagmeister (Hrsg.), Gnade und Recht. Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht. FS Holotik (60), Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 439 – 472, hier S. 445. 104 Weiß, Grundfragen (Anm. 95), S. 1659; s. auch Kurt Martens, Die Einklagbarkeit von Grundrechten – oder die Bedeutung von Administrativverfahren in einer Religionsgemeinschaft, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2011, S. 261 – 286. 105 In der Praxis aber hat sich diese Regelung als völlig unzureichend erwiesen; vgl. Rees, Strafgewalt (Anm. 48), S. 404; im Einzelnen Elmar Güthoff, Das Streitverfahren, in:

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der Entlassung eines Klerikers aus dem Klerikerstand wegen sexuellen Missbrauchs minderjähriger Personen auf dem Verwaltungsweg kann eine Verwaltungsbeschwerde bei der Ordentlichen Versammlung (Feria IV) der Kongregation für die Glaubenslehre eingelegt werden (vgl. Art. 27 Normae2010), wobei der Rekurs seit dem Jahr 2014 in der Regel von einem Kollegium aus sieben Kardinälen oder Bischöfen behandelt wird.106 In diesem Fall wird nicht nur der Instanzenweg des CIC/1983 eingeschränkt; vielmehr liegen Strafverhängung und Rekurs bei derselben Kongregation. Dieser Umstand ist im Sinn der Objektivität durchaus zu hinterfragen.

IV. Notwendige Ergänzungen des CIC/1983 Im weltlichen Bereich entstand in jüngerer Zeit eine Debatte um Ergänzung der Menschenrechte durch Menschenpflichten.107 Der Gedanke an Menschenpflichten scheint – neben dem Schutz der Menschenrechte – auch für die katholische Kirche sinnvoll und angebracht. Erstmals wurde in der von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1963 veröffentlichten Enzyklika „Pacem in terris“ die Stellung der Frau durch das kirchliche Lehramt angesprochen und eine Gleichstellung mit dem Mann gefordert.108 Ausdrücklich hat das Zweite Vatikanische Konzil die Gleichheit der Geschlechter sowohl für den weltlichen als auch für den kirchlichen Bereich anerkannt (vgl. LG 32, 2; GS 9, 2 u. 29, 1 – 2) und deren Umsetzung gefordert. Auch c. 208 CIC/1983 (vgl. c. 11 CCEO) betont die wahre Gleichheit unter allen Christgläubigen.109 Trotzdem ist die volle Gleichstellung von Frau und Mann in der Kirche bis heute nicht verwirklicht.110 Papst Franziskus sieht in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute „mit Freude, wie viele Frauen pastorale Verantwortungen gemeinsam mit den Priestern ausüben, HdbKathKR3, S. 1673 – 1686, bes. S. 1683 f.; Klaus Lüdicke, Verwaltungsbeschwerde und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: ebd., S. 1749 – 1759. 106 Vgl. Rieger, Ausscheiden (Anm. 98), S. 416 mit Anm. 32; kritisch Rees, Novellierung (Anm. 35), S. 491 f.; ders., Vorgehen (Anm. 41), S. 121. 107 Vgl. Guido Brune, Menschenrechte und Menschenrechtsethos. Zur Debatte um eine Ergänzung der Menschenrechte durch Menschenpflichten (= Theologie und Frieden 29), Stuttgart 2006. 108 Vgl. Johannes XXIII., Pacem in terris (Anm. 13), S. 261 u. 267 f. 109 Vgl. Denise Buser/Adrian Loretan (Hrsg.), Gleichstellung der Geschlechter und die Kirchen. Ein Beitrag zur menschenrechtlichen und ökumenischen Diskussion (= FVRR 3), Freiburg (Schweiz) 1999; Adrian Loretan, Impulse des staatlichen Gleichstellungsrechts für die Kirchen, in: ders./Toni Bernet-Strahm (Hrsg.), Das Kreuz der Kirche mit der Demokratie. Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2006, S. 49 – 67; ders., Religionen (Anm. 9), S. 209 – 240; Stella Ahlers, Die Gleichstellung der Frau in Staat und Kirche – ein problematisches Spannungsverhältnis (= RRD 2), Münster 2006. 110 Vgl. Loretan, Kirche und Staat (Anm. 59), S. 1901.

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ihren Beitrag zur Begleitung von Einzelnen, von Familien oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur theologischen Reflexion geben“. Er betont zugleich aber auch, dass „die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden [müssen]. Denn ,das weibliche Talent ist unentbehrlich in allen Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens; aus diesem Grund muss die Gegenwart der Frauen auch im Bereich der Arbeit garantiert werden‘ und an den verschiedenen Stellen, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, in der Kirche ebenso wie in den sozialen Strukturen.“111 Zu fragen ist daher, ob nicht Strafmaßnahmen angebracht erscheinen, wenn Verantwortliche in der Kirche die Gleichstellung der Frau – abgesehen vom Weiheamt – einschränken, verhindern bzw. nicht ermöglichen.112 „Die Laien sind“, so sagt Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“, „schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger“. Zwar sei „das Bewusstsein der Identität und des Auftrags der Laien in der Kirche gewachsen“. Dennoch verweist der Papst darauf, dass „die Bewusstwerdung der Verantwortung der Laien, die aus der Taufe und der Firmung hervorgeht, […] sich nicht überall in gleicher Weise“ zeigt. „In einigen Fällen, weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich ausdrücken und handeln zu können.“113 Gemäß c. 275 § 2 CIC/1983 (vgl. c. 381 § 3 CCEO) haben Kleriker „die Sendung anzuerkennen und zu fördern, welche die Laien, jeder zu seinem Teil, in Kirche und Welt ausüben“. Eine Sanktion für gegenteiliges Verhalten fehlt jedoch im kirchlichen Gesetzbuch. C. 1058 CIC/1983 (vgl. c. 778 CCEO) kennt den Grundsatz der Eheschließungsfreiheit (vgl. auch c. 219 CIC/1983; c. 22 CCEO), der auch in Art. 16 Abs. 2 AEMR anerkannt ist. Zwar ist eine Eheschließung, die aufgrund von Zwang und schwerer Furcht erfolgt, ungültig (vgl. c. 1103 CIC/1983; c. 825 CCEO). Sollten jedoch nicht auch Menschen, die Zwang zur Eheschließung ausüben, mit kirchlichen Strafen belegt werden können, um dieses Grundrecht besser schützen zu können und ungültige Ehen zu verhindern? Der kirchliche Gesetzgeber verpflichtet jeden Gläubigen und jede Gläubige, für soziale Gerechtigkeit einzutreten und Menschen in Armut beizustehen (vgl. c. 222 § 2 CIC/1983; c. 25 § 2 CCEO). Ausdrücklich wird als Zweck des Kirchenvermögens u. a. die Sorge für die Armen (vgl. c. 1254 § 2 CIC/1983; c. 1007 CCEO) genannt. Um das Grundrecht eines jeden Menschen auf einen angemessenen Lebens111 Franziskus, Adh. Ap. „Evangelii gaudium“ (24. 11. 2013), in: AAS 105 (2013), S. 1019 – 1137, hier Nr. 103, ferner online verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/aas/ documents/2013/acta-dicembre2013.pdf (Stand: 01. 08. 2017), dt.: VApSt 194. 112 Vgl. Wilhelm Rees, Der Dienst von Priestern, Diakonen und Laien. Kanonistische Anmerkungen zum innerkirchlichen Dienst- und Arbeitsrecht, in: ÖARR 63 (2016) (im Erscheinen). 113 Franziskus, Evangelii gaudium (Anm. 111), Nr. 102.

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standard, „der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden“ gewährleistet (vgl. Art. 25 Abs. 1 AEMR), zu schützen und anzuerkennen, ist zu fragen, ob nicht bei einer Unterlassung eine Strafmaßnahme, in diesem Fall wohl eine Tatstrafe, angebracht wäre, wenngleich die Tatstrafe als solche kritisch zu hinterfragen ist.114 Zwar ist die Tatstrafe durchaus eine weithin gerechte Strafe, da sie jeden Straftäter und jede Straftäterin trifft, unabhängig davon, ob die Straftat an die Öffentlichkeit gelangt ist oder nicht. Dennoch ist sie mit Blick auf die Rechtssicherheit problematisch, da Straftäter bzw. Straftäterin sie selbst vollziehen müssen. Die Frage ist, ob bzw. inwieweit er bzw. sie Strafausschließungs- und Strafmilderungsgründe kennt und somit ein gerechtes Urteil fällen kann.115 Zwar kann die Kirche kein generelles Recht auf Arbeit (vgl. Art. 23 Abs. 1 AEMR) garantieren. Sie spricht jedoch Klerikern, da sie sich dem kirchlichen Dienst widmen, eine „Vergütung [zu], die ihrer Stellung angemessen ist“ (c. 281 § 1 CIC/ 1983; c. 390 § 1 CCEO). „Verheiratete Diakone, die sich ganz dem kirchlichen Dienst widmen, haben Anspruch auf Vergütung, mit der sie für ihren und ihrer Familie Lebensunterhalt sorgen können“ (c. 281 § 3 CIC/1983; vgl. c. 390 § 2 CCEO). Auch Laien haben diesen Rechtsanspruch (vgl. cc. 231 § 2 u. 1286, 28 CIC/1983; cc. 409 § 2 u. 1030, 28 CCEO; Art. 23 Abs. 2 – 3 AEMR). Zudem ist bei der Beschäftigung von Arbeitskräften das weltliche Arbeits- und Sozialrecht „genauestens“ zu beachten (vgl. c. 1286, 18 CIC/1983; c. 1030, 18 CCEO; ferner auch c. 1290 CIC/ 1983; c. 1034 CCEO).116 Wenngleich in vielen Bereichen der Weltkirche eine angemessene Entlohnung sowie Gesundheits- und Altersvorsorge nur schwer möglich sind, könnten gravierende Vernachlässigungen seitens der kirchlichen Verantwortlichen durch Strafmaßnahmen verhindert bzw. eingeschränkt werden. Ob jedoch Gehaltskürzungen und -entzüge, die der Entwurf eines neuen Strafrechts verstärkt vorsieht, eine für die Kirche angemessene Art der Strafe sind, bleibt zu hinterfragen, wenngleich diese Maßnahmen in der Praxis durchaus wirksam sein können. Auch die kirchlich verbürgten Grundrechte, wie unter anderem die wahre Gleichheit (vgl. c. 208 CIC/1983; c. 11 CCEO; Art. 2 AEMR), die Vereins- und Versammlungsfreiheit (vgl. c. 215 CIC/1983; c. 18 CCEO; Art. 20 AEMR), die Sicherung des guten Rufs (vgl. c. 220 CIC/1983; c. 23 CCEO; Art. 12 AEMR) und die Wahrung des Rechtsschutzes (vgl. c. 221 CIC/1983; c. 24 CCEO; Art. 8 AEMR), sind von arbeitsrechtlicher Bedeutung.117 So darf bei der Anstellung keine Person wegen des Ge-

114 Vgl. Ludger Müller, Die Befreiung von einer Tatsanktion im Gnadenweg – Systemwidrigkeiten im geltenden kirchlichen Sanktionsrecht?, in: Bernd Dennemarck/Heribert Hallermann/Thomas Meckel (Hrsg.), Von der Trennung zur Einheit. Das Bemühen um die PiusBruderschaft (= WTh 7), Würzburg 2011, S. 227 – 237. 115 Vgl. Rees, Grundfragen (Anm. 2), S. 1580 f. 116 Vgl. Rees, Dienst (Anm. 112). 117 Vgl. Herbert Kalb, Kirchliches Dienst- und Arbeitsrecht in Deutschland und Österreich, in: HdbKathKR3, S. 324 – 341, hier S. 327 f.

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schlechts ungleich behandelt oder diskriminiert (vgl. Art. 7 AEMR)118 und die Gründung von Gewerkschaften (vgl. Art. 20 Abs. 1 AEMR) bzw. die Mitgliedschaft in diesen verhindert werden.119 Sanktionen im Fall von Beeinträchtigungen sind nicht vorgesehen. Ausdrücklich enthält der Katechismus der Katholischen Kirche auch einen Abschnitt „Achtung der Unversehrtheit der Schöpfung“ (vgl. 2415 – 2418 KKK). Die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen schafft nicht selten Ungerechtigkeit und führt zu Verletzungen von Menschenrechten. Darauf verweist Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“ aus dem Jahr 2015.120 Armut, soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung sind immer zusammen zu sehen. Ausdrücklich hat das Netzwerk von Betroffenen des Bergbaus in Mexiko (Rema) bei einem Treffen von Vertreter(inne)n aus 18 Bergbauländern mit dem Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden im Vatikan im Jahr 2015121 den Papst um konkrete Unterstützung gegen das extraktivistische Bergbaumodell in Mexiko gebeten und zugleich darum, die Kirchenoberen in Mexiko anzuweisen, keinen Druck mehr auf Priester auszuüben, die Völker und Gemeinschaften unterstützen, die durch den Bergbau geschädigt werden.122 Wären nicht auch Strafbestimmungen zum Umweltschutz bzw. Sanktionen gegen Verantwortliche in der Kirche angebracht, die Priester wegen ihres Einsatzes für Umweltschutz und Menschenrechte sanktionieren bzw. die Verantwortung für die Schöpfung in ihrem Bereich ignorieren? 118 Vgl. Felix Hafner, Religionsfreiheit im Kontext der Menschenrechte, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zürich 2011, S. 121 – 161, hier S. 153; Denise Buser, Die unheilige Diskriminierung. Eine juristische Auslegeordnung für die Interessenabwägung zwischen Geschlechtergleichstellung und Religionsfreiheit beim Zugang zu religiösen Leitungsämtern (= RRD 16), Münster 2014, S. 51 – 54. 119 Vgl. Rees, Dienst (Anm. 112). 120 Vgl. Franziskus, Enz. „Laudato si“ (24. 05. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 847 – 945, ferner online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/ papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html (Stand: 01. 08. 2017). 121 Vgl. Vereint in Gott vernahmen wir einen Ruf. Offener Brief der vom Bergbau betroffenen Gemeinden, die sich in Rom mit dem Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden getroffen haben, online verfügbar unter: http://archive.paxchristi.net/MISC/dokument_final_ DE.pdf (Stand: 01. 08. 2017); s. auch: Vatikan-Konferenz für Opfer von Rohstoffausbeutung. Der Vatikan befasst sich mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltschutz infolge der Rohstoffausbeutung durch internationale Konzerne in armen Ländern (17. 07. 2015), online verfügbar unter: http://religion.orf.at/stories/2721970/ (Stand: 01. 08. 2017); Wilhelm Rees, Katholische Kirche und Umweltschutz. Berührungspunkte zum Bergbau, in: Wolfgang Ingenhaeff/Johann Bair, Bergbau und Umwelt. Auswirkungen und Veränderungen in Bergbaurevieren (im Erscheinen); ders., Römisch-katholische Kirche und Bewahrung der Schöpfung. Kirchenrechtliche Impulse und konkrete Umsetzung mit einem besonderen Blick auf die Erzdiözese Salzburg, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/ders. (Hrsg.), In mandatis meditari. FS Paarhammer (65) (= KST 58), Berlin 2012, S. 299 – 337. 122 Vgl. Ani Dießelmann, Betroffene des Bergbaus in Mexiko fordern Papst zu Unterstützung auf (11. 08. 2015), online verfügbar unter: https://amerika21.de/2015/08/125840/papst-me xiko-minen (Stand: 01. 08. 2017).

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Der kirchliche Gesetzgeber sieht für Gotteslästerung und die Beleidigung der Religion und der Kirche die Möglichkeit einer Strafverhängung vor (vgl. c. 1369 CIC/ 1983; c. 1448 § 1 CCEO). Müsste nicht auch die öffentliche Diffamierung anderer Religionen bzw. deren Angehörigen und die damit verbundene Verletzung von Religionsfreiheit durch Katholiken und Katholikinnen123 künftig seitens der katholischen Kirche sanktioniert werden, andererseits die Meinungsfreiheit (vgl. Art. 19 AEMR) in der Kirche (vgl. c. 212 §§ 2 – 3 CIC/1983; c. 15 §§ 2 – 3 CCEO) selbst gestärkt werden?

V. Schluss „Die Kirche wird“, wie Heribert Franz Köck bemerkt, „von keinem Staat mehr glaubwürdig die Achtung eines Menschenrechtes einfordern können, das sie nicht im eigenen Bereich im gleichen Maße zu respektieren bereit ist. Schlimmer: die Kirche wird auch nicht ein einziges dieser Grundfreiheiten und Menschenrechte mehr glaubhaft von irgendeinem Staat einfordern können, wenn sie selbst auch nur ein einziges von ihnen selbst vorenthält. Vielmehr müßte sich die Kirche jederzeit das tu quoque entgegenhalten lassen, das auch dem aus dem Common Law ins Völkerrecht eingegangenen Estoppel-Prinzip zugrunde liegt, welches besagt, dass man niemandem die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens vorwerfen kann, dessen Rechtmäßigkeit man selbst dadurch konkludent dargetan hat, dass man dieses Verhalten ebenfalls gesetzt hat.“124 So ist nicht nur der Einsatz der Kirche für Menschenrechte gefordert, sondern auch deren Anerkennung innerhalb der Kirche selbst, ein entsprechendes Handeln und ggf. auch eine Sanktionierung im Fall von Verstößen. Die Kirche muss daher auch bei der Anwendung ihres Strafrechts grundlegende Menschenrechte achten. Dies gilt mit Blick auf die Täter und Täterinnen, jedoch in gewissen Fällen, wie unter anderem dem sexuellen Missbrauch minderjähriger Personen durch Kleriker, auch mit Blick auf die Opfer. Auch muss die Kirche Menschenrechtsverletzungen seitens Verantwortlicher in der Kirche sowie seitens einzelner Mitglieder der Kirche stärker in den Blick nehmen, wie dies unter anderem mit Blick auf den Schutz des Lebens bereits der Fall ist. Sie muss sich allerdings auch neuen Herausforderun123 Vgl. Burkhard Josef Berkmann, Blasphemie, Diffamierung von Religionen und religiöser Frieden, in: Markus Graulich/Thomas Meckel/Matthias Pulte (Hrsg.), Ius canonicum in communione christifidelium. FS Hallermann (65) (= KStKR 23), S. 631 – 646; ders., Von der Blasphemie zur „hate speech“? Die Wiederkehr der Religionsdelikte in einer religiös pluralen Welt (= Aus Religion und Recht 13), Berlin 2009; s. auch Wilhelm Rees, Blasphemie versus Meinungs- und Kunstfreiheit, in: Monika Datterl/Wilhelm Guggenberger/Claudia Paganini (Hrsg.), Gewalt im Namen Gottes – ein bleibendes Problem? (= theologische trends 25), Innsbruck 2016, S. 91 – 110; ders., Religions- und Meinungsfreiheit in Österreich mit einem Blick auf die Rechtsprechung, in: Brigitte Schinkele/René Kuppe/Stefan Schima/Eva M. Synek/Jürgen Wallner/Wolfgang Wieshaider (Hrsg.), Recht, Religion, Kultur. FS Potz (70), Wien 2014, S. 705 – 731. 124 Heribert Franz Köck, Menschenrechte in der Kirche. Mit Bezug auf die in der EMRK enthaltenen europäischen Grundrechtstandards, in: ZfRV 37 (1996), S. 89 – 108, hier S. 102.

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gen stellen, indem sie über einen strafrechtlichen Schutz der Umwelt, Verletzungen des Gleichheitsgrundsatzes usw. nachdenkt und hier ggf. neue Straftatbestände in das kirchliche Gesetzbuch aufnimmt. Wenn Kirche vorrangig Heilsgemeinschaft ist und um das Heil eines jeden und einer jeden Christgläubigen besorgt sein muss (vgl. c. 1752 CIC/1983), so sind keine Maßnahmen gerechtfertigt, die Menschenrechte verletzen. Hierauf muss sie im Rahmen einer Reform des kirchlichen Strafrechts verstärkt achten.

Die Anrufung eines staatlichen Gerichts mit dem Ziel, den kirchlichen Rechtsweg zweck- und wirkungslos zu machen, als mögliche Straftat in der kirchlichen Rechtsordnung gemäß c. 1375 CIC/1983 Von Nikolaus Schöch

I. Die von c. 1375 CIC/1983 erfassten Tatbestände C. 1375 CIC/1983 fasst im CIC/1917 auf unterschiedliche Kanones verteilte Straftaten (cc. 2334, 2337, 2345, 2346 u. 2390 CIC/1917) in einen Kanon zusammen, der die Bestrafung der Behinderung und der Einschüchterung der freien, rechtmäßigen Ausübung der kirchlichen Autorität und der sonstigen kirchlichen Dienste zum Gegenstand hat. Die Straftaten, welche im c. 1375 CIC/1983 zusammengefasst wurden, sind sehr unterschiedlich.1 Vom Gesichtspunkt der Religionsfreiheit gemäß DH 2 ahndet c. 1375 CIC/1983 grundsätzlich zwei Arten von Handlungen: 1. Handlungen, welche die Ausübung der kirchlichen Dienste behindern (qui impediunt); 2. Jene, welche die kirchlichen Amtsträger einschüchtern (perterrent). An sechs Stellen (cc. 1331 § 1, 1370, 1373, 1375, 1384 u. 1389 § 1 CIC/1983) verwendet das Strafrecht den Begriff ministerium, der in der offiziellen deutschen Übersetzung einheitlich mit Dienst wiedergegeben wird. Ungenau ist die Übersetzung mit Amt, weil dieser Begriff nicht für ministerium, sondern konkret ein officium einschlägig ist2 und daher eine Einschränkung des Begriffsumfangs darstellt. Der Begriff ministerium im c. 1375 CIC/1983 umfasst jede Tätigkeit, die im Auftrag der Kirche erfolgt und nicht privaten Charakters ist. Erfasst sind die gesetzgebende, die richterliche und die ausführende kirchliche Leitungsgewalt (potestas regiminis) sowie die Formen der potestas ecclesiastica, die davon zu unterscheiden sind, wie die potestas ordinis oder die facultates des Sakramenten- oder des Verkündigungsrechtes.3 Res spirituales sind Angelegenheiten, welche die kirchliche Sendung in den zentralen Wesensvoll-

1 Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Il progetto di revisione del libro VI del Codice di diritto canonico, in: AfkKR 181 (2012), S. 57 – 74, hier S. 66. 2 Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 1, in: MK CIC (Stand: November 1993). 3 Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 2 (Anm. 2).

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zügen der Verkündigung des Wortes Gottes, der Feier der Sakramente und der Diakonie betreffen.4 Nach dem Objekt der Behinderung bzw. Einschüchterung umfasst c. 1375 CIC/ 1983 folgende sechs Tatbestände: 1. Die Behinderung der freien Ausübung des Verkündigungsdienstes, den Christus seiner Kirche anvertraut hat (munus docendi: Verkündigung des Wortes Gottes, Katechese, Predigt und Unterweisung in der katholischen Lehre) bzw. die Einschüchterung jener, die in ihm tätig sind. 2. Die Behinderung des Heiligungsdienstes der Kirche (munus sanctificandi, d. h. der Feier der Sakramente und Sakramentalien sowie sonstiger Arten öffentlicher Liturgiefeiern) bzw. die Einschüchterung jener, die in ihm tätig sind. 3. Die Behinderung bzw. Einschüchterung der Träger der kirchlichen Leitungsgewalt. Konkret darf niemand zum Handeln oder zu einer Unterlassung gezwungen werden. Die Freiheit der Ausübung des kirchlichen Leitungsamtes (munus regendi), welche die gesetzgebende, die exekutive und die richterliche Gewalt umfasst,5 bedeutet nicht Willkür, da auch die kirchliche Autorität an die Offenbarung, die Lehre und die Verfassung der Kirche gebunden ist. Auch die Behinderung der freien Ausübung der kirchlichen Rechtsprechung gehört zu den in c. 1375 CIC/1983 vorgesehenen möglichen Straftaten. 4. Die Behinderung der freien Durchführung einer rechtmäßigen kanonischen Wahl zur Bestellung kirchlicher Ämter (vgl. cc. 164 – 179 CIC/1983) oder die Einschüchterung der Wähler oder des Gewählten sowie dessen, der die Wahl bestätigen sollte, kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen: a) durch die Behinderung der Teilnahme jener an der Wahl, die dazu berechtigt sind; b) durch die Manipulation der Auszählung der Stimmzettel; c) durch die Verzögerung der nachfolgenden Bestätigung der Wahl durch die zuständige kirchliche Autorität (vgl. c. 147 CIC/ 1983);6 d) durch jegliche Handlung, die bewusst mit dem Ziel gesetzt wurde, Kandidaten, die über die gesetzlich vorgesehenen Eignungsvoraussetzungen verfügen, von der Wahl oder der Annahme der Wahl abzuhalten; e) durch die Einschüchterung der Wähler oder des Gewählten oder der kirchlichen Autorität, welcher die Bestätigung der Wahl zusteht.7 Die Ankündigung einer Wahl-Anfechtung oder einer Beschwerde gegen einen rechtswidrigen Akt der Kirchengewalt mag der betroffenen Person unangenehm sein, stellt aber keine Einschüchterung dar, weil keine rechtswidrige Drohung damit verbunden ist.8 Damit es zu einer solchen Straftat kommt, reicht ein reiner Verschleppungsversuch nicht aus. 4 Vgl. Andreas Weiß, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: HdbKathKR3, S. 1647 – 1660, hier S. 1650. 5 Vgl. Bruno Fabio Pighin, Diritto penale canonico, Venezia 2008, S. 372 – 373. 6 Vgl. Pighin, Diritto penale (Anm. 5), S. 372 – 373. 7 Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 1 (Anm. 2). 8 Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 4 (Anm. 2).

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5. Die Behinderung des rechtmäßigen Gebrauchs durch die entsprechende Weihe oder Segnung auf Dauer für den Gottesdienst bestimmter Objekte, wie etwa liturgischer Gegenstände oder Heiliger Öle (vgl. cc. 1171 u. 1269 CIC/1983), fällt unter c. 1375 CIC/1983. Der Begriff des bonum sacrum kommt im CIC/1983 nur noch ein zweites Mal vor, nämlich in c. 1220 § 2 CIC/1983 und meint dort zum sakralen Gebrauch bestimmte Gegenstände (vgl. c. 1171 CIC/1983).9 Bona sacra, auch res sacrae genannt, sind nur dann Bestandteil des kirchlichen Vermögens, wenn sie im Eigentum einer persona iuridica publica stehen. Befinden sie sich im Eigentum nichtkirchlicher Rechtsträger, so sind sie keine bona temporalia Ecclesiae oder bona ecclesiastica. Aber auch in diesem Fall gelten spezielle kirchenrechtliche Regelungen betreffend Ersitzung (c. 1269 CIC/1983), Gebrauch (c. 1211 CIC/1983) und Erhaltung (c. 1220 § 2 CIC/1983).10 Gegenstände, die nur faktisch in gottesdienstlichem Gebrauch stehen, ohne einer Weihe oder einer konstitutiven Segnung zu bedürfen, wie z. B. das Weihrauchfass, fallen nicht unter den Rechtsbegriff der res sacra (bonum sacrum) mit dessen Rechtsfolgen, können aber unter bestimmten Gesichtspunkten von kirchenrechtlichen Regelungen erfasst sein, was im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln ist, wie z. B. cc. 555 § 1, 38 u. 562 § 3 CIC/1983.11 Sondernormen gelten für die von den res sacrae zu unterscheidenden Reliquien (vgl. c. 1190 §§ 1 – 2 CIC/1983), die vom Volk verehrten Bilder in den Kirchen (c. 1190 § 3 CIC/1983) sowie Votivgaben (vgl. cc. 1234 § 2 CIC/1983 u. 1292 § 2 CIC/1983). Die klare kirchenrechtliche Qualifizierung der genannten Objekte ist auch zur Kompetenzabgrenzung zwischen kirchlichen bzw. staatlichen Gerichten von Bedeutung12, da die Kirche gemäß c. 1401, 18 CIC/1983 ausschließliche Zuständigkeit für die res spirituales und die res spiritualibus adnexae beansprucht.13 6. Die Einschränkung bzw. die Behinderung des rechtmäßigen Gebrauchs sonstiger Güter, welche der Gesamtkirche, dem Apostolischen Stuhl (beide sind moralische Personen gemäß c. 113 CIC/1983) oder anderen öffentlichen juristischen Personen in der Kirche gehören14. Damit die Behinderung in Bezug auf die genannten Güter eine Straftat darstellt, ist es erforderlich, dass sie auf den rechtmäßigen Gebrauch abzielt.15 Der Gesetzgeber legt weder den Grad für die Behinderung noch die Art und Weise noch die Mittel fest, mit der sie zu erfolgen hat16, um den in 9

Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 2 (Anm. 2). Vgl. Helmuth Pree, Grundfragen kirchlichen Vermögensrechts, in: HdbKathKR3, S. 1471 – 1504, hier S. 1488. 11 Vgl. Heimerl/Pree, VermR, S. 601 f. u. 623 f. 12 Vgl. Pree, Grundfragen (Anm. 10), S. 1488. 13 Vgl. Vicente Prieto, Cose spirituali e annesse alle spirituali. La „ratio peccati“ (can. 1401), in: IusE 15 (2003), S. 39 – 77. 14 Vgl. c. 1257 § 1 CIC/1983. 15 Vgl. Pighin, Diritto penale (Anm. 5), S. 372 – 373. 16 Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 2 (Anm. 2). 10

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c. 1375 CIC/1983 vorgesehenen Straftatbestand darzustellen. Sie überlässt es dem Urteil jener, welche über die Strafklage entscheiden, nämlich dem Richter oder dem Ordinarius, Fall für Fall abzuwägen, ob eine Handlung tatsächlich als Behinderung oder Einschüchterung aufgefasst werden könnte.17 Durch die Androhung einer Strafe soll verhindert werden, dass ein Verwalter aufgrund seiner rechtmäßigen Amtsausübung Nachteile erleidet.18 Das Kirchenvermögen und dessen rechtliche Regelung ist eine der Fragen, bei der die Notwendigkeit einer Koordination mit der staatlichen Rechtsordnung besonders deutlich wahrgenommen wird. Diese beginnt mit der staatlichen Anerkennung der Rechtspersönlichkeit kirchlicher juristischer Personen. Weiters dienen der Koordination diejenigen Normen des universalen oder partikularen Rechts, welche staatliche Normen in die kanonische Rechtsordnung rezipieren (vgl. c. 22 CIC/1983) oder auf diese ausdrücklich verweisen (vgl. cc. 1274 § 5, 1284 § 2, 28 u. 1286 § 1).19 Der eigene und ausschließliche Jurisdiktionsanspruch der Kirche20 auf die mit den geistlichen verbundenen Angelegenheiten, entbehrt nicht nur der praktischen Wirksamkeit, sondern ist auch kaum mit den legitimen staatlichen Kompetenzen im Bereich der res mixtae vereinbar.21 Das Kirchenvermögen (vgl. c. 1257 § 1 CIC/1983)22 gehört zu den aufgrund ihrer Bestimmung geistlichen Dingen (res spiritualibus adnexae), da es den der Kirche eigenen Zwecken dient, nämlich dem Gottesdienst, der Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, der Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas.23 Bei diesen Angelegenheiten kann es zu einem eventuellen Jurisdiktionskonflikt kommen, der im CIC/1917 nach dem Grundsatz der Prävention zugunsten der kirchlichen Jurisdiktion und für die Kleriker durch das privilegium fori gelöst wurde. Diese Grundsätze wurden vom Gesetzgeber des CIC/1983 wegen der in einzelnen Nationen stark begrenzten Anwendbarkeit nicht in den c. 1401 CIC/1983 aufgenommen. Die Anerkennung der staatlichen Rechtsprechung in Bereichen, in denen jene der Kirche nicht exklusiv ist, erfolgt auf der Grundlage der Autonomie der zeitlichen Dinge. Umgekehrt ist die wirksame Anerkennung der kirchlichen Rechtsprechung durch staatliche Gerichte mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Sie setzt von Seiten des Staates die Anerkennung einer kirchlichen Rechtsordnung und Rechtsprechung 17

Vgl. Antonio Calabrese, Diritto penale canonico, Città del Vaticano 19962, S. 291. Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 4 (Anm. 2). 19 Vgl. Prieto, Cose spirituali (Anm. 13), S. 75. 20 Vgl. c. 1401 § 1 CIC/1983. 21 Vgl. Prieto, Cose spirituali (Anm. 13), S. 72 – 76. 22 Vgl. Francisco J. Ramos/Delfina Moral Carvajal, Diritto processuale canonico, 1. Bd., Roma 20133, S. 78. 23 Vgl. c. 1254 § 2 CIC/1983. 18

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voraus, die in ihrem Bereich von jener des Staates unabhängig ist. Dieser Grundsatz verlangt ein kohärentes Handeln der Kirche im Bereich der Zivilgesellschaft, welches die besondere Struktur der Kirche mit ihren Eigenheiten respektiert. Letztlich liegt die kirchlichen Autonomie in der Religionsfreiheit und in der Bundesrepublik Deutschland im Art. 140 GG bzw. Art. 137 WRV begründet. Folge ist die Unzuständigkeit des Staates im Bereich des Religionsrechts nicht nur für die einzelnen Gläubigen, sondern auch für die Glaubensgemeinschaften.24 Der klassische Weg zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten liegt im Abschluss bzw. der Aktualisierung von Konkordaten und sonstigen Verträgen, welche das kanonische Recht als autonome und vom Staat unabhängige Rechtsordnung zur Regelung der inneren Angelegenheiten der katholischen Kirche anerkennen. Dort werden die Kompetenzen der kirchlichen und der staatlichen Gerichtsbarkeit in Bezug auf die res mixtae genauer geregelt. In Österreich geht der Oberste Gerichtshof unter Verweis auf c. 1401 CIC/1983 und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die kirchenrechtliche Lehre davon aus, dass die Kirche die ausschließliche Zuständigkeit in jenen Streitigkeiten in Anspruch nehmen kann, die sich auf geistliche Sachen (res spirituales) und jene zeitlichen Sachen beziehen, die mit geistlichen Sachen verbunden sind (res spiritualibus adnexae). Der Oberste Gerichtshof erkennt den von der kirchenrechtlichen Lehre entwickelten weiteren Begriff res temporales spirituali adnexae unter Verweis auf die deutschsprachige kanonistische Literatur an.25

II. Die fakultative Spruchstrafe Die Behinderung der Freiheit der Kirche (c. 1375 CIC/1983) gehört zu den fünf selbständigen fakultativen Strafdrohungen im CIC/1983 (puniri potest). Die weiteren vier sind: 1. die unberechtigte Ausübung heiliger Dienste (c. 1384 CIC/1983); 2. die Verleumdung und die Rufschädigung (c. 1390 § 2 CIC/1983); 3. Urkundsdelikte (c. 1391 CIC/1983); 4. die Verletzung der durch die rechtmäßig verhängte Strafe auferlegten Verpflichtungen (c. 1393 CIC/1983).26 Im lateinischen Kodex ist lediglich die Möglichkeit der Ahndung der Straftat mit einer unbestimmten und fakultativen Spruchstrafe vorgesehen (c. 1375 CIC/1983). Ein partikulares Strafgesetz könnte in diesen Fällen eine bestimmte Tatstrafe verhängen.27 Auch durch ein Strafgebot (vgl. c. 1319 CIC/1983) könnte die Art der Bestrafung konkretisiert werden. Im entspre24

Vgl. Prieto, Cose spirituali (Anm. 13), S. 74. Vgl. Franz Kalde/Johannes Marutschläger, (Staats-)Kirchenrechtler als Autoritäten in der österreichischen Rechtsprechung. Eine Rechtsdatenbank im Dienste der Wissenschaftsgeschichte. Hugo Schwendenwein zur Vollendung des 80. Lebensjahres, in: DPM 13 (2006), S. 119 – 138, hier S. 123. 26 Vgl. Lüdicke, c. 1375, Rdnr. 1 (Anm. 2). 27 Vgl. Calabrese, Diritto penale (Anm. 17), S. 18. 25

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chenden c. 1447 § 2 CCEO ist für die gleichen Delikte hingegen die Bestrafung obligatorisch vorgesehen, wenn auch die Art der Bestrafung nicht bestimmt wird.

III. Die versuchte Behinderung oder Einschüchterung Es stellt sich die Frage, ob eine Straftat nur dann vorliegt, wenn die Behinderung bzw. die Einschüchterung ihr Ziel erreicht, d. h. sie tatsächlich die kirchlichen Dienste, die freien Wahlen oder den Gebrauch der heiligen oder der kirchlichen Güter behinderte und die eingeschüchterten Personen tatsächlich einen Schrecken erlitten. Sonst müsste man von einer versuchten oder einer gescheiterten Straftat sprechen.28 Nach c. 2213 § 3 CIC/1917 konnte nicht bestraft werden, wer das begonnene Delikt aus eigenem Antrieb unterbrach, sofern kein Schaden oder Ärgernis entstanden ist.29 Zentral für die Beurteilung des Versuchs war der Grund, der die Vollendung der Tat verhinderte. Dieser Grund konnte darin bestehen, dass der Täter sich eines Besseren besonnen hat, d. h. willentlich den Tathergang unterbrach oder die Straftat aus einem von ihm unabhängigen Grund nicht vollzog, etwa wegen unzureichender Mittel oder unvorhergesehener Hindernisse.30 C. 1328 § 1 CIC/1983 sieht eine mildere Bestrafung vor, wenn die Tat unabhängig vom Willen des Täters nicht vollendet wurde. Ein Partikulargesetz oder Verwaltungsbefehl können auch für diesen Fall das volle Strafmaß ausdrücklich vorsehen. Trat der Täter von selbst von der begonnenen Tat zurück, so liegt keine Straftat vor, es sei denn, es ist tatsächlich ein Ärgernis oder anderer schwerer Schaden entstanden. Er kann mit einer gerechten Strafe belegt werden, die aber geringer sein muss als diejenige, welche für die vollendete Straftat festgelegt ist. Wenn Handlungen oder Unterlassungen ihrer Natur nach zur Ausführung einer Straftat führen, kann dem Täter eine Buße oder ein Strafsicherungsmittel auferlegt werden, sofern er nicht von sich aus von der begonnenen Ausführung der Straftat zurückgetreten ist. Stellt die versuchte Tat eine Aufforderung zum Ungehorsam gegen die kirchliche Autorität dar, fällt sie in den Bereich der von c. 1373 CIC/1983 umschriebenen Straftat.

IV. Die Klage gegen den Autor eines kirchlichen Verwaltungsaktes Wer die freie Ausübung des bischöflichen Amtes einschränkt, macht sich gemäß c. 1375 CIC/1983 strafbar. Eine Art und Weise der Einschüchterung des Diözesanbischofs besteht in der Drohung, ihn beim staatlichen Gericht wegen angeblicher 28

Vgl. c. 1328 § 1 CIC/1983; Calabrese, Diritto penale (Anm. 17), S. 292. Vgl. Angelo G. Urru, Punire per salvare, Roma 2001, S. 74. 30 Vgl. José Luis Sánchez-Girón, Delito frustrado: in: DGDC 2, S. 1029 – 1031, hier S. 1030. 29

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Verleumdung aufgrund einer Disziplinar- oder Strafmaßnahme anzuzeigen. Bei der Unterlassungsklage setzt das staatliche Gericht dem Diözesanbischof oder dem Ordensoberen eine Frist, innerhalb derer er seine Maßnahme zurücknehmen müsste. Dadurch schüchtert der Kläger den Ordinarius ein. Im Auftrag des Diözesanbischofs kann auch der Gerichtsvikar denjenigen, der die Unterlassungsklage einbrachte, auffordern, sie zurückzuziehen. Nicht immer ist solchen Aufforderungen Erfolg beschieden, denn es gibt auch Fälle, in denen der Kläger dem Diözesanbischof mit der Aufforderung antwortete, dem Gerichtsvikar die Abfassung künftiger ähnlicher Schreiben zu verbieten.

V. Die Anfechtung bischöflicher Dekrete zur Aufhebung von Pfarreien oder zur Umnutzung von Kirchen Vor allem im englischen Sprachraum bringen Gläubige mit dem Wohnsitz in einer der aufgehobenen Pfarreien manchmal gegen den Willen des Pfarradministrators oder des neuen Pfarrers eine Zivilklage gegen die Diözese wegen der angeblich rechtswidriger Aufhebung und Zusammenlegung von Pfarreien oder der Umnutzung von Kirchen ein.31 Sie verletzen c. 1375 CIC/1983, wenn sie zuerst den staatlichen Richter und erst dann die kirchliche Autorität anrufen: Eine bei der staatlichen Autorität eingebrachte Beschwerde ist nicht nur deshalb tadelnswert, weil der Ablauf der Fristen für den Widerspruch (vgl. c. 1734 CIC/1983) dadurch nicht aufgeschoben wird, sondern auch deshalb, weil die Freiheit der Ausübung der ausführenden Gewalt von Seiten der legitimen Vorgesetzten widerrechtlich eingeschränkt wird. Die Bischöfe haben deshalb die Möglichkeit, unter Einhaltung der für den Erlass eines Strafdekrets einschlägigen Normen, diesen Tatbestand mit Sanktionen zu ahnden.32

VI. Die Anfechtung der Enthebung von einem kirchlichen Amt Fragen der Amtsenthebung und der Versetzung von Pfarrern gehören in den ausschließlichen Jurisdiktionsbereich kirchlicher Gerichte und werden von allgemeinen Kirchengesetzen geregelt (vgl. cc. 1740 – 1752 CIC/1983). Es handelt sich dabei gemäß c. 1401 CIC/1983 um solche Streitsachen, welche iure proprio et exclusivo den kirchlichen Gerichten vorbehalten sind. Streitigkeiten, die kein Kirchenamt, sondern eine sonstige Anstellung betreffen, die auf einem Vertragsverhältnis beruht, sind im staatlichen Rechtskreis anzusiedeln. Das kirchliche Gegenüber handelt nicht in 31

Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Augustino Cacciavillan (30. 11. 2002), Prot.N. 32220/01 (unveröffentlicht), Nr. 2. 32 Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Cacciavillan (30. 11. 2002), Prot.N. 32219/01 (unveröffentlicht), Nr. 3.

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seiner Stellung als hierarchischer Vorgesetzter, sondern in seiner Stellung als Vertragspartner.33 Im Gegensatz zur Amtsenthebung setzt die Absetzung eine Straftat und den Abschluss eines Strafprozesses auf dem Gerichts- oder dem Verwaltungsweg voraus. Die Amtsenthebung ist keine Strafe und erfolgt durch Dekret des Diözesanbischofs, wogegen Widerspruch und anschließend ein hierarchischer Rekurs an die Kongregation für den Klerus eingelegt werden kann. Bringt der seines Amtes enthobene oder der versetzte Pfarrer dagegen eine Klage beim staatlichen Gericht ein, so betrifft die bürgerliche Klage nicht nur den Akt des Bischofs, sondern auch jenen eines Dikasteriums der Römischen Kurie. Auch die Frage nach dem Schadenersatz, welcher durch einen rechtswidrigen Akt der kirchlichen Autorität in der Ausübung ihres Dienstes verursacht wurde, fällt einzig und allein in den Bereich der kirchlichen Rechtsprechung und wird von universalkirchlichen Gesetzen geregelt.34 Es steht nämlich der Kirche kraft eigenem und exklusivem Recht zu, über die vom Pfarrer eingebrachte Klage zu urteilen. Die Anrufung des staatlichen Gerichts von Seiten des abgesetzten oder versetzten Pfarrers stellt einen Straftatbestand contra ministerium et potestatem ecclesiasticam dar, da sie die Freiheit des Leitungsamtes und der Ausübung der kirchlichen Gewalt einschränkt.

VII. Versetzung und Amtsenthebung der Militärkapläne als Sonderfall Besonders heikel ist die Frage nach der Anrufung eines staatlichen Gerichts bei doppelter Zuständigkeit. Militärkapläne etwa unterliegen sowohl der staatlichen als auch der kirchlichen Rechtsordnung. Die Ernennung eines Militärkaplans erfolgt in vielen Ländern durch zwei unterschiedliche Verwaltungsakte. Sowohl die staatliche als auch die kirchliche Autorität handeln dabei im Bereich der eigenen Rechtsordnung. Beide Dekrete können an Mängeln bei der Entscheidungsfindung oder im Verfahren leiden, sodass ein Beschwerdeverfahren möglich wird. Daraus folgt, dass die Erklärung der Rechtswidrigkeit eines der beiden vom zuständigen Organ erlassenen Akte in Bezug auf die Ausführbarkeit des anderen Wirkungen zeitigt.35 Gemäß 33 Vgl. Joachim Eder, Gerichtlicher Schutz im kirchlichen Arbeitsrecht, in: DPM 9 (2002), S. 211 – 244, hier S. 217. 34 Vgl. cc. 1400 – 1401 CIC/1983; Art. 101 – 103 der Sondernormen der Apostolischen Signatur (Benedikt XVI., MP „Antiqua ordinatione“ [21. 06. 2008], in: AAS 100 [2008], S. 513 – 538). 35 Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Filippo Iannone (20. 09. 2012), Prot.N. 45193/11 CA, Nr. 5; Italienisches Militärordinariat, Statuten (06. 08. 1987), Art. 16: „Il presbiterio dell’Ordinariato Militare è formato dai sacerdoti, tanto secolari che religiosi, che svolgono un servizio a carattere stabile nell’Ordinariato. Conferisce carattere di stabilità la nomina all’Ufficio di Cappellano da parte della competente autorità statale su proposta dell’Ordinario Militare, cui è riservata l’istituzione ecclesiastica. L’Ufficio di Cappellano Militare ha termine al verificarsi delle condizioni previste dal Diritto Canonico e dalla legge

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Art. 16 der Statuten des italienischen Militärordinariats erfolgt die Ernennung von Diözesan- und Ordenspriestern zum Amt des Militärkaplans durch die zuständige staatliche Autorität, nach Präsentation durch den Militärordinarius, dem dann auch die Einsetzung ins Amt vorbehalten ist. Das Amt des Militärkaplans endet bei Vorliegen der im Kirchenrecht und im staatlichen Recht vorgesehenen Umstände. Art. 17 des italienischen Gesetzes von 1961 sieht vor, dass die Ernennung der Militärkapläne, auf Vorschlag des Verteidigungsministers nach vorhergehender Designation durch den Militärordinarius durch Dekret des Staatspräsidenten erfolgt.36 In der Bundesrepublik Deutschland vollzieht der Militärbischof die kirchliche Ernennung der Militärgeistlichen, nachdem er sich vergewissert hat, dass die in Art. 27 des Reichskonkordats vorgesehenen Einstellungsvoraussetzungen gegeben sind. Er beantragt bei der zuständigen Bundesbehörde entsprechend den geltenden Gesetzen die Berufung in das Beamten-Verhältnis. Er hat das Recht, Amtssitz und Stelle der Militärgeistlichen im Benehmen mit der zuständigen Bundesbehörde zu ändern.37 In Österreich erfolgt die gemäß Art. VIII, §§ 2 – 3 des Konkordats die kirchliche Bestellung der Militärkapläne durch den Militärvikar nach vorherigem Einvernehmen mit dem Bundesminister für Heerwesen. Daraufhin erfolgt die staatliche Ernennung der Militärseelsorger nach den staatsgesetzlichen Vorschriften. Wenn der Militärkaplan gegen ein Versetzungsdekret des Militärbischofs, welches dann von der staatlichen Autorität durch einen Verwaltungsakt ausgeführt wird, zuerst Widerspruch gemäß c. 1734 CIC/1983 und anschließend noch vor Ablauf der in den cc. 1735 und 1737 § 2 CIC/1983 vorgesehenen Fristen, eine hierarchische Beschwerde gegen die vermutete negative Antwort des Militärbischofs38 an die Kongregation für den Klerus einlegt, muss der kirchliche Rechtsweg beibehalten werden. Eine Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens im bürgerlichen Bereich bedeutet implizit die Anfechtung des kanonischen Dekrets des Militärordinarius und jenes des hierarchischen Oberen. Der Rekurrent kann nicht während der Anhängigkeit des kirchlichen Beschwerdeverfahrens gegen das vom Militärordinarius erlassene Versetzungsdekret Beschwerde beim staatlichen Verwaltungsgericht einlegen, da sonst der zivile Rechtsweg die Ausführung des Dekrets des hierarchischen Oberen bzw. der Entscheidung der Apostolischen Signatur verhindern würde, sofern diese nicht voll und ganz der staatlichen entspricht. Der Beschwerdeführer kann in jedem Augenblick des Verfahrens seine Beschwerde zurückziehen (vgl. c. 1524 dello Stato.“ (online verfügbar unter: http://www.ordinariatomilitare.chiesacattolica.it/arcidio cesi_ordinariato_militare_per_l_italia_/diocesi/00022639_Statuti.html [Stand: 02. 01. 2017]). 36 Vgl. Republik Italien: der Staatspräsident, Gesetz (01. 06. 1961), Nr. 512 (online verfügbar unter: http://www.ordinariatomilitare.chiesacattolica.it/arcidiocesi_ordinariato_mili tare_per_l_italia_/diocesi/00022644_Legge_512.html [Stand: 02. 01. 2017], Art. 17: „La nomina dei cappellani militari addetti è effettuata con decreto del Presidente della repubblica su proposta del Ministro per la difesa, previa designazione dell’Ordinario militare.“). 37 Vgl. Johannes Paul II., Statuten für den Jurisdiktionsbereich des katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr (23. 11. 1989), in: AAS 80 (1989), S. 1284 – 1294, Art. 15 – 16. 38 Vgl. c. 57 § 2 CIC/1983.

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§ 1 CIC/1983; Art. 78, § 1 Legis propriae39), sei es ausdrücklich oder implizit: „Renuntiatio tacita, probatis factis concludentibus, iure praesumitur.“40 Bei vorausgehender oder gleichzeitiger Anrufung des staatlichen Gerichts zur Anfechtung eines Verwaltungsaktes kann die kirchliche Autorität von einem impliziten Verzicht auf die Einleitung oder Fortführung der kirchlichen Verwaltungsbeschwerde ausgehen.41

VIII. Die Anrufung des staatlichen Gerichts wegen Rufschädigung Eine Verletzung des guten Rufes stellt die Vorlage einer Klageschrift vor dem staatlichen Gericht gegen einen kirchlichen Mitarbeiter als solches nicht dar, es sei denn, es handelt sich gemäß c. 220 CIC/1983 um eine rechtswidrige Verletzung, die nur dann gegeben ist, wenn schuldhaft oder grob fahrlässig Tatsachen verbreitet werden, welche der Ehre oder der Intimsphäre der Person abträglich sind.42 Es handelt sich also nicht um eine rechtswidrige Verletzung der Intimsphäre oder des guten Rufes des Beschwerdeführers, wenn alle Versuche zu einer einvernehmlichen Lösung des Streites oder zur Erlangung einer Entscheidung auf dem kirchlichen Rechtsweg scheiterten und eine Klage vor dem staatlichen Gericht eingebracht wird, sofern keine Stellungnahmen oder Beweismittel den Medien zugänglich gemacht werden. Im Ehenichtigkeitsprozess kann es vorkommen, dass eine Partei den staatlichen Richter anruft, weil die andere Partei ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis Dokumente entwendete, etwa ein Tagebuch mit persönlichen Aufzeichnungen oder die Krankengeschichte. Besonders heikel wird es, wenn Seiten herausgerissen oder kopiert werden, welche Notizen für die Gewissenserforschung in Hinblick auf die sakramentale Beichte enthielten oder heimlich auf den Computer des Partners zugegriffen und EMails heruntergeladen oder ausgedruckt werden, welche z. B. an den geistlichen Begleiter oder die Psychotherapeutin gerichtet sind. Es ist wichtig, dass das kirchliche Gericht, dieses nicht rechtmäßig erlangten Beweismittel nicht zulässt. Ein heikler Augenblick im Ehenichtigkeitsprozess ist die Einsichtnahme in die Beweismittel nach der Offenlegung der Akten (vgl. c. 1598 § 1 CIC/1983), da dabei von der Gegenpartei, von Zeugen oder von Sachverständigen vor dem kirchlichen Gericht gemachte verletzende Aussagen entdeckt werden können. Als besonders ehrenrührig werden Aussagen der Gegenpartei oder der Zeugen empfunden, wenn sie die Privatsphäre betreffen, wie angebliche psychische oder psychosexuelle Anomalien oder abnorme sexuelle Vorlieben einer Partei. Zur Rufschädigung kommt es dabei nur, 39 Vgl. Benedikt XVI., MP „Antiqua ordinatione“ (21. 06. 2008), in: AAS 100 (2008), S. 513 – 538, Art. 78 § 1. 40 Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Iannone (Anm. 35), Nr. 5. 41 Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Iannone (Anm. 35), Nr. 7. 42 Vgl. Luigi Sabbarese, I fedeli costituiti popolo di Dio, Roma 2000, S. 44.

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wenn die ehrenrührigen Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen und am Ehenichtigkeitsprozess unbeteiligten Personen zugänglich gemacht werden, etwa durch Veröffentlichung im Internet (z. B. Facebook, Twitter etc.). Die Parteien gelangen dabei kaum durch ihren Anwalt und auch nicht mehr, wie in früheren Zeiten, durch das heimliche Entnehmen einzelner Seiten aus den Akten zu den ehrenrührigen Aussagen, sondern vor allem durch unerlaubtes Fotografieren mit dem Mobiltelefon bei der Akteneinsicht. Moderne Foto- und Scanner-Programme erlauben auch die Texterkennung durch einen Klick auf das Mobiltelefon. Die Aufnahmen können dann leicht mit einem OCR-Programm gelesen, auf Websites übertragen und bestimmten Personen oder überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mittlerweile ergriffen manche Offiziale Vorsichtsmaßnahmen, etwa durch Anbringung einer Kamera im Raum der Akteneinsicht. Parteien, die über einen Anwalt und Prozessvertreter verfügen, wird überhaupt nicht mehr die Möglichkeit gewährt, die Akten allein zu lesen, sondern sie können dies nur in Gegenwart von Mitarbeitern des Gerichts tun.43 In solchen Fällen ist die Einsichtnahme in die Akten an einem anderen Ort, wie z. B. im Pfarrbüro riskant, obwohl es immer wieder bei sehr weit vom Wohnsitz entferntem Sitz des Gerichts gefordert wird.44 Zusätzlich empfiehlt sich, dass der kirchliche Richter Zeugen, Sachverständige45 sowie die Parteien und deren Anwälte und Prozessbevollmächtigte gemäß c. 1455 § 3 CIC/1983 eidlich zur Geheimhaltung verpflichtet, da die Beweismittel in Ehenichtigkeitssachen nicht selten sehr persönliche Tatsachen enthalten, aus deren Bekanntgabe der Ruf anderer gefährdet oder Anlass zu Streit oder Ärgernis oder ein sonstiger Nachteil dieser Art entstehen könnte. Im allgemeinen wird eine solche Schweigepflicht akzeptiert, da es sich in Ehenichtigkeitsfällen um sehr private Dinge handelt.46 Der Moderator des kirchlichen Gerichts, der in diesem Fall auch Ortsordinarius ist, kann im Bereich seiner kirchenrechtlichen Kompetenz, bestimmte Strafen durch Gebot androhen (vgl. cc. 49 CIC/1983 u. 1319 CIC/1983). In weniger gravierenden Fällen kann auch die Ermahnung durch den Offizial genügen. Sind Gerichtspersonen für die widerrechtlichen Kopien mitverantwortlich, so kann die Verletzung des Amtsgeheimnisses durch den Moderator des Gerichts gemäß c. 1457 §§ 1 – 2 CIC/1983 geahndet werden47. Zusätzlich kann der Ehenichtigkeitsprozess beim örtlichen kirch43 Vgl. SignAp, Schreiben an einen Offizial (01. 10. 2013), Prot.N. 48194/13 VT (unveröffentlicht). 44 Vgl. Klaus Lüdicke, Die Instruktion Dignitas connubii und das Votum der Deutschen Bischofskonferenz, in: Rüdiger Althaus/Franz Kalde/Karl-Heinz Selge, Saluti hominum providendo. FS Hentze (= BzMK 51), Essen 2008, hier S. 195 – 211, hier S. 201. 45 Vgl. Paul Wirth, Der Sachverständige im kirchlichen Eheprozess, in: Winfried Aymans/ Anna Egler/Joseph Listl (Hrsg.), Fides et ius. FS May (65), Regensburg 1991, S. 213 – 235, hier S. 225. 46 Klaus Lüdicke, c. 1598, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: April 1990). 47 Vgl. Gabriele Stork, Der Kirchenanwalt im Kanonischen Recht (= FzK 31), Würzburg 1999, S. 118.

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lichen Gericht durch ein Dekret der Apostolischen Signatur suspendiert werden, bis der Kläger auf die Fortführung des beim staatlichen Gericht eingeleiteten Verfahrens verzichtet hat. Ist der Kläger nicht zum Verzicht bereit, so kann die Apostolische Signatur das Verfahren von Amts wegen an die Römische Rota zur Fortführung weiterleiten, da diese dem Zugriff staatlicher Gerichte entzogen ist.48 In besonders gravierenden Fällen kommt es vor, dass eine Partei gegen die andere Partei, die Zeugen oder den Sachverständigen wegen ihrer im kirchlichen Ehenichtigkeitsprozess gemachten Aussagen beim staatlichen Gericht klagt. Zeugen erfahren z. B. keinen adäquaten Schutz, wenn sie von einer Partei nach deren Akteneinsicht wegen einer Aussage kritisiert oder gar angegriffen werden.49 Dies kann bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen als Straftat gegen die Freiheit der Kirche und ihre Rechtsprechung betrachtet werden.50 Fordert das staatliche Gericht in einem derartigen Fall die Akten an, so erscheint es empfehlenswert, dass das kirchliche Gericht dieser Einladung nicht Folge leistet, sofern dies nach dem im jeweiligen Land gültigen Staatskirchenrecht möglich ist.51 Klagte eine Partei den eigenen Anwalt oder Prozessvertreter wegen eines Streits bezüglich dessen Pflichten sowie in Bezug auf das Honorar beim staatlichen Gericht an,52 so kann der Moderator des kirchlichen Gerichts ein Strafgebot gegen den Kläger erlassen und ihm eine Frist zum Widerruf der Anzeige stellen sowie künftige Versuche verbieten, sich in kirchlichen Gerichtsverfahren an die staatliche Autorität zu wenden. Der Moderator des Gerichts kann als Ortsordinarius auch Strafen im Fall der Nichteinhaltung des Gebots androhen, etwa die Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Frist eine Kaution bei der Kanzlei des kirchlichen Gerichts für eventuelle Schäden zu hinterlegen, die aus dem anhängigen staatlichen Verfahren oder künftigen ähnlichen Anzeigen für Mitarbeiter des Gerichts, Sachverständige oder Zeugen entstehen könnten. Vom Moderator rechtmäßig auferlegte Strafen zum Schutz der Amtsverschwiegenheit (vgl. c. 1457 §§ 1 – 2 CIC/1983) oder des guten Rufes der am Verfahren beteiligten Personen (vgl. c. 220 CIC/1983) können keine rechtswidrigen Folgen nach sich ziehen. 48

Vgl. SignAp, Schreiben an einen Offizial (01. 10. 2013) (Anm. 43). Vgl. Elisabeth Kandler-Mayr, Rechtsschutz im Ehenichtigkeitsverfahren, in: Ludger Müller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= KB 15), Wien 2011, S. 127 – 143, hier S. 142. 50 Vgl. c. 1401; SignAp, Dekret coram Raimundo Leo Burke (27. 03. 2010), Prot.N. 43177/ 09 VT (unveröffentlicht). 51 Vgl. SignAp, Schreiben an einen Offizial (01. 10. 2013) (Anm. 43). Elisabeth KandlerMayr beschäftigt sich in ihrem Artikel mit der Verwendung staatlicher Urteile im kirchlichen Ehenichtigkeitsprozess: Staatliche Urteile in Ehesachen und ihre Verwendbarkeit im kirchlichen Verfahren, in: DPM 3 (1996), S. 15 – 37. Das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich von 1933 sieht in Art. VII, § 5 vor: „Die kirchlichen und staatlichen Gerichte haben einander im Rahmen ihrer Zuständigkeit Rechtshilfe zu leisten.“ Die gegenseitige Rechtshilfe bezieht sich auf Ehesachen. Allerdings ist zum Anwendungsbereich des gesamten Art. VII über die Gewährung der bürgerlichen Wirkungen für Eheschließungen § 128 des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Land Österreich und im übrigen Rechtsgebiet (dRGBl. I S 807/1938) zu beachten. 52 Vgl. SignAp, Dekret coram Raimundo Leo Burke (Anm. 50). 49

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IX. Die Folgen für den Fristenlauf im kirchlichen Beschwerdeverfahren Manchmal wenden sich Gläubige, die sich durch ein kirchliches Verwaltungsdekret beschwert fühlen, zuerst an die staatliche Autorität. Eine derartige Vorgangsweise ist tadelnswert.53 Für diese Gläubigen wird es praktisch unmöglich, die Unwissenheit trotz sorgfältiger Einholung von Informationen über die kanonischen Rechtsmittel geltend zu machen, da sie zweifellos einen Anwalt konsultierten, bevor sie die Zivilklage einreichten, während sie es zugleich verabsäumten, einen Sachverständigen im Bereich des kanonischen Rechts in Bezug auf die Beschwerdemöglichkeiten und die geltenden Fristen zu Rate zu ziehen.54 Wer sorgfältig genug war, einen Rechtsanwalt oder einen sonstigen Experten in der staatlichen Rechtsordnung zu Rate zu ziehen, um die Entscheidung einer kirchlichen Verwaltungsautorität vor dem staatlichen Richter anzufechten, kann nicht zugleich behaupten, von der rechtzeitigen Einholung der nötigen Informationen für Rechtsmittel im kanonischen Recht abgesehen zu haben,55 ohne die gebotene Sorgfalt zu verletzen. Die Unkenntnis wird jedoch gemäß c. 15 § 2 CIC/1983 nicht vermutet und entschuldigt nur dann, wenn sie nicht durch Fahrlässigkeit verursacht worden ist.56 Wer erst nach Abweisung der Klage gegen die Aufhebung einer Pfarrei oder die Umnutzung einer Kirche durch das staatliche Gericht außerhalb der in c. 1734 § 2 CIC/1983 vorgesehenen Frist die Bitte um Rücknahme oder um Abänderung des Dekretes an den Diözesanbischof richtet, kann keine rechtmäßige hierarchische Beschwerde beim zuständigen Dikasterium des Apostolischen Stuhls mehr einlegen. Wird es dennoch versucht, dann kann die Kongregation dies wegen der verspäteten Vorlage des Widerspruchs beim Diözesanbischof ablehnen. Auch eine Beschwerde an die Apostolische Signatur mit der Begründung der Unkenntnis der in den cc. 1732 – 1739 CIC/1983 vorgesehenen Nutzfristen sowie des Tags ihres Ablaufs wäre erfolglos, da die Nutzfrist gemäß c. 201 § 2 CIC/1983 dann tatsächlich nicht läuft.

X. Die legitime Einbringung von Klagen bei staatlichen Gerichten durch kirchliche Verwalter Die kanonische Gesetzgebung verpflichtet die Verwalter zur Sicherung des kirchlichen Vermögens, Risikogeschäfte zu unterlassen und das Eigentum durch zivil53

Vgl. Frans Daneels, Soppressione, unione di parrocchie e riduzione ad uso profano della chiesa parrocchiale, in: Piero Antonio Bonnet/Carlo Gullo (Hrsg.), La parrocchia (= StudG 44), Città del Vaticano, S. 108, Anm. 75. 54 Vgl. Giovanni Paolo Montini, Commento a un canone: Il tempo utile (c. 201 § 2), in: QDE 16 (2003), S. 81 – 101, hier S. 94. 55 Vgl. Montini, Commento a un canone (Anm. 54), S. 95. 56 Vgl. Frans Daneels, Soppressione, unione di parrocchie e riduzione ad uso profano della chiesa parocchiale, in: Piero Antonio Bonnet/Carlo Gullo (Hrsg.), La parrocchia (= StudG 44), Città del Vaticano 1997, S. 108.

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rechtlich gültige Maßnahmen, wie die Eintragung ins Grundbuch, zu sichern, damit nicht durch die Missachtung bürgerlicher Gesetze57 Schaden entsteht. In zahlreichen vermögensrechtlichen Bestimmungen lässt der kirchliche Gesetzgeber die Absicht erkennen, dass das kirchliche Vermögensrecht so weit wie möglich dem staatlichen Recht entspreche und vermögensrechtliche Rechtsakte und Maßnahmen grundsätzlich in einer zivilrechtlich wirksamen Form vollzogen werden (vgl. cc. 1259, 1274 § 5, 1284 § 2, 2 – 38; 1286, 18, 1288, 1290, 1296, 1299 § 2, 1293 § 2 u. 668 § 4 CIC/1983).58 Die Einbringung einer Zivilklage im Namen einer öffentlichen kirchlichen juristischen Person, die zur Klärung von Tatsachen erfolgt, die auf andere Art und Weise nicht geklärt werden konnten, ist legitim, sofern die schriftliche Erlaubnis des Ordinarius vorliegt. Da der Pfarrer keinen Rechtsstreit vor dem Zivilgericht im Namen der Pfarrei beginnen oder auf eine Streiteinlassung antworten darf, sofern er nicht zuvor die schriftliche Erlaubnis des Ortsordinarius erlangte, ist es offensichtlich, dass es sich dabei um einen Akt der außerordentlichen Verwaltung handelt.59 Zur Einbringung einer Zivilklage im Namen einer Pfarrei als juristischer Person des öffentlichen kirchlichen Rechts sind der Diözesanordinarius und der Pfarrer bzw. der Pfarradministrator berechtigt. Ihm obliegt die rechtsgeschäftliche Vertretung der Pfarrei, die gemäß c. 515 § 3 CIC/1983 als öffentliche juristische Person definiert ist und deshalb eines gesetzlichen Vertreters bedarf (cc. 118 u. 532 CIC/1983; c. 290 § 1 CCEO).60 Hat er zusätzlich zum Ortsordinarius die Klageschrift vor dem staatlichen Gericht unterschrieben, handelt er zweifellos mit dessen zumindest stillschweigender Zustimmung.61 Die Klageschrift zum Schutz der Güter einer öffentlichen kirchlichen juristischen Person kann beim staatlichen Gericht vorgelegt werden, wenn etwa Unregelmäßigkeiten in der Güterverwaltung z. B. durch den Vorgänger des gegenwärtigen Pfarrers, festgestellt werden, für diese jedoch aus den vorliegenden Dokumenten keine ausreichende Erklärung gefunden werden konnte. Beantragt der Beklagte vor dem staatlichen Gericht die Rücknahme einer Klage und legt er gegen die Weigerung des Or57

Vgl. c. 1284 § 1, 1 – 38 CIC/1983; Velasio De Paolis, Los bienes temporales de la Iglesia, Madrid 2012, S. 196. 58 Vgl. Pree, Grundfragen (Anm. 10), 1479; Helmuth Pree/Bruno Primetshofer, Das kirchliche Vermögen, seine Verwaltung und Vertretung. Handreichung für die Praxis. Wien/ New York 20102, S. 20 – 23. 59 Vgl. c. 1288 CIC/1983; die Instruktion der italienischen Bischofskonferenz zählt die Einleitung eines Verfahrens sowie die Einlassung auf ein Verfahren vor dem staatlichen Gericht ausdrücklich zu den Rechtsgeschäften der außerordentlichen Verwaltung (Istruzione in materia amministrativa, approbiert von der Vollversammlung vom 30.–31. Mai 2005, Art. 62). Die schriftliche Erlaubnis des Ordinarius ist daher Voraussetzung für gültiges Handeln (vgl. auch Velasio De Paolis, De bonis Ecclesiae temporalibus: Adnotationes in Codicem: Liber V, Roma 1986, S. 101; ders., I beni temporali della Chiesa, Bologna 1995, S. 198; Jean-Pierre Schouppe, Droit canonique des biens, Montreal 2008, S. 156). 60 Vgl. Severin J. Lederhilger, Der Pfarrer, in: HdbKathKR3, S. 681 – 720, hier S. 702. 61 Vgl. Velasio De Paolis, Los bienes temporales de la Iglesia (Anm. 57), S. 196.

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dinarius Widerspruch und dann hierarchischen Rekurs an den zuständigen Oberen, etwa an die Kongregation für den Klerus oder die Kongregation für die Institute des Geweihten Lebens ein, dann wird ein streitiges Verwaltungsverfahren vor der Apostolischen Signatur zumindest dann möglich, wenn der hierarchische Obere diese Beschwerde nicht als unzulässig ablehnte, sie behandelte und mit Dekret entschied. Je nach den Umständen des Falles kann es bei Vorliegen der Voraussetzungen durchaus vorkommen, dass die Legitimität der Ablehnung des Verzichts auf den Zivilprozess durch den Ordinarius bzw. den Pfarrer oder den Ordensoberen anerkannt wird.62 Es kommt auch vor, dass Bischöfe die Voruntersuchung im Strafprozess etwa wegen Amtsmissbrauch oder Veruntreuung von Spenden oder Veräußerung kirchlicher Güter ohne die erforderlichen Genehmigungen aufschieben, um das Ergebnis einer zivilen Untersuchung abzuwarten, die Zugang zu Konto-Auszügen und Dokumenten verschaffen soll, die sonst für die kirchliche Autorität unzugänglich blieben. Es handelt sich dabei keineswegs um die rechtswidrige Übertragung einer Streitsache aus dem Bereich der kirchlichen in den Bereich der bürgerlichen Rechtsprechung, sondern um den Rückgriff auf die zivile Gerichtsbarkeit als einziger Möglichkeit, um finanzielle Transaktionen von amtlich kirchlichen auf private Konten zu klären. Können durch die zivile Gerichtsbarkeit die nötigen Beweismittel beschafft werden, so können später die kirchlichen Verwaltungsbehörden die entsprechenden Maßnahmen ergreifen und, wenn erforderlich, die Klage beim kirchlichen Gericht einbringen bzw. Strafdekrete auf dem Verwaltungsweg verhängen. Auch der Apostolische Administrator erfreut sich während der Sedisvakanz der Aktivlegitimation, eine Klageschrift beim staatlichen Gericht im Namen einer mittelbar oder unmittelbar ihm unterstellten kirchlichen juristischen Person einzubringen, um kirchliche Güter zu schützen und seine Aufsicht auszuüben (vgl. cc. 1284 u.1288 CIC/1983), sofern ein gerechter Grund dazu besteht,63 weil er sich Kraft seines Amtes der Rechte des Ortsordinarius erfreut.64 Der einschlägige c. 1288 CIC/1983 sollte im diözesanen Partikularrecht bzw. im Eigenrecht der Religioseninstitute genauer definiert werden. Ein Zivilprozess sollte durch eine kirchliche juristische Person nur nach sorgfältiger Überlegung eingeleitet werden. Es besteht die Gefahr, dass er sowohl innerhalb als auch im Umfeld der kirchlichen juristischen Person große Aufmerksamkeit erregt, vielleicht sogar von den Medien aufgegriffen wird. Bei Religioseninstituten empfiehlt Velasio De Paolis, nicht nur die Erlaubnis des höheren Oberen, der bereits Ordinarius ist, sondern sogar des Generaloberen einzuholen.65 Handelt der Ordinarius selbst in Vertretung einer

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Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Antonio Maria Rouco Varela Ponente (15. 01. 2016), Prot.N. 47390/12 CA. 63 Vgl. De Paolis, Los bienes temporales de la Iglesia (Anm. 57), S. 196. 64 Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Ruoco Varela (Anm. 62); C Ep, DirH, Nr. 244. 65 Vgl. Jean Beyer, Il diritto della vita consacrata, Milano 1989, S. 281.

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ihm unterstellten öffentlichen juristischen Person, so muss er die in diesem Kanon vorgesehene Erlaubnis für sich nicht erbitten. Bevor ein Verwalter kirchlicher Güter eine Klage einreicht, sollte er zunächst versuchen, eine einvernehmliche Lösung zu finden (vgl. c. 1733 § 1 CIC/1983).66 Für eine solche Lösung ist es erforderlich, dass die nötigen Informationen zugänglich gemacht werden, etwa durch die Gewährung des Einblicks in die Buchhaltung oder in die Konto-Bücher, wenn es etwa um die Verwendung von Spendengeldern geht. Sonst kann es vorkommen, dass sich der Verwalter gezwungen sieht, diese Informationen nach Erhalt der Genehmigung durch den Ordinarius auf dem zivilen Rechtsweg zu beschaffen, bevor er durch ein kirchliches Disziplinar- oder Strafverfahren den fahrlässigen oder arglistigen Entzug von Spenden ahndet.67

XI. Schluss Vor allem im Ehenichtigkeitsprozess kann es zu Klagen vor den staatlichen Richtern unter Umgehung der kanonischen Rechtsvorschriften kommen, wenn etwa ehrenrührige oder intime Aussagen von Parteien, Zeugen oder Sachverständigen Personen zugänglich gemacht werden, die am Verfahren gar nicht beteiligt sind. Das kanonische Prozessrecht sieht Maßnahmen vor, um solche Missbräuche zu vermeiden und zu ahnden. Die staatlichen Gerichte dürfen sich in das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren nicht einmischen, da die kirchlichen Gerichte Kraft eigenen und ausschließlichen Rechtes das Verfahren führen und in Streitsachen entscheiden, die geistliche und damit verbundene Angelegenheiten zum Gegenstand haben.68 Klagen vor staatlichen Gerichten können in solchen Fällen die freie Ausübung der kanonischen Rechtsprechung beeinträchtigen und fallen unter c. 1375 CIC/1983. Die Anfechtung eines kirchlichen Verwaltungsaktes vor dem staatlichen Gericht stellt eine Behinderung der Tätigkeit der Organe der kirchlichen Leitungsgewalt dar. Die Androhung eines solchen Verfahrens kann als deren Einschüchterung verstanden werden. Die Erfahrung zeigt, dass die staatlichen Gerichte in solchen Fällen nicht selten die Klage abweisen. Gegen die Amtsenthebung, die Absetzung und die Versetzung versuchen Militärkapläne in manchen Ländern den gleichzeitigen doppelten Rechtsweg, d. h. die Anfechtung des Dekrets des Militärordinarius sowohl in der hierarchischen Beschwerde vor dem zuständigen Dikasterium des Apostolischen Stuhls als auch vor dem staatlichen Verwaltungsgericht. Obwohl bei diesen Veränderungen im Personalwesen ein Zusammenspiel zwischen kirchlicher und staatlicher Autorität vonnöten ist, müsste der Militärkaplan genau unterscheiden, welchen Akt er anficht, den kirchlichen des Militär-Ordinarius oder dessen Ausführung im staatlichen Bereich durch das Verteidigungsministerium oder eine sonstige Behörde. Je 66

Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Ruoco Varela (Anm. 62). Vgl. SignAp, Decretum definitivum coram Ruoco Varela (Anm. 62). 68 Vgl. c. 1401 CIC/1983. 67

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nach dem welcher dieser Akte von einem Fehler behaftet ist, sollte er nur einen Rechtsweg wählen, um einander eventuell widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Die Einbringung einer Beschwerde vor dem staatlichen Verwaltungsgericht gegen den Militärordinarius stellt eine Straftat dar, von der c. 1375 CIC/1983 handelt. Zum Schutz des kirchlichen Vermögens kann ein kirchlicher Verwalter mit Erlaubnis des zuständigen Ordinarius legitim ein ziviles Verfahren einleiten. Auch gegen physische und juristische kirchliche Personen kann eine solche Zivilklage zur Beschaffung von verweigerten Informationen oder zur Bewahrung von Kirchengut nach Scheitern der Suche einer einvernehmlichen Lösung rechtmäßig sein. Dieses Verhalten kann keine Straftat gemäß c. 1375 CIC/1983 darstellen, sofern die schriftliche Erlaubnis des Ordinarius vorliegt.

Fragen zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ Von Markus Walser Als treuem Diener seiner Kirche ist jedem Gerichtsvikar bzw. Offizial (Vicarius iudicialis1), daran gelegen, die für seine Tätigkeit geltenden kirchlichen Gesetze und Bestimmungen treu zu befolgen. Mit dem Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“2 vom 15. August 2015 mit Rechtskraft ab 08. Dezember 2015 hat der oberste Gesetzgeber der katholischen Kirche Änderungen im Eheprozessrecht vorgenommen, die in der praktischen Anwendung einige Fragen aufgeworfen haben und aufwerfen. Es ist bisweilen auch unklar, ob die im Ingress von „Mitis Iudex Dominus Iesus“ angegebenen Ziele mit der konkreten Ausgestaltung der neuen Normen erreicht werden können.

I. Ist mitis das neue Kriterium für die Tätigkeit des Diözesanrichters in Ehenichtigkeitsverfahren? Auf den ersten Blick könnte der Name oder Titel des Motu proprio („Mitis Iudex Dominus Iesus“) sowie die Koinzidenz seines Inkrafttretens mit dem Heiligen Jahr „Jubiläum der göttlichen Barmherzigkeit“3 von den kirchlichen Gerichten als päpstliche Ermahnung verstanden werden, die dem Wesen unseres Herrn und Gottes Jesus Christus eigene Milde, Güte und Barmherzigkeit als Maxime für ihre Tätigkeit aufzufassen, also insbesondere bei der Urteilsfällung anzuwenden. Nur stößt man dabei an logische Grenzen, wenn man bedenkt, dass in nicht wenigen Fällen Kläger und belangte Partei ganz unterschiedliche Erwartungen an das Gericht haben. Soll der Richter Milde für den Antragsteller oder Milde zugunsten der aufgerufenen Partei walten lassen? Während der Antragsteller seine Ehe annulliert haben möchte, 1

C. 391 § 2 CIC/1983. Franziskus, MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (MIDI) (15. 08. 2015), in: AAS 107 (2015), S. 958 – 970. 3 Auf diese Koinzidenz verweist Papst Franziskus ausdrücklich in seinem Reskript zum neuen Eheprozessrecht vom 07. 12. 2015 (vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/it/let ters/2015/documents/papa-francesco_20151207_rescritto-processo-matrimoniale.html [Stand: 28. 02. 2017]). Es fällt auf, dass das gleiche Reskript im Anhang zum „Sussidio applicativo“ der Römischen Rota einen anderen Titel trägt und dort Reskript „ex Audientia SS.mi“ genannt wird (RR, Sussidio applicativo del Motu pr. Mitis Iudex Dominus Iesus, Città del Vaticano 2016, S. 49). 2

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kommt es oft vor, dass die aufgerufene Partei – vielleicht auch nur aus gekränktem Stolz oder aus noch bestehender Abneigung gegen den Antragsteller nach einer konfliktreichen Scheidung – sich einer Annullierung widersetzt. In dieser Aporie, es auch bei Anwendung von Milde nicht allen recht machen zu können, wird manchem Richter in Ehenichtigkeitsverfahren wieder in den Sinn kommen, dass das Urteil in Ehenichtigkeitsverfahren ein „Feststellungsurteil“4 ist, also nicht seinem Ermessen anheimgestellt ist, und folglich Milde kein einschlägiges Kriterium sein kann. Es ist nämlich die Prozessfrage zu beantworten: „Ist die Ehe zwischen N. und N. ungültig aus diesem und/oder jenem Grund?“5 Um beiden Parteien gerecht zu werden, ist der Richter – zumal dann, wenn sich die Parteiinteressen diametral gegenüber stehen, schon in logischer Hinsicht mit dem Grundsatz der Milde überfordert. Darf er also auch künftig nach der Wahrheit suchen, die der Gerechtigkeit und Billigkeit in Ehenichtigkeitsverfahren entspricht, also ein „iustus iudex“6 sein? Ist der Gerichtsvikar als treuer Diener seiner Kirche aus den angeführten Gründen auch künftig bei der Ausübung seiner Tätigkeit im Ehenichtigkeitsverfahren primär der Wahrheit verpflichtet? Unser Herr Jesus Christus hat von sich nicht nur gesagt, dass er „mitis“7, also „gütig“8 ist, sondern ebenso, dass er die „veritas“9, also die „Wahrheit“10 ist.

