Gehorsam, Ordnung, Religion: Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975 9783402129128, 3402129124


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Title
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung und Forschungsüberblick
2. Statistische Annäherung an die Heimerziehung unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens und des Prinzips der Konfessionalität
3. Entwicklungen und Debatten innerhalb der konfessionellen Heimerziehung im Überblick
3.1 Traditionen im deutschen Erziehungswesen – religiöse Prägungen von Kinder- und Erziehungsheimen
3.2 Die Heimaufsicht und andere Kontrollen der Unterbringung
3.3 Der Personal- und Ausbildungsmangel
3.4 Die äußere und innere Heimdifferenzierung und der Pfl egesatz
4. Die Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Mitarbeitern als Pfadfi nder für eine problematische Geschichte
4.1 Interviews als Quelle für Geschichte und ihre subjektive Verarbeitung
4.2 Differenzierte Erinnerung und eindeutige Botschaft ehemaliger Heimkinder
4.3 Die Erziehenden zwischen Ohnmacht und Rechtfertigung
5. Konkretionen – Regionen und Heime
5.1 Rheinland und Westfalen
5.2 Niedersachsen
5.3 Bayern
5.4. Erziehungseinrichtungen in Mikrostudien
5.4.1 Das Kinderheim Henneckenrode (Niedersachsen) – Vom Waisenhaus zum Kinderheim
5.4.2 Die Düsselthaler Anstalten (Rheinland) – Professionalisierung, religiöse Erziehung und Disziplin
5.4.3 Die Johannesburg (Niedersachsen) – Ausbildungsmöglichkeiten und „Heimparlament“
5.4.4 Die Jugendheimstätte Fassoldshof (Bayern) – Mitarbeiterproblem und Strafen
5.4.5 Die Kaiserswerther Mädchenheime (Rheinland) – Mitarbeitermangel als Modernisierungshemmnis
5.4.6 Die Heime der Schwestern vom Guten Hirten (Nordrhein-Westfalen, Bayern) – Erziehungskonzept und Umsetzung
5.4.7 Der Birkenhof in Hannover (Niedersachsen) – Heimerzieherinnenschule und psychiatrische Professionalisierung
5.4.8 Die Herzogsägmühler Heime (Bayern) – Bewahrung und Arbeit
5.4.9 Das Josefshaus, die Marienburg, das Martinistift (Westfalen) – Trägerverantwortung und Modernisierung
6. Heimalltag
6.1 Tagesablauf
6.2 Religiöse Erziehung
6.3 Freizeit
6.4 Bindung und Bezugspersonen
6.5 Arbeit und Bildung
6.6 Strafen und Demütigungen
6.7 Sexuelle Gewalt
7. Wandel der Heimerziehung 1968–1975
7.1 Debatten in den konfessionellen Fachverbänden vor dem „kritischen Ereignis” 1968
7.2 Die „Heimbefreiungen“ und die Reaktionen der konfessionellen Heime
7.3 Denkschriften und Veränderungen in der konfessionellen Heimerziehung
8. Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Quellen und Periodika
2. Sekundärliteratur
Abkürzungen
Abbildungsverzeichnis
Personenverzeichnis
Ortsverzeichnis
Verzeichnis der Einrichtungen
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Gehorsam, Ordnung, Religion: Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975
 9783402129128, 3402129124

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Am Beispiel der Musterregionen Niedersachen, Nordrhein-Westfalen und Bayern werden u.a. in neun Mikrostudien unter Einbeziehung von Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden die Verhältnisse in unterschiedlichen Heimen beschrieben und in den historischen Kontext eingeordnet.

ISBN 978-3-402-12912-8

Gehorsam – Ordnung – Religion

Dieses Buch rekonstruiert statistische Größenordnungen der Heimerziehung, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf Erziehungsziele und Strafen, den Heimalltag und seine kirchliche Prägung, Reformkonzepte und die Professionalisierung der Erziehungsbemühungen unter den vorherrschenden schwierigen Voraussetzungen.

Bernhard Frings | Uwe Kaminsky

Bernhard Frings | Uwe Kaminsky

Hunderttausende Kinder und Jugendlicher lebten während der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland in Heimen – vielfach in katholischer und evangelischer Trägerschaft. Ehemalige Heimkinder berichten von einem Alltag mit demütigenden Strafen, harter und unbezahlter Arbeit sowie unzureichenden Lebensbedingungen. Vor allem die Rolle und Verantwortung der Kirchen in der Heimerziehung jener Zeit stehen in der Diskussion.