II. Gelingt die angestrebte Beschleunigung der Verfahren? Im Ingress zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ werden schnellere sowie leichter zugängliche Verfahren als Ziel der Reform vorgegeben.11 Diesem Ziel wird niemand ernsthaft widersprechen können. Denn in der Tat dauerten kirchliche Gerichtsverfahren bisher oft (unerträglich) lange. Das galt in einzelnen Fällen für das Diözesangericht, an dem der Verfasser als Offizial tätig ist und wofür er sich an der eigenen Nase nehmen muss und nur darauf hoffen kann, im Herrn Jesus Christus einen gnädigen Richter zu finden. Das galt auch für Diözesangerichte, an denen der Verfasser dieses Artikels als Diözesanrichter oder Anwalt tätig war bzw. ist; das galt dem Vernehmen nach a fortiori für das höchste kirchliche Berufungsgericht in Ehenichtigkeitsverfahren. Das gilt aber nicht nur für Ehenichtigkeitsverfahren, son4

Aymans–Mörsdorf–Müller, KanR IV, S. 479. Für Ehenichtigkeitsverfahren vor der Römischen Rota hat Papst Franziskus in seinem Reskript vom 07. 12. 2015 ausdrücklich festgelegt, dass die Prozessfrage nach der althergebrachten Formel festzulegen sei: „An constet de matrimonii nullitate, in casu.“ (Sussidio applicativo, S. 50, II. Nr. 1). 6 Klaus Lüdicke/Heinrich Mussinghoff/Hugo Schwendenwein (Hrsg.), Iustus iudex. FG Wesemann (75) (= BzMK 5), Essen 1990. 7 Mt 11,29 Vulgata. 8 Mt 11,29 Einheitsübersetzung. 9 Joh 14,6 Vulgata. 10 Joh 14,6 Einheitsübersetzung. 11 Vgl. Franziskus, MP „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (Anm. 1), S. 959. 5

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dern genauso für kirchliche Strafverfahren, bei denen nur schon durch die lange Prozessdauer bisweilen die Gerechtigkeit Schiffbruch zu erleiden droht. Was nützt einem Angeklagten der Freispruch wegen erwiesener Unschuld bzw. erwiesener Falschanzeige, wenn der Freispruch nach sechs oder sieben Jahren erfolgt und er mindestens ebenso lange auf der Homepage seines Bistums namentlich als Beschuldigter aufscheint? Da dürfte sich in vielen Köpfen schon die Schuld des Angeklagten und die daraus folgende Ächtung unwiderruflich festgesetzt haben, zumal dann die entsprechenden Bistumsleitungen selten die Milde und Demut aufbringen, den Freispruch wegen erwiesener Unschuld genauso medienwirksam zu verbreiten, wie zuvor die Anschuldigung und die prophylaktische Entfernung aus dem Kirchenamt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass unser Herr Jesus Christus von sich nicht nur sagt, er sei „mitis“, sondern im gleichen Satz auch „humilis corde“12. In Ehenichtigkeitsverfahren ist zu beobachten, dass bei manchen Parteien im Prozessverlauf mit den Jahren das Interesse am Verfahren abnimmt; das ist menschlich nachvollziehbar, da sich mit der Zeit eine Gewöhnung an die kirchlich bisher als irregulär zu bezeichnende und als solche ursprünglich auch wahrgenommene Partnerschaftsbeziehungen einstellen kann, zumal sich – je nach Interpretation der Fußnote 351 der Nr. 305 des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens „Amoris laetitia“ – für gewisse Aspekte des kirchlichen Lebens die Notwendigkeit eines Ehenichtigkeitsverfahrens in praktischer Hinsicht (Zulassung zu den Sakramenten) erübrigen könnte, bzw. ein anderer eventuell einfacherer Weg auch zum Ziel führt. Das würde dann nicht zu einer Beschleunigung der Ehenichtigkeitsverfahren führen, sondern zu deren Ersatz durch einen wie auch immer gearteten Entscheidungsprozess auf einer anderen pastoralen Ebene. Kann mit den Reformen des Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ eine Trendwende in der Dauer der Ehenichtigkeitsverfahren gelingen? Sicher ist grundsätzlich eine Verkürzung der Gesamtdauer bis zur Umsetzbarkeit eines positiven Urteils in einem Ehenichtigkeitsverfahren insofern erreicht, als die Notwendigkeit der Bestätigung eines positiven Urteils durch die zweite Instanz13 weggefallen ist und einer Partei, die sich durch das Urteil beschwert fühlt, nur eine ausschließliche Nutzfrist von fünfzehn Tagen ab Kenntnisnahme des Urteils zur Verfügung steht, um die unmittelbare Vollsteckbarkeit des Urteils zu verhindern.14 Andererseits dürfte es auch viele zweitinstanzliche Gerichte gegeben haben, die für die Bestätigung der erstinstanzlichen Urteile die ihnen früher dafür zugestandene Frist in der Regel deutlich unterschritten haben, die also kaum für die kritisierte lange Dauer der Verfahren verantwortlich waren. 12

Mt 11,29 Vulgata, „von Herzen demütig“ (Mt 11,29 Einheitsübersetzung). Die zwingende zweitinstanzliche Bestätigung im Falle der Nichtigkeit wurde 1741 von Papst Benedikt XIV. als Reaktion auf eine gewisse Laxheit der bei den jeweiligen Bischöfen geführten Verfahren eingeführt; vgl. Thomas Meckel, Mitis iudex et iustus iudex? Papst Franziskus reformiert das Eheprozessrecht, in: IKaZ 45 (2016), S. 76 – 86, hier S. 77. 14 Vgl. c. 1630 § 1 CIC/1983. 13

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Wenn man hingegen ehrlich wäre, dann müsste man demütig zugeben, dass eines der Haupthindernisse für schnellere Ehenichtigkeitsverfahren die zeitliche Disponibilität und die entsprechende Motivation des Gerichtspersonals in den erstinstanzlichen Verfahren war und wohl auch bleiben wird. Es war auch unter den Eheprozessnormen des CIC/1983 vor deren Änderung durch das Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ möglich, erstinstanzliche ordentliche Verfahren in deutlich weniger als einem halben Jahr abzuschließen. Voraussetzung dafür war die Motivation und zeitliche Disponibilität des Ponens, die Disponibilität der Parteien und der Zeugen, schließlich die Motivation und Disponibilität des Bandverteidigers und der Diözesanrichter. Es war und ist möglich, alle Parteien- und Zeugenbefragungen kurzfristig innerhalb einer Woche durchzuführen. Aber in wie vielen Verfahren findet der Ponens oder der in seinem Auftrag tätige Vernehmungsrichter die entsprechende Bereitschaft der Parteien und Zeugen und verfügt dazu noch selbst über die entsprechende zeitliche Disponibilität? Es war und ist möglich, dass der Bandverteidiger seine Animadversiones innerhalb weniger Tage erstellt bzw. die Diözesanrichter ihr Votum jeweils innerhalb einer Woche erstellen, wenn sie entsprechend disponibel sind. Auch die Ausfertigung und Zustellung des Urteils kann innerhalb weniger Stunden oder Tage erfolgen, wenn der Ponens dazu motiviert und disponibel ist. Doch wie viele an Diözesangerichten im deutschen Sprachraum tätige Bandverteidiger oder Richter sind von ihren Bischöfen mit vielen anderen Aufgaben betraut, die auch bei Vorhandensein der entsprechenden Motivation ein kurzfristiges Erstellen von Animadversiones, eines Votums oder Urteils erschweren bzw. verunmöglichen? Wer in näherer Zukunft, also z. B. in fünf bis zehn Jahren als Gerichtsvikar einer Diözese für die zügige Abwicklung von Verfahren zuständig sein sollte, der müsste eigentlich heute schon seine kirchenrechtliche Fachausbildung abgeschlossen und seine Priesterweihe empfangen haben, damit er bis dann die für die Übernahme der Aufgabe des Gerichtsvikars erforderliche Erfahrung gesammelt hat. Eine Frage an alle Teilkirchenvorsteher, insbesondere an die Diözesanbischöfe: Sind im Klerus Ihrer Teilkirche wenigstens zwei oder drei entsprechend ausgebildete Priester, die in fünf oder zehn Jahren in Ihrem Bistum das Amt des Gerichtsvikars innehaben könnten? Falls das nicht der Fall sein sollte, haben Sie sich Gedanken gemacht, wie Sie das regeln könnten? Dass der Wegfall der obligatorischen zweiten Instanz die Verfahrensdauer um einige Monate verkürzen kann, ist offensichtlich; ob es der Gerechtigkeit dienlich ist, wird sich erweisen. Bisher konnte beispielsweise auf Angebote von Parteien, sie würden sich im Falle eines schnellen und in ihrem Sinne ergehenden Urteils finanziell erkenntlich zeigen, was gewöhnlich als Bestechungsversuch zu bezeichnen ist, geantwortet werden, dass der Ponens, der gerade die Parteibefragung durchführt, anlässlich der das finanzielle Angebot gemacht wurde, nur eine von drei Stimmen bei der Urteilsfällung hat und zudem das Urteil auch vor der unabhängigen zweiten Instanz Bestand haben muss; deshalb wäre eine persönliche finanzielle Zuwendung an den Ponens oder auch an das Bistum in der Sache nicht zielführend. Diese Hürde im Dienste der Wahrheit ist nun weggefallen. Dient das der Wahrheit und Gerechtig-

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keit? Unbestritten dürfte sein, dass die Hürde der zweiten Instanz für jeden erstinstanzlichen Richter auch einen gewissen Ansporn darstellte, seriös zu urteilen und sich in seiner Tätigkeit nicht von Emotionen oder Sympathien leiten zu lassen. In einem Verfahren, das nach Inkrafttreten von „Mitis Iudex Dominus Iesus“ positiv entschieden wurde, wäre der Verfasser dankbar gewesen, er hätte dem Vorwurf der (im Ehenichtigkeitsverfahren für die Gültigkeit streitenden) aufgerufenen Partei auf den (nicht zutreffenden) Vorwurf, es sei für das Urteil Geld geflossen und höhere zivile Stellen hätten Einfluss zugunsten der klagenden Partei genommen, nicht nur antworten können, dass die Vorwürfe nicht zutreffen, sondern auch darauf hinweisen können, dass das Berufungsgericht in jedem Fall unabhängig das erstinstanzliche positive Urteil überprüfen muss. In diesem Zusammenhang nicht unproblematisch scheint der im Reskript vom 07. Dezember 2015 vorhandene Hinweis, dass bei Verfahren vor der Römischen Rota wohl der Grundsatz der Unentgeltlichkeit mit amtlichem Rechtsbeistand gelten soll, wohlhabende Gläubige aber die moralische Pflicht haben, zu Gunsten der Verfahren von bedürftigen Gläubigen eine Spende zu geben.15 Hier scheint die Argumentation nicht ganz logisch zu sein. Wenn alle Verfahren kostenlos sind, dann dient ja die Spende der Wohlhabenden nicht nur den Verfahren der Armen, sondern genauso zur Finanzierung der Verfahren der Reichen. Somit spendet der wohlhabende Gläubige auch für sein eigenes Verfahren. Wären da angemessene Gerichtsgebühren für alle und die Möglichkeit des Gebührenerlasses für Bedürftige nicht eine sachgerechtere Lösung? Oder dann konsequent: keine Gebühren und keine Spenden für alle, damit die Unabhängigkeit der Gerichte wirklich gewahrt bleibt bzw. vor Gericht Reiche und Arme gleich behandelt werden? Es ist und bleibt ja jedem Reichen unbenommen beim jährlichen Peterspfennig tiefer in die Geldbörse zu greifen. Schließlich sei im Zusammenhang mit der Verfahrensdauer auch auf die Erweiterung der ordentlichen Gerichtsstände um das Gericht des Wohnsitzes oder Nebenwohnsitzes der antragstellenden Partei hingewiesen.16 Damit hat es die antragstellende Partei durch Begründung eines Nebenwohnsitzes in der Hand, fast beliebig ein zuständiges Gericht zu wählen. Ein Nebenwohnsitz und damit die Zuständigkeit des entsprechenden Diözesangerichts wird erworben durch den Aufenthalt im Gebiet einer Diözese, der entweder mit der Absicht verbunden ist, dort wenigstens drei Monate zu bleiben sofern kein Abwanderungsgrund eintritt, oder der sich tatsächlich auf drei Monate erstreckt hat.17 Diese neue Bestimmung hat einem Diözesangericht im deutschen Sprachraum einen Fall beschert, bei dem beide Parteien aus Südamerika stammen, in Südamerika geheiratet haben, alle Verwandten in Südamerika leben und kein Wort Deutsch verstehen, der Kläger jedoch seit kurzem im Gerichtsbereich des entsprechenden Gerichts wohnhaft ist. Eine Handhabe, die Klage abzuweisen, bestand nicht, da das Gericht gemäß c. 1672, 28 MIDI zuständig ist und die Klageschrift 15

Vgl. Sussidio applicativo, S. 50, Nr. 6. Vgl. c. 1672, 28 MIDI. 17 Vgl. c. 102 § 2 CIC/1983. 16

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die formalen Erfordernisse erfüllte. Die Notwendigkeit, viele Gerichtsakten zu übersetzen in Verbindung mit der Aufforderung des höchsten Gesetzgebers, die Verfahren nach Möglichkeit für die Parteien kostenlos durchzuführen, hat im konkreten Fall zu einer relativ großen Belastung des Gerichts und damit verbunden zu etlichen Verzögerungen im Verfahren geführt. Natürlich konnte es auch unter der früheren Regelung bisweilen exotische Gerichtsstände geben, doch konnte sie der Kläger viel weniger nach seinem Gutdünken bestimmen. Sie dürften folglich auch weniger häufig gewesen sein, als künftig damit zu rechnen ist. Dient diese Ausweitung der möglichen Gerichtsstände der Beschleunigung der Verfahren? Dient sie der Gerechtigkeit?

III. Ist die Figur des Diözesanbischofs als Einzelrichter in der konkreten Ausgestaltung stimmig? Mit Hinweis auf Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, das die Stellung des Diözesanbischofs als Hirten und Haupt seiner Kirche betont, der auch zum Richter der ihm anvertrauten Gläubigen bestellt ist, wurde ein vor dem Diözesanbischof selbst abzuhandelnder kürzerer Prozess zur Entscheidung eindeutigerer Nichtigkeitsfälle eingeführt.18 In der praktischen Umsetzung dieses Vorhabens fällt auf, dass die Entscheidung darüber, ob der Diözesanbischof ein solches Verfahren führen muss, bei dem ihm hierarchisch untergeordneten Gerichtsvikar liegt.19 Somit wird der Gerichtsvikar unter diesem Aspekt zum Vorgesetzten seines Diözesanbischofs, indem er verbindlich entscheidet, ob der Diözesanbischof persönlich als Richter tätig werden muss. Ist das ekklesiologisch stimmig oder müsste nicht die Entscheidung darüber, ob der Diözesanbischof persönlich oder durch das von ihm eingesetzte Diözesangericht tätig wird, beim Diözesanbischof selbst liegen? Dem Vernehmen nach haben einzelne Diözesanbischöfe im deutschen Sprachraum ganz unterschiedlich auf die neue Regelung reagiert. Von einem Diözesanbischof wird kolportiert, dass er den Offizialen im Bereich der Bischofskonferenz Ungehorsam gegen päpstliche Anordnungen vorgeworfen hat, als diese darauf hinwiesen, dass die Voraussetzungen für den kürzeren Eheprozess vor dem Diözesanbischof nur sehr selten gegeben sein dürften, weil es in der Praxis kaum vorkommt, dass beide Ehegatten den Antrag gemeinsam einreichen.20 Er entgegnete, ihm sei bei der Bischofssynode in Rom erklärt worden, dass er künftig Ehenichtigkeitsverfahren selbst 18

Vgl. cc. 1676 § 2 u. 1683 – 1687 MIDI. Vgl. c. 1676 § 2 MIDI. 20 Vgl. c. 1683, 18 MIDI. Diese Norm besagt, dass das diözesanbischöfliche Kurzverfahren angewendet werden kann, wenn der Antrag von beiden Ehegatten oder von einem der beiden bei Zustimmung des anderen vorgelegt wird. Die im „Sussidio applicativo“ erwähnte dritte Variante, dass auch nur eine Partei das diözesanbischöfliche Kurzverfahren einleiten könnte („Una delle parti, o entrambe, o una con il consenso dell’altra“), ist von der kodikarischen Norm nicht gedeckt. Zudem ist der Verweis auf „Can. 1683 § 1“ nicht korrekt (Sussidio applicativo, S. 51). Es müsste heißen: Can. 1683, 18. 19

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durch Urteil entscheiden könne, nachdem er ein pastorales Gespräch mit den Parteien geführt habe. Es soll andere Diözesanbischöfe geben, die ihren Gerichtsvikaren signalisierten, dass sie es gar nicht schätzen würden, wenn der Offizial gemäß c. 1676 § 2 MIDI im Einzelfall entscheiden würde, dass ein Ehenichtigkeitsverfahren dem Diözesanbischof auf dem Weg des kürzeren Prozesses gemäß cc. 1683 – 1687 MIDI zur Entscheidung vorgelegt würde. Als Begründung ist bisweilen zu hören, dies diene dem Schutz der Gerichte und der Diözesanbischöfe. In der Tat ist das letztere Argument nicht von der Hand zu weisen. Es hatte sicher gute Gründe, dass die katholische Kirche die meisten gerichtlichen Entscheidungen insofern entpersonalisiert und damit objektiviert hat, als sie einem Dreierkollegium zur Entscheidung vorgelegt wurden. Auch so gab es noch ab und zu Vermutungen, ein bestimmtes Gericht sei strenger oder laxer als andere und umgekehrt. Wenn es nun dazu kommt, dass – ob zu Recht oder zu Unrecht ist dabei letztlich belanglos – einem Diözesanbischof im Vergleich zu anderen der Ruf zukommt, besonders streng oder besonders milde in seinen gerichtlichen Entscheidungen zu sein, ist damit dem Wohl unserer Kirche als ganzer bzw. ihrer Einheit vermutlich wenig gedient. Hinzu kommt, dass es noch einmal eine ganz andere Dimension annimmt, wenn eine Partei dem Diözesanbischof das Angebot macht, sich finanziell erkenntlich zu zeigen, falls die Entscheidung rasch und in ihrem Sinn erfolgen würde, als wenn dies einem einzelnen Richter im Dreierkollegium gegenüber getan wurde. Ein konkretes Beispiel mag die obigen Ausführungen verdeutlichen: Es gibt im deutschen Sprachraum widersprüchliche Auffassungen dazu, ob ein sogenannter Kirchenaustritt die Kriterien eines „actus formalis defectionis ab Ecclesia“21 erfüllt(e). Die Meinungsverschiedenheiten dauerten auch nach der authentischen Interpretation des PCLT vom 13. März 200622 an. Folglich könnte es zu unterschiedlichen Urteilen in diözesanbischöflichen Kurzverfahren kommen, bei denen Ehen zu beurteilen sind, die zwischen 1983 und 2006 geschlossen wurden, je nachdem welcher Rechtsauffassung der Diözesanbischof folgt. Die formalen Voraussetzungen für ein diözesanbischöfliches Kurzverfahren können durchaus vorhanden sein.23 Die Prozessfrage kann lauten: „Ist die Ehe A – B nichtig wegen bestehenden Ehebandes bei A?“, wobei für die Antwort ausschlaggebend ist, ob eine kirchlich geschlossene Ehe zwischen D und C aufgrund eines sogenannten Kirchenaustritts von C gültig oder ungültig ist. A war vor der Ehe mit B zivil mit D verheiratet. Dient es unserer Kirche, wenn solche Entscheide mit den Namen bestimmter Diözesanbischöfe personalisiert werden? Schließlich ist zu bedenken, dass Gerichtsentscheide Einzelfallentscheide sind, die grundsätzlich dem Risiko eines Fehlurteils unterliegen. Ist unserer Kirche gedient, wenn dieses Risiko mit dem Namen konkreter Diözesanbischöfe verbunden 21 Cc. 1086, 1117 u. 1124 CIC/1983 in der Fassung vor Inkrafttreten des MP „Omnium in mentem“ Benedikts XVI. (AAS 102 [2010], S. 8 – 10). 22 Com 38 (2006), S. 180 – 182. 23 Vgl. c. 1684 MIDI.

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ist, oder wäre es nicht dienlicher, wenn dafür ein Kollegialgericht verantwortlich wäre, zumal die Wahrscheinlichkeit für einen Fehlentscheid bei einem Kollegialgericht abnimmt, da zwei Richter gleichzeitig den gleichen Fehlentscheid treffen müssten?

IV. Gibt es einen Bezug zwischen Weihesakrament und Befähigung zur Rechtsprechung? Im Ingress zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ wird Bezug genommen auf die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den Aufgaben des Diözesanbischofs; es wird also ein theologischer Bezug zur Bischofsweihe und zur Stellung als Teilkirchenvorsteher hergestellt. Insofern ist es stimmig, dass in den cc. 1683 – 1687 MIDI außer in c. 1687 § 3 MIDI vom „Episcopus dioecesanus“ die Rede ist. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, warum in c. 1687 § 3 MIDI der Begriff Episcopus statt Episcopus dioecesanus verwendet wird. Handelt es sich dabei um einen Redaktionsfehler? Wie verhält es sich nun aber im Falle eines Teilkirchenvorstehers, der nicht die Bischofsweihe empfangen hat, z. B. im Falle eines Diözesanadministrators? Der theologische Bezug zur Bischofsweihe besteht nicht, doch andererseits hat er die ordentlichen Amtsgeschäfte des emeritierten oder verstorbenen Diözesanbischofs weiterzuführen. Klar dürfte sein, dass der interimistische Leiter einer Diözese vor der Bestellung eines Diözesanadministrators nicht befugt ist, diözesanbischöfliche Kurzverfahren durchzuführen, da ihm gemäß c. 426 CIC/1983 nur die Gewalt zukommt, die das Recht dem Generalvikar zuerkennt. Der Generalvikar ist nicht befähig bzw. befugt, im Gerichtsbereich tätig zu sein. Der Diözesanadministrator im eigentlichen Sinn ist gemäß c. 427 § 1 CIC/1983 an die Pflichten gebunden und besitzt die Gewalt eines Diözesanbischofs „iis exclusis quae ex rei natura aut ipso iure excipiuntur“. Ist das diözesanbischöfliche Kurzverfahren ex rei natura an die Bischofsweihe gebunden, so dass ein Diözesanadministrator ein solches, wenn er keine Bischofsweihe empfangen hat, nicht (weiter-)führen könnte? Dagegen spricht, dass im Auftrag eines Diözesanbischofs auch Kleriker (Priester und Diakone) und Laien als Richter tätig sein können, unter bestimmten Voraussetzungen ein Kleriker (Priester und Diakon) auch als Einzelrichter.24 Dafür spricht, dass im Ingress zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ (Nr. III) der Bezug zum Bischof nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils und damit eben auch zur Bischofswei-

24 Es fällt auf, dass die Ausführungen im Ingress zu MIDI der entsprechenden kodikarischen Norm widersprechen: Im Ingress steht bei „II. – Der Einzelrichter unter der Verantwortung des Bischofs“, dass die Einsetzung eines Einzelrichters für die erste Instanz der Verantwortung des Diözesanbischofs übertragen ist, während c. 1673 § 4 MIDI die Einsetzung eines Einzelrichters von der Tatsache abhängig macht, dass kein Kollegialgericht eingerichtet werden kann.

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he ausdrücklich hergestellt wird. Wie verhält es sich dann bei Teilkirchenvorstehern, die nicht Bischöfe sind, z. B. bei Territorialäbten? Wenn beim neuen diözesanbischöflichen Kurzverfahren gemäß „Mitis Iudex Dominus Iesus“ betont wird, dass die Rechtsprechung zum Bischofsamt gehört, ist es theologisch wenig stimmig, wenn das neue Eheprozessrecht die Möglichkeit eröffnet, dass beim Kollegialgericht nicht einmal mehr ein Priester im Turnus vertreten sein muss. Es sind auch ein Diakon und zwei Laien möglich. Ebenso ist im Fall der Einsetzung eines Einzelrichters bei Unmöglichkeit der Bestellung eines Kollegialgerichts nur vorgeschrieben, dass dieser Einzelrichter Kleriker sein muss. Es kann sich also um einen Diakon handeln, der gemäß c. 1009 § 3 CIC/1983 nicht in der Vollmacht Christi des Hauptes handelt. Ist daraus zu schließen, dass der Gesetzgeber die erstinstanzliche Ehegerichtsbarkeit nicht als Handeln in persona Christi capitis betrachtet? Besteht hier nicht eine logische Diskrepanz zwischen der vermeintlich pragmatischen Lösung beim Kollegialgericht und der dogmatischen Betonung des Diözesanbischofs als Einzelrichter? Ist die Rechtsprechung der Kirche nicht mehr als Ausübung der Hirtengewalt zu sehen, zu deren Übernahme der Empfang der heiligen Weihe Voraussetzung ist?25

V. Wer ist Berufungsinstanz in diözesanbischöflichen Kurzverfahren? Beim diözesanbischöflichen Kurzverfahren hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, den Instanzenzug neu zu regeln, wobei sich aus der konkreten Formulierung diverse Fragen ergeben. Gegen das Urteil des Diözesanbischofs26 kann Berufung beim Metropoliten oder bei der Rota Romana eingelegt werden. Gegen ein Urteil eines Metropolitanbischofs ist die Berufungsinstanz der älteste Suffraganbischof.27 Hier stellt sich die Frage, was einen Suffraganbischof zum ältesten (antiquior) unter seinesgleichen macht. Der PCLT hat in einem Schreiben an einen Kardinal, dessen Text den deutschsprachigen Offizialen intern zur Verfügung gestellt wurde,28 ausgeführt, dass angesichts der Tatsache, dass die Berufung gegen ein Urteil eines Metropoliten mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten kann, für die Rechtssicherheit bei der Prozessführung wichtig ist, dass der Empfänger der Berufung klar feststeht und nicht Gegenstand ständiger Änderungen sei. Deshalb meint der PCLT, man müsse den Schluss ziehen, dass mit dem Suffraganbischof, an den sich die Berufung richten muss, nicht der dem Lebensalter oder dem Dienstalter nach Älteste gemeint ist, sondern der Bischof des ältesten Suffragansitzes der Me25

Vgl. c. 129 § 1 CIC/1983. Vgl. c. 1687 § 3 MIDI: „Adversus sententiam Episcopi“ (gemeint ist wohl „Episcopi dioecesani“). 27 Vgl. c. 1687 § 3 MIDI: „appellatio datur ad antiquiorem suffraganeum.“ 28 Prot.N. 15155/2015. 26

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tropolie. Dies wäre eine Interpretation, die dem Erfordernis der Rechtssicherheit entgegen kommen würde. Anzumerken ist, dass dies voraussetzt, dass das Alter der Suffraganbistümer verlässlich festgestellt werden kann, was bei alten Metropolitanverbänden allenfalls vertiefte historische Nachforschungen zum Errichtungsdatum von Suffraganbistümern auslösen könnte. Anfang 2016 wurde vom Dekan der Römischen Rota den Diözesanbischöfen ein „Sussidio applicativo“ zum neuen Eheprozessrecht zugestellt, dem auch ein Werbeschreiben für Intensivkurse an der Römischen Rota zum Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ beigelegt war. Nun scheint es, dass neben oder anstelle des PCLT die Römische Rota sich die Auslegung allgemeinkirchlicher Gesetze wie des CIC/1983 zur Aufgabe gemacht hat.29 Im Begleitschreiben des Dekans der Römischen Rota an einen deutschsprachigen Diözesanbischof vom 26. Januar 2016 wird die zeitgleiche Zustellung des „Sussidio“ in deutscher Sprache per E-Mail in Aussicht gestellt. Dies ist ein Jahr später noch nicht geschehen. Auf der Homepage des Heiligen Stuhls30 ist der „Sussidio applicativo“ nicht zugänglich, während er auf der Homepage der Römischen Rota in mehreren Sprachen, jedoch nicht in Deutsch, abrufbar ist.31 Ergeben sich aus der Tatsache, dass der „Sussidio applicativo“ auf der Homepage des Heiligen Stuhls nicht enthalten ist, Schlussfolgerungen zur Verbindlichkeit des „Sussidio applicativo“? Neben dem Tätigwerden der Rota Romana als Instanz der Gesetzesauslegung mag ihre Auffassung in der oben erörterten Frage des suffraganeus antiquior erstaunen, indem sie im „Sussidio applicativo“ ausdrücklich den dienstältesten Suffragbischof als zuständig für die Berufung bezeichnet32 und somit der zuvor vom PCLT gegebenen Auskunft widerspricht. Was gilt nun? Ist es nicht mehr die Aufgabe des PCLT, universalkirchliche Gesetze zu interpretieren?33 Welches Dikasterium der Römischen Kurie ist für die Interpretation von Gesetzesnormen zuständig? Wenn man der Frage der zuständigen Bischöfe bei Berufungen gegen ein Urteil im diözesanbischöflichen Kurzverfahren weiter nachgeht, so ergibt sich zudem, dass Diözesanbischöfe, die keine höhere Autorität unter dem Papst haben und nicht Metropolitanbischöfe sind, einen Bischof dauerhaft als Berufungsinstanz auszuwählen haben.34 Es fällt auf, dass dieser Appellationsbischof nach dem Wortlaut von c. 1687 § 3 MIDI kein Diözesanbischof sein müsste. Es könnte folglich auch ein Titularbi29

Zwar wird im Reskript von Papst Franziskus vom 07. 12. 2015 der Römischen Rota neben den in Art. 126 § PastBon genannten Aufgaben auch die Weiterbildung des Gerichtspersonals der Teilkirchen als Aufgabe übertragen, doch davon, dass ihr die Aufgabe der Gesetzesinterpretation zusteht, wie sie bisher dem PCLT zukam, ist nicht die Rede. 30 Vgl. http://www.vatican.va/roman_curia/tribunals/roman_rota/index_it.htm# (Stand: 28. 02. 2017). 31 Vgl. http://www.rotaromana.va/content/rotaromana/it/riforma-del-processo-canoni co.html (Stand: 28. 02. 2017). 32 Vgl. Sussidio applicativo, S. 42: „al suffraganeo più anziano nell’ufficio“. 33 Vgl. Art. 154 PastBon. 34 Vgl. c. 1687 § 3 MIDI: „appellatio datur ad Episcopum ab eodem stabiliter selectum.“

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schof, z. B. ein Weihbischof des gleichen Bistums, oder ein emeritierter Bischof sein. Das macht ekklesiologisch keinen Sinn. Vermutlich handelt es sich um ein redaktionelles Versehen. Die betroffenen Bischöfe, die zu keinem Metropolitanverband gehören, könnten eine elegante Lösung darin finden, den Bischof von Rom dauerhaft als Berufungsinstanz für die diözesanbischöflichen Kurzverfahren zu bestimmen. Damit hätten sie auch die Frage umgangen, die sich analog zum ältesten Suffraganbischof stellt, ob es sich um den Diözesanbischof eines auf Dauer bestimmten Bistums oder um einen auf Dauer bestimmten Bischof handeln muss. Zudem ist beim Bischof von Rom höchstens mit kurzen Sedisvakanzen zu rechnen und nichtbischöfliche Diözesanadministratoren sind nicht vorgesehen. Wird die Norm von c. 1683 § 3 MIDI im Kontext mit c. 1683 § 4 MIDI gesehen, wird jedoch deutlich, dass der in c. 1687 § 3 MIDI genannte Bischof nur ein Diözesanbischof sein kann, auch wenn dies in c. 1687 § 3 MIDI nicht so formuliert ist. Denn wenn der Bischof, von dem in c. 1687 § 3 MIDI die Rede ist, die Berufung zulässt, ist die Ehesache dem ordentlichen Verfahrensweg der zweiten Instanz zu übergeben. Daraus wäre zu schließen, dass der Bischof, von dem in c. 1687 § 3 MIDI die Rede ist, über ein eigenes, ordentliches Gericht verfügen muss, das in zweiter Instanz tätig werden kann. In Frage käme höchstens noch ein Personalprälat, der die Bischofsweihe empfangen hat, sofern seine Personalprälatur über ein eigenes Gericht verfügt. Auf diesem Hintergrund wäre es aber angemessener, ein Diözesanbischof, der keinem Metropoliten untersteht, hätte nicht selbst einen Diözesanbischof als Appellationsinstanz zu bestimmen, sondern der Bischofs eines Bistums und sein Gericht würden dauerhaft als Berufungsgericht festgelegt. Die ganze Frage wäre rechtstechnisch viel einfacher zu regeln gewesen, indem man festgelegt hätte, dass jeweils der Diözesanbischof des Berufungsgerichts, oder wo das Berufungsgericht ein überdiözesanes Gericht ist, der bischöfliche Moderator dieses Gerichts, auch als Berufungsinstanz in den diözesanbischöflichen Kurzverfahren dient. Somit bleibt die Frage im Raum, ob die Regelung für die zuständige Berufungsinstanz bei diözesanbischöflichen Kurzverfahren dem aktuellen Stand der rechtstechnischen Möglichkeiten hinsichtlich Klarheit und Effizienz entspricht.

VI. Ist die Instruktion „Dignitas Connubii“ noch in Kraft und wenn ja, in welchen Teilen? Im Reskript von Papst Franziskus vom 07. Dezember 2015 wird ausgeführt, dass die Gesetze der Reform des Eheprozessrechts alle entgegenstehenden bisher geltenden Gesetze und Normen aufheben.35 Bei einer Tagung der österreichischen Offiziale gab es zur Frage, ob die Instruktion „Dignitas Connubii“ als Erläuterung zu den Canones, die keine Änderung erfahren haben, weiterhin anzuwenden ist, unterschiedliche Auffassungen. Während die einen die These vertraten, dass die Normen 35

Vgl. Sussidio applicativo, S. 49, Nr. I.

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der Instruktion, die von den Änderung des kanonischen Eheprozessrechtes nicht betroffen sind, ihre Gültigkeit beibehalten, vertraten andere die Ansicht, dass die Instruktion, da das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren ex integro neu geregelt worden sei, nun außer Kraft sei und der Rechtsgeschichte angehöre. Was gilt? Ersetzt der „Sussidio applicativo“ der Römischen Rota die Instruktion „Dignitas Connubii“? An wen wären Auslegungsfragen zum neuen Eheprozessrecht und zum „Sussidio applicativo“ zu richten? Nach Publikation des „Sussidio applicativo“ der Rota Romana stellt sich die nächste, oben schon angetönte Frage:

VII. Welches Dikasterium der Römischen Kurie ist für die Interpretation der neuen Normen zuständig? Es scheint, dass sich beim derzeitigen Pontifikat in verschiedenen Bereichen neben den Zuständigkeiten, die sich aus der Apostolischen Konstitution über die Römische Kurie „Pastor Bonus“ ergeben, weitere Zuständigkeitsansprüche herausbilde(te)n, um nicht zu sagen parallele Kurienstrukturen entwickel(te)n. Für den normalsterblichen Rechtsanwender ist bei divergierenden Auskünften verschiedener Dikasterien, wie oben an einem Beispiel dargestellt, die korrekte Rechtsanwendung auch bei gutem Willen zunehmend schwierig. Es besteht derzeit wenig Aussicht, dass diese Fragen von zuständiger Stelle geklärt werden, da auch nicht mehr eindeutig zu sein scheint, welches die dafür zuständige Stelle sein dürfte und sich der höchste Gesetzgeber in jüngerer Zeit ähnlich gelagerten Fragen durch Hinweis auf die Meinung bestimmter Kardinäle oder Schweigen entzogen hat. Ginge man die Frage der Zuständigkeit in gewohnter rechtlicher Manier an, würde man sich als Gerichtsvikar in der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ kundig machen, zumal berichtet wird, dass der oberste Gesetzgeber seinerzeit darauf bestanden habe, dass diese Konstitution im Anhang zur gedruckten Ausgabe der offiziösen deutschen Übersetzung des CIC abzudrucken sei, sie also für bedeutsam und dauerhaft hielt. Für die Gesetztestexte und insbesondere für deren Interpretation würde sich dann die Zuständigkeit des Pontificium Consilium de legum textibus (Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte) ergeben, dessen Aufgabe gemäß Art. 154 PastBon vor allem darin besteht, die Gesetzestexte der Kirche zu interpretieren: „Consilii munus in legibus Ecclesiae interpretandis praesertim consistit“, was in Art. 155 eine Konkretisierung erfährt, insofern dort festgelegt wird, dass es dem PCLT zukommt, authentische Interpretationen der universalkirchlichen Gesetze vorzutragen. Entsprechende Ausführungen zu den Aufgaben dieses Päpstlichen Rates finden sich im aktuellen „Annuario Pontificio“ (2016, S. 1836 f.), wo nicht nur die Aufgabe authentischer Interpretationen päpstlicher Gesetze, sondern auch allgemein das Bemühen um die adäquate Anwendung des kanonischen Rechts zum Bereich des Päpstlichen Rates für Gesetzestexte gezählt wird (AnPont 2016, S. 1837, Nr. 7).

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Freilich fällt auf, dass schon im Ingress zu „Mitis Iudex Dominus Iesus“ erwähnt wird, dass unter der Anleitung des Dekans der Römischen Rota „in kurzer Zeit“ der Entwurf eines neuen Prozessrechts erarbeitet wurde.36 Es ist nicht bekannt, dass – wie früher bei solchen Gesetzesvorhaben üblich – eine Konsultation der Teilkirchen bzw. des Episkopats stattgefunden hätte. Gerüchteweise war zu vernehmen, dass das PCLT während der Vorbereitung einer solchen Konsultation von der Publikation des Motu proprio „Mitis Iudex Dominus Iesus“ überrascht wurde. In Betracht zu ziehen ist zudem, dass es in jüngster Zeit in Übung gekommen ist, dass der Bischof von Rom persönlich Sektionen von Päpstlichen Räten leitet. So wurden die bischöflichen Ordinariate mit einer Rundmail vom 09. Januar 2017 darüber in Kenntnis gesetzt, dass seit dem 01. Januar 2017 die Sektion Migranten und Flüchtlinge des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen operativ ist und der Papst selbst unmittelbar die Leitung dieser Sektion innehat, wozu er zwei Untersekretäre als Helfer ernannt hat.37 Auch hier scheinen sich die Zuständigkeitskriterien in der Römischen Kurie in einem tiefgreifenden Wandel zu befinden. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass die oben angeführten Fragen zu „Mitis Iudex Dominus Iesus“ keinesfalls als dubia zu verstehen sind, auf die eine Antwort des obersten Gesetzgebers erwartet würde. Sie sind nur Ausdruck der Ratlosigkeit eines Gerichtsvikars, der sich in seiner Amtsführung so verhalten möchte, dass er nach Ende des irdischen Pilgerwegs vor Jesus Christus, dem milden Richter, bestehen kann und deshalb meint, dass seine Aufgabe als Richter in irdischen kirchlichen Gerichtsverfahren, die mit einem Feststellungsurteil enden, darin besteht, ein iustus iudex zu sein.

36 „Alacriter operans, brevi tempore Coetus huiusmodi novae legis processualis adumbrationem concepit.“ (AAS 107 [2015], S. 958). 37 Rundmail vom 09. 01. 2017 in den Akten des Verfassers.

Recht der orientalischen Kirchen und ökumenische Fragestellungen

Die Rechtsstellung der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik Von Jirˇí Dvorˇácˇ ek In diesem Jahr jährt sich zum 20. Mal die Gründung der Apostolischen Exarchie für Gläubige des byzantinischen Ritus in der Tschechischen Republik. Obwohl es sich um eine direkt dem Apostolischen Stuhl unterstellte und allen Gläubigen des byzantinischen Ritus in Böhmen, Mähren und Schlesien vorbehaltene Verwaltungseinheit mit unabhängiger Gerichtsbarkeit handelt, ist ihre Rechtsstellung nicht eindeutig und erfordert eine Klarstellung. Es geht dabei vor allem um zwei Fragen: Erstens, ob die tschechische Apostolische Exarchie eine eigenberechtigte Kirche ist, und zweitens, mit welcher Autorität und in welchem Namen sie vom Apostolischen Exarchen regiert wird. Bevor in diesem Artikel versucht wird, diese beiden Fragen zu beantworten, soll zuerst die Entstehung und die neueste Geschichte der Apostolischen Exarchie, ihre Organisationsstruktur sowie die Art der Ausübung der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt näher betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse ihrer Stellung sowohl nach dem Gesetzbuch der Katholischen Ostkirchen (CCEO) als auch nach dem Jahrbuch des Heiligen Stuhls „Annuario Pontificio“. Des Weiteren soll der Begriff der eigenberechtigten Kirche erläutert und ihre Entwicklung dargelegt werden. Am Anfang seien jedoch einige grundlegende historische Ereignisse vor der Gründung der unabhängigen tschechischen Exarchie kurz erwähnt.1 Union von Uzhgorod Mit der Union von Uzhgorod wurde die Westkirche um das östliche Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie erweitert. Am 24. April 1646 haben in Uzhgorod 63 orthodoxe Priester vor dem Bischof von Eger Juraj Jakusics das Credo abgelegt und Papst Innozenz X. als Haupt der Kirche anerkannt. Den OstKatholiken in Galizien, Weißrussland und der Ukraine wurde dabei erlaubt, ihren eigenen Ritus, ihr eigenes Kirchenrecht und ihre eigene Tradition zu behalten.

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Vgl. Gabriel Székely/Anton Mesárosˇ, Gréckokatolíci na Slovensku, Kosˇice 1997.

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Jirˇí Dvorˇácˇ ek

Eparchie Mukachevo Am 19. September 1771 wurde auf Geheiß der österreichischen Kaiserin Maria Theresia von Papst Clemens XIV. mit der Bulle „Eximia Regalium“2 die Eparchie Mukachevo gegründet, welche dem Erzbischof von Esztergom (Gran) als ihrem Metropoliten untergeordnet war. Aufgrund des flächenmäßig großen Territoriums der Diözese Mukachevo und ihrer damit zusammenhängenden erschwerten Verwaltung wurde sie 1787 in drei Vikariate unterteilt – Maramures, Sathmar und Kosˇice. Letzteres wurde im Jahre 1792 nach Presˇov (Preschau) verlegt. Eparchie Presˇov Die Presˇover Eparchie wurde im Jahre 1818 von Papst Pius VII. mittels der Bulle „Relata semper“3 durch Ausgliederung aus der Eparchie von Mukachevo errichtet. Zuvor hatte bereits im Jahre 1815 Kaiser Franz I. unter Berufung auf das Patronatsrecht aus dem Vikariat Kosˇice die neue Eparchie von Presˇov gebildet, ohne jedoch Rom zu benachrichtigen.4 Eigenständige griechisch-katholische Pfarrgemeinde in Prag Nach 1918 befanden sich auf dem Gebiet des tschechoslowakischen Staates zwei griechisch-katholische Eparchien – die Presˇover Eparchie und dank der Angliederung Transkarpatiens an die Tschechoslowakei auch die Eparchie von Mukachevo. Aufgrund des immer stärkeren Zulaufs von Slowaken und Ruthenen in Böhmen und vor allem in Prag war es notwendig, dort eine griechisch-katholische Pfarrgemeinde zu errichten. Der Einrichtung einer eigenen Kirchenverwaltung für die griechischen Katholiken in Prag stimmte die Kongregation für die orientalische Kirche in ihrem Beschluss vom 26. April 19265 zu. Allerdings wurde die griechisch-katholische Pfarrgemeinde in Prag erst aufgrund der Genehmigung des Ministeriums für Schulwesen und Volksbildung vom 16. Dezember 1933 offiziell errichtet,6 das zuvor die Zustimmung des Finanzministeriums eingeholt hatte. Gleichzeitig wurde durch diesen Beschluss das Territorium der neuen Gemeinde eingegrenzt, welches jetzt von den Regionen Böhmen, Mähren und Schlesien gebildet wurde, und angeordnet, 2

Clemens XIV., Bulle „Eximia Regalium“, in: BullRom IV/3 (1769 – 1774), S. 373 – 376. Pius VII., Bulle „Relata semper“, Bezˇ ná agenda, Spisy, hrsg. v. Archiv des griechischkatholischen Bistums in Presˇov, Inv. Nr. 454, Sign. Nr. 442. , 4 Vgl. Cyril Vasil, Kánonické pramene byzantsko-slovanskej katolíckej cirkvi v Mukacˇ evskej a Presˇovskej eparchii v porovnaní s Kódexom kánonov vy´chodny´ch cirkví, Trnava 2000, S. 47. 5 Vgl. Prezidiálné spisy, Jahr 1931, hrsg. v. Archiv des griechisch-katholischen Bistums in Presˇov, Sign. Nr. 13, zálezˇ itostˇ jurisdikcie prazˇ skej gr. kat. farnosti. 6 Unter der Aktennummer 146375/VI/I; vgl. Ján Fek, Vznik a vy´voj Aposˇtolského exarchátu gréckokatolíckej cirkvi na území Cˇ R (Diplomarbeit, Katholisch-Theologische Fakultät der Karls-Universität Prag), Prag 2005, S. 25. 3

Rechtsstellung der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik

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dass diese Gemeinde unter die Jurisdiktion des griechisch-katholischen Bischofs von Presˇov falle. Die Errichtung der Pfarrgemeinde wurde dann auch von der Kongregation für die orientalische Kirche durch das päpstliche Dekret Pius’ XI. „Quo efficacius“7 vom 20. Dezember 1935 bestätigt.8 Bischofsvikariat Aufgrund der Teilung der Tschechoslowakei und der Entstehung der unabhängigen Tschechischen Republik beschloss das Bistum Presˇov mit Wirkung vom 07. Januar 1993 das Bischofsvikariat für Katholiken des östlichen Ritus in der Tschechischen Republik mit Sitz in Prag am Hastalplatz zu errichten.9

I. Entwicklung der Apostolischen Exarchie seit ihrer Gründung 1996 Über die Errichtung einer eigenständigen und von der Presˇover Eparchie unabhängigen Exarchie begann man vor allem nach der Teilung der Tschechoslowakei nachzudenken, als eine faktisch und rechtlich kaum tragbare Situation eingetreten war: Die Kirchenleitung hatte ihren Sitz in einem anderen Staat. Ein weiterer Grund war auch die Zahl der heimlich geweihten Priester, die in der Tschechischen Republik, wenn sie verheiratet waren, in die griechisch-katholische Kirche eingegliedert worden waren (unter der Voraussetzung des Empfangs der Weihe sub conditione). Die Errichtung einer juristisch eigenständigen, von der Auslandskirche un-

7 SC EcclOr, Decretum, Prot.N. 498/28. „Quo efficacius spirituali bono fidelium ritus graecorutheni in regionibus Bohemiae, Moraviae, ac Silesiae, ditionis Cechoslovachiae, commorantium consuleret, SS mus D.N. PIUS XI. Div. Providentia PP XI., in Audientia diei 7. Aprilis anno 1934, referente infrascripto Cardinali a Secretis S.C. pro Eccl. Orientali, statuere dignatus est ut nova erigatur paroecia ritus graeco-rutheni in urbe Pragensi, sub jurisdictione Exc-mi ac Rev. mi D. Episcopi Presˇoviensis Ruthenorum, cui omnes tribuantur ejiusdem ritus fideles in ipsis regionibus commorantes, mandans insuper ut de hac re decretum confiteretur. Praesenti igitur decreto erigitur ac constituitur paroecia ritus graeco-rutheni in urbe Pragensi, cum omnibus conditionibus, juribus et oneribus. Datum Romae ex Aedibus S.C. pro Eccl. Orientali, die 20. Decembris 1935. Aloys Card. Sincero m.p. I Cesarini adsessor“ (in: Peter Sˇ turák [Hrsg.], Otec biskup Pavol Gojdicˇ , OSBM [1888 – 1960], Presˇov 1997, S. 72). 8 Vgl. Jaroslav Coranicˇ , Rˇ eckokatolická církev v cˇ esky´ch zemích v letech 1918 – 1950, in: Karel Sládek u. a. (Hrsg.), Rˇ eckokatolická církev v cˇ esky´ch zemích. Deˇ jiny, identita, dialog, Cˇ erveny´ Kostelec 2013, S. 18 – 19. 9 Vgl. Milosˇ Szabo, Vztahy rˇeckokatolíku˚ v cˇ esky´ch zemích a presˇovského ordinariátu od obnovení cˇ innosti rˇeckokatolické církve po vznik prazˇ ského exarchátu, in: Karel Sládek u. a. ˇ erveny´ Kostelec (Hrsg.), Rˇ eckokatolická církev v cˇ esky´ch zemích. Deˇ jiny, identita, dialog, C 2013, S. 109 – 109.

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abhängigen Kirchenstruktur wurde nachfolgend auch vom tschechischen Kulturministerium veranlasst.10 Die Apostolische Exarchie für die Katholiken des byzantinisch-slawischen Ritus in der Tschechischen Republik wurde am 15. März 1996 von Papst Johannes Paul II. durch die Apostolischen Konstitution „Quo aptius consuleretur“11 errichtet. Zu dieser Zeit gab es in der Tschechischen Republik neun griechisch-katholische Pfarrgemeinden. Die Gründung der Apostolischen Exarchie wurde am 13. März am Sitz des Bischofsvikariats vom damaligen Apostolischen Nuntius Giovanni Coppa bekannt gegeben. Als erster Exarch wurde Mons. Ivan Ljavinec, Titularbischof von Acalissus, ernannt. Mit Wirkung vom 01. November 1997 und im Sinne des c. 276 § 2 CCEO errichtete der Apostolische Exarch Ivan Ljavinec den neuen Protopresbyterat Brno-Olomouc. Als Protopresbyter wurde Jozef Blasˇcˇ ák ernannt. Am selben Tag wurden vom Apostolischen Exarchen nach c. 280 § 2 CCEO folgende neue Pfarrgemeinden ˇ eské Budeˇ jovice, Jihlava, Karlovy Vary, Kladno, Pardubice, errichtet: in Böhmen C Sokolov, Teplice, Trutnov, Ústí nad Labem und Zˇ atec, in Mähren Jeseník, Karviná, Kromeˇ rˇízˇ , Olomouc und Opava.12 Im Jahr 2003 wurde Mons. Ljavinec emeritiert. Über die Ernennung des neuen Exarchen wurden am Sitz der Apostolischen Exarchie die Exarchialpriester vom Apostolischen Nuntius Mons. Erwin Josef Ender am Großdonnerstag 2003 (nach dem Julianischen Kalender) informiert. Zum neuen Apostolischen Exarchen wurde von Papst Johannes Paul II. Mons. ThDr. Ladislav Hucˇ ko, Titularbischof von Horaea ernannt.13 Die vorgeschriebenen Vereidigungen nach entsprechenden Rubriken des Archijeretikons wurden am 30. Mai 2003 in der Kathedrale des hl. Kliment in Prag geleistet. Die Bischofsweihe (Cheirotonia) und die Amtseinführung fand am 31. Mai 2003, aufgrund der versuchten Verhinderung der Zeremonie seitens einiger Mitglieder der Gemeinschaft von Antonín Dohnal, dagegen in der angrenzenden Kirche des hl. Salvator14 statt. Die Weihe wurde vom Weihbischof von Mukachevo Yuri Dzˇ udzˇ ar erteilt. Als Mitkonsekratoren waren Bischof Jan Babjak aus Presˇov und der damalige Apostolische Exarch Milan Chautur aus Kosˇice beteiligt. An der Ordination haben auch einige Bischöfe des lateinischen Ritus teilgenommen, sowie auch Priester der Apostolischen Exarchie und etwa dreihundert Gläubige.15 10 Vgl. Szabo, Vztahy rˇeckokatolíku˚ v cˇ esky´ch zemích a presˇovského ordinariátu od obnovení cˇ innosti rˇeckokatolické církve po vznik prazˇ ského exarchátu (Anm. 8), S. 111 – 112. 11 Johannes Paul II., ApK „Quo aptius consuleretur“, in: AAS 88 (1999), S. 614. 12 Vgl. Veˇ stník AE, 1/1998, S. 6 f. 13 Vgl. Veˇ stník AE, 3/2003, S. 3. 14 Diese Kirche befindet sich direkt neben der Kathedrale des hl. Kliment und ist durch die Sakristei der Kathedrale zugänglich. 15 Vgl. Milan Hanusˇ, Kapitoly z deˇ jin vy´chodní katolické církve na území Cˇ R a její postavení v právním rˇádu církve (Rigorosumsarbeit, CMTF UP Olomouc), Olomouc 2011, S. 98 f.

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Der amtierende Bischofsvikar Eugen Jan Kocˇ isˇ wurde dann am 15. Mai 2004 zum Weihbischof in Prag und Titularbischof von Abritto geweiht. Aufgrund des Erreichens des kanonischen Alters nahm Papst Benedikt XVI. am 07. Oktober 2006 den Rücktritt von Mons. Kocˇ isˇ an, der seit diesem Zeitpunkt emeritiert ist. Derzeit ist die Apostolische Exarchie ohne Weihbischof. Heute zählt die griechisch-katholische Kirche in der Tschechischen Republik 21 Pfarrgemeinden und 16 Filialgemeinden in sieben Dekanaten mit 29 aktiven Priestern in der Seelsorge und 12 pensionierten Priestern. Zurzeit nimmt eine Pfarrgemeinde in der Regel eine Fläche von mehreren Bezirken ein. Zur katholischen Kirche des byzantinischen Ritus haben sich offiziell nach der letzten Volkszählung im Jahr 2011 insgesamt 9927 Gläubige bekannt. Dazu müssen jedoch Zehntausende von Ukrainern und Slowaken hinzugerechnet werden, die sich aus beruflichen Gründen in der Tschechischen Republik aufhalten und hier vorübergehend wohnen. Nachfolgend wird die der räumlich-organisatorischen Struktur der Apostolischen Exarchie beschrieben, wie sie in der Druckversion und auf der offiziellen Website der Apostolischen Exarchie16 erscheint: @ Protopresbyterat in Prag: Pfarrgemeinden zum Hl. Kliment in Prag, zur Hl. Dreifaltigkeit in Prag (personell – slowakisch) und Mladá Boleslav. @ Protopresbyterat in Cˇ eské Budeˇ jovice: Pfarrgemeinden Cˇ eské Budeˇ jovice und Strakonice. @ Protopresbyterat in Plzenˇ : Pfarrgemeinden Plzenˇ , Karlovy Vary und Tachov. @ Protopresbyterat in Liberec: Pfarrgemeinden Chomutov, Liberec und Ústí nad Labem. @ Protopresbyterat in Hradec Králové: Pfarrgemeinden Hradec Králové und Pardubice. @ Protopresbyterat in Brno und Olomouc: Pfarrgemeinden Brno, Jihlava, Olomouc und Otrokovice. @ Protopresbyterat in Ostrava und Opava: Pfarrgemeinden Ostrava, Karviná, Opava und Jeseník.

II. Gewalten in der Apostolischen Exarchie 1. Gesetzgebende Gewalt C. 176 CCEO besagt: Wenn eine Angelegenheit nach dem gemeinsamen Recht durch ein Partikulargesetz geregelt werden kann, ist die zuständige Autorität dafür „in diesen Kirchen mit Zustimmung des Apostolischen Stuhls der Hierarch, der ihr nach Maßgabe des Rechts vorsteht, außer es ist ausdrücklich etwas anderes fest16

Vgl. www.exarchat.cz: Deˇ kanáty a farnosti exarchátu (Stand: 23. 06. 2015).

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gesetzt.“ Nach c. 313 CCEO hat ein Exarch dieselben Rechte wie der Eparchialbischof, d. h. er besitzt gemäß c. 191 CCEO auch eine gesetzgebende Gewalt, die er persönlich ausübt und nicht delegieren kann. Bei der gesetzgebenden Gewalt ist es wichtig, zwischen dem vom Hierarchen innerhalb seiner eigenen Kompetenz erlassenen Partikularrecht ohne die Notwendigkeit der Zustimmung des Heiligen Stuhls (also auf der eparchialen Ebene, unabhängig von Canones des CCEO über das Partikularrecht der jeweiligen eigenberechtigten Kirche) und dem vom gleichen Hierarchen für die gesamte eigenberechtigte Kirche erlassenen Partikularrecht zu unterscheiden, das nur aufgrund der Ermächtigung derjenigen Canones des CCEO, welche die Grundlagen für die Rechtsbildung des Partikularrechts bilden, erlassen werden kann. Im letzteren Fall ist für die Gültigkeit des Gesetzes immer die Zustimmung des Heiligen Stuhls erforderlich.17 Die Apostolische Exarchie in der Tschechischen Republik ist noch keine eigenberechtigte Kirche, somit kann ihr bestehendes Recht (Rechtsvorschriften) nicht als Partikularrecht der eigenberechtigten Kirche angesehen werden. Die bestehenden Gesetze, d. h. die Zusammenfassung aller geltenden kanonischen Vorschriften in ihrem Gebiet wurden zwecks Zulassung als exarchiales Partikularrecht nicht dem Apostolischen Stuhl vorgelegt, sodass dieses vom Heiligen Stuhl auch nicht genehmigt wurde. Eine solche Genehmigung würde eine implizite Anerkennung der Exarchie als eigenberechtigte Kirche bedeuten. Das geltende Recht der Apostolischen Exarchie ist auf der eparchialen Ebene vor allem in der „Sammlung der bestehenden Gesetze der Apostolischen Exarchie der griechisch-katholischen Kirche in der Tschechischen Republik“18 enthalten, die 2011 veröffentlicht wurde und den Zeitraum von 1996 bis 2011 einbezieht. Dazu müssen noch alle nach 2011 angenommenen und im Bulletin der Apostolischen Exarchie veröffentlichten Normen hinzugefügt werden. Die Sammlung beinhaltet Rechtsvorschriften, die vorwiegend im Bulletin der Apostolischen Exarchie promulgiert wurden, aber auch einige auf der Website der Exarchie veröffentlichte Formulare. Sie kann nicht als formale primäre Rechtsquelle betrachtet werden, sondern stellt eine Zusammenfassung von bisher unveröffentlichten und bis auf wenige Ausnahmen noch geltenden Vorschriften, Normen, Entscheidungen und Formularen dar. Bei den meisten Normen ist angegeben, in welcher Nummer des Bulletins der Apostolischen Exarchie, unter welcher Aktennummer und mit welchem Datum sie veröffentlicht wurden. Bei den neu erlassenen Vorschriften wird die jeweils gültige Fassung angeführt, der Verweis auf vorherige geänderte Vorschriften ist in Klammern angegeben.

17

Vgl. Nuntia 22 (1986), S. 123. Milan Hanusˇ (Hrsg.), Sbírka platny´ch právních norem Aposˇtolského exarchátu rˇeckokatolické církve v Cˇ R (1996 – 2011), Praha 2011. 18

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Die Sammlung ist in fünf Teile gegliedert: (1) Verwaltungsrechtliche Anordnungen: Hier sind die vom Heiligen Stuhl erlassenen Normen (Einrichtungsbulle, Ernennungsbullen der Apostolischen Exarchen, Erklärung über die Geheimkirche etc.) und die grundlegenden internen Regelungen der Apostolischen Exarchie ihre Struktur und Institutionen betreffend (die Satzung des Priester- und Pastoralrates, die Satzung der griechisch-katholischen Wohltätigkeitsorganisation etc.) angeführt. Enthalten ist auch ein grundlegendes Dokument, das beim Kulturministerium der Tschechischen Republik registriert ist, sowie die Entscheidung dieses Ministeriums über die Gewährung von Sonderrechten nach dem Gesetz Nr. 3/2002 Slg. (2) Liturgische und pastorale Vorschriften: Dieser Abschnitt enthält allgemeine Bestimmungen über den Gottesdienst sowie solche über die Erteilung der Sakramente der Taufe, der Salbung mit Myron, der Eucharistie, der Versöhnung, der Weihe und der Ehe. (3) Normen ökonomischer Natur: Diese schließen die allgemein verbindlichen Regelungen der Tschechischen Bischofskonferenz, Vorschriften für die Buchhaltung, Besoldungsregelungen für die Seelsorger der Apostolischen Exarchie, die Instandsetzung von Kirchengebäuden und deren Finanzierung, die Verbindlichkeit des Gesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (Nr. 137/2006 Slg.) u. a. ein. (4) Andere Rechtsvorschriften: Enthalten sind hier Verwaltungsregelungen (Pfarrchronik, Kirchenbücher, deren Führung sowie beratende Funktionen, die Gewährung des Imprimatur, die Erhaltung von beweglichen Sachen u. a.), Anstellungsvorschriften (Rechtsverpflichtungen der in der Tschechischen Republik beschäftigten ausländischen Staatsangehörigen, Urlaubsregelung für Geistliche der Apostolischen Exarchie, Berichtspflicht der personenbezogenen Daten u. a.) sowie interne Verordnungen und Mitteilungen (hier sind die wichtigsten Erklärungen über verschiedene Bewegungen und Gruppen erwähnt, wie zum Beispiel zur slowakischen Bewegung Nazareth, zur Kommunität Cenacolo und zur Tätigkeit der Basilianer). (5) Anhänge: Hier sind vor allem Änderungen des CIC/1983 und CCEO, Informationen über die Normierung schwerster Straftaten, eine Zusammenfassung von Bestimmungen des CCEO, welche die Rechtsregelung im Partikularrecht voraussetzen, sowie verschiedene Formulare enthalten. Es muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass einige dieser Bestimmungen oder Informationen bereits veraltet sind und nach 2011 abgeschafft wurden. Die Sammlung ist somit in erster Linie eine praktische Orientierungshilfe für Geistliche und Mitarbeiter der Apostolischen Exarchie und erleichtert ihnen den Zugang zu den Dokumenten. Künftig wäre es angebracht, und hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Apostolischen Exarchie und ihrer eventuellen Erhebung zur Epar-

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chie sehr wünschenswert, mit der Arbeit an ihrem eigenen Partikularrecht in Übereinstimmung mit den Kriterien des CCEO zu beginnen. 2. Vollziehende Gewalt in der Apostolischen Exarchie Für die ausführende Gewalt in der Exarchie gelten gemäß c. 313 CCEO grundsätzlich die gleichen Bestimmungen, welche die vollziehende Gewalt des Eparchialbischofs regeln. Diese wird somit nach c. 191 § 2 CCEO vom Apostolischen Exarchen ausgeführt, dem der Generalvikar (Protosynkellos) und die Bischofsvikare (Synkelloi) behilflich sind.19 Gemäß c. 264 CCEO ist ein Priesterrat errichtet, der nach den Satzungen von 1997 aktuell neun Mitglieder zählt.20 Aus ihm hat nach c. 271 CCEO der Apostolische Exarch ein sechsköpfiges Konsultorenkollegium ernannt.21 In der exarchialen Kurie sind des Weiteren der Vermögensverwaltungsrat (c. 263 CCEO), der Kanzler und der Vizekanzler (c. 252 CCEO) sowie der Archivar und der Bischofssekretär tätig.22 Zur Bildung und Revision der liturgischen Normen wurde eine Liturgische Kommission errichtet, analog zu c. 124 CCEO, der ihre Errichtung im Rahmen der Patriarchatskirchen vorsieht.23 3. Richterliche Gewalt in der Apostolischen Exarchie24 Was die richterliche Gewalt in den Exarchien im Allgemeinen betrifft, so gilt, dass in der ersten Instanz die Entscheidung vom Eparchialgericht getroffen wird. Als zweitinstanzliches Gericht fungiert das durch den Heiligen Stuhl (c. 1064 § 2 CCEO) bestimmte Gericht und als Gericht dritter Instanz die Römische Rota (c. 1065 CCEO). Für Gebiete mit mehreren eigenberechtigten Kirchen, die keine eigenen Eparchialgerichte errichten, gilt, dass die Eparchialbischöfe der verschiedenen eigenberechtigten Kirchen die Errichtung eines gemeinsamen Gerichts vereinbaren können, das über Streit- und Strafsachen eines diesen Bischöfen unterliegenden Gläubigen entscheiden würde. Die Berufung gegen das Urteil des gemeinsamen

19 Der aktuelle Protosynkellos ist Mons. Milan Hanusˇ und die Synkelloi sind P. Stav. Prot. Vasyl Slyvotskyy (für die Ukrainer) und P. Mitr. Josef Blasˇcˇ ák (für Mähren und Schlesien). 20 Vgl. Hanusˇ, Sbírka (Anm. 18), S. 18 ff. Der Priesterrat wurde vom Apostolischen Exarchen zum 01. 02. 2016 erneuert (unter Aktennummer 15/2016). 21 Das Konsultorenkollegium wurde vom Apostolischen Exarchen zum 01. 02. 2016 erneuert (unter Aktennummer 16/2016). 22 Als Kanzler arbeitet P. Tomásˇ Mrnˇ ávek und als Vizekanzler P. Radim Tutr. Archivar ist P. Ludvík Sˇ ˇtastny´ und Zeremoniar P. Volodymyr Kotsenko. 23 Die Liturgische Kommission wurde vom Apostolischen Exarchen zum 01. 02. 2016 erneuert (unter Aktennummer 17/2016) und hat heute sieben Mitglieder. 24 Näheres dazu bei Jirˇí Dvorˇácˇ ek, Soudní systém ve vy´chodních katolicky´ch církvích, in: Daniel Krosˇlák/Michaela Moravcˇ íková (Hrsg.), Rozhodovacia cˇ innostˇ súdov a nábozˇ enstvo, Bratislava 2015, S. 104 – 114, hier S. 110.

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Gerichts der ersten Instanz wird bei einem vom Apostolischen Stuhl ständig bestimmten Gericht verfolgt (c. 1068 CCEO).25 Für die tschechischen griechischen Katholiken gestaltet sich die Gerichtsbarkeit wie folgt: Nach der Gründung der Eparchie Presˇov durch die Bulle Pius’ VII. „Relata semper“ vom 22. September 1818 unterstanden sie der Gerichtsbarkeit des Presˇover Eparchen, und das auch nach der Entstehung der Tschechoslowakei im Jahre 1918; die rechtsprechende Gewalt wurde somit von diesem Hierarchen ausgeübt. Das galt bis zur Errichtung einer selbstständigen Apostolischen Exarchie am 15. März 1996. Ab diesem Zeitpunkt obliegt die Gerichtsbarkeit dem Exarchen, sie wird jedoch aus Mangel an kompetenten Mitarbeitern und der zu geringen Auslastung des Tribunals nicht durch den eigenen Gerichtsvikar und das eigene Kirchengericht ausgeübt. Die Zuständigkeit des Kirchengerichts wurde auf Antrag des Exarchen durch Beschluss der Apostolischen Signatur vom 05. August 1996 an die tschechischen und mährischen lateinischen Bistümer übertragen.26 Zu einer grundlegenden Änderung kam es im Jahr 2009 aufgrund des Dekrets des Präfekten des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur vom 15. Januar 2008, als nach der Vereinbarung zwischen den Bischöfen der tschechischen Kirchenprovinz der Erzbischof von Prag durch sein Dekret Nr. 4722/2009 zum 01. Juli 2009 das Metropolitangericht der Prager Erzdiözese gegründet hat.27 Dies führte zur Neuordnung der kirchlichen Justiz in der böhmischen Kirchenprovinz, im Rahmen derer auch festgelegt wurde, dass für Fälle, die in die Zuständigkeit der Apostolischen Exarchie fallen würden, das Prager Metropolitangericht zuständig ist. Hierbei handelt es sich jedoch um eine vorübergehende Lösung, bis das selbstständige Exarchialgericht errichtet wird.28 Andere Ost-Katholiken des nicht byzantinischen Ritus (z. B. Armenier – armenischer Ritus, Kopten – alexandrinischer Ritus oder Maroniten – antiochenischer Ritus) fallen unter die allgemeine Jurisdiktion (und deshalb auch unter die Gerichtsbarkeit) des jeweiligen lateinischen Diözesanbischofs. Für eine andersartige Praxis gibt es Grundlagen weder im geltenden Kirchenrecht, noch in irgendwelchen Dokumenten des Heiligen Stuhls.

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Ausführlicher s. George Nedungatt, A Guide to the Eastern Code. A commentary on the Code of Canons of Eastern Churches, Rome 2002, S. 716 – 722. 26 Vgl. SignAp, Lit. ad Exc.mum Dominum Ivan Ljavinec, Exarchum Apostolicum Eparchie riti Byzantinci in Republica Cecha (05. 08. 1996), Akt.-Nr. 4037/1/96 SAT, in: Archiv des Ordinariats des Erzbistums Olomouc, Sign. V.D/Soud – Interdiecézní soud; zitiert bei: Miroslava Skoumalová, Církevní soudy rˇímskokatolické církve v cˇ esky´ch a moravsky´ch diecézích po roce 1948 (Diplomarbeit, CMTF UP Olomouc), Olomouc 2010, S. 51. 27 Vgl. Rozhodnutí o zrˇízení Metropolitního církevního soudu Arcidiecéze prazˇ ské ze dne 26. 06. 2009 v Praze, Akt.-Nr. 4722/2009, in: Archiv des Ordinariats des Erzbistums Olomouc, Sign. V.D/Soud – Interdiecézní soud; zitiert bei: Skoumalová, Církevní (Anm. 26), S. 52. 28 Vgl. auch Monika Menke, Soudnictví rˇímskokatolické církve v cˇ esky´ch zemích v období kodifikovaného kanonického práva, Olomouc 2015, S. 92 f. Zum 01. 01. 2011 wurde Jirˇí Dvorˇácˇ ek als Richter am Metropolitangericht der Erzdiözese Prag vorwiegend für Rechtsfälle von Gläubigen des byzantinischen Ritus ernannt.

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III. Begriff der eigenberechtigten Kirche29 In Bezug auf das Verständnis der Rechtsnatur der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik soll an dieser Stelle kurz auf die Geschichte des Begriffs der eigenberechtigten Kirche (Ecclesia sui iuris) eingegangen werden, wie er im CCEO verwendet wird. Zum ersten Mal erschien der Begriff eigenberechtigt (sui iuris) als Bezeichnung für eine Kirchengemeinde im Motu proprio „Postquam apostolicis litteris“30 von Pius XII, wo in c. 303 § 1 anstelle des heutigen Ecclesia sui iuris noch die Verbindung ritus sui iuris verwendet wurde. Auch in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde der Begriff ritus unter anderem als Synonym für Teilkirche (CD 23, 27, 38; OE 2, 3, 4 etc.) benutzt. Teilkirche meint jedoch in den Konzilsdokumenten (LG 23, CD 11) auch die Diözese. Während der Arbeit am orientalischen Kodex wollte die Päpstliche Kommission für die Revision des Codex des orientalischen kanonischen Rechts aus der Bezeichnung für höhere kirchliche Einheiten den problematischen Begriff Ritus entfernen und die Bezeichnung Teilkirche beibehalten, während für Diözesen die Verbindung Ecclesia singularis31 vorgeschlagen wurde. Da dies jedoch nicht der Konzilsterminologie entsprach, hatten sich während der Arbeiten am Grundgesetz der Kirche (LEF) die Päpstliche Kommission für die Revision des Codex des orientalischen kanonischen Rechts und die Kommission für das Grundgesetz der Kirche geeinigt, dass die katholischen Kirchen des Ostens nicht mehr als Teilkirchen bezeichnet werden und für sie eine andere geeignete Terminologie gefunden werden sollte. Infolge dessen wurde die Bezeichnung Ecclesiae rituales sui iuris gewählt.32 Diese Verbindung wurde dann auch vom neuen Kodex der lateinischen Kirche übernommen, der sie in den cc. 111 u. 112 CIC/ 1983 verwendet. Bezieht sich der Begriff Rituskirche eigenen Rechts daher wirklich auf eine katholische Kirche, die von einem in ihr offiziell angewandten Ritus geprägt ist, der sie von anderen katholischen Kirchen abgrenzt, wie Salachas meint?33 Die Päpstliche Kommission für die Revision des Codex des orientalischen kanonischen Rechts lehnte den Begriff der Rituskirche als verwirrend ab, denn es gäbe öfters verschiedene eigenberechtigte Kirchen mit demselben Ritus. Daher werden im vorliegenden CCEO die Begriffe eigenberechtigte Kirche und Ritus in den cc. 27 und 28 § 1 CCEO getrennt definiert. Als eigenberechtigte Kirche wird nach c. 27 CCEO ein Coetus christifidelium hierarchia ad normam iuris iunctus, quem ut sui iuris expresse vel tacite agnoscit suprema Ecclesiae auctoritas bezeichnet. Ihre bestimmenden Elemente sind somit folgende: 29

Dazu auch Jirˇí Dvorˇácˇ ek, Vy´chodní kanonické právo. Úvod do studia, Praha 2014. Pius XII., MP „Postquam apostolicis litteris“, in: AAS 44 (1952), S. 65 – 150. 31 Nuntia 9 (1979), c. 1; Nuntia 19 (1984), c. 145. 32 Com 2 (1977), S. 299. Ivan Zˇ uzˇek, Le „Ecclesiae sui iuris“ nella revisione del diritto canonico, in: ders. (Hrsg.), Understanding the Eastern Code, Roma 1997, S. 102. 33 Vgl. Dimitrios Salachas/Luigi Sabbarese, Codificazione latina e orientale e canoni preliminari, Città del Vaticano 2003, S. 122 f. 30

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@ Es handelt sich um einen dauerhaften Zusammenschluss von Gläubigen, nicht nur um eine Gruppe; @ diese Gemeinschaft ist in die Hierarchie der katholischen Kirche eingebunden, wenn sie über ihren Hirten die communio mit dem Bischof von Rom wahrt; @ das geschieht durch die Existenz der tria vincula Bellarmins nach „Maßgabe des Rechts“, ist also nicht nur ein geistlich-charismatischer Vorgang; @ die ausdrückliche oder stillschweigende Anerkennung erfolgt seitens der höchsten Autorität der Kirche. Diese Definition der eigenberechtigten Kirche ist rechtstechnisch, sie muss im Kontext des CCEO gesehen und kann nicht ohne ihn verstanden werden. Durch sie wird die Sicht der lateinischen Kirche als Rituskirche überwunden, auch wenn dieser Begriff im CIC/1983 formell beibehalten bleibt.34 Typologisch werden im CCEO folgende eigenberechtigte Kirchen unterschieden: Patriarchatskirchen (cc. 55 – 150 CCEO), Großerzbischöfliche Kirchen (cc. 151 – 154 CCEO), Metropolitankirchen (cc. 155 – 173 CCEO) und „andere eigenberechtigte Kirchen“ (cc. 174 – 176 CCEO).

IV. Die kanonistisch-juristische Natur der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik 1. Die Exarchie nach den Normen des CCEO35 Eine Exarchie als eigenständige Kirche zählt nach dem CCEO zu den „anderen eigenberechtigten Kirchen“, denen der CCEO nur drei Canones (cc. 174 – 176 CCEO) widmet.36 Diese ceterae Ecclesiae sui iuris sind negativ definiert, es handelt sich daher weder um Patriarchats- noch um Großerzbischöfliche Kirchen oder Metropolitankirchen sui iuris, wobei ihre hierarchische Struktur die gleiche ist wie in der lateinischen Kirche. Laut c. 174 CCEO sind diese Kirchen einem Hierarchen anvertraut, der in ihnen eine spezifische durch das allgemeine oder partikulare Recht bestimmte Jurisdiktion ausübt. Sie unterstehen nach c. 175 CCEO unmittelbar dem Apostolischen Stuhl. Es handelt sich üblicherweise um Apostolische Exarchien, eigenständige Eparchien oder unabhängige Klöster37 (cc. 433 u. 436 § 2 CCEO). Geführt werden diese Kir34 Vgl. Pio Vito Pinto (Hrsg.), Commento al Codice dei Canoni delle Chiese Orientali, Città del Vaticano 2001, S. 38 f. 35 Vgl. Dvorˇácˇ ek, Vy´chodní kanonické právo (Anm. 29), S. 66 f. 36 Die Exarchien in den drei höheren Kirchentypen behandeln die cc. 311 – 321 CCEO. 37 Als eigenberechtigtes Kloster wird ein solches Kloster bezeichnet, das unabhängig von einem anderen Kloster ist und gemäß eigenem, von der zuständigen Autorität approbiertem Typikon geleitet wird. Ein solches Kloster kann abhängige Klöster haben, von denen die als

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chen von einem Hierarchen, der als zuständige Autorität in Ausübung seiner gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt der Zustimmung Roms bedarf, wenn nichts anderes festgesetzt ist. Diese ceterae Ecclesiae sui iuris können in zwei Gruppen unterteilt werden: (1) Kirchen, die bereits über eine interne Struktur verfügen, zumeist in Form einer Exarchie und geführt von einem lokalen Exarchen; (2) Kirchen noch ohne eigene Struktur.38 Wenn eine Ostkirche noch nicht über eine eigene hierarchische Struktur verfügt, sondern von einem Hierarchen einer anderen eigenberechtigten Kirche geführt wird, kann man sie streng genommen nicht als (eigenberechtigte) Kirche bezeichnen.39 Den Exarchien und Exarchen werden im Titel VIII des CCEO nur 11 Canones gewidmet.40 C. 311 CCEO definiert die Exarchie als Teil des Volkes Gottes, „der wegen besonderer Umstände nicht als Eparchie errichtet und der, territorial oder auf andere Weise umschrieben, dem Exarchen zu weiden anvertraut ist.“ Ursprünglich war ein Exarch ein militärischer oder politischer Statthalter, der in frühbyzantinischer Zeit den Kaiser vertrat. In der religiösen Terminologie bezog sich der Begriff des Exarchen auf alle Hierarchen, die eventuell Metropoliten, Großerzbischöfe oder sogar Patriarchen in großen Metropolen waren, welche sich außerhalb des eigenen Territoriums befanden oder die für andere ethnische Gruppen errichtet wurden. In diesen Fällen war der Exarch ein Delegierter des Patriarchen.41 Die Rangbezeichnung Exarch in seiner ursprünglichen Bedeutung wird heute noch in den nichtkatholischen Ostkirchen verwendet.42

Filialklöster bezeichnet werden, die die Stellung eines eigenberechtigten Klosters anstreben können. 38 Diese Kirchen könnten nach Szabó „Ecclesiae sui iuris in fieri“ bezeichnet werden (Péter Szabó, L’attività legislativa sui iuris delle Chiese „minori“ di tradizione bizantina, in: PCLT, Il Codice delle Chiese orientali. La storia, le legislazioni particolari, le prospettive ecumeniche. Atti del convegno di studio tenutosi nel XX anniversario della promulgazione del Codice dei canoni delle Chiese orientali. Roma, 8 – 9 ottobre 2010, Città del Vaticano 2011, S. 309). 39 Vgl. Szabó, L’attività legislativa sui iuris delle Chiese „minori“ di tradizione bizantina (Anm. 38), S. 310, Anm. 6. 40 Im Unterschied zur vorherigen Gesetzgebung im MP „Cleri sanctitati“, in welcher den Exarchien 29 Canones gewidmet waren (cc. 362 – 391 CS). 41 Vgl. Marco Brogi, Exarchy and exarchs, in: A Guide to the Eastern Code, hrsg. v. George Nedungatt, Rome 2002, S. 249. 42 Im Projekt der Normen für Untersuchung des orientalischen Kirchenrechts, ausgearbeitet von der Fakultät des Kirchenrechts PIO im Jahre 1973, wurde vorgeschlagen, die bisherige Praxis zu verlassen und die Exarchen als Apostolische Vikare bzw. die Exarchien entsprechend als Apostolische Vikariate zu bezeichnen (also nach der üblichen Praxis der lateinischen Kirche) und den Begriff Exarchie dann nach der orthodoxen Tradition zur Bezeichnung der Großerzbistümer und Exarch für den Großerzbischof vorzubehalten (Nuntia 1 [1973], S. 30 f).

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Der orientalische Codex unterscheidet zwischen Patriarchalexarchien bzw. Exarchien innerhalb der Großerzbistümer und anderen, d. h. Apostolischen Exarchien. Errichtung, Änderung und Aufhebung der Exarchien innerhalb der Grenzen der Patriarchatskirchen stehen laut c. 85 § 3 CCEO dem Patriarchen (bzw. dem Großerzbischof) mit Zustimmung der Ständigen Synode zu; die Errichtung, Änderung und Aufhebung von anderen Exarchien obliegt dem Apostolischen Stuhl. Exarchen sollten Bischöfe sein; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass ein Geistlicher ohne Bischofsweihe zum Exarchen ernannt wird (c. 321 § 1 CCEO). Dies passiert jedoch sehr selten, derzeit werden alle Apostolischen Exarchien von Exarchen mit Bischofsweihe geleitet.43 Für die Exarchien und Exarchen gelten die Bestimmungen des CCEO über Eparchien und Eparchen, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich anderes bestimmt oder wenn es sich nicht aus der Natur der Sache ergibt (c. 313 CCEO). Die Frage der Leitung der Exarchie ist im CCEO sehr allgemein geregelt. Laut c. 312 CCEO verwaltet der Exarch eine Exarchie in eigenem Namen oder im Namen desjenigen, der ihn ernannt hat (Papst oder Patriarch). Im zweiten Fall entspricht die Stellung des Exarchen einem Apostolischen Vikar (wenn der Exarch Bischof ist) oder einem Apostolischen Präfekten (wenn er kein Bischof ist) der lateinischen Kirche nach c. 371 § 1 CIC/1983. Auf welche Art die Exarchie vom Exarchen geleitet wird (ob nomine proprio oder im Namen der Autorität, die ihn ernannt hat), sollte aus den Angaben über Errichtung oder Änderung der Exarchie hervorgehen, der CCEO beinhaltet diesbezüglich keine Einzelheiten. Es wird jedoch bereits aus dem Namen einer Exarchie (je nachdem, ob es sich um eine Apostolische oder territoriale Exarchie handelt) deutlich, dass bei den Apostolischen Exarchien der Exarch Vertreter des Heiligen Stuhls ist (d. h. er besitzt die stellvertretende ordentliche Leitungsgewalt), während er in eigenem Namen eine Exarchie dann leitet, wenn er einer territorialen Exarchie vorsteht. Das einzige Beispiel eines Exarchen in den katholischen Ostkirchen, der eine Exarchie nomine proprio führt, ist – mit Ausnahme der Patriarchalexarchien, deren Exarchen auch über eine eigenberechtigte ordentliche Leitungsgewalt verfügen können44 – der Exarch des Klosters von Santa Maria di Grottaferrata bei Rom45 als ter43

Vgl. aktuelle Angaben aus dem Aufsatz von Federico Marti, Gli ordinariati per i fedeli di rito orientale: una ricostruzione storico-giuridica, in: QDE 28 (2015), S. 16 – 37, in dem die Entwicklung der kirchlichen Organisationseinheiten für orientalische Katholiken zusammengefasst wird, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund geopolitischer oder kirchlicher Änderungen in außerordentlichen Situationen befanden. Im Aufsatz wird die Stellung der Patriarchalexarchien nicht behandelt. Man kann also nicht mit Sicherheit behaupten, dass auch alle diese Exarchien von Exarchen mit Bischofsweihe geführt werden (laut c. 314 § 1 CCEO kann die Patriarchalexarchie auch von einem Nicht-Bischof geleitet werden). 44 Die Patriarchalexarchien innerhalb der Patriarchatskirchen werden von Exarchen geführt, die nach c. 314 § 1 CCEO vom Patriarchen mit Zustimmung der Ständigen Synode ernannt werden, mit Beibehaltung der Bestimmungen des CCEO über die Bischofswahl (cc. 181 – 188 CCEO), wenn es sich dabei um Bischöfe handelt. Gewählt werden somit auch Patriarchalexarchen, welche die Exarchie in eigenem Namen führen würden, und zwar aufgrund ihres Titels.

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ritoriale Exarchie.46 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Heilige Stuhl nach c. 312 CCEO auch eine territoriale Exarchie, geführt vom Exarchen in eigenem Namen, errichten könnte. Denn im heutigen orientalischen Codex gibt es die Einschränkung, die es noch im Motu proprio „Cleri sanctitati“ in den cc. 362 – 365 gab, wonach die Einrichtung einer territorialen Exarchie immer an ein Kloster mit eigenem Territorium gebunden war, nicht mehr; in diesem Falle würde eine solche kirchliche Organisationseinheit einer territorialen Prälatur im Sinne des c. 370 CIC/ 1983 und nicht unbedingt einer Territorialabtei ähneln. Wenn man jedoch bedenkt, dass im Motu proprio „Catholica Ecclesia“47 Papst Pauls VI. eine grundlegende Abkehr von der Errichtung von Territorialabteien festgelegt wurde,48 kann man die Möglichkeit zur Einrichtung regionaler Exarchien (geführt von Exarchen in eigenem Namen) nur als außergewöhnlich betrachten, wie dies übrigens auch die Vorbereitungsarbeiten am CCEO bestätigen, nach denen eine Exarchie in erster Linie eine kirchliche Organisationseinheit sein sollte, die von einem Exarchen nicht in eigenem Namen verwaltet wird, sondern im Namen desjenigen, der ihn ernannt hat.49 Zurzeit überwiegen außerhalb der Patriarchatskirchen und Großerzbistümer somit die Apostolischen Exarchien (Übersicht s. u.).50 Als Exarchie kann daher eine Organisationseinheit ostkirchlichen Rechts bezeichnet werden, die in der Regel von einem Bischof des gleichen Ritus geführt wird, der eine eigenberechtigte oder stellvertretende ordentliche Leitungsgewalt für diesen Zusammenschluss von Gläubigen besitzt, die kirchlich strukturiert ist, aber noch nicht den Status einer Eparchie hat, weil sie dafür noch nicht ausgereift ist oder relevante Umstände dagegen sprechen. Solche Exarchien sind in der Regel monorituell, was jedoch nicht ausschließt, dass sie nicht für Gläubige verschiedener eigenberechtigter Kirchen (s. beispielsweise die tschechische Apostolische Exarchie) gegründet werden könnten.51 Bezieht man das Obengenannte auf die Exarchie in der Tschechischen Republik, steht außer Zweifel, dass der Exarch der Apostolischen Exarchie in der Tschechi45 Vgl. Brogi, Exarchy and exarchs (Anm. 41), S. 250; Péter Szabó, L’abbazia „nullius dioecesis“ ed il monastero „stauropegiaco“. Comparazione storico-giuridica, in: Kanon XXI. Yearbook of the Society for the Law of the Eastern Churches, Hennef 2010, S. 267 – 286. 46 Die territorialen Exarchien (oder auch Exarchialklöster) werden vom Abt-Exarchen geführt und können mit der Territorialabtei (vormals Abtei nullius dioecesis) im Sinne von c. 370 CIC/1983 gleichgesetzt werden. Nach der vorherigen Regelung in „Cleri sanctitati“ (cc. 362 – 365 CS) waren die territorialen Exarchien nahezu identisch mit den Abteien nullius dioecesis nach CIC/1917. 47 Paul VI., MP „Catholica Ecclesia“, in: AAS 68 (1976), S. 694 – 696. 48 Diese Haltung wurde später dadurch gemildert, dass die territoriale Abtei als Form der territorial verfassten Ortskirche in den c. 370 CIC/1983 aufgenommen worden ist. 49 „Imprimis de exarchia agitur quam Exarchus regit nomine non proprio sed illius qui eum nominavit.“ (vgl. Nuntia 19 [1984], S. 19). 50 Vgl. Szabó, L’abbazia (Anm. 45), S. 280 – 282. 51 Es handelt sich um eine modifizierte Definition von Marti, Gli ordinariati (Anm. 43), S. 31.

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schen Republik diese nicht in eigenem Namen, sondern in Stellvertretung des Papstes leitet – anderes müsste sich ausdrücklich aus der Errichtungsurkunde der Apostolischen Exarchie oder aus den Ernennungsbullen der ersten beiden Apostolischen Exarchen ergeben. In der Praxis wirkt sich dies so aus, dass im Falle einer nach c. 316 CCEO gegen die Dekrete des Exarchen, der die stellvertretende ordentliche Leitungsgewalt besitzt, eingelegten Beschwerde die Angelegenheit dem Apostolischen Stuhl, konkret der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, vorgelegt wird. Wenn der Exarch die Exarchie jedoch in eigenem Namen leitet, würde man nach den cc. 996 – 1006 CCEO über Beschwerden gegen Verwaltungsdekrete vorgehen. In der tschechischen Apostolischen Exarchie ist freilich eine solche Situation der Beschwerde gegen ein Dekret des Exarchen bisher nicht eingetreten. 2. Die Apostolische Exarchie in der Tschechischen Republik aus Sicht des Päpstlichen Jahrbuchs „Annuario Pontificio“52 Im Jahrbuch des Heiligen Stuhls „Annuario Pontificio“ (Ausgabe von 2015, S. 1137 – 1139) wird die Apostolische Exarchie für die Gläubigen des byzantinischen Ritus in der Tschechischen Republik im Rahmen der Ruthenischen Kirche, einer der 23 katholischen Ostkirchen, erwähnt. Neben der tschechischen Apostolischen Exarchie gibt es nach der aktuellen Ausgabe des Päpstlichen Jahrbuchs (S. 1029 – 1033) folgende weitere Apostolische Exarchien: @ Apostolische Exarchie für Katholiken des byzantinischen Ritus in Bulgarien mit Sitz in Sofia (im „Annuario Pontificio“ als Bulgarische Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für griechische Katholiken des byzantinischen Ritus mit Sitz in Athen; @ Apostolische Exarchie für die Gläubigen des byzantinischen Ritus in der Türkei mit Sitz in Istanbul (im „Annuario Pontificio“ wie das Exarchat in Athen als Griechische Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Katholiken des byzantinischen Ritus in Mazedonien mit Sitz in Skopje (im „Annuario Pontificio“ als Mazedonische Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Katholiken des byzantinischen Ritus in Serbien und Montenegro mit Sitz in Novi Sad, Serbien (im „Annuario Pontificio“ im Rahmen der Byzantinischen Kirche in Kroatien und Serbien aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Russen des byzantinischen Ritus und für alle Ost-Katholiken mit Sitz in Harbin, China;

52 Das Päpstliche Jahrbuch ist kein offizielles Periodikum des Apostolischen Stuhls und informiert nur über den faktischen Stand. Aus den dortigen Angaben kann man somit keine direkten rechtlichen oder ekklesiologischen Schlussfolgerungen ziehen.

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@ Apostolische Exarchie für Katholiken des byzantinischen Ritus in Russland (im „Annuario Pontificio“ wie das Exarchat in Harbin als Russische Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Maroniten in West- und Zentralafrika mit Sitz in Ibadan, Nigeria (im „Annuario Pontificio“ unter der Maronitischen Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Gläubige des armenischen Ritus in Lateinamerika und Mexiko, mit Sitz in Buenos Aires, Argentinien (im „Annuario Pontificio“ unter der Armenischen Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für melkitische griechische Katholiken in Argentinien mit Sitz in Córdoba; @ Apostolische Exarchie für melkitische griechische Katholiken in Venezuela mit Sitz in Caracas (im „Annuario Pontificio“ wie das Exarchat in Córdoba im Rahmen der Melkitischen Griechisch-katholischen Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für Ukrainer des byzantinischen Ritus in Deutschland und Skandinavien mit Sitz in München (im „Annuario Pontificio“ im Rahmen der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für syrische Gläubige in Venezuela mit Sitz in Maracay (im „Annuario Pontificio“ im Rahmen der Syrischen Kirche aufgeführt); @ Apostolische Exarchie für die syro-malankarischen Gläubigen in den USA mit Hauptsitz in New York (im „Annuario Pontificio“ im Rahmen der Syro-Malankara-Kirche aufgeführt); @ Territoriale Exarchie Santa Maria di Grottaferrata (im „Annuario Pontificio“ im Rahmen der Byzantinischen Katholischen Kirche in Italien aufgeführt).53 Einschließlich der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik gibt es also insgesamt 16 Apostolische Exarchien, die sich in 13 Kirchen aufgliedern. Dieser Unterschied ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der im „Annuario Pontificio“ verwendete Begriff für Kirche nicht als juristisch selbstständige kirchliche Organisationseinheit oder gar im Sinne von eigenberechtigter Kirche nach c. 27 CCEO zu verstehen ist, sondern als ein Zusammenschluss, innerhalb dessen mehrere jurisdiktionell voneinander unabhängige kirchliche Organisationseinheiten existieren können, von denen nur einige Ecclesiae sui iuris sind (z. B. die Bulgarische Kirche). In diesem Zusammenhang stellt sich eine grundlegende Frage: Hat die Apostolische Exarchie in der Tschechischen Republik den Status einer eigenberechtigten Kirche? Sie stellt zwar eine direkt dem Apostolischen Stuhl untergeordnete kirchliche 53

Das „Annuario Pontificio“ führt noch die Apostolische Exarchie für Gläubige des byzantinischen Ritus in Miskolc an; da jedoch am 20. 03. 2015 die Ungarische Kirche zur Metropolitankirche sui iuris erhoben wurde, ist aus dieser Exarchie eine Eparchie geworden (vgl. http://press.vatican.va/content/salastampa/es/bollettino/pubblico/2015/03/ 20/0201/00454.html#PROV [Stand: 13. 08. 2015]).

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Organisationseinheit mit unabhängiger Jurisdiktion dar, deren Exarch über alle Befugnisse eines Eparchialbischofs verfügt; das bedeutet jedoch noch nicht, dass es sich um eine Kirche sui iuris nach den Kriterien des c. 27 CCEO handelt. Damit sie als eigenberechtigte Kirche bezeichnet werden könnte, müsste ein coetus christifidelium zumindest implizit vom Heiligen Stuhl als eigenberechtigte Kirche anerkannt werden. Derzeit besitzen von den Apostolischen Exarchien nur die Bulgarische, Griechische und Mazedonische Kirche den Status eigenberechtigt (sui iuris). Für die Apostolische Exarchie in Tschechien gilt, dass die Kongregation für die Orientalischen Kirchen ihre Stellung als eigenberechtigte Kirche weder bestätigt noch sich mit dieser Frage bis jetzt befasst hat. Allenfalls kann man von der Apostolischen Exarchie in Tschechien als Kirche sui iuris in fieri sprechen. Eine Zuerkennung des Status sui iuris seitens des Heiligen Stuhls könnte zum Beispiel mittels Anerkennung des Partikularrechts der Apostolischen Exarchie durch die Kongregation für die Orientalischen Kirchen erfolgen. Der heutige kanonische Status der tschechischen Apostolischen Exarchie ist daher vorläufig. Für die Zukunft bieten sich mehrere mögliche Lösungen an: (1) Die Schaffung von Bedingungen zur Statusänderung der Apostolischen Exarchie in eine Eparchie, was jedoch eine tiefere historische Verankerung, die Existenz einer lokalen Hierarchie und eine größere Anzahl von Gläubigen voraussetzt. Es ist anzunehmen, dass sich die Gläubigen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer immer größeren Anzahl von Migranten überwiegend aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern zusammensetzen werden. Logisch wäre dementsprechend eine Erweiterung der Jurisdiktion der Apostolischen Exarchie auf alle Ost-Katholiken, und nicht länger die Beschränkung auf die Gläubigen des byzantinischen Ritus. Dies würde auch zu einer schnelleren Erfüllung der Kriterien für die Errichtung als Eparchie führen. Der Übergang zur Eparchie erscheint am logischsten und am ehesten durchführbar, in diese Richtung sollten die Anstrengungen der Apostolischen Exarchie im Hinblick auf ihre zukünftige Entwicklung gelenkt werden. (2) Aufgrund der großen Anzahl ukrainischer Gläubiger in der Apostolischen Exarchie die Unterordnung derselben unter die Ukrainische griechisch-katholische Kirche in Form einer extraterritorialen Eparchie. Diese Lösung wäre zwar theoretisch möglich, würde jedoch wahrscheinlich auf Ablehnung seitens anderer nicht-ukrainischer Gläubiger stoßen, wäre politisch unhaltbar – die Kirchenleitung hätte ihren Sitz in einem anderen Land – und würde zu einer faktischen Nationalisierung der Kirche führen, was ethnische Spannungen und innere Instabilität zur Folge haben könnte. Dieser Lösung ist auch die aktuelle Leitung der Apostolischen Exarchie abgeneigt. (3) Die beste Lösung im Hinblick auf eine Rückkehr zu den Wurzeln wäre wohl ein Anschluss in Form einer extraterritorialen Eparchie an die Eparchie Mukachevo; aus ähnlichen Gründen wie in Punkt (2) erscheint dies jedoch nicht als real.

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(4) Theoretisch könnte man aufgrund der gemeinsamen Tradition und gemeinsamer Wurzeln auch den Anschluss an die Slowakische Metropolitankirche ebenfalls in Form einer extraterritorialen Eparchie in Betracht ziehen. Auch diese Option ist aus ähnlichen Gründen wie in Punkt (2) eher unwahrscheinlich, zumal die Apostolische Exarchie bereits einmal Teil der slowakischen Kirche war. (5) Die Eingliederung der Apostolischen Exarchie in die lokale kirchliche Struktur der lateinischen Kirche unter Beibehaltung ihrer Bestimmung für die Gläubigen des byzantinischen Ritus im Sinne des c. 916 § 5 CCEO. Dies würde eine Änderung des Rechtsstatus der Apostolischen Exarchie sowohl im kanonischen als auch im staatsrechtlichen Sinne bedeuten, genauer gesagt dessen Auflösung in die Struktur der lateinischen Kirche in der Tschechischen Republik. Die Folge wäre das faktische allmähliche Erlöschen der griechisch-katholischen Kirche in Tschechien. Auch wenn das realistisch erreichbare Ziel eine Eparchie und auf lange Sicht die Einrichtung einer Metropolitanstruktur sein sollte, erscheint keine dieser Lösungen in unmittelbarer Zukunft als wahrscheinlich und außer Punkt (1) auch angemessen. Darüber hinaus muss angemerkt werden, dass, obwohl diese Exarchie für alle sich in der Tschechischen Republik aufhaltenden Katholiken des byzantinischen Ritus, d. h. faktisch für die griechisch-katholischen Slowaken und Tschechen, für die transkarpatischen Ruthenen, die zwischen den beiden Weltkriegen in die damalige Tschechoslowakei kamen, und für die Ukrainer und Weißrussen, die derzeit in der Tschechischen Republik leben (das Kriterium ist somit der gemeinsame byzantinische Ritus und das gemeinsame Territorium), errichtet wurde, sie dennoch im „Annuario Pontificio“ unter die Ruthenische Kirche eingeordnet ist – also nach ethnischen Gesichtspunkten. Allerdings erweist sich diese Eingliederung selbst als problematisch, denn nach der Einrichtungsbulle entspricht dies nicht der territorialen und rituellen Abgrenzung der Apostolischen Exarchie – sie ist bestimmt für die Gläubigen des byzantinischen Ritus in der Tschechischen Republik. Die Eingliederung unter die Ruthenische Kirche kann auch deswegen als unglücklich angesehen werden, weil sie nicht der ethnischen Zusammensetzung der Gläubigen der Apostolischen Exarchie entspricht; im Gegenteil, sie erweckt den Eindruck einer jurisdiktionellen Unterordnung unter die beiden anderen Ruthenischen Kirchen, der Metropolie von Pittsburgh und der Eparchie Mukachevo. Es wäre passender, die Apostolische Exarchie innerhalb des Päpstlichen Jahrbuchs unter dem Namen „Griechisch-katholische Kirche in der Tschechischen Republik“ aufzuführen.54 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt auch Péter Szabó, wenn er von einer multiethnischen Realität der tschechischen Apostolischen Exarchie ausgeht, die nicht unter einer überdachenden Kirche , So der Vorschlag von Cyril Vasil, des Sekretärs der Kongregation für die Orientalischen Kirchen; Cyril Vasil’, Etnicità delle Chiese sui iuris e l’Annuario Pontificio, in: Luis Okulik (Hrsg.), Le Chiese sui iuris. Criteri di individuazione e delimitazione. Atti del Convegno di Studio svolto a Kosˇice (Slovacchia) 06.–07. 03. 2004, Venezia 2005, S. 107. Dvorˇácˇ ek, Vy´chodní kanonické právo (Anm. 29), S. 48 f. 54

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eingeordnet werden kann, wie es im „Annuario Pontificio“ der Fall ist. Ihm zufolge ist unklar, ob es sich um eine juristisch eigenständige Kircheneinheit oder um einen extraterritorialen Teil anderer eigenberechtigter Kirchen handelt.55

V. Zusammenfassung Im Rahmen dieses Artikels wurden am Anfang die grundlegenden historischen Ereignisse zum Verständnis der Bildung einer unabhängigen Exarchie der Griechisch-Katholischen Kirche in der Tschechischen Republik dargelegt. Danach folgte eine Zusammenfassung der aktuellen kurzen Geschichte der Apostolischen Exarchie in der Tschechischen Republik seit ihrer Gründung im Jahr 1996 und ein kurzer Abschnitt über deren gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt. Für das Verständnis des rechtlichen Status der Apostolischen Exarchie war es wichtig, kurz den kanonischen Begriff der eigenberechtigten Kirche abzuhandeln und über die Bedingungen zu sprechen, unter denen eine bestimmte Religionsgemeinschaft als ecclesia sui iuris anerkannt wird. Anhand einer Analyse der kanonischen Stellung einer Exarchie innerhalb des CCEO und nach dem Jahrbuch des Heiligen Stuhls „Annuario Pontificio“, das eine Liste aller Apostolischen Exarchien führt, können die zwei anfangs gestellten Fragen beantwortet werden: Dass nämlich, obwohl die Apostolische Exarchie einige Kriterien der Definition der eigenberechtigten Kirche nach c. 27 CCEO erfüllt, sie vom Heiligen Stuhl bisher weder ausdrücklich noch implizit als solche anerkannt wurde, was jedoch nichts an ihrer Rechtsstellung und direkten Unterordnung unter den Apostolischen Stuhl ändert. Und: Der Apostolische Exarch regiert die tschechische Exarchie im Namen des Papstes, seine Leitungsgewalt ist eine stellvertretende und ordentliche. Wichtiger als die genaue gesetzliche Definition erscheint jedoch die Lebensfähigkeit und Weiterentwicklung dieser kirchlichen Institution, deren Fortbestand sehr wichtig zur Aufrechterhaltung der lebendigen Tradition des östlichen Christentums in Tschechien ist. Diese gewinnt an Bedeutung auch im Hinblick auf die erhebliche Zahl an überwiegend ukrainischen Migranten. Die Existenz einer funktionierenden ostkatholischen Kirche auf dem Territorium der Tschechischen Republik ist nicht nur äußerst wünschenswert, um diese Menschen in die Gesellschaft integrieren zu können, sondern auch um ihres Seelenheiles willen.

55

Vgl. Szabó, L’attività legislativa (Anm. 38), S. 309 – 311.

Eherechtliche Verfahrensvorschriften im anglikanischen Kirchenrecht Von Hanns Engelhardt Die anglikanische Kirchengemeinschaft wird in ökumenischer Betrachtung meist – und nicht ohne Grund – zwischen den unzweifelhaft in der katholischen Tradition stehenden Gemeinschaften wie der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirchenfamilie und den protestantischen Kirchengemeinschaften angesiedelt. Eine solche Zwischenstellung nimmt auch das anglikanische Kirchenrecht ein.1 Während dem Eherecht der römisch-katholischen Kirche eine eingehende kanonische Regelung und eine große Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen gewidmet worden sind, ist die Zahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit den kirchenrechtlichen Folgen des evangelischen Eheverständnisses befassen, eher gering.2 Ähnlich ist es beim anglikanischen Eherecht.

I. Rechtsquellen Im Gegensatz zur römischen Weltgemeinschaft gibt es in der anglikanischen Weltgemeinschaft kein einheitliches, aus einer gemeinsamen Quelle fließendes Recht. Insofern ähnelt die anglikanische Gemeinschaft den protestantischen Kirchen.3 Auch bei den orthodoxen Kirchen ist die Lage insofern anders, als sie sich zumindest an die Kanones der von ihnen anerkannten ökumenischen Konzilien recht-

1

Vgl. Hanns Engelhardt, Art. Anglikanisches Kirchenrecht, in: LKStKR 1, S. 106 – 108. So gibt der Beitrag von Anne Käfer, Die Liebe duldet alles. Von der kirchlichen Trauung wiederverheirateter Geschiedener aus evangelischer Sicht, in: Markus Graulich/Martin Seidnader (Hrsg.), Zwischen Jesu Wort und Norm. Kirchliches Handeln angesichts von Scheidung und Wiederheirat (= QD 264), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2014, S. 101 – 127 zu Fragen des geltenden evangelischen Kirchenrechts eher wenig her (im Gegensatz zu dem konzentrierten und klaren Beitrag von Anargyros Anapliotis, Ehescheidung und Oikonomia im kanonischen Recht der orthodoxen Kirche, S. 127 – 144 in demselben Band); zum evangelischen Kirchenrecht vgl. schon Hanns Engelhardt, Ehe, Eheschließung, Ehescheidung und Wiedertrauung in der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Die Kirchen und die Ehe (= ÖR Beiheft 46), Frankfurt a. M. 1986, S. 30 – 43; zusammenfassend Dietrich Pirson, Eherecht 1. Ev., in: LKStKR 1, S. 526 – 528. 3 Mit Ausnahme vielleicht der weltweiten United Methodist Church, deren Rechtsordnung aber den einzelnen Kirchengebieten einen weiten Gestaltungsspielraum lässt. 2

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lich gebunden fühlen.4 Im anglikanischen Bereich gilt der Grundsatz, dass jede Nationalkirche befugt ist, ihre kirchliche Ordnung unabhängig entsprechend den konkreten Notwendigkeiten von Ort und Zeit zu gestalten.5 Man wird zwar davon ausgehen können, dass bei der Errichtung neuer autonomer Kirchenprovinzen6 das bisher geltende Recht in der neuen Provinz, soweit es ihrem neuen Recht nicht widerspricht, zunächst weitergilt; es steht aber unter dem Vorbehalt der Änderung durch die in der neuen Provinz für die Gesetzgebung zuständigen Organe. Innerhalb der autonomen Kirchenprovinzen bestehen mehrere Ebenen der Rechtsetzung, die in den verschiedenen Provinzen unterschiedliches Gewicht besitzen. Immer gibt es grundsätzlich die Ebene der Kirchenprovinz, die man meist auch national- oder regionalkirchlich nennen kann, und die der einzelnen Diözese. In den größeren Kirchenprovinzen, die in mehrere interne Provinzen gegliedert sind (z. B. England, Australien, Kanada, Nigeria, neuerdings auch Westafrika), besteht dazwischen noch eine internprovinziale Ebene. Dabei liegt etwa in England das Hauptgewicht der kanonischen Rechtsetzung bei der Nationalkirche, der gegenüber die Kirchenprovinzen Canterbury und York und die einzelnen Diözesen völlig zurücktreten. In der US-amerikanischen Episkopalkirche (TEC) haben die einzelnen Diözesen größeres Gewicht, die – noch jungen – internen Provinzen jedoch nicht. In Kanada haben die internen Provinzen ein großes Gewicht bei der Gesetzgebung, insbesondere eigene Verfassungen und „Canons“. In der Anglikanischen Kirche Australiens (ACA) schließlich kann jede einzelne Diözese unabhängig entscheiden, ob sie nationalkirchliche „Canons“, die „affect the order and good government of the Church within a diocese“, in das Recht der Diözese übernimmt (Sec. 30 Verfassung der ACA).7 Während es also in der anglikanischen Kirchengemeinschaft kein gemeinsames, für alle Provinzen verbindliches Eherecht oder Eheverfahrensrecht gibt, hat eine 4 Vgl. im Einzelnen Richard Potz/Eva Synek, Orthodoxes Kirchenrecht. Eine Einführung (= Kirche und Recht 25), Freistadt 2007, S. 204 ff. 5 Vgl. The Principles of Canon Law Common to the Churches of the Anglican Communion (zu deren Bedeutung vgl. weiter unten in diesem Abschnitt), published by The Anglican Communion Office, London, UK 2008 (im Folgenden zitiert als P mit Nummer), P 12: „Autonomy and interdependence 1. Each church is autonomous in respect of its freedom of selfgovernment. 2. Each autonomous church is free to order and regulate its affairs through its own system of government and law. [… ] 5. No church is legally bound by a decision of any ecclesiastical body external to itself, unless that decision is authorised under or incorporated into its own law.“ 6 Dazu „Guidelines for the Creation of new Provinces and Dioceses“ des Anglican Consultative Council (online verfügbar unter: http://www.anglicancommunion.org/media/221842/ Guidelines-for-Creation-of-New-Provinces-Resource.pdf [Stand: 30. 10. 2016]). 7 Ob diese Voraussetzung („affect the order and good government of the Church within a diocese“) vorliegt, entscheidet zunächst die Generalsynode selbst; wenn zwischen ihr und einer Diözese eine Meinungsverschiedenheit entsteht, entscheidet das Appellate Tribunal der ACA.

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Gruppe von Legal Advisers allgemeine Grundsätze formuliert, die – mehr oder weniger – den Regelungen der einzelnen Kirchenprovinzen – auch im Bereich des Eheund Trauungsrechts – zugrunde liegen.8 Diese Grundsätze sind keine unmittelbar geltenden Rechtssätze. Sie sind deskriptiv für das, was in den einzelnen Kirchenprovinzen in der Regel gilt, für diese aber nicht verbindlich. Wenn eine Kirchenprovinz eine abweichende Regelung erlässt, dann beeinträchtigt dies lediglich die Allgemeinheit der Grundsätze, nicht aber die Geltung des provinzialen Rechts. Mit Fragen des kirchlichen Eherechts befassen sich P 70 – 75. Nach P 70, 1 ist die Ehe „an exclusive lifelong union, signifying the mystical union that is between Christ and his Church, effected on the free exchange of consents between one man and one woman joined together by God as husband and wife and lasting until the death of one spouse.“

Schon hier zeigt sich die begrenzte Bedeutung der „Principles“, denn die amerikanische Episkopalkirche hat 2015 die Einschränkung des Ehebegriffs auf Verbindungen zwischen Mann und Frau ausdrücklich aufgehoben.9 Insofern ist dieser Grundsatz nicht mehr „common to the Churches“ of the Anglican Communion. (1) In der Kirche von England, der Mutterkirche der anglikanischen Gemeinschaft, deren Kirchenrecht der Ausgangspunkt der Entwicklung des anglikanischen Kirchenrechts ist, galt nach der henrizianischen Reform des 16. Jahrhunderts und ihrer Bestätigung durch das sog. „Elizabethan Settlement“10 das vorher geltende kirchliche Eherecht11 einschließlich des dazugehörigen Verfahrensrechts grundsätzlich weiter. Lediglich die Appellationen nach Rom wurden abgeschafft,12 und das Trennungsrecht wurde im Lauf der Zeit immer mehr durch Einzelfallgesetze des Parlaments überlagert, durch die einzelnen Personen der Rechtsstatus als unverheiratet zuerkannt und damit die Möglichkeit einer Wiederheirat eröffnet wurde.13 Am Ende dieser Entwicklung steht der „Marriage Act 1857“, durch den die Ehescheidung a vinculo gesetzlich eingeführt, ein staatliches Scheidungsgericht errichtet und ihm die Kompetenzen übertragen wurden, die bis dahin von den kirchlichen Gerichten wahrgenommen worden waren. Neben diesem Gesetz und den im Folgenden erlas8

Vgl. Anm. 5. Vgl. Hanns Engelhardt, Marriage and Divorce in Anglican Canon Law, in: Folia theologica et canonica 2016, Suppl., S. 49 – 71, hier S. 67. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass einzelne Diözesen an dem Grundsatz festhalten (so z. B. die Diözese Albany; vgl. deren Can. XVI). Auch in Kanada gilt der Grundsatz nur noch, soweit die einzelnen Diözesen sich daran halten. 10 Dazu James Vincent Perronet Thompson, Supreme Governor. A Study of Elizabethan Ecclesiastical Policy and Circumstance, London o. J. (1940), passim. 11 Dazu Richard H. Helmholz, Marriage Litigation in Medieval England, Cambridge 1974; Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 2. Bd., Wien/München 1955, S. 318 ff. 12 Vgl. Act in Restraint of Appeals von 1533, 24 Henry VIII c. 12, abgedruckt in: Henry Gee/William John Hardy, Documents Illustrative of English Church History, London 1896, S. 187. 13 Zu dieser Entwicklung vgl. Engelhardt, Marriage and Divorce (Anm. 9), S. 61 – 63. 9

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senen Ehegesetzen stehen nunmehr „Measures“, von der Generalsynode beschlossene und vom Parlament bestätigte Kirchengesetze, die den Parlamentsgesetzen im Hinblick auf ihre parlamentarische Bestätigung im Rang gleich stehen,14 im vorliegenden Zusammenhang vor allem die „Pastoral Measure“, die mit ihrer Regelung über die Bestimmung der Pfarrkirche15 den Ort einer zulässigen Trauung bestimmt. Daneben blieben die kirchlichen Bestimmungen der „Canons“ von 1603/1604 als kirchliches Recht in Kraft, bis sie durch die jetzt geltenden „Canons“, insbesondere Can. B 30 – 36, abgelöst wurden. So stehen heute der „Marriage Act 1949“16 und vor allem diese „Canons“ nebeneinander, wobei ihre Inhalte sich teilweise überschneiden, da das Parlamentsgesetz einen besonderen Abschnitt „Marriage According to Rites of the Church of England“ enthält, der weitgehend an das traditionelle kirchliche Eherecht anknüpft, abgesehen freilich von der Möglichkeit der Ehescheidung. Die Frage der gleichgeschlechtlichen Ehen ist daneben in dem „Marriage (Same Sex Couples) Act 2013“17 geregelt. Auf kirchlicher Seite hat die Generalsynode der Kirche von England 2002 einen „Advice to clergy concerning marriage and the divorced“ beschlossen, der freilich – wie schon der Name sagt – keine rechtsverbindlichen Normen, sondern nur eine Empfehlung enthält. (2) Das kanonische Recht der US-amerikanischen Episkopalkirche ist seit 1789 in „Constitution and Canons“ niedergelegt und im Laufe des folgenden Jahrhunderts zum Vorbild für andere unabhängig werdende Kirchenprovinzen geworden. Es enthielt ursprünglich keine eherechtlichen Vorschriften. Ob und wie weit das englische Kirchenrecht nach 1789 weiter galt, war Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse. Die Generalsynode befasste sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrmals mit der Ehe, jedoch nur unter dem Gesichtspunkt der Trauung Geschiedener. Ein eherechtlicher Kanon wurde erstmals 1904 eingeführt und im Lauf des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts mehrmals geändert.18 (3) In der Anglican Church of Canada (damals noch Church of England in Canada) beschloss die Generalsynode erstmals im Jahr 1902 einen Canon über die Ehe. Er wurde 1946 ergänzt durch die Ermächtigung der Bischöfe, Ehen, die durch ein staatliches Gericht geschieden worden waren, bei Vorliegen bestimmter Gründe für nichtig zu erklären und dadurch eine zweite kirchliche Trauung zu erlauben. Im Jahr 1967 beschloss die Generalsynode einen neuen Canon über die Ehe, der die Wiedertrauung Geschiedener in der Kirche neu regelt.

14

Vgl. Norman Doe, The Legal Framework of the Church of England, Oxford 1996, S. 17. Vgl. Sir William Dale, The Law of the Parish Church, London 19987, S. 21 f. 16 12 & 13 Geo. 6 Ch. 76. 17 2013 Eliz. II Ch. 30. 18 Vgl. dazu Engelhardt, Marriage and Divorce (Anm. 9), S. 57 – 59.

15

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(4) In der Church of Nigeria (Anglican Communion)19 – um auch eine nicht mehr so stark europäisch geprägte Kirchenprovinz einzubeziehen – ist das Eherecht in Can. XVII geregelt, und zwar der Ehebegriff (Sec. 1), die kirchliche Eheschließung und ihre Voraussetzungen (Sec. 2), insbesondere die Ehehindernisse (impediments) (Sec. 6), die Behandlung nach nichtchristlichem Recht geschlossener Ehen (Sec. 3), von Polygamisten (Sec. 4) sowie einer Reihe von Fällen irregulärer Ehen (Miscellaneous Rules) (Sec. 5).

II. Eheschließung Nach allgemeiner Auffassung – zumindest unter den Legal Advisers – hat jeder Mensch, der Mitglied, verbunden mit oder wohnhaft im Pfarreigebiet einer Kirche ist, einen Anspruch auf Trauung nach dem Ritus dieser Kirche und entsprechend den Bestimmungen ihres Rechts (P 71, 7). Andererseits kann jeder Geistliche die Vornahme einer Trauung verweigern, ebenfalls soweit das provinziale Recht dies vorsieht (P 71, 8). Diese Grundsätze lassen den provinzialen Gesetzgebern einen nicht unbeträchtlichen Gestaltungsspielraum. Schon vor der Eheschließung bestehen kanonische Verpflichtungen hinsichtlich der Ehevorbereitung. Die Eheschließung selbst setzt ein öffentliches Aufgebot oder eine bischöfliche Lizenz oder sonstige gesetzlich vorgesehene Erlaubnis voraus (P 72, 4). Der Geistliche muss vor der Trauung feststellen, dass kein Hindernis des kanonischen oder des staatlichen Rechts einer gültigen Eheschließung entgegensteht (P 72, 5). Wird ein solches Hindernis geltend gemacht, dann sollte die Trauung bis zur endgültigen Feststellung über sein Vorliegen aufgeschoben werden (P 72, 6). Generell gilt im anglikanischen Kirchenrecht, dass der ordentliche Leiter der Trauung („ordinary minister of holy matrimony“) ein Priester oder Bischof ist; wenn kein Priester erreichbar ist, kann auch ein Diakon entsprechend den jeweils einschlägigen Vorschriften die Trauungszeremonie leiten (P 73, 1 – 2).20 Für den Ablauf der Trauungszeremonie gelten die in den einzelnen Kirchenprovinzen erlassenen liturgischen Regelungen. (1) In der Kirche von England galt bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Grundsatz des mittelalterlichen kanonischen Rechts, nach dem für das Zustandekommen 19

So ihr offizieller Name. Soweit die kirchliche Trauung zugleich bürgerliche Wirkung hat, ist freilich zu beachten, ob das staatliche Recht, die Trauung durch einen Diakon zulässt. In einigen Kirchenprovinzen wie z. B. in Papua Neuguinea ist freilich im übrigen ausgesprochen, dass Empfänger und Spender des Ehesakraments die Ehepartner sind und der Priester „merely confects the marriage“ (vgl. Norman Doe, Canon Law in the Anglican Communion, Oxford 1998, S. 281). Hier kommt das traditionelle Trauungsverständnis der lateinischen Kirche wieder zum Vorschein. 20

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einer gültigen Ehe lediglich der erklärte Konsens der Partner erforderlich war.21 Das Dekret „Tametsi“ des Tridentinischen Konzils wurde in England weder publiziert noch übernommen.22 Klandestine Ehen waren zwar verpönt, aber gültig.23 Erst 1753 schuf das Parlament durch den „Act for the Better Preventing of Clandestine Marriage“24 eine der tridentinischen verwandte Regelung. Can. B 30, para. 3 erlegt dem Geistlichen der Kirche, in der die Trauung stattfinden soll, zunächst die Pflicht auf, dem Brautpaar die Lehre der Kirche über die Ehe und „die Notwendigkeit der Gnade Gottes für die rechte Erfüllung der ehelichen Verpflichtungen“ zu erklären. Sodann setzt die Trauung nach dem „Marriage Act 1949“, der insoweit mit Can. B 35 und der Rubrik zu der Trauliturgie im „Book of Common Prayer“ parallel läuft, grundsätzlich ein Aufgebot (banns of marriage) voraus, das in der Pfarrkirche25 (Sec. 6, Subsec. 4) an drei verschiedenen Sonntagen während des Morgengottesdienstes26 (Sec. 7, Subsec. 1) „in an audible manner“ zu verkünden ist. Das „Book of Common Prayer“, auf das das Ehegesetz im Übrigen verweist, schreibt einen bestimmten Wortlaut und sogar den genauen Zeitpunkt innerhalb des Gottesdienstes (nach der zweiten Lesung) vor. Gehören die Brautleute verschiedenen Pfarreien an, dann darf der Geistliche der einen die Trauung nur vollziehen, wenn ihm eine Bescheinigung des Geistlichen der anderen vorliegt, dass auch er das Aufgebot vorschriftsmäßig verkündet hat.27 Von dem Aufgebot kann abgesehen werden auf Grund einer special licence des Erzbischofs von Canterbury28 (Sec. 5, lit. b „Marriage Act 1949“; Can. B 34, Sec. 2) oder auf Grund einer common licence des Diözesanbischofs (Sec. 5, lit. c „Marriage Act 1949“; Can. B 34, Sec. 3).29 Der „Marriage Act 1949“ sieht neben der kirchlichen Eheschließung auch die Möglichkeit einer Eheschließung im Standesamt (register office) vor (Sec. 45). Anders als die römisch-katholische Kirche erkennt die Kirche von England – wie auch die anderen anglikanischen Kirchen – eine solche Eheschließung, bei der die Partner

21

Vgl. dazu Helmholz, Marriage Litigation (Anm. 11), S. 26 f. Vgl. Helmholz, Roman Canon Law in Reformation England, Cambridge 1990, S. 69 f. 23 Vgl. Helmholz, Roman Canon Law (Anm. 22), S. 71 f. Nach Rebecca Probert, Marriage Law & Practice in the Long Eighteenth Century: A Reassessment, Cambridge 2009, Kap. 2, setzte die Gültigkeit der Ehe auch vor 1753 die Konsenserklärung vor einem Geistlichen der Established Church voraus; andernfalls begründete die Konsenserklärung nur einen Anspruch auf Abschluss einer gültigen Ehe. 24 26 Geo II c. 33; „Lord Hardwicke’s Act“, nach dem damaligen Lordkanzler. 25 Oder in einer dafür speziell autorisierten Kapelle, in der die Brautleute gewöhnlich am Gottesdienst teilnehmen. 26 Oder, wenn kein solcher stattfindet, während des Abendgottesdienstes. 27 Vgl. auch Sec. 6 „Marriage Act 1949“. 28 In ganz England. 29 Dieselbe Wirkung hat ein „Superintendent Registrar’s Certificate“ nach Teil III des „Marriage Act 1949“ (Sec. 5, lit. c „Marriage Act 1949“). 22

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einen gültigen Ehewillen in einer vom staatlichen Recht anerkannten Form vor dem staatlichen Standesbeamten, erklärt haben, als gültig an.30 (2) In der Episkopalkirche verpflichtet Can. I, 18, Sec. 2 die Brautleute grundsätzlich, ihre Heiratsabsicht mindestens 30 Tage vor dem vorgesehenen Trauungstermin dem Geistlichen, der die Trauung vollziehen soll, mitzuteilen. Von diesem Erfordernis kann aus wichtigem Grund abgesehen werden, wenn (mindestens) ein Teil ein Mitglied der Gemeinde des Geistlichen ist oder beide Teile ausreichenden Beweis für die Notwendigkeit einer Abkürzung der Frist erbringen; in einem solchen Fall muss der Geistliche sofort (immediately) dem Bischof schriftlich berichten. Vor der Trauung müssen die Brautleute die folgende Absichtserklärung unterzeichnen: „We understand the teaching of the church that God’s purpose for our marriage is for our mutual joy, for the help and comfort we will give to each other in prosperity and adversity, and, when it is God’s will, for the gift and heritage of children and their nurture in the knowledge and love of God. We also understand that our marriage is to be unconditional, mutual, exclusive, faithful, and lifelong; and we engage to make the utmost effort to accept these gifts and fulfill these duties, with the help of God and the support of our community.“

Es fällt auf, dass die Erklärung – anders als in anderen Kirchenprovinzen – keine Bezug-nahme auf das Wesen der Ehe als „Verbindung eines Manns und einer Frau“ mehr enthält – eine Folge der Eherechtsänderung der Kirchenprovinz im Jahre 2015.31 (3) In der anglikanischen Kirche Kanadas ist das kirchliche Eherecht in Can. XXI geregelt. Es verpflichtet in Subsec. 2 den Gemeindepfarrer, wenn eine Trauung angemeldet wird, zu prüfen, ob ein Ehe- oder Trauungshindernis besteht, mit den Brautleuten die in Schedule E zu diesem Kanon im einzelnen genannten Gegenstände zu besprechen und ihnen dringend die Teilnahme an einem Ehevorbereitungskurs zu empfehlen. Eine Verpflichtung zur Teilnahme besteht jedoch nicht; keinesfalls kann die Trauung davon abhängig gemacht werden. Die Brautleute sollen auch ermutigt werden, die in Schedule A zu dem Kanon abgedruckte Erklärung über die Anerkennung des Wesens der Ehe („a union in faithful love, to the exclusion of all others on either side, for better or for worse, until we are separated by death“), die Verpflichtung zur Vorbereitung auf die Eheschließung und die Absicht, sich um die Erfüllung der Ehezwecke („the mutual fellowship, support, and comfort of one another, the procreation [if it may be] and the nurture of children, and the creation of a relationship in which sexuality may serve personal fulfillment in a community of faithful love“) zu bemühen, zu unterschreiben; eine Verpflichtung zur Unterzeichnung dieser Erklärung besteht jedoch, wie sich aus dem Wortlaut eindeutig ergibt („encouraged“) ebenfalls nicht. 30

Evelyn Garth Moore, An Introduction to English Canon Law, Oxford 1967, S. 87, Anm. 1; Timothy Briden/Brian Hanson, Moore’s Introduction to English Canon Law, London 19923, S. 76. 31 Vgl. dazu Engelhardt, Marriage and Divorce (Anm. 9), S. 49 – 72 u. 67.

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(4) Anders als in anderen Kirchenprovinzen, in denen die kirchliche Trauung nur voraussetzt, dass mindestens ein Teil getauft ist, bedarf in Nigeria eine Trauung, wenn nur ein Teil der Brautleute getauft ist, einer Dispens durch den zuständigen Bischof (Can. XVII, Sec. 2, 1). Ihre Erteilung setzt voraus, dass beide Partner der beabsichtigten Ehe ausdrücklich anerkennen, dass ihre Ehe eine christliche Ehe sein wird mit demselben Status wie eine Ehe unter Getauften (Can. XVII, Sec. 2, 2, lit. a), dass der ungetaufte Teil beabsichtigt, mit dem getauften nach dem christlichen Eherecht zusammenzuleben (Can. XVII, Sec. 2, 2, lit. b) sowie dass beide Teile sich ausdrücklich verpflichten, die Kinder aus der Ehe taufen zu lassen und christlich zu erziehen (Can. XVII, Sec. 2, 2, lit. b).

III. Nichtigkeit der Ehe Nach P 74, 1 kann eine Kirchenprovinz ein Verfahren vorsehen, in dem eine Person, deren Ehe nach staatlichem Recht durch Scheidung beendet oder für nichtig erklärt worden ist, bei dem zuständigen Bischof oder einer anderen für zuständig erklärten Kirchenbehörde eine Nichtigerklärung dieser Ehe oder eine Entscheidung über ihren Familienstand für den kirchlichen Bereich beantragen kann. Als mögliche Gründe für eine kirchliche Nichtigerklärung nennt P 74, 2 das Fehlen einer frei abgegebenen und angenommenen Konsenserklärung, der auf Eingehung einer lebenslangen Ehe gerichteten Intention oder des erforderlichen Ehefähigkeitsalters oder das Vorliegen von Verwandtschaft oder Schwägerschaft in einem verbotenen Grad. Freilich sehen keineswegs alle Kirchenprovinzen ein solches Verfahren vor. (1) Die Kirche von England besitzt seit der Einrichtung staatlicher Gerichte zur Entscheidung von Ehesachen kein kirchliches Verfahren zur Feststellung der Nichtigkeit einer Ehe mehr.32 Erwägungen zu seiner Einführung wurden von einer von den Erzbischöfen von Canterbury und York 1949 berufenen Kommission entschieden abgelehnt.33 Anlass der Erörterungen war, dass nicht allzu selten vom staatlichen Gericht Ehen geschieden wurden, die nach den Vorstellungen der Kirche nichtig waren, und dass in diesen Fällen eine neue kirchliche Eheschließung nicht möglich war. Die Kommission erwog und verwarf zwei Möglichkeiten: (a) Einrichtung von Kirchengerichten zur Nachprüfung, ob eine erfolgreiche Nichtigkeitsklage hätte erhoben werden können. Diese Lösung hielt die Kommission für kaum vereinbar mit der Stellung der Kirche von England als „established church“ und überdies für zu aufwändig. (b) Ermächtigung der Bischöfe, über die Zulässigkeit einer neuen Eheschließung in der Kirche zu entscheiden.34 Hiergegen führte die Kommission hauptsächlich an, 32

Vgl. Norman Doe, Legal Framework (Anm. 14), S. 357. Vgl. The Church and the Law of Nullity of Marriage. The Report of a Commission appointed by the Archbishops of Canterbury and York in 1949 at the request of the Convocation, London 1955, S. 41 ff. 34 Dieser Punkt gehört eigentlich zum nächsten Kapitel. Ich erwähne ihn hier wegen des engen Zusammenhangs mit dem vorangehenden. 33

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dass den Bischöfen die rechtliche Autorität und regelmäßig die juristische Erfahrung fehle, um die erforderlichen Beweise zu erheben und zu würdigen, ein informelles Verfahren eher pastoraler Art aber der Bedeutung der Vorschriften über die Nichtigkeit von Ehen nicht gerecht werde. Als am ehesten befriedigende Lösung sah die Kommission es daher an, durch entsprechende Aufklärung vor allem der Anwälte darauf hinzuwirken, dass in Nichtigkeitsfällen nicht unnötig auf Scheidungsverfahren ausgewichen werde. (2) In anderen Kirchenprovinzen bestanden vergleichbare Bedenken nicht. So trifft in der anglikanischen Kirche von Kanada Can. XXI, Part III eine ausführliche Regelung des Verfahrens über einen Antrag auf Feststellung des familienrechtlichen Status eines Kirchenmitglieds. Im Hinblick auf das grundsätzliche Verbot der kirchlichen Trauung einer Person, die bereits mit einer anderen Person, die noch lebt, eine Ehe geschlossen hat (Can. XXI, Sec. 9), kann ein Antrag auf Feststellung des Familienstandes (marital status) gestellt werden, wenn der Antragsteller eine Ehe mit einer noch lebenden Person geschlossen hat und geltend macht, dass die Eheschließungszeremonie keine Ehe im Sinne des Canons begründet hat; Voraussetzung ist, dass die frühere Ehe durch ein Gesetzgebungsorgan oder durch ein Gericht für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist oder wenn geltend gemacht wird, sie sei gemäß dem anwendbaren bürgerlichen Recht durch einen außergerichtlichen und nichtlegislativen Akt aufgelöst oder sonst beendet worden (Can. XXI, Subsec. 18, lit. a). Der bürgerliche Akt ist eine Verfahrensvoraussetzung, die sicherstellt, dass keine Ehe kirchlich geschlossen wird, die vom staatlichen Recht nicht anerkannt wird. Materiell entscheidend ist die Feststellung, dass die vorgenommene Eheschließungszeremonie keine Ehe im Sinne des Kanons begründet hat. Den Antrag stellen kann ein Kirchenmitglied (Can. XXI, Subsec. 18, lit. b, i) oder eine Person, die in der Kirche getraut werden will (Can. XXI, Subsec. 18, lit. b, ii). Der Antrag eines Kirchenmitglieds setzt nicht voraus, dass eine neue Eheschließung beabsichtigt ist. Wird er im Hinblick auf eine beabsichtigte Eheschließung gestellt, dann ist er an den Pfarrer der Gemeinde zu richten, in der die Eheschließung vollzogen werden soll (Can. XXI, Subsec. 18, lit. d), andernfalls an den Pfarrer der Gemeinde, in der der Antragsteller oder die Antragstellerin wohnt oder gewöhnlich am Gottesdienst teilnimmt (Can. XXI, Subsec. 18, lit. c). Der Pfarrer hat den Fall im Rahmen seiner Möglichkeiten zu untersuchen und den Antrag zusammen mit seinem Bericht auf dem Dienstweg dem zuständigen Chancellor der Diözese vorzulegen (Can. XXI, Subsec. 18, lit. e). Der Antrag bedarf der Schriftform (Can. XXI, Subsec. 19, lit. a). Ihm sind beizufügen @ eine von einer zuständigen Stelle ausgestellte Urkunde über die Vornahme oder die Registrierung der Eheschließungszeremonie (Subsec. 19, lit. b, i); @ das Original oder eine Abschrift des Gesetzgebungsaktes, Urteils oder Dekrets, durch das die frühere Ehe oder vorgebliche Ehe aufgelöst oder beendet worden

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sein soll (Schedule B, para. 10) sowie der dokumentarische Beweis von deren Authentizität (Subsec. 19, lit. b, ii); @ schriftliche Erklärungen, die alle erheblichen Tatsachen belegen, von denen der Antragsteller keine unmittelbare Kenntnis hat, und die von einer Person unterzeichnet sind, die von ihnen Kenntnis hat (Subsec. 19, lit. b, iii); @ bei Nichtvorliegen eines gesetzgeberischen oder gerichtlichen Aktes ein schriftlich begründetes Gutachten einer Person, die beruflich qualifiziert ist, sich gutachtlich zu dem in Betracht kommenden Recht zu äußern, dass die angebliche Ehe aufgelöst oder sonst beendet worden ist (Subsec. 19, lit. b, iv). Schedule B zu dem Canon enthält ins einzelne gehende Vorschriften für die Form des Antrags. Zuständig für Durchführung des Verfahrens und Entscheidung ist der Chancellor (Can. XXI, Sec. 20) der Diözese, in der der Pfarrer amtiert, bei dem der Antrag rechtmäßig gestellt worden ist. Er ist befugt, dem anderen Teil der früheren Verbindung sowie jeder anderen Person, die nach seiner Auffassung durch das Verfahren betroffen wird, von dem Antrag Mitteilung zu machen (Can. XXI, Schedule D, Sec. 2). Wenn die frühere Verbindung nicht durch den Akt eines zuständigen Gesetzgebungsorgans oder Gerichts nach ordnungsmäßiger Information des anderen Teils derselben für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist, ist er hinsichtlich dieses anderen Teils dazu verpflichtet (Can. XXI, Schedule D, Sec. 1). Der Chancellor ist ferner befugt, zu verlangen, dass alle ihm wesentlich erscheinenden Tatsachen durch eine statutory declaration35 oder eine vor ihm abzugebende mündliche Versicherung bewiesen werden und vorgelegte Dokumente ausreichend authentifiziert sind (Can. XXI, Schedule D, Sec. 5, lit. a u. b). Er kann eine mündliche Anhörung der Beteiligten durchführen oder davon absehen, wenn er sie nicht für erforderlich hält und der Antragsteller sie nicht beantragt (Can. XXI, Schedule D, Sec. 5, lit. f). Der Chancellor entscheidet, ob die frühere Eheschließung zu einer Ehe im Sinne des kirchlichen Rechts geführt hat (Can. XXI, Subsec. 20, lit. a). Kommt er zu dem Ergebnis, dass die frühere Eheschließung nicht zu einer Ehe im Sinne des kirchlichen Rechts geführt hat und dass diese Ehe oder angebliche Ehe nach den Vorschriften des staatlichen Rechts für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist, dann stellt er fest, dass die frühere Eheschließung nicht zu einer kirchlich gültigen Ehe geführt hat und daher kein Hindernis für eine (erneute) kirchliche Eheschließung darstellt (Can. XXI, Sec. 3, 20, lit. b, S. 1). Andernfalls stellt der Chancellor fest, dass ein Ehehindernis besteht (Can. XXI, Sec. 3, 20, lit. b, S. 2); dies gilt auch dann, wenn die Ehe nach den kirchlichen Vorschriften nichtig, aber im staatlichen Bereich nicht für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist. 35 Das ist in Kanada eine schriftliche Erklärung über Tatsachen, die von dem Erklärenden vor einer zur Abnahme von Eiden befugten Person bestätigt worden ist. Eine falsche Erklärung dieser Art ist wie Meineid strafbar.

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Werden neue Tatsachen bekannt, nachdem der Chancellor über den Antrag entschieden hat, dann kann er eine Wiedereröffnung des Verfahrens anordnen oder einen neuen Antrag zulassen (Can. XXI, Schedule D, Sec. 5, lit. g). (3) In der Episkopalkirche führte die General Convention 1931 in Can. 41, der Rechtsfragen der Eheschließung regelte, folgende Bestimmung ein: „Sec. 6 (i) Any person whose former marriage has been annulled or dissolved by a civil court may apply to the Bishop or to the Ecclesiastical Court constituted by Canon of the Diocese or Missionary District of the said person’s domicile to have the said marriage declared null and void by reason of any of the following impediments of marriage.“

Ein kirchliches Gericht wurde durch die General Convention nicht eingerichtet; ob dies je in einer Diözese durch Canones der Diözesansynode geschehen ist, habe ich nicht feststellen können. Ich gehe daher im weiteren von einer Entscheidung durch den Bischof aus. Im Folgenden wurden neun Ehehindernisse aufgeführt, darunter neben verbotenen Graden der Verwandtschaft und Schwägerschaft (Nr. 1), dem fehlenden Ehefähigkeitsalter (Nr. 6), dem Mangel eines freien Konsenses (Nr. 2), Geisteskrankheit einer Partei (Nr. 5), geistiger Behinderung einer Partei, die die Ausübung einer vernünftigen Wahl ausschließt (Nr. 4), Irrtum über die Identität der anderen Partei (Nr. 3) und Tatsachen, die die Ehe bigamisch machen würden (Nr. 9), auch die Impotenz einer Partei, die der anderen nicht offenbart worden war (Nr. 7) sowie das Vorliegen einer Geschlechtskrankheit bei einer Partei (Nr. 8). Dem Bischof wurde aufgegeben, nach Einholung juristischen Rates dem Antragsteller ein schriftliches Urteil zu erteilen, das im Diözesanarchiv auf Dauer aufzubewahren war. Eine Person, deren frühere Ehe durch den Bischof für nichtig erklärt worden war, konnte ohne weiteres erneut kirchlich getraut werden „as if he had never previously been married“ (Can. 41, Sec. 6, ii). Die General Convention von 1946 strich die Aufzählung der Nichtigkeitsgründe und ermöglichte damit dem Bischof, eine Ehe auch dann für beendet zu erklären, wenn sie aus anderen Gründen geschieden worden war.36 Außerdem ergänzte sie den Text insofern, als nun als möglicher Antragsteller „Any person, being a member of this Church in good standing“ genannt wurde. Man wird davon ausgehen können, dass auch der frühere Text („any person“) nur Mitglieder der Episkopalkirche im Auge hatte. Die nähere Umgrenzung „in good standing“ bedeutete indes eine Einschränkung. Eine Definition des Begriffs „in good standing“ wurde erst 1961 in Can. I, 1637 aufgenommen. Nach „Annotated Constitution and Canons“38 kodifizierte diese Bestimmung im wesentlichen das traditionelle Recht der Kirche;39 sie lautete: 36 Annotated Constitution and Canons for the Government of the Protestant Episcopal Church in the United States of America otherwise known as The Episcopal Church, 1. Bd., New York 1997, S. 416. 37 Die Zählung der „Canons“ war inzwischen insofern geändert worden, diese in den einzelnen Titeln getrennt gezählt wurden.

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„Sec. 2. All baptized persons who shall for one year next preceding have fulfilled the requirements oft he Canon, ,Of the Due Celebration of Sundays‘, unless for good cause prevented, are members of this Church in good standing.“

Erst die Erfüllung dieser Voraussetzung, nämlich zu „celebrate the Lord’s Day […] by regular participation in the worship of the Church, by hearing the Word of God read and taught, and by other acts of devotion and works of charity, using all gody and sober conversation“

berechtigte nunmehr zur Stellung des Antrags nach Can. I, 18, Sec. 2. Der Bischof hatte den Antrag durch ein schriftliches Urteil zu bescheiden, durch das er die Nichtigkeit oder die Beendigung der Ehe anerkennen (oder verneinen) konnte. Die Beschränkung des Antragsrechts auf „member(s) of this Church in good standing“ wurde durch die „General Convention“ von 1973 wieder beseitigt. Seitdem steht das Antragsrecht wieder „any member of this Church“ zu. Nach geltendem Recht kann also jedes Kirchenmitglied, dessen Ehe vom staatlichen Gericht für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist, unabhängig davon, ob es eine neue Ehe einzugehen beabsichtigt, eine Feststellung des Bischofs „as to his or her marital status in the eyes of the Church“ beantragen (Can. I, 19, Sec. 2, lit. a). Weder das Verfahren, das der Bischof einzuhalten hat, noch die Rechtswirkung der Entscheidung ist in den „Canons“ ausdrücklich geregelt. Zuständig für die Entscheidung ist der Bischof, in dessen Diözese der Antragsteller/die Antragstellerin den Wohnsitz hat (Can. I, 19, Sec. 2, lit. a, S. 1). Eine Einschaltung des zuständigen Pfarrers (zu Entgegennahme des Antrags und erforderlichen Vorermittlungen, aber auch zur Mitteilung der Entscheidung) schreibt das allgemeine kanonische Recht nicht vor; das hindert den Bischof aber nicht, den Pfarrer mit Ermittlungen oder auch mit der Übergabe der Entscheidung zu beauftragen. Nähere Bestimmungen über die Durchführung des Verfahrens, etwa ob der Bischof dem anderen (früheren) Ehepartner rechtliches Gehör zu gewähren hat, trifft das kanonische Recht der Episkopalkirche nicht. Das Urteil des Bischofs kann auf Anerkennung der Nichtigkeit oder der Beendigung der früheren Ehe lauten (Can. I, 19, Sec. 2, lit. a, S. 2);40 es ergeht schriftlich und ist auf Dauer im Diözesanarchiv aufzubewahren (Can. I, 19, Sec. 2, lit. b). Eine Mitteilung der schriftlichen Entscheidung an das antragstellende Kirchenmitglied, ist nicht ausdrücklich vorgeschrieben, versteht sich aber von selbst. Ausdrücklich ist festgestellt, dass die Entscheidung in keinem Fall die Legitimität 38

Eine gewissermaßen offiziöse (aber nicht authentische i. S. als solche verbindliche) Kommentierung von Verfassung und „Canons“. Es handelt sich dabei um die von einer Unterkommission der Standing Commission on Constitution and Canons besorgte, 1997 als „Reprint“ bezeichnete, ergänzte Neuauflage von 1981 des ursprünglich von Edwin Augustine White verfassten und in 2. Aufl. (1954) von Jackson A. Dykman bearbeiteten gleichnamigen Kommentars. 39 Annotated Constitution and Canons (Anm. 36), S. 390. 40 Die negative Entscheidung ist nicht ausdrücklich erwähnt; ihre Möglichkeit ergibt sich aber aus der Formulierung der Vorschrift („may be a recognition“). Ebenso wenig ist die Möglichkeit der Wiederholung des Antrags ausdrücklich geregelt.

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der Kinder oder die zivilrechtliche Gültigkeit der früheren Beziehung berührt (Can. I, 19, Sec. 2, lit. a, S. 2 Proviso).

IV. Erhaltung einer gefährdeten Ehe Die Verantwortung der Kirche für die Ehen ihrer Mitglieder endet nicht mit der Eheschließung. Deshalb fragt nach der Ordnung der Episkopalkirche der Zelebrant, nachdem er von den Eheleuten den Konsens erfragt hat, die Gemeinde: „Will all of you witnessing these promises do all in your power to uphold these two persons in their marriage?“

Und die Gemeinde ist aufgefordert zu antworten: „We will.“

(1) In der amerikanischen Episkopalkirche befasst Can. I, 18, Sec. 1 sich mit dem Fall, dass eine Ehe durch „dissension“, worunter man eine große Variationsbreite von einfachen Meinungsverschiedenheiten bis zu einem völligen Auseinanderleben fassen kann, in ihrem Bestand bedroht ist. In diesem Fall verpflichtet die Vorschrift zunächst „either or both parties“, vor der Erwägung rechtlicher Schritte die Sache einem Geistlichen vorzulegen, und diesen Geistlichen, sich um eine Versöhnung der Partner zu bemühen. Die Bestimmung nimmt keinen Bezug auf die kirchliche Zugehörigkeit der Ehepartner. Sie gilt daher auch, wenn nur eine(r) von ihnen der Episkopalkirche angehört. Die kanonische Verpflichtung trifft freilich in diesem Fall nur den kirchenangehörigen Ehegatten, da das Kirchenrecht Verpflichtungen grundsätzlich nur für Kirchenmitglieder begründen will und kann. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich daraus aber nicht, denn die Verpflichtung ist mit keiner Sanktion belegt. Insbesondere wirkt ihre Verletzung sich grundsätzlich nicht in einem späteren eherechtlichen Verfahren aus. Die Möglichkeit, einen Geistlichen gemäß Can. I, 18, Sec. 1 um Rat und Hilfe anzugehen, besteht allerdings auch für einen der Kirche selbst nicht angehörenden Ehepartner eines Kirchenmitglieds; auch in diesem Fall besteht die Hilfspflicht des Geistlichen. Lediglich wenn keiner der Partner der Episkopalkirche angehört, besteht kein Anspruch auf die Hilfe des Geistlichen; in einem solchen Fall kann ein Betroffener einen Geistlichen nur privat um Hilfe bitten, ohne dass dadurch eine kanonische Handlungspflicht des Geistlichen ausgelöst wird. Die Befassung eines bestimmten Geistlichen ist nicht vorgeschrieben. Insbesondere müssen die Ehepartner sich nicht an den für sie zuständigen Gemeindepfarrer wenden. Sie sind in ihrer Wahl frei. Der angesprochene Geistliche darf niemanden unter Berufung auf Unzuständigkeit an einen anderen, etwa den zuständigen Gemeindepfarrer, verweisen. Der angegangene Geistliche ist verpflichtet, „to labor that the parties may be reconciled“. Zu diesem Zweck wird er mit beiden Partnern zu sprechen haben, wenn

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möglich mit beiden zusammen. Ziel der Beratung ist die Versöhnung der Partner. Kommt der Geistliche zu der Überzeugung, dass nur eine oberflächliche Versöhnung möglich wäre, die die grundsätzlichen Probleme ungelöst ließe und deshalb nur zu Perpetuierung einer im Grunde zerrütteten Beziehung führen würde, dann wird er durch die Zielvorgabe nicht gehindert, den Partnern zu einer Trennung zu raten und ihnen zu helfen, diese friedlich im Geiste der Nächstenliebe durchzuführen. (2) In der Anglikanischen Kirche Kanadas dehnt Can. XXI die Verpflichtung, zur Unterstützung gefährdeter Ehen beizutragen, auf alle Kirchenmitglieder („the laity“) aus, die diese Verantwortung mit dem Klerus teilen („share“) (vgl. Can. XXI, Preface 8, lit. c u. f). Für die Ehepartner spricht Can. XXI eine dem Can. I, 18, Sec. 1 der Episkopalkirche entsprechende Verpflichtung nicht aus. In Can. XXI, Sec. 27, lit. b ist lediglich als Voraussetzung einer Genehmigung zur Wiederheirat Geschiedener festgelegt, dass der betroffene Antragsteller sich vor der Auflösung der früheren Ehe ehrlich um eine Versöhnung mit dem anderen Teil bemüht hat; von dieser Voraussetzung kann jedoch dispensiert werden, wenn Bemühungen um eine Versöhnung aussichtslos gewesen wären (Can. XXI, Sec. 29, lit. a).

V. Auflösung der Ehe und Wiederheirat Nach einer bürgerlichen Eheauflösung kann eine Kirchenprovinz die kirchliche Eheschließung eines Partners der aufgelösten Ehe auch zu Lebzeiten des anderen Teils zulassen und dafür bestimmte Voraussetzungen fordern (P 75, 5). Sie kann vorsehen, dass die Entscheidung über die Zulassung der kirchlichen Eheschließung durch den zuständigen Geistlichen entweder allein oder nach Beratung mit dem Bischof oder mit Zustimmung des Bischofs oder einer anderen kirchengesetzlich vorgesehenen Instanz getroffen wird (P 75, 7). In jedem Fall kann ein Geistlicher aus Gewissensgründen die Vornahme der kirchlichen Eheschließung einer geschiedenen Person zu Lebzeiten des früheren Partners ablehnen (P 75, 6). (1) In der Kirche von England blieb das vor der Henrizianischen Reform und ihrer grundsätzlichen Bestätigung durch Königin Elisabeth I. geltende kirchliche Eherecht einschließlich des Verfahrensrechts41 zunächst weiter in Kraft.42 Es wurde aber – auf der Grundlage der engen Verbindung von Kirche und Staat – durch Parlamentsgesetze überlagert. Da die kirchlichen Gerichte eine Scheidung einer gültig geschlossenen Ehe a vinculo nicht aussprechen konnten, wurde durch Einzelfallgesetze Abhilfe geschaffen, die eine geschiedene Person für unverheiratet und damit fähig, eine (neue)

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Zur früheren Praxis vgl. Richard Helmholz, Marriage Litigation (Anm. 11), passim. Vgl. dazu Hanns Engelhardt, Marriage and Divorce (Anm. 9), S. 49 – 71. Zu dem vorhenrizianischen Recht vgl. Richard Helmholz, Marriage Litigation (Anm. 11). Zur Organisation der bischöflichen Gerichte Alexander Hamilton Thompson, The English Clergy and their Organization in the Later Middle Ages, Oxford 1947, S. 51 – 57. 42

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Ehe einzugehen, erklärten. Die dadurch entstehende komplizierte Rechtslage wurde in einem Urteil wegen Bigamie von 1845 folgendermaßen beschrieben: „Prisoner at the bar, you have been convicted of the offence of bigamy, that is to say, of marrying a woman while you have a wife still alive, though it is true that she has deserted you, and is still living in adultery with another man. You have, therefore, committed a crime against the laws of your country, and you have also acted under a very serious misapprehension of the course which you ought to have pursued. You should have gone to the ecclesiastical court and there obtained against your wife a decree a mensa et thoro. You should then have brought an action in the courts of common law and recovered, as no doubt you would have recovered, damages against your wife’s paramour. Armed with these decrees you should have approached the legislature, and obtained an Act of Parliament, which would have rendered you free, and legally competent to marry the person whom you have taken on yourself to marry with no such sanction. It is j quite true that these proceedings would have cost you many hundreds of pounds, whereas you probably have not as many pence. But the law knows no distinction between rich and poor. The sentence of the court upon you therefore is that you be imprisoned for one day, which period has already been exceeded, as you have been in custody since the commencement of the assizes.“43

Die so beschriebene Lage wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als unerträglich empfunden und führte 1857 zur Verabschiedung des „Act to amend the Law relating to Divorce and Matrimonial Causes in England“44, durch den nicht nur die Scheidung a vinculo eingeführt, sondern vor allem die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte für Ehesachen beseitigt und diese dem staatlichen Court for Divorce and Matrimonial Causes übertragen wurde. Die Kirche von England hat die Befugnis des Parlaments zu dieser Regelung nicht in Zweifel gezogen. Im kirchlichen Recht bestätigt Can. B 30 lediglich die traditionelle Lehre der Kirche über die Ehe als lebenslange Verbindung eines Mannes und einer Frau und verpflichtet den um eine Trauung angegangenen Geistlichen, dem Brautpaar diese Lehre und „die Notwendigkeit der Gnade Gottes für die rechte Erfüllung der ehelichen Verpflichtungen“ zu erklären. Angesichts der staatlichen Regelung über das Scheidungsverfahren hat die Kirche von England sich als staatsverbundene Kirche nicht als berechtigt angesehen, eigene rechtliche Regelungen für diesen Gegenstand zu erlassen.45 Die Generalsynode hat aber 2002 einen „Advice to clergy concerning marriage and the divorced“ beschlossen, aus dessen Bezeichnung sich schon ergibt, dass es sich nicht um eine verbindliche Regelung, sondern eben um eine Empfehlung handelt. Der Beschluss bestätigt die Aussage in Can. B 30 über das Wesen der Ehe (lit. a), erkennt aber gleichzeitig an, dass es außergewöhnliche Umstände gibt, unter denen eine geschiedene Person zu Lebzeiten des anderen Teils der aufgelösten Ehe kirchlich getraut werden kann (lit. b, ii), und dass die Entscheidung hierüber bei dem um die 43 R. v. Hall; zitiert nach William Holdsworth, A History of English Law, 1. Bd., London 19567, S. 623 f.; vgl. dazu auch Arthur Robert Winnett, Divorce and Remarriage in Anglicanism, London/New York 1958, S. 134. 44 20&21 Vict. c. 85. 45 Es kann daher dahinstehen, ob eine solche Regelung die erforderliche Zustimmung des Parlaments erhalten hätte.

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Trauung angegangenen Geistlichen liegt (lit. c), dem der (staatliche) „Matrimonial Causes Act 1965“ ausdrücklich das Recht einräumt, in einem solchen Fall die Trauung zu verweigern (Sec. 8, 2). Zugleich hat die Generalsynode das House of Bishops „invited“, eine bereits formulierte Empfehlung („advice“) herauszugeben. Diesen advice hat das House of Bishops im November desselben Jahres beschlossen und gleichzeitig frühere Resolutionen der Convocations von Canterbury und York aufgehoben, durch die diese die Geistlichen (in rechtlich nicht verbindlicher Weise) aufgefordert hatten, den Traugottesdienst nicht zu vollziehen, wenn ein Teil des Brautpaares einen noch lebenden früheren Ehepartner hatte. Die Empfehlung weist zunächst auf eine Reihe von Gesichtspunkten hin, die für die Entscheidung des Pfarrers von Bedeutung sein werden, und enthält ferner eine Reihe von Empfehlungen für das Verfahren: Da eine Zweitehe wahrscheinlich Gegenstand von Diskussionen in der Pfarrei werde, liege es nahe („you may wish“), die Meinung des Pfarrgemeinderates zu der beabsichtigten Entscheidung einzuholen, der aber verstehen müsse, dass er dem Pfarrer in einer solchen Angelegenheit keine Anweisungen erteilen könne (4, 1). Es werde hilfreich sein, gelegentlich in den Dekanatskapiteln über die insoweit auftretenden Probleme zu diskutieren, damit die Pfarrer die Auffassungen ihrer Kollegen kennen lernen und die Auffassung derjenigen Pfarreien respektieren, in denen solche Trauungen nicht vorgenommen werden (4, 2). Besonderer Beachtung bedürfe die Konsultation mit ökumenischen Partnern in Pfarreien, in denen eine Local Ecumenical Partnership nach Can. B 44 besteht (4, 3). Es sei empfehlenswert, der erforderlichen Erörterung der Umstände des Falles, insbesondere der Ursachen der Zerrüttung der früheren Ehe, mindestens zwei vertrauliche Gespräche mit dem Brautpaar zu widmen (4, 4). Unbeschadet der alleinigen Entscheidungszuständigkeit des Pfarrers könne dieser den Wunsch haben, den Rat des Diözesanbischofs einzuholen; in diesem Falle sollte er diesem das Antragsformular des Paares und eine Erklärung auf Grund der geführten Gespräche einschließlich der schon gezogenen vorläufigen Folgerungen vorlegen, wobei zu beachten sei, dass das Paar nach dem Datenschutzrecht einen Anspruch darauf habe, das Geschriebene zu sehen (4, 7). Es werde am besten sein, dem Paar die Entscheidung unmittelbar persönlich mitzuteilen; bei einer Ablehnung könne es angebracht sein, die Gründe (auch) schriftlich mitzuteilen und eine Kopie des Briefes dem Bischof zuzuleiten, wenn er in diesem Fall konsultiert worden ist (4, 9). Ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen. (2) Die Anglican Church of Canada hat eine vergleichsweise ausführliche Regelung des Verfahrens zur Wiedertrauung geschiedener Personen, deren frühere Ehe nach den kirchlichen Vorschriften gültig war und nach staatlichem Recht aufgelöst worden ist und deren früherer Partner noch lebt; es ist in Can. XXI, Part IV geregelt. Danach setzt die Wiederheirat nach kirchlichem Ritus eine Erlaubnis der Ecclesiastical Matrimonial Commission, wenn eine solche in der Diözese besteht, oder des Diözesanbischofs voraus. Die Ernennung einer Ecclesiastical Matrimonial Commission ist allerdings nicht zwingend vorgeschrieben; sie steht im Ermessen des Bischofs. Vorsitzender der Kommission ist jedenfalls der Diözesanbischof oder ein

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von ihm bestimmter Bischof oder Priester (Can. XXI, Subsec. 30, lit. b). Der Diözesanbischof ernennt zwei oder mehr kommunionberechtigte Kirchenmitglieder zu Mitgliedern der Kommission und kann andere Personen zu Beratern ohne Stimmrecht ernennen (Can. XXI, Subsec. 30, lit. c). Mindestens ein Kommissionsmitglied oder Berater sollte die Befähigung zur Praxis oder Lehre im bürgerlichen Recht (civil law) in der Provinz oder dem Gebiet besitzen, in dem die Kommission tätig wird, besondere Kenntnisse im kanonischen Recht und Erfahrung in der Seelsorge haben (Can. XXI, Subsec. 30, lit. d); aus der Bestimmung geht nicht eindeutig hervor, ob diese Qualifikationen auf drei Mitglieder verteilt sein müssen oder in einer oder zwei Personen zusammentreffen dürfen. Der Antrag auf Erteilung der Erlaubnis zur Wiedertrauung ist bei dem Pfarrer der Gemeinde zu stellen, in der die beabsichtigte Trauung vollzogen werden soll (Can. XXI, Subsec. 26, lit. B, S. 1). Der Pfarrer hat den Fall so gründlich wie ihm möglich zu untersuchen und dann den Antrag mit seinem Bericht hierüber der Ecclesiastical Matrimonial Commission, wenn eine solche in der Diözese besteht, oder dem Diözesanbischof – da der Diözesanbischof auch Vorsitzender der Kommission ist, praktisch also stets ihm – zuzuleiten (Can. XXI, Subsec. 26, lit. b, S. 2). In dem Antrag auf Erlaubnis zur kirchlichen Wiederheirat müssen der volle Name, die Wohnung und die Religionszugehörigkeit jedes Antragstellers (Can. XXI, Schedule C, para. 1), sowie wann, wo und vor welchem Amtsträger jegliche frühere Eheschließung jedes Antragstellers vollzogen worden ist, der gegenwärtige Familienstand des Antragstellers und das Alter der Partner unmittelbar vor der früheren Eheschließung (Can. XXI, Schedule C, para. 2) angegeben werden. Kommt die Kommission oder der Bischof zu dem Ergebnis, dass die frühere Ehe kirchlich ungültig war, dann können sie den Antrag dem Chancellor zuleiten. Dieser kann, wenn die Voraussetzungen von Can. XXI, part III, Subsec. 20 vorliegen, die in Subsec. 20, lit. b vorgesehene Nichtigkeitserklärung abgeben. Damit dürfte das Verfahren nach Subsec. 26 sich erledigen, da es mangels gültiger früherer Ehe einer besonderen Trauungserlaubnis nicht bedarf. Andernfalls entscheidet über den Antrag die Ecclesiastical Matrimonial Commission oder, wenn eine solche Kommission in der Diözese nicht gebildet worden ist, der Diözesanbischof (Can. XXI, Subsec. 26, lit. b). Die Entscheidung der Kommission bedarf in jedem Falle der Bestätigung durch den Diözesanbischof oder den von ihm dafür bestimmten Bischof (Can. XXI, Subsec. 30, lit. g). Wird die Erlaubnis zu der neuen Heirat nicht erteilt, dann weist die Kommission oder der Bischof den Antrag mit schriftlicher Begründung ab, die den Antragstellern durch den Pfarrer mitgeteilt wird (Can. XXI, Subsec. 28, lit. a). Die Antragsteller können innerhalb von 30 Tagen nach Empfang der Mitteilung schriftlich bei der Kommission oder dem Bischof eine reconsideration beantragen (Can. XXI, Subsec. 28, lit. b). In diesem Verfahren können die Antragsteller persönlich vor der Kommission oder dem Diözesanbischof erscheinen und weitere Gründe für die Erteilung der Erlaubnis vortragen; sie können solche Gründe aber auch schriftlich einreichen. Die Kommission

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oder der Bischof kann nun dem Antrag stattgeben oder die frühere Entscheidung bestätigen. Eine Bestätigung der früheren Entscheidung ist mit schriftlicher Begründung den Antragstellern durch den Pfarrer mitzuteilen. Wenn der Antrag endgültig abgewiesen ist, kann ein neuer Antrag „before any Commission or diocesan bishop“, also auch in einer anderen Diözese nur gestellt werden, wenn die Antragsteller neue Tatsachen vortragen können (Can. XXI, Subsec. 28, lit. c). 3. In der Anglican Church of Australia besteht die Besonderheit, dass „Canons“, die order and good government in einer Diözese berühren – insbesondere solche, die Riten, Zeremonien oder Disziplin der Kirche betreffen – in einer Diözese nur in Kraft treten, wenn diese sie ausdrücklich übernimmt (Sec. 30, lit. a Constitution). Ob die genannte Voraussetzung vorliegt, stellt entweder die Generalsynode selbst bei der Beschlussfassung über den Kanon oder auf Antrag einer Diözese das Appellate Tribunal fest (Sec. 30, lit. b u. c Constitution). Unter diesem Vorbehalt steht kraft ausdrücklichen Beschlusses der Generalsynode auch der „Marriage of Divorced Persons Canon 1981“ (Sec. 7), nach dem eine geschiedene Person zu Lebzeiten des Partners der früheren Ehe nur kirchlich getraut werden darf, wenn der Bischof der Diözese, in der die Trauung stattfinden soll, dieser ausdrücklich zugestimmt hat (Sec. 3, Subsec. 1). Der Antrag auf Zustimmung muss durch den Geistlichen gestellt werden, der die Trauung vollziehen soll. Der Bischof darf die Zustimmung nur erteilen, wenn entweder wenigstens ein Teil der zu schließenden Ehe seinen gewöhnlichen Wohnsitz in seiner Diözese hat (Sec. 3, Subsec. 3, lit. a) oder der Bischof der Diözese, in der wenigstens ein Teil der zu schließenden Ehe seinen gewöhnlichen Wohnsitz hat, der Trauung zugestimmt hat (Sec. 3, Subsec. 3, lit. b). Der Kanon trifft keine weiteren Bestimmungen über das Verfahren des Bischofs, ermächtigt aber die Diözesansynode, durch ordinance Regelungen für die Praxis und das Verfahren zur Erteilung der bischöflichen Erlaubnis zu erlassen (Sec. 5, Subsec 2). Eine gleiche Ermächtigung besteht auch für den Bischof, dessen Regelungen sich allerdings im Rahmen etwa von der Diözesansynode erlassener Regelungen halten müssen (Sec. 5, Subsec. 1). Der Bischof darf der Trauung nur zustimmen, wenn er und der befasste Geistliche überzeugt sind, dass die neue Ehe der geschiedenen Person nicht der Lehre der Heiligen Schrift oder den Lehren und Grundsätzen der Kirche widerspricht (Sec. 4). Wenn der Bischof die beantragte Erlaubnis erteilt, hat er zu veranlassen, dass seine Entscheidung dem Geistlichen, der die Trauung vornehmen soll, schriftlich mitgeteilt wird (Sec. 3, Subsec. 2). Auch ohne ausdrückliche Bestimmung ist anzunehmen, dass die Erlaubnis auch dem zu trauenden Paar mitzuteilen ist, ob durch den Bischof unmittelbar oder durch Vermittlung des für die Trauung vorgesehenen Geistlichen, bleibt offen; für die zweite Alternative könnte sprechen, dass dieser Geistliche auch den Antrag auf Erteilung der Erlaubnis dem Bischof vorzulegen hat (Sec. 3, Subsec. 1). Über die Ablehnung der Erlaubnis sagt der Kanon nichts. Doch ist davon auszugehen, dass auch sie dem Geistlichen, der dem Bischof den Antrag vorgelegt hat, und

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– durch ihn oder unmittelbar – den Antragstellern mitzuteilen ist. Einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung (wie in Kanada) sieht der Kanon nicht vor. Wie schon erwähnt, können die Diözesen von der Übernahme des Kanons absehen oder seine Anwendung nachträglich ausschließen. Dies ist z. B. in der Diözese Sydney durch die „Solemnisation of Marriage Ordinance 2011“ geschehen. Auch in dieser ordinance ist indes bestimmt, dass die Trauung Geschiedener – das Erfordernis, dass der andere Teil der aufgelösten Ehe noch lebt, ist nicht genannt aber wohl zu unterstellen – nur mit Erlaubnis des Erzbischofs für die Diözese oder eines Regionalbischofs für seine Region zulässig ist (Sec. 5, Subsec. e). Für diese Erlaubnis ist nur bestimmt, dass sie „in accordance with the laws of this Church“ stehen muss. Was mit diesen „laws of this Church“ gemeint ist, ist nicht näher definiert. Mit „this Church“ ist jedenfalls die Anglican Church of Australia in der Diözese Sydney gemeint (Sec. 3, Subsec. a). 4. In der Church of Nigeria (Anglican Communion)46 bedarf die kirchliche Eheschließung einer Person, die bereits in einer von der Kirche anerkannten Form mit einer noch lebenden Person die Ehe geschlossen hat, einer Ausnahmegenehmigung des Bischofs (Can. XVII, sec. 2, 3). Diese kann jedes Kirchenmitglied beantragen, dessen frühere Ehe durch ein staatliches Gericht für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist oder das eine Person heiraten will, bei der dies der Fall ist (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. a). Der Bischof kann diese Genehmigung in Übereinstimmung mit der Mehrheit von zwei oder mehr Assessoren, zu denen der Archdeacon der Archdeaconry, in der mindestens einer der Teile seinen Wohnsitz hat, sowie der Chancellor oder der Registrar der Diözese oder ein anderes rechtsgelehrtes communicant member gehören müssen (Can. XVII, Sec. 2, lit. c), erteilen oder verweigern (Can. XVII, sec. 2, 4, lit. b). Der Antrag muss mindestens drei Kalendermonate vor dem Datum der beabsichtigten Eheschließung bei dem Bischof gestellt werden (Can. XVII, Sec. 2, lit. e); über ihn darf frühestens ein Jahr nach der endgültigen Auflösung der früheren Ehe beraten und entschieden werden (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. d). Vor einer stattgebenden Entscheidung müssen der Bischof und die Assessoren sich überzeugen, dass beide Parteien getauft sind, dass keine Tatsachen vorliegen, die die beabsichtigte Ehe bigamisch machen würden, und dass beide Teile eine christliche Ehe beabsichtigen (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. f, i–iii). Von besonderer Wichtigkeit ist das Erfordernis, dass Tatsachen vorgelegen haben, aus denen sich ergibt, dass offensichtlich einer der in Can. XVII, sec. 6 genannten Nichtigkeitsgründe vorgelegen hat (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. f, iv) oder dass Persönlichkeitsdefekte vorliegen, die eine Fortsetzung der früheren Ehe unmöglich machen (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. f, v). Sec. 6 enthält die klassischen Nichtigkeitsgründe unter Hinzufügung des nicht ganz klaren Begriffs der „sexual perversion“, während Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. f, v) dem Entscheidungsgremium einen Beurteilungsspielraum einräumt, zumal er ersichtlich nicht auf den Zeitpunkt der Eheschließung, sondern auf den der Entscheidung abstellt. Jede Person, die eine solche Ausnahmegenehmigung 46

So der offizielle Name.

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des Bischofs erhalten hat, kann von einem Kleriker derselben Diözese getraut werden; soll die neue Ehe in einer anderen Diözese geschlossen werden, so ist auch die Zustimmung des Bischofs dieser Diözese erforderlich47 (Can. XVII, Sec. 2, 4, lit. i). Eine ausdrückliche Ausnahme macht das kanonische Recht in Nigeria für den Fall des Privilegium Paulinum (1 Kor 7,12 – 16; Can. XVII, Sec. 3, 3). Dieses findet Anwendung, wenn der oder die eine von zwei ungetauften Ehepartnern getauft wird und der ungetauft bleibende nicht bereit ist, mit dem getauften friedlich zusammenzuleben, ohne zu versuchen, ihn oder sie zum Abfall vom christlichen Glauben zu verleiten oder Taufe und christliche Erziehung der Kinder zu verhindern. In diesem Fall kann ein Antrag an den Bischof gestellt werden, der sich durch unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem ungetauften Teil von dessen mangelnder Bereitschaft zu überzeugen hat. Gewinnt er diese Überzeugung, dann kann er nach Auflösung der Ehe dem getauften Teil die Eingehung einer neuen und christlichen Ehe gestatten. 5. Schließlich enthält auch das Recht der Episkopalkirche eine besondere Regelung für die Trauung Geschiedener, deren frühere(r) Partner(in) noch lebt. Sie ist freilich überaus knapp. Nach Can. I, 19, Sec. 3 muss ein Geistlicher, der eine Person trauen will, deren früherer Ehepartner noch lebt, @ durch angemessenen Beweis (appropriate evidence) davon überzeugt sein, dass die frühere Ehe durch das endgültige Urteil eines zuständigen staatlichen Gerichts für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist (lit. a); @ die Ehewilligen darüber belehrt haben, dass sie auf Dauer Verantwortung für das Wohlergehen des früheren Ehepartners und etwaiger Kinder aus der früheren Ehe zeigen müssen (lit. b); @ die vorherige Zustimmung des Bischofs der Diözese, in der er inkardiniert (canonically resident) oder zur Amtsausübung lizenziert ist, einholen (lit. c); @ dem Bischof nach der Trauung Bericht erstatten (lit. c). Dies alles gilt gleichermaßen bei Nichtigkeit und bei Auflösung der früheren Ehe. Was appropriate evidence ist, wird nicht ausdrücklich gesagt; der Geistliche wird sich aber im Regelfall das Urteil des Gericht vorlegen lassen müssen. Die Zustimmungsregelung ist so zu verstehen, dass derjenige Bischof zuständig ist, in dessen Diözese die Trauung vorgenommen werden soll. Soll die Trauung in einer anderen Jurisdiktion vorgenommen werden, so muss die Zustimmung von dem Bischof dieser Jurisdiktion bestätigt werden (lit. d). Über das Verfahren, das der Bischof bei der Entscheidung über die Zustimmung zu beobachten hat, sagt die Regelung nichts. Er kann und wird auch vielfach – insbesondere bei Auflösung einer ursprünglich gültigen Ehe – mit den Ehewilligen unmittelbar Verbindung aufnehmen – je nach den tatsächlichen Möglichkeiten brieflich oder durch ein Gespräch – und sich persönlich über die Gründe des Scheiterns der früheren Ehe und die Einstellung der Ehewilligen dazu informieren. Auch eine schriftlich begründete Entscheidung ist – anders als 47

Von der Beiziehung von Assessoren ist hier nicht die Rede.

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bei dem Verfahren nach Can. I, 19, Sec. 248 – nicht ausdrücklich vorgeschrieben, dürfte aber in jedem Falle angebracht sein. Auch ein Rechtsbehelf gegen die Verweigerung der Zustimmung ist nicht vorgesehen, insbesondere nicht – wie in Kanada – ein formlicher Antrag auf reconsideration. Die Ehewilligen können darum bitten, haben aber insoweit keine verfahrensrechtlichen Ansprüche. Unabhängig von der beschriebenen Regelung besteht der allgemeine Grundsatz, dass es im Ermessen jedes Geistlichen steht, die Vornahme einer Trauung abzulehnen (Can. I, 18, Sec. 7). Dies gilt nicht nur für die Wiedertrauung Geschiedener, sondern für alle Ehen, für deren Eingehung der Geistliche keine Verantwortung übernehmen zu können meint. Im Fall des Can. I, 19, Sec. 3 kommt es dann schon nicht zur Einholung der bischöflichen Zustimmung. In diesem Fall wird man den Ehewilligen das Recht zubilligen müssen, sich unmittelbar an den Bischof zu wenden, der dann, wenn er der Trauung zustimmen will,49 einen Geistlichen bestimmt, der zu ihrer Vornahme bereit ist.

48

S. o. III (3). In diesem Fall ist es nicht vorgeschrieben, kann es aber empfehlenswert sein, dass er mit dem Priester spricht, der die Vornahme der Trauung verweigert hat. Dieser ist aber nicht verpflichtet, Gründe für seine Weigerung anzugeben. 49

Die Disziplinarordnung für den Klerus der griechisch-orientalischen Metropolie der Bukowina und von Dalmatien (1908) Ein unveröffentlichter Dokumentenentwurf aus der Endzeit der Habsburgermonarchie Von Thomas Mark Németh

I. Einleitung Die nachfolgende Edition bietet den Text des Entwurfs der „Disziplinarordnung für den Klerus der griechisch-orientalischen Metropolie der Bukowina und von Dalmatien“. Er wurde mit weiteren Akten der Metropolitansynode von 1908 dem Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien übermittelt. Die Synodalmaterialien wurden einem Ministerialakt beigelegt, der heute im Österreichischen Staatsarchiv aufbewahrt wird.1 Die von 1873 bis 1919 im Bereich der österreichischen Reichshälfte bestehende Kirchenprovinz der Bukowina und von Dalmatien bildete nach der 1713 errichteten serbischen Metropolie von Karlowitz (Sremski Karlovci) und der 1864 geschaffenen Metropolie von Hermannstadt (Sibiu) für die Rumänen in Siebenbürgen und Ungarn die dritte orthodoxe Kirchenprovinz der Habsburgermonarchie. Zudem existierte nach der Okkupation von Bosnien-Herzegowina im Jahre 1878 dort eine weitere Kirchenstruktur, über welche die Regierung in Wien nach 1880 weitreichende Entscheidungsrechte besaß.2 1 ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterricht und Kultus (UK), Neuer Kultus (NK), Akatholisch (Akath.), Griechisch-Orientalisch (Gr.-Or.), Signatur (Sign.) A3–Generalien–Synode 1908, Karton (K.) 2, Zl. 4924/1910, 52 Bl., Edition: Bl. 40 – 45 (die übrigen zitierten Akten aus dem ÖStA sind nicht foliiert). – Ich danke Frau Dr. Susanne Kühberger und Frau Natalja Masijan für die archivalische Hilfestellung und Frau Dr. Olha Kmyta, Herrn Prof. Paul Brusanowski und Herrn Prof. Mihai Sa˘ sa˘ ujan für die Übermittlung von Scans einiger Archivalien und Literatur sowie Frau Andrea Jeßberger für technische Hilfe. 2 Als Überblick vgl. Thomas Mark Németh, Die orthodoxe Kirche in der Habsburgermonarchie. Geschichte und Strukturen, in: OS 63 (2014), S. 6 – 19; Rechtsquellen der orthodoxen Kirche in Österreich sind abgedruckt in: Max Burckhard (Hrsg.), Gesetze und Verordnungen in Kultussachen. Abteilung 1 (= Taschenausgabe der österreichischen Gesetze 26.1), Wien 18953, S. 276 – 493; Paul Brusanowski, Rumänisch-orthodoxe Kirchenordnungen (1786 – 2008), Siebenbürgen – Bukowina – Rumänien (= Schriften zur Landeskunde Sie-

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Oberstes Organ der Metropolie der Bukowina und von Dalmatien mit Sitz in Czernowitz (Cˇ ernivci) war ihre Metropolitansynode, deren Kompetenzen in ihrem Statut von 1884 festgelegt waren.3 Beschlüsse in Angelegenheiten der Glaubenslehre und der Sitten sowie gerichtliche Entscheidungen bedurften nach § 17 des Statuts der kaiserlichen Genehmigung. Im 20. Jahrhundert ist die Synode nach Aktenlage zweimal – 1903 und 1908 – in Wien zusammengetreten. Im Bereich des orthodoxen Disziplinarrechts herrschte in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beträchtlicher Reformbedarf.4 Die Disziplinarbehörde für den Klerus war zwar primär das unter dem Vorsitz des Diözesanbischofs wirkende bischöfliche Konsistorium. Eigentliche, nach außen hin exekutierbare Disziplinarstrafen wurden auf Grundlage des Hofdekrets vom 03. März 17925 jedoch immer noch durch gemischte, aus Klerikern und Staatsbeamten zusammengesetzte Kommissionen verhängt.6 Dies war in der katholischen und evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert nicht mehr der Fall.7 benbürgens 33), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 192 – 281; Myron M. Calinescu, Normalien der Bucovinaer gr. or. Diöcese von 1777 – 1886, 3 Bde., Czernowitz 1887, 1889, 1893; zum Rechtsbestand vgl. Nikodemus Milasch, Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche, Mostar 19052, S. 152 – 154; Anton Pace (Hrsg.), Ernst Mayrhofer’s Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, 4. Bd., Wien 18985, S. 427 – 447; 2. Ergbd., Wien 1913, S. 400 – 406; Thomas Mark Németh, Josef von Zhishman (1820 – 1894) und die Orthodoxie in der Donaumonarchie (= Kirche und Recht 27), Freistadt 2012, S. 88 – 91, 134 – 171. 3 Das Synodal-Statut der griechisch-orientalischen Metropolie der Bukowina und Dalmatien[!]. Mit Erläuterungen von Archimandrit Dr. Nikodem Milasch zu Zara, in: AfkKR 53 (1885), S. 251 – 263; Statut wieder abgedruckt in: Brusanowski, Rumänisch-orthodoxe Kirchenordnungen (Anm. 2), 278 – 281; zum Statut vgl. auch Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 169 – 171. 4 Zum orthodoxen Straf- und Disziplinarrecht (mit Bezug zur Habsburgermonarchie) vgl. Milasch, Das Kirchenrecht (Anm. 2), S. 459 – 515; Friedrich H. Vering, Lehrbuch des katholischen, orientalischen und protestantischen Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Oesterreich und die Schweiz, Freiburg i. Br. 18933, S. 753 f.; Joseph Helfert, die Rechte und Verfassung der Akatholiken in dem Oesterreichischen Kaiserstaate, Prag 18433, S. 189 – 190; zum orthodoxen Strafrecht insgesamt Richard Potz/Eva Synek, unter Mitarbeit v. Spyros Troianos und Alexej Klutschewski, Orthodoxes Kircherecht. Eine Einführung. Aktualisierte und erweitere zweite Auflage (= Kirche und Recht 28), Freistadt 2014, S. 509 – 530. 5 Abgedruckt in: Joseph Kropatschek, Samlung[!] der Gesetze welche unter der glorreichsten Regierung des Kaiser Franz des II. in den sämtlichen K. K. Erblanden erschienen sind, 1. Bd., Wien 1793, S. 8; vgl. auch die entsprechende Gubernialverordnung für Galizien vom 01. 03. 1792, Zl. 6203. Der offenbar gleichlautende Bestimmungstext ist abgedruckt in: Moritz Drdacki, Lexikon der politischen Gesetzkunde für Galizien, Wien 1832, S. 224 f. Das Hofdekret wird in entsprechenden Ministerialakten (siehe oben Anm. 1 und unten Anm. 19) jedoch nicht mit Zl. 116, wie in den beiden Textausgaben, sondern mit Zl. 224 angegeben. 6 Vgl. Pace, Ernst Mayrhofer’s Handbuch (Anm. 2), 4. Bd., S. 433, Anm. 1 (lies „1792“ statt „1782“). Bezüglich der weltlichen Wirkung von Straferkenntnissen des Konsistoriums wird auch auf den Erlass des Kultusministeriums vom 28. 07. 1865 (Zl. 685/CUM) verwiesen; vgl. auch unten nach Anm. 19, zum Konsistorium unten Anm. 44. Auf zahlreiche einschlägige Bestimmungen, verweist der unten in Anm. 8 zitierte Akt; vgl. auch Kap. 4, §§ 7 – 67 des

Disziplinarordnung für den Klerus

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Aus einem Akt des Kultusministeriums von 1893 geht hervor, dass sich bereits die Versammlung der orthodoxen Bischöfe der Monarchie von 1850 und der Ministerrat mit der problematischen Rechtslage, die mit einer massiven Zurückdrängung der rein kirchlichen Gerichtsbarkeit einherging, befasst hatten. Aus Sicht des Ministeriums sei das Hofdekret von 1792 kirchenpolitisch und in Anbetracht der neuen Gesetzgebung in Hinblick auf die kirchliche Autonomie überholt. Eine etwaige Stärkung der Kompetenzen der Konsistorien müsse jedoch rechtlich eingebettet werden, wobei entsprechende statutarische Normen zunächst Sache der Kirche seien. Außerdem sei bei Übertretungen der Stolordnung schon jetzt keine Beteiligung gemischter Kommissionen notwendig. Schließlich müsse bei einer zu § 8 des Gesetzes vom 08. Mai 1874 (RGBl. 50/1867) analogen Norm die Frage der ausschließlichen Kompetenz der Legislative erörtert werden. Zwar hätten die letzten Metropolitansynoden Resolutionen in Hinblick auf ein Gesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse verabschiedet, doch seien bis jetzt keine Anträge an das Ministerium eingegangen.8 Der 1897 vom Ministerium informierte Czernowitzer Landespräsident Leopold von Goëss teilte dem dortigen Metropoliten Vladimir von Repta (1842 – 1926) mit, dass das Ministerium für eine Änderung der Rechtslage offen sei, aber Wert auf kirchliche Mitwirkung lege.9 Der Metropolit leitete die Angelegenheit an das Konsistorium zur Begutachtung weiter.10 Näheres ist dazu aber nicht bekannt. Der Bedarf einer Disziplinarordnung wurde auf der vom 01.–12. Mai 1903 tagenden Metropolitansynode vom bekannten Kanonisten und Bischof von Zara (Zadar), Nikodim Milasˇ (1845 – 1915)11 eingebracht, nachdem die dalmatinischen Bischöfe Bukowiner Regulierungsplans von 1786 (über die Disziplinarpflege); abgedruckt in: Brusanowski, Rumänisch-orthodoxe Kirchenordnungen (Anm. 2), S. 242 – 267. 7 Katholischerseits bereits seit 1850, vgl. Pace, Ernst Mayrhofer’s Handbuch, 4. Bd. (Anm. 2), S. 113, Anm. 1. Zur evangelischen Disziplinarordnung von 1887 vgl. ebd., S. 421, Anm. 2, und unten Anm. 35. 8 ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A21–Generalien, K. 21, Zl. 3042/1893[!] mit Entwurf des Schreibens an den Landespräsidenten vom 27. 09. 1897 und dem Schreiben des Erzbischöflichen Konsistoriums vom 14./26. 11. 1883 (Datierung julianisch/gregorianisch). 9 Schreiben vom 03. 12. 1897, Zl. 19270, in: 5VaWQS^YZ QafwS HVa^wSVgm[_x _R\Qbcw (Staatliches Archiv der Czernowitzer Oblast’= DACˇ O), Fond 320, Opys 2, Sprava 53, Bl. 44, 48; zu Repta vgl. Ne´meth, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 107 – 113. 10 Schreiben vom 28.11./10. 12. 1897, Zl. 192 Präs., in: DACˇ O, Fond 320, Opys 2, Sprava 53, Bl. 45. 11 Zu ihm vgl. Luka Novakovic´, Nikodim Milasˇ. Vescovo della Dalmazia ed Istria ed il suo contributo alla canonistica orientale (excerpta ex dissertatione ad doctoratum), Rom 2005; Eniko˝ Mária Regényi, Nikodim Milasˇ ortodox egyházjogi kézikönyvének elemzése, különös tekintettel a benne kirajzolódó egyházképre, PhD Dissertation, Katholische Péter-PázmányUniversität, Budapest 2011; Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 245 – 250; zu seiner lokalen Heiligsprechung 2012: þQ \_[Q\^_] ^YS_d Ga[SV d 5Q\]QgYyY \YcdaTYyb[Y `a_b\QSzV^ bSVcY þY[_UY] =Y\Qi, V`Yb[_` UQ\]QcY^b[Y http://www.spc.rs/sr/na_lokalnom_ nivou_crkve_u_dalmaciji_liturgijski_proslavljen_sveti_nikodim_milash_episkop_dalmatinski (Stand: 28. 02. 2017).