Gehorsam – Ordnung – Religion Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975

I

INHALT

Bernhard Frings | Uwe Kaminsky Gehorsam – Ordnung – Religion

III

INHALT

Bernhard Frings | Uwe Kaminsky

Gehorsam – Ordnung – Religion Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975

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INHALT

Umschlag-Abbildung: Mittagsgebet im Kaiserswerther Kinderheim am Markt in den 1950er Jahren. Foto: Fliedner Kulturstiftung Düsseldorf-Kaiserswerth

© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞

ISBN 789-3-402-12912-8

V

INHALT

Inhalt 1. Einleitung und Forschungsüberblick ........................................................................1 Forschungsstand und Forschungsdesign....................................................................... 1 Vernetzung mit anderen Projekten .............................................................................. 11 Regionaler Zuschnitt und Typologie der Heime ........................................................ 12 Quellen ....................................................................................................................... 14 Aufbau der Studie ........................................................................................................... 15

2. Statistische Annäherung an die Heimerziehung unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens und des Prinzips der Konfessionalität ...................................................................................19 Einführung ...................................................................................................................... 19 Der rechtliche Rahmen: Kommunale Erziehungshilfen – Fürsorgeerziehung – Freiwillige Erziehungshilfe ....................................................... 20 Datenbasis und Eingrenzung ........................................................................................ 26 Heime, Plätze, Belegung ................................................................................................ 29 Zahlen zur konfessionellen Heimerziehung ............................................................... 35 Fazit .................................................................................................................................. 41

3. Entwicklungen und Debatten innerhalb der konfessionellen Heimerziehung im Überblick ....................................................43 3.1 Traditionen im deutschen Erziehungswesen – religiöse Prägungen von Kinder- und Erziehungsheimen ................... 43 3.2 Die Heimaufsicht und andere Kontrollen der Unterbringung ........... 67 3.3 Der Personal- und Ausbildungsmangel .................................................. 81 Quantitativer und qualitativer Mangel ................................................................. 81 Bemühungen um die Aus- und Fortbildung des Erziehungspersonals – Psychologische Fachkräfte in den Heimen.................. 92

3.4 Die äußere und innere Heimdifferenzierung und der Pflegesatz ...... 103 3.5 Erziehungsmittel und körperliche Züchtigung.................................... 118 Die Erlaubnis der Züchtigung in Bayern und die Folgen ................................ 118 Erziehungsmittel – Rechtslage, Praxis und Theorie in Niedersachsen ................................................................................................... 125

4. Die Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Mitarbeitern als Pfadfinder für eine problematische Geschichte ............. 135 4.1 Interviews als Quelle für Geschichte und ihre subjektive Verarbeitung .......................................................................... 135

VI

INHALT

4.2 Differenzierte Erinnerung und eindeutige Botschaft ehemaliger Heimkinder......................................................... 141 4.3 Die Erziehenden zwischen Ohnmacht und Rechtfertigung .............. 155 5. Konkretionen – Regionen und Heime ................................................................171 5.1 Rheinland und Westfalen ....................................................................... 171 5.2 Niedersachsen .......................................................................................... 183 Organisation der Fürsorgeerziehung in Niedersachsen .................................. 183 Heimtopographie .................................................................................................. 188 Heimdifferenzierung............................................................................................. 194

5.3 Bayern........................................................................................................ 204 Vorgeschichte ......................................................................................................... 204 Jugendnot der Nachkriegszeit und rechtliche Grundlagen der Jugendfürsorge ................................................................................................ 205 Erziehungsfürsorge und Fürsorgeerziehung ..................................................... 208 Heimtopographie .................................................................................................. 210

5.4. Erziehungseinrichtungen in Mikrostudien ......................................... 220 5.4.1 Das Kinderheim Henneckenrode (Niedersachsen) – Vom Waisenhaus zum Kinderheim.................................................. 220 Erziehung unter schwierigen Voraussetzungen........................................... 221 Konkrete Erziehungsarbeit ............................................................................. 228 Die Henneckenroder Schule .......................................................................... 236 Fazit ................................................................................................................... 241