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die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse für die Synodalverhandlungen angemeldet hatten.12 Der Bischof kritisierte die Regelung der kirchlichen Gerichtsbarkeit in der Metropolie als unzureichend und wies darauf hin, dass in der Karlowitzer Metropolie den gerichtlichen Problemen bereits durch die sog. disciplinarna pravila Rechnung getragen worden sei, welche die Synode am 29. März 1899 für den Klerus erlassen hat und die am 05. März 1900 vom Kaiser – nach Änderungen – genehmigt wurde.13 Ebenso habe die Synode der Kirche von Serbien am 29. Oktober 1902 ein „Kazneni zakonik za svesˇtena lica oba reda“ beschlossen.14 Nunmehr sollten auch im Wirkungsbereich der Czernowitzer Synode die crimina ecclesiastica im Einklang mit der staatlichen Strafgesetzgebung kodifiziert werden, um den Klerus über die Strafen für kirchliche Vergehen und Verfahrensnormen zu informieren. Der Vorschlag von Milasˇ wurde im Mai 1903 einstimmig angenommen und die Ausarbeitung eines Entwurfs für die nächste Synodalsitzung beschlossen. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass die orthodoxe Kirche im Rumänischen Altreich bereits 1873 eine Disziplinarordnung verabschiedet hatte.15 Akten des Czernowitzer Erzbistums belegen, dass der dortige Professor für Kirchenrecht Constantin Popovici ([als Mönch] Clement Popowicz, 1860 – 1943), auf den noch später eingegangen wird, mit der Ausarbeitung einer Disziplinarordnung betraut wurde. Er erstellte 1904 einen sich bloß auf das Erzbistum von Czernowitz beziehenden Entwurf. Angesichts synodaler Implikationen wurde dieser den Bischöfen von Zara und Cattaro (Kotor), Nikodim Milasˇ und Gerasim Petranovic´ (1820 – 1906), zur Stellungnahme mitgeteilt. Offensichtlich gab es aber bezüglich der Reichweite der Ordnung unterschiedliche Ansichten. Die beiden Bischöfe lehnten unter 12 ˇ O, Fond 320, Opys 2, Sprava 73, Vgl. das Protokoll vom 12. 05. 1903, Pkt. 20, in: DAC Bl. 15 sowie in: ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A3–Bukowina, K. 3, Zl. 14350/ 1903, Verzeichnis, Pkt. I.1.b. Gemäß dem Schreiben von Metropolit Repta vom 06./ 19. 06. 1903, Zl. 21 MBD, Pkt. 2, in: Zl. 36553/1903 (selbe Signatur, selber Karton), wurde die Frage der äußeren Rechtsverhältnisse von der Synode nicht weiterverfolgt, da der Entwurf des Czernowitzer Konsistoriums noch nicht fertig war. Sie konnte bis zum Ende der Monarchie nicht hinreichend geregelt werden; vgl. Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 201 – 205. 13 Ich danke Herrn Prof. Dr. Rade Kisic´ für einen Scan der handschriftlichen Abschrift dieses Dokuments aus der Bibliothek der Theologischen Fakultät Belgrad und für Hilfen bei deren Entzifferung: 5YbgY`\Y^Qa^Q `aQSY\Q XQ `aQS_b\QS^_ ba`b[_ bSVicV^bcS_ d _`bVTd `aQS_b\. ba`b[V ]Yca_`_\YjV ;Qa\_SQh[V, @a_`YbQ_ `aQS_b\. Ba`b[Y bS. 1afYjVaVjb[Y BY^_U YX bVU^YgV UaWQ^V d Ba. ;Qa\_SgY]Q 29. ]QacQ 1899 T_U, Sremski Karlovci 1899. 14 Dieses Dokument konnte bislang nicht aufgefunden werden. Es wird auch in der von Kazimirovic´ aktualisierten Auflage des orthodoxen Kirchenrechts von Milasˇ nicht erwähnt: þY[_UY] =Y\Qi/AQU_SQ^ þ. ;QXY]Ya_SYh, @aQS_b\QS^_ ga[SV^_ `aQS_. @_ _`icY] ga[SV^_-`aQS^Y] YXS_aY]Q Y `_bVR^Y] XQ[_^b[Y] ^QaVURQ]Q [_jV SQWV d `_jVUY^Y] Qdc_[VeQ\^Y] ga[SQ]Q, Belgrad 1926. 15 Regulament pentru disciplina bisericeasca˘ , in: Chiru C. Costescu (Hrsg.), Colect¸iune de Legi, regulamente, acte deciziuni, circula˘ ri, instruct¸iuni, formulare s¸i programe începând de la 1866 – 1916 […], Bukarest 1916, S. 289 – 196. Auszugsweise dt. Übers. in: Brusanowski, Kirchenordnungen (Anm. 2), S. 142 – 145.

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Hinweis auf den Beschluss der vergangenen Synode eine Bewertung ab und ersuchten um die Erlassung einer gemeinsamen Ordnung für die gesamte Metropolie.16 Die vom 23. November – 01. Dezember 1908 tagende Metropolitansynode verabschiedete den hier edierten Entwurf. Laut den Synodalprotokollen, die dem Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien übermittelt wurden, nahmen an der Synode drei Bischöfe teil: Der Czernowitzer Metropolit Vladimir Repta, Bischof Nikodim Milasˇ von Zara und Bischof Dosithei Jovic´ von Cattaro (1856 – 1910). Synodalkanzler war der Czernowitzer Konsistorialrat Dionys Ritter von Bejan, als Beisitzer wirkten der Czernowitzer Professor Constantin Popovici, der Cattareser Erzpriester Joan Buc´in und der Priester der Wiener serbischen Kirchengemeinde Michael Misic´ mit. Die Protokolle dokumentieren die Arbeiten an der Disziplinarordnung, deren Textentwurf am 12. November 1908 von der Synode angenommen wurde.17 Die Änderungen am Entwurf der „Disziplinarordnung für den Klerus der bukowiner gr.-or. Erzdiözese“18 machen deutlich, dass dieser weitestgehend übernommen wurde. Die Synodalakten wurden dem Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien übermittelt. Aus dem entsprechenden Vortrag des Kultusministers Karl Graf Stürkh (1856 – 1916) an den Kaiser19 geht hervor, dass er die Disziplinarordnung als eine auch den Staat tangierende Angelegenheit qualifizierte und von einer sofortigen Genehmigung des Dokuments abriet. Eine Reform des immer noch auf dem Hofdekret von 1792 beruhenden Verfahrens werde zwar von kirchlicher wie staatlicher Seite befürwortet. Da die vorgeschlagene Disziplinarordnung jedoch auf „vollkommen neuen Grundsätzen aufgebaut […]“ sei,20 wollte der Minister vor seiner Stellungnahme Gutachten der betreffenden Landesbehörden einholen, die ihrerseits die jeweiligen bischöflichen Konsistorien befragen sollten. Auf die Abhängigkeit der Disziplinarordnung von Vorlagen wird noch eingegangen.

16 Vgl. das Schreiben der beiden Bischöfe vom 04. bzw. 09. 10. 1905, das Schreiben des erzbischöflichen Konsistoriums an den Metropoliten vom 10./23. 12. 1905, Zl. 8644/1905 (mit ˇ O, Mitteilung des Letzteren an die Landesregierung) und weiterer Schriftwechsel in: DAC Fond 320, Opys 2, Sprava 53, Bl. 46 f., 49 – 56, 59. Zum Entwurf von 1904 vgl. unten bei Anm. 18 u. 31. 17 Vgl. ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A3–Generalien–Synode 1908, K. 2, Zl. 4924/1910, Bl. 12v, 14, 16, und DACˇ O, Fond 320, Opys 2, Sprava 74, Bl. 4v, 6, 7. 18 ˇ O, Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 90 – 95; Gedruckter, undatierter Entwurf in: DAC 2 Exemplare mit handschriftlichen Änderungen Bl. 60 – 72. So wurden z. B. bei den Verboten in § 12 u. a. Sport und das öffentliche Rauchen gestrichen, in § 13 die Ausübung ärztlicher, anwaltlicher und gewinnorientierter Tätigkeiten. In § 21 wurde der Hinweis fallen gelassen, dass die Priesterwürde alle, auch die mit Ehe verbundenen Pflichten erhöhe, in § 29 der Hinweis, bestimmte Pflichtverstöße von Familienmitgliedern nicht dulden zu dürfen. 19 Reinschrift: ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A3–Generalien–Synode 1908, K. 2, Zl. 4924/1910, Bl. 3 – 8; Konzept ebd., Sign. A3–Synode 1908, K. 2, Zl. 6645/1909. Kabinettszahl des Vortrags: 359/1910. 20 ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A3–Generalien–Synode 1908, K. 2, Zl. 4924/1910, Bl. 7r, zum Folgenden Bl. 51r.

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In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass die Synode von 1908 auch einen Entwurf ihrer Geschäftsordnung verabschiedete. Dieser wurde vom Minister als dem Bereich der innerkirchlichen Angelegenheiten zugehörig qualifiziert. Angesichts kleinerer Abweichungen vom Synodalstatut und der Bezeichnung orthodox-orientalisch statt griechisch-orientalisch wurde die Synode jedoch um Aufklärung bzw. etwaige Änderungen ersucht. Zurückhaltend reagierte das Ministerium auch auf die Absicht der Bischöfe, sich mit dem übrigen Episkopat der Monarchie für die Bezeichnung der griechisch-orientalischen Kirche als orthodox einzusetzen. Der Kaiser nahm mit Allerhöchster Entschließung vom 04. Februar 1910 den Vortrag des Ministers zur Kenntnis und ermächtigte ihn zur vorgeschlagenen Vorgangsweise.21 Auf Ersuchen von Bischof Milasˇ setzte sich Metropolit Repta 1911 beim Kultusministerium für die Genehmigung der Disziplinarordnung ein. Das Ministerium erbat vom Statthalter in Dalmatien jedoch eine genauere Prüfung der Disziplinarordnung in Hinblick auf die dortige Praxis.22 In der Bukowina stand die Problematik gemischter Kommissionen immer noch im Raum, während in Dalmatien Disziplinarprobleme innerkirchlich gelöst wurden.23 Das Ministerium gab dem Drängen des Statthalters und der beiden neuen Bischöfe in Dalmatien um Genehmigung der Disziplinarordnung aber nicht nach. Die Bedenken in Wien gründeten darauf, dass angesichts des seltenen Zusammentretens der Metropolitansynode in Anbetracht der aufschiebenden Wirkung in § 101 „jedes Straferkenntnis durch die Einlegung einer Berufung für einen grösseren Zeitraum illusorisch gemacht werden könnte“24 und § 73 Pkt. 6 und 8 und acht dalmatinischen Gesetzesbestimmungen über die Gewährung von Ruhegehältern zu widersprechen schien.25 Deshalb wurden der dalmatinische Statthalter und die dortigen Bischöfe 1915 erneut um Stellungnahme gebeten. Die Bukowina erlebte in den Jahren 1914/15 sowie 1916 bis 1918 zwei Perioden 21

ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A3–Generalien–Synode 1908, K. 2, Zl. 4924/1910, Bl. 7r. 22 Vgl. Schreiben des Statthalters in Dalmatien vom 10. 05. 1910, Pr. Zl. 632/1 in: ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A21–Generalien–Disziplinarordnung, K. 21, Zl. 20733/ 1910; Schreiben Reptas vom 02./15. 03. 1911, Zl. 11/1911 MBD, in: ebd., Zl. 12680/1911, mit ˇ O, Aufforderung an den Statthalter. Schreiben von Milasˇ vom 25. 02. 1911, Zl. 130/pr. in: DAC Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 78; Korrespondenz in Disziplinarangelegenheiten: Bl. 1 – 41, 73 – 89, dazu auch zahlreiche Akten im zuvor zitierten K. 21. 23 Zur Bukowina vgl. ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A21–Generalien–Disziplinarordnung, K. 21, Zl. 44013/1911; zu Dalmatien ebd. Zl. 52447/1913, miterledigt Zl. 6733/1915. 24 Ebd., Entwurf des Schreibens an den Statthalter. 25 Ebd., Bezug nehmend auf das Gesetz vom 19. 09. 1898 (RGBl. 177/1898) und § 4 des Gesetzes vom 24. 02. 1907 (RGBl. 57/1907). Im Akt steht wohl versehentlich § 72. Die beiden Konsistorien sprachen sich auch für das Fallenlassen der Geldstrafen in §§ 72 und 73 aus. Bischof Dimitrije Brankovic´ (1868 – 1938) von Zara plädierte für eine probeweise Genehmigung, Bischof Vladimir Boberic´ von Cattaro (1873 – 1918) für eine definitive. Aus der Sicht des Statthalters habe die religiöse und politische Disziplin im Klerus durch Probleme unter den Bischöfen Milasˇ und Jovic´ (vgl. Novakovic´, Nikodim Milasˇ [Anm. 11], S. 48 – 51) gelitten, sich inzwischen aber gebessert.

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russischer Besatzung und war Ende 1918 rumänisch besetzt. 1915 antwortete das nach Dorna-Watra (Vatra Dornei) verlegte Landespräsidium dem Ministerium, dass das entsprechende Dienststück bei der Landesregierung in Czernowitz zurückgeblieben sei und erst beschafft werden müsste.26 Eine Stellungnahme des späteren Bukowiner Metropoliten Nectarie Cotlarciuc (1875 – 1935) zu einer Anfrage der Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche erhärtet die Annahme, dass diese Disziplinarordnung bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918 und wohl auch darüber hinaus keine Rechtskraft erlangte.27 Akten belegen auch eine zweifache Verbindung zwischen der österreichischen Metropolie und der Rumänischen Orthodoxen Kirche. Erstens übermittelte Metropolit Cotlarciuc 1926 laut seiner zuvor zitierten Stellungnahme den Entwurf der Disziplinarordnung für das Bukowiner Erzbistum an die Heilige Synode. Daher wäre zu prüfen, inwieweit das im selben Jahr verabschiedete Dokument über die kirchliche Gerichtsbarkeit „Ordnung des Verfahrens der Disziplin- und Gerichtsinstanzen der Kirche“28, durch den österreichischen Entwurf beeinflusst ist, von dem es sich – jedenfalls in Umfang und Systematik – deutlich unterscheidet. 1949 verabschiedete die Rumänische Orthodoxe Kirche eine neue Disziplinar- und Gerichtsordnung, die nach dem Fall des Kommunismus mehrfach novelliert wurde und schließlich 2014 durch ein neues Dokument ersetzt wurde.29 Zweitens findet sich neben der Aussage im erwähnten Schreiben von Metropolit Nectarie, wonach der für das Czernowitzer Erzbistum erstellte Entwurf vom dortigen Konsistorium erarbeitet wurde,30 in einem Akt der Hinweis, dass es vom Czerowitzer Kanonisten Constantin Popovici, einem Schüler des bedeutenden Wiener Kanonis26

Schreiben vom 04. 06. 1915, Zl. 11511/D in: ÖStA, AVA, UK, NK, Akath., Gr.-Or., Sign. A21–Generalien–Disziplinarordnung, K. 21, Zl. 17384/1915; zur Lage in der Bukowina vgl. 3_\_UY]Ya 8Q`_\_Sbm[YZ, 2d[_SY^Q S _bcQ^^wZ SwZ^w 1Sbca_-DT_ajY^Y 1914 – 1918, Czernowitz 2003. 27 ˇ O, Die Stellungnahme vom 04. 03. 1926 zum Synodalschreiben Zl. 19/1926 in: DAC Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 100v, verweist zwar auf den für das Erzbistum erstellten Entwurf (siehe oben Anm. 18) und auf dessen Nichtgenehmigung durch das österreichische Ministerium, die Fassung von 1908 dürfte aber mitgemeint sein. Die Indices für die Vorträge der kaiserlichen Kabinettskanzlei (ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv) enthalten keine Hinweise auf eine etwaige Inkraftsetzung. Im Amtsblatt des Czernowitzer Erzbistums (Foaia Ordina˘ ciunilor) von 1915 bis 1918 findet sich ein solches Dokument ebenfalls nicht. Für letztere Information danke ich Herrn Prof. Mychajlo Cˇ ucˇ ko. 28 Regulamentul de procedura˘ al instant¸elor de disciplinare s¸i judecatores¸ti ale Bisericii Ortodoxe Române, angenommen im Juni 1926 vom Hl. Synod, sanktioniert mit königlichem Dekret Nr. 4160 vom 29. Dezember 1926 und veröffentlicht in: Monitorul Oficial Nr. 290/ 30. 12. 1926 sowie in: Chiru C. Costescu, Colect¸iunea de Legiuiri biserices¸ti s¸i s¸colare adnotate. Vol. III. Legi, regulamente, canoane, statute, decizii, jurisprudent¸e, etc. Bukarest 1931, S. 495 – 547. Vgl. auch DACˇ O, Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 101 – 107. 29 Patriarhia Româna˘ (Hrsg.), Regulamentul autorita˘ ¸tilor canonice disciplinare s¸i al instant¸elor de judecata˘ ale Bisericii Ortodoxe Române, Bukarest 2015. Zur Geschichte der Kodifikation seit 1926 vgl. die Einleitung auf S. 7 – 12. 30 Wie Anm. 27.

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ten Josef von Zhishman, entworfen wurde.31 Popovici, der als Beisitzer an den Synoden von 1903 und 1908 beteiligt war, hatte bereits im Zuge seines Studiums im Jahre 1871 eine inzwischen edierte Abhandlung über die Kirchenstrafen verfasst.32 In einem Synodalschreiben der Rumänischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahre 1926 findet sich ebenfalls der Vermerk, dass Popovici, der von 1925 bis 1931 dem Czernowitzer geistlichen Eparchialkonsistorium vorstand, den Text des neuen rumänischen Entwurfs zum Studium erhalten hatte.33 Der Entwurf der Disziplinarordnung gliedert sich in die beiden Hauptteile „von der geistlichen Disziplin“ und „von der geistlichen Disziplinargerichtsbarkeit“. Der erste Teil umfasst nach allgemeinen Bestimmungen drei weitere Abschnitte über den geistlichen Lebenswandel und Dienst. Der zweite Teil umfasst nach allgemeinen Bestimmungen neun weitere Abschnitte über Disziplinarvergehen und deren Bestrafung, Disziplinarbehörden, Disziplinarverfahren, die Berufung gegen Erkenntnisse, Zustellung, Wiederaufnahme der Verfahren, Vormerkung von Strafen, Verjährung und eine Schlussbestimmung. Der Entwurf weist große Ähnlichkeiten mit zwei etwas früheren Dokumenten auf. Die Abhängigkeit des ersten Teils von der Ordnung der Metropolie von Karlowitz von 1899 wird nicht nur an strukturellen und textlichen Übereinstimmungen deutlich, sondern geht auch aus einer zeitgenössischen Quelle hervor.34 Ein Vergleich macht deutlich, dass für den zweiten Teil offensichtlich die Disziplinarordnung für die Evangelische Kirche A.B. von 1887,35 die 1890 auch für die Evangelische Kirche Helvetischen Bekenntnisses provisorisch in Kraft trat, als maßgebliche Vorlage diente36. Angesicht der beträchtlichen konzeptionellen Übereinstimmung mit den genannten Dokumenten stellt sich die bereits an anderer Stelle aufgeworfene Frage,37 ob nicht auch hier – wie später beim Protestantengesetz 1961 und dem Orthodoxen-

31 Schreiben des Czernowitzer Konsistoriums an den Erzbischof vom 09./23. 01. 1904, Zl. 2465, in: DACˇ O, Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 49. 32 Constantin Popowicz, Von den Kirchenstrafen, ediert in: Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 277 – 294; zu Popovici vgl. ebd. S. 106 f. – Materialien zum orthodoxen Strafund Strafprozessrecht aus dem Nachlass Zhishmans finden sich in: UB Wien Ms. I 765 germ. (I 342.753), Ms. I 781 germ. (I 345.807), Ms. I 809 germ. (I 351.254), Bl. 292 – 296, vgl. dazu Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 302 f., 310, 324. 33 Schreiben vom 13. 03. 1826, Zl. 129, in: DACˇ O, Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 101r. 34 Schreiben von Erzbischof Vladimir Repta an seine Suffraganbischöfe vom 20.09./02. 10. 1905, Zl. 14 MBD, in: DACˇ O, Fond 320, Opys 3, Sprava 53, Bl. 50r. Zum serbischen Dokument (Ähnliche Abschnitte: 1, 2, 3) s. o. Anm. 13. 35 Provisorische Disciplinarordnung für die evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in jenen Ländern, für welche das kaiserliche Patent vom 08. April 1861 (RGB. Nr. 41) erlassen worden ist. Kundmachung im VBl. des Minist. f. C. u. U. vom 15. Februar 1887, Stück IV (Min.-E. v. 28. Jänner 1887, Z. 850), abgedruckt in: Burckhard, Gesetze, Abt. 1, S. 245 – 257. 36 Vgl. Pace, Ernst Mayrhofer’s Handbuch (Anm. 2), 4. Bd., S. 421, Anm. 2. 37 Vgl. Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 149 f.

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gesetz 196738 – die evangelische Kirche als „Minderheitskonfession par excellence“ die Bestimmungen für die orthodoxe Kirche beeinflusste, sofern dem nicht durch Selbstverständnis und Verfassung Grenzen gesetzt waren. Eine eingehende Einordnung des Dokuments in die österreichische Kultusgesetzgebung ist freilich noch ebenso ausständig wie eine Auswertung in Hinblick auf das orthodoxe Kirchenrecht. Ein gewisser paternalistischer Grundtenor und die Betonung der Vorbildfunktion der Kleriker dürfte auch von einer konfesssionsübergreifenden österreichisch-josephinischen Tradition herrühren. Ebenso deutlich wird das Bemühen um eine teils stark in Details hineinreichende Beachtung der kirchlichen und gesellschaftlichen Praxis und der orthodoxen Rechtstradition im Bereich der Kirchenstrafen. Das sorgfältig ausgearbeitete Dokument wird nicht zuletzt deshalb ediert, weil es ein schönes Beispiel für die orthodoxe Kirchenrechtstradition in der ausgehenden Habsburgermonarchie darstellt. Inwieweit es durch die – insbesondere in der Bukowina – von nationalen Spannungen geprägte brisante politische und kirchenpolitische Lage der damaligen Zeit beeinflusst ist,39 wäre noch zu untersuchen. Das nachfolgend wiedergegebene Dokument wurde von der Bukowiner Vereinsdruckerei in Czernowitz gedruckt. Die buchstabentreue Edition folgt dem Original auch hinsichtlich Orthographie und Interpunktion. Fett- und Kursivdruck sind ausgewiesen, nicht aber unterschiedliche Schriftgrößen und Schriftarten. Diese betreffen die Überschriften, Einteilungen und sonstige Angaben, nicht aber den Text der Paragraphen. Die Paginierung des Dokuments, die spätere Foliierung des Aktes und Konjekturen im Quellentext sind in eckigen Klammern ausgewiesen. Editorische Anmerkungen sind in Fußnoten gesetzt.

II. Edition Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Unterricht und Kultus, Neuer Kultus, Akatholisch, Griechisch-Orientalisch, Signatur A3–Generalien–Synode 1908, Karton 2, Zl. 4924/1910, Bl. 40 – 45, Manuskriptdruck, keine handschriftlichen Notizen. [Bl. 40r]

38

588.

Vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 546 –

39 Vgl. Hieronymus Franciscus van Drunen, „A sanguine bunch“. Regional identification in Habsburg Bukovina, 1774 – 1919, Ph. D. Diss. Univ. Amsterdam 2013, https://pure.uva.nl/ ws/files/1531434/126251_thesis.pdf (Stand: 25. 08. 2017) 147 – 178; Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 92 f.; zum Klerus in der Bukowina: Ioan-Paul Valenciuc, Preot¸imea ortodoxa˘ din Bucovina în perioada ocupat¸iei Habsburgice (1775 – 1918). Teza˘ de doctorat, Universität „Babes¸-Bolyai“ Cluj-Napoca 2011. Auf S. 342 fehlt jedoch der Hinweis auf den Entwurfscharakter des oben in Anm. 18 zitierten Dokuments.

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Entwurf. Disziplinarordnung für den Klerus der griechisch-orientalischen Metropolie der Bukowina und von Dalmatien. _____________________ 1. TEIL. Von der geistlichen Disziplin. ____________ I. Abschnitt. Allgemeine Bestimmungen. § 1. Auf Grund der hl. Kanones und der geltenden partikularen Kirchen- und Staatsgesetze und Verordnungen werden zur Erhaltung der entsprechenden Ordnung im Leben des Klerus der gr.-or. Metropolie der Bukowina und von Dalmatien und in der Verwaltung des ihm obliegenden priesterlichen und besonders seelsorgerlichen Dienstes von den Vorschriften, an die sich der Klerus in seinem Leben und Wirken zu halten hat, die augenfälligsten nachstehends in Erinnerung gebracht. § 2. Den Anordnungen dieser Vorschriften sind alle Seelsorger unterworfen. Aber auch auf den übrigen Klerus und auf die noch nicht geweihten Mitglieder desselben finden Anwendung jene Anordnungen dieser Vorschriften, die nicht ausschließlich Gegenstände des seelsorgerlichen, beziehungsweise des priesterlichen Dienstes betreffen. Mönche unterstehen den Anordnungen dieser Vorschriften, insoweit sich unter ihren Mönchsregeln keine besonderen anderslautenden finden. § 3. Inwiefern in diesen Vorschriften nicht alle Anordnungen der hl. Kanones, sowie der geltenden partikularen Kirchen- und Staatsgesetze und Normalien ausdrücklich wiederholt sind, können die übergangenen nicht als aufgehoben betrachtet werden, sondern bleiben in voller Gültigkeit. II. Abschnitt. Vom geistlichen Lebenswandel und Dienste überhaupt. § 4. Jede geistliche Person ist berufen, durch musterhaftes christliches Leben, fleißiges Lehren, liebevolle Anleitung und frommen Gottesdienst das religiös-sittliche Leben der Glaubensgenossen auf dem Gebiete des ihr zugewiesenen Wirkungskreises zu fördern. § 5. Liebe und Ergebenheit seiner Kirche, dem Landesfürsten und dem Vaterlande gegenüber, Gewissenhaftigkeit und Selbstlosigkeit im Dienste seines Berufes, brüderliche Liebe, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit gegen jedermann, sowie Religiosität und Sittlichkeit in allen Lebensverhältnissen, das sind die Tugenden, welche den Geistlichen besonders schmücken müssen. § 6. Der Geistliche soll seine Fähigkeiten und sein Wissen sorgfältig pflegen und vermehren und zum Nutzen seines Berufes eifrigst gebrauchen. § 7. Die Einheit der Kirche erfordert es, daß die Geistlichen als Diener der Kirche in ihrem Wirken und in ihren Absichten von e i n e m Geiste durchdrungen seien, damit sie durch

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willigen Gehorsam gegen ihre Vorgesetzten, Eintracht und gegenseitige Hilfeleistung das gemeinsame Werk ihres Berufes fördern können. [S. II = Bl. 45r] III. Abschnitt. Vom geistlichen Lebenswandel im Besonderen. § 8. Musterhafte Religiosität und Sittlichkeit ist die Hauptbedingung für das erfolgreiche Wirken des Geistlichen, das erste Erfordernis des geistlichen Lebenswandels. § 9. Der Geistliche ist dem Glauben, dem Kultus und der Verfassung der Kirche Treue und Pietät schuldig. § 10. In seinem äußeren Benehmen muß der Geistliche immer anständig und bescheiden, im Denken lauter, im Worte behutsam und klug, im Umgange zuvorkommend und artig sein. Sein Charakter sei offen und von Verstellung, Schlauheit, Lieblosigkeit, Halsstarrigkeit und anderen Leidenschaften frei. § 11. Das Privatleben des Geistlichen soll in allen Verhältnissen der christlichen Lehre entsprechen und geeignet sein, anderen als das beste Beispiel zu dienen. Wegen aller Ausschreitungen, jeglichen Leichtsinns und wie immer gearteter Laster in seinem Privatleben ist der Geistliche einer großen Verantwortlichkeit unterworfen. § 12. In seinem privaten Leben und Tun muß sich der Geistliche vor allem hüten, was sein Ansehen herabsetzen oder seinem Berufe schaden könnte, so vor Streit, Schimpfen, Nachrede, Härte, Gewalttätigkeit, Habgier, Gewinnsucht, Glückspiel, Wucherei, unordentlichem Leben, Neigung zum Trunke, Trinkgelagen und überflüssigem Besuch von Wirtshäusern, vor Besuch ärgerniserregender Vorstellungen im Theater, welches letztere auch an und für sich er in der Fastenzeit gänzlich zu meiden hat, vor verdächtiger weiblicher Hausgenossenschaft und Jagd. § 13. Dem Geistlichen ist es nicht gestattet weltliche Ämter oder Dienste anzunehmen. Eine Ausnahme bildet das Lehr- und Erziehungsamt und die Mitgliedschaft in staatlichen und autonomen Körperschaften oder in Wohlfahrts- und Kulturvereinen, inwiefern er dadurch in der Erfüllung seiner geistlichen Pflichten nicht gehindert wird. Die Annahme eines Lehr- oder Erziehungsamtes muß jedoch immer mit Wissen und Erlaubnis der Diözesanbehörde geschehen. § 14. Als seine berufsgemäße häusliche Hauptbeschäftigung soll der Geistliche das Gebet, das Studieren der hl. Schrift und theologischer Bücher, sowie die Verfassung nützlicher geistlicher oder theologischer Literaturerzeugnisse betrachten. Der künstlerisch begabte und geschulte Geistliche soll auch die kirchliche Kunst pflegen und fördern. § 15. Dem Geistlichen ist es zwar gestattet, sich auch mit weltlichen schriftstellerischen und künstlerischen Arbeiten zu befassen; diese Arbeiten dürfen jedoch der Lehre und dem Geiste der Kirche und der Würde des geistlichen Standes nicht widerstreiten und auch seine Zeit und Kraft nicht zu sehr zum Schaden seines eigentlichen Berufes absorbieren. § 16. Der Geistliche ist seiner kirchlichen Behörde unbeschadet seiner staatsbürgerlichen Freiheit für alle mündlichen oder schriftlichen Äußerungen und für alle Schritte, die er in der Öffentlichkeit getan hat, insoferne sie Glauben, Sittlichkeit, Kirche, geistliche Pflicht und geistlichen Anstand berühren, verantwortlich. § 17. Dem Geistlichen ist es untersagt, solche Zeitungen herauszugeben oder zu unterstützen, welche die religiösen und moralischen christlichen Gefühle oder die Lehre, die Ehre oder die Interessen seiner Kirche oder den österreichischen Patriotismus verletzen.

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§ 18. Im politischen Leben hat sich der Geistliche großer Mäßigung, einer beispielvollen Heilighaltung seiner kirchlichen und staatsbürgerlichen Pflichten und eines die Standeswürde wahrenden und bescheidenen Benehmens zu befleißigen. § 19. Der Geistliche soll die vorgeschriebene und landesübliche geistliche Kleidung tragen. Nur auf Reisen außerhalb seiner Diözese ist ihm ausnahmsweise auch der Gebrauch einer anständigen und bescheidenen Zivilkleidung gestattet. § 20. Der Geistliche ist verpflichtet, in der Kirche, vor seinen Vorgesetzten und bei allen Feierlichkeiten in dem landesüblichen geistlichen Obergewande zu erscheinen. § 21. Der gr.-or. Priester darf Haar und Bart nicht kurz und nach Art der Laien scheren. Auch trägt er, wie. überhaupt keine Ringe, einen vom Landesfürsten zur Auszeichnung erhaltenen ausgenommen, so auch keinen Ehering. § 22. Die Geistlichen sind verpflichtet, mit Enthaltsamkeit im Essen und Trinken, wie auch mit dem Einhalten der Fastenzeiten den übrigen Gläubigen zum guten Beispiele zu dienen. § 23. Der Geistliche darf ohne die äußerste Notwendigkeit und ohne die Erlaubnis seiner Diözesanbehörde gegen niemand, und am wenigsten darf ein Seelsorger gegen seine Pfarrlinge Prozeß führen; ihm ist es nur ausnahmsweise erlaubt, in einer gerechten Sache vor Gerichte Arme zu vertreten oder solche, die sich unter seiner Vormundschaft befinden. § 24. Der gesellschaftliche Verkehr der Geistlichen miteinander soll ein freundschaftlicher und brüderlicher sein. § 25. Den Geistlichen ist es untersagt, ohne Erlaubnis der Diözesanbehörde vor dem Ziviloder Strafgerichte gegen einander Prozeß zu führen. § 26. Das Verhältnis des Geistlichen zu den Vertretern weltlicher Behörden soll ein amtlich höfliches und zuvorkommendes sein. [S. III = Bl. 45r] § 27. Mit allen seinen Mitbürgern, ohne Unterschied der Nationalität und Konfession, soll der Geistliche in Eintracht und Liebe leben. § 28. Der Geistliche ist verpflichtet, die Ehre und das Ansehen seiner Religion und Kirche immer sorgfältig zu hüten und dabei jeder anderen Konfession die gebührende Achtung zu erweisen. § 29. Der Geistliche hat auch seine Gattin, seine Kinder und alle seine Hausgenossen zu einem musterhaften religiös-sittlichen und kirchlichen Leben anzuhalten. IV. Abschnitt. Vom geistlichen und vorzugsweise vom seelsorgerlichen Dienste im Besonderen. § 30. Der Geistliche ist in dem ihm anvertrauten kirchlichen .Dienste verpflichtet, nicht nur alle Dienstobliegenheiten gewissenhaft zu erfüllen, sondern auch die heiligen Interessen, zu deren Wahrnehmung er bestellt ist, verständnisvoll mit aller Selbstlosigkeit und allem Eifer zu fördern, jede Gefahr, welche diesen Interessen oder der Ehre des Dienstes droht, getreu den höheren Behörden zur Kenntnis zu bringen und auch die ihm dienstlich Unterstehenden mit brüderlicher Liebe, aber auch mit Energie, durch Zuspruch, Ermahnung, Warnung und nötigenfalls Anrufung der Hilfe der Oberbehörde in der genauen Erfüllung ihrer Pflichten. und in der Wahrung der Interessen und der Ehre des Dienstes zu erhalten. Jeder ist ebenso wie für die eigene Pflichterfüllung auch für diejenige der ihm dienstlich Unterstehenden verantwortlich.

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§ 31. Seinen kirchlichen Vorgesetzten ist der Geistliche Ehrerbietigkeit und in dienstlichen Sachen gesetzmäßigen Gehorsam schuldig. Glaubt er gegen sie Grund zur Beschwerde zu haben, so hat er eine solche bei der über ihnen stehenden Behörde anzubringen, sich aber sowohl in der Beschwerde als auch sonst bei widrigenfalls zu gewärtigender Strafe aller Ausfälle, Beleidigungen und Unehrerbietigkeiten zu enthalten. § 32. Wegen der- Einheit der Kirche und ihrer Hierarchie ist der Geistliche zur Ehrerbietigkeit nicht nur gegen seine direkten kirchlichen Vorgesetzten, sondern auch gegen alle Mitglieder der ihm übergeordneten Stufen der Hierarchie verpflichtet, nicht minder aber auch zur Achtung gegen alle Mitglieder seiner eigenen und selbst einer niedrigeren hierarchischen Stufe. § 33. Der Geistliche hat, wie in seinen persönlichen, so auch in seinen amtlichen Angelegenheiten an die höheren staatlichen Autoritäten in der Regel im Wege der Diözesanbehörde und auch an diese in der Regel im Wege einer etwa bestehenden geistlichen Mittelbehörde sich zu wenden und darf von dieser Regel ohne triftigen Grund nicht abweichen. § 34. Die Amtskorrespondenz des Geistlichen muß pünktlich, gewissenhaft und genau, von aller Anzüglichkeit oder Beleidigung frei und nach Inhalt und Form durchaus anständig sein. Seine Anzeigen, Berichte, Mitteilungen, Äußerungen und Zeugnisse dürfen nur Wahrheit enthalten. § 35. Zu den Dienstpflichten eines Geistlichen gehört auch Friedfertigkeit und Höflichkeit gegen alle, mit denen er vermöge seines Dienstes in Berührung kommt. Der Geistliche darf durch sein dienstliches Benehmen niemandem gegründeten Anlaß zur Klage geben. § 36. Bei Erfüllung seiner Dienstpflichten hat sich der Geistliche von Lieblosigkeit, Härte, Parteilichkeit, Eigennutz, Gewinnsucht und selbst vom Scheine dieser Untugenden fern zu halten, bei Einhebung der ihm gesetzmäßig zukommenden Gebühren die größte Bescheidenheit, Milde und Würde zu beobachten und die Armen ganz frei zu halten. § 37. Kirchliches Gut darf der Geistliche bei schwerer Strafe weder selbst unrechtmäßig oder unredlich verwenden, noch anderen eine solche Verwendung gestatten. Sehr ehrlos und strafbar ist auch das unredliche Gebahren mit Pfarreinkünften, welche in ihrer Gänze oder teilweise einem anderen zukommen. § 38. Der Geistliche hat, wenn er nicht seitens seiner vorgesetzten Behörden aus triftigen Gründen für einige Zeit ausnahmsweise davon entbunden ist, in seinem Dienstorte zu wohnen. Auch darf er sich von seinem Dienstorte, beziehungsweise von dem ihm bewilligten ausnahmsweisen Wohnorte nur unter genauer Beobachtung der geltenden Urlaubsvorschriften entfernen. Eigenmächtiges Wohnen außerhalb des Dienstortes und Mißbrauch oder Überschreitung der zugestandenen Zeit des Fernbleibens vom Dienst-, beziehungsweise Wohnorte ist strafbar. § 39. Kein Geistlicher darf sich bei schwerster Strafe anläßlich der Anstrebung und Besetzung von geistlichen Ämtern und Dienststellen oder anläßlich von Wahlen Unlauterkeiten oder Umtriebe, geschweige denn Simonie im engsten Sinne des Wortes zu schulden kommen lassen. § 40. Der Geistliche hat in und außerhalb der Kirche zu jeder besonderen Zeit und in jedem besonderen Falle alle jene, aber auch nur jene gottesdienstlichen Handlungen zu verrichten, die nach den kirchlichen Regeln und den Anordnungen der kirchlichen Behörde für die Zeit und den Fall vorgeschrieben sind und zu seinem Wirkungskreise gehören. § 41. Ein suspendierter Geistlicher darf, ohne in die schwerste Strafe zu verfallen, keine geistliche Funktion vornehmen.

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§ 42. Jeder Gottesdienst und jedes Gebet, das in oder außerhalb der Kirche verrichtet wird, sei es als öffentliche Andacht, sei es nach dem Wunsche einzelner Personen, ist zeitgerecht, [S. IV = Bl. 41v] nach den kirchlichen Vorschriften, pünktlich, ordentlich und fromm zu verrichten. In besonders hohem Grade erfordern eine unverzügliche, willige und liebevolle Verwaltung die Taufe und die Krankenversehung bei Todesgefahr. § 43. Jeder Priester muß beim Verrichten der hl. Liturgie40, wenn er dabei nicht bloß assistiert, unbedingt kommunizieren. Wenn er für die hl. Kommunion nicht vorbereitet ist, so ist es ihm streng untersagt, zu zelebrieren, es müßte denn sein als bloßer Assistent. § 44. Das Singen und das Lesen des Geistlichen muß laut (mit Ausnahme der leisen Gebete), klar, ohne Eile und ohne Auslassung von Sätzen oder Wörtern sein. § 45. Dem zelebrierenden Priester ist es streng verboten, ohne die äußerste Not den Gottesdienst zu unterbrechen. § 46. Dem Priester ist es streng untersagt, beim Gottesdienste oder bei kirchlichen Prozessionen zu plaudern, zu lachen, ohne Grund umherzuschauen oder sich womit immer zu unterhalten. § 47. Wenn zwei oder mehrere Priester gemeinsam zelebrieren, so haben sich die niedriger gestellten hinsichtlich der Ordnung den Anordnungen des höher, resp. höchst gestellten zu unterwerfen. § 48. Der Priester, welcher Vorstand einer Kirche ist, hat für die Ordnung und Reinlichkeit der Kirche und der Kirchengeräte zu sorgen und muß darauf bedacht sein, daß alles, was für die Kirche notwendig ist, angeschafft werde, daß es hinsichtlich der Form, Materie und Ausführung den Vorschriften, dem Geiste und der guten Sitte der Kirche entspreche und daß die Kirchenbücher in einer zulässigen Ausgabe vorliegen. § 49. Die Kirchengewänder müssen rein und wohl erhalten sein. Bei kirchlichen Prozessionen dürfen sich die dabei fungierenden Geistlichen keiner anderen Kopfbedeckung bedienen, als der gebräuchlichen Klerikerkappe (des Podkap). § 50. Keinem Geistlichen ist gestattet, zur Zeit des öffentlichen Gottesdienstes, außer in äußerst dringenden Notfällen, abzureisen oder sich an öffentlichen Orten zu zeigen. § 51. Ein Geistlicher, der seine liturgischen Pflichten vernachlässigt, ist der Irreligiosität schuldig. § 52. Der Pfarrgeistliche ist verpflichtet, alle kirchlichen Funktionen, für die kein Honorar vorgeschrieben ist, jedesmal, wenn sie das Rituale vorschreibt, unbedingt, jene aber, die honoriert werden und nicht von absoluter dogmatischer oder ritueller Notwendigkeit sind, nur auf Wunsch zu verrichten. Für Taufe, Firmung, Beichte und Kommunion darf nicht nur nach der gesetzlichen Stolordnung, sondern auch nach den kirchlichen Kanones, welche die Verwaltung dieser Sakramente für Geld oder Geldeswert für einen frevelhaften Mißbrauch des geistlichen Amtes erklären, kein wie immer gearteter Entgelt gefordert werden. § 53. Gedächtnisfeier[n], Parastasen41 und Totenliturgien, für die der Kirche Legate hinterlassen worden sind, müssen genau in Evidenz geführt, und in der bestimmten Zeit unbedingt und unverkürzt verrichtet werden. § 54. Die heilige Pflicht des Klerus ist es, acht zu geben, daß sich in die Kirche nichts einschleiche, was der Heiligkeit derselben unwürdig wäre. 40 Der Begriff heilige (bzw. göttliche) Liturgie bezeichnet in der Orthodoxie die eucharistischen Gottesdienste. 41 Der Begriff Parastas bezeichnet einen Gottesdienst zum Totengedenken.

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§ 55. Der Geistliche hat unter schwerer Verantwortlichkeit in Ansehung dessen, was ihm in der Beichte oder sonst unter dem Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit anvertraut wurde, das tiefste Geheimnis zu bewahren. § 56. Auf das Predigen und Katechisieren muß der Seelsorgeklerus besonderes Gewicht legen und darauf bedacht sein, daß die Pfarrlinge von den christlichen Wahrheiten immer mehr Kenntnis und Überzeugung erhalten und ihre Herzen im christlichen Sinne immer mehr veredelt werden. § 57. Die Vernachlässigung des Predigens und Katechisierens verfällt denselben Strafen, wie die der liturgischen oder seelsorgerlichen Pflichten. § 58. Auch außerhalb des Gotteshauses ist der Seelsorger verpflichtet, seine Pfarrlinge als ihr geistlicher Vater zu belehren, zu trösten und von schlechten Sitten und Irrlehren abzulenken, dagegen zu Werken echter Frömmigkeit. und leiblicher und geistlicher christlicher Barmherzigkeit durch Wort und Beispiel zu ermuntern. § 59. Mit besonderem Fleiße soll der Seelsorger sein Katechetenamt verwalten und auch die der Schule entwachsene oder fern gebliebene Jugend in der Religion sorgfältig unterrichten. § 60. Die Predigten und Katechesen haben klar, einfach, überzeugend und taktvoll zu sein. § 61. Es ist dem Geistlichen streng untersagt, in seinen Predigten und Belehrungen eine der Religion und Kirche fremde Lehre zu vertreten, unanständige und lächerliche Ausdrücke zu gebrauchen oder wen immer persönlich anzugreifen und zu beleidigen. _____________________ [S. V = Bl. 42r] II. TEIL Von der geistlichen Disziplinargerichtsbarkeit ____________ I. Abschnitt. Allgemeine Bestimmungen. § 62. Die nachstehenden Vorschriften sind anwendbar auf alle Mitglieder des Klerus der gr.-or. Metropolie der Bukowina und von Dalmatien, ausgenommen diejenigen von ihnen, welche die bischöfliche Weihe haben und infolgedessen der unmittelbaren Disziplinargerichtsbarkeit der Metropolitansynode42 unterstehen, oder welche vermöge ihres Amtes einer anderen als der kirchlichen Disziplinargewalt unterworfen sind und hinsichtlich welcher der kirchlichen Disziplinarbehörde eine Disziplinargerichtsbarkeit nur in dogmaticis et spiritualibus zusteht. Demnach sind diese Vorschriften mit den erwähnten Ausnahmen anwendbar auf geweihte Säkular- und Regularkleriker der Kirchenprovinz und auf noch nicht geweihte, jedoch in den Klerikalverband derselben aufgenommene Kandidaten des geistlichen Standes. § 63. Durch zeitlichen oder bleibenden Aufenthalt eines Klerikers dieser Kirchenprovinz außerhalb des territorialen Umfanges derselben wird die Anwendbarkeit der vorliegenden Vorschriften auf ihn nicht ausgeschlossen, wohl aber durch seine im Sinne der Kirchengesetze vollzogene Entlassung aus dem bisherigen Diözesanverbande der Kirchenprovinz.

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Vgl. § 14 Pkt. 9. lit. A des Synodalstatuts, dazu oben Anm. 3.

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§ 64. Der Behandlung nach diesen Vorschriften unterliegt jene von den im § 62 angeführten Personen, welche sich einer im Grunde der nachfolgenden Bestimmungen strafbaren Handlung schuldig macht. Auf Übertretungen gegen die Hausordnungen in den gr.-or. Klöstern und in den gr.-or. Klerikalseminarien der Kirchenprovinz sind jedoch die nachstehenden Vorschriften nicht anwendbar und es bleiben daher die gedachten Hausgesetze auch weiterhin in voller Rechtskraft. § 65. Die Einleitung und Durchführung des kirchlichen Disziplinarverfahrens ist von der Einleitung und Durchführung des strafgerichtlichen Verfahrens unabhängig. Es kann jedoch die Durchführung des kirchlichen Disziplinarverfahrens bis nach erfolgtem Abschlusse des strafgerichtlichen Verfahrens vertagt werden. II. Abschnitt. Von den Disziplinarvergehen und deren Bestrafung. § 66. Jedem Kleriker liegt es ob, die allgemeinen Pflichten seines Standes in einer dem universellen kanonischen Rechte und den partikularen Diözesanvorschriften vollkommen entsprechenden Weise genau und pünktlich zu erfüllen. Ist er auch Kirchenbeamte, so hat er zugleich das ihm übertragene Amt in Gemäßheit der bestehenden allgemeinen und besonderen Kirchengesetze und Verordnungen gewissenhaft wahrzunehmen und sich durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens, welche sein Beruf erfordert, würdig zu erweisen. Ein Kleriker, der diese Pflichten verletzt, begeht ein Disziplinarvergehen, das nach den vorliegenden Bestimmungen zu bestrafen ist. § 67. Die Disziplinarvergehen werden eingeteilt in leichte und schwere. § 68. Zu den leichten Vergehen gehören insbesondere: a) Einmalige und geringfügige Vernachlässigung des Dienstes und mindere Ordnungswidrigkeiten bei Verrichtung der Dienstfunktionen; b) einmalige und geringfügige Verletzung der den Standes-, beziehungsweise Amtsgenossen und den Vorgesetzten schuldigen Achtung; c) leichte Verstösse gegen Sitte und Anstand, zu denen auch die minder erheblichen Verletzungen der Standespflichten gehören. § 69. Zu den schweren Vergehen gehören insbesondere: a) Wiederholte oder grobe Vernachlässigung des Dienstes; b) fortgesetzte Ordnungswidrigkeiten in Verrichtung der Dienstfunktionen; c) wiederholte oder grobe Verletzung der schuldigen Achtung gegen die Vorgesetzten und Renitenz gegen deren Anordnungen; d) grobe oder wiederholte Verstösse gegen die Anständigkeit und Ehrbarkeit des Wandels und schwere Verletzung des Sittengesetzes, wohin auch die erheblicheren Verletzungen der Standespflichten einzureihen sind; [S. VI = Bl. 42v] e) Unlauterkeiten und Umtriebe oder gar Simonie im engsten Sinne des Wortes bei kirchlichen Stellenbesetzungen oder Wahlen. Als hieher gehörende Unlauterkeiten und Umtriebe werden alle Handlungen angesehen, welche darauf berechnet sind, die bei Besetzung der Kirchenämter in Betracht kommenden Faktoren, beziehungsweise die Wähler bei Ausübung ihres Wahlrechtes in ihrer diesbezüglichen Tätigkeit oder Haltung irrezuleiten, zu täuschen

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oder überhaupt die Besetzung, beziehungsweise die Wahl durch unlautere Mittel zu beeinflussen; f) Unwahrheit und Verletzung der Amtstreue in Amtssachen; g) Mißbrauch des Amtes oder Dienstes aus Leidenschaft, Eigennutz oder sonstiger unlauterer Nebenabsicht; h) eigenmächtiges und ungerechtfertigtes Verlassen des Amtes oder Dienstes; i) grobe oder wiederholte Herabwürdigung der Lehren, Gebräuche, Einrichtungen und Anordnungen der Kirche, worunter alle Vergehen gegen den Glauben, den Kultus und die Verfassung der Kirche zu verstehen sind. § 70. Bei überwiegenden erschwerenden Umständen können auch leichte Vergehen als schwere, dagegen bei überwiegenden mildernden Umständen auch schwere Vergehen als leichte bestraft werden. § 71. Im allgemeinen gilt als erschwerend: Je mehr Pflichten des Standes oder Amtes oder Dienstes durch das Vergehen verletzt worden, je mehr sträfliche Handlungen oder Unterlassungen zusammentreffen, je größer der durch das Vergehen veranlaßte sittliche oder materielle Schaden, je reifer die Überlegung und Vorbereitung, je öfter die Wiederholung oder Bestrafung, je übler das gegebene Beispiel und je größer das öffentliche Ärgernis. Dagegen gilt als mildernd: Früherer untadelhafter Wandel, frühere ersprießliche Dienstleistung, dem Vergehen nachgefolgte Reue, eifriges Bestreben, den Schaden wieder gutzumachen, wirkliche Genugtuung, Verübung des Vergehens aus Aufwallung des natürlichen Menschengefühls, aus drückender Armut oder aus Furcht. § 72. Die Strafen der leichten Vergehen sind: 1. Rügen. 2. Geldbußen bis zu 50 Kronen43, und zwar in der Bukowiner Erzdiözese zu Gunsten des Diözesan-Armenfondes und in den dalmatinischen Diözesen zu Gunsten des geistlichen Witwen- und Waisenfondes. 3. Verweisung zu Bußübungen in ein geistliches Rekollektions-Internat oder in ein Kloster für die Dauer von höchstens 8 Tagen, welche Strafe ebenso wie die unter 2 mit den im § 73 zu Punkt 1, 2 und 3 vorgesehenen Modalitäten und mit eventueller Ersetzung durch andere in den § 72 und 73 bezeichneten Strafarten zu verhängen ist. Der Unterhalt im Rekollektions-Internat oder im Kloster wird vom Geahndeten selbst bestritten. 4. Die Suspension von den Weiherechten, d. i. von der Ausübung der aus der Weihe fließenden Rechte für die Dauer von höchstens einem Monate. § 73. Die Strafen der schweren Vergehen sind: 1. Schriftlicher Verweis, welcher verschärft werden kann durch Androhung strengerer Behandlung im Wiederholungsfalle. 2. Geldstrafen von mehr als 50 und bis zu 100 Kronen, und zwar in der Bukowiner Erzdiözese zu Gunsten des Diözesan-Armenfondes und in den dalmatinischen Diözesen zu 43 Dieser Betrag (Stand 1908) entspricht derzeit 294 Euro (https://www.oenb.at/docroot/in flationscockpit/waehrungsrechner.html [05. 01. 2017]). Das durchschnittliche Wocheneinkommen eines ungelernten Wiener Industriearbeiters betrug 1910 18 Kronen, der Brotpreis pro kg 0,31 Kronen; vgl. Roman Sandgruber, Was kostet die Welt?! Geld und Geldwert in der österreichischen Geschichte, in: Wolfgang Häusler (Hrsg.), Geld. 800 Jahre Münzstätte Wien, Wien 1994, S. 181 – 194, hier 183.

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Gunsten des geistlichen Witwen- und Waisenfondes. Kann eine Geldstrafe aus was immer für Gründen nicht eingebracht werden, so ist an deren Stelle eine andere der in diesem Paragraph bezeichneten Strafarten ohne weiteres Verfahren durch Urteil zu verhängen. 3. Die Verweisung des schuldig befundenen Klerikers zu Bußübungen in ein geistliches Rekollektions-Internat oder in ein Kloster für die Dauer von mehr als 8 und von höchstens 90 Tagen nach vorausgegangener Einwilligung desselben und auf eigene Kosten. Im Falle der gegebenen Einwilligung des Verurteilten ist im Sinne des Gesetzes vom 27. Oktober 1862 (R. G. Bl. Nr. 87) und in Befolgung der Ministerial-Verordnungen vom 7. Juni und 7. August 1869 (R. G. Bl. Nr. 134 und Nr. 135) der k. k. Regierung die Anzeige zu erstatten. Ist diese Einwilligung nicht gegeben worden oder hat der Verurteilte trotz gegebener Einwilligung diese Freiheitsstrafe nicht angetreten oder nicht vollständig eingehalten, so ist mit tunlichster Beschleunigung ohne weiteres Verfahren auf eine andere der in diesem. Paragraph bezeichneten Strafarten zu erkennen. 4. Die Entziehung kirchlicher Auszeichnungen und Würden. Diese kann, sobald sie nicht die natürliche Folge einer anderen Disziplinarstrafe (Punkt 8 – 11) ist, entweder als selbständige Disziplinarstrafe oder als Verschärfung einer anderen Disziplinarstrafe ausgesprochen werden. 5. Die Suspension, und zwar: a) Die Suspension von den Weiherechten, d. i. die Entziehung der Ausübung der aus der Weihe fließenden Rechte für die Dauer von mehr als einem Monate; b) die Suspension von den Amtsrechten (im engeren Sinne) d. i. die Entziehung der Ausübung der in einem bestimmten Kirchenamte enthaltenen spirituellen Rechte; [S. VII = Bl. 43r] c) die Suspension von den Amtsbezügen, d. i. die Entziehung der Ausübung der durch das Benefizium insbesondere gegebenen temporellen Rechte. Diese drei Arten von Suspensionen können entweder getrennt von einander als Spezialsuspension oder vereinigt als Generalsuspension und im ersten Falle wieder nur in einzelnen Wirkungen derselben als partielle oder in allen ihren Wirkungen als totale verhängt werden. In der totalen Suspension von den Amtsrechten ist bei allen Kirchenämtern, die eine Weihe voraussetzen, nicht bloß das Verbot jedes Aktes der Jurisdiktion und Amtsverwaltung, sondern auch das Verbot jedes Aktes der Weihegewalt, zu welchem das betreffende Kirchenamt berechtigt, enthalten. Die partielle Suspension von den Amtsbezügen besteht in der Entziehung eines Teiles der Amtsbezüge. Die Suspension kann auf bestimmte oder unbestimmte Zeit verhängt werden. Mit der Rekollektionshaft ist stets auch gänzliche Entziehung der Amtsfunktionen verbunden, ohne daß diese besonders ausgesprochen zu werden braucht. Als selbständige Strafe kann die auf bestimmte Zeit zu verhängende Suspension in keinem Falle über ein Jahr hinaus verfügt werden. Die Suspension auf unbestimmte Zeit dauert bis zur Fällung des Erkenntnisses durch die Kirchenbehörde, daß der Geahndete sich gebessert hat, im Nichtbesserungsfalle bis zur Zuerkennung einer strengeren Disziplinarstrafe. Auch als Vorsichtsmaßregel kann die Suspension von den Amtsbezügen auch als Zwangsmittel („Gehaltssperre“) gegen Gehorsamsverweigerung und gegen Saumsal in der Pflichterfüllung. 6. Die Versetzung auf einen gleichartigen Dienstposten eines anderen Ortes. – Sie ist nur auf Seelsorger anwendbar. Erweist sich die Versetzung wegen Mangels einer erledigten gleichartigen Seelsorgestelle oder aus anderen von dem Willen des zu Versetzenden unabhängigen Gründen als unausführbar, so ist diesem bis zur Erlangung einer anderen gleichartigen Seelsorgestelle ein Ruhegehalt in der Höhe seiner bisherigen Kongrua zu bewilligen. Hat

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der Seelsorger die ihm zuerkannte gleichartige Seelsorgestelle ausgeschlagen, so ist in einem solchen Falle die Bewilligung eines Ruhegehaltes unzulässig. 7. Die unfreiwillige Versetzung in den zeitlichen oder bleibenden Defizienten- oder Ruhestand mit dem systemmäßigen Ruhegehalt. 8. Die Versetzung auf einen denselben Weihegrad voraussetzenden Dienstposten minderer Kategorie, z. B. von einem Pfarrer- auf einen Hilfspriesterposten. Die Strafe ist auf alle definitiv angestellten Kirchenbeamten anwendbar. Bis zu deren Vollstreckung kann zugleich teilweise oder gänzliche Suspension vom Amte und vom Benefizium ausgesprochen werden. Wegen mangelnder Gelegenheit zur Verwendung des Kirchenbeamten in einem Kirchenamte der zuerkannten minderen Kategorie ist dem zu Versetzenden bis zu seiner Wiederanstellung ein Ruhegehalt in gleicher Höhe mit den Bezügen eines solchen Kirchenamtes minderer Kategorie anzuweisen. Das Ausschlagen eines zuerkannten Kirchenamtes der sentenzmäßigen minderen Kategorie hat auch hier die Unzulässigkeit der Bewilligung des Ruhegehaltes zur Folge. 9. Die zeitliche Amtsentsetzung. Sie bewirkt den Verlust des Kirchenamtes; der Verurteilte bleibt jedoch anstellungsfähig und behält die Rechte des geistlichen Standes. – Die Disziplinarbehörde hat in ihrer Entscheidung zugleich festzusetzen, daß dem Verurteilten eine Alimentation von zwei Dritteln des Ruhegehaltes, welcher für einen Kirchenbeamten seiner Kategorie und seines Dienstalters gesetzlich normiert ist, bis zu seiner Wiederanstellung zuzuwenden sei. 10. Die bleibende Amtsentsetzung. Der von dieser Kirchenstrafe betroffene Kirchenbeamte verliert nicht nur das bisher bekleidete Amt, sondern auch die Anstellungsfähigkeit im Kirchendienste und behält nur die allgemeinen Rechte des Klerikalstandes, selbstverständlich gegen Erfüllung der allgemeinen klerikalen Pflichten. Mit Rücksicht auf den letzteren Umstand soll ihm eine Alimentation zugebilligt werden im Betrage von der Hälfte des Ruhegehaltes, der einem Kirchenbeamten seiner Kategorie und seines Dienstalters gesetzlich zusteht. 11. Die Ausschließung aus dem Klerikalstande. – Sie entzieht dem Kleriker nicht bloß alle besonders erworbenen, sondern auch die allgemeinen, schon mit seinem Stande gegebenen Rechte, so daß er fortan nur mehr als Laie an der kirchlichen Gemeinschaft teilnehmen kann. Sie wird auch gegen noch nicht geweihte Kleriker angewendet und ist die schwerste klerikale Strafe. III. Abschnitt. Von den Disziplinar-Behörden. § 74. Die geistliche Disziplinargerichtsbarkeit wird ausgeübt: I. Vom Diözesan-Konsistorium, d. i.44 44 Die Geschäftsordnung des Czernowitzer Konsistoriums von 1869 ist abgedruckt in: Brusanowski, Rumänisch-orthodoxe Kirchenordnungen (Anm. 2), S. 260 – 277 und in Burckhard, Gesetze (Anm. 2), S. 467 – 493, ebd. S. 294 – 319 auch die für das Bistum von Cattaro geltende Geschäftsordnung des Konsistoriums in Zara von 1870 (mit Änderungen von 1894); vgl. dazu auch Németh, Josef von Zhishman (Anm. 2), S. 89 – 91. Auf Disziplinar- und Gerichtsangelegenheiten nehmen § 2, § 13, § 24. Pkt. V.4 und § 45 Pkt. 9 der erstgenannten Geschäftsordnung und § 2, § 21, § 25 Pkt. IV.1 und § 45 Pkt. 8 der zweitgenannten Geschäftsordnung Bezug. Zur Änderung von § 3 der Czernowitzer Geschäftsordnung vgl. ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kabinettsarchiv, Kabinettskanzlei, Vorträge, Zl. 1426/1918; zur Änderung der §§ 3, 4, 8, 39, 41, 54 und 117 der Geschäftsordnung von Zara ebd., Zl. 1565/ 1916.

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a) vom gr.-or. erzbischöflichen Konsistorium in Czernowitz; [S. VIII = Bl. 43v] b) vom gr.-or. bischöflichen Konsistorium in Zara; c) vom gr.-or. bischöflichen Konsistorium in Cattaro. II. Von der Synode der bukowiner-dalmatinischen gr.-or. Kirchenprovinz. § 75. I. Das betreffende Diözesan-Konsistorium erkennt in allen Disziplinarfällen sämtlicher dieser Disziplinarordnung unterworfenen Personen und zwar endgiltig in den Fällen der leichten Vergehen und Strafen (§§ 68, 70, 72) und als erste Instanz in den Fällen der schweren Vergehen und Strafen (§§ 69, 70, 73). II. Die Synode der bukowiner-dalmatinischen gr.-or. Kirchenprovinz erkennt in zweiter Instanz endgiltig über Berufungen und Beschwerden gegen die vom Diözesan-Konsistorium in erster Instanz erlassenen Entscheidungen und Verfügungen45. § 76. Ausgeschlossen von der Durchführung der Disziplinaruntersuchung, von der Teilnahme an den Beratungen und Schlußfassungen der Disziplinarbehörde und von der Protokollführung in der Sache ist jede für die eine oder die andere der gedachten Funktionen in Betracht kommende Person, welche 1. mit dem Angeschuldigten oder mit demjenigen, über dessen Begehren oder Klage die Disziplinaruntersuchung einzuleiten ist oder eingeleitet wurde, bis einschließlich zum vierten Grade nach der Berechnung des gr.-or. Kirchenrechtes verwandt oder verschwägert ist oder zu ihm im Verhältnisse eines Wahl- oder Pflegevaters, eines Wahl- oder Pflegekindes, eines Vormundes oder Mündels steht oder gestanden ist; 2. in der Sache als Zeuge zu vernehmen oder vernommen worden ist. Jede von den oben genannten Personen, bei welcher eines dieser Verhältnisse zutrifft, ist schuldig, dieses anzuzeigen. § 77. Eine als Untersuchungskommissär, als Vorsitzender oder Votant der Disziplinarbehörde oder als Protokollführer in der Sache in Betracht kommende Person kann auch vom Angeschuldigten oder vom Privatkläger abgelehnt werden, wenn dieser Gründe anzugeben und zu bescheinigen vermag, welche die Unbefangenheit der gedachten Person in Zweifel zu setzen geeignet sind. Solche Gründe sind insbesondere: wenn diese Person zum Angeschuldigten oder zum Privatkläger in einem Verhältnisse. von Feindschaft steht wie auch wenn ihr Privatinteresse oder dasjenige ihr nahestehender Personen durch den Ausgang der Sache berührt wird. Nur der Diözesanvorstand, in der zweiten Instanz ein Diözesanbischof überhaupt kann nicht abgelehnt werden. § 78. Die Ablehnung eines Untersuchungskommissärs kann in jedem Stadium der Untersuchung bis zum Abschlusse derselben, die eines Mitgliedes der Disziplinarbehörde in jedem Stadium des Verfahrens bis zur Fällung des Erkenntnisses und die eines Protokollführers in der Sache in jedem Stadium dieser seiner Verwendung bis zum Ende der Verhandlung geltend gemacht werden, hat jedoch keine rückwirkende Kraft. § 79. Über die Zulässigkeit der Ablehnung entscheidet endgiltig die Instanz, in deren Verfahren der Abgelehnte mitzuwirken hätte. § 80. Im Falle der Ausschließung oder giltigen Ablehnung eines oder mehrerer Mitglieder der Disziplinarbehörde erster oder zweiter Instanz treten an deren Stelle die durch die Geschäftsordnungen der betreffenden Instanzen vorgesehenen Stellvertreter oder Ersatzmänner. Ebenso wird der ausgeschlossene oder giltig abgelehnte Untersuchungskommissär oder Protokollführer durch eine andere zu dieser Funktion geeignete Person ersetzt.

45

Vgl. § 14 Pkt. 9. lit. B des Synodalstatuts, dazu oben Anm. 3.

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§ 81. Bei Verhandlungen und Entscheidungen der Disziplinarbehörden müssen alle Mitglieder, die zur Abhaltung einer Sitzung nach den Geschäftsordnungen der in Frage stehenden Instanzen erforderlich sind, anwesend sein. § 82. Die Beschlüsse werden mit absoluter Stimmenmehrheit gefaßt. Sind die Stimmen zwischen zwei Meinungen geteilt, so dirimiert der Vorsitzende. § 83. Jede Disziplinarbehörde hat die Pflicht, bei allen Erhebungen und Entscheidungen von amtswegen mit gleicher Sorgfalt sowohl die zur Belastung als auch die zur Entlastung des Angeschuldigten dienenden Umstände zu berücksichtigen. § 84. Bei der Entscheidung über die Schuld hat die Disziplinarbehörde, ohne an positive Beweisregeln gebunden zu sein, nur die aus dem Inbegriffe der Verhandlungen und Beweise gewissenhaft geschöpfte Überzeugung zur Richtschnur zu nehmen. IV. Abschnitt. Von dem Disziplinar-Verfahren. § 85. Das Diözesan-Konsistorium hat zunächst von amtswegen in Erwägung zu ziehen, ob die im Wege eigener Wahrnehmung, einer Privat- oder amtlichen Anzeige zu seiner Kenntnis gelangten Handlungen oder Unterlassungen ein zum Disziplinarverfahren geeignetes Vergehen begründen oder nicht. Begründen die angezeigten Handlungen oder Unterlassungen ein solches Vergehen nicht, so wird die Anzeige einfach verworfen und der Anzeiger hievon verständigt. [S. IX = Bl. 44v] Von unbekannten Personen herrührende Anzeigen sollen nur dann berücksichtigt werden, wenn sie ganz bestimmte, das strafbare Vergehen glaubwürdig bezeichnende Umstände enthalten. – Allen Personen, die dieser Disziplinarordnung unterworfen sind, steht es frei, um Einleitung des Disziplinarverfahrens gegen sich selbst anzusuchen. Erkennt das Konsistorium ein zum Disziplinarverfahren geeignetes Vergehen, so hat dasselbe mittels förmlichen Beschlusses die Einleitung der Untersuchung auszusprechen. Von diesem Beschlusse, gegen den keine Berufung zulässig ist, hat der Beschuldigte unter Angabe der Anschuldigungspunkte verständigt zu werden. In Fällen leichter Vergehen kann nach Ermessen des Konsistoriums von der förmlichen Einleitung einer Untersuchung abgesehen und sogleich nach stattgefundener mündlicher oder schriftlicher Einvernehmung des Angeschuldigten mit Fällung des Erkenntnisses vorgegangen werden. Sonst delegiert zum Zwecke der Durchführung der Erhebungen und der Untersuchung das Konsistorium ein Mitglied desselben oder einen anderen dazu geeigneten Priester der Diözese. § 86. Wenn bereits das strafgerichtliche Verfahren durchgeführt wurde (§ 65) und ein rechtskräftiges strafgerichtliches Urteil vorliegt, so kann die Untersuchung ganz entfallen und sogleich zur Disziplinarentscheidung geschritten werden § 87. Das Konsistorium kann, wenn die Interessen der Verwaltung oder das Ansehen des Amtes es erfordern, sogleich bei Einleitung des Verfahrens oder im Laufe desselben gegen den Angeschuldigten die vorläufige Enthebung von der Ausübung des Amtes verhängen und damit nach Ermessen zugleich auch die Einstellung der Amtsbezüge verbinden. Im letzteren Falle aber ist dem Suspendierten eine Alimentation im Betrage von nicht weniger als zwei Dritteilen seiner Amtsbezüge anzuweisen. § 88. Der delegierte Untersuchungskommissär hat über die festgestellten Anschuldigungspunkte und nur über diese die Erhebungen zu pflegen, die Zeugen und den Angeschuldigten zu vernehmen, sowie alle zur Aufklärung der Sache dienenden Beweise herbeizuschaffen. Die Vernehmung kann mündlich oder schriftlich geschehen. Erforderlichenfalls kann eine Konfrontation des Angeschuldigten mit den Zeugen veranlaßt werden. Dem Be-

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schuldigten ist nach Möglichkeit Gelegenheit zu bieten, seine etwaigen Einwendungen gegen die Person des Zeugen während der Untersuchung geltend zu machen. § 89. Jeder Zeuge ist nach vorausgeschickter ernstlicher Wahrheitserinnerung, welche sich auch auf das Nichtverschweigen des ihm Bekannten zu beziehen hat, allein zu vernehmen. § 90. Die Ehegattin des Angeschuldigten, dessen Verwandte und Verschwägerte bis einschließlich zum vierten Grade nach der Berechnung des gr.-or. Kirchenrechtes, Adoptiv- und Pflegeeltern oder Adoptiv- und Pflegekinder können die Zeugenschaft ablehnen. Solche Personen sollen, wenn sie als Zeugen vorgerufen werden, über ihr Recht, die Zeugenschaft zu verweigern, belehrt werden. § 91. Weigert sich ein vorgeladener Zeuge ohne den im § 90 bezeichneten oder einen anderen stichhaltigen Grund vor dem Untersuchungskommissär zu erscheinen, oder weigert sich ein erschienener Rede und Antwort zu geben, und ist seine Einvernehmung zur Ermittlung der Wahrheit unabweislich notwendig, so hat das Konsistorium über Anzeige des Untersuchungskommissärs die Einvernehmung des renitenten Zeugen, wenn er Kleriker einer anderen Diözese oder Laie ist, durch seine Diözesan-, beziehungsweise durch die politische Behörde im Ersuchswege zu veranlassen, ist er aber Kleriker dieser Diözese, so ist er in disziplinarischem Wege zur Folgeleistung zu verhalten. § 92. Wenn der zur Vernehmung vorgeladene Angeschuldigte nicht erscheint, ohne eine hinreichende Entschuldigungsursache angezeigt zu haben, so ist er mit der Androhung nochmals vorzuladen, daß sein abermaliges Nichterscheinen als Verzicht auf die Verteidigung angesehen werden würde. Dieselbe Rechtsfolge hat einzutreten, wenn der Angeschuldigte die abverlangte schriftliche Äußerung in der festgesetzten Frist nicht erstattet. § 93. Nach Durchführung der Untersuchung und nach Vorläge der Erhebungsakten seitens des Untersuchungskommissärs hat das Konsistorium das Erkenntnis zu fällen, eventuell einen Einstellungsbeschluß zu fassen. § 94. Durch das gefällte Erkenntnis muß der Angeklagte entweder für schuldig erklärt oder freigesprochen werden. Über den Schuldigerklärten ist eine der in den §§ 72 bis 73 angeführten, der Größe des Vergehens entsprechende Strafe zu verhängen; auch ist derselbe in die Kosten des ganzen Verfahrens zu verurteilen. Bei einer offenbar mutwilligen oder böswilligen Anklage hat der Privatankläger die Kosten des Verfahrens zu ersetzen. Wird der Angeklagte freigesprochen, so hat, – wenn nicht der Privatankläger in den Kostenersatz verurteilt wurde oder wenn vom Privatankläger die Kosten nicht eingebracht werden können, der Fond, aus welchem die Auslagen der Diözesan-Verwaltung bestritten werden, die Kosten des Verfahrens zu tragen. § 95. Das Erkenntnis, eventuell der Einstellungsbeschluß ist samt den Entscheidungsgründen schriftlich auszufertigen, vom Diözesanbischofe oder dessen Stellvertreter und dem Referenten in der Sache zu unterzeichnen und dem Angeklagten und dem etwaigen Privatkläger in je einer Ausfertigung gegen den Akten beizulegende Empfangsbestätigung zuzustellen. [S. X = Bl. 44v] § 96. Das Erkenntnis erwächst in Rechtskraft, wenn dagegen binnen der gesetzlichen Frist von 30 Tagen keine Berufung eingelegt wurde oder wenn diese nicht mehr zulässig ist. Der Vollzug des rechtskräftigen Erkenntnisses ist vorn Diözesanbischofe oder dessen Stellvertreter zu veranlassen. § 97. Geldstrafen wie auch die Untersuchungskosten sind im Falle der Zwangsvollstreckung mit Hilfe der weltlichen Behörden einzubringen.

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§ 98. Erfordert die Zwangsvollstreckung eines Erkenntnisses weitere Maßregeln, welche außer dem Wirkungskreise der Kirchenbehörden liegen, so ist gleichfalls die Hilfe der weltlichen Behörden in Anspruch zu nehmen. § 99. Im Disziplinarverfahren sind solche in Rechtskraft erwachsene Entscheidungen der Disziplinarbehörde erster oder zweiter Instanz, welche die Versetzung auf einen anderen Posten oder in den Ruhestand oder eine zeitliche oder bleibende Amtsentsetzung von Kirchenamtsträgern verfügen, die zwar der kirchlichen Disziplinargerichtsbarkeit unterworfen sind, deren Bestellung aber nicht durch eine sei es freie, sei es über Präsentation vorgenommene kirchenbehördliche Einsetzung, sondern durch Ernennung der Staatsbehörden oder durch Allerhöchste Entschließung geschehen ist, um vollzugskräftig zu werden, dem zuständigen Ministerium, beziehungsweise durch dessen Vermittlung der Allerhöchsten Schlußfassung zu unterstellen. V. Abschnitt. Von der Berufung gegen Disziplinarerkenntnisse. § 100. Die Berufung kann nur bei schweren Vergehen oder Strafen (§ 75) in folgenden Fällen ergriffen werden: 1. Im Falle der Verwerfung einer Anzeige (§ 85) sowie gegen einen Einstellungsbeschluß des Konsistoriums vom Privatankläger. 2. Gegen ein Erkenntnis des Konsistoriums, a) vom Angeklagten, für den Fall seiner Minderjährigkeit auch von seinem Vater oder Vormund, für den Fall seines Todes von seinen Erben; b) vom Privatankläger. § 101. Die Berufung muß binnen 30 Tagen nach der Zustellung des Erkenntnisses, den Tag der Zustellung und die Tage des Postumlaufes nicht miteingerechnet, bei der in erster Instanz erkennenden Behörde schriftlich eingebracht werden und hat aufschiebende Wirkung. In berücksichtigungswürdigen Fällen kann diese Frist über schriftliches Ansuchen entsprechend verlängert werden. Im Falle der abweislichen Erledigung eines Fristgesuches steht dem Fristwerber noch eine Frist von so viel Tagen offen, als zur Zeit der Überreichung des Fristgesuches von der früheren Frist noch nicht abgelaufen waren. § 102. In der Berufungsschrift können alle Beschwerden sowohl gegen das Verfahren als auch gegen die Entscheidung geltend gemacht werden. Neue Tatsachen und Beweise dürfen bei der Entscheidung in der höheren Instanz nicht berücksichtigt werden, dagegen steht es derselben frei, in solchem Falle eine Ergänzung des Verfahrens zu veranlassen. § 103. Die rechtzeitig überreichte Berufungsschrift ist samt allen in ein Verzeichnis gebrachten Akten der höheren Instanz mit Bericht vorzulegen. Die nach Verlauf der gesetzlichen Frist eingereichte Berufung ist schon von der ersten Instanz von amtswegen zu verwerfen. Gegen diese Verwerfung ist die Berufung unzulässig. § 104. Die Disziplinarbehörde zweiter Instanz, hat das angefochtene Erkenntnis aufzuheben: 1. Wenn die Disziplinarbehörde erster Instanz in der Sache nicht zuständig war; 2. wenn die Disziplinarbehörde erster Instanz nicht mit der gesetzlich vorgeschriebenen Zahl von Mitgliedern besetzt war oder wenn eine in der betreffenden Sache von der Funktion eines Untersuchungskommissärs, eines Mitgliedes der Disziplinarbehörde oder eines Protokollführers ausgeschlossene Person im Verfahren .oder bei dem Erkenntnisse mitgewirkt hat; 3. wenn sie im Verfahren so wesentliche Mängel, Unregelmäßigkeiten oder Gesetzwidrigkeiten findet, daß ohne durchgreifende Verbesserung eine gründliche Entscheidung nicht abgegeben werden kann. Im ersten Falle wird die Sache an die. zuständige Behörde gewiesen und zugleich ausgesprochen, ob und inwieweit auch die Amtshandlungen des früheren Untersuchungsverfahrens

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aufgehoben seien oder Giltigkeit behalten sollen. Im zweiten und dritten Falle wird die Sache zur nochmaligen Verhandlung, beziehungsweise Verbesserung des Verfahrens und der Entscheidung an die erste Instanz zurückgewiesen. § 105. Sonst hat die zweite Instanz das Erkenntnis der ersten Instanz zu bestätigen oder abzuändern; doch darf sie dasselbe zum Nachteile des Angeschuldigten in dem Falle nicht abändern, wenn nur der letztere allein die Berufung eingelegt hat. § 106. Dem Verurteilten steht es frei, die Gnade Seiner kaiserlichen und königlichen Apostolischen Majestät anzurufen. VI. Abschnitt. Von der Zustellung. § 107. Die Zustellung der von der Disziplinarbehörde an die Parteien gerichteten Zuschriften, Erlässe und Erkenntnisse hat in jedem Falle gegen Zustellschein und in der Regel mittels Post zu erfolgen; der Zustellschein ist bei den Akten aufzubewahren. [S. XI = Bl. 45r] § 108. Jedem zur Post gegebenen Aktenstücke ist ein Zustellschein beizugeben, in welchem Datum und Zahl des Aktenstückes enthalten und die Bestimmung beigefügt sein muß, daß der Adressat diesen Zustellschein zu unterschreiben und das Datum beizusetzen habe. VII. Abschnitt. Von der Wiederaufnahme des Verfahrens. § 109. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist sowohl zu Gunsten, als auch zum Nachteile des Beschuldigten dann zulässig, wenn erhebliche neue Beweismittel beigebracht werden, welche – wenn sie bei Schöpfung des Erkenntnisses vorgelegen wären – ein wesentlich verschiedenes Erkenntnis mit Wahrscheinlichkeit zur Folge gehabt hätten. § 110. Über das Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet die erste Instanz, welche vor Abgabe der Entscheidung die erforderlichen Erhebungen veranlassen kann. Gegen den Beschluß, womit die Wiederaufnahme verweigert wird, steht die Berufung an die höhere Instanz binnen dreißig Tagen nach Zustellung des Beschlusses offen. § 111. Wird die Wiederaufnahme bewilligt, so gelten für das neue Verfahren die gleichen Vorschriften, wie für das ursprüngliche. VIII. Abschnitt. Von der Vormerkung der Strafen. § 112. Bei der Disziplinarbehörde erster Instanz ist ein Vormerkbuch zu führen, in welchem alle Disziplinarerkenntnisse, wodurch über einen der Diözese angehörenden Kleriker oder in den Klerikalverband aufgenommenen Kandidaten des geistlichen Standes eine Disziplinarstrafe verhängt wurde, in Vormerkung zu bringen sind. § 113. Nach einjährigem tadellosem Verhalten des Betreffenden ist eine solche Vormerkung, soweit sie Strafen, welche in § 72 und in § 73 Punkt 1 und 2 normiert sind, zum Gegenstande hat, von amtswegen zur Löschung zu bringen und sohin nicht weiter zu berücksichtigen. In anderen Fällen des § 73 kann bei längerem tadellosem Verhalten die Löschung über Ansuchen des Betreffenden von der das Vormerkbuch führenden Instanz, jedoch nie vor Ablauf von drei Jahren, bewilligt werden.