5.4.2 Die Düsselthaler Anstalten (Rheinland) – Professionalisierung, religiöse Erziehung und Disziplin ............... 242 Die Entstehung der Düsselthaler Anstalten als Anstaltskomplex und der Neuaufbau nach dem Kriegsende .................... 242 Heimdifferenzierung in den 1950er und 1960er Jahren............................. 246 Das Personal und seine Ausbildung .............................................................. 254 Die Professionalisierung und der Leitungskonflikt 1964 – „imitatio christi“, „agitatio diaboli“ ............................................................... 261 Die Verabreichung von Psychopharmaka – ein medizinisch-psychologischer Versuch in der rheinischen öffentlichen Erziehung ................................................... 265 Die religiöse Erziehung und der Leitungskonflikt 1970/71 ....................... 271 Die Kritik der SSK – Probleme des Wandels ............................................... 276 Fazit ................................................................................................................... 279

5.4.3 Die Johannesburg (Niedersachsen) – Ausbildungsmöglichkeiten und „Heimparlament“........................ 280 Abriss einer fast 100-jährigen Heim-Geschichte......................................... 280 Pater Jakob van der Zanden (1945–1952) .................................................... 282 Pater Carl Güldenberg (1952–1960) ............................................................. 289 Pater Hermann Maaß (1960–1967)............................................................... 296 Fazit ................................................................................................................... 301

INHALT

VII

5.4.4 Die Jugendheimstätte Fassoldshof (Bayern) – Mitarbeiterproblem und Strafen ....................................................... 303 Entwicklung und Heimdifferenzierung ........................................................ 303 Der Skandal von 1949 ..................................................................................... 308 Das Personalproblem ...................................................................................... 320 Der Heimalltag ................................................................................................. 327 Fazit ................................................................................................................... 332

5.4.5 Die Kaiserswerther Mädchenheime (Rheinland) – Mitarbeitermangel als Modernisierungshemmnis ......................... 334 Einführung 334 Alltag in der Einrichtung ................................................................................ 339 Die pädagogische Problemlage – Schwererziehbarkeit und Personalmangel ................................................... 343 Fazit ................................................................................................................... 353

5.4.6 Die Heime der Schwestern vom Guten Hirten (Nordrhein-Westfalen, Bayern) – Erziehungskonzept und Umsetzung ................................................ 354 Einführung in Geschichte und Struktur der Klöster in Deutschland ................................................................................... 354 Erziehungsmethode in Theorie und Praxis am Beispiel des Klosters in Münster.................................................................... 358 Im Zeichen gesellschaftlicher Umbrüche – Beispiele aus westfälischen und rheinischen Klöstern ............................... 366 Entwicklungen in den bayerischen Klöstern ............................................... 373 Fazit ................................................................................................................... 378

5.4.7 Der Birkenhof in Hannover (Niedersachsen) – Heimerzieherinnenschule und psychiatrische Professionalisierung ........................................................................... 380 Heimdifferenzierung ....................................................................................... 380 Die Heimerzieherinnenschule und der Personalmangel............................ 386 Mädchenerziehung – Heimalltag .................................................................. 391 Die medizinische Behandlung und die pädagogischen Konsequenzen ....................................................................... 402 Der Heimskandal 1978 ................................................................................... 407 Fazit ................................................................................................................... 413

5.4.8 Die Herzogsägmühler Heime (Bayern) – Bewahrung und Arbeit ...................................................................... 414 Die Geschichte der Einrichtung .................................................................... 414 Die Struktur der Belegung, der Heimalltag und die Überlastung des Personals ............................................................... 419 Die Arbeit und die Sozialversicherungspflicht der Heimzöglinge – der Musterprozess ........................................................ 426 Fazit ................................................................................................................... 433

VIII

INHALT

5.4.9 Das Josefshaus, die Marienburg, das Martinistift (Westfalen) – Trägerverantwortung und Modernisierung .................................... 435 Vorbemerkungen ............................................................................................. 435 Die 1950er Jahre: Armut, Strafen, Missbrauch und Veränderungsansätze ......................................................... 437 1960 bis 1967: Agieren mit oder ohne Träger? ............................................ 449 Modernisierung zwischen Wandel und Beharren....................................... 456 Fazit ................................................................................................................... 464