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IX. Abschnitt. Von der Verjährung. § 114. Das Disziplinarvergehen erlöscht, ausgenommen, wenn es Simonie oder ein Unzuchtsvergehen ist, durch Verjährung, wenn a) vom Zeitpunkte seiner Begehung bis zur Erstattung der Anzeige bei der Disziplinarbehörde bei leichten Vergehen ein Zeitraum von wenigstens einem Jahre, bei schweren Vergehen ein Zeitraum von wenigstens fünf Jahren verstrichen ist und wenn nebstdem b) der Beschuldigte während der Verjährungszeit kein weiteres Disziplinarvergehen begangen hat. Bei den unter das Strafgesetz fallenden Handlungen haben die in letzterem enthaltenen Bestimmungen über die Verjährung in Anwendung zu kommen. X. Abschnitt. Schlussbestimmung. § 115. Gleichwie die Vorschriften des vorangehenden I. Teiles der vorliegenden Disziplinarordnung (§§ 1–61), treten auch die Bestimmungen dieses ihres II. Teiles (§§ 62 – 115) mit dem Tage der Verlautbarung in Wirksamkeit. Die letzteren sind auch auf die bereits anhängigen, vor dem erwähnten Tage in erster Instanz noch nicht entschiedenen Disziplinarfälle in Anwendung zu bringen. Alle bisherigen Übungen, welche mit diesen letztgedachten Bestimmungen (§§ 62 – 115) nicht übereinstimmen, werden mit demselben Tage außer Wirksamkeit gesetzt. Von der Synode der gr. or. Metropolie der Bukowina und von Dalmatien. Wien, den 12. (25.) November 1908. Vladimir m.p. _____________________ Bukowiner Vereinsdruckerei in Czernowitz. [Bl. 45r leer]

Der „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“ Sein Ort im katholischen Kirchenrecht und im ökumenischen Dialog Von Helmuth Pree

I. Fragestellung Die folgende Abhandlung, die Prof. Ludger Müller in aufrichtiger Würdigung seines kanonistischen Wirkens gewidmet ist, versucht den CCEO in dessen zwei Bezugsebenen, nämlich in einem ersten Schritt im Recht der katholischen Gesamtkirche bzw. des katholischen Kirchenrechts insgesamt (innerkatholische Perspektive) zu verorten. In einem zweiten Schritt soll der Blick auf die nicht-katholischen christlichen Glaubensgemeinschaften, die sog. getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, geweitet und der Frage nachgegangen werden, welche Rolle dem CCEO im Bemühen um die Einheit der Kirchen zukommt oder zufallen könnte (ökumenische Perspektive). Abschließend sollen dazu einige der wichtigeren ökumenisch offenen Problemfelder benannt werden. Es braucht nicht weiter betont zu werden, dass der gegebene Rahmen keine erschöpfende Analyse aller implizierten Aspekte ermöglicht, sondern nicht mehr als eine auf wesentliche Argumente konzentrierte, problemorientierte Grundinformation sein kann.

II. Der CCEO im Kontext der katholischen Kirche: Innerkatholische Perspektive 1. Die Rechtsgestalt der katholischen Kirche als communio Ecclesiarum Die katholische Kirche in ihrer Gesamtheit ist kein monolithischer Block. Sie ist nicht nur communio fidelium, sondern wesentlich auch communio Ecclesiarum. Letztere bezieht sich zunächst auf die mit dem Papst als Haupt in Einheit stehenden Teilkirchen (Ecclesiae particulares, d. h. Diözesen und ihnen gleichgestellte Teilkirchen), von denen LG 23 lehrt, dass sie nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet

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seien und dass „in quibus et ex quibus una et unica Ecclesia catholica exsistit.“1 In analoger Weise aber bilden auch die orientalischen Ecclesiae sui iuris und die Ecclesia latina eine communio Ecclesiarum. Dieser Aspekt von communio ist ekklesiologisch noch nicht restlos aufgearbeitet, und wird auch in „Communionis notio“ nur andeutungsweise zur Sprache gebracht (Nr. 15 f.). Das Zweite Vatikanische Konzil bietet jedoch eine ausdrückliche Grundlage dafür: „Dank der göttlichen Vorsehung aber sind die verschiedenen Kirchen, die an verschiedenen Orten von den Aposteln und ihren Nachfolgern eingerichtet worden sind, im Lauf der Zeit zu einer Anzahl von organisch verbundenen Gemeinschaften zusammengewachsen. Sie erfreuen sich unbeschadet der Einheit des Glaubens und der einen göttlichen Verfassung der Gesamtkirche ihrer eigenen Disziplin, eines eigenen liturgischen Brauches und eines eigenen theologischen und geistlichen Erbes. Darunter haben vorzüglich gewisse alte Patriarchatskirchen wie Stammmütter des Glaubens andere Kirchen sozusagen als Töchter geboren, mit denen sie durch ein engeres Liebesband im sakramentalern Leben und in der gegenseitigen Achtung von Rechten und Pflichten bis auf unsere Zeiten verbunden sind“ (LG 23). Mit Hinweis darauf, dass sich das Gottesvolk nicht nur aus verschiedenen Völkern sammelt, sondern in sich selbst aus verschiedenen Ordnungen gebildet wird, ergänzt LG 13: „Darum gibt es auch in der kirchlichen Gemeinschaft zu Recht Teilkirchen, die sich eigener Überlieferungen erfreuen, unbeschadet des Primats des Stuhles Petri, welcher der gesamten Liebesgemeinschaft vorsteht, die rechtmäßigen Verschiedenheiten schützt und zugleich darüber wacht, dass die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen“ (LG 13). Die soeben genannten Teilkirchen oder Riten – sowohl die östlichen als auch die der Westkirche (Ecclesia latina) – unterscheiden sich zwar durch ihre Liturgie, ihr kirchliches Recht und durch ihr patrimonium spirituale, aber alle sind in gleicher Weise der Hirtenführung des römischen Papstes anvertraut. „Alle nehmen sie daher die gleiche Würde ein, so dass aufgrund ihres Ritus keine von ihnen einen Vorrang vor den anderen hat“ (OE 3).2 Da es sich bei dem Erbgut der orientalischen Kir1 Vgl. C DocFid, Lit. „Communionis notio“ (28. 05. 1992), in: AAS 85 (1993), S. 838 – 850; Oskar Saier, „Communio“ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils (= MThSt.K 32), Bamberg 1973; Winfried Aymans, Die communio Ecclesiarum als Gestaltgesetz der einen Kirche, in: ders., Kirchenrechtliche Beiträge zur Ekklesiologie (= KST 42), Berlin 1995, S. 17 – 39; Arturo Cattaneo, La Chiesa locale. I fondamenti ecclesiologici e la sua missione nella teologia postconciliare, Città del Vaticano 2003; José R. Villar, Art. Communio Ecclesiarum, in: DGDC 2, S. 288 – 292; Marcello Semerario, Art. Communio, in: DGDC 2, S. 283 – 288. 2 Die praestantia ritus latini, wie sie Papst Benedikt XIV. in den ApK „Etsi pastoralis“ (1742) und „Allatae sint“ (1755) und auch die folgenden Päpste bekräftigten, begann mit Papst Leo XIII., Lit. Ap. „Orientalium dignitas“ (30. 11. 1894) endgültig überwunden zu werden. OE 3 bildet die definitive, vollständige und feierliche Anerkennung der Gleichwertigkeit aller katholischen Kirchen. Ausführlich zu diesem Entwicklungsgang: Ivan Zuzek, Incidenza del Codex Canonum Ecclesiarum orientalium nella storia moderna della Chiesa universale, in: ders., Understanding the Eastern Code, Roma 1997, S. 266 – 327, hier S. 282 – 306; vgl. auch

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chen um ein patrimonium universae Christi Ecclesiae handelt, erklärt das Konzil feierlich, „Ecclesias Orientis sicut et Occidentis iure pollere et officio teneri se secundum proprias disciplinas peculiares regendi“ (OE 5).3 Die katholische Gesamtkirche (Ecclesia universa), welche c. 204 § 2 CIC/1983 (c. 7 § 2 CCEO) im Blick hat, ist folglich nicht identisch mit der Ecclesia latina. Das einigende Band (vinculum), welches alle katholischen Kirchen in der Einheit der Katholizität zusammenschließt, besteht darin: Sie alle erfüllen jene Elemente der Einheit, welche aus der Sicht der katholischen Kirche zur plena communio erforderlich sind, nämlich die vincula professionis fidei (vinculum symbolicum), sacramentorum (vinculum liturgicum) et ecclesiastici regiminis (vinculum hierarchicum).4 „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet (ut societas constituta et ordinata), ist verwirklicht in der katholischen Kirche (subsistit in Ecclesia catholica), die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird (a successore Petri et Episcopis in eius communione gubernata)“ (LG 8; c. 204 § 2 CIC/1983; c. 7 § 2 CCEO). Für das Recht der Kirche genügt es nicht, die Ehrwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der katholischen Traditionen festzustellen, sondern es bedarf, abgesehen von der Notwendigkeit, diesbezügliche Kompetenzen, Rechte und Pflichten zu statuieren, zuallererst der Vergewisserung der Träger (Subjekte) dieser Traditionen. Während die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und selbst noch des CIC/1983 dabei einen variierenden Sprachgebrauch aufweisen – Ecclesiae particulares, Ritus (OE); Ritus Orientalis, Ecclesia ritualis; Ecclesia ritualis sui iuris (CIC/1983) – hat der CCEO, und das ist eines seiner großen Verdienste, die Sprachverwirrung beendet und eine begriffliche, legaldefinitorische Festlegung getroffen5, die seither für den kirchenrechtlichen Sprachgebrauch in der katholischen Kirche verbindlich ist. Sie vermeidet unter anderem, dass der Ausdruck Ritus, der in der Vergangenheit unterschiedlichste Bedeutungsgehalte verkörperte6, künftig als Bezeichnung für Kirchen verwendet wird. Der CCEO unterscheidet deshalb klar die Konzepte Ecclesia sui iuris für die Rechtsform, und Ritus für deren Inhalt: „Coetus christifidelium hierarchia ad normam iuris iunctus, quem ut sui iuris expresse vel tacite agnoscit suprema Ecclesiae auctoritas, vocatur in hoc Codice EccleCyril Vasil’, Orientalische Kirchen in der Ekklesiologie und im Kirchenrecht der katholischen Kirche: Der Weg zum CCEO, in: Kanon 19 (2006), S. 125 – 159, hier S. 150 – 153. 3 Vgl. George Nedungatt, Equal Rights of the Churches in the Catholic Communion, in: Jurist 49 (1989), S. 1 – 21; Zuzek, Incidenza (Anm. 2), S. 282 – 306. 4 Vgl. c. 205 CIC/1983; c. 8 CCEO; UR 2; LG 14; vgl. auch Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Einheit der Kirche, in: LexKR, Sp. 249 – 251. 5 Vgl. Nr. 7 der Principi direttivi per la revisione del Codice di diritto canonico orientale, in: Nuntia 3 (1976), S. 7; vgl. Sunny Kokkaravalayil, The Guidelines for the Revision of the Eastern Code: Their Impact on CCEO, Rome 2009 (= Kanonika 15), S. 344 – 351. 6 Vgl. Ivan Zuzek, Che cosa è una Chiesa, un Rito Orientale?, in: Seminarium 15 (1975), S. 263 – 277.

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sia sui iuris“ (c. 27 CCEO).7 Verfassungsrechtlich bilden sie vier Gruppen: die Patriarchalen Kirchen, die Großerzbischöflichen Kirchen, die Metropolitankirchen sui iuris und die übrigen (ceterae) Ecclesiae sui iuris (vgl. cc. 55 – 176 CCEO). Diese Reihung gibt zugleich den Rang und, damit verbunden, die Abstufung der Autonomie der Ecclesiae sui iuris zu erkennen.8 „Ritus est patrimonium liturgicum, theologicum, spirituale et disciplinare cultura ac rerum adiunctis historiae populorum distinctum, quod modo fidei vivendae uniuscuiusque Ecclesiae sui iuris proprio exprimitur“ (c. 28 § 1 CCEO). Demnach sind die fünf Mutter- oder Hauptriten, auf die sich die derzeit 22 orientalischen katholischen Kirchen aufteilen: der alexandrinische, antiochenische, armenische, chaldäische und konstantinopolitanische (byzantinische oder griechische) (vgl. c. 28 § 2 CCEO). Wenn nun zwischen allen Kirchen des Orients und des Westens eine Gleichheit an Würde und folglich Schutzwürdigkeit besteht, so ist damit eine ekklesiologisch-kanonische Aussage von großer Tragweite getroffen. Ihr Kernanliegen – die Respektierung der Autonomie der einzelnen Kirchen auf Basis der Einheit in Glaube, Gottesdienst und Leitung – ist sowohl innerkatholisch als auch ökumenisch von großer Relevanz, wie im zweiten Teil dieser Überlegungen gezeigt werden soll. Eine erste Konsequenz der angesprochenen Gleichheit ist die Würde und Schutzbedürftigkeit aller Ecclesiae sui iuris unabhängig von ihrer numerischen Größe. Es stellt sich die Frage, ob wegen dieser Gleichheit an Würde auch die Ecclesia latina als eine solche Ecclesia sui iuris anzusehen ist, von der der orientalische Codex spricht. Zunächst ist festzustellen, dass in den Diskussionen um die Entwürfe zu „Orientalum Ecclesiarum“ und im Konzilsdokument selbst die Ecclesia latina als eine Ecclesia particularis im Sinne von Rituskirche erscheint.9 Untersucht man beide Codices in dieser Frage, so ergibt sich folgender Befund. Der CCEO behandelt 7 Vgl. Dimitri Salachas, La promulgazione del Codex Canonum Ecclesiarum orientalium, in: AA.VV., Studi sul Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, Roma 1994, S. 33 – 49, hier S. 40 – 42; Zuzek, Understanding (Anm. 2) S. 94 – 109; Vittorio Parlato, Concetto e status di Ecclesia sui iuris. Rito, Struttura ecclesiale, pluralità di tipologie, in: Nicolaus 35 (2008) S. 131 – 156; Luis Okulik, Significato e limiti della definizione di Chiesa sui iuris, in: FolCan 12 (2009) S. 67 – 94; Zuzek, Che cosa è una Chiesa (Anm. 6); Marco Brogi, Le Chiese sui iuris nel Codex Canonum Ecclesiarum orientalium, in: Kuriakose Bharanikulangara (Hrsg.), Il Diritto Canonico orientale nell’ordinamento ecclesiale, Città del Vaticano 1995, S. 49 – 75; Antony Valiyavilayil, The Notion of Sui Iuris Church, in: Jose Chiramel/Kuriakose Bharanikulangara (Hrsg.), The Code of Canons of the Eastern Churches. A Study and Interpretation, Alwaye/Indien 1992, S. 57 – 90. 8 Bei einigen sehr kleinen Ecclesiae sui iuris, die kaum über eine eigene Hierarchie verfügen und bei denen zumeist auch kein Akt der Anerkennung durch den Apostolischen Stuhl feststellbar ist, könnte die Frage nach der rechtlichen Existenz dieser Kirchen als solcher sui iuris gestellt werden. Das trifft z. B. auf die Weißrussische, die Albanische und die Russische Griechisch-Katholische Kirche zu. 9 Johannes M. Hoeck, Kommentar zu OE, in: LThK2-K 1, S. 362 – 391, hier S. 366 f.; vgl. Michael K. Magee, The Patriarchal Institution in the Church. Ecclesiological Perspectives in the Light of the Second Vatican Council, Rome 2006, S. 319 f.

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die Ecclesia latina überall dort wie eine Ecclesia sui iuris, wo es um Beziehungen zwischen orientalischem und lateinischem Recht geht, und eine Anordnung des orientalischen Rechts auch für die lateinische Kirche Geltung haben soll. Dabei verwendet der CCEO zumeist Formulierungen wie cuiusvis Ecclesiae sui iuris, etiam Ecclesiae latinae.10 In anderen Fällen ist aus dem Kontext der Regelung eindeutig erkennbar, dass mit der Wendung jedwede Ecclesia sui iuris gleichsam sachnotwendig die Ecclesia latina mitgemeint ist.11 Im CIC/1983 (cc. 111 f. CIC/1983) wird die Ecclesia latina jedweder „alia Ecclesia ritualis sui iuris“ gleichgestellt, womit indirekt gesagt ist, dass auch die lateinische Kirche eine dieser Rituskirchen bzw. in heutiger Diktion Ecclesiae sui iuris ist.12 Auf der anderen Seite ist ebenso klar, dass die Ecclesia latina nicht eine Ecclesia sui iuris im Sinne des CCEO ist. Sie lässt sich keinem der fünf Hauptriten der orientalischen Traditionen (c. 28 § 2 CCEO) zuordnen und in keine der vier Kategorien von Ecclesiae sui iuris (cc. 55 – 176 CCEO) einordnen. Folglich lässt sich die Frage, ob die lateinische Kirche eine Ecclesia sui iuris ist, weder mit einem vorbehaltlosen „Ja“ noch mit einem „Nein“ beantworten. Der Schlüssel zur Antwort liegt in der gleichen Würde aller katholischen Kirchen des Ostens wie des Westens (OE 3 u. 5). Daraus folgt rechtlich, dass auch die lateinische Kirche zumindest die rechtliche Qualität oder Rechtsstellung besitzt, wie sie einer Ecclesia sui iuris entspricht, ohne aber in ihrer inneren Struktur orientalisch geprägt zu sein. Mit anderen Worten: Die lateinische Kirche hat zwar als selbständiges Rechtssubjekt die Qualität einer Ecclesia sui iuris, aber als Kirche der lateinischen Tradition ihre eigene davon geprägte Struktur. Gleichheit an Würde bedeutet nicht Gleichförmigkeit im geistlichen Erbgut bzw. im Ritus. Wenn deshalb der CCEO an den entsprechenden Stellen hinzufügt etiam Ecclesia latina, so wird einerseits vorausgesetzt, das die lateinische Kirche ein Rechtssubjekt auf Ebene der Ecclesiae sui iuris ist, adererseits lässt das Wort etiam zugleich die Differenz im Ritus und in der rechtlichen Struktur erkennen.13 Etiam steht also für beides: für die Identität in der rechtlichen Form und für die Differenz im Inhalt.

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Vgl. cc. 1, 37, 41, 207, 322 § 1, 432, 696 § 1, 830 § 1, 916 § 5, 1465 CCEO. So insbesondere in den Bestimmungen betreffend die adscriptio zu einer Ecclesia sui iuris und den Wechsel dieser Zugehörigkeit: cc. 29 – 38 CCEO, speziell c. 30 CCEO. 12 Vgl. Ivan Zuzek, Presentazione del „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“, in: ME 115 (1990), S. 591 – 612, hier S. 605; Dimitri Salachas, Ecclesia universa et Ecclesia sui iuris nel Codice latino e nel Codice dei canoni delle Chiese orientali, in: Apoll 65 (1992), S. 65 – 76, hier S. 68. Beide Autoren verweisen darauf, dass bereits im Entwurf zur „Lex Ecclesiae Fundamentalis“ die lateinische Kirche ausdrücklich als Ecclesia ritualis sui iuris bezeichnet wurde: „Variae Ecclesiae particulares (= diocesi) in plures coniunguntur coetus organice constitutos, quorum quidem praecipui sunt Ecclesiae rituales sui iuris […], videlicet Ecclesia latina et variae Ecclesiae orientales aliaeque quae, suprema Ecclesiae auctoritate probante constituuntur“, in: Com 12 (1980), S. 31 (can. 2 § 2). 13 „La clausola ,etiam‘ indica piuttosto un rapporto fra entità diverse che la formulazione della legge canonica volutamente intende distinguere“ (Okulik, Significato [Anm. 7], S. 86). 11

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Schließlich stellt sich die – auch ökumenisch virulente – Frage, ob und inwieweit die theologische Grundaussage von LG 23 vom gegenseitigen Innesein von Gesamtund Teilkirche (Diözese) auch auf das Verhältnis von Gesamtkirche und Ecclesiae sui iuris zu beziehen ist, so dass auch für die einzelnen Ecclesiae sui iuris gilt: Sie sind nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet und „in quibus et ex quibus una et unica Ecclesia catholica exsistit“ (LG 23). Das Problem bedürfte einer gründlicheren Untersuchung. Bisherige Erklärungsversuche gehen in die Richtung, der Ecclesia sui iuris im Vergleich zur Teilkirche die Qualität von Kirche nur in einem beschränkten Umfang zuzugestehen. Begründet wird dies mit dem Argument, die Ecclesia sui iuris sei nicht in gleicher Weise wie die Diözese „ad imaginem Ecclesiae universalis formata“ (LG 23), zumal sie Ausdruck einer durch die Kultur geprägten Gemeinschaft sei, im Unterschied zur Universalität einer Teilkirche, welche allen Gläubigen offen stehe und nicht auf Gruppen von ihnen beschränkt sei.14 Arrieta spricht von einem abgestuften gegenseitigen Innesein des Universalen und Partikularen in den verschiedenen Erscheinungsformen von Kirche.15 Die Frage bedarf weiterer Klärung. Den Ecclesiae sui iuris das Kirchesein weitgehend abzusprechen, müsste man dann konsequent auch auf die lateinische Kirche anwenden; und es könnte verhängnisvolle Auswirkungen auf die Ökumene haben. 2. Der CCEO als Ausdruck der innerkatholischen Einheit und Vielfalt Aus der durch das das Zweite Vatikanische Konzil feierlich bekräftigten Selbstordnungskompetenz der Kirchen des Ostens wie des Westens, die Recht und Pflicht bedeutet „se secundum proprias disciplinas peculiares regendi“ (OE 23), folgt die Legitimation, ja sogar eine gewisse Notwendigkeit eigenständiger Rechtsordnungen. C. 1 der beiden Codices spiegelt diesen Sachverhalt wider, indem sie den Geltungsbereich des jeweiligen Gesetzbuches einerseits auf die lateinische Kirche, anderseits auf die orientalischen Kirchen, beschränken. Auf derselben Linie liegt es, wenn Nr. 2 der Leitprinzipien16 für die Erstellung des CCEO programmatisch verlangt, der 14

Vgl. Pablo Gefaell, Le Chiese sui iuris: „Ecclesiofania“ o no?, in: Luis Okulik (Hrsg.), Le Chiese sui iuris. Criteri di individuazione e delimitazione, Venezia 2005, S. 7 – 26, hier S. 20 f. 15 Juan Ignacio Arrieta, Chiesa particolare e circoscrizioni ecclesiastiche, in: IusE 6 (1994), S. 3 – 40, hier S. 40. 16 Vgl. Anm. 5. Die Vollversammlung der Kommission für die Erarbeitung des orientalischen Gesetzbuches hat die Fakultät für Kanonisches Recht des Päpstlichen Orientalischen Instituts (PIO) zur Erarbeitung solcher Prinzipien (vergleichbar mit jenen zur Erarbeitung des CIC aus dem Jahre 1967: Com 1 [1967], S. 73 – 85) eingeladen. Der erstellte Entwurf (in: Nuntia 26 [1988], S. 100 – 113) wurde der Vollversammlung übergeben und nach einer Überarbeitung in der Sitzung vom 18.–23. März 1974 approbiert. Diese Prinzipien waren für die an der Erarbeitung des CCEO Beteiligten verbindlich; vgl. Zuzek, Presentazione (Anm. 12), S. 595; Sunny Kokkaravahayil, The Guidelines Riti e Chiese particolari Implemented in CCEO. History and Appraisal, in: Luis Okulik (Hrsg.), Le Chiese sui iuris. Criteri di individuazione e delimitazione, Venezia 2005, S. 27 – 40, hier S. 28 f.

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Codex müsse orientalischen Charakter aufweisen, nicht nur weil er sich an Orientalen wende, sondern weil das Zweite Vatikanische Konzil (OE 5) dies gebiete.17 Ein eigener Codex für die katholischen orientalischen Kirchen war daher nicht lediglich eine Frage praktischer Angemessenheit, sondern vielmehr und grundlegend Konsequenz der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und überdies Ausdruck des Subsidaritätsgedankens.18 Als Gesetzbuch, welches sowohl den Anforderungen der Katholizität (plena communio) als auch der Vielfalt der Traditionen innerhalb der katholischen Kirche gerecht wird, kann folglich der CCEO mit Fug und Recht als Manifestation sowohl der katholischen Einheit wie auch der katholischen Vielfalt qualifiziert werden.19 Er steht als rechtlich gleichwertig und gleichrangig neben dem CIC/1983, und ist nicht ein Anhang oder eine mit orientalischen Besonderheiten versehene Ergänzung desselben. Hier erhebt sich aber die Frage: Wenn die Eigenständigkeit des orientalischen Kirchenrechts in der gleichen Selbstordnungskompetenz der einzelnen orientalischen Ecclesiae sui iuris ihre Grundlage hat, müssten dann nicht gesonderte Codices für jede dieser Kirchen erlassen werden? Interessanterweise gab es, seit in der katholischen Kirche überhaupt an eine Zusammenfassung bzw. Reform des orientalischen Kirchenrechts gedacht wurde, und zwar spätestens im Rahmen der Vorbereitungen zum Ersten Vatikanischen Konzil, mehrere Optionen zu dieser Frage. Damals wurde von orientalischer Seite ein eigener Codex für jede orientalische Kirche verlangt; die zuständige Vorbereitungskommission für das Erste Vatikanische Konzil plädierte zunächst für einen allen orientalischen Kirchen gemeinsamen, tendierte „dann aber

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Dazu solle sich das Gesetz inspirieren lassen von der gemeinsamen orientalischen Disziplin, wie sie enthalten ist: a) in der apostolischen Tradition; b) in den Canones der Konzilien und orientalischen Synoden; c) in den orientalischen Kirchenrechtssammlungen und im Gewohnheitsrecht, welches allen orientalischen Kirchen gemeinsam und noch nicht in Wegfall geraten ist. Besonders berücksichtigt werden soll auch die Situation der Orientalen außerhalb ihres Territoriums, besonders was sog. interrituelle Rechte betrifft, in: Nuntia 3 (1976), S. 4 f. 18 Vgl. Salachas, La promulgazione (Anm. 7), S. 38 – 40. 19 Ivan Zuzek hat aufgezeigt, dass der CCEO mit drei Stichworten charakterisiert werden könne: „unitas“, „varietas“ und „novitas“ (Ivan Zuzek, Riflessioni circa la costituzione apostolica „Sacri Canones“ [18 ottobre 1990], in: ders., Understanding the Eastern Code, Roma 1997 [= Kanonika 8], S. 149 – 160, hier S. 153); dazu näherhin Maria-Ionela Cristescu, „Unitas“ and „varietas Ecclesiarum“. A Vital and Resplendent Force, Safeguarded in the CCEO by the Relation „ius commune“ – „ius particulare“, in: Kanon 19 (2006), S. 160 – 207; vgl. auch Ivan Zuzek, Un Codice per una varietas Ecclesiarum, in: ders., Understanding the Eastern Code, Roma 1997, S. 239 – 265. Die Gestaltwerdung des Rechtserbes der orientalischen Kirchen von der Antike bis zum CCEO beleuchtet Onorato Bucci, Storia e significato del Codice dei Canoni delle Chiese Orientali, in: PCLT (Hrsg.), Il Codice delle Chiese Orientali. La storia, le legislazioni particolari, le prospettive ecumeniche. Atti del convegno di studio tenutosi nel XX anniversario della promulgazione del Codice dei Canoni delle Chiese Orientali, Roma 08 – 09 ottobre 2010, Città del Vaticano 2011, S. 61 – 115.

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eher zu einer für die gesamte katholische Kirche gemeinsamen Disziplin“.20 Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – die Arbeiten am orientalischen Codex ruhten während des Konzils –, als die Revision des CIC/1917 in Gang kam, war die Frage immer noch offen. Alle drei genannten Optionen wurden diskutiert. Die Entscheidung fiel durch Papst Paul VI., der im Juni 1972 die seinerzeitige Kommission zur Erarbeitung eines orientalischen Gesetzbuches auflöste und den Auftrag zur Erstellung eines für alle orientalischen katholischen Kirchen gemeinsamen Codex erteilte. Das erste der bereits erwähnten Leitprinzipien für die Erarbeitung des orientalischen Gesetzbuches hält als Grundsatz die Erstellung eines einzigen Codex für alle orientalischen Kirchen fest und gibt die wesentlichen Gründe dafür an: Die alten Canones und Traditionen böten eine gemeinsame Basis21 für einen einzigen Codex für alle orientalischen Kirchen; ein eigener Codex für jede Kirche würde deren Verschiedenheiten überbetonen, zu Lasten des Ökumenismus; die insgesamt positiven Erfahrungen mit den ebenfalls gemeinsamen Teilkodifikationen; ein einheitliches Gesetzbuch gehe nicht auf Kosten des unterschiedlichen Erbgutes, sondern diese Vielfalt werde durch das einheitliche Gesetzbuch sogar geschützt. Im Prooemium wird in Anbetracht der Verschiedenheiten der orientalischen Kirchen als Grundsatz vorangestellt, dass jeder dieser Kirchen die Kodifikation ihres eigenen Partikularrechts ad normam iuris anheimgestellt bleibt.22 Promulgiert wurde der CCEO mit der Apostolischen Konstitution „Sacri canones“ vom 18. November 1990 kraft päpstlicher Primatialgewalt: Apostolicae qua aucti sumus potestatis plenitudine usi, ohne Beteiligung der Ersthierarchen der orientalischen Ecclesiae sui iuris, wie dies verschiedentlich gefordert wurde. Es gibt kein allen orientalischen Kirchen gemeinsames übergeordnetes, kollegiales Gesetzgebungsorgan. Vielmehr gelten die überbischöflichen Autoritäten, insbesondere die Patriarchen und weiteren Ersthierarchen sowie die Synoden der Bischöfe als „supre20 Carl Gerold Fürst, Katholisch ist nicht gleich lateinisch. Der gemeinsame Kirchenrechtskodex für die katholischen Ostkirchen: HK 45 (1991), S. 136 – 140, hier S. 137 f.; vgl. Zuzuek, Incidenza (Anm. 2), S. 306 – 327. 21 Dass aber die „Sacri canones“ in Wahrheit nicht das gemeinsame Rechtserbe aller orientalischen Kirchen verkörpern, da sie zwar den Kirchen der byzantinischen Tradition gemeinsam, aber von den sog. altorientalischen Kirchen nur zum Teil übernommen worden seien, zeigt Hubert Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter der Rechtssprache des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO), in: Elmar Güthoff/Stephan Haering (Hrsg.), Ius quia iustum. FS Pree (KST 65), Berlin 2015, S. 221 – 245, hier S. 221 – 223 auf, und wendet sich damit kritisch gegen die betreffende Feststellung im dritten Absatz von Johannes Paul II., ApK „Sacri Canones“, in: AAS 82 (1990), S. 1033 ff. In jedem Falle aber wurde der Rückgriff auf die alten Traditionen auch durch das ökumenische Anliegen entscheidend gefördert; denn dabei geht es um das Aufsuchen der gemeinsamen Basis wenigstens mit der jeweiligen ritusgleichen nichtkatholischen Kirche: Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter (Anm. 21), S. 224. 22 Nuntia 3 (1976), S. 3 f. Ausdrücklich wird darauf nochmals im Principium Nr. 5 (Subsidiaritätsprinzip im CCEO) Bezug genommen: „Il nuovo Codice si limiti alla codificazione della disciplina comune a tutte le chiese orientali, lasciando ai loro vari organismi la facoltà di regolare con un diritto particolare le altre materie, non riservate alla Santa Sede“ (ebd., 6).

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mae Ecclesiae auctoritatis participes“23, so dass bereits ex natura rei nur der Papst als Promulgationsorgan in Betracht kommt.24

III. Der CCEO in der Perspektive der Ökumene 1. Das Zweite Vatikanische Konzil und das ökumenische Grundanliegen des CCEO Die in OE 5 den katholischen orientalischen Kirchen zugesprochene Selbstordnungskompetenz weitet UR 16 ausdrücklich auf die nichtkatholischen Ostkirchen aus. Das Konzil „declarat Ecclesias Orientis, memores necessariae unitatis totius Ecclesiae, facultatem habere se secundum proprias disciplinas regendi.“25 Damit ist eine Aussage von nicht zu unterschätzender ökumenischer Tragweite getroffen worden, bedeutet sie doch die offizielle Anerkennung dieser nichtkatholischen Gemeinschaften als Kirchen mit der speziell den Ostkirchen zugesprochenen (relativen) Autonomie. Damit ist einer der neuralgischsten Punkte in der Ökumene mit den Orientalen berührt, da diese Autonomie für die katholische Kirche nur als Autonomie innerhalb der einen Kirche unter dem Papst denkbar ist, während eines der bedeutsamsten Prinzipien orthodoxen Kirchenrechts die gegenseitige Unabhängigkeit (Souveränität) der autokephalen Kirchen ist.26 Eine Herstellung der Einheit der Kirchen im Sinne der Ökumene aber dürfte kaum anders denkbar sein denn als gegenseitige Anerkennung von Kirchen unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheiten.27 Die Anerkennung des Selbstordnungsrechts impliziert die Anerkennung der kirchlichen Autoritäten, ihrer kirchlichen Gewalt und der Ausübung dieser Ge-

23 Johannes Paul II., ApK „Sacri canones“ (Anm. 21), 13. Absatz. Jedoch wäre es unhistorisch und mit dem Selbstverständnis der Orientalen unvereinbar, die Gewalt aller Patriarchen (besonders jener der alten Patriarchate) als eine vom Papst delegierte Gewalt zu deuten. 24 Zuzek, Incidenza (Anm. 2), S. 281: „Solo colui che conferisce tale potere può promulgare la relativa norma iuris.“ Diese norma iuris sei der CCEO als Regelung der Teilhabe an der päpstlichen Autorität. 25 Hervorhebung durch den Verfasser. Im Unterschied zu OE 5 („ius et officium“) wird hier von „facultas“ gesprochen. Das Konzil wollte offensichtlich aus ökumenischer Rücksichtnahme den nichtkatholischen Orientalen keine Pflicht zusprechen, auch wenn sachlich an deren Bestehen kein Zweifel bestand: Johannes Feiner, Kommentar zu UR, in: LThK2-K 2 (1967), S. 40 – 123, hier S. 104. 26 Die Autokephalie mit ihrer Freiheit nach innen bedeutet zugleich eine Bindung nach außen, nämlich eine Pflicht zur Bewahrung des gemeinsamen Glaubens, der Liturgie und des gemeinsamen kanonischen Rechts: Anargyros Anapliotis, Kirchenrechtliche Bestimmungen über die Funktion des Patriarchen im Westen und im Osten am Beispiel der Kirche Russlands, in: OrthFor 21 (2007), S. 213 – 230, hier S. 218. 27 Vgl. Feiner, Kommentar (Anm. 25). S. 104; Bernd Jochen Hilberath, Kommentar zu UR, in: HThK-VatII 3, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, S. 69 – 223, hier S. 172.

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walt, sofern diese nicht der Glaubens- und Sittenlehre und dem ius divinum widersprechen.28 Eine notwendige Konsequenz der eben angedeuteten Position ist die Geltungsbeschränkung des CCEO auf die orientalischen Katholiken, wie von Nr. 3 der Prinzipien zur Erarbeitung des CCEO einleitend verlangt und in c. 1 CCEO umgesetzt. Auf derselben Linie liegt c. 1490 CCEO (entsprechend c. 11 CIC/1983), demzufolge eine Verpflichtung auf die kirchlichen Gesetze menschlichen Rechts nur gegenüber den Katholiken genannt wird. OE 24 spricht den katholischen orientalischen Kirchen die besondere Aufgabe (peculiare munus) zu, gemäß den Grundsätzen von „Unitatis redintegratio“ die Einheit aller Christen, besonders der ostkirchlichen, zu fördern. Das Principium Nr. 3 über den ökumenischen Charakter des neuen orientalischen Gesetzbuches präzisiert hierzu, dieses müsse im Hinblick auf die Orthodoxen Kirchen von den Worten Pauls VI. inspiriert sein, der von „Schwesterkirchen“, von „fast voller Einheit“ sprach und respektvoll deren Hierarchen als Hirten bezeichnete, denen ein Teil der Herde Christi anvertraut ist; schließlich müsse es das Selbstordnungsrecht (UR 16) respektieren.29 Der CCEO hat das Grundanliegen der Ökumene in der Regelung über seinen Geltungsbereich und zahlreichen weiteren Einzelbestimmungen aufgegriffen und widmet ihm einen eigenen Titulus: Tit. XVIII (cc. 902 – 908 CCEO). Über diesen soll zunächst die Rede sein. Der einleitende c. 902 CCEO nimmt alle Gläubigen und besonders die Hirten in die Pflicht, durch Gebet und tätigen Einsatz am Werk des Ökumenismus mitzuwirken. C. 903 CCEO unterstreicht das munus speciale aus OE 24 für die katholischen orientalischen Kirchen, wobei als eines der Mittel die Treue gegenüber den alten orientalischen Quellen genannt wird. C. 904 CCEO artikuliert die diesbezüglichen Pflichten der einzelnen Ecclesia sui iuris, unter anderem durch eine Expertenkommission, sowie die Pflichten der Eparchialbischöfe. Der folgende c. 905 CCEO wendet sich 28 Vgl. Kokkaravalayil, The Guidelines (Anm. 5), S. 207: „The Council implicitly recognises the hierarchs of the Orthodox Churches as true pastors, when it declares that they have the power to govern themselves according to their own discipline (UR 16).“; vgl. auch Ivan Zuzek, La giurisdizione dei vescovi ortodossi dopo il Concilio Vaticano II, in: Ivan Zuzek, Understanding the Eastern Code, Roma 1997, S. 15 – 28. 29 Nuntia 3 (1976), S. 5. Zur Textgeschichte und Umsetzung des Prinzips über den Ökumenismus: Kokkaravalayil, The Guidlines (Anm. 5), S. 179 – 216 sowie Marco Dino Brogi, Le novità del CCEO alla luce die „Principi direttivi“, in: PCLT (Hrsg.), Il Codice delle Chiese Orientali (Anm. 19), S. 117 – 136, hier S. 125 – 128; sowie Dimitrios Salachas, Aspetti ecumenici del Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, in: ebd., S. 347 – 371. Zur Bedeutung des speciale munus gem. c. 903 CCEO: Hèctor Vall Vilardell, Il ruolo teologico ed ecclesiologico delle Chiese Orientali Cattoliche nel Dialogo Ecumenico tra Oriente e Occidente, in: C EcclOr (Hrsg.), Ius Ecclesiarum Vehiculum Caritatis. Atti del Simposio internazionale per il decennale dell’entrata in vigore del Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, Città del Vaticano, 19 – 23 novembre 2001, Città del Vaticano 2004, S. 975 – 987, hier S. 983 – 986; auch: Dimitri Salachas, „Ius oecumenicum“ e sua attuazione nel Codice dei Canoni delle Chiese Orientali, in: ebd., S. 161 – 166.

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der Sache selbst, dem offenen und vertrauensvollen Dialog, zu, der mit gebotener Klugheit, aber unter Vermeidung eines falschen Irensismus, Indifferentismus oder ungezügelten Übereifers zu führen sei. C. 906 CCEO schärft die ökumenische Verantwortung derer ein, die in Massenmedien, Schulen und Hochschulen tätig sind. C. 907 CCEO verlangt von den Leitern katholischer Schulen, Krankenhäuser und ähnlicher Einrichtungen, wenn diese von Nichtkatholiken frequentiert werden, Vorsorge zu treffen, dass ihnen geistlicher Beistand von ihren eigenen Amtsträgern zugänglich gemacht wird. Schließlich ermuntert c. 908 CCEO die Katholiken zu gemeinsamen ökumenischen Initiativen, etwa im Bereich der sozialen Gerechtigkeit oder des Schutzes der Menschenwürde oder der Wahrung des Friedens.

2. Einzelne ökumenisch relevante Aspekte Zunächst sollen einzelne über den CCEO verstreut anzutreffende, ökumenisch relevante Beobachtungen, Regelungen und Regelungsmaterien angesprochen werden. Im gegebenen Rahmen kann dies nur andeutungsweise, überblicksweise und ohne Anspruch auf Vollständigkeit erfolgen. Abschließend soll auf einige der wichtigeren, offenen ökumenischen Problemfelder hingewiesen werden. (1) Bezeichnung der nichtkatholischen Orientalen bzw. ihrer Kirchen: Im Unterschied zur Sprechweise noch des Zweiten Vatikanischen Konzils – Ecclesiae separatae, seiunctae, fratres seiuncti – vermeidet der CCEO jeden sprachlichen Anklang an „Trennung“ und formuliert im Hinblick auf die nichtkatholischen Orientalen: plenam communionem cum Ecclesia catholica non habentibus (c. 671 §§ 3 – 4 CCEO), alii christiani (cc. 905, 907 u. 908 CCEO) – dieses Wort ist für Nichtkatholiken nur im CCEO anzutreffen! Ministri acatholici (c. 671 § 2 CCEO), parentes, christiani acatholici (c. 681 § 5 CCEO). Nirgendwo wird für sie noch das Wort haeretici bzw. schismatici verwendet. Ihr Übertritt in die katholische Kirche wird nicht als Konversion oder Rückkehr in die katholische Einheit angesprochen, sondern der einschlägige Titulus XVII spricht von den baptizatis acatholicis ad plenam communionem cum ecclesia catholica convenientibus30 (c. 896 CCEO, vgl. c. 899 CCEO).31 (2) Ökumene als Amtsaufgabe der Hirten: Eparchialbischof (c. 192 § 2 CCEO); Pfarrer (c. 293 CCEO). (3) Ökumene als Gegenstand theologischer Forschung und Lehre sowie des Verkündigungsdienstes: cc. 350 § 4, 352 § 3 CCEO (Theologie und Theologenausbildung), c. 593 § 2 CCEO (Mission), c. 625 CCEO (Katechese). 30

Hervorhebung durch den Verfasser. Vgl. Kokkaravalayil, The Giudelines (Anm. 5), S. 212 f.; Dimitri Salachas, Implicanze ecumeniche del „Codice dei Canoni delle Chiese Orientali“ alla luce del nuovo Direttorio ecumenico, in: Kuriakose Bharanikulangara (Hrsg.), Il Diritto Canonico orientale nell’ordinamento ecclesiale, Città del Vaticano 1995, S. 76 – 105, hier S. 78; Salachas, „Ius oecumenicum“ (Anm. 29), S. 145 – 186, hier S. 149 f. 31

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(4) Ehe: Im Kontrast zu c. 5 Lit. Ap. „Crebrae allatae“, der die Ehe aller Getauften dem Recht der katholischen Kirche unterwarf, beschränkt c. 780 § 1 CCEO seine Geltung auf Katholikenehen. In einer Mischehe zwischen einem katholischen und einem getauften nichtkatholischen Partner (cc. 813 – 816 CCEO; bloßes Erfordernis der licentia) findet das Eherecht der nichtkatholischen Kirche, unbeschadet des göttlichen Rechts, Anerkennung (c. 780 § 2 CCEO). Für die Beurteilung der Gültigkeit der Ehen von Nichtkatholiken ist das (nichtkatholische) Eherecht heranzuziehen, dem die Partner zum Zeitpunkt der Eheschließung unterstanden (c. 781, 18 CCEO) – was allerdings nur für die Ehehindernisse menschlichen Kirchenrechts relevant ist. Als taugliche Eheschließungsform wird bei einer Ehe zwischen zwei nichtkatholischen orientalischen Partnern anerkannt, dass die Ehe im ritus sacer (nach nichtkatholischem Recht) geschlossen wurde: c. 781, 28 CCEO. (5) Communicatio in sacris:32 Katholiken dürfen aus gerechtem Grund am Gottesdienst von Nichtkatholiken teilnehmen, wobei sich das Nähere nach dem Grad der Kircheneinheit bestimmt (c. 670 § 1 CCEO). Fehlen nichtkatholischen Christen gottesdienstliche Orte, kann der Eparchialbischof die Benutzung eines katholischen Gebäudes, Kirchenraumes oder Friedhofs gestatten (c. 670 § 2 CCEO). Katholiken dürfen in Notfällen, wenn sie einen katholischen Spender nicht erreichen können, die Sakramente der Buße, Eucharistie und Krankensalbung von nichtkatholischen Spendern empfangen, in deren Kirchen diese Sakramente gültig existieren (c. 671 § 2 CCEO). Katholische Amtsträger dürfen diese Sakramente nichtkatholischen orientalischen Empfängern spenden, wenn diese freiwillig darum bitten und entsprechend disponiert sind (und ein eigener Spender nicht verfügbar ist): c. 671 § 3 CCEO. Dabei ist auf die orthodoxe Disziplin Rücksicht zu nehmen und jede Form von Proselytismus zu vermeiden (DirOec/1993 125). Der katholische Amtsträger darf ein Kind nichtkatholischer Eltern taufen, wenn wenigstens ein Elternteil oder wer sorgeberechtigt ist darum bittet und ein eigener Spender nicht erreichbar ist (c. 681 § 5 CCEO). Ein orientalischer Nichtkatholik kann als Taufpate zugelassen werden, aber immer nur zusammen mir einem katholischen Taufpaten (c. 685 § 3 CCEO). Das kirchliche Begräbnis kann der Ortshierarch auch getauften Nichtkatholiken gewähren, wenn nicht ihr gegenteiliger Wille feststeht und sofern ein eigener Amtsträger nicht erreichbar ist (c. 876 § 1 CCEO). (6) Mitgliedschaft in katholischen Gremien und Vereinen: Zum Patriarchalkonvent ebenso wie zum Eparchialkonvent (vergleichbar der Diözesansynode der lateinischen Kirche) können auch Angehörige nichtkatholischer Kirchen oder kirchlicher Gemeinschaften als Beobachter eingeladen werden (c. 143 § 4 u. c. 238 32

Vgl. Salachas, „Ius oecumenicum“ (Anm. 29), S. 166 – 174. Für die Möglichkeiten ökumenischer Gottesdienstgemeinschaft wie alle anderen Formen ökumenischer Aktivitäten ist auch das Direktorium des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen vom 25. 03. 1993 zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (dt.: VApSt 110) zu beachten.

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§ 3 CCEO). Nichtkatholische Christen können auch Mitglieder kanonischer Vereine werden (vgl. c. 580 CCEO), sofern sie sich auf die Statuten verpflichten und die katholische Identität des Vereins nicht beeinträchtigen.33 Ökumenisch offene Problemfelder sind nicht zuletzt die folgenden: @ Latinisierung: In dem Maße, in dem die katholischen orientalischen Kirchen aus Sicht der nichtkatholischen orientalischen Kirchen als „latinisiert“ angesehen werden, ist dies ihrem speziellen Auftrag, auf die Einheit mit den nichtkatholischen Kirchen hinzuarbeiten, nicht förderlich. Die nichtkatholischen Orientalen schöpfen grundlegend und bleibend aus dem Erbe des ersten Jahrtausends, auch was das rechtliche Erbe betrifft. Soweit die katholischen Orientalen als „latinisiert“ angesehen werden, besteht die Gefahr, dass sie von den nichtkatholischen Orientalen als Gesprächspartner nicht in Betracht gezogen werden.34 @ Papst: Während für die katholische Kirche der Papst sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit der Kirche ist und dafür als mit dem Lehr- und Leitungsprimat über die gesamte Kirche und alle Gläubigen ausgestattet verstanden wird, ist für die nichtkatholischen orientalischen Kirchen nur ein Primat der Liebe akzeptabel, ist die gegenseitige Unabhängigkeit der autokephalen Patriarchate unverzichtbar und wird die Einheit kollegial (konziliar) gedacht, nicht hierarchisch und monokratisch. Auch die nichtkatholischen orientalischen Kirchen hüten die Einheit der Kirche durch ihre Praxis der gegenseitigen Anerkennung auf Grundlage der wesentlichen Einheitskriterien hinsichtlich Glaube, Liturgie und gemeinsamer rechtlicher Grundstruktur gemäß den alten Canones. Sie sehen sich durch ein geistliches Band untereinander verbunden, das sich besonders in der göttlichen Liturgie (Eucharistie) ausdrückt und verwirklicht. Auf diesem Hintergrund stellen sich mehrere drängende Fragen: (1) Die starke Betonung der Autorität des Papstes im CCEO, auch gegenüber den Patriarchen und geradezu als reguläres Leitungsorgan auch der einzelnen orientalischen Kirchen widerspricht orientalischem Empfinden zutiefst und wurde auch von katholischer Seite als unökumenisch angeprangert. (2) Die Wiederherstellung der Rechte und Privilegien der Patriarchen nach den alten Traditionen einer jeden Kirche und nach den Beschlüssen der ökumenischen Konzilien (OE 9) ist nicht erfolgt. Es würde sich dabei um jene Rechte und Privilegien handeln, die galten, als Ost und West noch nicht getrennt waren, mag auch eine gewisse Anpassung notwendig sein (OE 9). Welche Konsequenzen müssten sich aus diesem Konzilsauftrag wirklich für das Papst-

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Vgl. Salachas, „Ius oecumenicum“ (Anm. 29), S. 183 f. Dass die Latinisierung noch keineswegs gänzlich überwunden ist, zeigt anhand der Rechtssprache des CCEO überzeugend auf: Kaufhold, Zum ostkirchlichen Charakter (Anm. 21). Der Autor stellt fest: „Insgesamt konnten die Verfasser des CCEO vielfach nicht über ihren lateinischen Schatten springen“ (S. 244). 34

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tum und seine Funktion im Blick auf den Osten ergeben?35 Die bekannte Feststellung Joseph Ratzingers, was tausend Jahre lang möglich war, kann nicht heute eine christliche Unmöglichkeit sein; Rom müsse in der Lehre vom päpstlichen Primat vom Osten nicht mehr fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde, ist hier in Erinnerung zu rufen.36 Ist Kircheneinheit im Rechtssinne nur in römisch-lateinischer Perspektive denkbar? (3) In diesem Zusammenhang muss die Niederlegung des Titels Patriarch des Abendlandes, der aus orthodoxer Sicht das noch verbliebene Verbindende mit dem lateinischen Oberhaupt war, als katastrophale Fehlentscheidung und Schlag gegen den Ökumensimus mit den Orientalen gewertet werden.37 @ Synode und Patriarch: Von großer ökumenischer Tragweite ist das Ausmaß der Autonomie der einzelnen Kirchen, welche abzulesen ist an den Kompetenzen von Patriarch und Synode im Verhältnis zur potestas suprema.38 UR 16 bekräftigt unmissverständlich, dass die vollkommene Beobachtung des Prinzips, demzufolge die Kirchen des Orients im Bewusstsein der notwendigen Einheit der Kirche die Fähigkeit (facultas) haben, sich nach ihren eigenen Ordnungen zu regieren, das in der Tradition vorhanden, aber nicht immer beachtet worden ist, zu den Dingen gehört, die zur Wiederherstellung der Einheit als notwendige Vorbedingung durchaus erforderlich sind.39 Somit ist das Ausmaß an Autonomie einer der Schlüssel für die Ökumene.

35 Diese Rechte und Privilegien aufgrund der Ökumenischen Konzile des 1. Jahrtausends sind aufgelistet in der Fn. 8 von OE. 36 Joseph Ratzinger, Die ökumenische Situation – Orthodoxie, Katholizismus und Reformation, in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene (= JRGS 8/2), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2010, S. 714 – 730, hier S. 724 (erstmals u. d. T. Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus, in: OeFo 1 [1977], S. 31 – 41; u. d. T. Die ökumenische Situation – Orthodoxie, Katholizismus und Reformation, in: ders., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, S. 203 – 214); vgl. Georges Nedungatt, The Patriarchal Ministry in the Church of the Third Millennium, in: Jurist 61 (2001), S. 1 – 89, hier S. 82 f.; Kokkaravalayil, The Guidelines (Anm. 5), S. 213 – 215. 37 Dementsprechend wurde ihr auch von orthodoxer Seite mit Unverständnis begegnet; vgl. Anapliotis, Kirchenrechtliche Bestimmungen (Anm. 26). 38 Vgl. Luis Okulik, Significato e limiti della definizione di Chiesa sui iuris, in: FolC 12 (2009), S. 67 – 94, hier S. 75 – 79; Frederick McManus, The Code of Canons of the Eastern Catholic Churches, in: Jurist 53 (1993), S. 22 – 61, hier S. 58: „For one thing, the interventions of the Bishop of Rome into the life if the Eastern Catholic Churches of which he is not the patriarch – however much such interventions are explicable historically – would be certainly unacceptable, indeed intolerable, to the Orthodox and other Churches of the East. Thus it is extremely important to insist, as Pope John Paul seems to do and as the Second Vatican Council clearly understood, that the present canonical dispositions are contingent and hardly a likely pattern for any restoration of full communion.“ 39 Vgl. Salachas, „Ius oecumenicum“ (Anm. 29), S. 147 f.

Ist ein kirchlicher Eheabschluss orthodoxer Gläubiger mit Christen anderer Bekenntnisse (Mischehe) möglich? Von Rudolf Prokschi

I. Hinführung zur aktuellen Fragestellung Nach ihrem grundsätzlich positiven Votum bei der Zusammenkunft aller Ersthierarchen der 14 autokephalen orthodoxen Kirchen im ökumenischen Zentrum des Patriarchates von Konstantinopel in Chambésy bei Genf, waren selbst skeptische Beobachter der Meinung, dass die lang angekündigte und durch Jahrzehnte vorbereitete Heilige und Große Synode der Orthodoxie in der Pfingstwoche 2016 auf der Insel Kreta abgehalten werden würde. Alle schwierigen Fragen, wie z. B. die Anzahl der teilnehmenden Bischöfe, die der Fachberater und der Beobachter aus anderen Kirchen, der Abstimmungsmodus und selbst die Auswahl der zu bearbeitenden Vorlagen waren eigentlich geklärt. Jetzt sollte doch nichts mehr der lang ersehnten Versammlung entgegenstehen. Umso überraschender kam noch im Mai – einige Wochen vor dem geplanten Termin – zunächst die Absage der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, sie werde nicht an dieser Synode auf Kreta teilnehmen. Darauf folgten die Absagen vom Patriarchat von Antiochien, der Georgischen Orthodoxen Kirche und zuletzt auch noch vom Patriarchat von Moskau mit der Begründung, dass es sich nicht mehr um eine panorthodoxe Synode handeln könne, wenn drei autokephale Kirchen fehlten. Zeitweilig war auch die Serbische Orthodoxe Kirche auf dem Rückzug; letztendlich hat sie sich aber dann doch zur Teilnahme durchgerungen, nachdem sie in der schwierigen Phase – Anfang Juni – ebenfalls für eine Verschiebung des Termins plädierte. Was war geschehen? Worin lagen die Gründe für die relativ kurzfristigen Absagen? In der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, die nach der politischen Wende und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems eine tiefe Krise (Schisma innerhalb der Kirche) durchgemacht hatte, wurden bereits Anfang März 2017 die vorbereiteten Textentwürfe, die auf der Heiligen und Großen Synode finalisiert werden sollten, an die Bischöfe weitergeleitet. Metropolit Gawrail von Lowetsch übte vor allem Kritik an der Vorlage des Dokuments „Die Orthodoxe Kirche und die übrige christliche Welt“, weil nach seiner Überzeugung im Text nicht klar zum Ausdruck kommt,

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dass eine Einheit aller nur dann zu erreichen sei – wenn alle, die in die Häresie oder ins Schisma gefallen sind, zuerst zum orthodoxen Glauben zurückkehren und der Heiligen Kirche gehorchen müssten (Abschnitt 4). Es sei „dogmatisch, theologisch und kanonisch völlig inkorrekt, diese Organisationen als ,Kirchen‘ zu bezeichnen“.1 Die Bulgarische Orthodoxe Kirche trat auch deshalb für eine Verschiebung der Heiligen und Großen Synode ein, weil neben der massiven Kritik an den Textvorlagen auch die Sitzordnung der Hierarchen kritisiert worden war („sie verletze die Gleichheit der Oberhäupter der autokephalen Kirchen“) und auch wegen der hohen, ungerechtfertigten Kosten.2 Das Patriarchat von Antiochien liegt schon seit längerer Zeit im Streit mit dem Patriarchat von Jerusalem bezüglich der Zuständigkeit für die orthodoxen Christen im arabischen Fürstentum Katar, die dort als sog. Gastarbeiter tätig sind. Da der Konflikt auf bilateraler Ebene nicht gelöst werden konnte und auch nicht auf die Tagesordnung der Großen und Heiligen Synode kam, hat der antiochenische Patriarch die Teilnahme seiner Kirche an der Heiligen und Großen Synode ebenfalls kurzfristig abgesagt. Die Georgische Orthodoxe Kirche kündigte bereits 1997 ihre Mitarbeit in der offiziellen Ökumene auf und trat aus dem Ökumenischen Rat der Kirche aus. Traditionell ausgerichtete Kräfte – insbesondere eine Gruppe von konservativen Bischöfen und Mönchen aus verschiedenen Klöstern – drohten dem Katholikos Ilia II. offen mit einer Spaltung der Kirche, wenn er nicht seine ursprünglich recht guten ökumenischen Kontakte abbreche und die Georgische Kirche wieder auf den Kurs der alten Kirche zurückfahre. Schon im Vorfeld der Heiligen Synode war Kritik am Textentwurf des Ehedokuments („The Sacrament of Marriage and Impediments to It“) laut geworden, die nach der Beschlussfassung auf Kreta (in Abwesenheit der Georgischen Kirche) nochmals bekräftigt wurde. Dabei wird zunächst die scharfe Ablehnung von gleichgeschlechtlichen Verbindungen und jede Art des Zusammenlebens außerhalb des Heiligen Ehebunds als Sünde und extremer Missstand verurteilt. Dies komme im offiziellen Dokument zu wenig deutlich zum Ausdruck.3 Der zweite Kritikpunkt betrifft die Frage der sog. Mischehen (= Ehen von Orthodoxen mit Angehörigen einer anderen christlichen Konfession). Im Entwurfsdokument lautet die Formulierung: „Concerning mixed marriages of Orthodox Christians with non-Orthodox Christians or nonChristians: (1) Marriage between Orthodox and non-Orthodox Christians is forbidden and is not blessed in the Church, according to canonical akribeia (Canon 72 of the Quinisext Ecumenical Council). However, such a marriage can be blessed by dispensation and out of 1

http://www.pravoslavie.ru/english/92763.htm (Stand: 15. 02. 2017). Vgl. http://sofiaglobe.com/2016/06/01/bulgarian-orthodox-church-withdraws-from-pan-or thodox-council-in-crete/ (Stand: 15. 02. 2017). 3 Vgl. http://patriarchate.ge/geo/minutes-of-the-session-of/ (Stand: 15. 02. 2017). 2

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love, on the condition that the children born of this marriage will be baptized and raised within the Orthodox Church. (2) Marriage between Orthodox and non-Christians is categorically forbidden in accordance with canonical akribeia.“4

Im Abschlusstext von Kreta heißt es dann: „Concerning mixed marriages of Orthodox Christians with non-Orthodox Christians or nonChristians: I.

Marriage between Orthodox and non-Orthodox Christians is forbidden according to canonical akribeia (Canon 72 of the Quinisext Ecumenical Council).

II. With the salvation of man as the goal, the possibility of the exercise of ecclesiastical oikonomia in relation to impediments to marriage must be considered by the Holy Synod of each autocephalous Orthodox Church according to the principles of the holy canons and in a spirit of pastoral discernment. III. Marriage between Orthodox and non-Christians is categorically forbidden in accordance with canonical akribeia.“5

Der Beschlusstext der Heiligen Synode auf Kreta6 führt nach der Zitation des einschlägigen Can. 72 des Quinisextum in Trullo, in dem die Ehe zwischen einem Orthodoxen und einem Nicht-Orthodoxen7 gemäß der kanonischen Akribie verboten ist und nicht gesegnet werden kann, im folgenden Absatz des Dokuments eine Öffnungsklausel gemäß der Oikonomia an. „Die mögliche Anwendung der kirchlichen Oikonomia in Bezug auf die Ehehindernisse soll vom Heiligen Synod einer jeden autokephalen Kirche gemäß den Grundsätzen der hl. Canones und im Geist pastoraler Unterscheidung im Hinblick auf das Heil des Menschen entschieden werden.“8 Mit Rücksicht auf die bereits im Vorfeld geäußerte Kritik an der Vorlage des Dokuments haben die versammelten Bischöfe auf Kreta den Text restriktiver abgefasst und die Entscheidung darüber dem Heiligen Synod einer jeden autokephalen Landeskirche überlassen, damit auch Positionen wie die georgische noch zustimmen könnten. Das Zugeständnis gegenüber Brautpaaren, die aus verschiedenen christlichen Bekenntnissen stammen, ist – wie wir weiter unten sehen werden – vor allem in der orthodoxen Diaspora seit Jahren gängige Praxis, wird aber von der Georgischen Orthodoxen Kirche strikt abgelehnt. Sie tritt mit folgender Begründung für eine ersatzlose Streichung dieses Absatzes ein: „As is known, no council can contradict, cancel or 4 https://www.holycouncilorg/-/preconciliar-marriage_101_INSTANCE_VAOWE2pZ4YOI_ languageId=en_US (Stand: 15. 02. 2017). 5 https://www.holycouncil.org/-/marriage (Stand: 15. 02. 2017). 6 Dt. Übers.: Einheit in Synodalität. Die offiziellen Dokumente der Orthodoxen Synode auf Kreta 18. bis 26. Juni 2016, hrsg. v. Barbara Hallensleben, Münster 2016. 7 Im Original wird der Ausdruck häretische Frau bzw. häretischer Mann verwendet; vgl. Concilium Quinisextum. Das Konzil Quinisextum, übers. u. eingel. v. Heinz Ohme (= FC 82), Turnhout 2006, S. 262 f. 8 Einheit in Synodalität (Anm. 6), S. 66.

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alter any of her canons adopted by the Ecumencal Councils.“9 Die Bekenntnisverschiedenheit stellt für die offiziellen Vertreter der Georgischen Orthodoxen Kirche somit ein absolutes Ehehindernis dar, an dem in der Gesamtorthodoxie nicht gerüttelt werden darf. Diese Position ist – im Blick auf die ökumenische Entwicklung der letzten Jahrzehnte und der geübten kirchlichen Praxis in der orthodoxen Diaspora – ein klarer Schritt zurück. Es wird sich jedoch zeigen, dass es in der Kirchengeschichte immer unterschiedliche Handhabungen in der Frage der Mischehen gab. Der folgende Beitrag will anhand der Quellen aufzeigen, wie differenziert die Kirchenväter schon in den ersten Jahrhunderten diesen Punkt behandelt haben, und dabei klar herausarbeiten, dass es sich in der Frage der Mischehen letztlich um ein ekklesiologisches Problem handelt, nämlich um das Kirchenverständnis der jeweiligen „anderen“ Christen. Wie werden die anderen christlichen Gemeinschaften, z. B. die katholische Kirche oder die Lutheraner, von der Georgischen Orthodoxen Kirche eingestuft? Als eine häretische Sekte oder ein religiöser Verein? Jedenfalls – das wird man wohl mit Sicherheit sagen können – sind sie keine Kirchen! Anscheinend wird zwischen den verschiedenen christlichen Bekenntnissen auch wenig differenziert und alle einfach als Häretiker angesehen und dementsprechend als solche behandelt. Im zweiten Teil sollen die in den letzten Jahrzehnten ökumenisch erarbeiteten und pastoral ausgerichteten Dokumente und Arbeitshilfen zur aktuellen Situation vieler orthodoxer Gläubiger in der Diaspora zu Wort kommen. In einer Zeit, in der die traditionelle christliche Ehe in mehrerer Hinsicht vor großen Herausforderungen steht und eine Krise der Ehe offenkundig ist, werden sich die Kirchen immer deutlicher die Frage stellen müssen, worin ihre eigentliche Sendung und ihr Auftrag liegt. Wollen sie für die jungen Christen unserer Tage Stütze und Hilfe sein, und damit den Menschen dienen, oder geht es ihnen vor allem um die Einhaltung von kirchlichen Canones, die vor hunderten von Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen und Lebensumständen beschlossen wurden?

II. Ein Blick zurück in die Kirchengeschichte Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert schreibt der Serbisch-Orthodoxe Bischof Nikodim Milasˇ zum Thema Mischehen in seiner umfangreichen Zusammenstellung des orientalischen Kirchenrechts: „Wenn aber auch die Kirche eine Mischehe nicht gutheißt, so muß sie diese doch dulden; denn Mischehen wurden seit den ältesten Zeiten der Kirche geschlossen und unter dem Schutze der bürgerlichen Gesetze. Zur Verhütung eines größeren Übels und um Ärgernisse hintanzuhalten, mußte die Kirche in außergewöhnlichen Fällen solche Ehen gestatten, wobei sie dafür Sorge trug, daß der orthodoxe Charakter der Familie, welche aus einer

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http://patriarchate.ge/geo/minutes-of-the-session-of/ (Stand: 15. 02. 2017).

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Mischehe entstanden ist, wenigstens im Wesentlichen erhalten werde, und die Kinder in der Lehre der orthodoxen Kirche erzogen werden.“10

In seiner Abhandlung weist Milasˇ im Rückgriff auf den bereits erwähnten 72. Trullanischen Canon hin und plädiert auf eine differenzierte Behandlung der Materie: „Es wurde zwischen der Ehe orthodoxer Christen und Häretikern und jener orthodoxer Christen und Schismatikern unterschieden.“11 Eine Ehe mit einem Häretiker oder einer Häretikerin war absolut untersagt. Falls es dazu kam, war die Ehe als ungültig zu betrachten und als nichtige Ehe aufzulösen. „Denn das was unvereinbar ist, darf nicht vermengt werden; das Lamm nicht mit dem Wolfe und das Volk der Sünder nicht mit der Gemeinde Christi vereinigt werden.“12 Anders – so schreibt Milasˇ weiter – wird im kanonischen Recht der Morgenländischen Kirche die eheliche Verbindung orthodoxer Christen mit Schismatikern beurteilt: „Die Kirche gestattet solche Ehen in Fällen begründeter Notwendigkeit und zur Verhütung eines größeren Übels.“13 Dabei gelten aber folgende Normen: „1. derartige Ehen sollen mit allen Mitteln verhindert werden; erweist sich dies als untunlich, so ist 2. dahin zu wirken, daß der schismatische Teil den orthodoxen Glauben annehme; gelingt dies nicht, so ist 3. vom schismatischen Teil die schriftliche Verpflichtung zu fordern, daß er die Bewahrung des orthodoxen Glaubens und der orthodoxen Gebräuche in der Familie nicht behindern werde und 4. daß alle einer solchen gemischten Ehe entstammenden Kinder im Geiste der orthodoxen Kirche erzogen werden.“14

Milasˇ stützt sich in seinen Begründungen unter anderem auch auf die ausführliche Untersuchung von Josef Zhishman15 aus dem Jahre 1864, in der dieser sich eingehend mit der Frage der Mischehen anhand der Quellen auseinandergesetzt hat.16 Zhishman wurde 1820 in Laibach (Slowenien) geboren und getauft, hatte sich nach dem Studium der Rechte in Wien und dem Forschen in verschiedenen Archiven ein großes Wissen auf dem Gebiet der Kanonistik angeeignet. So wurde er zum anerkannten 10

Nikodim Milasˇ, Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirchen, Mostar 2/1905, 3. Bd., S. 643 – 645, hier S. 643 f. 11 Milasˇ, Kirchenrecht (Anm. 10), S. 644. 12 Milasˇ, Kirchenrecht (Anm. 10), S. 644; Milasˇ zitiert hier aus dem Can. 72 des Quinisextum (Synode von Trullo) (vgl. Concilium Quinisextum [Anm. 7], S. 262 f.). 13 Milasˇ, Kirchenrecht (Anm. 10), S. 645. 14 Milasˇ, Kirchenrecht (Anm. 10), S. 645. 15 Zur Person von Josef Zhisman vgl. Thomas Mark Németh, Josef Zhishman (1820 – 1894) und die Orthodoxie in der Donaumonarchie (= Kirche und Recht 27), Freistadt 2012. 16 Josef Zhishman, Das Eherecht der orientalischen Kirche, Wien 1864; vgl. v. a. den zweiten Teil, zweites Kapitel, dritter Abschnitt, VII. Die Verschiedenheit des christlichen Bekenntnisses, S. 512 – 561.

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Rechtsgelehrten der Donaumonarchie und Berater des Kaiserhauses. Vor allem spezialisierte er sich auf Fragen, die die orientalischen Kirchen (die Orthodoxie) betrafen. Für ihn war es einsichtig, dass es bei bekenntnisverschiedenen Eheleuten früher oder später zu Konflikten kommen müsse, wenn beide Herkunftskirchen an ihrem Absolutheitsanspruch festhielten und die Betroffenen – was ja grundsätzlich von jeder Kirche gefordert und wünschenswert war – an ihrem ursprünglichen Glauben festhielten, insbesondere was die Frage der Taufe und der religiösen Erziehung der gemeinsamen Kinder betreffe. Im § 2 dieser Abhandlung versucht Zhishmann den Unterschied zwischen orthodoxen und häretischen Christen, im § 3 aber die Klassen der Häretiker herauszuarbeiten. Denn die entscheidende Frage dreht sich um den Status der nicht-orthodoxen christlichen Gemeinschaft, aus der die Braut bzw. der Bräutigam stammt. Dabei unterscheidet er unter Berufung auf den Kirchenvater Basilius zwischen 1. der eigentlichen Häresie (= Häresie im engeren Sinn), 2. der Glaubensspaltung (= Schisma) und 3. dem durch den Abfall von dem rechtmäßigen Bischof und durch eigenmächtige Abhaltung religiöser Versammlungen kundgegebenen Ungehorsam gegen die Kirche (= Parasynagogé). Da im 7. Can. des Konzils von Konstantinopel (381) die zuletzt angeführte Gruppe der Parasynagogen nicht unter dem Begriff der Häretiker aufgenommen wurde, setzten sich in der Folge zwei Klassen von Häretikern (eigentliche Häretiker und Schismatiker) durch. Während die Taufe der eigentlichen Häretiker als ungültig betrachtet wurde und deshalb im Falle einer Konversion zur Orthodoxie nachgeholt werden musste, genügte für die Schismatiker unter den gleichen Umständen nur die Salbung mit Chrisam. Im Zusammenhang mit den sog. Mischehen berufen sich alle Kanonisten immer wieder auf den schon erwähnten 72. Can. des Quinisextum, der Synode von Trullo. Dort lesen wir wörtlich: „Es soll keinem orthodoxen Manne gestattet sein, mit einer Häretikerin die Ehe zu schließen, noch einer häretischen Frau mit einem Orthodoxen. Sollte aber solches geschehen, so ist die Ehe als ungültig zu betrachten und dieselbe als eine nichtige aufzulösen. […] Wer diese Vorschrift überschreitet, soll aus der Kirchengemeinde ausgeschlossen werden.“17 Nach Zhishman gelte diese Vorschrift nur für Häretiker im eigentlichen Sinn, die auf die gleiche Stufe wie die Juden und Heiden, also die Ungetauften, gestellt werden; nicht aber für die Schismatiker. Er beruft sich dabei auf die berühmten orthodoxen Rechtsgelehrten Zonaras und Balsamon.18 Wie aber sind jene kirchenrechtlich in Bezug auf eine Eheschließung einzustufen, die einem schismatischen Bekenntnis zuzuordnen sind? Basilius bezeichnet unter Berufung auf die Kirchenväter „alle jene Mitglieder der Kirche, welche wegen besonderer, im Schoße der Kirche erwachsener Ursachen, und übrigens leicht beizulegender Streitpunkte, zwar an der engeren kirchlichen Gemeinschaft nicht Anteil nehmen, aber noch immer als Mitglieder der Kirche betrachtet werden.“19 Der entschei17

Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 519 (vgl. Concilium Quinisextum [vgl. Anm. 7]). Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 520. 19 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 524 mit entsprechenden Anmerkungen. 18

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dende Unterschied zu den eigentlichen Häretikern liegt – wie bereits oben erwähnt –, dass im Falle einer Konversion in die orthodoxe Kirche die bereits empfangene Taufe als gültig anerkannt wird. Nur die Salbung mit dem Chrisam wird in diesem Fall vorgenommen. Zhishman führt unter anderem die Enkratiten, die Arianer, die Macedonianer, die Novatianer, die Apollinaristen, die Nestorianer und die Eutychianer an. Im § 9 wird die Zulässigkeit der Ehe mit Schismatikern ausführlich begründet. Im lateinischen Original des 12. Can. der Synode von Hippo Regius aus dem Jahr 393 werden die Heiden, Häretiker oder Schismatiker noch in einem Atemzug von der Ehe mit Orthodoxen ausgeschlossen. In den orientalischen Rechtssammlungen ist der Ausdruck Schismatiker weggelassen. Daraus schließt Zhishman, dass die Zulässigkeit der Ehe mit Schismatikern auf dem Interesse (oikonomia) der Kirche beruhe. Diese Einsicht ist bei den Kanonisten und durch die überlieferte kirchliche Praxis eindeutig belegt. „Die Kirche erachtete die Nachsicht, mit welcher sie die Ehen der Orthodoxen mit Schismatikern für gültig erklärte, umso notwendiger, weil sie die Vereinigung aller ihrer Glieder begünstigen musste, nicht aber erschweren durfte.“20 Zhishman hebt deutlich hervor, dass es nach dem Bruch von 1054 kein Verbot der Ehe mit Lateinern21 gab, weil die lateinische Kirche konsequent in die Reihe der Schismatiker und nicht in die der Häretiker gestellt wurde. Während der Kreuzzüge und der daraus entstehenden neuen politischen Strukturen wäre nach seiner Meinung die Anwendung eines Heiratsverbots unmöglich gewesen; ferner verweist er in diesem Zusammenhang auf die Handelsverträge der Byzantiner mit Genua, Venedig und Pisa. Obwohl es in der folgenden Zeit (12.–14. Jh.) wiederholt Unionsversuche gab, wurde der Riss zwischen den beiden Kirchen immer größer. Die grausame Eroberung von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer (1204) brachte einen traurigen Tiefpunkt in den Beziehungen zu den Lateinern. Nach dem endgültigen Fall von Konstantinopel (1453) wurden die Differenzpunkte in der Glaubenslehre zu Häresien erklärt22 ; bei übertrittswilligen Lateinern wurde aber nach wie vor keine Wiedertaufe gefordert, sondern nur die Chrisam-Salbung. Erst der „Horos“ des Patriarchen Cyrillus V. von 1756 forderte die Wiederholung der Taufe bei den Lateinern, wie es vor Peter dem Großen auch in Russland üblich war.23 Doch das war eigentlich nur die Antwort der Griechen auf die Lateiner. Indem man sich gegenseitig das Kirche-Sein und die Spendung von gültigen Sakramenten absprach, war der absolute Tiefpunkt in der Entfremdung zwischen Rom und Konstantinopel erreicht. Trotzdem führt Zhishman auf den folgenden Seiten24 aus, dass er auf keine eingehende Prüfung der Frage der Zulässigkeit der Ehe von orthodoxen Gläubigen mit Angehörigen der lateinischen Kirche gestoßen ist, und dass auch der bekannte ortho20

Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 525. Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 527 f. 22 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 529. 23 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 529. 24 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 531 f. 21

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doxe Rechtsexperte Theodoros Balsamon die Lateiner an keiner Stelle als Häretiker bezeichnet habe. Es gebe zu diesem Problemkreis unterschiedliche Aussagen, aber keinen offiziellen Synodenbeschluss. Die kirchliche Praxis zeige aber, dass es – vor allem in Adelskreisen – zahlreiche Fälle gab, in denen Ehen von Orthodoxen mit Lateinern unter Zustimmung der Staats- und Kirchengewalt geschlossen wurden und selbst Patriarchen bei solchen Mischehen mitgewirkt hatten.25 Nach den alten kanonischen Vorschriften hinsichtlich der gemischten Ehen hält Zhishman fest, dass Bekenntnisverschiedenheit als Auflösungsgrund eines Verlöbnisses angesehen wurde (byzantinische Rechtsquellen aus dem Jahre 469)26. Die Erziehung der Kinder in der orthodoxen Kirche musste gewährleistet sein; dies war auch Bedingung für das Erbrecht. Grundsätzlich waren orthodoxe Geistliche angehalten, alle Ehen (auch die Mischehen) einzusegnen, d. h. dass auch Angehörige der römischen Kirche das Sakrament der Ehe von einem orthodoxen Geistlichen empfangen konnten. Für alle, die in der orthodoxen Kirche einen besonderen Dienst (Psalten, Anagnosten) oder ein geistliches Amt (Diakon, Priester) ausüben wollten, war eine Ehe mit einer bekenntnisverschiedenen Frau strikt verboten.27

III. Das Ehesakrament – theologisch und kanonisch – aus orthodoxer Sicht heute28 Nach einem kurzen Abschnitt über die theologischen Aspekte des Ehesakraments mit Hinweisen auf die entsprechenden Abschnitte in den Heiligen Schriften (Genesis, Synoptiker, Paulusbriefe), versucht Theodor Nikolaou in seinem Beitrag zunächst dem interessierten „westlichen“ Leser ein Verständnis für das orthodoxe Kirchenrecht zu vermitteln. Die in der normierten Rechtssammlung angegebenen Kanones werden in vier Kategorien unterteilt: 1. die sog. Kanones der Apostel, 2. die Kanones der Ökumenischen Konzile, 3. die Kanones der Lokalkonzile und 4. die Kanones der Kirchenväter, wobei „für die Orthodoxe Kirche nur die Kanones der Ökumenischen Konzile absolut verbindlich sind und darüber hinaus nur diejenigen, die von Ökumenischen Konzilen anerkannt wurden.“29 Bei der Aufzählung aller verbindlichen Kanones wird auch der Can. 2 des Quinisextum (Trullanum) zitiert, wo 25

Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 534 ff. Eva M. Synek weist in ihrem jüngsten Beitrag in den Ostkirchlichen Studien nach, dass es in der Tradition in Ausnahmefällen auch islamisch-orthodoxe Mischehen in Adelskreisen gab (vgl. Eva M. Synek, Islamisch-orthodoxe Mischehen?, in: OS 65 [2016], S. 42 – 63). 26 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 537 f. 27 Zhisman, Eherecht (Anm. 16), S. 540 ff. 28 Der folgende Abschnitt stützt sich auf Theodor Nikolaou, Das Ehesakrament aus orthodoxer Sicht. Theologische und kirchenrechtliche Aspekte, in: OrthFor 17 (2003), S. 29 – 46. 29 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 33.

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es heißt, dass es „niemandem gestattet [sei], die genannten Kanones zu verändern oder zu verachten oder andere anstelle dieser zu akzeptieren.“30 Für unsere konkrete Fragestellung ist der Abschnitt über die Bedingungen bzw. Hindernisse bezüglich einer Eheschließung von Interesse. Bei den Ehehindernissen unterscheidet man solche mit absoluten Charakter – bei Vorliegen schließen sie eine Eheschließung aus; sie ist strikt verboten. „Sollte sie trotzdem geschlossen worden sein, so wird sie bei Vorliegen dieser Hindernisse für ungültig erklärt, d. h. als ob sie nicht geschlossen worden wäre.“31 Und dann gibt es noch relative Ehehindernisse, bei denen die Ehe – obwohl sie beim Vorliegen dieser Hindernisse auch nicht geschlossen hätte werden dürfen – gültig bleibt.32 Eine unterschiedliche Religion stellt eigentlich ein absolutes Ehehindernis für eine/n Gläubige/n der orthodoxen Kirche dar. Mit Berufung auf 1 Kor 7 und den schon mehrfach zitierten Can. 72 des Quinisextums ist eine Eheschließung mit einem Nichtchristen (wörtlich: Häretiker) nicht gestattet. „Da aber das übergeordnete Interesse bei Paulus und im betreffenden Kanon der pastoralen Fürsorge und dem Heil des (rechtgläubigen) Christen gilt, sollte heute das Prinzip der Oikonomia angewandt werden.“33 Und dies – nach Nikolaou – umso mehr bei den sog. Mischehen, d. h. Ehen zwischen Christen unterschiedlicher Konfession, wobei er für den orthodoxen Vollzug dieses Eheabschlusses und die orthodoxe Taufe der daraus hervorgehenden Kinder eintritt.34

IV. Wie sieht die gelebte Praxis im Falle der orthodox/katholischen Mischehen in den letzten Jahrzehnten aus? Bereits 1979 wurde eine Handreichung für Seelsorger35 von Metropolit Chrysostomos Konstantinidis und dem damals in Wien lehrenden Ostkirchenkundler Ernst 30 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 33; vgl. Concilium Quinisextum (Anm. 7), Can 2, S. 183: „Und es sei niemanden erlaubt, die vorgenannten Kanones zu verfälschen oder zu beseitigen oder an Stelle der vorliegenden Kanones andere anzunehmen, […].“ 31 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 37. 32 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 37. 33 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 38 f. Dafür hat sich auch die Kirche Griechenlands ausgesprochen – vgl. Anm. 22. 34 Nikolaou, Ehesakrament (Anm. 28), S. 39. 35 Fragen der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden. Eine Handreichung für die Seelsorger, im Auftrag der Regensburger Ökumenischen Symposien erstellt von Metropolit Chrysostomos Konstantinidis und Ernst Christoph Suttner, Regensburg 1979; vgl. dazu Ernst Christian Suttner, Wechselseitige pastorale Hilfe trotz Kirchentrennung – ihre Bedingungen und die Möglichkeiten der Sakramentenspendung zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen und altorientalischen Kirchen in Ausnahmefällen, Handreichungen zur Pastoral, Wien 1988.

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Christoph Suttner erstellt, in der die Fragen der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden aufgegriffen wurden. Wenn auch Metropolit Meliton von Chalkedon, der damalige Vorsitzende der Kommission des Ökumenischen Patriarchats für den Dialog mit der römisch-katholischen Kirche, im Vorwort deutlich macht, dass „die [… ]vorgetragenen theologischen Schlussfolgerungen und die dargebotenen praktischen Ratschläge und pastoralen Empfehlungen keine offiziellen kirchlichen Anweisungen oder allgemeinen Leitlinien für das kirchliche Verhalten in den zur Frage stehenden Fällen dar[stellen]“36 und den Inhalt der Handreichung im Vorwort nicht analysieren will, ist deutlich ein positiver Grundton für die gemeinsam erstellten Untersuchungen zu spüren. Dies kommt noch deutlicher beim „katholischen“ Vorwort von Kardinal Joseph Ratzinger zum Ausdruck, der „von ganzem Herzen dieses Werk [begrüßt]“.37 Im Abschnitt, der für unsere Fragestellung relevant ist, wird festgehalten, dass „die kirchenrechtlichen Normen als auch die Praxis der orthodoxen Autokephalien […] in der Gegenwart den Eheabschluss zwischen Orthodoxen und Katholiken unterschiedlich behandeln.“38 Trotzdem stellt der Text – nach der Beschreibung der Vorgehensweisen in verschiedenen autokephalen Kirchen fest, dass „[in] unserer Frage […] die Vorgehensweise gemäß Ökonomie in allen orthodoxen Kirchen gebräuchlich [ist].“39 Ja, selbst die russische Auslandskirche, die damals „hinsichtlich der Beurteilung der Katholiken die strengsten Normen uneingeschränkt fortgelten ließ“40, hat eine Ehe zwischen Orthodoxen und Katholiken unter entsprechenden Auflagen erlaubt. So stellt der Text abschließend fest: „Konfessionsverschiedene Brautpaare können in der Gegenwart in allen orthodoxen Kirchen damit rechnen, daß ihre Ehe (eventuell unter entsprechenden Kautelen hinsichtlich der Kindererziehung) eingesegnet wird – sei es, weil ihnen die Kirchenordnung die Möglichkeit dazu ex lege einräumt; sei es, weil der Bischof es ihnen gemäß Ökonomie zubilligt.“41 Die Gemeinsame Kommission der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, die schon seit vielen Jahren einen durchaus fruchtbaren Dialog zwischen den beiden Kirchen ermöglicht und fördert, hat immer wieder auch gemeinsame Dokumente erarbeitet, die insbesondere als Arbeitshilfen für den pastoralen Dienst, der sich im selben Land durchaus über36 Fragen 35), S. 11. 37 Fragen 35), S. 13. 38 Fragen 35), S. 113. 39 Fragen 35), S. 113. 40 Fragen 35), S. 114. 41 Fragen 35), S. 114.

der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm. der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm. der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm. der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm. der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm. der Sakramentenpastoral in orthodox-katholisch gemischten Gemeinden (Anm.

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schneiden kann, verstanden werden wollen. So wurde bereits 1993 eine Handreichung zum Thema „Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen“42 publiziert. Die Einleitung erklärt Anlass, Inhalt und Ziel des Textes und macht deutlich, dass sich in den letzten Jahrzehnten im Verhältnis der beiden Kirchen zueinander („Schwesterkirchen“) und durch große Bevölkerungsbewegungen (Migration), vieles verändert hat. „Beide Kirchen respektieren die Entscheidung ihrer Gläubigen, mit einer Partnerin bzw. einem Partner aus der jeweiligen Schwesterkirche eine Ehe einzugehen.“43 Und weiter unten stellt der Text realistisch fest: „Die Zugehörigkeit der Braut- und Eheleute zu verschiedenen Kirchen kann eine Bereicherung sein, aber auch eine zusätzliche Belastung darstellen.“44 In dem ganzen Duktus der Darstellung wird – bei aller Verschiedenheit des Ritus und der jeweiligen kirchlichen Traditionen ein ökumenisch offener Geist spürbar, der den Brautpaaren Hilfestellungen für ihren gemeinsamen Weg geben will. Deshalb wird auch der jeweilige Verbleib des anderen Partners in seiner Kirche respektiert und selbst die Entscheidung bezüglich der Taufe und religiösen Erziehung der Kinder den Eltern überantwortet.45 „Der katholische Partner verspricht, sich nach Kräften darum zu bemühen, die Kinder in der katholischen Kirche taufen zu lassen und im katholischen Glauben zu erziehen, soweit das in seiner Ehe möglich ist.“46 Ebenso wird der orthodoxe Pfarrer auf die Notwendigkeit der Taufe und christlichen Erziehung hinweisen – letztlich wird das junge Elternpaar zu gegebenem Anlass eine einvernehmliche Lösung finden müssen. Bezüglich einer gemeinsamen kirchlichen Trauung kann zumindest in Form einer freien Übereinkunft der jeweils andere Pfarrer eingeladen werden, „z. B. ein Gebet zu sprechen oder eine Ansprache zu halten.“47 Zum Abschluss des m. E. sehr einfühlsamen Textes werden die pastoralen Möglichkeiten und großen Chancen positiv aufgezeigt, die eine konfessionsverbindende Ehe in sich bergen kann. Unter den Überschriften: miteinander glauben, miteinander beten, miteinander die Kinder in das christliche Leben einführen, miteinander den gemeinsamen Glauben bezeugen, sind gemeinsame Glaubens- und Handlungsfelder aufgezählt, die über die Konfessionsgrenzen hinausgehen.48 Der international bekannte Rumänisch-Orthodoxe Historiker und langjährig führende Mitarbeiter in verschiedenen ökumenischen Schlüsselstellen in Genf, Viorel 42 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (1993). Eine Handreichung, in: Die Sakramente (Mysterien) der Kirche und die Gemeinschaft der Heiligen, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Dokumente der Gemeinsamen Kommission der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz 203), Bonn 2006, S. 59 – 70. 43 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 59. 44 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 60. 45 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 64. 46 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 66. 47 Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 67 48 Vgl. Ehen zwischen orthodoxen und katholischen Christen (Anm. 42), S. 67 – 69.

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Ionita, berücksichtigt in seinem jüngsten Beitrag,49 in der Festschrift für Reinhard Thöle, im Abschnitt 2.2 über die Frage der konfessionsverschiedenen Ehen aus orthodoxer Sicht drei Kategorien von Texten: (1) Entscheidungen bezüglich eines bestimmten kanonischen Territoriums; (2) Anweisungen verschiedener Orthodoxer Kirchen in der Diaspora und (3) ökumenische Vereinbarungen in der orthodoxen Diaspora. Bei der Auswahl der eingangs angeführten Beispiele50 wird deutlich, dass es sich in allen Fällen um ganz spezifische „Fälle“ handelt, in denen die Christen in schwierigen politischen Verhältnissen (Syrien, Ägypten) leben bzw. die Orthodoxie eine absolut kleine Minderheitskirche (Finnland) darstellt. Diese spezifischen Vereinbarungen oder Erklärungen gehen weit über die kanonische Ordnung der Orthodoxen Kirche hinaus. „Näher betrachtet zeigen die drei Beispiele, dass die Anerkennung der kirchlichen Trauung in diesen Kontexten nicht so sehr aus theologischen, sondern vordergründig aus pastoralen und missionarischen Gründen möglich war.“51 Aus den orthodoxen Stammländern, wie z. B. Bulgarien, Georgien, Griechenland, Russland, etc. sind dem Autor „keine Vereinbarungen zur Frage der konfessionsverschiedenen Ehen bekannt“52. Das komme daher, dass diese Kirchen aus kanonischen Gründen konfessionsverschiedene Kirchen gar nicht zulassen und es in diesen Ländern prozentuell auch wenige Mischehen gäbe. In den USA, im Griechisch-Orthodoxen Erzbistum von Amerika stieg der Anteil der Mischehen im Jahr 1976 von 46 Prozent auf 62 Prozent im Jahr 1991.53 Vermutlich liegt der aktuelle Prozentanteil noch um einiges höher, aber es fehlen die aktuellen Zahlen. Ionita spricht auch die deutliche Veränderung in der offiziellen orthodoxen Wahrnehmung (Bischöfe) der konfessionsverschiedenen Ehen an: Während in den 1920er Jahren der griechisch-orthodoxe Bischof Joachim von Boston im Zusammenhang mit der Frage der Mischehen einen Untergang seiner Kirche befürchtete, sah in den 1990er Jahren einer seiner späteren Nachfolger in den bekenntnisverschiedenen Ehen „eine einzigartige Gelegenheit der missionarischen Ausbreitung.54 Im Folgenden zeigt Ionita in seinem Beitrag auf, wie auf der jeweiligen Website von verschiedenen Orthodoxen Kirchen in der Diaspora aus pastoralen Gründen unterschiedliche Regeln für die Zulassung zu den Mischehen aufgestellt werden. Um 49 Viorel Ionita, Die Anerkennung der Taufe anderer Kirchen und die Frage der Mischehen aus orthodoxer Sicht, in: Petra Bosse-Huber/Martin Illert/Roland Fritsch/Philipp Walter (Hrsg.), Im Dialog mit der Orthodoxie. FS Thöle (= Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 104), Leipzig 2016, S. 69 – 87. 50 Vereinbarungen zwischen dem Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Antiochien und dem Patriarchat der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien (12. 11. 1991); zwischen dem Griechischen Orthodoxen Patriarchat von Alexandria und dem Koptischen Patriarchat (05. 04. 2001) und der Erklärung der Orthodoxen Kirche Finnlands und der Evangelischen Lutherischen Kirche von Finnland (10. 10. 1990); vgl. ebd., S. 74 f. 51 Vereinbarungen (Anm. 50), S. 76. 52 Vereinbarungen (Anm. 50), S. 76. 53 Angaben bei Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 46), S. 77, Anm. 21. 54 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 76.

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den/die nicht-orthodoxe/n Partner/in nicht überall vom orthodoxen, kirchlichen Leben auszuschließen, versuchen einige orthodoxe Diözesen in den USA für diese „eine aktive Rolle im Leben der betreffenden orthodoxen Kirchengemeinden zu finden“55. In der Orthodoxen Kirche in Amerika wird der Empfang des Ehesakraments („Ehekrönung“) für einen Nicht-Orthodoxen56 in Frage gestellt, während in einer Enzyklika der Synode der Bischöfe der Orthodoxen Kirche in Amerika unter anderem „die Frage einer begrenzten ,Teilnahme eines nicht-orthodoxen Pfarrers in einem orthodoxen Trauungsgottesdienst behandelt (wird)‘.“57 Dabei wird ausdrücklich davor gewarnt, dass der Trauungsgottesdienst nicht den Anschein einer „gemeinsamen Zeremonie“ hat oder als Konzelebration missverstanden wird, d. h. die Priester sind angehalten, den orthodoxen Standpunkt klar zum Ausdruck zu bringen – keine Kommuniongemeinschaft mit anderen Christen!58 In einem Büchlein, das vom Rumänisch-Orthodoxen Erzbistum von Amerika 2012 publiziert wurde59, werden die Richtlinien im Falle einer gewährten Mischehe so zusammengefasst: @ „die nicht-orthodoxe Seite muss ein Christ sein, getauft mit Wasser im Namen der Heiligen Trinität; @ die Paten/Zeugen müssen orthodox und in der Kirche verheiratet sein; @ der Krönungsgottesdienst muss in der Orthodoxen Kirche stattfinden; @ das Ehepaar muss versprechen, seine Kinder in der Orthodoxen Kirche taufen und erziehen zu lassen.“60

Erwähnenswert erscheint mir zum Abschluss noch eine interessante Textpassage aus der gemeinsamen Erklärung der katholisch-orthodoxen Kommission vom 11. Oktober 1980 in New York über die spirituelle Erziehung der Kinder aus Mischehen. „Was die Kirchenmitgliedschaft der Kinder aus diesen Mischehen anbetrifft, bleibt ,in der Verantwortung der beiden, Mann und Frau, die das Wohl der Kinder, die Stärke der religiösen Überzeugungen der Eltern und anderer Verwandter, die Forderungen ihrer Gewissen, die Einheit und Stabilität der Familie und andere Aspekte des spezifischen Kontextes, in dem sie leben, in Betracht nehmen sollen‘.“61 Und weiter ist in der Erklärung sogar vorgesehen, „dass in einigen Fällen, ,wenn nur einer der Partner seine Verantwortung erfüllt, […] die Kinder in der Kirche dieses 55

Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 78. Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 78. 57 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 78. 58 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 78. 59 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 78 u. 79, Anm. 26: The Romanian Orthodox Archdiocese in the Americas, Guidelines for Orthodox Matrimony Preparation, published with the blessing of His Eminence Archbishop Nicolae, Chicago 2012. 60 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 79. 61 Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 81 f. 56

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Rudolf Prokschi

Partners erzogen werden [sollen]. In anderen Fällen jedoch könnte die geistliche Erziehung der Kinder eine vollere Teilnahme am Leben und an den Traditionen der beiden Kirchen einschließen, allerdings unter Einhaltung der kanonischen Ordnung der beiden Kirchen.‘“62

V. Wie wird mit Mischehen in der katholischen Kirche rechtlich (im aktuellen Codex des kanonischen Rechts) umgegangen? Vorweg zeigt ein Vergleich des Codex Iuris Canonici (CIC/1983) mit dem Gesetzbuch für die katholischen Ostkirchen, dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO), dass die angeführten Kanones in dem entsprechenden Artikel inhaltlich fast identisch sind. Lediglich, wo im CIC/1983 die Bischofskonferenzen aufgefordert werden, die Art und Weise der sog. Kautelen (= Erklärungen und Versprechen des katholischen Teils im Hinblick auf Taufe und religiöse Erziehung der gemeinsamen Kinder) festzulegen, spricht der CCEO vom „Partikularrecht einer jeden eigenberechtigten Kirche“. Gleich zu Beginn des ersten Kanons (c. 1124 CIC/1983; c. 813 CCEO) im Kapitel „Mischehen“ wird ein grundlegender Unterschied zum orthodoxen Kirchenrecht deutlich: Hier wird von einer Eheschließung zwischen zwei getauften Personen gesprochen, von denen der eine Partner katholisch ist, der andere aber nichtkatholisch. Es wird also vorausgesetzt, dass es sich bei beiden um gültig getaufte Christen handelt und damit die Taufe des nichtkatholischen Partners und sein grundsätzliches Christsein nicht in Frage gestellt (jedenfalls nicht bei einem Angehörigen einer Ostkirche). Nach katholischem Recht braucht es zwar die vorhergehende Erlaubnis der zuständigen kirchlichen Autorität, die aber aus einem gerechten Grund gegeben wird (vgl. c. 1125 CIC/1983). Diese Erlaubnis zur Eheschließung wird an folgende Bedingungen geknüpft: „der katholische Partner hat sich bereitzuerklären, Gefahren des Glaubensabfalls zu beseitigen, und er hat das aufrichtige Versprechen abzugeben, nach Kräften alles zu tun, daß alle Kinder in der katholischen Kirche getauft und erzogen werden“ (c. 1125, 18 CIC/1983). Darüber „ist der andere Partner rechtzeitig zu unterrichten, so daß feststeht, daß er wirklich um das Versprechen und die Verpflichtung des katholischen Partners weiß“ (c. 1125, 28 CIC/1983). Als langjähriger Seelsorger in der Erzdiözese Wien, der in seiner Zeit als Pfarrer in Ober-St. Veit, Wien 13, einer überaus beliebten Hochzeitskirche, tätig war, wurde ich mit überdurchschnittlich vielen kirchlichen Eheabschlüssen konfrontiert und weiß sehr wohl um den Wortlaut des Versprechens des katholischen Partners, den die Österreichische Bischofskonferenz festgelegt hat: „Ich will in meiner Ehe am katholischen Glauben festhalten. Ich erkenne an, daß mein Glaube von mir verlangt, mich für die Taufe und Erziehung unserer Kinder in der katholischen Kirche einzu62

Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 82.

Kirchlicher Eheabschluss orthodoxer Gläubiger

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setzen. Ich werde mich bemühen, dem zu entsprechen unter Rücksichtnahme auf das Gewissen meines Partners.“63 In dieser Erklärung, die grundsätzlich in schriftlicher Form gegeben werden soll, kommt einerseits ein großer Respekt vor der religiösen Überzeugung des Partners zum Ausdruck, aber auch das ehrliche Bemühen, das gegebene Versprechen einzulösen. Leider konnte bei der (Pan)Orthodoxen Großen und Heiligen Synode auf Kreta keine gesamtorthodoxe Lösung in der Frage der Mischehen gefunden werden. Im Wissen um die großen Kontroversen, die schon im Vorfeld von einzelnen Landeskirchen geäußert wurden, wurde die Entscheidung bezüglich der wichtigen Frage der Mischehen wieder zurück an die jeweiligen Synoden der autokephalen Kirchen delegiert. Leidtragende sind vor allem jene jungen Leute, die ehrlich darum ringen, im Einklang mit ihren Herkunftskirchen einen gemeinsamen und glaubwürdigen ehelichen Weg gehen zu können und die dann von verschiedenen Amtsträgern (auch innerhalb der Orthodoxie) oft sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Abschließen möchte ich in diesem Zusammenhang mit einem Zitat aus dem schon mehrfach zitierten Festschriftbeitrag von Viorel Ionita, in dem er am Ende seiner Ausführungen schreibt: „Wenn diese Vorschläge von der Heiligen und Großen Synode der Orthodoxen Kirche angenommen werden, werden alle Orthodoxen Kirchen eine gemeinsame und hochoffizielle Orientierung hinsichtlich der so viel debattierten Frage der Mischehen zur Verfügung haben.“64 Darauf müssen wir wohl noch warten und weiter hoffen, dass es – im Blick auf die betroffenen jungen Paare – mit Gottes Hilfe bald zu einer guten und lebensnahen Lösung in der Frage der Mischehen kommt.

63 64

ÖBK, ABl., Nr. 2 vom 01. 06. 1984, S. 13. Ionita, Anerkennung der Taufe (Anm. 49), S. 87.

Vergleichendes Religionsrecht und das Verhältnis von Staat und Kirche

Religionsverfassungsrechtliche Entwicklungen in der Schweiz Von Claudius Luterbacher-Maineri

I. Einleitung Religionsverfassungsrecht ist wohl einer der vielfältigsten Rechtsbereiche in der Schweiz. Und es ist ein Rechtsbereich, in dem vieles in Bewegung ist. Deshalb ist es lohnenswert, einen Blick auf aktuelle Entwicklungen im Schweizerischen Religionsverfassungsrecht zu werfen. Dabei kann es im vorliegenden Artikel nicht um eine detaillierte Darstellung aller anstehenden Veränderungen gehen, sondern vielmehr um grundlegende Tendenzen, die anhand konkreter Beispiele erläutert werden. Ausgehend von der vielfältigen und geschichtlich gewachsenen aktuellen Situation fällt es auf, dass das etablierte System der Anerkennung von Religionsgemeinschaften in der überwiegenden Mehrzahl der Kantone weiterhin das vorherrschende Modell in der rechtlichen Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Staat ist. Mit der Diskussion um eine kleine Anerkennung privatrechtlich organisierter Religionsgemeinschaften wird dieses Modell sogar noch ausgebaut. Eigentliche Systemwechsel zeichnen sich somit nicht ab, wohl aber teils tiefgreifende Weiterentwicklungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden diese Entwicklungen aus rechtlicher Sicht mit einigen Bemerkungen diskutiert. Dabei zeigt es sich, dass im Grundsatz viele Entwicklungen einem zeitgemäßen Verständnis entsprechen, indem auf positiver Neutralität des Staates aufgebaut und die Religionsfreiheit gewährleistet wird. Es zeigen sich aber auch mögliche Gefahren sowie weiteres Entwicklungspotential.

II. Aktuelle Situation Das Religionsverfassungsrecht in der Schweiz ist geprägt von der kantonalen Zuständigkeit zur Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften. Diese ist in Art. 72 BV1 festgelegt, was die allgemeine Bestimmung von Art. 3 BV noch unterstreicht: „Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch 1 Art. 72 Abs. 1 – 2 BV: „1. Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig. 2. Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Maßnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften.“

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die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.“ Diese Zuständigkeit der Kantone und die daraus folgenden kantonalen Unterschiede in der Gestaltung des Religionsverfassungsrechts sind auf der einen Seite historisch bedingt, andererseits entsprechen sie dem grundsätzlich föderalen Aufbau der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Während in vielen anderen Bereichen der ursprüngliche Gedanke des Föderalismus mit souveränen Kantonen und autonomen Gemeinden löchrig zu werden scheint oder an seine Grenzen stößt,2 so erscheint der Bereich des Religionsverfassungsrechts schon fast als eine Art letzte Bastion des Föderalismus. Vereinzelt wird Bedarf an religionsverfassungsrechtlichen Regelungen auf eidgenössischer Ebene in der Diskussion oder in der Politik angemeldet,3 insgesamt bewegt sich das Religionsverfassungsrecht aktuell aber zu größten Teilen auf der Ebene der Kantone. Der gemeinsame Rahmen, in welchem sich die kantonalen Regelungen bewegen, ist insbesondere in der in Art. 15 BV gewährleisteten Religionsfreiheit4 zu finden. Es ist dieser Rahmen, der für die aktuelle Situation wie auch für die Diskussion der Entwicklungen entscheidend ist. Stärker als die historische Erklärung konkreter religionsverfassungsrechtlicher Regelungen ist es die Religionsfreiheit in ihrer individuellen, kollektiven und korporativen Dimension, welche den Interpretationsrahmen eines zeitgemäßen Religionsverfassungsrechts vorgibt.5 Die religionsverfassungsrechtlichen Regelungen sind zwischen den Kantonen sehr unterschiedlich. Während noch bis fast zum Ende des 20. Jahrhunderts recht eindeutige Unterschiede zwischen Kantonen, die eine reformierte, eine katholische oder eine gemischte Tradition aufwiesen, ausgemacht werden konnte, verschwimmen diese Grenzen angesichts der religionsverfassungsrechtlichen Entwicklungen der letzten Jahre immer stärker.6 2

Vgl. pars pro toto Christoph Zollinger, Kirchturmpolitik und Kantönligeist, in: Journal 21 vom 27. 06. 2016 (online verfügbar unter: https://www.journal21.ch/kirchturmpolitik-und-kan toenligeist [Stand: 09. 11. 2016]). Zu nennen sind etwa die abnehmende Zahl von Gemeinden über Gemeindefusionen, die zunehmende Anzahl der Konkordate zwischen den Kantonen oder die zunehmende Kompetenzaneignung seitens des Bundes. 3 Vgl. etwa die Forderung nach einem Toleranzartikel in der Bundesverfassung angesichts der Minarett-Initiative oder Vorstöße beispielsweise im Bereich von Bekleidungsvorschriften. 4 Art. 15 BV: „1. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. 2. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. 3. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. 4. Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.“ 5 Die Literatur hierzu ist vielfältig. Hingewiesen sei besonders auf Christoph Winzeler, Die Religionsfreiheit als individuelles und korporatives Grundrecht, in: ders., Religion im demokratischen Staat. Beiträge zum Religionsverfassungsrecht und zur Religionsfreiheit (= FVRR 27), Zürich/Basel/Genf 2012, S. 93 – 114. 6 Das Standardwerk von Dieter Kraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht. Hauptlinien des Verhältnisses von Staat und Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene (= JusEccl 45), Tübingen 1993, kennt diese Unterscheidung; auch Christoph Winzeler kategorisiert die

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1. Anerkennung Die überwiegende Mehrzahl der Kantone kennt das Regime der Anerkennung. „Das Wort ,Anerkennung‘ ist […] ein weit gefasster Begriff, der für sehr Unterschiedliches steht, denn es gibt im schweizerischen Recht keine präzise, einheitliche Auslegung dafür. Im weiten Sinn bedeutet der Begriff ,Anerkennung‘, dass der Staat einer Religionsgemeinschaft einen besonderen Status verleiht, ihr ein Privileg gewährt oder zu ihr in ein besonderes Verhältnis tritt. Üblicherweise wird der Begriff jedoch im engen Sinn verwendet und damit der Akt bezeichnet, mit dem der Staat einer Gemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verleiht oder sie als Institution von öffentlichem Interesse anerkennt.“7 Bei der Anerkennung handelt es sich also rechtlich gesehen um einen (hoheitlichen) Akt des Staates, bei dem er sein Verhältnis zu einer Religionsgemeinschaft regelt. Je nach Kanton und Situation wird die Anerkennung auf Verfassungs- oder auf Gesetzesstufe geregelt.8 Im Kanton Freiburg beispielsweise werden die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche in der Kantonsverfassung öffentlich-rechtlich anerkannt,9 weitere Religionsgemeinschaften können per Gesetz öffentlich-rechtlich anerkannt werden, so geschehen bei der israelitischen Kultusgemeinde.10 Privatrechtlich organisierte Religionsgemeinschaften können zudem durch den Staatsrat (die Regierung) Vorrechte gewährt werden (insbesondere Angaben aus den Einwohnerdaten bezüglich Konfessionszugehörigkeit, Steuerbefreiungen für die Religionsgemeinschaft o. ä.).11

26 Schweizer Kantone in dieser Art; vgl. den Überblick über die verschiedenen kantonalen Regelungen bei Christoph Winzeler, Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz (= FVRR 16), Zürich/Basel/Genf 20092, S. 78 – 124. 7 Philippe Gardaz, Die Anerkennung von Religionsgemeinschaften: Kompetenzen, Typologie, aktuelle Situation, in: René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften: Zukunfts- oder Auslaufmodell? (= FVRR 31), Zürich/Basel/Genf 2015, S. 1 – 10, hier S. 3. 8 Vgl. die Zusammenstellung von Stefan Kölbener, Das kantonale Anerkennungsrecht in der Schweiz, in: René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften: Zukunfts- oder Auslaufmodell? (= FVRR 31), Zürich/Basel/Genf 2015, S. 257 – 369. 9 Vgl. Art. 141 KV-FR: „1. Die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche sind öffentlich-rechtlich anerkannt. 2. Die anerkannten Kirchen sind autonom. Ihr Statut untersteht der staatlichen Genehmigung.“ 10 Vgl. das Gesetz über die Anerkennung der israelitischen Kultusgemeinde des Kantons Freiburg vom 03. 10. 1990 (sGS 193.1). 11 Vgl. Art. 142 KV-FR: „1. Die anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften unterstehen dem Privatrecht. 2. Sie können öffentlich-rechtliche Befugnisse erhalten oder öffentlichrechtlich anerkannt werden, wenn ihre gesellschaftliche Bedeutung es rechtfertigt und wenn sie die Grundrechte beachten.“ Vgl. darüber hinaus das Gesetz über die Beziehungen zwischen den Kirchen und dem Staat vom 26. 09. 1990 (sGS 190.1), Art. 28 – 30.

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a) Öffentlich-rechtliche Anerkennung Zu unterscheiden ist die öffentlich-rechtliche (qualifizierte, große) Anerkennung von der einfachen (öffentlichen, kleinen) Anerkennung.12 Bei der öffentlich-rechtlichen Anerkennung verleiht der Kanton einer Religionsgemeinschaft den Status einer juristischen Person öffentlichen Rechts. Verbunden damit sind Vorschriften bezüglich der Organisation dieser Religionsgemeinschaft, namentlich das Erfordernis, sich demokratisch und gewaltenteilig zu organisieren. Zudem gewähren die meisten Kantone den öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften das Recht, von ihren Mitgliedern Kirchensteuern einzuziehen.13 Verbunden mit diesem Steuerrecht wiederum ist die Verpflichtung, die Finanzen offenzulegen und die Steuerpflichtigen über die Verwendung der Steuergelder demokratisch entscheiden zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass im Fall der römisch-katholischen Kirche diese Anforderungen gemäß innerem religiösem Recht (dem kanonischen Recht) nicht gegeben sind. In diesem Fall geschieht die Anerkennung mittelbar: Es werden kantonale kirchliche Körperschaften öffentlich-rechtlich anerkannt, welche die Erfordernisse der Demokratie, der Gewaltenteilung und der Finanztransparenz erfüllen.14 Die Anerkennung bezieht sich somit nicht auf die Instanzen, welche im kanonischen Recht vorgesehen sind (namentlich die Diözesen oder die Pfarreien). Im katholischen Bereich führt dies zu einem Dualismus: Parallel zu den kanonisch-rechtlichen Größen existiert eine Spezialkörperschaft öffentlichen Rechts, welche alle Mitglieder römisch-katholischen Bekenntnisses umfasst, die auf dem entsprechenden Gebiet wohnen und nicht ihren Austritt erklärt haben. Im Fall der reformierten Kirche bezieht sich die Anerkennung auf eine Kirche selber15 und ist somit unmittelbar. Mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung können weitere Privilegien verbunden sein: Die Möglichkeit der Anstaltsseelsorge in Spitälern, Schulen oder Gefäng12 Die Darstellung folgt hier wo nicht anders vermerkt Philippe Gardaz, Anerkennung von Religionsgemeinschaften (Anm. 7), S. 4. 13 In einigen Kantonen besteht für die öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften zudem das Recht, Steuern juristischer Personen einzutreiben; vgl. hierzu Raimund Süess/Christian R. Tappenbeck/René Pahud de Mortanges, Die Kirchensteuern juristischer Personen in der Schweiz. Eine Dokumentation (= FVRR 28), Zürich/Basel/Genf 2013. 14 In vielen Kantonen existiert eine solche kantonale kirchliche Körperschaft, auf welche sich die Anerkennung bezieht, beispielsweise in den Kantonen Zürich, St. Gallen oder Thurgau. Im Kanton Appenzell Innerrhoden bezieht sich die Anerkennung auf die Kirchgemeinden, eine öffentlich-rechtliche Körperschaft auf kantonaler Ebene existiert nicht. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden schließen sich die Kirchgemeinden zu einem öffentlich-rechtlichen Verband zusammen. 15 Vgl. Christoph Winzeler, Elemente und Perspektiven des schweizerischen Religionsverfassungsrechts, in: Jusletter 07.07.014, Rz. 3. Mit Verweis auf den evangelischen Kirchenrechtler Albert Stein erwähnt Winzeler, dass die Anerkennung einer reformierten Landeskirche einer Anerkennung einer Teilkirche zukommt, weil sich die Landeskirche auf das Gebiet eines Kantons beschränkt.

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nissen, die Möglichkeit, in der öffentlichen Schule Religionsunterreicht zu erteilen, die Mitteilung von Daten der Einwohnerkontrolle, steuerliche Vorteile. b) Einfache Anerkennung Im Fall der einfachen (öffentlichen, kleinen) Anerkennung bleibt die Religionsgemeinschaft dem Privatrecht unterstellt und organisiert sich entsprechend den im Schweizerischen Zivilrecht vorgesehenen Rechtsformen, meist als privatrechtliche Stiftung oder als Verein. In diesem Fall ist die Möglichkeit, Steuern von den Mitgliedern zu erheben, nicht gegeben. Wohl aber können mit der öffentlichen Anerkennung weitere Privilegien verbunden werden, wie sie oben genannt wurden. 2. Trennung von Staat und Religionsgemeinschaft Während 24 der 26 Schweizer Kantone in der einen oder anderen Form das Regime der Anerkennung kennen, stechen die beiden Kantone Genf und Neuenburg hervor. Die Genfer Kantonsverfassung verankert die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und spricht von einem Laizismus des Staates.16 Auch der Kanton Neuenburg17 kennt die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Allerdings spricht die Kantonsverfassung von der evangelisch-reformierten, der römisch-katholischen und der christkatholischen Kirche als Institutionen von öffentlichem Interesse.18 Es existiert eine freiwillige Kirchensteuer, welche vom Staat eingezogen wird. Im Übrigen kann der Staat mit den drei Kirchen auch Konkordate abschließen. Diese Form des Verhältnisses der drei Kirchen mit dem Staat kann ohne weiteres als eine Art der einfachen Anerkennung angesehen werden.

16 Vgl. Art. 3 KV-GE : „1. Der Staat ist weltlich (laïque). Er verhält sich in religiösen Fragen neutral. 2. Er entlöhnt und unterstützt keine Kultustätigkeiten. 3. Die Behörden unterhalten Beziehungen mit den religiösen Gemeinschaften.“; vgl. zum Kanton Genf Philippe Gardaz, Le statut de l’Eglise catholique romaine dans le canton de Genève, in: Libero Gerosa/ René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Eglise catholique et Etat en Suisse (= FVRR 25), S. 265 – 276. 17 Vgl. zum Kanton Neuenburg Bernard Jordan, Le statut de l’Eglise catholique romaine dans le canton de Neuchâtel, in: Libero Gerosa/René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Eglise catholique et Etat en Suisse (= FVRR 25), S. 253 – 264. 18 Vgl. Art. 97 – 98 KV-NE, insbesondere Art. 98 Abs. 1: „1. Der Staat anerkennt die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche des Kantons Neuenburg als Institutionen von öffentlichem Interesse, welche die christlichen Traditionen des Landes verkörpern.“

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III. Aktuelle Entwicklungen im Religionsverfassungsrecht Der knappe Umriss des status quo im Schweizerischen Religionsverfassungsrecht erlaubt die Einordnung aktueller Entwicklungen und Tendenzen. Auf gesellschaftlicher wie auf rechtlicher Ebene gibt es in Bezug auf die Religionsgemeinschaften in der Schweiz viel Bewegung. Die gegenwärtigen Entwicklungen finden auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels statt, weshalb ein Blick in die religionssoziologische Entwicklung, wenn auch maßgeblich in Verweisform, vorangestellt werden soll (III.1). Auf der rechtlichen Ebene ist die Tendenz zur Entflechtung von Staat und öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften zu erkennen, wie etwa das Beispiel des Kantons Bern zeigt (III.2). Häufig diskutiert und in wenigen Kantonen bereits umgesetzt ist die (Schaffung der) Möglichkeit der einfachen Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Hier werden die Beispiele der Kantone Basel-Stadt und Luzern aufgegriffen (III.3). Aber auch in den Trennungskantonen Genf und Neuenburg sind Bewegungen zu erkennen, auf die aber im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen werden kann.19 1. Religionssoziologische Situation Das Bundesamt für Statistik schildert die Änderungen und die aktuelle Situation hinsichtlich der Religionszugehörigkeit der Schweizer Bevölkerung folgendermaßen: „Die Religionslandschaft der Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Wandel erfahren. Der Anteil der katholischen Kirche hat zwischen 1970 und 2014 um rund 20 % abgenommen und jener der protestantischen Kirche hat sich fast halbiert. Gleichzeitig ist der Anteil der Konfessionslosen stark angewachsen, von 1,2 % im Jahr 1970 auf 22 % in den Jahren 2012 – 2014. Heute gehört die Bevölkerung ab 15 Jahren zu 38 % der katholischen Kirche, zu 26 % der protestantischen Kirche, zu 5,7 % den anderen christlichen Gemeinschaften und zu 5 % den muslimischen Gemeinschaften an. Die Mitglieder der anderen evangelikalen Gemeinden machen 1,7 % aus und jene der übrigen Religionen 1,5 %. In dieser letzten Kategorie sind die Mitglieder von buddhistischen und hinduistischen Vereinigungen am stärksten vertreten.“20 Damit sind die wichtigsten Faktoren benannt. Die Anzahl der Mitglieder der beiden großen Kirchen nimmt in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ab, der Anteil derjenigen Personen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, steigt am stärksten an. Bei den übrigen Personen ist eine Pluralisierung unübersehbar, sie teilen sich in viele Religionsgemeinschaften christlicher und nichtchristlicher Herkunft auf. In Bezug auf die Religionszugehörigkeit spielt die Migration eine wichtige Rolle. 94 % der Musliminnen und Muslime in der Schweiz haben einen Migrationshinter19

Vgl. besonders ein Gesetzgebungsverfahren im Kanton Genf, s. u. (Anm. 54). Bundesamt für Statistik, Religiöse und spirituelle Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz. Erste Ergebnisse der Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur 2014, Neuchâtel 2016, S. 6. 20

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grund (80 % Personen, die in erster Generation in der Schweiz leben, 14 % Personen in zweiter Generation). Der Anteil Mitglieder ohne Migrationshintergrund ist bei den protestantischen Landeskirchen am größten, er beträgt rund 85 %. Bei den „anderen christlichen Gemeinschaften“ (hierzu zählen die orthodoxen Kirchen, evangelischlutherische Kirche und andere auf die Reformation zurückgehenden Kirchen, anglikanische Kirche, christkatholische Kirche) beträgt der Anteil Mitglieder mit Migrationshintergrund 58 %, bei der Gruppe „andere Religionen“ 71 %. Auf diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass im Bereich des Religionsverfassungsrechts nach der Frage der Gleichbehandlung bzw. der Legitimität der Ungleichbehandlung verschiedener Religionsgemeinschaften gefragt wird, dass das Bedürfnis nach rechtlicher Regelung des Verhältnisses vom Staat zu kleineren Religionsgemeinschaften steigt und dass die neutrale Rolle des Staates in Bezug auf die Religionsfreiheit – sowohl in der negativen Dimension der Freiheit vor Religion angesichts der Pluralisierung der wachsenden Anzahl Bürgerinnen und Bürger, die sich zu keiner Religion zugehörig fühlen, als auch in der positiven Dimension der Ermöglichung von Religion angesichts der bleibenden Wichtigkeit für Religion eines großen Teils der Bevölkerung21 – neu austariert werden muss. 2. Entflechtung von Staat und öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften In einigen Kantonen sind aus historischen Gründen Staat und Kirche eng miteinander verflochten. In der Tendenz ist in den letzten Jahren eine Entflechtung22 dieses Verhältnisses zu beobachten. Intensiv wird dies zur Zeit im Kanton Bern besprochen, deshalb werden hier die heutige Situation sowie die Überlegungen zur Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts in diesem Kanton dargestellt.23 21 Gemäß der genannten Erhebung des Bundesamtes für Statistik halten beispielsweise über 60 % der Frauen und knapp 50 % der Männer Religion oder Spiritualität in schwierigen Momenten des Lebens für wichtig oder sehr wichtig. Im Falle einer Krankheit sind es rund 55 % der Frauen und knapp 40 % der Männer. Die Zahl ist aber auch nicht unwesentlich bei der Frage der Einstellung gegenüber Natur und Umwelt (knapp 50 % der Frauen und knapp 40 % der Männer) oder bei der Frage nach der Erziehung der Kinder (etwas über 50 % der Frauen und etwas über 40 % der Männer); vgl. Bundesamt für Statistik, Religiöse und spirituelle Praktiken (Anm. 20), S. 23. 22 Der Begriff der Entflechtung von Kirche und Staat wurde von Urs Josef Cavelti geprägt; vgl. beispielsweise Urs Josef Cavelti, Entwicklungstendenzen im schweizerischen Staatskirchenrecht, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Kirche – Staat im Umbruch. Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften zum Staat, Zürich 1995, S. 206 – 213. 23 Die Darstellung muss sich aus Platzgründen auf ein paar wesentliche, in diesem Zusammenhang relevante Punkte beschränken. Sie folgt wo nicht anders vermerkt dem von der Regierung des Kantons Bern in Auftrag gegebenen Expertenbericht: ECOPLAN, AD!VOCATE, Das Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern. Eine Auslegeordnung, Bern 2014 (online verfügbar unter: https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.

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Wie in jedem Kanton, erklärt sich das heute geltende Religionsverfassungsrecht auch im Kanton Bern insbesondere aus der Geschichte. Seit der Reformationszeit war die evangelisch-reformierte Landeskirche die Staatskirche von Bern. Die Pfarrer waren Staatsvertreter und mussten die Anweisungen des Staates vollziehen, während die Regierung nicht nur staatliche, sondern auch oberste kirchliche Behörde war. Im Zuge der Reformation aber auch anfangs des 19. Jahrhunderts wurden die Klostergüter und weitere Kirchengüter, aus welchen die Besoldung der Pfarrer und der Unterhalt weiterer Kirchengebäude bestritten wurden, in der Stadtrepublik Bern verstaatlicht. Der Staat kam dann für seine Staatskirche für den finanziellen Unterhalt, insbesondere auch für die Besoldung der Geistlichen, auf. Auf diese Vorgänge der Verstaatlichung von Kirchengütern gründen historische Rechtstitel zur Finanzierung der evangelisch-reformierten Landeskirche in Bern.24 Diese enge Verbindung zwischen Staat und Kirche in Form einer Staatskirche änderte sich zwar mit der Auflösung des konfessionellen Einheitsstaates, die Religionsfreiheit wurde in die Kantonsverfassung von 1831 aufgenommen und die Religionslandschaft wurde zunehmend pluralistischer. So präsentiert sich das Bernische Religionsverfassungsrecht heute in den Grundzügen wie folgt: Die Verfassung des Kantons Bern anerkennt die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche als Landeskirchen.25 Über das Gesetz über die jüdischen Gemeinden vom 28. Januar 1998 werden zudem die jüdische Gemeinde Bern sowie die Israelitische Gemeinde Biel öffentlich-rechtlich anerkannt.26 Die anerkannten Religionsgemeinschaften unterstehen der Aufsicht des Staates, was die äußeren Angelegenheiten anbelangt. Bezüglich der inneren Angelegenheiten genießen sie im Rahmen der Religionsfreiheit Autonomie. In Bezug auf die drei Landeskirchen regelt der Staat über das Kirchengesetz27 wesentliche Punkte, wobei in diesem Gesetz die Verflechtung des Staates mit der Kirche und somit das Nachwirken der Staatskirche in besonderer Weise sichtbar werden. Die assetref/dam/documents/portal/Medienmitteilungen/de/2015/03/2015 - 03 - 27-kirche-staat-be richt-muggli-marti-de-fr.pdf [Stand: 09. 11. 2016]). 24 Erwähnt wird in diesem Zusammenhang meist das Dekret vom 07. 05. 1804, wobei der Status dieses Dekrets und die Abhängigkeit historischer Rechtsansprüche von diesem Dekret kontrovers diskutiert werden; vgl. hierzu Ueli Friedrich, Verpflichtung des Kantons Bern zur Besoldung von Pfarrpersonen der Landeskirchen. Stellungnahme zum Gutachten Prof. Dr. Markus Müller/Dr. Kaspar Sutter, „Der Anspruch auf staatliche Pfarrbesoldung im Kanton Bern“ vom 30. 03. 2012, Bern 2013. Grundlage für finanzielle Leistungen des Kantons Bern an die römisch-katholische Kirche ist die Übereinkunft betreffend die Einverleibung des alten Kantonsteiles Bern in das Bistum Basel vom 22./28.06./07.1864/1865 (BSG 410.334). 25 Art. 121 KV-BE: „1. Die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche sind die vom Kanton anerkannten Landeskirchen. 2. Sie sind öffentlichrechtliche Körperschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit.“ 26 Vgl. Art. 126 KV-BE sowie das Gesetz über die jüdischen Gemeinden vom 28. 01. 1997 (BSG 410.51). 27 Vgl. das Gesetz über die Bernischen Landeskirchen vom 06. 05. 1945 (BSG 410.11).

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Landeskirchen müssen sich nach kantonalem Gemeindegesetz in Kirchgemeinden als Gebietskörperschaften organisieren. Damit verbunden ist die kantonale Aufsicht über Organisation und Finanzen. „So bestimmt der Kanton im Wesentlichen die Umschreibung, Bildung und Zusammenlegung von Kirchgemeinden, die Errichtung neuer Pfarrstellen, die Ausbildung und Aufnahme der Geistlichen in den Bernischen Kirchendienst. Die Finanzierung eines Großteils der Pfarrstellen durch den Kanton führt zu einer zusätzlichen Verflechtung mit dem Staat: Die unter diesem Titel angestellten Pfarrerinnen und Pfarrer sind Kantonsangestellte und der Kanton regelt – in Abstimmung mit den jeweiligen innerkirchlichen Anforderungen – die Voraussetzungen der Anstellung und das konkrete Anstellungsverhältnis.“28 Die Kirchgemeinden wählen die Geistlichen und dürfen Kirchensteuern erheben. Der Expertenbericht von Michael Marti und Rudolf Muggli29 nennt einige Verflechtungen von Kirche und Staat, welche diskutierenswert erscheinen: @ Territorialität: Die Unterstellung unter das kantonale Gemeindegesetz bedeutet, dass Kirchgemeinden immer territorial organisiert sein müssen. Es könnte durchaus im Interesse der Kirchen liegen, auch eine personelle Strukturierung vorzunehmen (etwa nach Sprachgruppen o. ä.). Die damit verbundenen steuerrechtlichen Fragen hält der Bericht für lösbar. @ Bildung, Bestand und Abgrenzung von Kirchgemeinden liegen nach geltendem Recht in der Zuständigkeit staatlicher Instanzen, insbesondere des Großen Rates. Der Bericht bezweifelt ein aktuelles kantonales Interesse an diesen Strukturfragen oder die grundsätzliche Verbindung von Kirchgemeinden mit Einwohnergemeinden. Deshalb könnten die entsprechenden Entscheide der Kompetenz und Autonomie der Landeskirchen überlassen werden. @ Die Abgrenzung zwischen inneren und äußeren Angelegenheiten der Kirchen kennt keine allgemeinen Regeln, eine Legaldefinition ist nicht zu finden. Würde sich der Kanton auch in den äußeren Angelegenheiten stärker zurückziehen, wäre die Abgrenzungsproblematik entschärft, der Staat könnte die Oberaufsicht behalten. Dasselbe gilt für die kantonale Aufsicht über die Kirchgemeinden, welche ebenfalls mehrheitlich den Landeskirchen überlassen werden könnte. @ Geistliche als Kantonsangestellte: Die historische Verpflichtung zur Besoldung von Geistlichen bringt es mit sich, dass diese Kantonsangestellte sind. Sie unterstehen somit einer doppelten Aufsicht, nämlich der kantonalen und derjenigen der jeweiligen Kirche. „Die Notwendigkeit dieser doppelten Aufsicht leuchtet dann nicht recht ein, wenn man davon ausgeht, dass heute die kantonalen Pfarrbesoldungen anders als zu Zeiten der Staatskirche nur noch auf historische Rechte und nicht mehr auf eine gewollte staatliche Einflussnahme auf die Arbeit der Pfarre-

28 29

ECOPLAN, AD!VOCATE, Verhältnis von Kirche und Staat (Anm. 23), S. 40. Vgl. ECOPLAN, AD!VOCATE, Verhältnis von Kirche und Staat (Anm. 23), S. 110 – 114.

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rinnen und Pfarrer zurückzuführen ist.“30 Das gesamte Personalwesen könnte also in die Zuständigkeit der Landeskirchen überführt werden. In all diesen Punkten sieht der Bericht Entflechtungsmöglichkeiten mit dem Effekt, dass sich der Kanton stärker auf die Rolle der Oberaufsicht zurückzieht und gleichzeitig den Landeskirchen mehr Autonomie zukommt. Der Regierungsrat des Kantons Bern hat am 18. März 2015 politische Schlussfolgerungen und Leitsätze für eine Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts veröffentlicht.31 In diesen Schlussfolgerungen lehnt der Regierungsrat eine Trennung von Kirche und Staat deutlich ab und spricht sich für „eine Weiterentwicklung des Verhältnisses von Kirche und Staat innerhalb des geltenden und immer noch zeitgemässen Verfassungsrechts“32 aus. Dabei steht eine Totalrevision des Kirchengesetzes im Sinne einer Entflechtung im Vordergrund. Im Einzelnen hat der Regierungsrat zudem die folgenden Leitlinien verabschiedet: @ Die Aufsicht über die Kirchgemeinden soll weiterhin beim Kanton liegen. Diese Beaufsichtigung sei zwar nicht zwingend, aber bewährt, gut eingespielt und durch die Landeskirchen nicht bestritten. @ Die Geistlichen sollen künftig nicht mehr durch den Kanton, sondern durch die Landeskirchen angestellt und dementsprechend die Personaladministration den Landeskirchen übertragen werden. Auch die Anstellung soll – nach gewissen Vorgaben des Kantons – durch die Landeskirchen geschehen. @ Es soll den Landeskirchen obliegen, wie die pfarramtliche Versorgung der Kirchgemeinden ausgestaltet wird. @ In finanziellen Belangen möchte der Regierungsrat auf die Ablösung der historischen Rechtstitel verzichten und die historischen Ansprüche weiterhin respektieren. Gleichzeitig soll aber durch ein neues Finanzierungssystem auch der finanzielle Spielraum des Kantons erweitert werden. Bei den Kirchensteuern juristischer Personen soll eine Zweckbindung dergestalt eingeführt werden, dass beispielsweise die Mittelverwendung in der Rechnungslegung der Kirchgemeinden transparent ausgewiesen werden muss.33 Die noch laufende politische Debatte wird schließlich über das geschilderte Vorhaben entscheiden. Soweit absehbar, wird aus rechtlicher Sicht das grundsätzliche Anerkennungssystem beibehalten und den Landeskirchen mehr Autonomie eingeräumt werden. Die so stattfindende Entflechtung von Staat und Landeskirchen be30

ECOPLAN, AD!VOCATE, Verhältnis von Kirche und Staat (Anm. 23), S. 112. Vgl. den Bericht des Regierungsrates des Kantons Bern vom 18. 03. 2015: Das Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern. Politische Schlussfolgerungen und Leitsätze für eine Weiterentwicklung. 32 Bericht des Regierungsrates (Anm. 31), S. 4. 33 Der Regierungsrat hat sich zudem zur Frage der Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften ausgesprochen, vgl. hierzu III.3. 31

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deutet eine Rücknahme der rechtlichen Einflussnahmemöglichkeit und Aufsichtstätigkeit des Kantons und gleichzeitig eine größere Verpflichtung der Landeskirchen.34 Eine Würdigung der Entflechtung in diesem Sinn vgl. in IV. 3. Einfache Anerkennung In den letzten Jahren in Lehre und Praxis oft diskutiert ist die Möglichkeit der kleinen (auch einfache, öffentliche oder kantonale) Anerkennung privatrechtlich organisierter Religionsgemeinschaften. Hintergrund dieser Diskussion ist die Frage nach dem Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften als den traditionell in vielen Kantonen öffentlich-rechtlich anerkannten (der evangelisch-reformierten Kirche, der römisch-katholischen Kirche, der christkatholischen Kirche und der jüdischen Gemeinde). Insbesondere wird die Frage für islamische Gemeinschaften diskutiert,35 im Fokus stehen aber auch kleinere christliche Gemeinschaften (etwa orthodoxe Kirchen). Wie bereits dargelegt hat diese Anerkennung zwei Aspekte. Zum einen ist der moralische Aspekt zu nennen: Es geht um die Anerkennung von Leistungen einer Religionsgemeinschaft, von denen die ganze Gesellschaft profitiert. In der Regel wird in diesem Zusammenhang auf Wolfgang Böckenförde verwiesen, wie dies Giusep Nay tut: „Diese [die positive Neutralität des Staates bzw. die ,hinkende Trennung‘ von Staat und Religion] bedeutet, dass der Staat über einen notwendigen staatsrechtlichen Ordnungsrahmen hinaus die Bedeutung der Religion auch für die staatliche Gemeinschaft anerkennt. Er befolgt damit das überzeugende Böckenförd’sche Diktum, wonach der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, nämlich von der moralischen Substanz des Einzelnen und der ethischen Prägekraft der Gesellschaft, die ihre Freiheit erst erlauben.“36 Über diese moralische Komponente hinaus kann die einfache Anerkennung auch Grundlage für Privilegien sein, die der Staat einer Religionsgemeinschaft aufgrund ihrer Bedeutung für die Gesellschaft verleiht. Nebst den unter II.1.b) genannten Bereichen ist auch an

34 Die größer werdende Verpflichtung kann sich natürlich auch im Finanzbedarf niederschlagen, wie beispielsweise die Stellungnahme der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Bern zum Bericht des Regierungsrates zum Verhältnis Kirche und Staat im Kanton Bern vom 24. 06. 2015 zeigt (online verfügbar unter: http://www.kathbern.ch/filead min/user_upload/Landeskirche/Landeskirche/Dokumente/DE_Stellungnahme_RKK_Kir che_Staat.pdf, [Stand: 09. 11. 2016]). Nur schon die Übernahme der Personaladministration bedarf eines nicht unwesentlichen Ausbaus der bisherigen Administration seitens der Landeskirche. 35 So auch der Hintergrund zur Studie von Adrian Loretan/Quirin Weber/Alexander H. E. Morawa, Freiheit und Religion. Die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften in der Schweiz (= ReligionsRecht im Dialog 17), Zürich/Berlin 2014. 36 Giusep Nay, Zum Geleit, in: Adrian Loretan/Quirin Weber/Alexander H. E. Morawa, Freiheit und Religion. Die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften in der Schweiz (= ReligionsRecht im Dialog 17), Zürich/Berlin 2014, xxxiii.

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die Einbindung in politische Prozesse wie den Einbezug in Vernehmlassungen, die Einladung an Konferenzen, an Ethikforen etc. zu denken.37 Mit Blick auf die Kantone sieht der Befund folgendermaßen aus:38 17 Kantone sehen in ihrer Gesetzgebung die Möglichkeit vor, außer den bereits anerkannten Religionsgemeinschaften andere Religionsgemeinschaften anzuerkennen. Es sind dies Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Freiburg, Glarus, Graubünden, Jura, Luzern, Neuenburg, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Solothurn, Waadt und Wallis. In den übrigen Kantonen besteht auf Verfassungsund Gesetzesstufe keine Grundlage dafür. Die Gesetzgebungen der Kantone, in denen die Möglichkeit grundsätzlich vorgesehen ist, unterscheidet sich allerdings teils erheblich. Die Verfassungen der Kantone Graubünden, Nidwalden, Obwalden, Waadt und Wallis verlangen, dass für die Anerkennung einer konkreten Religionsgemeinschaft ein eigenes Gesetz geschaffen wird. Die Kantone Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Basel-Stadt, Glarus, Jura, Luzern, Schaffhausen und Solothurn sehen die Kompetenz für die Anerkennung für das Kantonsparlament vor. Die Kantonsverfassungen von Basel-Landschaft, Bern, Luzern und Neuenburg sehen vor, dass ein Gesetz die Anerkennungsbedingungen festlegt, außer im Kanton Basel-Landschaft existiert dieses Gesetz allerdings nicht. Die Regierung des Kantons Bern hat jüngst die Ausarbeitung eines solchen Gesetzes verworfen. Wörtlich schreibt die Regierung: „Der Regierungsrat anerkennt, dass es gute Gründe für eine Öffnung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung auf weitere Religionsgemeinschaften […] und somit für die Ausarbeitung eines allgemeinen Anerkennungsgesetzes gibt. […] Andererseits nimmt der Regierungsrat zur Kenntnis, dass sich eine allfällige Öffnung im Anerkennungswesen wegen des Diskriminierungsverbots nicht auf christliche Bekenntnisse beschränken lässt. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein allgemeines Anerkennungsgesetz den politischen Prozess übersteht, würde doch mit großer Wahrscheinlichkeit eine unfruchtbare Debatte ausgelöst, welche die Bemühungen zur Integration weiterer Religionsgemeinschaften beeinträchtigen würde. […] Anstelle von Anerkennungen sind andere Massnahmen zur Förderung von Religionsgemeinschaften, die gesellschaftlich relevante Leistungen erbringen, zu prüfen.“39 An einem ähnlichen Punkt steht die Situation im Kanton Luzern. Im Jahr 2011 erteilte der Regierungsrat des Kantons Luzern auf der Basis von § 79 der Kantons37 Aus rechtlicher Sicht stellt sich allerdings die Frage, inwiefern solche Privilegien an das Instrument der einfachen Anerkennung gebunden sind. Für die Verleihung gewisser Vorrechte dürfte auch unabhängig der einfachen Anerkennung eine ausreichende Rechtsgrundlage gegeben sein, in anderen Fällen könnte sie auch in den jeweiligen gesetzlichen Regelungen (z. B. im kantonalen Gesundheitsgesetz) geschaffen werden. Zur Diskussion des Instruments der einfachen Anerkennung vgl. IV.2. 38 Vgl. die Zusammenstellung bei Kölbener, Das kantonale Anerkennungsrecht (Anm. 8), S. 291 – 298. 39 Bericht des Regierungsrates (Anm. 31), S. 17 f.

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verfassung40 dem zuständigen Departement den Auftrag zur Ausarbeitung eines Gesetzes zur Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Im Frühjahr 2014 verlangte zudem eine Motion41 die Ausarbeitung eines solchen Gesetzes „innert nützlicher Frist“. Der Regierungsrat war bereit, die Motion entgegenzunehmen und beantragte die Erheblicherklärung der Motion. Am 30. Juni 2014 lehnte allerdings der Kantonsrat die Motion mit 63 gegen 50 Stimmen ab.42 Im Zusammenhang mit der kleinen Anerkennung sticht der Kanton Basel-Stadt heraus.43 Die Anerkennung von Religionsgemeinschaften wird in der Verfassung geregelt, diese Regelungen wurden auch bereits angewandt. Die Verfassung des Kantons Basel-Stadt unterscheidet öffentlichrechtlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften (§§ 126 – 131 KV-BS) von privatrechtlich organisierten Kirchen und Religionsgemeinschaften (§§ 132 – 134 KV-BS). Öffentlichrechtlich anerkannt sind die evangelisch-reformierte Kirche, die römisch-katholische Kirche, die christkatholische Kirche und die israelitische Gemeinde. Sollten weitere Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt werden, so ist dies explizit nur auf dem Weg der Verfassungsrevision möglich (vgl. § 126 Abs. 32 KV-BS). Die weiteren Verfassungsbestimmungen regeln die Selbständigkeit der öffentlichrechtlich anerkannten Gemeinschaften, die Zugehörigkeit, die untergeordneten Körperschaften und Anstalten sowie Fragen der Rechtspflege. Weiteres wird durch das Kirchengesetz44 geregelt. Gemäß § 133 der Verfassung des Kantons Basel-Stadt können privatrechtlich organisierte Religionsgemeinschaften vom Kanton unter den folgenden vier Voraussetzungen anerkannt werden: Die Religionsgemeinschaft muss eine gesellschaftliche Bedeutung haben, den Religionsfrieden und die Rechtsordnung respektieren, über eine transparente Finanzverwaltung verfügen und den jederzeitigen Austritt zulassen. Ein Rechtsanspruch auf Anerkennung besteht nicht. Das Verfahren für die Anerkennung sieht einen Beschluss des Großen Rats vor, welcher nicht dem Referendum unterliegt. Umgekehrt kann die Anerkennung aberkannt werden, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht mehr gegeben sind oder wenn die mit der Anerkennung verbundenen Auflagen nicht mehr erfüllt werden. Die mit der Aner40 § 79 KV-LU: „1 Die römisch-katholische, die evangelisch-reformierte und die christkatholische Landeskirche sind anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts. 2 Der Kantonsrat kann weitere Religionsgemeinschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkennen. Das Gesetz regelt die Voraussetzungen und das Verfahren.“ 41 Motion Rebsamen Heidi, über die Ausarbeitung eines Gesetzes über die Anerkennung von Religionsgemeinschaften, eröffnet am 01. 04. 2014, online verfügbar unter: http://www.lu. ch/downloads/lu/kr/vorstoesse/2011 - 2015/M_509.pdf (Stand: 09. 11. 2017). 42 Vgl. das Protokoll des Kantonsrates vom 30. 06. 2014, S. 1250 – 1259. 43 Vgl. besonders Christoph Winzeler, Die neuere Anerkennungspraxis im Religionsverfassungsrecht des Kantons Basel-Stadt, in: Pahud de Mortanges (Hrsg.), Staatliche Anerkennung (Anm. 7), S. 25 – 37. 44 Gesetz betreffend die Staatsoberaufsicht über die öffentlich-rechtlichen Kirchen und die Israelitische Gemeinde sowie über die Verwendung von Staats- und Gemeindemitteln zu Kirchenzwecken vom 08. 11. 1973 (SG 190.100).

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kennung verliehenen Rechte und die damit verbundenen Pflichten werden im Anerkennungsbeschluss festgelegt. Mittlerweile haben vier Religionsgemeinschaften im Kanton Basel-Stadt ein Gesuch um Anerkennung eingereicht, in allen Fällen ist die notwendige absolute Mehrheit des Großen Rates zustandegekommen: Die Christengemeinschaft45, die neuapostolische Kirche Basel46, die Kulturvereinigung der Aleviten und Bektaschi Basel47 sowie das Alevitische Kulturzentrum Regio Basel48. Im Zusammenhang mit diesen Anerkennungen sind folgende Punkte erwähnenswert: @ Es ist auffallend, dass alle vier Religionsgemeinschaften ausdrücklich auf mögliche mit der Anerkennung zu vergebende besonderen Rechte verzichtet haben und sich so auf den moralischen und symbolischen Gehalt der Anerkennung beschränken. @ Die Großratsbeschlüsse enthalten demzufolge nebst dem Anerkennungsbeschluss als solchem einzig damit verbundene Auflagen. Im Fall der Christengemeinschaft handelt es sich um die Auflage, „eine personelle Trennung der Mitglieder des Wirtschaftsrates und des Stiftungsrates vorzunehmen“49. Die neuapostolische Kirche und die alevitischen Gemeinschaften werden verpflichtet, „dem Finanzdepartement unaufgefordert bis Ende Juni den Jahresbericht und die Jahresrechnung des Vorjahres sowie allfällige Statutenänderungen zur Kenntnis zukommen zu lassen“50. Ins Auge sticht eine zweite Auflage für die neuapostolische Kirche. Diese wird nämlich verpflichtet, am Runden Tisch der Religionen beider Basel mitzuwirken.51 Diese Verpflichtung erscheint im Hinblick auf die Gleichbehandlung und auf die Religionsfreiheit zumindest problematisch.52 @ Im Falle der neuapostolischen Kirche brauchte es für die Anerkennung zwei Anläufe, wobei die Mehrheit beim zweiten Anlauf genau dem geforderten Quorum 45

Bericht des Regierungsrats Nr. 09.2156.01 vom 23. 06. 2010. Bericht des Regierungsrats Nr. 10.5219.02 vom 22. 12. 2010 bzw. Nr. 10.5219.03 vom 23. 11. 2011. 47 Bericht des Regierungsrats Nr. 10.5393.02 bzw. 10.5395.02 vom 15. 08. 2012. 48 Vgl. Bericht des Regierungsrats Nr. 10.5393.02 bzw. 10.5395.02 vom 15. 08. 2012. 49 Protokoll der Sitzung des Großen Rates vom 08. 09. 2010. 50 Protokoll der Sitzung des Großen Rats vom 17. 10. 2012 (alevitische Gemeinschaften) bzw. Protokoll der Sitzung des Großen Rats vom 11. 01. 2012 (Neuapostolische Kirche). 51 Vgl. Protokoll der Sitzung des Großen Rats vom 17. 10. 2012 (alevitische Gemeinschaften) bzw. Protokoll der Sitzung des Großen Rats vom 11. 01. 2012 (Neuapostolische Kirche). 52 Vgl. Winzeler, Anerkennungspraxis (Anm. 43), S. 34. Die zuständige Regierungsrätin stellte während der Parlamentsdebatte in Aussicht, dass diese Auflage künftig allen anzuerkennenden Religionsgemeinschaften gemacht werde, was bei den alevitischen Gemeinschaften allerdings nicht der Fall war; vgl. das Vollprotokoll der Sitzung des Großen Rats vom 11. 01. 2012, S. 1175. Hinsichtlich Verletzung der Religionsfreiheit kann allerdings ein Bezug zur Respektierung des Religionsfriedens hergestellt werden, was einer der in § 133 KV-BS genannten Bestimmungen entspricht. 46

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von 51 Stimmen entsprach. Ein Teil der Parlamentarier, insbesondere der Sprecher der SP-Fraktion, äußerte sich unzufrieden darüber, dass nicht über die Glaubensinhalte der anzuerkennenden Gemeinschaft gesprochen werden könne.53 Es ist Winzeler zuzustimmen, dass eine solche Diskussion mit der Religionsfreiheit nicht vereinbar wäre. Die Beurteilung des Gesuchs ist anhand der in der Kantonsverfassung formulierten Voraussetzungen vorzunehmen, wobei insbesondere durch das Nichtbestehen eines Rechtsanspruchs auf Anerkennung und die erforderliche Zustimmung im Großen Rat der Anerkennungsentscheid letztlich immer ein politischer Entscheid bleiben wird.

4. Kanton Genf Auf eine ausführliche Diskussion der Situation im Kanton Genf muss an dieser Stelle verzichtet werden. Hinzuweisen ist auf den laufenden Gesetzgebungsprozess bzw. auf das „Projet de loi sur la laïcité de l’Etat“. Der Gesetzesentwurf sieht die Möglichkeit vor, die Laizität des Staates stärker im positiven, fördernden Sinn auszugestalten, was eine Abkehr von der traditionell negativ-abgrenzend verstandenen Laizität darstellen würde.54

IV. Diskussion Dreh- und Angelpunkt der rechtlichen Diskussion um ein zeitgemäßes und angemessenes Verhältnis von Staat zu Religionsgemeinschaften ist die Religionsfreiheit, insbesondere in ihrer korporativen Dimension. Es ist Aufgabe des Staates, für die Religionsgemeinschaften als nach eigenen Regeln organisierte Glaubensgemeinschaften die Freiheit zu gewährleisten. Gleichzeitig muss er auch den religiösen Frieden sichern. Die nachfolgenden Überlegungen zielen dabei auf die Struktur der Religionsgemeinschaften auf dem Hintergrund des Schweizerischen Religionsverfassungsrechts. Welche strukturellen Vorgaben und Erfordernisse seitens des Staates sind unter welchen Bedingungen legitim? Wie kann die korporative Religionsfreiheit am besten gewährleistet werden? Dabei wird gestuft vorgegangen: Zuerst wird um das grundsätzliche Erfordernis der rechtlichen Existenz für Religionsgemeinschaften nach zivilem Recht und den Folgen daraus gefragt (IV.1.). Enger wird das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaft im Fall einer einfachen Anerkennung (IV.2.) bzw. der öffentlich-rechtlichen Anerkennung (IV.3.), so dass sich die Frage der korporativen Religionsgemeinschaft jeweils etwas anders stellt.

53

Vgl. Vollprotokoll der Sitzung des Großen Rats vom 11. 01. 2012, S. 1176 f. Vgl. das Projet de loi sur la laïcité de l’Etat (online verfügbar unter: https://www.ge.ch/ conseil_etat/2013 - 2018/ppresse/doc/20151104-annexe1.pdf [Stand : 02. 12. 2016]). 54

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1. Religionsfreiheit und rechtliche Existenz Grundsätzlich ist die Religionsfreiheit in jeder Dimension unabhängig vom Strukturierungs- oder Organisationsgrad einer Religionsgemeinschaft gewährleistet. (Mitglieder von) Religionsgemeinschaften mit wenig ausgeprägter innerer Struktur oder ohne interne religiöse Regeln sind aus der Sicht der Religionsfreiheit grundsätzlich gleich zu behandeln wie intern stark strukturierte Religionsgemeinschaften mit einem ausgeprägten internen religiösen Recht. Ebenso ist die Religionsfreiheit zu gewährleisten, wenn die Religionsgemeinschaft selber oder Gruppen von Mitgliedern der Religionsgemeinschaft keine zivilrechtlich anerkannte Rechtspersönlichkeit besitzen. Aus staatlicher Sicht kann sich die Frage stellen, in welchen Fällen von einer Religionsgemeinschaft gesprochen werden kann, bzw. in welchen Fällen die Religionsfreiheit greift. Diese und viele weitere praktische Fragen werden vereinfacht, indem sich die Religionsgemeinschaft zumindest auf Ansprechpartner für den Staat einigt, stärker noch indem sie sich eine klare und definierte innere Struktur gibt. Möchte die Religionsgemeinschaft selber bzw. Gruppen von Mitgliedern einer bestimmten Religionsgemeinschaft am Rechtsverkehr teilnehmen, so ist es zudem unerlässlich, sich eine vom zivilen Recht anerkannte Rechtspersönlichkeit zuzulegen. Nach Schweizerischem Recht besitzt jede natürliche Person die Rechtsfähigkeit (Art. 11 ZGB). Für juristische Personen bestimmt Art. 52 Abs. 1 ZGB: „Die körperschaftlich organisierten Personenverbindungen und die einem besonderen Zwecke gewidmeten und selbständigen Anstalten erlangen das Recht der Persönlichkeit durch die Eintragung in das Handelsregister.“ Keiner solchen Eintragung bedürfen die öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten und Vereine, die keine wirtschaftlichen Zwecke erfüllen.55 Das Schweizerische zivile Recht kennt einen numerus clausus für mögliche Rechtsformen, die juristische Personen annehmen können.56 Religionsgemeinschaften oder Teile davon können also Rechtspersönlichkeit entweder im öffentlichen Recht erlangen oder in einer der im Privatrecht vorgesehenen Rechtsformen. Sofern im internen religiösen Recht einer Religionsgemeinschaft Rechtspersonen vorgesehen sind – wie etwa im römisch-katholischen Bereich im Fall der Diözesen – so besitzen diese nach Schweizerischem zivilem Recht nicht ohne weiteres die Rechtspersönlichkeit. Sie erlangen sie nur, indem sie ein im Privatrecht vorgesehenes Rechtskleid wählen oder wenn sie durch einen staatlichen Akt im öffentlichen Recht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet werden.57 In vielen Fällen wird allerdings das 55 Vgl. Art. 52 Abs. 2 ZGB. Bis zum 31. 12. 2015 waren von der Pflicht zur Eintragung in das Handelsregister auch kirchliche Stiftungen befreit. 56 Vgl. Philippe Gardaz, La personnalité juridique des diocèses catholiques romains de Suisse, in: SJKR 16 (2011), S. 31 – 48, hier S. 33, mit den dortigen Literaturhinweisen. 57 Hingewiesen sei besonders auf Art. 59 Abs. 1 ZGB und den dort festgelegten Vorbehalt für das öffentliche Recht, insbesondere für kirchliche Körperschaften und Anstalten: „Für die öffentlich-rechtlichen und kirchlichen Körperschaften und Anstalten bleibt das öffentliche Recht des Bundes und der Kantone vorbehalten.“ Einen Sonderfall stellen Rechtspersonen dar,

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weltliche Rechtskleid nicht vollständig das innere religiöse Recht abbilden. So gibt es im Schweizerischen Privatrecht keine Rechtsform, die vollständig kompatibel wäre beispielsweise mit dem Eigenrecht einer Ordensgemeinschaft. Daraus ergibt sich ein Dualismus: Die nach religiösem Recht vorgesehene Struktur steht neben der nach weltlichem Recht anerkannten juristischen Person, wobei letztere allein am Rechtsverkehr teilnehmen kann. Im vermögensrechtlichen Bereich führt dies zur folgenden Situation, veranschaulicht am Beispiel eines Klosters: Das nach kirchlichem Recht strukturierte Kloster ist im eigentlichen Sinn Eigentümer der Güter, ist aber im weltlichen Recht nicht handlungsfähig. Eigentümer nach zivilem Recht ist die zivile Rechtsform (oft ein privatrechtlicher Verein oder eine Stiftung), welche gegenüber dem kirchenrechtlichen Kloster in ein Treuhandverhältnis tritt. Der Verein/ die Stiftung handelt im Auftrag, im Sinn und Geist des religiösen Eigentümers und respektiert sein Eigenrecht, beispielsweise wenn bestimmte Rechtshandlungen Entscheide des Konventkapitels vorsehen o. ä. Die Notwendigkeit der Aneignung eines Rechtskleides, welches mit dem eigenen Selbstverständnis nicht übereinstimmt, kann als Eingriff in die korporative Religionsfreiheit angesehen werden. Dieser ist allerdings generell als verhältnismäßig anzusehen.58 Zudem ist es für die Religionsgemeinschaft bzw. die religiöse Gruppe selber vorteilhaft, in einem dem Staat vertrauten Rechtskleid handeln zu können. Wo allerdings eine Religionsgemeinschaft ein ausgefaltetes und verlässliches internes religiöses Recht kennt, kann der Staat die im religiösen Recht vorgesehenen Größen in seinem öffentlichen Recht anerkennen.59 Der entsprechende Eingriff in die Religionsfreiheit ist dann kleiner. Dies ist beispielsweise bei einigen kontemplativen Frauenklöstern im Kanton St. Gallen der Fall: Ihnen kommt der Status einer öffentlich-rechtlichen Korporation zu.60 Das Gesetz regelt aber keinerlei innere Verfasstheit, sondern die innere Funktionsweise entspricht dem kirchlichen Recht. Auch hier steht zwar die öffentlich-rechtliche Korporation in einem Dualismus zum kanonischrechtlich verfassten Kloster, es handeln aber in beiden Größen dieselben Personen nach denselben Regeln.

welche bei der Einführung des ZGB im Jahr 1912 bereits existierten, aber in keiner Rechtsform innerhalb des numerus clausus konstituiert sind. Namentlich im kirchlichen Bereich sind solche Verhältnisse anzutreffen, so beispielsweise bei den Frauenklöstern im Kanton Appenzell Innerrhoden. Ihnen kommt die Rechtspersönlichkeit von alters her aufgrund ihrer kanonisch-rechtlichen Verfasstheit zu, sie nehmen als kanonisch-rechtliche Größen am zivilen Rechtsverkehr teil. 58 Vgl. Art. 36 BV. 59 Für den Fall, dass mit der Anerkennung staatliche Privilegien verbunden sind wie etwa im Fall der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, vgl. IV.3. 60 Vgl. Art. 42 der Verfassung des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen vom 18. 09. 1979 (sGS 173.5).

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2. Einfache Anerkennung Im Fall der einfachen Anerkennung einer Religionsgemeinschaft verändert sich die Frage nach der rechtlichen Existenz und den damit verbundenen Folgen nur dahingehend, dass die Verfasstheit der Religionsgemeinschaft in einer privatrechtlichen Rechtsform wohl immer Anerkennungsvoraussetzung sein wird. Mit der Anerkennung können Rechte und Pflichten verbunden sein, welche entweder im Gesetz oder im Anerkennungsakt festgelegt sind. Im Beispiel des Kantons Basel-Stadt wurden mit der Anerkennung den Religionsgemeinschaften keine speziellen Rechte eingeräumt, es blieb bei der symbolischen Wirkung der Anerkennung selber. Die mit der Anerkennung verbundenen, im Gesetz genannten Pflichten der Respektierung des Religionsfriedens und der Rechtsordnung stellen keine Probleme dar, dies wird auch von jeder nicht anerkannten Religionsgemeinschaft zu Recht erwartet. Die Forderung der Ermöglichung des jederzeitigen Austritts ergibt sich aus der negativen individuellen Religionsfreiheit und ist ebenfalls nicht auf anerkannte Religionsgemeinschaften beschränkt. Bleibt einzig die transparente Finanzverwaltung als zusätzliche Verpflichtung. Angesichts der Tatsache, dass eine Religionsgemeinschaft die Anerkennung aktiv und selber anstreben muss und sie ihr nicht gleichsam aufgezwungen wird, ist diese Verpflichtung sicher als gerechtfertigt anzusehen. Das Beispiel der Anerkennung der Neuapostolischen Kirche im Kanton BaselStadt, wo im Anerkennungsbeschluss die Verpflichtung auferlegt wurde, am Runden Tisch der Religionen beider Basel mitzuwirken, deutet auf eine gewisse Problematik hin: Durch den hoheitlichen Anerkennungsakt durch den Staat, der zwar auf der Anwendung einer gesetzlichen Grundlage fußt, letztlich aber die Folge eines politischen Prozesses ist, können aus der Sicht der Religionsfreiheit problematische Verpflichtungen mit der Anerkennung verbunden werden. Um diesem Problem zu begegnen, sollte im gesetzlich festgelegten Anerkennungsverfahren gewährleistet sein, dass der antragstellenden Religionsgemeinschaft alle Folgen der Anerkennung bekannt sind. In einem Verfahren, wie es der Kanton Basel-Stadt kennt, könnte der Religionsgemeinschaft zum Beispiel das Recht eingeräumt werden, nach dem Anerkennungsbeschluss durch den Großen Rat die Anerkennung anzunehmen oder abzulehnen. Zudem wäre ebenfalls gesetzlich vorzusehen, dass eine Religionsgemeinschaft die Anerkennung selber wieder ablegen kann. Diese Möglichkeit ist im Beispiel des Kantons Basel-Stadt nicht gegeben, es ist nur eine Aberkennung durch den Großen Rat vorgesehen, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht mehr gegeben sind bzw. wenn die Auflagen durch die Religionsgemeinschaft nicht mehr erfüllt werden. Es liegt in der Natur der Verhältnisbestimmung von Staat und Religionsgemeinschaft durch staatliche Anerkennung, dass es sich bei der Anerkennung um einen vom Staat gesetzten Akt handelt. Die eben genannte mögliche Schwäche, dass im zugrunde liegenden politischen Prozess selber oder im Resultat desselben schwer oder nicht mit der Religionsfreiheit kompatible Elemente als Anerkennungsfolgen festgelegt werden, ist dem Anerkennungsregime bis zu einem gewissen Grad imma-

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nent. Begegnet werden kann dieser Problematik einerseits mit geeigneten gesetzlichen Grundlagen. Alle mit der Anerkennung einhergehenden Rechte und Pflichten sollten für die Religionsgemeinschaft bekannt sein. Der Fokus des Staates sollte dabei auf der Ermöglichung des Lebens der anzuerkennenden Religionsgemeinschaft liegen im Sinne einer positiven Ausgestaltung der Religionsfreiheit. Um zudem mögliche, wenn auch ungewollte, Eingriffe in die Religionsfreiheit zu vermeiden, ist es opportun, dass sich der staatlich gesetzte Akt auf die grundsätzliche Anerkennung und die wesentlichsten Rechte und Pflichten beschränkt und Weitergehendes dann ergänzt wird mit vertraglichen Regelungen zwischen dem Staat und der Religionsgemeinschaft. 3. Öffentlich-rechtliche Anerkennung Verleiht der Staat einer Religionsgemeinschaft durch die öffentlich-rechtliche Anerkennung hoheitliche Rechte, so verbindet er dies mit weitergehenden Auflagen. Gefordert werden eine demokratische und gewaltenteilige Struktur sowie, im Fall der Ausübung des Steuerprivilegs, die Anwendung demokratischer und öffentlicher Finanzführung. Anerkannt werden also öffentlich-rechtliche Körperschaften, welche mehr oder weniger die im inneren religiösen Recht vorgesehene Struktur und Funktionsweise abbildet. Das Ergebnis entspricht dem in IV.1 genannten Faktum einer dualen Struktur dort, wo Abweichungen zwischen diesen beiden Strukturen bestehen. In finanziellen Belangen gibt es allerdings im Vergleich zum o. g. Beispiel des Klosters, das sich als Verein konstituiert, große Unterschiede. Wenn öffentlich-rechtlichen Körperschaften das Recht verliehen wird, Steuern zu erheben, so sind die entsprechenden finanziellen Mittel Eigentum der öffentlich-rechtlichen Körperschaft selber, sie stellen kein Eigentum der (unter Umständen nach zivilem Recht nicht rechtsfähigen) nach religiösem Recht strukturierten Größen dar.61 Im Rahmen der Zwecksetzung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft werden die Gelder dann für die Aufgaben der Religionsgemeinschaft eingesetzt. Wo über die Anerkennung eine duale Struktur entsteht, bestehen drei Konstellationen von Verhältnissen: @ das Verhältnis zwischen dem Staat und der staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Körperschaft; @ das Verhältnis zwischen der öffentlich-rechtlichen Körperschaft und den nach religiösem Recht strukturierten Grössen; @ das Verhältnis zwischen dem Staat und den nach religiösem Recht strukturierten Größen. 61

Darin liegt auch der Grund, dass die Kirchensteuern kein Kirchengut nach katholischem Kirchenrecht darstellen; vgl. Claudius Luterbacher-Maineri, Libertas ecclesiae et libertas episcopi. Kirchenfinanzierung in der Deutschschweiz aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Ludger Müller/Wilhelm Rees (Hrsg.), Geist – Kirche – Recht. FS Gerosa (65) (= KST 62), Berlin 2014, S. 365 – 384.

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An dieser Stelle soll lediglich die erste Verhältniskonstellation weiter diskutiert werden.62 a) Entflechtung Aus historischen Gründen können die Verflechtungen zwischen dem Staat und den öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften recht groß sein, wie das Beispiel des Kantons Bern zeigt. Bei den Körperschaften handelt es sich um Spezialkörperschaften der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft, über welche die Religionsgemeinschaft am Rechtsverkehr teilnimmt und welche die Förderung der Aufgaben und Zwecke der Religionsgemeinschaft zum Ziel haben. Diese enge Verbindung zur Religionsgemeinschaft – wenn nicht die öffentlich-rechtliche Körperschaft sogar das Rechtskleid der Religionsgemeinschaft selber darstellt – legt es nahe, dass sich aus Gründen korporativer Religionsfreiheit die staatlichen Regulierungen für die Körperschaften auf das Notwendige beschränken sollen. Unhinterfragt bleiben die grundsätzlichen o. g. Anforderungen, die mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung und der Möglichkeit zur Steuererhebung verbunden sind. Darüber hinaus sollen die Körperschaften eine möglichst weitgehende Autonomie besitzen, wobei dem Staat eine Oberaufsicht über die Körperschaften zukommen soll.63 Die eigenen Angelegenheiten sollen die Körperschaften selber regeln können, ihre Aufgabe ist es auch, die Abstimmung ihrer Regeln mit ihrer Religionsgemeinschaft vorzunehmen.64 In diesem Sinn ist eine Entflechtung auf rechtlicher Ebene zwischen dem Staat und den öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu begrüßen. b) Öffentlich-rechtliche Körperschaften als rechtssetzende Instanzen Die staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Körperschaften werden zu Recht in der Literatur als Bindeglied oder als Zwischeninstanz zwischen der Religionsgemeinschaft und dem Staat dargestellt.65 Ausgestattet mit staatlichen Instrumenten in 62 Die zweite Verhältniskonstellation wurde besonders im katholischen Bereich in den letzten Jahren intensiv diskutiert, vgl. pars pro toto: Libero Gerosa (Hrsg.), Staatskirchenrechtliche Körperschaften im Dienst an der Sendung der Katholischen Kirche in der Schweiz (= KB 16), Berlin/Münster/Wien 2014. 63 Vgl. hierzu etwa das Rechtsgutachten von Giusep Nay betreffend das Verhältnis Appenzell Innerrhodens zum Bistum St. Gallen vom 02. 02. 2012. 64 Ganz in diesem Sinn unterscheidet beispielsweise die Verfassung des katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen (sGS 173.5) konfessionelle Angelegenheiten, welche in der Kompetenz des Konfessionsteils liegen, von kirchlichen Angelegenheiten, welche den kirchlichen Behörden obliegen. 65 Bernhard Ehrenzeller beispielsweise schreibt, die öffentlich-rechtlichen Körperschaften befänden sich „in einer Art rechtlichem Schwebezustand zwischen Nicht-Staat und NichtKirche“ (Bernhard Ehrenzeller, Zukunftsperspektive: Trennung von Kirche und Staat oder neue Kooperationsformen?, in: Libero Gerosa/Ludger Müller [Hrsg.], Katholische Kirche und Staat in der Schweiz [= KB 14], Zürich/Berlin 2010, S. 187 – 199, hier S. 194).

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der Rechtsetzung, der Rechtsausführung (und grundsätzlich auch der Rechtsprechung) bilden sie eine für den Staat verlässliche Brücke zur entsprechenden Religionsgemeinschaft. Wo in Angelegenheiten sowohl der Staat als auch die entsprechende Religionsgemeinschaft betroffen sind, bieten sich daher die Körperschaften als Regelungssubjekte geradezu an. Zu denken ist beispielsweise an den Bereich sakraler Kultur, wo es um rechtliche Regelungen im Bereich des Schutzes, der Pflege, der Verwendung, der Veräußerung etc. geht. Im Allgemeinen wird Kultur als eine Staatsaufgabe betrachtet. Im Bereich sakraler Kultur sind allerdings die Religionsgemeinschaften, konkret in der Schweiz besonders die evangelisch-reformierte und die katholische Kirche, unmittelbar betroffen, nicht selten wird hierin auch die Frage der Religionsfreiheit tangiert. Die öffentlich-rechtlichen Körperschaften haben auf der einen Seite die Möglichkeit, verbindliche und durchsetzbare Regelungen für diesen Bereich zu schaffen, andererseits können sie in den Regelungen auf die Eigenheiten und Anforderungen der Kirche Rücksicht nehmen, etwa indem Zustimmungen kirchlicher Behörden für gewisse Vorgänge vorgesehen werden.66 Beim Fehlen solcher körperschaftlicher Regelungen kann subsidiär die Geltung der kantonalen Regeln vorgesehen werden. Die Möglichkeiten religionsverfassungsrechtlicher Entwicklung seitens des Staates und seitens der öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften sind hier, wie sich die Situation heute präsentiert, noch lange nicht erschöpft. c) Verträge Nebst den staatlich festgelegten, entflechteten Normierungen seitens des Staates, die sich auf das Grundsätzliche beschränken sollen, und den in der Autonomie der öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften gesetzten Regeln bietet sich als drittes Instrument ergänzend der Abschluss von Verträgen zwischen dem Staat und den öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften an. Einzelne Bereiche können vertraglich im Detail geregelt werden, wobei die oben angetönte Problematik einseitiger Normierung durch den Staat weitgehend entfällt. Die öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaft wird einen Vertrag nur dann unterzeichnen, wenn allfällige Eingriffe in 66 Erkannt hat dies der Kanton St. Gallen, wie der Bericht zum Entwurf des neu zu schaffenden kantonalen Kulturerbegesetzes zeigt: „In Bezug auf Kulturgut im Eigentum der als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannten Religionsgemeinschaften ist zu berücksichtigen, dass die Kantonsverfassung diesen eine qualifizierte Autonomie einräumt (vgl. Art. 110 Abs. 1 KV). Die Religionsgemeinschaften sollen ihre Angelegenheiten deshalb möglichst selbständig regeln können. Entsprechend ist der sinnvolle Regelungsort für Kulturgüter bzw. Kulturerbe im Eigentum beispielsweise des Katholischen Konfessionsteils bzw. seiner Kirchgemeinden ein von den zuständigen Organen zu erlassendes Dekret. Die selbständige Regelung seitens des Katholischen Konfessionsteils gibt die Möglichkeit, Eigenheiten, die sich aus der kirchlichen Dimension der Kulturgüter ergeben, passgenau zu erfassen. Zudem ist es durch eine eigene Regelung möglich, im Einvernehmen mit dem Bischof die staatsrechtliche Brücke zu den kirchlichen Institutionen rechtsverbindlich und dauerhaft zu schlagen.“ (Bericht und Entwurf des Departements des Innern vom 10. 05. 2016 zum Kulturerbegesetz, RRB 2016/328, Beilage 2, S. 22).

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die Religionsfreiheit für die Religionsgemeinschaft annehmbar sind. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sind zudem alle Fakten bekannt. Dies liegt auch im Interesse des Staates, der sich bei einem gegenseitig unterzeichneten Vertrag der Kooperationsbereitschaft und der aktiven Mitwirkung der Körperschaft versichern kann.67

V. Fazit Das Schweizerische Religionsverfassungsrecht ist geprägt von der kantonalen Zuständigkeit und den großen kantonalen Unterschieden. Gleichzeitig reagieren verschiedene Kantone auf die demographische Entwicklung im Bereich Religionszugehörigkeit der letzten Jahre, was zu Veränderungen und Weiterentwicklungen des historisch gewachsenen Verhältnisses zwischen den Kantonen und den Religionsgemeinschaften führt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass die Anerkennung als Form der Verhältnisbestimmung grundsätzlich weitergeführt wird. Indem in einigen Kantonen die Möglichkeit zur einfachen Anerkennung diskutiert, normiert und vereinzelt bereits angewandt wird, erfährt die Form der Anerkennung sogar noch eine weitere und stärkere Ausprägung. Wo eine öffentlich-rechtliche Anerkennung der katholischen, der evangelisch-reformierten, der christkatholischen Kirche bzw. der Jüdischen Gemeinde existiert, scheint diese im Grundsatz in den aktuellen Entwicklungen unhinterfragt. Zu beobachten ist eine Entflechtung zwischen dem Staat und den öffentlichrechtlich anerkannten Körperschaften. In der hier vorgeschlagenen Diskussion und Bewertung der Entwicklungen ist und bleibt die Anerkennung ein bewährtes Mittel des Schweizerischen Religionsverfassungsrechts. In der Frage der weltlich wirksamen rechtlichen Existenz von Religionsgemeinschaften bzw. Teilen davon wäre es wünschenswert, wenn die Möglichkeit stärker genutzt würde, entsprechenden nach innerem religiösen Recht strukturierten Größen im öffentlichen Recht die Rechtspersönlichkeit zu verleihen, ohne damit weitergehende Rechte oder Verpflichtungen vorzusehen. Dies unter der Voraussetzung, dass die entsprechenden Größen ein genügend ausgeprägtes und verlässliches eigenes Recht kennen. Angesichts der religiösen Pluralisierung ist die Einführung und Anwendung der einfachen Anerkennung privatrechtlich organisierter Religionsgemeinschaften sinnvoll, wenn auch nicht die einzige Möglichkeit. Im Vordergrund soll die Ermöglichung des religiösen Lebens der entsprechenden Religionsgemeinschaft im Sinne 67 Ein Beispiel für einen solchen Vertrag findet sich in St. Gallen: vgl. die Vereinbarung über den Schutz und die Pflege des Weltkulturerbes Stiftsbezirk St.Gallen, abgeschlossen zwischen der Regierung des Kantons St. Gallen, dem Administrationsrat des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen und dem Stadtrat der Stadt St. Gallen am 15. 01. 2015 (online verfügbar unter: http://stiftsbezirk-sg.ch/wordpress/wp-content/uploads/2014/ 03/Vereinbarung_Schutz_und_Pflege_Weltkulturerbe_Stiftsbezirk_SG_vom_15_01_2015. pdf [Stand: 09. 11. 2016]).