6. Heimalltag ........... ..................................................................................................... 467 6.1 Tagesablauf .............................................................................................. 467 6.2 Religiöse Erziehung ................................................................................. 473 6.3 Freizeit ....................................................................................................... 482 6.4 Bindung und Bezugspersonen ............................................................... 487 6.5 Arbeit und Bildung .................................................................................. 491 6.6 Strafen und Demütigungen .................................................................... 500 6.7 Sexuelle Gewalt......................................................................................... 502 7. Wandel der Heimerziehung 1968–1975 ..........................................................507 7.1 Debatten in den konfessionellen Fachverbänden vor dem „kritischen Ereignis“ 1968 ...................................................... 507 7.2 Die „Heimbefreiungen“ und die Reaktionen der konfessionellen Heime ..................................................................... 517 7.3 Denkschriften und Veränderungen in der konfessionellen Heimerziehung............................................................. 534 8. Zusammenfassung ................................................................................................... 545 Quellen- und Literaturverzeichnis .............................................................................. 553 1. Quellen und Periodika................................................................................... 553 1.1 Staatliche Archive .................................................................................... 553 1.2 Kirchliche Archive ................................................................................... 554 1.3 Zeitzeugeninterviews .............................................................................. 555 1.4 Periodika ................................................................................................... 556 2. Sekundärliteratur ............................................................................................ 556 Abkürzungen ......................................................................................................... 586 Abbildungsverzeichnis.......................................................................................... 588 Personenverzeichnis.............................................................................................. 589 Ortsverzeichnis ...................................................................................................... 592 Verzeichnis der Einrichtungen ............................................................................ 594

VORWORT

IX

Vorwort

D

ie Geschichte der konfessionellen Heimerziehung nach 1945 ist erst in jüngster Zeit in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Sie wurde zuvor – gerade auch von der historischen und kirchengeschichtlichen Zunft – weithin verdrängt, die Betroffenen selbst litten unter dem Stigma des „Heimkindes“ und haben nur zögernd versucht, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Eine erste differenzierte Betrachtung zur Geschichte der konfessionellen Heimerziehung legen Bernhard Frings und Uwe Kaminsky mit dieser Studie vor, die über die bisher publizierten Lokalstudien zu einzelnen Einrichtungen hinausgeht und auf der Grundlage vergleichender eigener Untersuchungen und unter Einbeziehung schon vorliegender Forschungsergebnisse einen umfassenden Überblick über Debatten und Praxis in diesem Feld entwirft. Das Buch ist deshalb eine Pionierarbeit, die systematisch grundlegende Erkenntnisse zum Thema vermittelt. Zur Vorgeschichte des der Studie zu Grunde liegenden Projektes gehören die seit dem Frühjahr 2006 vorliegenden Petitionen ehemaliger Heimkinder an den Deutschen Bundestag, die 2009 zur Einrichtung eines „Runden Tisches Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ führten. In dessen bis Ende 2010 stattfindenden Sitzungen spielte auch die konfessionelle Heimerziehung eine wichtige, immer wieder angefragte Rolle. Bereits seit dem Januar 2006, also praktisch zeitgleich, untersuchte an der Ruhr-Universität Bochum eine interdisziplinäre und interkonfessionelle Forschergruppe im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts „Transformation der Religion in der Moderne – Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ mit Blick auf das Feld der Caritas- und Diakoniegeschichte die besondere Problematik der Heimerziehung. Ihre Ergebnisse zeigten schon bald die Dringlichkeit einer tiefer gehenden Analyse dieser Thematik auf. In Kooperation mit dieser Forschergruppe konnte schließlich an der Evangelisch-Theologischen und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bochumer Ruhr-