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der Gewährleistung der positiven Religionsfreiheit stehen. Angesichts der Problematik, dass im Zuge des einseitigen staatlichen Anerkennungsakts Bedingungen formuliert werden können, die in Konflikt mit der Religionsfreiheit stehen, sollte sich die staatliche Normierung auf den Grundsatz der Anerkennung und auf die nötigsten damit verknüpften und bekannten Bedingungen beschränken. Übrige Elemente sollten eher auf dem Vereinbarungsweg mit der anzuerkennenden oder anerkannten Religionsgemeinschaft geregelt werden. Im Fall der öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften ist eine Entflechtung zwischen dem Staat und den öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften zu begrüßen. Die öffentlich-rechtlich anerkannten Körperschaften sollen möglichst weitgehend autonom ihre eigenen Angelegenheiten regeln. Zudem sollten sie stärker noch als rechtssetzende Instanzen nicht nur für die eigenen Bereiche, sondern auch für Belange, die sowohl den Staat als auch die Religionsgemeinschaft betreffen, eingesetzt werden. Wo nötig, wären hierzu von Seiten des Staates die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Als Ergänzung zu den durch den Staat allein gesetzten religionsverfassungsrechtlichen Normierungen, die sich wie im Fall der einfachen Anerkennung auf Grundsätzliches beschränken sollten, und den Regelungen, die allein durch die Körperschaften gesetzt werden, kann das Mittel von Verträgen eingesetzt werden. Das Religionsverfassungsrecht in der Schweiz ist in Bewegung, was angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen folgerichtig ist. Es ist eine Bewegung, die auf Weiterentwicklung statt auf Revolution setzt, ein wohl nicht ganz unschweizerisches Denken und Handeln.

„Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts“ Die Konfessionalität des Religionsunterrichts aus der Sicht des Kirchenrechts und des Religionsrechts Von Thomas Meckel Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat am 22. November 2016 das Dokument „Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht“1 veröffentlicht. Das Dokument möchte nicht ein Modell konfessioneller Kooperation als präferiertes Modell vorstellen, sondern angesichts der immer geringer werdenden Zahl getaufter Schüler Empfehlungen vorlegen, insbesondere wenn aufgrund der geringen Schülerzahl in manchen Regionen keine parallelen katholischen und evangelischen Lerngruppen eingerichtet werden können.2 Die Frage der Konfessionalität des schulischen Religionsunterrichts ist eine Materie, die die Perspektive des Religionsrechts und des katholischen Kirchenrechts erfordert. Sie ist damit auch eine Frage, die den Forschungsperspektiven des zu ehrenden Kollegen Ludger Müller entspricht.3 Der Beitrag widmet sich zunächst den religionsrechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland, da das neue Dokument für den Bereich der DBK spricht,4 und geht sodann auf die einschlägigen 1 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 103), Bonn 2016. 2 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 5 – 9. 3 Vgl. insbesondere zum Religionsunterricht Ludger Müller/Stephan Leimgruber, Religionsunterricht zwischen Norm und Wirklichkeit (= Kirchenrecht im Dialog 2), Paderborn 2000 sowie Ludger Müller, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im säkularen Staat. Das Beispiel Österreich, in: Libero Gerosa/ders. (Hrsg.), Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, Paderborn 2014, S. 133 – 141. 4 Vgl. zur österreichischen Rechtslage Wilhelm Rees, Religionsunterricht in österreichischen Schulen. Rechtliche Grundlagen und aktuelle Anfragen, in: Heinrich De Wall/Michael Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. FS Link (70), Tübingen 2003, S. 387 – 407; ders., Neuere Fragen um Schule und Religionsunterricht in Österreich, in: ders./ María Roca/Balázs Schanda (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europäischer Staaten (= KST 61), Berlin 2013, S. 499 – 534; Herbert Kalb, Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Verankerung des Religionsunterrichts, in: Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts (= Wissenschaft und Religion. Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg 8), Frankfurt 2004, S. 209 – 239; Brigitte Schinkele, Religions- und Ethikunterricht in der pluralistischen Gesellschaft. Überlegungen aus religionsrechtlicher Sicht, in: ÖARR 58 (2011),

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kirchlichen Dokumente zur Konfessionalität des schulischen Religionsunterrichts ein, auf denen die aktuelle Erklärung der DBK zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts von 2016 aufbaut und „damit die vorhandenen Erklärungen der deutschen Bischöfe zum Religionsunterricht“ ergänzt.5

I. Der religionsrechtliche Rahmen des schulischen Religionsunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland Im Blick auf das Land Brandenburg, das nach der Wende keinen Religionsunterricht gemäß Art. 7, 3 GG eingeführt hat, sondern das religionskundliche Fach LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde), stellt sich nicht nur die Frage nach der Konfessionalität des Religionsunterrichts, sondern die Frage, ob der Religionsunterricht durch eine staatliche Religionskunde für alle ersetzt werden könnte. Es sprechen Gründe dafür, die Rechtslage in Brandenburg nach wie vor für verfassungswidrig zu halten, da sich Brandenburg nicht auf die sog. Bremer Klausel Art. 141 GG berufen kann.6 Der Staat selbst hat zudem aufgrund seiner Neutralität kein primäres Interesse an einer deskriptiven Religionskunde. Vor diesem Hintergrund stellt sich grundsätzlich die Frage der Konfessionalität des Religionsunterrichts, bevor der Blick auf kirchliche Dokumente gerichtet wird. Der Begriff des Religionsunterrichts wird in allen drei Einzelsätzen des Art. 7, 3 GG verwendet. Im ersten Satz wird durch die Ausnahmeregelung für bekenntnisfreie Schulen deutlich, dass der Religionsunterricht als bekenntnisgebundenes Fach verstanden wird. Vor diesem Hintergrund ist auch das Übereinstimmungsgebot im zweiten Satz des Art. 7, 3 GG zu verstehen, dass „Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird, da die jeweilige Religionsgemeinschaft die Inhalte aus ihrem Bekenntnis heraus verantwortet, was der neutrale Staat nicht leisten kann. Im dritten Satz des Art. 7, 3 GG wird normiert, dass kein Lehrer, unabhängig von Konfessions- und Religionszugehörigkeit, gegen seinen Willen gezwungen werden darf, „Religionsunterricht zu erteilen“, was in Art. 4 GG normierten negativen Religionsfreiheit gründet. Art. 7, 2 GG verbürgt das Abmelderecht vom Religionsunterricht, das nur gesetzessystematisch sinnvoll S. 13 – 24; sowie Werner Jisa, Rechtliche Aspekte des Modells eines „KOKORU“ der christlichen Kirche in Österreich, in: Heribert Bastel/Manfred Göllner/Martin Jäggle/Helene Miklas (Hrsg.), Das Gemeinsame entdecken – Das Unterscheidende anerkennen. Projekt eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Einblicke – Hintergründe – Ansätze – Forschungsergebnisse, Wien 2006, S. 59 – 78 sowie ders., Religions- und Ethikunterricht in der pluralistischen Gesellschaft. Neue Formen des Religionsunterrichts und ihre religionsrechtliche Einordnung, in: ÖARR 58 (2011), S. 37 – 42. 5 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 9. 6 Vgl. dazu ausführlich Thomas Meckel, Religionsunterricht im Recht. Perspektiven des katholischen Kirchenrechts und des deutschen Staatskirchenrechts (= KStKR 14), Paderborn/ München/Wien/Zürich 2011, S. 325 – 342.

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ist, wenn der Religionsunterricht von Art. 7, 3 GG als bekenntnisbezogener Unterricht verstanden wird.7 Nicht nur der Wortlaut des Art. 7, 3 GG spricht für die Konfessionalität des Religionsunterrichts, sondern auch sein gesetzessystematischer Kontext. Der in Art. 7, 3 GG verbürgte konfessionelle Religionsunterricht ist zum einen Mittel zur Verwirklichung der positiven Religionsfreiheit der Schüler bzw. des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern gemäß Art. 6, 2 GG, das auch die religiöse Erziehung umfasst. Zum anderen steht Art. 7, 3 GG im Dienst der korporativen Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften gemäß Art. 4 GG.8 Art. 7, 3 GG normiert zugleich eine institutionelle Garantie, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in öffentlichen Schulen vonseiten des Staates gewährleistet werden muss.9 Die Bundesrepublik Deutschland ist ein neutraler, kein neutralistischer Staat. Neutralität bedeutet, dass der Staat religiös unmusikalisch ist und aufgrund dessen Musik im öffentlichen Raum nicht eliminieren oder unterbinden möchte, sondern gerade aus seiner eigenen Unfähigkeit heraus ein genuines Interesse daran hat, dass der Religionsunterricht, weiter im Bild gesprochen, mit Musik vertraut macht und nicht nur deskriptiv und neutral Instrumente vorstellt. Wenn er religiös unmusikalisch ist, schafft er den Rahmen, die Instrumente, sodass die jeweilige Religionsgemeinschaft einen konfessionellen, d. h. standpunktgebundenen Religionsunterricht intonieren kann. Die Konfessionalität des Religionsunterrichts ist demnach eine genuine Verfassungserwartung. Wenn die Verfassung also das Wort Religionsunterricht verwendet, meint sie einen Unterricht, der von einem religiösen Standpunkt einer konkreten Religionsgemeinschaft ausgeht.10 Das gilt auch für die Hansestadt Hamburg und den dort eingerichteten Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung.11 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Leitentscheidung von 1987 den Verfassungsrechtsbegriff Religionsunterricht näher definiert: Der Religionsunterricht ist „in konfessioneller Positivität und Gebundenheit zu erteilen […] Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser 7

Vgl. Karl-Hermann Kästner, Religiöse Bildung und Erziehung in der öffentlichen Schule – Grundlagen und Tragweite der Verfassungsgarantie staatlichen Religionsunterrichts, in: Heiner Marré/Dieter Schümmelfeder/Burkhard Kämper (Hrsg.), Der Beitrag der Kirchen zur Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags (= EssGespr 32), Münster 1998, S. 61 – 91, hier S. 77 – 79 sowie Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 255 – 259. 8 Vgl. Uta Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7 Abs. 3 GG (= JusEccl 63), Tübingen 2000, S. 164 – 227 sowie Stefan Korioth, Der Auftrag des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG, in: Burkhard Kämper/Klaus Pfeffer (Hrsg.), Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft (= EssGespr 49), Münster 2016 S. 7 – 33, hier S. 26 – 28. 9 Vgl. ausführlich Hildebrandt, Religionsunterricht (Anm. 8), S. 133 – 163. 10 Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 265 – 270. 11 Vgl. kritisch zum Hamburger Modell Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 342 – 349 sowie ders., Religionsunterricht für alle? (Rechtliche) Erwartungen und Möglichkeiten, in: zur debatte 45 (2/2015), S. 13 – 16.

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Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte.“12 Der unveränderliche Kern des Verfassungsrechtsbegriffs Religionsunterricht ist die konfessionelle Erteilung des Religionsunterrichts. Daher fallen die anderen genannten Formen nicht unter diesen Begriff nach Art. 7, 3 GG. Dies ist eine klare Absage an alle deskriptiv beschreibenden Formen der Religionskunde, die im Sinne von Religionswissenschaft und nicht von der Theologie her konzipiert sind. Die Konfessionalität gehört nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1987 zum unaufgebbaren Kern des Verfassungsrechtsbegriffs Religionsunterricht.13 Aufgrund der Bindung des Religionsunterrichts an eine konkrete Religionsgemeinschaft fällt ein ökumenischer oder interreligiöser Religionsunterricht mehrerer Konfessionen bzw. Religionsgemeinschaften ohne den Ausgangspunkt eines konkreten Bekenntnisses nicht unter Art. 7, 3 GG.14 Dies schließt ökumenisches und interreligiöses Lernen im Kontext eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts selbstverständlich nicht aus, sondern ein.15 Der Verfassungsrechtsbegriff Religionsunterricht ist aber nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts neben seinem unveränderbaren Kern der Bekenntnisgebundenheit „nicht in jeder Hinsicht festgelegt […], sondern wie der übrige Inhalt der Verfassung ,in die Zeit hinein offen‘, […] um die Lösung von zeitbezogenen und damit wandelbaren Problemen zu gewährleisten“.16 Wenn die Kirchen ihr Verständnis von Religionsunterricht modifizieren, muss der Staat dies aufgrund seiner Neutralität zur Kenntnis nehmen. Dies fällt in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Eine vom Staat initiierte Ökumene aus Gründen der Ökonomie würde die staatliche Neutralität verletzen. Der Verfassungsrechtsbegriff Religionsunterricht geht in der Regel von einer konfessionell homogenen Schülergruppe aus, setzt diese aber nicht zwingend voraus. Die Entscheidungskompetenz über die Zulassung konfessionsfremder Schüler liegt gemäß dem Übereinstimmungsgebot bei der jeweiligen Religionsgemeinschaft bzw. Konfession.17 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1987 spricht von einer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit einer „geordnete[n] Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession am Religionsunterricht […], solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung 12

BVerfGE 74 (1987), S. 244 – 256, hier S. 252. Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 257 – 261. 14 Vgl. Christoph Link, Konfessioneller Religionsunterricht in einer gewandelten sozialen Wirklichkeit? Zur Verfassungskonformität des Hamburger Religionsunterrichts „für alle“, in: ZevKR 46 (2001), S. 257 – 285, hier S. 267. 15 Vgl. Jörg Ennuschat, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht – Eine Skizze zum kirchlichen, kirchenvertraglichen und staatlichen Rechtsrahmen, in: KuR (2004), S. 55 – 63, hier S. 63. 16 BVerfGE 74 (1987), S. 252 f. 17 Vgl. BVerfGE 74 (1987), S. 244 u. 253; BVerwG, Urteil des 7. Senats vom 02. 09. 1983: BVerwGE 68 (1984), S. 16 – 20, hier S. 17 u. 19 f. 13

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verliert“.18 Dies zeigt, dass hier von einer grundsätzlichen, aber nicht restlosen konfessionellen Homogenität der Schüler ausgegangen wird, ohne dass die konfessionelle Homogenität Bestandteil des Verfassungsrechtsbegriffs Religionsunterricht ist. Die konfessionelle Homogenität der Schüler des Religionsunterrichts lässt sich aus dem Verfassungsrechtsbegriff Religionsunterricht in Art. 7, 3 GG nicht ableiten.19 Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie die katholische Kirche als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7, 3 GG ihre Grundsätze zur Konfessionalität des Religionsunterrichts formuliert.

II. Die Aussagen universalkirchlicher Dokumente zur Konfessionalität des Religionsunterrichts Der CIC/1917, das nicht mehr geltende Gesetzbuch, ging implicite und selbstverständlich von einem konfessionellen Religionsunterricht aus.20 Das II. Vatikanische Konzil spricht im Dekret über den Hirtendienst der Bischöfe „Christus Dominus“21 in Nr. 13 explizit von der Darlegung der Lehre in Schulen, der „propositio doctrinae in scholis“ und geht damit ganz klar von einem konfessionellem Unterricht aus. Andere Dokumente des Konzils haben mittelbar eine hohe Bedeutung für den schulischen Religionsunterricht22, wie die Erklärung über die Erziehung „Gravissimum educationis“23 und die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“24, Nr. 76 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“25 über das Verhältnis von Staat und Kirche sowie die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“26. Hier ist 18

BVerfGE 74 (1987), S. 254. Vgl. Stefan Mückl, Konfessionalität des Religionsunterrichts im Wandel?, in: Gerrit Manssen/Monika Jachmann/Christoph Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht. FS Steiner, Stuttgart 2009, S. 543 – 562, hier S. 548 – 551; Korioth, Auftrag (Anm. 8), S. 17 f. sowie zur Diskussion um die konfessionelle Homogenität der Schüler umfassend und mit weiteren Verweisen Hans D. Diekmann, Religion und Konfession. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Hildesheim 1994, S. 257 – 291. 20 Vgl. mit entsprechenden Nachweisen Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 31 – 49. 21 Concilium Vaticanum II, Decretum de pastorali Episcoporum munere in Ecclesia Christus Dominus, in: AAS 58 (1966), S. 673 – 696 (dt. in: HThK-VatII 1, S. 242 – 283). 22 Vgl. zu den Implikationen der Dokumente des II. Vatikanischen Konzils für den Religionsunterricht Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 68 – 87. 23 Concilium Vaticanum II, Declaratio de educatione christiana Gravissimum Educationis, in: AAS 58 (1966), 728 – 739 (dt. in: HThK-VatII 1, S. 333 – 354). 24 Concilium Vaticanum II, Declaratio de libertate religiosa Dignitatis Humanae, in: AAS 58 (1966), S. 929 – 946 (dt. in: HThK-VatII 1, S. 436 – 458). 25 Concilium Vaticanum II, Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis Gaudium et Spes, in: AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115 (dt. in: HThK-VatII 1, S. 592 – 749). 26 Concilium Vaticanum II, Constitutio dogmatica de Ecclesia Lumen Gentium, in: AAS 57 (1965), S. 5 – 75 (dt. in: HThK-VatII 1, S. 73 – 185). 19

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besonders Nr. 33 für die Tätigkeit von Laien als Religionslehrer zu nennen, die im Namen der Kirche handeln.27 Nach dem II. Vatikanischen Konzil äußern sich zahlreiche Dokumente zum schulischen Religionsunterricht, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können.28 Vielmehr sollen die Aussagen des geltenden Gesetzbuchs der lateinischen Kirche zur Konfessionalität des Religionsunterrichts nun in den Blick genommen werden. Der CIC/1983 unterscheidet wie andere Dokumente bereits vor seinem Erscheinen29 klar Religionsunterricht und Katechese. Dies zeigt die Eingruppierung der Normen an einem eigenen gesetzessystematischen Ort innerhalb des dritten Buchs über den Verkündigungsdienst der Kirche. Der Codex macht aber deutlich, dass der Religionsunterricht im Unterschied zur Katechese am Ort und unter den Bedingungen der Schule stattfindet. Diese Verortung innerhalb der Regelungen zur Schule und die Verortung im Rahmen des Verkündigungsdienstes der Kirche steht einer Begründung des Religionsunterrichts vom schulischen Bildungsauftrag her nicht entgegen, sondern legt eine solche Begründung vielmehr nahe. Beide, Religionsunterricht und Katechese, sind Vollzüge des Dienstes am Wort Gottes. Religionsunterricht ist ein Mittel katholischer Erziehung und erfüllt somit unter anderem das Recht auf christliche Erziehung, das der Codex im Grundrechtekatalog der Gläubigen in c. 217 CIC/1983 normiert. Dies ist auch ein Grund seiner notwendigen Konfessionalität. Die Standpunktgebundenheit und damit die Konfessionalität des Religionsunterrichts wird damit implicite vom kirchlichen Gesetzgeber vorausgesetzt. In c. 761 CIC/1983 spricht der Gesetzgeber wie das Konzil in CD 13 von der „propositio doctrinae in scholis“. Der gesetzessystematische Kontext zeigt, dass der Gesetzgeber diese Darlegung der christlichen Lehre in Schulen als Mittel des kirchlichen Verkündigungsdienstes, näherhin als Teil des Dienstes am Wort Gottes versteht und diese sich daher inhaltlich an c. 760 CIC/1983 ausrichten muss. Dort wird bestimmt, dass der Dienst am Wort „sich auf die Heilige Schrift, Überlieferung, Liturgie, Lehramt und Leben der Kirche zu stützen hat“. Ferner weist c. 760 CIC/1983 darauf hin, dass das „Geheimnis Christi vollständig und getreu vorzulegen“ ist. C. 804 CIC/1983 spricht von der „institutio et educatio religiosa catholica […] in quibuslibet scholis“, der religiösen Unterweisung und Erziehung in Schulen jedweder Art, die der kirchlichen Autorität unterstellt wird. Dabei fällt von der Zielrichtung der einzelnen Paragraphen des c. 804 CIC/1983 her auf, dass die in c. 804 § 1 CIC/1983 genannte „institutio et educatio catholica“ nicht nur den Religionsunterricht, sondern auch jegliche katholische religiöse Unterweisung sowie die Verwirklichung der katholischen Erziehung in den Schulen und in den verschiedenen Kommunikationsmitteln, wie bei27 LG 33: „Außer diesem Apostolat, das schlechthin alle Christgläubigen angeht, können die Laien darüber hinaus auf verschiedene Weisen zu einer unmittelbaren Zusammenarbeit mit dem Apostolat der Hierarchie berufen werden […] Außerdem erfreuen sie sich der Geeignetheit, zu bestimmten kirchlichen Ämtern, die zu einem geistlichen Zweck auszuüben sind, von der Hierarchie herangezogen zu werden.“ 28 Vgl. dazu Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 88 – 105. 29 Vgl. dazu Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 88 – 105.

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spielsweise im Internet, im Rundfunk, im Fernsehen und anderen Medien, im Blick hat. Das ist also mehr als nur Religionsunterricht. In der Rechtssprache des CIC/1983 ist schulischer Religionsunterricht als Teil des kirchlichen Verkündigungsdienstes katholische religiöse Unterweisung am Ort der Schule und unter den Bedingungen der Schule. So ist er ein Mittel zur Verwirklichung der katholischen Erziehung und untersteht der kirchlichen Autorität.30 Es ist auffällig, dass der CIC/1983 zwar Bestimmungen über die Religionslehrer vorsieht, aber keinerlei Aussage zu den Schülern des Religionsunterrichts trifft.31 In c. 804 § 1 CIC/1983 betont der Gesetzgeber mit dem Zusatz „catholica“, der von den Vätern des CIC/1983 bewusst gewählt wurde, um die konfessionelle Prägung und Bindung dieses katholischen Religionsunterrichts klarzustellen, die Konfessionalität der „institutio religiosa in quibuslibet scholis“.32 Mit Diekmann ist davon auszugehen, dass der CIC/1983 „es offenbar als selbstverständlich […] [voraussetzt], dass katholische Schüler am Religionsunterricht ihres Bekenntnisses teilnehmen“.33 Dies begründet sich zudem mit der in c. 209 § 1 CIC/1983 normierten Pflicht aller Christgläubigen zur Wahrung der Gemeinschaft mit der Kirche und der in c. 748 § 1 CIC/1983 formulierten Bestimmung, in Fragen über Gott und die Kirche die Wahrheit zu suchen und zu bewahren. 34 Aus dieser stillschweigenden Voraussetzung des CIC/1983 kann man aber kein generelles Verbot der Teilnahme konfessionsloser oder konfessionsfremder Schüler herleiten.35

III. Die Konfessionalität des Religionsunterrichts in Dokumenten der DBK Es lässt sich ausgehend von der Erklärung der DBK zu Fragen des katholischen Religionsunterrichts in der Schule aus dem Jahr 196936 die Trias erkennen, die sodann die Veröffentlichungen der DBK zum schulischen Religionsunterricht in der Regel durchziehen wird: katholische Lehre, katholische Lehrer und katholische 30

Vgl. dazu Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 105 – 144 sowie Wilhelm Rees, Die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen für den katholischen Religionsunterricht, in: Burkhard Kämper/Klaus Pfeffer (Hrsg.), Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft (= EssGespr 49), Münster 2016, S. 75 – 106, hier S. 83 – 89. 31 Vgl. Kerstin Schmitz-Stuhlträger, Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Eine kanonistische Untersuchung unter Berücksichtigung der weltlichen Rechtslage (= KB 12), Berlin 2009, S. 434 f. in Analogie zu den fehlenden Aussagen des CIC/ 1983 zu Schülern der katholischen Schulen. 32 Vgl. Com 20 (1988), S. 179. 33 Diekmann, Konfessionalität (Anm. 19), S. 103. 34 Vgl. Diekmann, Konfessionalität (Anm. 19), S. 103. 35 Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 139 sowie Rees, Rahmenbedingungen (Anm. 30), S. 90. 36 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen des katholischen Religionsunterrichts in der Schule (22. 12. 1969), in: AfkKR 138 (1969), S. 556 – 557.

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Schüler.37 Es wird schon in den Erklärungen38 von 197039 und 197240 deutlich, dass die DBK im Bereich der Sekundarstufe II an der Trias von Lehre, Lehrer und Schüler nicht in allen Fällen absolut festhält, sondern in manchen Fällen die Konfessionalität des Religionsunterrichts in der Konfessionalität von Lehre und Lehrer gewahrt sieht. Grundsätzlich sehen die Erklärungen die Konfessionalität des Religionsunterrichts durch die Trias der Konfessionalität der Lehre, der Lehrer und in der Regel der Schüler gewährleistet. Im Bereich der Konfessionalität der Schülerschaft in der Sekundarstufe II gibt es die Möglichkeit der Zulassung bekenntnisfremder Schüler, wenn sie die Ziele des konfessionellen Religionsunterrichts nicht beeinträchtigen sowie der Besuch nichtkatholischer Kurse von katholischen Schülern, wobei in mindestens sechs Wochenstunden die Kurse der eigenen Konfession belegt werden müssen.41 Der Beschluss des Ständigen Rats der DBK vom 16. Dezember 1974 über Grundsätze zur Konfessionalität des Religionsunterrichts in der Sekundarstufe II geht grundsätzlich von der konfessionellen Gebundenheit des Religionsunterrichts in „Homogenität von Lehre, Lehrer und Schüler“ aus.42 Das einschlägige Referenzdokument für die DBK ist bis zum heutigen Tag der Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in Deutschland zum schulischen Religionsunterricht von 197443, der eine reiche Wirkungsgeschichte in Deutschland44, aber auch in Österreich45 entfaltet hat. Wenn Religionsunterricht dazu befähigen soll, die Standpunkte anderer Religionen und Konfessionen kennenzulernen und zu tolerieren, kann dies dem benannten Synodenbeschluss zufolge nicht aus einer metatheoretischen Vogelperspektive heraus geschehen, sondern vielmehr von einer Klarheit des eigenen konfessionellen Standpunkts aus.46 Vor dem Hinter37

Vgl. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz (Anm. 36), Nr. 3. Vgl. zum Rechtscharakter und Inhalt der Erklärungen Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 160 – 172. 39 Erklärung zum Religionsunterricht vom 17. Dezember 1970, erarbeitet im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von der Sonderkommission für Fragen des Religionsunterrichts in den Schulen, in: Der Religionsunterricht 1945 – 1975. Dokumentation eines Weges, hrsg. v. Alfred Läpple, Aschaffenburg 1975, S. 132 – 137. 40 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Religionsunterricht in der Sekundarstufe II vom 11./13. April 1972, in: Der Religionsunterricht 1945 – 1975. Dokumentation eines Weges, hrsg. v. Alfred Läpple, Aschaffenburg 1975, S. 155. 41 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Religionsunterricht in der Sekundarstufe II (Anm. 40), S. 155. 42 Konfessionalität des Religionsunterrichtes in der neu gestalteten gymnasialen Oberstufe beschlossen vom Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz am 16. Dezember 1974, in: Beschlüsse der Deutschen Bischofskonferenz, hrsg. v. Reinhard Wenner, St. Augustin 2001 ff., Nr. 303. 43 Beschluß „Religionsunterricht“, in: Gemeinsame Synode. Offizielle Gesamtausgabe, 1. Bd., Freiburg i. Br./Basel/Wien 1976, S. 123 – 152. 44 Vgl. zum Synodenbeschluss und seiner Wirkungsgeschichte Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 185 – 239. 45 Vgl. Rees, Rahmenbedingungen (Anm. 30), S. 101. 46 Vgl. Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 139 – 140 (2.5.1) u. 144 (2.7.1). 38

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grund dieser Überzeugung spricht sich der Synodenbeschluss eindeutig für einen konfessionell gebundenen Religionsunterricht aus, der sich jedoch nicht konfessionalistisch in sich verschließt und andere Positionen verzerrt wiedergibt. Vielmehr ist „der konfessionelle Religionsunterricht zur Offenheit verpflichtet; der Gesinnung nach ist er ökumenisch“.47 Konfessionelle Klarheit und Kontur und ökumenische Ausrichtung bedingen einander und stehen nicht in Widerspruch zueinander. Daher können diese auch nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Synodenbeschluss formuliert, „dass im Religionsunterricht in der öffentlichen Schule Lehrer, Lehre und in der Regel auch die Schüler in einer Konfession beheimatet sein sollen“.48 Der Synodenbeschluss hält demnach an der Trias der konfessionellen Homogenität von Lehre, Lehrer und in der Regel der Schüler fest, lässt aber im Ausnahmefall Ausnahmen auf Seiten der Schüler zu, wie es die DBK in ihrer Erklärung im April 1972 bezüglich der Sekundarstufe II bereits getan hat.49 Es geht dem Synodenbeschluss nicht um ein starres Festhalten am Konfessionalitätsprinzip; denn er sieht durchaus mögliche „Modifikationen dieses Prinzips im Rahmen der genannten Bedingungen“.50 Vielmehr spricht sich der Synodenbeschluss für eine gelegentliche thematisch gebotene konfessionelle Kooperation aus.51 Um den Ansprüchen von Schülern und Eltern gerecht werden zu können, „können Modellversuche, Sonderfälle und Ausnahmesituationen Modifikationen des Konfessionalitätsprinzips erfordern“.52 Bei solchen Modellversuchen und Ausnahmeregelungen muss „aus staatskirchenrechtlichen, bildungspolitischen und kirchlichen Gründen […] das Einverständnis aller maßgeblich Beteiligten herbeigeführt werden“.53 Dies verhindert, dass ohne jegliche Absprachen unterschiedliche Maßstäbe angewandt werden oder ökumenische Kooperation nicht aus Sachgründen, sondern vielmehr insbesondere von staatlicher Seite aus Spargründen betrieben wird. Die DBK hat am 27. September 1996 das Dokument „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts“54 veröffentlicht.55 In Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

47 48

(3.4).

Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 144 (2.7.1). Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 146 (2.7.4); vgl. auch ebd., S. 149 – 150

49 Vgl. weiter oben Anm. 40; vgl. zum Diskurs über die Konfessionalität Diekmann, Konfessionalität (Anm. 19), S. 202 f. 50 Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 150 (3.4). 51 Vgl. Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 146 (2.7.5). 52 Vgl. Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 146 (2.7.5). 53 Vgl. Beschluß „Religionsunterricht“ (Anm. 43), S. 146 (2.7.5). 54 Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 56), Bonn 1996. 55 Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 212 – 220 sowie Rees, Rahmenbedingungen (Anm. 30), S. 95 – 97.

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vom 25. Februar 198756 betont das Dokument, dass der Religionsunterricht in „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“ zu erteilen ist und keine allgemeine Religionskunde oder einen überkonfessionellen Unterricht darstellt,57 bei dem die Frage nach einem kompetenten Verantwortungsträger unbeantwortet bleiben muss, da weder der Staat noch andere diese Rolle übernehmen könnten.58 So scheint eine Religionskunde eine metatheoretische Vogelperspektive einzunehmen, die der Neutralität des Staates widerspricht.59 Darüber hinaus argumentiert das Dokument mit dem Bildungsanspruch der Schüler auf eine persönliche Stellungnahme in religiösen Fragen und auf deren Recht auf das Mündigwerden in der eigenen Religion.60 Das Dokument sieht zudem in einem überkonfessionellen Unterricht oder in einem religionskundlichen Konzept die Gefahr, dass „im Unterricht ein theoretisches Konstrukt, eine ,Schulreligion‘, erfunden [würde], die keinen Rückhalt im Alltag der Schülerinnen und Schüler hätte“.61 In dem Sinn, dass es kein „konfessionsloses oder überkonfessionelles Christentum gibt“,62 hält das Dokument an der Trias katholischer Lehrer, Lehre und in der Regel katholischer Schüler fest.63 Die EKD geht in ihrer Denkschrift „Identität und Verständigung“ aus dem Jahr 199464 bezüglich der Zulassung der Schüler anderer Konfessionen nicht von dieser Trias aus. Die Konfessionalität des evangelischen Religionsunterrichts wird durch den evangelischen Lehrer und die evangelische Lehre gewährleistet.65 Das Dokument der DBK möchte „bei aller Bereitschaft zur Kooperation und zur Modifikation des Konfessionalitätsprinzips in einzelnen Situationen stärker an derselben Konfessionalität der Kinder und Jugendlichen festhalten, ohne dass der Religionsunterricht dadurch gehindert wäre, sich auf die Ökumene hin zu öffnen und auch konfessionell nicht oder noch nicht gebundene Schülerinnen und Schüler aufzunehmen.“66 Die deutschen Bischöfe halten im Jahr 1996 generell an der Trias von Lehre, Lehrer und in der Regel der Schüler fest, ohne die ökumenische Dimension des Religionsunterrichts zu beeinträchtigen, und erlauben zugleich im Einzelfall Kooperatio56

Vgl. weiter oben Anm. 12. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 68 f. 58 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 20. 59 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 17 f. 60 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 18. 61 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 19. 62 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 53. 63 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 50. 64 Identität und Verständigung: Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hrsg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 20005. 65 Vgl. Identität und Verständigung (Anm. 64), S. 61 – 68. In Kontinuität zu dieser Auffassung vgl. auch Religionsunterricht. 10 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hrsg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2006, S. 5. 66 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 50. 57

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nen und Modifikationen. Der Begriff der Konfession wird im Sinne des Bekenntnisses verstanden und ist nicht im konfessionalistischen Sinn misszuverstehen.67 Das Dokument ist davon überzeugt, dass ein authentischer ökumenischer Dialog nur von einer klaren eigenen Identität und Position aus möglich ist und unterstreicht, dass „an die Stelle von Selbstbeharrung, Abgrenzung und Selbstisolierung […] nun ,gesprächsfähige Identität‘“ treten muss.68 Vor dem Hintergrund der bereits in der Erklärung aus dem Jahr 1969 vertretenen Überzeugung, dass es keine abstrakte überkonfessionelle Sphäre gibt,69 sondern Glaube immer konkret in einer Kirche oder einer kirchlichen Gemeinschaft gelebt wird,70 ist die Aussage zu sehen, dass „ökumenisch […] deshalb nur sein [kann], wer in diesem Sinn auch konfessionell ist.“71 Das Dokument ist davon überzeugt, dass die Schüler „auch ein Recht auf Beantwortung der Frage [haben], warum sie katholisch getauft sind und was Leben aus dem Glauben bedeutet“72 und „was es bedeutet, der Katholischen Kirche anzugehören“73. Die Bischöfe sehen im Jahr 1996 trotz der Erosion des katholischen Milieus und der entsprechenden katholischen Sozialisation immer noch Anknüpfungspunkte an die konfessionelle Identität der Schüler. Daher soll der Religionsunterricht den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, „Heimat in ihrer Kirche zu finden“74, um religiöse Praxis zu erschließen und zu ihr behutsam hinzuführen.75 Das Dokument über die bildende Kraft des Religionsunterricht argumentiert zudem mit Art. 7, 3 GG, sodass „die Eltern damit rechnen und davon ausgehen [können und müssen], dass der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften, der die Schülerinnen und Schüler angehören, erteilt wird“.76 Auch wenn Art. 7, 3 GG unausgesprochen von der konfessionellen Homogenität der Schüler ausgeht,77 sieht das Dokument die Möglichkeit der Teilnah-

67

Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 46 – 47. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 49. 69 S. o. Anm. 36. 70 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 52; hierzu ebd., S. 55: „Wenn Konfession der Inbegriff einer bestimmten kirchlichen Lebenswelt mit ihrer eigenen Kultur des Glaubens ist, steht dahinter nicht zuletzt die Einsicht, dass Einübung in den Glauben und religiöse Sozialisation ein bestimmtes Gefüge und einen konkreten Lebensraum brauchen, der konfessionell bestimmt ist. Es kann deshalb in der religiösen Erziehung keinen unspezifischen ökumenischen Lebensraum geben, sondern nur das Hineinwachsen und Hineingeführtwerden des Kindes in eine konkrete kirchliche Gemeinschaft.“ 71 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 49. 72 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 52. 73 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 52. 74 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 53. 75 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 53. 76 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 54. 77 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 69. Die konfessionelle Homogenität der Schüler ist von dem in Art. 7, 3 GG verwendeten Verfassungsrechtsbegriff „Religionsunterricht“ aber nicht zwingend gefordert; dazu s. o. I. in diesem Beitrag. 68

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me konfessionsfremder78 und konfessionsloser79 Schüler am katholischen Religionsunterricht, die zufolge der bereits zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1987 möglich ist: „Die geordnete Teilnahme von Schülern einer anderen Konfession am Religionsunterricht ist […] verfassungsrechtlich unbedenklich, solange der Unterricht dadurch nicht seine besondere Prägung als konfessionell gebundene Veranstaltung verliert“.80 Vor diesem Hintergrund ist daher ein „erdrückendes Übergewicht“ konfessionsfremder Schüler sowie eine „beliebige Ummeldung“ einzelner Schüler zu vermeiden.81 Für den Fall, dass in der Diaspora die Zahl der katholischen Schüler für die Bildung einer Klasse nicht ausreichen sollte, empfiehlt das Dokument die Bildung klassen-, jahrgangs- oder schulübergreifender Unterrichtsgruppen.82 Die Diasporasituation kann auch dazu führen, dass der Religionsunterricht in Vereinbarung mit dem Staat in kirchlichen Räumen stattfindet, ohne dass er dadurch seinen Charakter als ordentliches Lehrfach einbüßt.83 Es fällt auf, dass über die Teilnahme katholischer Schüler an nichtkatholischem Religionsunterricht keinerlei Äußerung getroffen wird, wie beispielsweise noch in der Erklärung/197284 zum Religionsunterricht in der Sekundarstufe II.85 In der Tradition des Würzburger Synodenbeschlusses formuliert das Dokument über die bildende Kraft des Religionsunterrichts: „Formen wechselseitiger Öffnung des Religionsunterrichts bedürfen in Anbetracht des Gewichtes und der Tragweite dieser Entscheidung eines Einvernehmens zwischen den Religionsgemeinschaften als Voraussetzung für länderspezifische Regelungen.“86 Es spricht sich für einen „begrenzten konfessionell-kooperativen Religionsunterricht unter Wahrung der konkreten kirchlichen Bindung“ aus.87 Denn „was zwischen den Kirchen an Kooperation möglich ist, kann auch für die beiden Fächer nutzbar gemacht werden. Allerdings kann eine sinnvolle Zusammenarbeit nicht die Auflösung und Verschmelzung der Fächer bedeuten“.88 Diese Formen der Zusammenarbeit müssen zwischen den Ländern und den Diözesen vereinbart werden und können 78

Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 70. Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 20 u.70. 80 BVerfGE 74 (1987), S. 254. 81 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 70. 82 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 71. 83 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 71. 84 S. o. Anm. 40. 85 Vgl. Werner Simon, Gegen Konfessionalismus – für ökumenische Zusammenarbeit. Antworten von Bischof Manfred Müller auf Interview-Fragen von Prof. Dr. Werner Simon zum Thema: Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“, in: rhs 40 (1997), S. 244 – 248, hier S. 247 f. 86 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 71. 87 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 60. 88 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 58 – 59. 79

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Folgendes umfassen: „Berücksichtigung paralleler Elemente in den konfessionellen Lehrplänen, wechselseitige Verwendung von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien für bestimmte Unterrichtsvorhaben, partielle Zusammenarbeit der Fachkonferenzen, Absprachen über gemeinsame, zeitlich begrenzte Unterrichtsphasen und -projekte, Planung und Durchführung außerunterrichtlicher Veranstaltungen, bestimmte Angebote der Schulpastoral, projektbezogene Zusammenarbeit bei der Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer.“89 Diese Formen der Zusammenarbeit bedürfen stets der sorgfältigen Vereinbarung zwischen allen Beteiligten und dürfen nie aus organisatorischen, personellen oder anders gelagerten Sachzwängen motiviert sein, beispielsweise, dass ein Fach weniger vorteilhaft für die Schulorganisation ist.90 Deshalb wird den Schulleitungen gegenüber angemahnt, dass sie „verpflichtet sind, Verfassung, Gesetze und Verordnungen zu wahren und durchzusetzen“.91 Die Bischöfe unterstreichen, dass „die Rechtslage […] eindeutig für den konfessionellen Religionsunterricht“ spricht.92 In diesem Kontext ist auch die Warnung zu verstehen, dass man auf der Ebene der Schule die noch nicht gelösten Probleme und theologischen Differenzen beispielsweise. im Kirchen- und Amtsverständnis93 nicht klären kann. Es würde auch den Religionsunterricht letztlich überfordern.94 Die grundlegenden Aussagen des Dokuments über die bildende Kraft des Religionsunterrichts von 1996 werden in einem gemeinsamen Dokument zur Kooperation von evangelischem und katholischem Religionsunterricht der DBK und der EKD im Jahr 1998 konkretisiert, die eine in gegenseitigem Einvernehmen geschlossene Vereinbarung darstellt.95 Die Formen der Kooperation bewahren diesen Erklärungen zufolge die grundsätzliche Konfessionalität des jeweiligen Religionsunterrichts.96 Einer der markantesten Unterschiede zwischen der evangelischen und katholischen Konfession besteht in der Definition der Kriterien der Konfessionalität des Religionsunterrichts. Während die evangelische Kirche die Konfessionalität des Religionsunterrichts durch die konfessionelle Bindung der Lehre und des Lehrers gewährleistet sieht, hält die katholische Kirche an der Konfessionalität der Lehre, der Lehrer sowie in der Regel der Schüler fest. Insofern berücksichtigt die Vereinbarung, dass die katholische Kirche zwar Konfessionslose und -fremde in ihrem Religions89

Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 59. Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 60. 91 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 60. 92 Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 58. 93 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 54. 94 Vgl. Die bildende Kraft (Anm. 54), S. 60. 95 Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht: Religionsunterricht und Konfessionen, hrsg. v. Reinhard Frieling/Christoph Th. Scheilke (= Bensheimer Hefte 88), Göttingen 1999, S. 124 – 127, hier S. 124; vgl. auch Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 220 – 226 sowie Rees, Rahmenbedingungen (Anm. 30), S. 97. 96 Vgl. Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 127. 90

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unterricht zulassen kann, die katholischen Schüler aber am katholischen Religionsunterricht teilnehmen.97 Es werden verschiedene Formen der Kooperation auf den Ebenen der schulischen Praxis98, der Schulverwaltungen99 und der Lehrerbildung100 genannt. Für spezifische regionale schulformbedingte Situationen, wie insbesondere die der neuen Bundesländer oder anderer Diasporagebiete sowie die besondere Lage in Berufs- oder Sonderschulen, können Kooperationsformen gefunden werden, die über die genannten Formen hinausgehen.101 Alle Formen der Kooperation bedürfen der Zustimmung der kirchlichen Autorität und der Beteiligten102 sowie der „Vereinbarung zwischen den betroffenen Diözesen, Landeskirchen und Landesregierungen“, die die Vorgehensweise genau beschreiben.103 Bei der Erstellung der Vereinbarungen ist die Beteiligung der Schüler, der Lehrer und der Eltern vorzusehen. Die Einrichtung einer Kooperation darf nicht nur aus Gründen der Schulorganisation begründet werden. Nach dem Ablauf der zeitlich befristeten Kooperation und deren etwaiger wissenschaftlicher Evaluation sollen die Resultate den Schulverwaltungen der jeweiligen Konfessionen übermittelt werden.104 In einigen Bundesländern wurde die 1998 getroffene Vereinbarung zur Kooperation von evangelischem und katholischem Religionsunterricht angewandt, beispielsweise. in Niedersachsen und BadenWürttemberg.105 97 Vgl. Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 126. 98 Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 124 f. nennt: „Gemeinsame Elternabende zum Religionsunterricht, wechselseitiger Gebrauch von Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern zu bestimmten Themen, Zusammenarbeit bei Stoffverteilungsplänen, Zusammenwirken der Fachkonferenzen, Einladung der Religionslehrerin bzw. des Religionslehrers der je anderen Konfession in den eigenen Religionsunterricht zu bestimmten Themen und Fragestellungen, zeitweiliges team-teaching von bestimmten Themen oder Unterrichtsreihen, gemeinsame Unterrichtsprojekte und Projekttage, Einladung der Pfarrerin bzw. des Pfarrers oder anderer Vertreter der je anderen Konfession in den Religionsunterricht, Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schulpastoral/Schulseelsorge, gemeinsame Gestaltung von schulischen und kirchlichen Feiertagen, von Schulgottesdiensten, Andachten, Schulfeiern u. a., konfessionell-kooperative Arbeitsgemeinschaften auf freiwilliger Basis als zusätzliches Angebot.“ 99 Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 125 nennt: „Abstimmung und Zusammenarbeit bei der Erarbeitung von Lehrplänen, Entwicklung gemeinsamer Unterrichtsmaterialien durch Fachleute beider Konfessionen.“ 100 Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht, S. 125 nennt die Zusammenarbeit im Referendariat und in der Lehrerfortbildung. 101 Vgl. Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 126. 102 Vgl. Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 125. 103 Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 126. 104 Vgl. Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (Anm. 95), S. 127. 105 Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 220 – 226.

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Setzte das Dokument über die bildende Kraft des Religionsunterrichts immer noch einen, wenn auch noch so geringen Anknüpfungspunkt an religiösen, kirchlichen Erfahrungen auf Seiten des Schülers voraus, diagnostiziert das Dokument der DBK über den Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen aus dem Jahr 2005106 die immer geringer werdende bzw. nicht mehr vorhandene Erfahrung der Schüler im kirchlichen Glaubensleben und die zunehmende Indifferenz gegenüber dem Glauben.107 Religionsunterricht soll daher strukturiertes und für das Leben bedeutsames Glaubenswissen vermitteln, mit religiöser Praxis vertraut machen und die religiöse Dialog- und Urteilsfähigkeit fördern. Zugleich verweist es auf das komplementäre Angebot der Schulpastoral.108

IV. Das Dokument der DBK „Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht“ von 2016 Bevor auf den Inhalt des Dokuments „Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts“ eingegangen wird, ist der formale Charakter des Dokuments zu prüfen. Das Dokument selbst bezeichnet sich selbst nur als Empfehlung, möchte aber zugleich einen Rahmen für die Kooperation von katholischem und evangelischem Religionsunterricht aufzeigen, der Raum für verschiedene Modelle der Kooperation eröffnet und nicht ein konkretes Modell als paradigmatisch hervorhebt.109 Es möchte Grundlagen aus der Perspektive der systematischen Theologie zum Stand der Ökumene formulieren, Empfehlungen aus religionspädagogischer Sicht geben und an den rechtlichen Rahmen des Religionsunterrichts erinnern.110 Es wird aus dem Dokument deutlich, dass die deutschen Bischöfe keine allgemeinen Normen zum Religionsunterricht nach c. 804 § 1 CIC/1983 erlassen möchten, sie für diesen Beschluss daher auch keine nach c. 455 § 2 CIC/1983 erforderliche recognitio des Apostolischen Stuhls eingeholt haben und somit diesem Dokument kein Rechtscharakter zukommt. Dennoch zeigt der Beschluss den weitgehenden Konsens der Mitglieder der Bischofskonferenz an. Daher kann man das Dokument als eine einmütige Äußerung der DBK ansehen. Es versteht sich selbst nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der bisherigen Dokumente der DBK im Hinblick auf die Kooperation mit dem evangelischen Religionsunterricht, die auf analogem Wege auch auf die Kooperation mit orthodoxem Re106 Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= DDB 80), Bonn 2005. 107 Vgl. Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (Anm. 106), S. 23 f. 108 Vgl. Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (Anm. 106), S. 24 – 32. 109 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 6. 110 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 9.

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ligionsunterricht angewandt werden können. Als Adressaten des Schreibens werden die Verantwortungsträger der Diözesen und des jeweiligen Bundeslandes, die Religionslehrer, die Schulleitungen, die Schüler sowie die Eltern genannt.111 Das Motiv bzw. der Anlass des Dokuments ist zum einen die immer geringer werdende Zahl getaufter Schüler und der damit in manchen Regionen verbundenen Unmöglichkeit der Einrichtung von konfessionell homogenen Lerngruppen. Zum anderen verweist das Dokument auf die in den letzten Jahren gewonnenen Erfahrungen der konfessionellen Kooperation.112 Das Dokument knüpft im zweiten Kapitel direkt an das Dokument zur bildenden Kraft des Religionsunterrichts und das Dokument über den Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen von 2005 an und stellt die Notwendigkeit der Bildung einer gesprächsfähigen Identität heraus und spricht selbst von einer „pluralitätsfähigen Identität“.113 Es folgen Reflexionen über den Begriff der Konfession, die darin münden, dass das Verständnis des konfessionellen Religionsunterrichts von einem religionskundlichen oder überkonfessionellen Unterricht klar abzugrenzen ist. Die konfessionelle Trennung, deren Überwindung Desiderat der Ökumene ist, zeige aber auch den Reichtum der Vielfalt des Christentums, die nur in einem Dialog der Konfessionen erkannt und gewürdigt werden könne. Der Religionsunterricht, der sich als ökumenisch versteht, möchte die konfessionellen Grenzen nicht auflösen oder verschmelzen, sondern in der Kooperation die jeweilige andere Sicht wahrnehmen, was zugleich auch die Sicht der eigenen Konfession vertiefen und schärfen kann. In Rückgriff auf die Erklärung der DBK und der EKD von 1998 erinnert das Dokument an die Möglichkeit des zeitlich befristeten Unterrichtens im Team von gemischt-konfessionellen Gruppen. Es ist zudem möglich, dass Schüler einer anderen Konfession am katholischen Religionsunterricht teilnehmen, wenn deren Religionsunterricht nicht angeboten werden kann.114 Im dritten Kapitel des Dokuments geht das Dokument nun einen Schritt über den status quo hinaus und verweist nochmals auf die veränderte gegenwärtige Situation abnehmender Taufzahlen – weniger als die Hälfte der Neugeborenen der BRD werden noch getauft – hin, sodass absehbar sei, dass in manchen Regionen keine konfessionell homogenen Religionsunterrichtsklassen eingerichtet werden könnten, die die Mindestschülerzahlen erfüllen könnten.115 Die Mindestschülerzahlen befin111

Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 9. Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 8 113 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 10; vgl. auch das Plädoyer für einen pluralitätsfähigen Religionsunterricht von Friedrich Schweitzer, Die (Selbst-) Verantwortung der Kirchen für die Ausbildung eines Propriums und einer religiösen Identität für den Religionsunterricht aus religionspädagogischer Sicht, in: Burkhard Kämper/ Klaus Pfeffer (Hrsg.), Religionsunterricht in der religiös pluralen Gesellschaft (= EssGespr 49), Münster 2016 S. 59 – 70. 114 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 11 – 15. 115 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 16 f. 112

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den sich in den Bundesländern in einer Spanne von fünf bis zwölf Schülern.116 Der Religionsunterricht würde dann nicht stattfinden können. Der Erlass des Hessischen Kultusministeriums über den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vom 03. September 2014117 ermöglicht die Bildung gemischt-konfessioneller Gruppen, wenn die Mindestschülerzahl von 8 Schülern nicht erreicht wird und pädagogisch und schulorganisatorisch keine Lerngruppe bildbar ist, beispielsweise wegen Mangel an Lehrkräften oder schulorganisatorischen Schwierigkeiten. Die Konfessionalität des Lehrers bestimmt dann die konfessionelle Prägung, wobei die unterschiedliche konfessionelle Prägung der Schüler berücksichtigt werden muss. Diese gemischt-konfessionellen Gruppen sichern, dass überhaupt Religionsunterricht stattfindet.118 Das Dokument zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts weist, da häufig Lerngruppen des katholischen Religionsunterrichts in Diasporagebieten nur durch die Teilnahme von Schülern anderer Konfessionen und Religionen zu Stande kommen, zudem auf die wachsende Einrichtung des islamischen Religionsunterrichts und auf den Ethikunterricht hin. Der insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern praktizierte Schulen und Jahrgänge übergreifende Religionsunterricht nach Art. 7, 3 GG, der aber in kirchlichen Räumen stattfindet, wird von diesem Dokument sehr kritisch bewertet, da es das Fach als ordentliches Lehrfach in öffentlichen Schulen letztlich durch seine Erteilung in außerschulischen Räumen in seiner Bedeutung schwäche. Zudem wird auf mangelnde Akzeptanz auf Seiten von Schülern, Eltern und Lehrern sowie auf schulorganisatorische Probleme verwiesen. Dieses Modell sei auf andere Regionen nicht übertragbar. Diese kritische Bewertung muss sicher nicht im Ganzen geteilt werden, insbesondere stellt sich die Frage, warum dieses Modell in keiner Weise übertragbar sein sollte. Zu Recht wird allerdings gesehen, dass ein Unterrichten im außerschulischen Raum für ein ordentliches Lehrfach nicht optimal ist, wenngleich es aber die Erteilung des Religionsunterrichts in einer konfessionell homogenen Gruppe ermöglicht. Hier liegt aber der entscheidende Argumentationspunkt bzw. Wendepunkt in der Entwicklung der Äußerungen der DBK zur Konfessionalität.119 Im Anschluss an die Kritik am außerschulischen schulübergreifenden und jahrgangsübergreifenden Religionsunterricht wird formuliert: „Daher ist zu fragen, ob die bestehenden Vorgaben zur Aufnahme anderskonfessioneller Schülerinnen und Schüler am katholischen Religionsunterricht nicht erweitert werden müssen.“120 Dies ist die entscheidende Frage bzw. Aussage des Dokuments; denn sie befragt die bisher von der DBK vertretene Trias zur Konfessionalität des Religionsunterrichts: Die Konfessionalität der Lehre, des Lehrers und in der 116

Vgl. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 309. Erlass des Hessischen Kultusministeriums über den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vom 03. 09. 2014, in: ABl. HKM 2014, S. 685. 118 Vgl. Erlass des Hessischen Kultusministeriums (Anm. 117), S. V – VII. 119 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 16 – 18. 120 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 18. 117

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Regel der Schüler. Die Konfessionalität der Lehre und des Lehrers steht außer Frage. Auf der Seite der Konfessionszugehörigkeit der Schüler des Religionsunterrichts wird die Frage der Weiterentwicklung formuliert. Das Dokument zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts verweist auf die Erfahrungen konfessioneller Kooperation in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg und arbeitet Gemeinsamkeiten dieser heraus. Grundsätzlich zeigen die Modelle, dass sie die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der Konfessionen herausstellen, sodass es zu einer besseren Kenntnis der eigenen und der anderen Konfession führt. Dies gilt für die jeweiligen unterrichtenden Religionslehrer wie auch für die Schüler. Für die Religionslehrer bedeutet der Religionsunterricht in konfessionell gemischten Gruppen nicht nur einen höheren Arbeitsaufwand, sondern auch spezielle didaktische und inhaltliche Kompetenz der Kooperation, die überwiegend noch Desiderat in der Lehrerausbildung ist.121 Hier gibt das Dokument auch entsprechende religionspädagogische Empfehlungen.122 Nur dann kann der jeweilige Lehrer entsprechend „konfessionsbewusst und differenzsensibel“ unterrichten.123 Der jeweilige Religionsunterricht ist konfessioneller Religionsunterricht nach Art. 7, 3 GG, wobei sich die Konfessionalität in der Konfession der Lehre und des Lehrers festmacht. Explizit verweist das Dokument daher auf die staatlichen Normen und die staatskirchenrechtlichen konkordatären Regelungen, deren Erfüllung gewahrt bleibt. Die Kooperation hat einen Ort in den jeweiligen Lehrplänen der kooperierenden Fächer und wird vonseiten der kirchlichen Stellen der Bistümer und Landeskirchen, die intensiver kooperieren müssen, aktiv unterstützt, insbesondere im Bereich der Lehrerbildung und durch den Einsatz von Finanz- und Personalmitteln. Die Motivationen für gemischt-konfessionelle Gruppen können Probleme der Schulorganisation oder des Mangels an Religionslehrern sein, wie dies insbesondere im Bereich der Berufs- und Förderschulen der Fall ist, auf die das Dokument explizit verweist und gerade dort die Notwendigkeit der religionspädagogischen Reflexion und Begleitung sieht, wie sie durch das Tübinger Institut für berufsorientierte Religionspädagogik beispielsweise geleistet wird.124 Vor dem Hintergrund dieser bisherigen Erfahrungen und Desiderate der konfessionellen Kooperation möchte das Dokument zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts in seinem vierten Kapitel „Empfehlungen zur Kooperation mit dem evangelischen Religionsunterricht“ geben, ohne ein konkretes Modell als paradigmatisch herauszustellen, damit in jeder Region die notwendige Flexibilität gewährleistet ist.125 Dem Dokument geht es demnach nicht um eine flächendeckende Einführung gemischt-konfessioneller Gruppen, sondern um die möglichst situationsadäquate Möglichkeit zur Bildung derselben. In Regionen, in denen die Bildung kon121

Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 18 – 22. Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 31 – 34. 123 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 22. 124 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 21 – 24. 125 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 25. 122

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fessionell homogener Gruppen möglich ist, werden diese auch die Regel bleiben. Dennoch sollte die Chance der konfessionellen Kooperation genutzt werden, wie sie beispielsweise in unterschiedlichen Formen das Dokument der DBK und der EKD vorsieht. Das Dokument geht aber über diese Vereinbarung von 1998 hinaus, da es die Möglichkeit sieht, dass gemischt-konfessionelle Gruppen mehrere Schuljahre lang bzw. sogar die ganze Schullaufbahn eines Schülers bestehen können. Diese regionalen Modelle der Kooperation bedürfen der verbindlichen Vereinbarung durch die zuständigen kirchlichen und staatlichen Stellen. Die müssen beachten, dass auch das Kooperationsmodell dem Übereinstimmungsgebot des Art. 7, 3 GG entspricht, sodass der katholische Religionsunterricht mit den Grundsätzen der katholischen Kirche übereinstimmt. Zudem erfordert die Teilnahme von Schülern anderer Konfession oder keiner Konfession eine religionspädagogische Reflexion über die Ziele, die inhaltliche und die praktische Gestalt des Religionsunterrichts. Der kooperative Religionsunterricht muss zudem mit den einschlägigen staatlichen und staatskirchenrechtlichen Normen übereinstimmen. Daher möchte das Dokument auch die rechtlichen Rahmendaten aufzeigen.126 Vor den rechtlichen Rahmendaten äußert es sich zum Stand des ökumenischen Dialogs aus der Perspektive der systematischen Theologie und sieht bei allen Gemeinsamkeiten in Taufe, Glaubensbekenntnis und Christusbekenntnis und der fortschreitenden ökumenischen Kooperation Annäherungen, aber auch verbleibende Differenzen in der Frage der Eucharistie, des Amtes und der Ekklesiologie, die einen von beiden Konfessionen verantworteten Religionsunterricht nicht ermöglichen. Die Gemeinsamkeiten würden aber als theologische Grundlage einer Erweiterung der Kooperation dienen. Von dieser Kooperation auf einer theologischen Grundlage des gemeinsamen Christusbekenntnisses ist die zeitweilige Zusammenarbeit mit dem jüdischen oder islamischen Religionsunterricht zu unterscheiden. Ferner grenzt das Dokument die Kooperation von evangelischem und katholischem Religionsunterricht auch klar von Formen des multireligiösen Religionsunterrichts oder Formen religionskundlichen Unterrichts ab. Zugleich unterscheidet sich diese Kooperation auch von sonstigen Formen des fächerverbindenden Lernens.127 Hier hätte das Dokument allerdings auf die Kooperationsmöglichkeit im Rahmen einer Fächergruppe hinweisen können, wie es beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern möglich ist.128 In den Ausführungen zu den rechtlichen Rahmendaten dienen als selbstverständliche Referenzpunkte Art. 7, 3 GG sowie das bereits besprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1987. Es verweist neben der nach Art. 7, 3 GG notwendigen Konfessionalität des Religionsunterrichts insbesondere darauf, dass es in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften fällt, über die Zulassung anderskonfessioneller Schüler zu entscheiden und nennt dementsprechend die cc. 804 und 805 CIC/1983, die dem nicht entgegenstehen. Ferner wird die not126

Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 25 f. Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 26 – 30. 128 Vgl. Meckel, Religionsunterricht für alle? (Anm. 11), S. 16. 127

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wendige Übereinstimmung der Kooperation von evangelischem und katholischem Religionsunterricht mit Art. 7, 3 GG und den jeweiligen landesrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Bestimmungen hervorgehoben.129 Für die erweiterte Kooperation von katholischem und evangelischem Religionsunterricht werden „rechtliche Eckpunkte“ formuliert.130 Jedwede erweiterte Kooperation bedarf der Zustimmung und Vereinbarung der beteiligten Autoritäten der Diözesen und Landeskirchen sowie der zuständigen staatlichen Behörden. Zudem wird das Schließen einer Vereinbarung zwischen Diözesen und Landeskirchen nahegelegt, die „die religionspädagogischen, rechtlichen und organisatorischen Bedingungen der Kooperation“ regelt.131 Ferner wird die Konfessionalität des Unterrichts in gemischt-konfessionellen Gruppen durch die Konfession des Lehrers bestimmt, der mit der jeweiligen kirchlichen Lehrbeauftragung unterrichtet. Dementsprechend erfolgt der Eintrag in das Schulzeugnis.132 Daher ist dieser Unterricht in gemischtkonfessionellen Gruppen konfessioneller Religionsunterricht und ist „weder ein konfessionskundlicher noch ein christentumskundlicher Unterricht und auch kein überkonfessionell christlicher Religionsunterricht“.133 Für den Unterricht ist der katholische oder der evangelische Lehrplan zu verwenden und eventuell getroffene Vereinbarungen zwischen den Kirchen zu beachten. Die nicht der Konfession des Lehrers angehörigen Schüler sollen bezüglich ihrer Teilnahme die gleichen Pflichten und Rechte haben. Etwaige anderslautende landesrechtliche Bestimmungen sollten geändert werden. Die Teilnahme anderskonfessioneller oder konfessionsloser Schüler soll Respekt vor deren Recht auf Religionsfreiheit und dem Recht auf jeweils eigenen Religionsunterricht dieser evtl. kleinen Kirchen oder Religionsgemeinschaften zeigen. Das Abmelderecht nach Art. 7, 2 GG ist zu gewährleisten. Wenn der Religionsunterricht nach Art. 7, 3 GG erteilt wird, ist dies allerdings eine Selbstverständlichkeit.134 Zuletzt weist das Dokument auf die Gefahr der Überfrachtung bzw. Überforderung des Religionsunterrichts als Ort religiöser Bildung hin und verweist auf die Komplementarität von religiöser familiärer Erziehung, Katechese und Schulpastoral. Die Forderung nach Konfessionalität darf nicht mit der Forderung der Rekatechetisierung des Religionsunterrichts verwechselt werden. Statt eine Rekatechetisierung des Religionsunterrichts und eine Vermischung bzw. ein Aufgeben der gewonnenen Unterscheidung zu fordern, ist es vielmehr an der Zeit, den Eigenwert der jeweiligen Lernorte des Glaubens ernst zu nehmen und deren Komplementarität lebendig und 129 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 34 f.; dazu ausführlich s. o. I. u. II. in diesem Beitrag. 130 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 36. 131 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 36. 132 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 36 f. 133 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 37. 134 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 37; vgl. zum Abmelderecht Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 286 – 288.

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fruchtbar zu gestalten. Nur durch die klare Unterscheidung und nicht durch den Verlust ihrer Kontur werden Religionsunterricht, Katechese und Schulpastoral ihren aus den jeweiligen Bedingungen folgenden Möglichkeiten und Chancen gerecht, Orte der Reflexion und der Erfahrung des Glaubens zu sein.135

V. Resümee und Würdigung Die vorgelegten Überlegungen des Dokuments über die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts wollen „der Sicherung des konfessionellen Religionsunterrichts in der Schule und seiner Qualitätsentwicklung“ dienen und damit für unterschiedliche Regionen und Situationen einen Rahmen bieten, der eine situationsgerechte Gestaltung des Religionsunterrichts ermöglicht.136 Das Kirchenrecht wie auch das Religionsrecht spannen dementsprechend einen Freiheitsrahmen auf, in dem sich Perspektiven und Gestaltungsspielräume finden lassen. Zugleich aber begrenzt Recht auch Möglichkeiten, spannt demnach einen Begrenzungsrahmen auf, der aber variantenreich gefüllt werden kann und soll. Die Konfessionalität ist nicht nur eine rein binnenkirchliche Erwartung, sondern eine genuine Verfassungserwartung des säkularen Staates. Für den neutralen Staat, der religiös enthaltsam, zugleich aber religiös offen ist, erfüllt der konfessionelle Religionsunterricht eine wichtige kulturstaatliche Funktion, da er dazu beiträgt, die positive Religionsfreiheit der Schüler bzw. das Elternrecht zur religiösen Erziehung sowie die korporative Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften zu verwirklichen. Der religiös neutrale Staat hat daher ein genuines Eigeninteresse an einem konfessionellen Religionsunterricht. Die Konfessionalität bzw. die Standpunktgebundenheit gehört bei aller Möglichkeit der Modifikation nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum unaufgebbaren Kern des Verfassungsrechtsbegriffs „Religionsunterricht“ nach Art. 7, 3 GG, da der neutrale Staat ein genuines Interesse an diesem standpunktgebundenen Unterricht hat, den er selbst nicht leisten kann. Der Verfassungsrechtsbegriff „Religionsunterricht“ ist abgesehen von diesem konfessionellen Kern in die Zeit hinein offen, es ist dem neutralen Staat aber verwehrt, etwa aus ökonomischen Gründen Ökumene zu treiben bzw. einen ökumenischen oder interreligiösen Religionsunterricht zu urgieren. Die Ökumene unterfällt dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Sollten diese ihre Lehrunterschiede für überwindbar halten und auf der Grundlage eines gemeinsamen Bekenntnisses Religionsunterricht verantworten, müsste der neutrale Staat dies hinnehmen. Diese Übereinstimmung ist nicht gegeben und daher geht auch das Dokument zur Zukunft des konfessionellen Religionsunterricht nicht von einem überkonfessionellen, sondern von einem konfessionellen Religionsunterricht aus, der in manchen 135

Vgl. ausführlich zur Unterscheidung und Komplementarität von Religionsunterricht, Katechese und Schulpastoral Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 32 – 247; zur Schulpastoral ebd., S. 242 – 247. 136 Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 38.

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Regionen aber auch in gemischt-konfessionelle Gruppen oder anderen Formen der konfessionellen Kooperation erteilt werden kann. Die konfessionelle Homogenität der Schüler lässt sich aus dem Verfassungsrechtsbegriff Religionsunterricht nicht als zwingend herleiten. Vom deutschen Verfassungsrecht her ist für die Konfessionalität nicht die Trias von Lehre, Lehrer und Schüler nötig, sondern die konfessionelle Bindung der Lehre und der Lehrer sichert die notwendige Konfessionalität des Religionsunterrichts. Die Teilnahme von Schülern, die nicht der den Religionsunterricht erteilenden Konfession angehören, ist möglich, solange seine konfessionelle Prägung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht ist aufgrund seiner in der Wurzel konfessionellen Erteilung mit dem Konfessionalitätsprinzip des Art. 7, 3 GG vereinbar. Die kirchliche Rechtsordnung steht einer solchen Teilnahme nicht entgegen, sondern geht implicite von der konfessionellen Homogenität der Schüler aus. Sie verbietet demnach die Teilnahme anderer nicht, gebietet sie aber auch nicht, sondern ermöglicht die Zulassung dieser Schüler. Vor dem Hintergrund, dass das neue Dokument der DBK zum Religionsunterricht von 2016 sich als Ergänzung und nicht als Ersetzung aller bisherigen Dokumente der DBK zum Religionsunterricht versteht, wird in Regionen, in denen konfessionell homogene Schülergruppen gebildet werden können, diese Gruppen die Regel bleiben. Dies schließt aber konfessionelle Kooperation sowie interreligiöses Lernen nicht aus, sondern ein. Auch diese Regelform des Religionsunterrichts soll demnach die Chancen der Formen konfessioneller Kooperation in ihren Möglichkeiten nutzen, wie sie die Vereinbarung der DBK und der EKD von 1998 vorsieht. Das Dokument hält klar an der Konfessionalität der Lehre und der Lehrer fest. Die Konfessionalität der Schüler als drittes Element der Trias wird implicite ebenso vorausgesetzt. Allerdings sieht das Dokument hier eine notwendige Flexibilität, um verschiedenen Situationen in der Diaspora oder im Berufs- und Förderschulbereich bzw. bei Problemen, die Mindestschülerzahlen zu erfüllen, adäquat gerecht zu werden. So kann ein Handeln im rechtlichen Graubereich vermieden werden. Dies zeigt sich in der Möglichkeit gemischt-konfessioneller Gruppen. Hier lässt das Dokument auch die Teilnahme katholischer Schüler am konfessionellen evangelischen Religionsunterricht zu. Es ist das Verdienst des Dokuments, keine Form der Kooperation zu präferieren, sondern für unterschiedliche Situationen unterschiedliche Lösungen vorsehen zu können. Eine flächendeckende Einrichtung konfessionell-gemischter Gruppen unabhängig von einer situativen Notwendigkeit würde dem aktuellen Stand der Ökumene auch nicht entsprechen und eine Übereinstimmung in den Grundsätzen gegenüber dem Staat signalisieren, die so nicht gegeben ist. Hier bestünde auch die Gefahr, nur aus schulorganisatorischen Gründen die Regelform des konfessionellen Religionsunterrichts auszuhöhlen. Dies würde dem Staat ökonomische Sparpotentiale signalisieren, die ökumenisch so nicht gegeben und rechtlich im Sinne eines überkonfessionellen Religionsunterrichts nicht möglich sind. Im Gegenteil kann ein konfessionell-kooperativer Unterricht etwa bei Teamteaching etc. sogar kostenintensiver sein. Hier ist auch auf der Ebene der Lehrerbildung noch ein hohes Entwicklungsund Ausbaupotential zu heben, wie das Dokument zu Recht in Erinnerung ruft. Es

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geht beim konfessionell-kooperativem Religionsunterricht nicht um die Fusion der beiden Fächer, die einen Dialog überflüssig machen würde. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht trägt dazu bei, das Profil der eigenen Konfession bewusst zu machen und zu schärfen und die Positionen anderer Konfessionen wahrnehmen und verstehen zu können. Insofern ist Vorsicht vor vorschnellen oder unterkomplexen Urteilen geboten. Die Möglichkeit in manchen Situationen gemischt-konfessionelle Gruppen einzurichten, sichert, dass Religionsunterricht stattfindet und nicht entfällt. Dass dieser Religionsunterricht aber nicht nur bestimmte Klassenstufen, sondern auch die ganze Schullaufbahn eines Schülers prägen könnte und der Schüler dann keinen Lehrer seiner Konfession erlebt hätte, ist aus der Perspektive des Kirchen- und Religionsrechts weder ein Idealfall noch ein Regelfall, sondern steht in Spannung zu den rechtlichen Vorgaben. Denn der Religionsunterricht dient aufseiten des Religionsrechts der Verwirklichung der positiven Religionsfreiheit der Schüler bzw. des elterlichen Rechts auf religiöse Erziehung. Vonseiten des kirchlichen Rechts ist der Religionsunterricht ebenso ein Mittel der katholischen Erziehung. Das kirchliche Recht begründet den Religionsunterricht vom Ort der Schule und vom schulischen Bildungsauftrag her, den der Religionsunterricht mit zu erfüllen sucht. Er ist vor diesem Hintergrund ein Mittel des Verkündigungsdienstes der Kirche, das von der Katechese in aller Klarheit zu unterscheiden ist.137 Vor diesem Hintergrund, dass ein Schüler in seiner gesamten Schullaufbahn nie Religionsunterricht seiner Konfession erleben würde, ist aus rechtlicher Sicht evtl. die Bildung eines schul- bzw. jahrgangsübergreifenden konfessionellen Religionsunterrichts geboten. Das Dokument sieht diesen kritisch, wenn er etwa im Pfarrhaus erteilt wird. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass dieser zum einen auch im Raum einer Schule erteilt werden kann und selbst, wenn er außerschulisch erteilt wird, Religionsunterricht nach Art. 7, 3 GG darstellt. Konfessionalität ist nicht mit Konfessionalismus zu verwechseln. Konfessionellem Religionsunterricht ist eine ökumenische und interreligiöse Dimension inhärent. Dennoch ist „ein authentischer und fruchtbarer Dialog und Perspektivenwechsel […] nur von einem eigenen klaren Standpunkt und nicht von einer metatheoretischen Vogelperspektive aus möglich“.138 Die fortschreitende Einführung von islamischem Religionsunterricht zeigt, dass Art. 7, 3 GG kein Privileg der Kirchen darstellt und dass der konfessionelle Religionsunterricht Zukunft hat. Die Konfessionalität ist daher das Dialogprinzip eines Religionsunterrichts für die Zukunft, der den rechtlichen Rahmen beachtet und zugleich dessen Spielräume nutzt.

137 138

Vgl. dazu Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 105 – 149. Meckel, Religionsunterricht (Anm. 6), S. 367.

Schulische Integration und elterliches Erziehungsrecht Die Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen nach den „Burkini-Entscheidungen“ von BVerwG, BVerfG und EGMR Von Arnd Uhle

I. Einleitung Im wissenschaftlichen Œuvre von Ludger Müller nehmen nicht nur kirchenrechtliche Grundsatzfragen und Themen der kirchlichen Rechtsgeschichte einen breiten Raum ein, sondern auch Fragestellungen, die das Verhältnis von Kirche und Staat betreffen. Das gilt gleichermaßen für die Grundsätze dieses Verhältnisses wie auch für deren bereichsspezifische Konkretisierungen, namentlich in der öffentlichen Schule und hier wiederum insbesondere im Religionsunterricht.1 Indes gewinnen staatskirchenrechtliche Fragestellungen in der öffentlichen Schule seit längerem verstärkt auch außerhalb des konfessionellen Religionsunterrichts an Aktualität. Dies gründet vor allem in der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralität und ihren schulischen Auswirkungen. Denn in deren Konsequenz tritt nicht nur die Relevanz einer gelingenden Integration im Allgemeinen und die Bedeutung der schulischen Integrationsfunktion im Besonderen deutlich sichtbarer als in der Vergangenheit hervor; vielmehr richtet sich der Blick verstärkt auch auf die Bedingungen gelingender Integration in der öffentlichen Schule.2 Zu diesen Bedingungen zählt zentral die Inanspruchnahme des schulischen Bildungs- und Erziehungsangebots durch die Schüler, die durch die Anordnung der all1

Aus der Vielzahl der Arbeiten Ludger Müllers seien hierfür stellvertretend hervorgehoben: Freiheit, Kooperation, Vielfalt. Prinzipien des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.), Berechtigte Hoffnung. Über die Möglichkeit, vernünftig und zugleich Christ zu sein, Paderborn 1995, S. 275 – 291; ders./ Stephan Leimgruber, Religionsunterricht zwischen Norm und Wirklichkeit, Paderborn 2000; ders., Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im säkularen Staat. Das Beispiel Österreich, in: Libero Gerosa/ders. (Hrsg.), Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, Paderborn 2014, S. 133 – 143. 2 Zur Renaissance der inneren Integration im Verfassungsstaat Arnd Uhle, Innere Integration, in: HStR3 4, § 82, Rdnrn. 35 ff., zur staatlichen Einflussnahme auf die Integration in der öffentlichen Schule Rdnrn. 63 u. 74 f.

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gemeinen Schulpflicht gesichert wird.3 Deren Realisierung sieht sich in der schulischen Praxis immer wieder vor die Frage gestellt, welche Ausnahmen mit dem Ziel einer wirksamen Integration in der öffentlichen Schule vereinbar sind. Angesichts dessen ist die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen beansprucht werden kann, nicht nur für die Religionsfreiheit der Schüler sowie für das elterliche Recht zur religiösen Kindererziehung, sondern auch für die Verwirklichung der schulischen Integrationsfunktion von weitreichender Bedeutung.4 Das gilt gleichermaßen für eine Unterrichtsbefreiung in Gestalt der Freistellung vom Besuch bestimmter Schulfächer wie auch in Gestalt einer Dispens von einzelnen schulischen Veranstaltungen. Gleichwohl ist die Schulpraxis dem Wunsch nach religiös motivierter Unterrichtsbefreiung über einen längeren Zeitraum hinweg mit Nachsicht und Entgegenkommen begegnet, unabhängig davon, ob dieser von den betroffenen Schülern selbst oder von deren Eltern vorgebracht worden ist. Das Ziel dieser in ihrer Tendenz großzügigen Praxis bestand darin, eine möglichst weitreichende Grundrechtsverwirklichung der Schüler und Eltern auch in der öffentlichen Schule zu ermöglichen. So sind insbesondere im Falle des koedukativ durchgeführten Sport- und Schwimmunterrichts Befreiungen vielfach generös gewährt oder Organisationsformen gewählt worden, in denen dieser getrennt nach Geschlechtern durchgeführt wird. In der verwaltungsgerichtlichen Judikatur ist diese Praxis zunächst wiederholt gebilligt worden. So urteilte das Verwaltungsgericht Köln 1990 im Falle einer zehnjährigen muslimischen Schülerin, dass eine Befreiung vom obligatorischen Schwimmunterricht

3 Zu ihrer verfassungsrechtlichen Statthaftigkeit aus der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung BVerfGE 34, 165 (187); BVerfG (K), NJW (1987), 180; BVerfG (K) 1, 141 (143 f.); BVerfG (K) 8, 151 (155); zuletzt so auch BVerfG (K), NJW (2009), 3151 (3152); BVerfG (K), NJW (2015), 44 (47); aus der verwaltungsgerichtlichen Judikatur BVerwG, NVwZ 1992, 370; BVerwGE 94, 82 (84); BVerwG, NVwZ 2010, 525 (525 f.); BVerwGE 147, 362 (366, Rdnr. 13); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (239, Rdnr. 21); aus dem Schrifttum Hans Hofmann, Art. 7, Rdnrn. 4 f., in: GG, hrsg. v. Bruno Schmidt-Bleibtreu/Hans Hofmann/HansGünter Henneke, Berlin 201413; Arnd Uhle, Art. 7, Rdnr. 20, in: GG, hrsg. v. Volker Epping/ Christian Hillgruber, München 20132 ; Matthias Jestaedt, Art. 6 Abs. 2 u. 3, Rdnr. 349, in: BK, hrsg. v. Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Stand: 182. Erg.-Lfg. Dezember 2016); Peter Badura, Art. 7, Rdnrn. 54 f., in: GG, hrsg. v. Theodor Maunz/Günter Dürig (Stand: 78. Erg.-Lfg. September 2016); kritisch gegenüber der Schulpflicht Erich Bärmeier, Das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit und die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Schulehaltens, in: RdJB 1993, S. 80 – 91, hier S. 88 f.; Karl Eckhart Heinz, Elternrecht und deutsche Schulgesetze, in: NWVBl 2007, S. 128 – 133, hier S. 128; John Philipp Thurn/Franz Reimer, Homeschooling als Option?, in: NVwZ 2008, S. 718 – 722, hier S. 721 f.; Ermano Geuer, in: VR 2011, S. 298 – 302, bes. S. 300 f.; kritisch zur jüngeren Kammerjudikatur des BVerfG auch Hermann Avenarius, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule, in: NZFam 2015, S. 342 – 346, hier S. 343; vgl. auch Tobias Handschell, Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, Baden-Baden 2012, S. 123 – 197. 4 Arnd Uhle, Integration durch Schule. Die Urteile des BVerwG in den Verfahren „Burkini“ und „Krabat“ (6 C 25/12 und 6 C 12/12), in: NVwZ 2014, S. 541 – 548, hier S. 542.

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geboten sei.5 1993 erkannte das Bundesverwaltungsgericht einer zwölfjährigen muslimischen Schülerin in einer Grundsatzentscheidung einen Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht zu, solange dieser nicht nach Geschlechtern getrennt angeboten werde.6 2002 bewertete das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen die religiös begründeten Ängste einer muslimischen Schülerin der 10. Klasse gegenüber einer gemeinsamen Klassenfahrt von Mädchen und Jungen als einen Zustand, der „bereits Krankheitswert“ erreiche und bejahte, dass sie „wegen Erkrankung“ an der Teilnahme an der Klassenfahrt gehindert sei.7 Diese tendenziell weitreichende Hinnahme von Unterrichtsbefreiungen durch Schulpraxis und Rechtsprechung ist unter dem Eindruck des gesellschaftlichen Pluralisierungsschubs zunehmend auf Kritik gestoßen. So ist unter anderem darauf hingewiesen worden, dass eine allzu weit ausgreifende Großzügigkeit bei der Unterrichtsbefreiung mit der Gefahr verbunden sein kann, die Verwirklichung des grundgesetzlichen Integrationsauftrages in der Schule zu erschweren.8 Zudem ist unter dem Aspekt der Gleichbehandlung zu Recht kritisiert worden, dass in dem Bemühen, namentlich muslimischen Schülern mit Dispensen entgegenzukommen, vereinzelt die Tendenz sichtbar geworden ist, eher ihnen Ausnahmen von obligatorischen Unterrichtsveranstaltungen zu gewähren als andersgläubigen, insbesondere christlichen Schülern.9 Diese Kritik hat in der Rechtsprechung ebenso Widerhall gefunden wie die zunehmende Verbreitung des sog. Burkinis.10 So entschied das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen 2009, dass eine neunjährige Schülerin verpflichtet sei, den schulischen Schwimmunterricht zu besuchen, da ihr mit dem Burkini eine zumutbare und den islamischen Bekleidungsvorschriften entsprechende Schwimmbekleidung zur Verfügung stehe.11 Wenige Wochen später lehnte es den Antrag der El5 VG Köln, KirchE 28, 188 (192). – Demgegenüber entschied das VG Düsseldorf im Jahre 2005, dass ein solcher Befreiungsanspruch vom Schwimmunterricht für muslimische Jungen der fünften Klasse nicht bestehe (VG Düsseldorf, NWVBl. 2006, 68 = KirchE 47, 219). 6 BVerwGE 94, 82 (83 ff., bes. 88). 7 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 2003, 1754 m. krit. Anm. Stephan Rixen, Krankheit oder Glaubensfreiheit?, NJW 2003, S. 1712 – 1715. 8 Dazu Uhle (Anm. 3), Art. 7, Rdnr. 31 a. E. 9 Sichtbar geworden ist eine solche Tendenz insbesondere in zwei bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die ebenso durch ihre zeitliche Koinzidenz wie durch ihre Divergenz im Ergebnis gekennzeichnet sind: s. dazu BVerwGE 94, 82 (83 ff.) einerseits u. BVerwG, NVwZ-RR 1994, 234 andererseits. Zu Recht kritisch zur inhaltlichen Divergenz Stefan Mückl, Religionsfreiheit und Sonderstatusverhältnisse – Kopftuchverbot für Lehrerinnen?, in: Der Staat 40 (2001), S. 96 – 127, hier S. 104; Markus Thiel, Art. 7, Rdnr. 18 mit Anm. 58, in: GG, hrsg. v. Michael Sachs, München 20147; ebenso bereits Uhle (Anm. 3), Art. 7, Rdnr. 31 a. E. 10 Zu den Auswirkungen der Verbreitung des Burkinis und des Hijoods auf Wünsche nach Unterrichtsbefreiung Thorsten Anger, Sport und Islam in der Schule – Bewegung im Verhältnis von Recht und Religion, NWVBl. 2013, S. 96 – 99, bes. S. 98 f.; zum Burkini vgl. auch Björnstjern Baade, Der Burkini als Technological Fix (online verfügbar unter: http://verfas sungsblog.de/der-burkini-als-technological-fix/ [Stand: 31. 03. 2017]). 11 OVG NW, NWVBl. 2009, 394 (Ls. 3, 395) = KirchE 53, 333 (Ls. 3, 338).

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tern einer muslimischen Schülerin ab, die trotz einer bei Aufnahme in die Schule von ihnen unterzeichneten Einverständniserklärung, ihr Kind am koedukativen Schulunterricht teilnehmen zu lassen, einen Antrag auf Unterrichtsbefreiung stellten.12 Dem folgte 2012 ein Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen, der bestimmte, dass Mädchen muslimischen Glaubens im Grundschulalter grundsätzlich keinen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht hätten.13 Im gleichen Jahr lehnte der Hessische Verwaltungsgerichtshof für Mädchen im Alter von elf Jahren einen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht ab, wenn die betreffende Schülerin am Schwimmunterricht in einer muslimischen Bekleidungsvorschriften gerecht werdenden Schwimmbekleidung teilnehmen könne und ihr das Tragen einer solchen Schwimmbekleidung zumutbar sei.14 Nachdem auf diese Weise bereits in einigen verwaltungsgerichtlichen Einzelentscheidungen die Schulpflicht stärker akzentuiert worden und das Bestreben deutlich geworden war, bei der Entscheidung über Dispensierungen stärker als bislang die integrative Kraft der öffentlichen Schule zu berücksichtigen und Unterrichtsbefreiungen zu vermeiden, die der schulischen Integrationsfunktion übermäßig zuwiderlaufen, hat 2013 zunächst das Bundesverwaltungsgericht in zwei Grundsatzurteilen eine Neujustierung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen vorgenommen und einer restriktiveren Handhabung von Befreiungswünschen den Weg geebnet (hierzu s. u. II.).15 Die gegen eines dieser Urteile eingelegte Verfassungsbeschwerde hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts Ende 2016 wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen, seinen Nichtannahmebeschluss indes – trotz der Möglichkeit, von dessen Begründung abzusehen – bemerkenswerterweise schriftlich begründet (hierzu s. u. III.).16 Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Anfang 2017 in einem Urteil die Ablehnung des religiös motivierten Wunsches nach Befreiung vom koedukativ durchgeführten Schwimmunterricht im Interesse der schulischen Integrationsfunktion gebilligt (hierzu s. u. IV.).17 In ihrer Tendenz stimmen die drei Entscheidungen trotz Unterschieden in Form, Entscheidungstiefe und Kontext darin überein, die Integration in der öffentlichen Schule deutlicher als bislang zu akzentuieren, ihre Verwirklichung durch Betonung der Schulpflicht stärker zu fördern und ihre Sicherung als Rechtfertigung für eine zurückhaltende Behandlung der Wünsche nach Unterrichtsbefreiungen zu akzeptieren (hierzu s. u. V.). In ihrer Summe bilden die Judikate den vorläufigen Schlusspunkt einer Rechtsprechung, die nicht nur von grundsätzlicher schul- und staatskirchenrechtlicher Bedeutung, sondern auch von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist (hierzu s. u. VI.). 12

OVG NW, KirchE 53, 444. OVG Bremen, NVwZ-RR 2012, 842 (Ls., 843) = KirchE 59, 405 (Ls., 411). 14 VGH Hessen, ESVGH, 63, 110 (Ls., 116) = KirchE 60, 162 (Ls., 168). 15 BVerwGE 147, 362; BVerwG, NVwZ 2014, 237. 16 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227. 17 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12).