X

VORWORT

Universität ein Forschungsvorhaben installiert werden, das seit dem Sommer 2008 speziell die konfessionelle Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1975 ins Zentrum ihres Interesses stellte. Ermöglicht wurde dieses ergänzende Forschungsprojekt durch die oben skizzierte, neu entstandene öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema und durch finanzielle Unterstützung beider Kirchen, ihrer Wohlfahrtsverbände und der Deutschen Ordensobernkonferenz. Zentral steht im Rahmen der Studie, die aus diesem Projekt hervorgegangen ist, die Frage nach systemischen Bedingungen, die Unrecht und Demütigungen geradezu hervorbringen oder zumindest begünstigen. Neben äußeren Faktoren wie etwa den schlechten baulichen Voraussetzungen und der lange Zeit unzureichenden finanziellen Ausstattung auf Grund zu niedriger Pflegesätze oder dem latenten Personalmangel bei häufig fehlender Qualifizierung der vorhandenen Kräfte spielten auch die spezifisch konfessionellen Prägekräfte der Einrichtungen eine wesentliche Rolle. Konkret sind hier beispielsweise die Bedeutung von Gehorsam und Unterordnung in den Heimordnungen und Verhaltensanweisungen für die Erziehenden sowie in der Hierarchie des Personals in den Blick zu nehmen. Klösterliche Lebensformen waren ebenso prägend. Da konfessionell ausgerichtete Erziehungseinrichtungen in ihrer institutionellen Systematik in besonderer Weise von theologischen Grundüberzeugungen bestimmt sind, stellt sich letztlich auch die Frage nach der Bedeutung und dem Wandel der die konfessionellen Erziehungskonzeptionen formenden theologischen und religionspädagogischen Motive seit der Nachkriegszeit, letztlich nach dem damals zu Grunde liegenden Menschenbild. Die Heimerziehung ist ein traditionelles und exemplarisches Feld der Einbindung konfessioneller Einrichtungen in das sozialfürsorgerische Handeln des Staates: Die Heimerziehung bedeutet seit dem BGB von 1900 in den meisten Fällen eine Fremdplatzierung, die bis weit in die 1970er Jahre durch ein Spannungsfeld von Zwangserziehungsmaßnahmen, Versuchen einer Pädagogisierung des Jugendstrafrechtes und einem sozialfürsorgerischen Anspruch bestimmt gewesen ist. Diese Ausrichtung steht in einem deutlichen Widerspruch zu der ursprünglich von den Konfessionen, etwa im 19. Jahrhundert von Wichern, zumeist betonten „Freiwilligkeit“ ihrer „Rettungsanstalten“ für Kinder und Jugendliche. Ähnlich hatte die Begründerin der „Schwestern vom Guten Hirten“, Maria Euphrasia Pelletier, zunächst eine Aufnahme in die

VORWORT

XI

Heime ihrer Kongregation auf der Grundlage der Freiwilligkeit anbieten wollen. Faktisch nahmen jedoch ebenso die „Schwestern vom Guten Hirten“ seit der Jahrhundertwende immer stärker auch an staatlichen Zwangserziehungsmaßnahmen teil. Die Einrichtungen von Caritas und Diakonie gingen dann nach 1945 weiterhin davon aus, in diesem Feld auch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Die vorliegende Untersuchung zur konfessionellen Heimerziehung zeigt vor diesem Hintergrund, dass äußere Bedingungen, die herrschenden Erziehungsstile sowie auch das persönliche Verhalten von Mitarbeitenden zu traumatisierenden Erfahrungen vieler Heimkinder beigetragen haben, an denen sie bis heute leiden. Auf der anderen Seite blicken einzelne Heimkinder dankbar auf die Unterstützung in verschiedenen Einrichtungen und speziell auf einzelne hoch engagierte Mitarbeitende zurück, durch deren Hilfen ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung überhaupt erst eröffnet worden ist. Auch klagten bereits damalige Erziehende über ihre unzureichenden Möglichkeiten und die äußerst problematischen Rahmenbedingungen, nicht wenige, gerade weltliche Mitarbeitende haben nach einigen Jahren den Beruf als Erzieher/in in diesem speziellen Kontext desillusioniert aufgegeben. Einzelne haben sich bis zur Erschöpfung für die Heimkinder engagiert, andere sind abgestumpft und haben sogar extrem harte Methoden der Kontrolle und Demütigung mit pädagogischen und auch theologischen Begründungen zu kaschieren versucht. Es hat in kirchlichen Heimen zahlreiche Fälle eklatanten Versagens und großer individueller Schuld wie aber auch ein hohes Maß an Engagement der Mitarbeitenden gegeben. Unabhängig davon besteht eine Mitverantwortung der Träger sowie der übergeordneten kirchlichen Verbände für ihre diakonischen und caritativen Einrichtungen: Die Leitungen der jeweiligen Heime wie auch die kirchlichen Aufsichtsorgane haben die oft problematischen Zustände gekannt oder hätten sie genau kennen können. Sie drängten zu wenig auf allgemeine Verbesserungen der Heimerziehung, agierten zugleich gegenüber den staatlichen Aufsichtsgremien vielfach abweisend oder sehr zurückhaltend. Diese Praxis lässt sich zwar nicht unbedingt als aktives Fehlverhalten kennzeichnen, dürfte aber doch durch passives Zulassen problematischer Umstände oftmals traumatisierende Erlebnisse vieler Heimkinder zumindest mit bedingt haben. Allerdings wäre es ein Fehlschluss, die Gesamtverantwortung für viele Missstände in der Heimerziehung ausschließlich bei den kirchlichen Leitungsebenen zu sehen. Die Komplexität der damaligen