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II. Die „Burkini/Krabat-Rechtsprechung“ des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2013 Die Grundsatzurteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2013 stellen nicht nur gegenüber der bis dahin vorherrschenden Schulpraxis und der sie begleitenden verwaltungsgerichtlichen Judikatur deutlich erhöhte Anforderungen an eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen, sondern markieren auch eine Neujustierung der bundesverwaltungsgerichtlichen Judikatur selbst. Während hierbei das „Burkini-Verfahren“ die Pflicht einer muslimischen Schülerin zur Teilnahme am koedukativ durchgeführten Schwimmunterricht in einer muslimischen Bekleidungsvorschriften entsprechenden Badebekleidung betrifft,18 hat das Urteil im „Krabat-Verfahren“ die Frage zum Gegenstand, ob es Eltern, die den Zeugen Jehovas angehören, zuzumuten ist, dass ihre Kinder im Rahmen des schulischen Unterrichts eine Spielfilmvorführung besuchen, in dem die Anwendung schwarzer Magie dargestellt wird.19 Beide Fälle misst das Bundesverwaltungsgericht an einheitlichen Entscheidungsmaßstäben, die es zu dem Ergebnis führen, dass weder wegen der Religionsfreiheit der Schülerin im Fall des „Burkini-Verfahrens“ noch wegen des religiösen Erziehungsrechts der Kläger im „Krabat-Verfahren“ ein Anspruch auf eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen folgt.

18 BVerwGE 147, 362. Hierzu aus dem Schrifttum Stefan Muckel, Keine Befreiung einer muslimischen Schülerin vom koedukativen Schwimmunterricht, in: JA 2014, S. 234 – 236; ders., Befreiung von der Teilnahme an einer Schulveranstaltung aus religiösen Gründen – Kinofilm „Krabat“, in: JA 2014, S. 232 – 234; Markus Winkler, Anmerkung zum Urteil des BVerwG vom 11. 09. 2013 (6 C 25/12), in: JZ 2014, S. 143 – 144; Karl-Heinz Ladeur, Die „Burkini“-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: Die Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht ist mit Art. 4 Abs. 1 GG grundsätzlich vereinbar, in: RdJB 2014, S. 266 – 269; Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), hier S. 542 ff.; Stefan Huster, Endlich: Abschichtung statt Abwägung, in: DÖV 2014, S. 860 – 866; Friedhelm Hufen, Religionsfreiheit in der Schule, in: JuS 2014, S. 379 – 381; Hermann Avenarius, Allgemeine Schulpflicht und Privatschulfreiheit – Zur Integrationsfunktion der öffentlichen und der privaten Schule, in: Max-Emanuel Geis/Markus Winkler/Christian Bickenbach (Hrsg.), Von der Kultur der Verfassung. FS Hufen (70), München 2015, S. 265 – 275, hier S. 268 ff.; Tristan Barczak, Die Entwicklung des Schulverwaltungs- und Schulverfassungsrechts seit dem Jahr 2010, in: NVwZ 2014, S. 1556 – 1563, hier S. 1557. Das Urteil bestätigt im Ergebnis die ihm vorausgegangenen Entscheidungen des VG Frankfurt (Urteil vom 26. 04. 2012, Az. 5 K 3954/ 11.F = BeckRS 2013, 58069) und des VGH Hessen (ESVGH 63, 110 = KirchE 60, 162), welche die Klage einer muslimischen Schülerin zum Gegenstand hatten, mit der sich diese gegen die Ablehnung ihres Antrags wandte, in der 5. Jahrgangsstufe vom koedukativ durchgeführten Schwimmunterricht befreit zu werden. 19 BVerwG, NVwZ 2014, 237. Auch zu dieser Entscheidung Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 546 f. Dem Urteil lag ein Verfahren zugrunde, das zunächst vor dem VG Münster (Urteil vom 12. 02. 2010, Az. 1 K 528/09 = BeckRS 2010, 46738) erfolglos geblieben, vor dem OVG Münster (NWVBl. 2012, 235) indes erfolgreich war. Es wurde betrieben von den Eltern eines Schülers, die – ebenso wie ihr Sohn – den Zeugen Jehovas angehörten und die sich gegen die Ablehnung ihres Antrags wandten, ihren Sohn von der Teilnahme an der Vorführung des Films Krabat zu befreien.

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1. Grundsatz: Anspruch auf Unterrichtsbefreiung nur in Ausnahmefällen In seiner Begründung geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass zwar die Ablehnung eines religiös fundierten Antrags auf Unterrichtsbefreiung in die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Religionsfreiheit der Schülerin bzw. in das religiöse Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 GG eingreift. Doch da diese Rechtspositionen durch das in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen beschränkt würden, seien sie nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz in ein angemessenes, ausbalanciertes Verhältnis zueinander zu bringen. Das erfordere bereits auf abstrakt-genereller Ebene „wechselseitige Relativierungen“ der genannten Verfassungspositionen und führe zu dem Befund, dass seitens eines einzelnen Schülers oder einzelner Eltern als maßgeblich erachtete religiöse Verhaltensgebote zwar nicht als prinzipiell unbeachtlich behandelt werden dürften, Schüler und Eltern aber nur in Ausnahmefällen einen Anspruch auf Dispensierung vom Unterricht geltend machen könnten.20 Seinen Grund habe dies, so das Bundesverwaltungsgericht, in dem schulischen Bildungsauftrag, vor allem aber in der besonderen Bedeutung der Schule für den „Zusammenhalt der Gesellschaft“: Die Schule solle „unter den von ihr vorgefundenen Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten ,Bürgern‘ heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen.“ Für die Erfüllung dieser Aufgabe sei der Staat ergänzend zur Statuierung einer allgemeinen Schulpflicht darauf angewiesen, „das Bildungs- und Erziehungsprogramm für die Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen der beteiligten Schüler und ihrer Eltern anhand eigener inhaltlicher Vorstellungen bestimmen zu können.“ Denn die Bildungs- und Integrationsfunktion der öffentlichen Schule werde nur unvollkommen zu realisieren sein, wenn der Staat die Schul- und Unterrichtsgestaltung „auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Vorstellungen der Beteiligen“ ausrichten müsste, da er in diesem Falle durch kollidierende Erziehungsansprüche Einzelner und grundrechtliche Vetopositionen „vielfach blockiert“ werde.21 Indes steht auch dem Bundesverwaltungsgericht vor Augen, dass die auf diese Weise begründete Einschränkbarkeit der Religionsfreiheit und des religiösen Erziehungsrechts durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen nicht überdehnt werden darf. Daher, so seine Schlussfolgerung, sei der Staat gehalten, sich in der Schule nicht ohne Weiteres über individuell als verbindlich erachtete religiöse Verhaltensregeln hinwegzusetzen. Die Verfassung gehe – anders als im jüngeren Schrifttum aufgrund eines unzutreffend angenommenen Vorrangs von Art. 7 Abs. 1 GG in

20

BVerwGE 147, 362 (365, Rdnr. 12); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (239, Rdnr. 20). BVerwGE 147, 362 (366, Rdnr. 13); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (239, Rdnr. 21); Zustimmung zu dieser Akzentuierung der schulischen Integrationsfunktion bei Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 544. 21

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der Schule zum Teil behauptet22 – nicht davon aus, dass der Staat „im Sinne eines Modells weitgehender kompetenzieller Abschichtung im schulischen Bereich jeglicher Verpflichtung durch Art. 4 Abs. 1 GG bzw. durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 GG ledig wäre.23 Gleichwohl seien, so das Bundesverwaltungsgericht, einer staatlichen Rücksichtnahme auf die Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht ihrerseits Grenzen gesetzt, weil eine kategorische Beachtung aller religiösen Verhaltensgebote und Erziehungswünsche auf einen prinzipiellen Vorrang jeder individuellen Glaubensposition und jedes Elternwunsches vor dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen hinausliefe und sich die Schule dann mit Unterrichtsgestaltungen zu begnügen habe, die von sämtlichen Glaubensstandpunkten aus akzeptabel erschienen. Das wiederum sei in einer religiös pluralen Gesellschaft weder praktisch möglich noch im Lichte der schulischen Integrationsfunktion verfassungsrechtlich intendiert. Angesichts dessen dürfe, so die zweite zentrale Aussage der beiden Urteile, die Befreiung von einzelnen Unterrichtseinheiten „nicht als routinemäßige Option der Konfliktauflösung fungieren“: Sei „die staatliche Pflicht zur Rücksichtnahme auf religiöse Belange aus Gründen der Praktikabilität und insbesondere auch aufgrund der Integrationsfunktion der Schule im Prinzip begrenzt“, so folge hieraus für alle Beteiligten, dass sie „in einem bestimmten Umfang Beeinträchtigungen ihrer religiösen Überzeugungen als typische, von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen [hätten]“. Eine Unterrichtsbefreiung habe demzufolge die Ausnahme zu bleiben. Auf diese Weise werde sichergestellt, dass der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, der auch für die öffentliche Schule im Grundsatz nicht disponibel sei, „gleichmäßig gegenüber sämtlichen Schülern“ erfüllt werde.24 In Umsetzung dieser Grundsätze ist dem Bundesverwaltungsgericht zufolge bei Auftreten eines konkreten Konflikts zunächst zu klären, ob unter Rückgriff auf organisatorische oder prozedurale Gestaltungsoptionen „eine nach allen Seiten hin annehmbare, kompromisshafte Konfliktentschärfung im Bereich des Möglichen liegt, die beiden Positionen auch in Bezug auf den Einzelfall Wirksamkeit verschaffen und eine regelrechte Vorrangentscheidung so verzichtbar erscheinen lässt“.25 Erweist sich dies indes als unmöglich, soll entscheidend sein, ob die begehrte Unterrichtsbefrei-

22 So etwa Stefan Huster, Staatliche Neutralität und schulische Erziehung. Einige Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher und sozialphilosophischer Sicht, in: Neue Sammlung 41 (2001), S. 399 – 424, hier S. 406 f. u. 415; Thiel (Anm. 9), Art. 7, Rdnr. 36. Dagegen bereits Uhle (Anm. 3) Art. 7, Rdnr. 25 m. w. N. 23 BVerwGE 147, 362 (368, Rdnr. 15); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (240, Rdnr. 23). Als Vertreter des Abschichtungsmodells erklärt Huster (Anm. 18), S. 865, diese dezidierte Festlegung kurzerhand zu einem „Selbstmissverständnis des Bundesverwaltungsgerichts“. 24 BVerwGE 147, 362 (369, Rdnr. 17); nahezu wortgleich BVerwG, NVwZ 2014, 237 (240, Rdnr. 25); zustimmend Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 545. 25 BVerwGE 147, 362 (369 f., Rdnr. 18); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (240 f., Rdnr. 26).

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ung für den Grundrechtsschutz des Schülers bzw. der Eltern unerlässlich ist.26 Für die diesbezügliche Prüfung entwickelt das Gericht im Folgenden mehrere Leitlinien, die weitere Kernaussagen der beiden Urteile bilden.27 So dürfe zunächst das Vorliegen eines Ausnahmefalls nicht bereits deshalb angenommen werden, weil ein Befreiungsverlangen nur von einem einzelnen Schüler bzw. nur von einzelnen Eltern in einer bestimmten Situation geltend gemacht werde. Andernfalls drohe die Gefahr, dass der hierin zum Ausdruck gelangende Vorrang der Glaubensfreiheit bzw. des religiösen Erziehungsrechts der Eltern auch in vergleichbar gelagerten Konstellationen, die in ihrer Summe die Wahrnehmung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags deutlich stärker beeinträchtigen könnten, in Anspruch genommen werde. Das sei in die rechtliche Betrachtung des jeweiligen Einzelfalles mit einzubeziehen. Es komme daher darauf an, „ob das in Rede stehende Individualinteresse das gegenläufige Allgemeininteresse auch dann überwiegt, wenn es unter vergleichbaren Umständen mehrfach bzw. von einer Vielzahl von Grundrechtsträgern geltend gemacht, d. h. als allgemeine Maxime der Rechtsanwendung ins Auge gefasst wird.“28 Zudem könne eine Unterrichtsbefreiung regelmäßig auch nicht hinreichend damit begründet werden, dass ein Befreiungsverlangen nur eine einzelne Unterrichtsstunde bzw. eine überschaubare Zahl von Unterrichtseinheiten betreffe, weil das auf eine unzulässige Ausblendung der Integrationsfunktion der Schule hinauslaufe. Diese fordere, dass die Schüler grundsätzlich an sämtlichen schulischen Veranstaltungen teilnähmen, denn „nur die permanente, obligatorische Teilhabe am Schulunterricht unter Hintanstellung aller entgegenstehenden individuellen Präferenzen gleich welcher Art“ sei geeignet, „jenen gemeinschaftsstiftenden Effekt zu erzeugen […], der mit der Schule bezweckt wird und der die Einführung der staatlichen Schulpflicht zu wesentlichen Anteilen legitimiert“. Von der Schulpflicht seien daher „auch solche Unterrichtseinheiten nicht ausgenommen, die nur einen begrenzten Umfang aufweisen [würden] oder deren Bildungsertrag den Betroffenen gering erscheine“.29 Für die Beantwortung der Frage, wann vor diesem Hintergrund eine Unterrichtsbefreiung beansprucht werden könne, stellt das Bundesverwaltungsgericht auf das sachliche Gewicht der Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit bzw. des religiösen Erziehungsrechts im Einzelfall ab. Hierbei geht es davon aus, dass ein Anspruch auf Unterrichtsbefreiung grundsätzlich nur dann gerechtfertigt sein kann, „wenn die Beeinträchtigung den Umständen nach eine besonders gravierende Intensität aufweist“, denn nur unter dieser Voraussetzung sei „die rechtliche Wertung plausibel, dass die grundrechtliche Belastung durch die Verfassung nicht von vornherein in Art. 7 Abs. 1 GG einberechnet ist.“ Sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, komme dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag Vorrang zu: „Einer weitergehen26

BVerwGE 147, 362 (370 f., Rdnr. 18); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241, Rdnr. 26). BVerwGE 147, 362 (370 ff., Rdnrn. 19 ff.); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241 ff., Rdnrn. 27 ff.). 28 BVerwGE 147, 362 (371, Rdnr. 19); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241, Rdnr. 27). 29 BVerwGE 147, 362 (371, Rdnr. 20); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241, Rdnr. 28). 27

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den Abwägung bedarf es dann nicht mehr; über die Zuordnung der konkurrierenden Positionen ist dann bereits abschließend, auf abstrakt-genereller Ebene durch die Verfassung entschieden.“30 Liege demgegenüber eine besonders gravierende Beeinträchtigung religiöser Belange vor, führe freilich auch „dies noch nicht automatisch zu einem Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts.“ Zwar weise der konkret zutage tretende Konflikt in diesem Falle ein Ausmaß auf, „das oberhalb der durch die Verfassung in Art. 7 Abs. 1 GG abstrakt einberechneten Belastungsschwelle liegt“, doch für die Frage, welcher konfligierenden Position Vorrang zukomme, lasse „sich der Verfassung keine vorgefasste Antwort entnehmen.“31 Hier bedürfe es daher einer weitergehenden Abwägung. Eine für den Vorrang der religiösen Position vorauszusetzende besonders gravierende Intensität der Beeinträchtigung der Religionsfreiheit bzw. des religiösen Erziehungsrechts der Eltern komme hierbei „überhaupt nur in Betracht, sofern ein religiöses Verhaltensgebot aus Sicht des Betroffenen imperativen Charakter aufweist“, nicht aber, soweit eine religiöse Überzeugung „lediglich in nicht abschließend bindender Weise Orientierung und Anleitung für eine in religiöser Hinsicht optimierte Lebensführung“ vermittle. Diesbezüglich sei es Aufgabe der Verwaltung wie des Tatrichters, auf Grundlage der Angaben des Betroffenen, die zu machen diesem oblägen, aufzuklären, welcher Stellenwert einem imperativ bindenden religiösen Verhaltensgebot aus Sicht des Betroffenen „im Rahmen des Gesamtgerüstes seiner Glaubensüberzeugung“ zukomme. Durchaus denkbar sei, dass einzelne religiöse Verhaltensgebote für den Betroffenen einen so untergeordneten Stellenwert besitzen würden, dass dieser sich nicht „in eine glaubensbedingte Gewissensnot gravierenden Ausmaßes“ versetze, wenn er sie in einer Konfliktlage vernachlässige, um auf diese Weise einem entgegenstehenden staatlichen Normbefehl Folge leisten zu können.32 2. Anwendung auf die zu entscheidenden Einzelfälle Es vermag kaum zu überraschen, dass das Bundesverwaltungsgericht auf der Grundlage dieser Grundsätze für die beiden konkret zu entscheidenden Fälle annimmt, dass sich das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen im Konflikt mit der Religionsfreiheit der Schülerin bzw. dem Erziehungsrecht der Eltern durchsetzt. So lehnt es im „Burkini-Urteil“ einen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht mit der Begründung ab, dass die Schülerin dem von ihr als verbindlich erachteten Gebot, ihren Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu bedecken, durch das von der Schule unterbreitete Angebot der Unterrichtsteilnahme in einem Burkini habe entsprechen können. Indes habe sie 30

BVerwGE 147, 362 (372, Rdnr. 21 – Hervorhebung im Original); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241, Rdnr. 29); kritisch zu diesem Entfall der Einzelfallabwägung Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 545 f. 31 BVerwGE 147, 362 (372, Rdnr. 21); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (241, Rdnr. 29). 32 BVerwGE 147, 362 (373 f., Rdnr. 22); BVerwG, NVwZ 2014, 237 (242, Rdnr. 30).

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dieses Angebot ausgeschlagen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum sie selbst bei Anlegen eines Burkinis nicht hinreichend ihren religiösen Überzeugungen folgen könnte.33 Auch soweit die Klägerin Bezug auf das Glaubensgebot nehme, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren, sei eine Unterrichtsbefreiung zu versagen: Denn das von der Klägerin geltend gemachte Glaubensgebot laufe darauf hinaus, vom Anblick einer Bekleidungspraxis verschont zu werden, die auch außerhalb der Schule zum allgemein akzeptierten Alltagsbild und damit zur sozialen Realität gehöre. Eine Ausblendung eines Ausschnitts sozialer Realität aber stelle die schulische Integrationsfunktion in ihrem Kern infrage.34 Hinsichtlich des von ihr geltend gemachten Gebotes, keine männlichen Mitschüler zu berühren, sei darauf hinzuweisen, dass eine entsprechende Gefahr durch eine umsichtige Unterrichtsdurchführung seitens der Lehrkräfte wie auch durch zusätzliche eigene Vorkehrungen der Schülerin auf jenes Maß reduziert werden könne, dem sie im Alltag, außerhalb des Schwimmunterrichts, ohnehin ausgesetzt sei.35 Auch in seinem „Krabat-Urteil“ gelangt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen der Vorrang gegenüber dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern gebühre. Zur Begründung führt es aus, dass sich die Konfliktfelder zwischen beiden Positionen potenzierten je weiter eine Glaubensgemeinschaft bzw. der individuelle Grundrechtsträger religiöse Vorgaben „auf alltägliche Verhaltensbezirke ohne unmittelbaren Bezug zum religiösen Bekenntnis, zur Vornahme kultischer Handlungen oder zur Ausübung religiöser Gebräuche“ erstreckten. Dies illustriere in besonders eindrücklicher Weise der in Rede stehende Fall „eines regelrechten Konfrontationsverbots“. Eine verpflichtende Rücksichtnahme der Schule auf einen „derart fundamental gefassten religiösen Bestimmungsanspruch würde die Erfüllung der staatlichen Bildungs- und Erziehungsverantwortung erheblich schwächen und in einen tendenziell unbeschränkten Nachrang gegenüber individuellen religiösen Tabuisierungsvorstellungen versetzen.“ Ein Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts könne bei dieser Sachlage nur dann in Betracht zu ziehen sein, wenn andernfalls das religiöse Erziehungsrecht der Eltern „in seinem Kern“ infrage gestellt würde, wofür im vorliegenden Fall keine ausreichenden Anhaltspunkte vorlägen.36

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BVerwGE 147, 362 (374 f., Rdnr. 24 f.). Hierzu und zum Folgenden BVerwGE 147, 362 (377 f., Rdnr. 30). 35 BVerwGE 147, 362 (378 f., Rdnr. 31). 36 BVerwG, NVwZ 2014, 237 (242, Rdnr. 34).

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III. Der „Burkini-Kammerbeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts von 2016 Die neue Rechtsprechungslinie des Bundesverwaltungsgerichts ist unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung der Entscheidungen zur bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt worden, da gegen das „Burkini-Urteil“ Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist. Dessen Annahme hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch Beschluss vom 8. November 2016 abgelehnt.37 Die Ablehnung gründet auf fehlender Zulässigkeit, die aus der mangelnden Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerin – die neben der Verletzung ihrer Religionsfreiheit auch eine Verletzung des religiösen Erziehungsrechts ihrer Eltern geltend machen wollte – und aus einer mangelnden Substanziierung der Verfassungsbeschwerde resultiert, insbesondere aus einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen der angegriffenen Urteile und einer fehlenden umfassenden einfach- und verfassungsrechtlichen Aufarbeitung der Rechtslage.38 Im Einzelnen führt die Kammer zur Begründung ihres Nichtannahmebeschlusses unter anderem aus, dass nicht plausibel dargelegt worden sei und für sie ganz offensichtlich auch im Übrigen nicht erkennbar ist, weshalb ein Burkini zur Wahrung islamischer Bekleidungsvorschriften nicht genügen soll. Die Kammer verweist diesbezüglich zum einen auf den Vortrag der Beschwerdeführerin selbst, demzufolge insoweit keine verbindlichen Vorschriften im Islam existierten, zum anderen auf die im verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug getroffene Feststellung, nach der Burkinis aufgrund des zu ihrer Herstellung verwendeten Materials auch in nassem Zustand nicht eng an der Haut haften und sich keine Körperkonturen abzeichnen würden. Diesen Erwägungen setze die Beschwerdeführerin, so die Kammer, „nichts Substanzielles“ entgegen.39 Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, warum es ihrer Ansicht nach abweichend von den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen selbstverständlich sein solle, dass sie beim Tragen eines Burkinis damit rechnen müsse, dass dieser verrutsche und bei Bewegungen oder Übungen ihre Körperformen abbilde.40 Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin mit der Rüge, es werde verkannt, dass es ihr im Schwimmunterricht – anders als im sonstigen Alltag – nicht möglich sei, den ihren religiösen Überzeugungen widerstrebenden Anblick leicht bekleideter Männer und Jungen zu vermeiden, an den Gründen der letztinstanzlichen Entscheidung vorbeigehe. Diesbezüglich habe das Bundesverwaltungsgericht ausführlich begründet, dass und aus welchen Gründen die von ihr geltend gemachte Religionsfreiheit insoweit hinter das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen – die Kammer spricht vom „schulischen Wirkungsauftrag“ – zurücktreten müsse.41 Hinsichtlich möglicher 37 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227; dazu Stefan Muckel, Keine Befreiung muslimischer Schülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht, in: JA 2017, S. 236 – 238. 38 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (227 f., Rdnrn. 23 ff.). 39 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 30). 40 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 30). 41 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 31).

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Übergriffe durch Mitschüler verweist die Kammer auf die bundesverwaltungsgerichtlichen Ausführungen, denen zufolge – wie vorstehend dargestellt42 – eine solche Gefahr jedenfalls im Ergebnis auf das Maß zurückgeführt werden könne, mit dem die Schülerin im Alltag ohnehin konfrontiert sei.43 Schließlich setzt sich die Kammer auch mit dem Einwand der Beschwerdeführerin auseinander, die landesschulgesetzlichen Bestimmungen stellten keine hinreichende Grundlage für ihre Verpflichtung zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht dar, da es hierfür nach dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Wesentlichkeitsgrundsatz einer spezifischen parlamentsgesetzlichen Regelung bedürfe. Einer solchen Sicht hält sie entgegen, dass sich aus der Beschwerdebegründung nicht ergebe, weshalb angesichts der bestehenden einfachgesetzlichen Regelungen zum Sportunterricht als Pflichtunterricht und zur gemeinsamen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern „gerade in der Statuierung einer Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht eine wesentliche Entscheidung liegen sollte, die dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten wäre.“ Insbesondere begründe die Beschwerdeführerin nicht hinreichend, „dass Schwimmunterricht im Vergleich zum übrigen koedukativen Sportunterricht eine wesentlich höhere Grundrechtsrelevanz habe, die über die Regelung zum Sportunterricht hinaus eine gesonderte gesetzliche Regelung [erfordere].“ Dies, so die Kammer weiter, verstehe sich auch keinesfalls von selbst. Denn im Sportunterricht werde generell leichtere Bekleidung getragen als im Alltag. Zwar sei die Badebekleidung im Normalfall besonders knapp geschnitten, doch sei die Wahrscheinlichkeit, dass es zu ungewollten Körperkontakten zwischen Schülerinnen und Schülern komme, bei der Ausübung von Mannschaftssportarten im Sportunterricht größer als im Schwimmunterricht.44 Auch wenn die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vor diesem Hintergrund von der Annahme der Verfassungsbeschwerde bereits wegen ihrer Unzulässigkeit absieht und schon aus diesem Grunde der Nichtannahmebeschluss nicht überinterpretiert werden darf, ist er doch aufschlussreich. Denn für die Kammer besteht zwar angesichts der fehlenden Substanziierung kein Anlass, sich näher mit den verfassungsrechtlich statthaften Grenzen einer Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen auseinanderzusetzen. Gleichwohl entscheidet sie sich trotz der gem. § 93 d Abs. 1 S. 3 BVerfGG bestehenden Möglichkeit, von einer Begründung des Nichtannahmebeschlusses abzusehen, nicht nur für dessen Begründung, sondern enthält sich in den von ihr angeführten Gründen auch jedes Hinweises darauf, dass sie einzelne inhaltliche Bedenken gegen die neue Rechtsprechungslinie des Bundesverwaltungsgerichts hegt oder diese aus verfassungsrechtlichen Erwägungen gar insgesamt infrage stellt. Bereits angesichts dessen geht von dem Nichtannahmebeschluss das Signal aus, dass die Kammer auf jegliche, auch auf eine nur indirekte Artikulation von Einwänden gegen die neue „Burkini-Judikatur“ des Bun42

Hierzu s. o. II. BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 32). 44 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 33). 43

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desverwaltungsgerichts verzichtet. Hinzu kommt, dass die Kammer mit deutlichen Formulierungen unterstreicht, dass sie die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Bedenken gegen die Eignung des Burkinis angesichts der bundesverwaltungsgerichtlichen Urteilsbegründung nicht überzeugen. Gleiches gilt für die Ausführungen der Beschwerdeführerin zu ihrem Anliegen, den Anblick von Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu vermeiden und die von ihr thematisierte Gefahr von Übergriffen durch Mitschüler. Hierdurch sowie durch die diesbezüglichen Verweise der Kammer auf das „Burkini-Urteil“ des Bundesverwaltungsgerichts geht von ihrem Nichtannahmebeschluss letztlich doch eine die neue Rechtsprechungslinie bekräftigende Wirkung aus.45

IV. Das „Burkini-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2017 Auch das vom 10. Januar 2017 stammende Urteil der Dritten Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Osmanog˘ lu und Kocabas¸ betrifft die Pflicht muslimischer Schülerinnen zur Teilnahme am koedukativ durchgeführten Schwimmunterricht im Burkini.46 Im konkreten Fall hatten zwei muslimische Familien in Basel ihre neun- und elfjährigen Töchter vom gemischtgeschlechtlich durchgeführten Schwimmunterricht abgemeldet, obgleich die einschlägige baselstädtische Vorschrift eine solche Möglichkeit erst ab der Pubertät vorsieht. Nachdem die Schulbehörden verschiedene Zugeständnisse gemacht hatten – unter anderem wurde den Schülerinnen das Tragen eines Burkinis erlaubt und sichergestellt, dass getrennte Umkleiden für Jungen und Mädchen vorhanden waren –, die Eltern indes bei ihrer Ablehnung blieben, verhängten die Behörden schließlich ein Bußgeld, gegen das die Eltern in zwei Instanzen vor Schweizer Gerichten – bis zum schweizerischen Bundesgericht – klagten, dort indes scheiterten.47 1. Grundsätze der Entscheidung In seiner Entscheidung stützt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Vorgehen der schweizerischen Behörden und Gerichte. Er begründet dies, ebenso wie das Deutsche Bundesverwaltungsgericht, damit, dass die Verpflichtung zum Besuch des Schwimmunterrichts zwar einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstelle,

45 Vgl. auch das Fazit bei Muckel, Keine Befreiung muslimischer Schülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht (Anm. 37), S. 238. 46 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12). Den nachfolgenden Ausführungen liegt die nichtamtliche Übersetzung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zugrunde. 47 Vgl. dazu EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 6 ff.

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die im Falle der EMRK von Art. 9 geschützt wird, dass diese Einschränkung indes gerechtfertigt sei.48 An den Anfang der Begründung seines Urteils stellt der Gerichtshof zunächst einen Überblick über die ihn leitenden Grundsätze.49 Hier hebt er im Spiegel seiner Rechtsprechung nicht nur Reichweite und Bedeutung der Religionsfreiheit hervor, sondern unterscheidet auch zwischen den aus ihr resultierenden abwehrrechtlichen („negativen“) und leistungsrechtlichen („positiven“) Verpflichtungen des Staates.50 Zu der negativen Verpflichtung eines Staates gehöre, ungerechtfertigte Eingriffe in die von der Konvention garantierten Rechte zu unterlassen, wobei nach Art. 9 Abs. 2 EMRK zu seiner Rechtfertigung „jeder Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein [müsse].“51 Die „positiven Verpflichtungen“ könnten demgegenüber zur Folge haben, „dass ein wirksames und zugängliches Verfahren eingeführt wird, um die von dieser Bestimmung garantierten Rechte zu schützen, dass insbesondere ein Regelungsrahmen geschaffen wird, mit dem ein rechtlicher und vollstreckbarer Mechanismus eingeführt wird, um die Rechte des Einzelnen zu schützen“.52 Deutlich betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zudem den nationalen Ermessensspielraum bei Fragen, die „die Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionen betreffen“.53 Diesen Spielraum begründet er unter Rückgriff auf seine bisherige Rechtsprechung mit dem subsidiären Charakter des Mechanismus der Konvention,54 mit der in Europa fehlenden einheitlichen Vorstellung von der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft und mit der je nach Zeit und Zusammenhang möglichen Divergenz von Sinn und Auswirkungen religiös motivierter Handlungen. In der Folge könnten die Regelungen auf diesem Gebiet, so der Gerichtshof ausdrücklich, „von Land zu Land unterschiedlich sein“. Daher müssten die Entscheidungen über den Umfang und die Modalitäten solcher Regelungen zwangsläufig bis zu 48 Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 94 ff.; zu Eingriffen in die durch Art. 9 EMRK gewährleistete Religions- und Weltanschauungsfreiheit und deren Rechtfertigung s. auch die Darstellung bei Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München/Basel/Wien 20166, S. 368 ff. u. 371 ff.; hierzu auch Christian Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Tübingen 20132, Kap. 17, Rdnrn. 119 ff. u. 125 ff. (S. 1025 f. u. 1027 ff.). 49 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 82 ff. 50 Vgl. EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 85 f. 51 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 85 f. 52 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 86 u. a. unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 07. 12. 2010 – Jakóbski./.Polen (Nr. 18429/06), § 47; EGMR (GK), Urteil vom 26. 04. 2016 – Izzettin Dog˘ an und andere./.Türkei (Nr. 62649/10), § 96. Zu der Verpflichtung, ein „wirksames und zugängliches Verfahren“ einzuführen, s. auch EGMR, Urteil vom 12. 06. 2012 – Savda./.Türkei (Nr. 42730/05), §§ 98 f. 53 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 87 ff.; u. a. unter Bezugnahme auf EGMR (GK), Urteil vom 26. 04.2016 (Anm. 52), § 112. 54 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 87.

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einem gewissen Maß dem betroffenen Staat überlassen bleiben.55 Indessen unterliege dieser Ermessensspielraum einer die Umstände des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigenden Kontrolle durch den Gerichtshof, „die sowohl die Rechtsvorschriften als auch die Entscheidungen über deren Anwendung“ umfasse und der Überprüfung diene, „ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.“56 Auch wenn die Schweiz das 1. Zusatzprotokoll zur EMRK nicht ratifiziert habe und daher von den Beschwerdeführern vorliegend eine Verletzung von Art. 9 EMRK geltend gemacht werde, sei schließlich an Art. 2 dieses Protokolls zu erinnern, da jedenfalls dessen Satz 2 lex specialis zu Art. 9 EMRK und zudem die Konvention als Ganzes zu sehen sei.57 Aus der Formulierung von Art. 2 S. 2 des Protokolls, der zufolge der Staat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das religiöse Erziehungsrecht der Eltern „zu achten“ hat, folge, „dass die Staaten über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, um entsprechend den Bedürfnissen und Ressourcen der Gemeinschaft und des Einzelnen die Maßnahmen zu bestimmen, die zu ergreifen sind, um die Achtung der Konvention zu gewährleisten.“ Insbesondere ergebe sich hieraus, dass diese Bestimmung den Eltern keinen Anspruch auf eine bestimmte Organisation des Unterrichts einräume.58 2. Anwendung auf die zu entscheidenden Einzelfälle: Anspruch auf Unterrichtsbefreiung nur in Ausnahmefällen Im Lichte dieser Grundsätze wendet sich der Gerichtshof hernach der konventionsrechtlichen Bewertung der beiden von ihm zu beurteilenden Einzelfälle zu. Im Anschluss an die Feststellung, dass ein Eingriff in das nach Art. 9 EMRK geschützte Recht der Beschwerdeführer auf Religionsfreiheit vorliegt,59 wendet er sich der Frage einer Rechtfertigung dieses Eingriffs zu und prüft, „ob die Weigerung der zuständigen Behörden, die Töchter der Beschwerdeführer vom gemischten Schwimmunterricht freizustellen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig [ist] und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu den von diesen Behörden ver-

55

EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 88; u. a. unter Bezugnahme auf EGMR (GK), Urteil vom 10. 11. 2005 – Leyla S¸ahin./.Türkei (Nr. 44774/98), § 109. 56 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 89; u. a. unter Bezugnahme auf EGMR (GK), Urteil vom 10. 11. 2005 – Leyla S¸ahin./.Türkei (Nr. 44774/98), § 110. 57 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 90; u. a. unter Bezugnahme auf EGMR (GK), Urteil vom 18. 03. 2011 – Lautsi und andere./.Italien (Nr. 30814/06), § 59. 58 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46) § 92; u. a. unter Bezugnahme auf EGMR (GK), Urteil vom 18. 03. 2011 – Lautsi und andere./.Italien (Nr. 30814/06), § 61; EGMR, Urteil vom 30. 11. 2004 – Bulski./.Polen (Nr. 46254/99 und 31888/02). 59 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 94.

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folgten Zielen [steht].“60 In diesem Kontext betont er zunächst noch einmal, „dass die Staaten über einen erheblichen Ermessensspielraum verfügen, was Fragen der Beziehungen zwischen Staat und Religionen und die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft anbelangt, dies umso mehr, wenn sich diese Fragen auf dem Gebiet der Erziehung und des staatlichen Unterrichtswesens stellen.“ Die Staaten seien zwar verpflichtet, die in den Schulprogrammen enthaltenen Informationen in objektiver, kritischer und pluralistischer Weise zu vermitteln und sich hierbei jeder Indoktrinierung zu enthalten, gleichwohl stehe es ihnen frei, derartige Programme „nach Bedarf und Tradition ihres Landes“ zu gestalten. Die Eltern könnten unter Berufung auf die EMRK nicht vom Staat verlangen, „einen bestimmten Unterricht anzubieten oder die Fächer in einer bestimmten Form zu gestalten.“ Diese Grundsätze würden „in verstärktem Maße“ bei einer gegen die Schweiz erhobenen Beschwerde gelten, die das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert habe und demnach an Art. 2 dieses Protokolls nicht gebunden sei.61 Hinsichtlich der Rechtfertigung selbst schließt sich der Gerichtshof der von den Schweizer Behörden und Gerichten vertretenen Auffassung an, dass die Schule im Prozess der sozialen Integration „einen besonderen Platz“ einnehme, der umso entscheidender sei, wenn es sich bei den betroffenen Schülern um solche ausländischer Herkunft handle.62 Namentlich der Sport- und Schwimmunterricht sei für die Entwicklung und Gesundheit dieser Kinder „von außerordentlicher Bedeutung“. Er beschränke sich „nicht nur darauf, schwimmen zu lernen und einer körperlichen Tätigkeit nachzukommen“. Vielmehr liege sein besonderer Wert darin, „dass diese Tätigkeit gemeinsam mit allen anderen Schülern“ und ohne herkunftsbedingte, religiös oder weltanschaulich begründete Ausnahme ausgeübt werde.63 Angesichts der Bedeutung der Schulpflicht für die kindliche Entwicklung seien Unterrichtsbefreiungen von bestimmten Fächern „nur in ganz wenigen Ausnahmefällen, unter genau definierten Voraussetzungen und unter Achtung der Gleichbehandlung aller religiösen Gruppen zu rechtfertigen“.64 Selbst wenn das Vorbringen der Beschwerdeführer zutreffe und nur eine geringe Zahl muslimischer Eltern aus religiösen Gründen eine Freistellung vom obligatorischen Schwimmunterricht in Anspruch nehmen sollte, sei doch zu beachten, „dass das Interesse der Kinder an einem umfassenden Schulbesuch, der eine nach den örtlichen Sitten und Gebräuchen erfolgreiche soziale Integration gestattet, Vorrang vor dem Wunsch der Eltern auf Freistellung ihrer Töchter vom koedukativ durchgeführten Schwimmun60

§ 95. 61

§ 95. 62

§ 96. 63

§ 98. 64

§ 96.

EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12),

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terricht beansprucht.“65 Hieran ändere der von den Beschwerdeführern angeführte private Schwimmunterricht ihrer Töchter nichts, weil es für Kinder eben nicht nur darum gehe, sich körperlich zu betätigen oder schwimmen zu lernen, sondern vielmehr darum, dies „in der Gemeinschaft zu lernen und dieser Betätigung gemeinsam nachzugehen.“ Zudem würde es eine unzulässige Ungleichbehandlung darstellen, die Freistellung vom obligatorischen Schwimmunterricht bei Kindern zu ermöglichen, deren Eltern einen privaten Schwimmunterricht finanzieren könnten, hingegen jenen, deren Eltern dazu nicht in der Lage seien, diese Freistellung zu versagen.66 Vor allem aber spreche für die Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit, dass den Beschwerdeführern „bedeutsame Erleichterungen“ angeboten worden seien, insbesondere, dass den betroffenen Mädchen gestattet worden sei, ihren Körper beim Schwimmunterricht mit einem Burkini zu bedecken. Ebenso wie die Sicherstellung, dass sich die betroffenen Schülerinnen ohne Anwesenheit von Jungen entkleiden und duschen könnten, sei die Erlaubnis, einen Burkini zu tragen, geeignet, die „Auswirkungen der Teilnahme der Kinder am gemischten Schwimmunterricht auf die religiösen Überzeugungen ihrer Eltern zu verringern“.67 Für die elterliche Behauptung, das Tragen des Burkinis wirke sich stigmatisierend auf ihre Töchter aus, fehle es an Belegen. Auch gebe es keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass das Vorgehen der Schulbehörden bei der Durchsetzung des obligatorischen Schwimmunterrichts für nichtchristliche Schüler, die anderen Religionen angehörten, nichtgläubig oder aber Anhänger von Weltanschauungen seien, von Intoleranz geprägt sei.68 Die den Beschwerdeführern von den schweizerischen Behörden auferlegten Ordnungsbußen seien in Anbetracht des von diesen verfolgten Ziels, „nämlich sicherzustellen, dass die Eltern ihre Kinder zu den Pflichtfächern schicken und zwar hauptsächlich in deren Interesse, d. h. im Hinblick auf eine erfolgreiche Sozialisierung und Integration der Kinder“, verhältnismäßig.69 Überdies sei im vorliegenden Fall schließlich auch ein Art. 9 EMRK entsprechendes „wirksames und zugängliches Verfahren“ vorgehalten und durchgeführt worden, um die von dieser Bestimmung garantierten Rechte zu schützen.70

65

§ 97.

EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12),

66 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 100. 67 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 101. 68 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 102. 69 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 103. 70 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 104. Im Einzelnen verweist der Gerichtshof hierbei auf eine behördliche Handreichung über den Umgang mit religiösen Fragen in der Schule, auf den Austausch mit der Schulleitung und die Sanktionsankündigung durch die schweizerischen Behörden sowie schließlich auf die innerstaatlichen Möglichkeiten der gerichtlichen Überprüfung des behördlichen Vorgehens.

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Im Ergebnis sei daher festzuhalten, „dass die innerstaatlichen Behörden, indem sie der Pflicht der Kinder zum vollständigen Schulbesuch und ihrer erfolgreichen Integration Vorrang vor dem privaten Interesse der Beschwerdeführer auf Freistellung ihrer Töchter vom gemischten Schwimmunterricht aus religiösen Gründen eingeräumt haben, den erheblichen Ermessensspielraum nicht überschritten haben, über den sie in dieser Sache zum Thema Schulpflicht verfügten.“ Art. 9 EMRK sei folglich nicht verletzt.71

V. Die Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen: Drei Entscheidungen, eine Tendenz Angesichts der zunehmenden Zuwanderung von Muslimen vermag es kaum zu überraschen, dass die jüngsten Entscheidungen zur Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen, die das Bundesverwaltungs- und das Bundesverfassungsgericht sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getroffen haben, allesamt die Pflicht muslimischer Schülerinnen zur Teilnahme am koedukativ durchgeführten Schwimmunterricht betreffen.72 Auch wenn sie sich hierbei in formaler Hinsicht – nach Entscheidungsform, -tiefe und -kontext – voneinander unterscheiden, weisen sie doch inhaltlich, in ihren entscheidenden Aussagen, in dieselbe Richtung. So ist zwar die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Form eines Kammerbeschlusses ergangen, während das Bundesverwaltungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Urteilsform entschieden haben. Auch trifft zu, dass sich der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts formal lediglich mit Fragen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auseinandersetzt, während sich die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und des Gerichtshofs ausführlich der Begründetheit und damit den materiellen Anforderungen widmen, die an eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen zu stellen sind. Und schließlich ist nicht zu verkennen, dass der Kontext der Entscheidungen erheblich divergiert: Denn während das Bundesverwaltungs- und das Bundesverfassungsgericht aufgrund der in Deutschland bestehenden rechtlichen Vorgaben zu abschließenden Entscheidungen gelangen können, hat der Gerichtshof in Straßburg nicht zuletzt aus Gründen der Subsidiarität mitgliedsstaatliche Ermessensspielräume zu berücksichtigen, die gerade bei Fragen, die das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften sowie den Grenzbereich von staatlichem Schulunterricht und elterlicher Erziehung betreffen, von erheblichem Umfang sind. Gleichwohl können diese formalen Unterschiede auch in ihrer Gesamtheit nicht überdecken, dass die drei Entscheidungen in erheb-

71 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), §§ 105 f. 72 Ausgehend vom „Burkini-Urteil“ des Bundesverwaltungsgerichts zur Integration von Muslimen Hacer Bolat, Rechtliche Leitbilder der Integration von Muslimen, in: ZAR 2014, S. 111 – 115.

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lichem Ausmaß durch inhaltliche Übereinstimmungen und weitreichenden Konsens in der Sache gekennzeichnet sind. Das wird angesichts ihrer Argumentationstiefe besonders an den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutlich. So stimmen diese beiden Urteile zunächst darin überein, dass sie die Relevanz des obligatorischen Schulunterrichts für die soziale Integration in der öffentlichen Schule überzeugend hervorheben und ihr ein erhebliches Gewicht beimessen, gerade auch bei muslimischen Schülerinnen. So akzentuiert das Bundesverwaltungsgericht – ebenso wie die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Homeschooling73 – die Bedeutung der Schule für den „Zusammenhalt der Gesellschaft“, weil die Schule „eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion“ zu erfüllen habe.74 Dem entspricht die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Schule beim Prozess der sozialen Integration einen besonderen Platz einnehme, namentlich bei der Integration von Kindern mit sog. Migrationshintergrund.75 Beide Entscheidungen eint insofern die zutreffende Annahme, dass die Integration in der Schule vor allem vom gemeinsamen Lernen lebt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kleidet dies in die Formulierung, dass sich der Schwimm- und Sportunterricht nicht darauf beschränke, den betreffenden Sport zu erlernen oder auszuüben, sondern dass sein besonderer Wert darin bestehe, „dass diese Tätigkeit gemeinsam mit allen anderen Schülern“ erfolge.76 Dem entspricht die Sicht des Bundesverwaltungsgerichts, der zufolge es im Interesse dieses gemeinsamen Lernens und der hieraus folgenden Integration durch die öffentliche Schule nicht dazu kommen dürfe, die Unterrichtsbefreiung als „routinemäßige Option der Konfliktauflösung“ zu betrachten.77 Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Sicht vermag es kaum zu überraschen, dass beide Gerichte auch darin übereinstimmen, dass eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen nur im Ausnahmefall anzuerkennen ist. So führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass in einem bestimmten Umfang Beeinträchtigungen der religiösen Überzeugung in der Schule als typische Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags hinzunehmen seien: „Eine Befreiung wegen befürchteter Beeinträchtigungen religiöser Positionen hat danach die Ausnah73

BVerfG (K) 1, 141 (143 f.); BVerfG (K) 8, 151 (155); zuletzt so auch BVerfG (K), NJW 2015, 44 (47); zur Akzentuierung der Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Avenarius, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule (Anm. 3), S. 342 f. 74 BVerwGE 147, 362 (366, Rdnr. 13); zustimmend zu dieser Hervorhebung der schulischen Integrationsfunktion Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 544. 75 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 96; s. auch §§ 97 u. 103. 76 EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), § 98; vgl. auch § 100. 77 BVerwGE 147, 362 (369, Rdnr. 17); zustimmend dazu Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 545.

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me zu bleiben.“78 Damit konvergierend, formuliert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass angesichts der Bedeutung der Schulpflicht für die Entwicklung von Kindern „Freistellungen von bestimmten Fächern nur in ganz wenigen Ausnahmefällen, unter genau definierten Voraussetzungen und unter Achtung der Gleichbehandlung aller religiösen Gruppen zu rechtfertigen sind.“79 Diese – grundsätzlich überzeugende – Beschränkung der Unterrichtsbefreiung auf Ausnahmefälle ist nach dem Urteil beider Gerichte unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Ausnahme- und Befreiungsfälle. So führt der Straßburger Gerichtshof aus, dass auch eine geringe Anzahl von Unterrichtsbefreiungen nichts daran ändere, dass das Interesse der Kinder an einem umfassenden Schulbesuch Vorrang vor dem elterlichen Wunsch nach Unterrichtsbefreiung genieße, weil dieser Schulbesuch eine erfolgreiche soziale Integration ermögliche.80 Dem entspricht die Hervorhebung des Bundesverwaltungsgerichts, dass das Vorliegen eines genehmigungsfähigen Ausnahmefalls nicht bereits deshalb bejaht werden dürfe, weil ein Befreiungsverlangen nur von einem einzelnen Schüler in einer bestimmten Situation geltend gemacht werde; andernfalls, so das Gericht, drohe die Gefahr, dass der hierin zum Ausdruck gelangende Vorrang der Religionsfreiheit auch in vergleichbar gelagerten Konstellationen, die in ihrer Summe die Wahrnehmung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags deutlich stärker beeinträchtigen könnten, in Anspruch genommen werde. Demzufolge komme es für eine Entscheidung über Anträge auf Unterrichtsbefreiung darauf an, „ob das in Rede stehende Individualinteresse das gegenläufige Allgemeininteresse auch dann überwiegt, wenn es unter vergleichbaren Umständen mehrfach bzw. von einer Vielzahl von Grundrechtsträgern geltend gemacht […] wird.“81 Im konkreten Fall des Schwimmunterrichts muslimischer Mädchen teilen beide Gerichte die Einschätzung, dass durch die Erlaubnis, einen Burkini zu tragen, die Intensität des Eingriffs in die Religionsfreiheit der Schülerin bzw. in das religiöse Erziehungsrecht der Eltern deutlich gemindert wird. Das trifft zweifelsohne zu. So bezeichnet das Bundesverwaltungsgericht das von der Schule unterbreitete Angebot der Unterrichtsteilnahme in einem Burkini zutreffend als eine für die Schülerin „annehmbare Ausweichmöglichkeit“. Es sei nicht nachvollziehbar, inwiefern sie selbst bei Anlegen eines solchen Burkinis nicht hinreichend ihren religiösen Überzeugungen hätte folgen können.82 Auch der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hebt zu Recht hervor, dass die Behörden den Beschwerdeführern „bedeutsame Erleichterungen“ angeboten hätten, da den Mädchen ermöglicht worden sei, „ihren Körper beim Schwimmunterricht mit einem Burkini zu bedecken.“ Die dagegen vor78 79

§ 96. 80

§ 97. 81 82

BVerwGE 147, 362 (369, Rdnr. 17). EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸./.Schweiz (Nr. 29086/12), BVerwGE 147, 362 (371, Rdnr. 19, vgl. auch Rdnr. 20). BVerwGE 147, 362 (374 f., Rdnrn. 24 f.).

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gebrachte Behauptung der Eltern, das Tragen eines Burkinis wirke sich stigmatisierend aus, weist der Gerichtshof als unbewiesen zurück.83 Auch das Bundesverfassungsgericht unterstreicht in seinem Nichtannahmebeschluss, dass es an plausibel dargelegten Bedenken, weshalb der Burkini zu Wahrung der islamischen Bekleidungsvorschriften nicht genügen solle, fehle. Die Befürchtung, ein Burkini verhindere auch in nassem Zustand nicht ausreichend ein enges Anhaften an der Haut und ein Abzeichnen der Körperkonturen, seien im Lichte der verwaltungsgerichtlichen Feststellungen, so die 2. Kammer des Erstens Senats, unsubstanziiert und nicht nachvollziehbar.84 Das Bundesverfassungsgericht ist es auch, das das Argument, es werde bundesverwaltungsgerichtlich verkannt, dass es einer muslimischen Schülerin im Schwimmunterricht anders als im sonstigen Alltag nicht möglich sei, den ihren religiösen Überzeugungen widerstrebenden Anblick von Jungen bzw. Männern in knapp geschnittener Badebekleidung durch Niederschlagen ihres Blickes zu vermeiden, mit deutlichen Worten zurückweist. Ausdrücklich stellt es fest, dass dieser Einwand an den Gründen der bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidung vorbeigehe und sich mit der dort ausführlich begründeten Auffassung, die Religionsfreiheit müsse insoweit hinter den schulischen Wirkungsauftrag zurücktreten, nicht auseinandersetze.85 Das auf diese Weise in Bezug genommene Bundesverwaltungsgericht führt hierzu überzeugend aus, dass der genannte Einwand letztlich darauf hinauslaufe, vom Anblick einer Bekleidungspraxis verschont zu werden, die außerhalb der Schule zum allgemein akzeptierten Alltagsbild und damit zur sozialen Realität gehöre. Eine solche Ausblendung eines Ausschnitts sozialer Realität aber, so das Gericht zu Recht ausdrücklich, schwäche die integrative Kraft der öffentlichen Schule tiefgreifend und sei daher grundsätzlich nicht hinzunehmen.86 Jenseits der genannten Einzelerwägungen und Argumente eint die drei „BurkiniEntscheidungen“ schließlich auch ihr jeweiliges Resultat. So gelangen sowohl das Bundesverwaltungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis, dass ein obligatorischer Schwimmunterricht für muslimische Schülerinnen, denen die Nutzung eines Burkinis gestattet wird, zwar in deren Religionsfreiheit bzw. das religiöse Erziehungsrecht ihrer Eltern eingreift, dieses Recht indes wegen des Gewichts der mit dem Unterrichtsbesuch verbundenen schulischen Integration nicht verletzt und daher eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen abzulehnen ist. Auch dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts sind keinerlei Hinweise auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen Ansatz zu entnehmen. Demgemäß bleibt es in ihrer Konsequenz für muslimische Schülerinnen grundsätzlich bei der Pflicht, am Schwimm- und Sportunterricht teilzuneh-

83

EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), § 101. BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 30). 85 BVerfG (K), NVwZ 2017, 227 (228, Rdnr. 31). 86 BVerwGE 147, 362 (378, Rdnr. 30). 84

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men, sofern nicht besondere Ausnahmekonstellationen zu anderen Ergebnissen führen. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den drei Entscheidungen bedeuten bei alledem nicht, dass diese durch eine vollständige Deckungsgleichheit gekennzeichnet wären. Das zeigt sich insbesondere bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die das Bundesverwaltungsgericht auf der einen und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf der anderen Seite vornehmen. So vollzieht sich die Rechtfertigung des mit dem obligatorischen Schwimmunterricht verbundenen Eingriffs in die Religionsfreiheit beim Straßburger Gerichtshof in den Bahnen einer herkömmlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung, indem das Gewicht der schulischen Integrationsfunktion und die durch den Burkini abgemilderte Schwere des Eingriffs in die Religionsfreiheit geklärt werden, um ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Verlangen nach Unterrichtsbefreiung auf der einen Seite und der schulischen Integrationsleistung auf der anderen Seite zu sichern.87 Das Bundesverwaltungsgericht geht demgegenüber einen anderen Weg, weil es der Sache nach ein grundrechtliches Zwei-Stufen-Modell entwickelt.88 Ihm zufolge sollen auf einer ersten Stufe bestimmte Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit als typische Begleiterscheinungen des staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrags in Art. 7 Abs. 1 GG „einberechnet“ sein und in der Folge die Religionsfreiheit gegenüber dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag hier generell – also ohne konkrete Abwägung im Einzelfall – zurücktreten. Eine in die Bahnen herkömmlicher Grundrechtsdogmatik zurückführende konkrete Abwägung der konfligierenden Verfassungspositionen soll erst auf einer zweiten Stufe erforderlich werden, dann nämlich, wenn eine „besonders gravierende Beeinträchtigung religiöser Belange“ vorliegt und daher „die grundrechtliche Belastung durch die Verfassung nicht von vornherein in Art. 7 Abs. 1 GG einberechnet ist.“89 Letzteres überzeugt insofern nicht, als die mit einem solchen Modell verbundene Ablösung der tradierten Verhältnismäßigkeitsprüfung auf der ersten Stufe die Gefahr birgt, dass von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls abgesehen wird und grundrechtliche Positionen unter Umständen verkürzt werden.90 87

EGMR, Urteil vom 10. 01. 2017 (Anm. 46), §§ 95 ff. Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 545 f.; s. aber auch Barczak, Die Entwicklung des Schulverwaltungs- und Schulverfassungsrechts seit dem Jahr 2010 (Anm. 18), S. 1557: Drei-Stufen-Modell. 89 BVerwGE 147, 362 (372, Rdnr. 21). 90 Näher hierzu Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), S. 544 ff.; kritisch auch Winkler, Anmerkung zum Urteil des BVerwG vom 11. 09. 2013 (Anm. 18), S. 143 f. Diese Gefahr wurzelt letztlich in der für die bundesverwaltungsgerichtliche Argumentation entscheidenden Frage, welche Grundrechtsbeeinträchtigungen durch die bloße Existenz einer konfligierenden Verfassungsposition „einberechnet“ sein sollen und welche nicht. Da sich dem Grundgesetz für die Beantwortung dieser Frage nichts entnehmen lässt, bildet das Bundesverwaltungsgericht für typisierte Standardsituationen eine pauschalisierende Präferenzrelation zwischen den konkurrierenden Verfassungspositionen. Diese Präferenzrelation versteht es indes nicht als Abwägung im Einzelfall, sondern als verallgemeinerungsfähige Pauschalabwägung, in deren Folge die Glaubensfreiheit in den behandelten Standardsituationen stets zurücktreten muss und daher ihre Beeinträchtigung in Art. 7 Abs. 1 GG „einberechnet“ sein 88

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Indes bedarf es, wie auch die Begründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte belegt, eines solchen Modells nicht, um der bundesverwaltungsgerichtlich zu Recht verfolgten Intention der Stärkung der schulischen Integrationskraft zu entsprechen, weil die in einer pluralistischer werdenden Gesellschaft notwendigerweise zunehmende Bedeutung der schulischen Integrationsfunktion auch innerhalb der „klassischen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker als bislang berücksichtigt werden kann. Geschieht dies, so werden sich religiös motivierte Wünsche nach einer Unterrichtsbefreiung in den bundesverwaltungsgerichtlich der ersten Stufe zugeordneten Standardkonstellationen auch weiterhin vielfach nicht gegen die Schulpflicht durchsetzen können, wie das Straßburger Urteil eindrücklich belegt. Gleichwohl bleibt aufgrund der jeweils auf den Einzelfall abzustellenden Abwägung hier gesichert, dass für atypische Fallkonstellationen anderes gilt.

VI. Fazit Die „Burkini-Entscheidungen“ des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellen für das Schulrecht wie auch für das Staatskirchenrecht Meilensteine dar. Zu Recht sind sie von der Überzeugung gekennzeichnet, dass die öffentliche Schule ein bedeutsamer Ort der sozialen Integration ist, dass diese ihre Integrationsfunktion nur erfüllen kann, wenn sichergestellt ist, dass ihr Unterrichtsangebot grundsätzlich von allen Schülern – insbesondere von Kindern mit Migrationshintergrund – in Anspruch genommen wird, dass daher Unterrichtsbefreiungen zurückhaltend zu gewähren sind und letztlich nur in solchen Ausnahmefällen hinzunehmen sind, in denen dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern oder der Religionsfreiheit des betroffenen Schülers der Vorrang gebührt. Speziell für die Handhabung von religiös begründeten Wünschen auf Befreiung vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht bewirken die drei Entscheidungen eine überzeugende Erhöhung der Anforderungen, die an Befreiungsbegehren zu stellen sind. Auf diese Weise setzen sie wegweisende Maßstäbe sowohl für die zukünftige behördliche Schulpraxis als auch für die schulrechtliche Rechtsprechung.91 Über das Schul- und das Staatskirchenrecht hinaus markieren die drei genannten Entscheidungen schließlich auch Wegmarken von grundsätzlicher Bedeutung für das soll, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten. Damit wird für die betreffenden Standardsituationen eine Abwägungsverallgemeinerung begründet, die zukünftig regelmäßig von einer einzelfallbezogenen Abwägung entbinden soll, indes die hier beschriebene Gefahr birgt, dass damit zugleich vom jeweiligen Einzelfall abgesehen wird und auf diese Weise grundrechtliche Positionen nicht hinreichend gesichert werden. 91 Für das „Burkini-Urteil“ des Bundesverwaltungsgerichts so aus dem Schrifttum etwa auch Hufen, Religionsfreiheit in der Schule (Anm. 18), hier S. 381; Uhle, Integration durch Schule (Anm. 4), hier S. 542 f. u. 547 f.; für die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts so auch Muckel, Keine Befreiung muslimischer Schülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht (Anm. 37), S. 238.

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Arnd Uhle

Recht der inneren Integration. Denn hinter ihrem unmittelbaren Anliegen, der Stärkung der schulischen Integrationsfunktion, steht mittelbar die doppelte Einsicht in die zunehmende Bedeutung der inneren Integration für Staat und Gesellschaft auf der einen Seite und in die anwachsenden Integrationsaufgaben, die sich gerade auch dem Staat stellen, auf der anderen Seite. Dies zeugt nicht nur davon, dass zwischenzeitlich die Phase überwunden ist, in der Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts Gegenstand politischer Verdrängung waren,92 sondern auch davon, dass dem überzeugenden Grundverständnis der Rechtsprechung zufolge die innere Integration nicht alleine eine Aufgabe der Gesellschaft, sondern ebenso eine verpflichtende Aufgabe des Staates ist.93 Die Erfüllung dieser staatlichen Aufgabe zu ermöglichen, intendieren die drei jüngsten „Burkini-Entscheidungen“, die, so betrachtet, zugleich mit der integrativen Kraft der öffentlichen Schule auch die staatliche Einflussnahme auf die Integration im Innern stärken. Nicht zuletzt deshalb markieren die drei Judikate vorläufige Schlusspunkte in der Entwicklung einer Rechtsprechung, deren Auswirkungen sich nicht auf die Fragen der Schulgestaltung und der Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen beschränken, sondern sich auch auf die Integrationsdebatte der Gegenwart erstrecken werden.94

92 Zu Verdrängung und Renaissance der inneren Integration Uhle, Innere Integration (Anm. 2), § 82, Rdnrn. 29 ff. u. 35 ff. 93 Zur Integration als gemeinsame Aufgabe von Gesellschaft und Staat und zum Charakter als staatliche Pflichtaufgabe vgl. Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Paderborn 2016, S. 250 – 267, S. 251 ff. u. 253 ff.; s. auch ders. Innere Integration (Anm. 2), § 82, Rdnrn. 41 ff. u. 47 ff. 94 Zu Grundsatzfragen der Integration zuletzt Winfried Kluth, Ziele und Bedingungen von Integration, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Migration und Integration. Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts, Berlin 2017, S. 89 – 115; Michael Griesbeck, Integrationspflichten und Sanktionen, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Migration und Integration. Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts, Berlin 2017, S. 117 – 135; zum Handlungsinstrumentarium staatlicher Integrationspflege Uhle, Integration als Staatsaufgabe (Anm. 93), S. 256 ff.; s. auch Martin Burgi, Bausteine eines Integrationsverwaltungsrechts im Werden, in: Christian Walter/ Martin Burgi (Hrsg.), Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht, Tübingen 2017, S. 141 – 174.

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Der Rechtsbegriff im Kirchenrecht. Zur Abgrenzung von Recht und Moral in der deutschsprachigen Kirchenrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (= MThSt.K 52), St. Ottilien 1999.

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Gemeinsam mit Stephan Leimgruber: Religionsunterricht zwischen Norm und Wirklichkeit (= Kirchenrecht im Dialog 2), Paderborn 2000.

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Gemeinsam mit Eugenio Corecco, Antonio María Rouco Varela und Libero Gerosa: Chiesa e diritto. Un dibattito trentennale su fondamenti e metodo della canonistica. Prefazione di Zenon Grocholewski, Pregassona (Lugano) 2002; darin: gemeinsam mit Libero Gerosa: Chiesa senza diritto? Situazione attuale e compiti futuri della canonistica, S. 65 – 106.

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Gemeinsam mit Libero Gerosa: Kirche ohne Recht? Stand und Aufgaben der Kirchenrechtswissenschaft heute (= Kirchenrecht im Dialog 3), Paderborn 2003.

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Fede e Diritto. Questioni Fondamentali del Diritto Canonico (= Biblioteca Teologica. Sezione Canonistica 2), Lugano 2006.

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Gemeinsam mit Wilhelm Rees: Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz, hrsg. v. Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (= Die Österreichischen Bischöfe 10), Wien 2010; darin: Konsequenzen des weltlich-rechtlichen Kirchenaustritts im kirchlichen Eherecht? Thesen zur Reform einer Reform, S. 62 – 75; Der Kirchenaustritt – ein Delikt?, S. 76 – 88.

10. Gemeinsam mit Winfried Aymans unter Mitarbeit von Christoph Ohly: Aymans–Mörsdorf–Müller, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, 4. Bd.: Vermögensrecht, Sanktionsrecht und Prozeßrecht, Paderborn u. a. 201313. 11. Aymans–Mörsdorf–Müller, Kanonisches Recht, Erg.-Bd.: Das kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren nach der Reform 2015, Paderborn 2017.

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André Gabriels/Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium Iustitiae. FS Heinemann (60), Essen 1985, in: AfkKR 157 (1988), S. 640 – 651.

10. Ingeborg Buchholz-Johanek, Geistliche Richter und geistliches Gericht im spätmittelalterlichen Bistum Eichstätt. Regensburg 1988, in: AfkKR 157 (1988), S. 657 – 659. 11. Franz Hölzl, Die Sakramente der Eingliederung in ihrer rechtlichen Gestalt und ihren rechtlichen Wirkungen vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zum Codex Iuris Canonici von 1983, Regensburg 1988, in: MThZ 42 (1991), S. 411 f. 12. Winfried Schulz (Hrsg.), Recht als Heilsdienst. FS Kaiser (65), Paderborn 1989, in: AfkKR 160 (1991), S. 239 – 244. 13. Reinhold Sebott, Fundamentalkanonistik. Grund und Grenzen des Kirchenrechts, in: theologie und glaube 84 (1994), S. 497 – 500. 14. Peter Schallenberg, Naturrecht und Sozialtheologie. Die Entwicklung des theonomen Naturrechts der späten Neuscholastik im deutschen Sprachraum (1900 – 1960), in: MThZ 47 (1996), S. 285 f. 15. Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, in: Libero Gerosa/Antonio Neri/Ludger Müller (Hrsg.), Annuario DiReCom 5/2006: Universalità dei diritti umani. Fra cultura e diritto delle religioni, Lugano 2006, S. 203 – 207 (ital.). 16. James A. Coriden, Canon Law as Ministry. Freedom and Good Order for the Church. New York – Mahwah, N. J. 2000, in: AfkKR 176 (2007), S. 618 – 622. 17. Ulrich Rhode/Wolfgang Rüfner, Kirchliche Hochschulen. Referate des Symposions zu Ehren von Manfred Baldus am 19. März 2010, Berlin – Boston 2012, in: Zeitschrift für Hochschulrecht und Hochschulpolitik 11 (2013), S. 190. 18. Christoph Ohly, Der Dienst am Wort Gottes. Eine rechtssystematische Studie zur Gestalt von Predigt und Katchese im Kanonischen Recht, St. Ottilien 2008 (= MThSt.K 63), in: AfkKR 182 (2013), S. 302 – 306. 19. Manfred Bauer, Theologische Grundlagen und rechtliche Tragweite der Gleichheit gemäß can. 208 CIC/1983 bzw. can. 11 CCEO (= DiKa 25), St. Ottilien 2013, in: ThRv 110 (2014), S. 524 – 526. 20. Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln/Weimar/Wien 2006, in: AfkKR 183 (2014), S. 310 f.

Beiträge zu Lexika und Nachschlagewerken 1.

Analogie, III. Kirchenrechtlich, in: LThK3 1, Sp. 582/LexKR, Sp. 46 f.

2.

Begnudelli Basso, Franz Anton, in: LThK3 2, Sp. 146/LexKR, Sp. 1048.

3.

Diözesankonsultoren, in: LThK3 3, Sp. 251 f./LexKR, Sp. 194.

880

Bibliographie Ludger Müller

4.

Gerlach, Hermann, in: LThK3 4, Sp. 525 f./LexKR, Sp. 1080.

5.

Hedderich, Franz Anton, in: LThK3 4, Sp. 1236/LexKR, Sp. 1087.

6.

Kirchengebote, in: LThK3 5, Sp. 1513.

7.

Kirchenmusik, III. Kirchenrechtliche Bestimmungen, in: LThK3 6, Sp. 30 f./LexKR, Sp. 512.

8.

Choullat, Johannes Nicolaus, in: Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München (Biogr. Lex. LMU), hrsg. v. Laetitia Boehm/Winfried Müller/Wolfgang J. Smolka/Helmut Zedelmaier, Teil 1: Ingolstadt – Landshut 1472 – 1826 (= Ludovico Maximilianea. Universität Ingolstadt – Landshut – München. Forschungen und Quellen, Forschungen 18), Berlin 1998, S. 70.

9.

Söll, Anton, in: Biogr. Lex. LMU 1, S. 402.

10. Thierbeck, Gottlieb Ignaz, in: Biogr. Lex. LMU 1, 433 f. 11. Ueblacker, Johann Christoph, in: Biogr. Lex. LMU 1, S. 446 f. 12. Weiß, Johann Baptist, in: Biogr. Lex. LMU 1, S. 471 f. 13. Wiestner, Jakob, in: Biogr. Lex. LMU 1, S. 481. 14. Zech, Franz Xaver, in: Biogr. Lex. LMU 1, S. 494. 15. Bistum. I. Kirchengeschichtlich, in: RGG4 1, Sp. 1631 f. 16. Pfarrkirche, in: LThK3 8, Sp. 175 f./LexKR, Sp. 760 f. 17. Pignatelli, Giacomo, in: LThK3 8, Sp. 295/LexKR, Sp. 1134. 18. Pirhing, Ehrenreich, in: LThK3 8, Sp. 312/LexKR, Sp. 1134 f. 19. Richter, Emil Ludwig, in: LThK3 8, 1180/LexKR (2004), Sp. 1143. 20. Sache. II. Kirchenrechtlich, in: LThK3 8, Sp. 1414/LexKR, Sp. 868 f. 21. Zech, Franz Xaver, in: LThK3 10, Sp. 1391/LexKR, Sp. 1176. 22. Zechpropst, in: LThK3 10, Sp. 1391. 23. Monsignore, in: RGG4 5, Sp. 1469. 24. Gehorsam. II. Kath., in: LKStKR 2, Sp. 17 – 19. 25. Gerlach, Hermann, in: LKStKR 2, Sp. 90. 26. Gesetzesanalogie, in: LKStKR 2, Sp. 107. 27. Ginzel, Joseph Augustin, in: LKStKR 2, Sp. 144. 28. Groß, Karl, in: LKStKR 2, Sp. 176. 29. Holböck, Carl, in: LKStKR 2, Sp. 268. 30. Kahl, Wilhelm, in: LKStKR 2, Sp. 364 f. 31. Koeniger, Albert Michael, in: LKStKR 2, Sp. 588. 32. Kompilation, in: LKStKR 2, Sp. 607 f. 33. Legalkonsens, in: LKStKR 2, Sp. 703. 34. Paten. I. Katholisch, in: RGG4 6, Sp. 1002.

Bibliographie Ludger Müller

881

35. Regionalbischof, in: RGG4 7, Sp. 197 f. 36. Rautenstrauch, Franz Stephan, in: LKStKR 3, Sp. 331 f. 37. Reiffenstuel, Anaklet, in: LKStKR 3, Sp. 401 f. 38. Episcopal Titles. III. Regional Bishop, in: RPP 4, Sp. 507. 39. Godparents. I. Catholic Church, in: RPP 5, Sp. 498.

Herausgebertätigkeit Zeitschriften und Reihen 1. Gemeinsam mit Libero Gerosa: Kirchenrecht im Dialog, Paderborn 1998 ff. 2. Gemeinsam mit Libero Gerosa: Kirchenrechtliche Bibliothek (= KB), Münster 1999 ff. 3. Gemeinsam mit Libero Gerosa und Antonio Neri: Annuario DiReCom, Lugano 2002 – 2009. 4. Gemeinsam mit Libero Gerosa und Silvio Ferrari: Veritas et Jus. Semestrale interdisciplinare di Lugano, Lugano (CH)/Gavirate (I) 2010 ff.

Einzelwerke 1.

Gemeinsam mit Libero Gerosa: Eugenio Corecco, Ordinatio Fidei. Gesammelte Schriften zum kanonischen Recht, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994.

2.

Gemeinsam mit Libero Gerosa: Antonio Rouco Varela/Eugenio Corecco, Sakrament und Recht – Antinomie in der Kirche? (= Kirchenrecht im Dialog 1), Paderborn 1998.

3.

Gemeinsam mit Peter Krämer, Sabine Demel und Libero Gerosa: Universales und partikulares Recht in der Kirche – konkurrierende oder integrierende Faktoren?, Paderborn 1999.

4.

Gemeinsam mit Winfried Aymans und Libero Gerosa: Antonio María Rouco Varela, Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000.

5.

Gemeinsam mit Libero Gerosa, Sabine Demel und Peter Krämer: Patriarchale und synodale Strukturen in den katholischen Ostkirchen (= KB 3), Münster 2001.

6.

Gemeinsam mit Sabine Demel, Libero Gerosa und Peter Krämer: Im Dienst der Gemeinde. Wirklichkeit und Zukunftsgestalt der kirchlichen Ämter (= KB 5), Münster 2002.

7.

Péter Erdo˝ , Geschichte der Wissenschaft vom kanonischen Recht. Eine Einführung, hrsg. v. Ludger Müller (= KB 4), Münster 2006.

8.

Gemeinsam mit Alfred E. Hierold, Sabine Demel, Libero Gerosa und Peter Krämer: „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe – Notwendigkeit oder Widerspruch? (= KB 9), Münster 2006.

882 9.

Bibliographie Ludger Müller Gemeinsam mit Peter Krämer, Sabine Demel, Libero Gerosa und Alfred E. Hierold: Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand (= KB 10), Berlin 2007.

10. Gemeinsam mit Sabine Demel: Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 2007. 11. Gemeinsam mit Wilhelm Rees und Sabine Demel: Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. FS Hierold (65) (= KST 53), Berlin 2007. 12. Gemeinsam mit Libero Gerosa: Katholische Kirche und Staat in der Schweiz (= KB 14), Münster 2010. 13. Rechtsschutz in der Kirche, hrsg. v. Ludger Müller (= KB 15), Münster 2011. 14. Gemeinsam mit Zenon Kard. Grocholewski, Friedrich Bechina und Martin Krutzler: Katholisch-Theologische Fakultäten zwischen „Autonomie“ der Universität und kirchlicher Bindung, Heiligenkreuz 2013. 15. Gemeinsam mit Libero Gerosa: Politik ohne Religion? Laizität des Staates, Religionszugehörigkeit und Rechtsordnung, Paderborn 2014. 16. Gemeinsam mit Wilhelm Rees: Geist – Kirche – Recht. FS Gerosa (65) (= KST 62), Berlin 2014. 17. Gemeinsam mit Wilhelm Rees und Martin Krutzler: Vermögen der Kirche – Vermögende Kirche? Beiträge zur Kirchenfinanzierung und kirchlichen Vermögensverwaltung, Paderborn 2015. 18. Gemeinsam mit Wilhelm Rees: Synodale Prozesse in der katholischen Kirche, Innsbruck 2016. 19. Gemeinsam mit Libero Gerosa: Johannes Paul II. – Gesetzgeber der Kirche, Paderborn 2017.

Übersetzungen 1. Gemeinsam mit Libero Gerosa, Peter Krämer und Sabine Demel: Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium – Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen. Lateinisch-deutsche Ausgabe (= AMATECA – Repertoria 2), Paderborn 2000. 2. Schreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte (vom 14. April 2010), in: Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz, hrsg. vom Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (= Die Österreichischen Bischöfe 10), Wien 2010, 9 f.

Beiträge in Zeitungen 1. Der lange Weg ins Schisma. Vor 20 Jahren: die ersten unrechtmäßigen Priesterweihen durch Lefebvre, in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Nr. 23 vom 21. 06. 1991, S. 12.

Bibliographie Ludger Müller

883

2. Das hat Bismarck schöner gesagt. Georgs Biers Studie zur Rechtsstellung des Diözesanbischofs, in: F.A.Z, Nr. 282 vom 04. 12. 2002, S. 38. 3. Kirchenrecht im Dienst am Wort Gottes. Eine umfassende Studie von Christoph Ohly erarbeitet die rechtlichen Rahmenbedingungen von Predigt und Katechese heraus (Rezension zu: Christoph Ohly, Der Dienst am Wort Gottes. Eine rechtssystematische Studie zur Gestalt von Predigt und Katechese im Kanonischen Recht, St. Ottilien 2008 [= MThSt.K 63]), in: DT, Nr. 128 vom 23. 10. 2008, S. 7. 4. Angefragt: Erneut Weihen bei den Piusbrüdern?, in: Der Sonntag. Die Zeitung der Erzdiözese Wien, Nr. 24 vom 14. 06. 2009, S. 14. 5. Öffnung der Kirche für homosexuelle Lebenspartnerschaften?, in: DT, Nr. 53 vom 03. 05. 2012, S. 5. 6. Amoris laetitia-Praxis. Gründlich hören, was uns die Kirche sagt, in: Der Sonntag. Die Zeitung der Erzdiözese Wien, Nr. 17 vom 01.05. 2015, S. 23.

Weitere Veröffentlichungen 1. Das Schisma von Erzbischof Lefebvre, in: Christophorus 36, Nr. 2, April/Juli 1991, S. 43 f. 2. Gleichberechtigung in der Kirche? Überlegungen aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Christophorus 38, Nr. 2, April/Juni 1993, S. 88 – 95. 3. Laien als Mitarbeiter in der Seelsorge. Theologische und kirchenrechtliche Aspekte, in: Christophorus 39, Nr. 2, April/Juni 1994, S. 69 – 73. 4. Die Entscheidung zu den Meßdienerinnen ist legitim, in: Erzbischöfliches Jugendamt München (Hrsg.), Mini-Materialien 2001, S. 13. 5. Keuschheit, Armut, Gehorsam. Die Bedeutung der Ordensgelübde, in: Konvent der Unbeschuhten Karmeliten St. Rafael, Kalinowski (Hrsg.), Karmel St. Rafael Kalinowski in Neuperlach Süd, München. FS anläßlich der kanonischen Errichtung 2002, o. O. o. J. [München 2002], S. 21 – 23. 6. Diener zweier Herren? Ordensleute im pastoralen Dienst, in: Konvent der Unbeschuhten Karmeliten St. Rafael, Kalinowski (Hrsg.), Karmel St. Rafael Kalinowski in Neuperlach Süd, München. FS anläßlich der kanonischen Errichtung 2002, o. O. o. J. [München 2002], S. 46 – 48.

Autorenverzeichnis Ahlers, Reinhild, Dr. theol., Lic. iur. can., Leiterin der Abteilung Kirchenrecht und der Fachstelle Zentrales Beschwerdemanagement im Bischöflichen Generalvikariat Münster, Professorin für Kirchenrecht an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster. Benz, Michael, Lic. iur. can., Leiter der Abteilung Kirchenrecht im Erzbischöflichen Ordinariat München. Berkmann, Burkhard Josef, Dr. theol. habil., Dr. iur., Lic. iur. can., Mag., Professor für Kirchenrecht, insbesondere für Theologische Grundlegung des Kirchenrechts, allgemeine Normen und Verfassungsrecht sowie für orientalisches Kirchenrecht am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Breitsching, Konrad, Dr. theol., Univ.-Ass. am Institut für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Cattaneo, Arturo, Dr. iur. can, Dr. theol., Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät in Lugano (Schweiz), Konsultor des päpstlichen Dikasteriums für Laien, Familie und Leben, Mitglied der Theologischen Kommission der Schweizerischen Bischofskonferenz. Dvorˇácˇ ek, Jirˇí, Dr. iur. can. orient., ICLic., Mag. iur., Ehebandverteidiger am Bischöflichen Offizialat Eichstätt, Richter am Metropolitangericht in Prag (Tschechien), Habilitand an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Egler, Anna, Dr. phil., Akademische Direktorin i. R. Engelhardt, Hanns, The Rev. Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof a. D., St. Columban’s Mission, Karlsruhe. Feulner, Hans-Jürgen, Dr. theol., Lic. theol., Univ.-Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Gänswein, Georg, Dr. iur. can, Lic. iur. can., Dipl.-Theol., Präfekt des Päpstlichen Hauses, Vatikanstadt, und Privatsekretär von Papa em. Benedikt XVI., Titular-Erzbischof von Urbisaglia. Gerosa, Libero, Dr. theol. habil., em. Professor für Kirchenrecht, Facoltà di teologia di Lugano (Schweiz). Grichting, Martin, Dr. iur. can. habil., Dipl.-Theol., Generalvikar des Bistums Chur (Schweiz), Vizeoffizial. Haering, Stephan Bernhard, OSB (Abtei Metten), Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M. A., Professor für Kirchenrecht, insbesondere Verwaltungsrecht sowie kirchliche Rechtsgeschichte am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München,

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Autorenverzeichnis

Richter am Erzbischöflichen Konsistorium und Metropolitangericht München und am Kirchlichen Arbeitsgerichtshof Bonn, Berater der Kommission II (Ökumene) der Deutschen Bischofskonferenz, Dekan der Historischen Sektion der Bayerischen Benediktinerakademie. Hahn, Judith, Prof. Dr. theol. habil., Professorin für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, ehrenamtliche Richterin am Kirchlichen Arbeitsgerichtshof mit der Befähigung zum kirchlichen Richteramt, ehrenamtliche Ehebandverteidigerin am Erzbischöflichen Offizialat Köln. Hallermann, Heribert, Dr. theol. habil., em. Professor für Kirchenrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Hierold, Alfred E., Dr. iur. can., em. Professor für Kirchenrecht an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Professor für Kirchenrecht und Vorstand des Instituts für Kirchengeschichte und Kirchenrecht der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz (NÖ), Vizeoffizial des Metropolitangerichts Bamberg. Hirnsperger, Johann, Dr. theol., Mag., Theol., Univ.-Professor für Kirchenrecht, Institutsleiter, Katholisch-Theologische Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihli, Stefan, PD, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Verantwortlicher des Sachgebiets Rechtsdokumentation am Bischöflichen Ordinariat Rottenburg, Ehebandverteidiger am Bischöflichen Offizialat Rottenburg, Geschäftsführer des Kirchlichen Arbeitsgerichts Rottenburg und der Einigungsstelle am Bischöflichen Ordinariat Rottenburg, Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Kandler-Mayr, Elisabeth, Dr. iur., Lic. iur. can., Ordinariatskanzlerin der Erzdiözese Salzburg, Mitglied des Konsistoriums, Diözesanrichterin am Diözesan- und Metropolitangericht Salzburg, Datenschutzbeauftragte der Erzdiözese Salzburg. Kéry, Lotte, Dr., apl. Professorin am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn, Mitglied des Board of Directors des Stephan Kuttner Institute of Medieval Canon Law. Kingata, Yves, Dr. iur. can., Wissenschaftlicher Assistent am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig Maximilians-Universität München. Klein, Gotthard, Dr. phil., Leiter des Diözesanarchivs Berlin. Knittel, Reinhard, Dr. theol., Dr. iur. can., Professor für Kanonisches Recht an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese St. Pölten und Offizial. Kowatsch, Andreas, Dr. iur., Dr. theol., Lic. iur. can., LL.M., Habilitand am Klaus-MörsdorfStudium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kirchenanwalt am Diözesangericht Graz-Seckau. Laukemper-Isermann, Beatrix, Dr. theol. habil., Lic. iur. can, Privatdozentin, Referentin für Kirchenrecht im Bischöflichen Generalvikariat Münster, Diözesanrichterin am Bischöflichen Offizialat Münster, Lehrbeauftragte am Institut für Kanonisches Recht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Autorenverzeichnis

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Luterbacher-Maineri, Claudius, Dr. theol., Kanzler und Diözesanökonom im Bistum St. Gallen (Schweiz), Dozent für Schweizerisches Staatskirchenrecht am Istituto di diritto canonico e diritto comparato delle religioni in Lugano (Schweiz). May, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., em. Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Meckel, Thomas, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., M. A., Professor für Kirchenrecht, Religionsrecht und kirchliche Rechtgeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen Frankfurt, Diözesanrichter und Ehebandverteidiger am Bischöflichen Offizialat Würzburg, Diözesanrichter am Bischöflichen Offizialat Limburg, Anwalt am Diözesanund Metropolitangericht zu Köln. Mückl, Stefan, Dr. iur., Professor für Kirchenrecht an der Fakultät für Kanonisches Recht der Päpstlichen Universität Santa Croce, Rom. Németh, Thomas Mark, Dr. theol., Dr. iur., Privatdozent, Fachvertreter für Ostkirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg und Direktor des Ostkirchlichen Instituts an der Universität Würzburg. Ohly, Christoph, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier, Gastprofessor an der Kanonistischen Fakultät der Universität San Dámaso in Madrid, Kirchlicher Anwalt am Bischöflichen Offizialat Trier. Pree, Helmuth, Dr. iur., Dr. iur. can., Mag. Theol., em. Professor für Theologische Grundlegung des Kirchenrechts, Allgemeine Normen, Verfassungsrecht und Orientalisches Kirchenrecht, Diözesanrichter am Bischöflichen Offizialat Passau. Prokschi, Rudolf, Dr., Univ.-Professor und Vorstand des Instituts für Historische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Fachvorstand für Theologie und Geschichte des christlichen Ostens, Vizepräsident der Stiftung PRO ORIENTE, Rektor des St. Thomas Kollegs der Erzdiözese Wien für Stipendiaten aus ostkirchlichen Traditionen. Rees, Wilhelm, Dr. theol. habil., Univ.-Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Rehak, Martin, Dr. iur. can. habil., Dipl.-Theol., Ass. iur., Rechtsanwalt, München. Rhode, Ulrich, SJ, Dr. iur. can., Professor für Kirchenrecht, Pontificia Università Gregoriana, Rom. Schöch, Nikolaus, OFM, Dr. iur. can., Dr. theol. habil., Privatdozent der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Anwalt der Römischen Rota, Hauptamtliche Tätigkeit: Zweiter Kirchenanwalt (Promotor Iustititae Substitutus) am Höchstgericht der Apostolischen Signatur, Nebenamtliche Aufgaben: Professor für Ehe- und Prozessrecht an der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom. Schüller, Thomas, Dr. theol., Lic. iur. can., Direktor des Instituts für Kanonisches Recht und zugleich Professor für Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte an der KatholischTheologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

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Autorenverzeichnis

Uhle, Arnd, Dr. iur., Professor für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie an der Juristenfakultät der Universität Leipzig sowie Leiter der dortigen Forschungsstelle »Recht und Religion«. Mitglied des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen. Walser, Markus, Dr. iur. can., Lic. theol., B. A. phil., Generalvikar und Gerichtsvikar des Erzbistums Vaduz, Richter am kirchlichen Gericht des Bistums Chur, Administrator der Dompfarrei Vaduz, Dozent für Kirchenrecht an der Theologischen Hochschule Chur. Weiß, Andreas, Dr. theol. habil., Dr. iur. can., DEA (Strasbourg), Professor für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Diakon, Diözesanrichter und Turnusvorsitzender am Bischöflichen Offizialat Rottenburg, Kirchenanwalt der Diözese Eichstätt, Mitglied des Disziplinargerichts für Kirchenbeamte der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Zeller, Klaus, Mag. theol., Dr. iur. can., LL.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Anwalt/Prokurator an kirchlichen Gerichten.