XII

VORWORT

Verhältnisse – wie auch heute – beruhte eben auch auf dem Umstand, dass niemals nur kirchliche Träger oder nur staatliche Instanzen allein für das Wohl der Kinder und Jugendlichen verantwortlich waren, sondern immer beide – was sich aber oft nicht zu deren Vorteil auswirkte. Auch kirchliche Träger haben durchweg nur das damals geltende Jugendrecht, richterliche Entscheidungen und Entscheidungen der Jugendbehörden umgesetzt und in ihrem Bereich versucht, auf dieser Rechtsgrundlage eine Erziehung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Dabei haben sie jedoch vielfach äußerst problematische Bedingungen akzeptiert und auch in ihren Einrichtungen in der Regel zu wenig für eine angemessene Förderung der anvertrauten Schutzbefohlenen unternommen. Die politische Letztverantwortung für die Missstände der Heimerziehung lag allerdings immer bei den politischen Entscheidungsträgern jener Zeit in den jeweiligen Bundesländern. Dafür spricht auch, dass auf Grund der Ergebnisse der Forschungsarbeiten hinsichtlich der Verhältnisse in den Heimen – mit Ausnahme der religiösen Erziehung – keine signifikanten Unterschiede zwischen kirchlichen Heimen, Heimen in der Trägerschaft anderer Wohlfahrtsverbände oder öffentlichen Heimen aufgewiesen werden konnten. Insofern spiegeln die kirchlichen Heime weithin das Maß der seinerzeit geltenden Normalität wider, was allerdings den kirchlichen Selbstanspruch deutlich unterschreitet. Auch ist davon auszugehen, dass theologische Denkmuster und die spezifische Prägung der aus religiösen Gemeinschaften stammenden Erziehenden hierarchische Gehorsamvorstellungen oder die strenge Vermittlung von Ordnung, Sauberkeit und sexueller Enthaltsamkeit nicht unwesentlich beeinflusst haben, wenn dies vermutlich auch sehr unterschiedlich rezipiert worden zu sein scheint. Aus der Studie ergibt sich, dass Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung in der Regel nur unzureichend gefördert wurden, vielfach Demütigungen erlitten und oft auch Opfer von Misshandlungen und Missbrauch wurden. Eine Rehabilitierung ihrer Lebensschicksale, insbesondere eine Entstigmatisierung des Heimkinderstatus, erscheint den beteiligten Wissenschaftlern des Projekts auf Grund ihrer Forschungen unumgänglich zu sein. Dazu können Hilfen bei der Aufarbeitung ihres Lebenslaufes, insbesondere durch eine Offenlegung der Akten, beitragen. Auf dieser Grundlage sollten ihnen bei Bedarf therapeutische Hilfen angeboten und in vielen Fällen materielle Unterstützungen zugestanden werden.

VORWORT

XIII

Das Ausmaß an Demütigungen und auch Unrechtsfällen in der konfessionellen Heimerziehung nach 1945 hat in den Kirchen sowie bei Diakonie und Caritas eine große Beschämung hervorgerufen. Vertreter von diakonisch-caritativen Verbänden und Einrichtungen sowie hochrangige kirchliche Repräsentanten haben dies deutlich ausgedrückt und sich bei den Betroffenen entschuldigt. Die entsprechenden Einrichtungen, die sich nunmehr einer seelsorgerlichen Option für die Opfer verpflichtet sehen, haben im Sinn „anamnetischer Gerechtigkeit“ dafür zu sorgen, dieses dunkle Kapitel der Geschichte in ihr institutionelles Gedächtnis zu integrieren und der Opfer würdigend zu gedenken, um auch auf diese Weise solche Missstände für die Zukunft nach Möglichkeit auszuschließen. Die Einsicht, dass auch unter den Bedingungen des Rechtsstaates der Bundesrepublik und im Verantwortungsbereich der nach den Erfahrungen der NS-Zeit sensibilisierten Kirchen in beträchtlicher Weise Demütigungen und Unrecht an Kindern und Jugendlichen verübt worden sind, gehört wohl zur schwierigsten Lektion, die aus der intensiveren Erforschung der konfessionellen Heimerziehung zu ziehen ist. Wilhelm Damberg Traugott Jähnichen

EINLEITUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK

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1. Einleitung und Forschungsüberblick Forschungsstand und Forschungsdesign

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eit 2006 hat sich das Thema der Heimerziehung von Hunderttausenden von Kindern und Jugendlichen, die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland in Heimen aufwuchsen, vehement in den Vordergrund geschoben. Medienberichte machten auf die damaligen Lebensverhältnisse in den Kinder- und Erziehungsheimen sowie das Schicksal ihrer so genannten „Zöglinge“ aufmerksam. Ehemalige Heimkinder organisierten sich zur Wahrnehmung ihrer Interessen in Vereinen und Internetforen. Im Jahr 2009 richtete der Bundestag einen „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ zur Aufarbeitung dieser Thematik ein, der sich bis Ende 2010 u.a. auch mit der Rolle und der Verantwortung der Kirchen in der Heimerziehung befasste. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich bereits seit längerem an der Ruhr-Universität Bochum die interdisziplinäre und interkonfessionelle Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Transformation der Religion in der Moderne – Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ im Zusammenhang mit der Caritas- und Diakoniegeschichte mit dem Thema der Heimerziehung in diesem Zeitraum.1 In Zusammenarbeit mit dieser Forschergruppe und durch Förderung der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutschen Bischofskonferenz, des Deutschen Caritasverbands und der Deutschen Ordensobernkonferenz als Drittmittelgeber und Kooperationspartner entstand so an der Evangelisch-Theologischen und Katho1

Siehe etwa Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky, Konfessionelle Wohlfahrtspflege und moderner Wohlfahrtsstaat. Überlegungen zu einem schwierigen Verhältnis am Beispiel der Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren, in: Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich/André Witte-Karp (Hg.), Auf dem Weg in „dynamische Zeiten“. Transformationen der sozialen Arbeit der Konfessionen im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren, Münster 2007, S. 253-281.

2

EINLEITUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK

lisch-Theologischen Fakultät der Bochumer Universität ein Projekt, das seit dem Sommer 2008 gezielt die konfessionelle Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre untersucht hat.2 Die nachfolgenden Studien stellen den Abschluss dieses Projektes dar, das versucht hat, nachvollziehbare statistische Größenordnungen der damaligen Heimerziehung, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen auch im Hinblick auf Erziehungsziele und Strafen, die Beeinflussung des Heimalltags durch religionspädagogische Vorstellungen und die kirchliche Prägung der Heime, Reformkonzepte und Strategien zu ihrer Umsetzung wie auch die Professionalisierung der Erziehungsbemühungen unter den vorherrschenden schwierigen personellen Voraussetzungen näher aufzuklären. Die Entwicklung der Jugendfürsorge seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt in der sozialgeschichtlichen Forschung als Paradebeispiel für die Sozialdisziplinierung.3 Die Sozialdisziplinierung betont einen herrschaftsgeschichtlichen Zugriff, der auf die Normierung des Verhaltens der Individuen zielt.4 In Abkehr von älteren, selbstlegitimierenden pädagogischen Darstellungen, die den Hilfeaspekt für die „Erzogenen“ unterstrichen hatten, war diese Sichtweise radikal anders und erbrachte in verschiedenen Regionalstudien, die sich überwiegend auf die Zeit des Kaiserreichs bis zur NS-Zeit bezogen, erhebliche Erkenntnisgewinne.5 2

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Vgl. hierzu http://www.ruhr-uni-bochum.de/jaehnichen/kirchliche_heimerziehung. pdf. Detlev Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986; Detlev J. K. Peukert/R. K. Münchmeier., Historische Entwicklungsstrukturen und Grundprobleme der deutschen Jugendhilfe, in: Detlev J.K. Peukert/R.K. Münchmeier u.a., Jugendhilfe – historischer Rückblick und neuere Entwicklungen (Materialien zum 8. Jugendbericht, Bd. 1), Weinheim/München 1990, S. 1-49, bes. 2-31; ferner Christa Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978; Hans Scherpner, Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 1966 (1979). Vgl. auch für die nachfolgenden Passagen und weitere Literatur Uwe Kaminsky, „Schläge im Namen des Herrn“ – öffentliche Debatte und historische Annäherung. Eine Einführung, in: Wilhelm Damberg/Bernhard Frings/Traugott Jähnichen/Uwe Kaminsky (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster 2010, S. 5-26. Marcus Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995; ähnlich als Regionalstudie: Sabine Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz von 1871-1933, Köln 1997; Sven Steinacker, Der Staat als Erzieher. Jugendpolitik und Jugendfürsorge im

EINLEITUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK

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Doch insbesondere für die Zeit nach 1945 bis Anfang der 1970er Jahre fehlen historische Studien, welche die Vorgeschichte der Veränderungen und deren schleppende Durchsetzung deutlich machen.6 So betonen sozialpädagogische Konzeptionierungen den kulturellen Bruch „1968“ und nehmen diesen zum Startpunkt einer neuen Diziplingeschichte.7 Regionalhistorische Rekonstruktionen, die zum Teil nur die direkte Nachkriegszeit oder die Zeit bis zur Mitte der 1960er Jahre betreffen, verweisen dagegen auf die Genese wohlfahrtsstaatlicher Arrangements, die seit der Einführung des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1961 und mit dem gesellschaftlichen Mentalitätswandel der langen 1960er Jahre Veränderungen unterlagen.8

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Rheinland vom Kaiserreich bis zum Ende des Nazismus, Stuttgart 2007; ders. „... fachlich sauber und im Geist des Nationalsozialismus...“. Volksgemeinschaftsideologie und Fürsorgeerziehung nach 1933, in: Neue Praxis 38 (2008), S. 459-477; Carola Kuhlmann, Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen von 1933-1945, Weinheim 1989; ähnlich beschreibt auch Markus Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Paderborn 1999; Edward Ross Dickinson, The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republik, London 1996; Heike Schmidt, Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Opladen 2002, Annette Lützke, Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen 1945 bis 1975 – Bilder „sittlich verwahrloster“ Mädchen und junger Frauen, Diss., Essen 2002. Siehe Thomas Gabriel, Forschung zur Heimerziehung. Eine vergleichende Bilanzierung in Großbritannien und Deutschland, Weinheim u.a. 2001, S. 115-124; Kaminsky, „Schläge im Namen des Herrn“, S. 5-26. Jürgen Blandow, Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens, Weinheim u.a. 2004; Christian Schrapper, Voraussetzungen, Verlauf und Wirkungen der „Heimkampagnen“, in: Neue Praxis 20 (1990), S. 417-428; ders., Zur Geschichte der Erziehungshilfen von der Armenpflege bis zu den Hilfen zur Erziehung; in: Vera Birtsch u.a. (Hg.), Handbuch Erziehungshilfen, Münster 2001, S. 282-328, bes. 310-313; Carola Kuhlmann (Hg.), Geschichte Sozialer Arbeit I. Eine Einführung in soziale Berufe. Studienbuch, Schwalbach/Ts. 2008, bes. S. 104-109; Peter Hansbauer, Traditionsbrüche in der Heimerziehung. Analysen zur Durchsetzung der ambulanten Einzelbetreuung, Münster 1999, bes. S. 17-47; Thomas Trapper, Erziehungshilfe. Von der Disziplinierung zur Vermarktung? Entwicklungslinien der Hilfen zur Erziehung in den gesellschaftlichen Antinomien zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2002, bes. S. 20-31; aus linker Sicht: Rose Ahlheim u.a. (Autorenkollektiv), Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt/M. 1971. Daniela Zahner, Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt 19451955/56, München 2006; Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996; Doris Foitzik, Jugend ohne Schwung? Jugendkultur und Jugendpolitik in Hamburg 1945 – 1949, Hamburg 2002; Dickinson, The Politics

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Eine erste quellengesättigte Geschichte der öffentlichen Erziehung im Bereich des größten deutschen Landesjugendamtes für die Jahre 1945 bis 1972 legten Andreas Henkelmann, Uwe Kaminsky, Judith Pierlings, Thomas Swiderek und Sarah Banach Anfang 2011 für den Landschaftsverband Rheinland vor. Sie werteten Sachakten, Einzelfallakten und Interviews mit Betroffenen aus und widmeten sich sowohl chronologisch der regionalen Politik zur Heimerziehung wie systematisch den Bereichen Arbeit, Freizeit, Freundschaft, Sexualität, Kontrolle, Strafen, Religion, Ernährung, Gesundheit, Medikamenteneinsatz und der Ausbildung des Personals.9 Die dort gebildete These über eine „verspätete Modernisierung“ der Heimerziehung verweist auf einen Rückstand dieses Bereiches im Vergleich zur Entwicklung der Gesellschaft in den 1960er Jahren. Viele der in dieser Arbeit gemachten Aussagen treffen auch für die konfessionelle Heimerziehung zu, welche in der hier vorgelegten Studie zum Teil aufgenommen worden sind. Die Studien von Eva Gehltomholt und Sabine Hering beschreiben die Mädchen im Erziehungshilfebereich zwischen Kriegsende und Reform, die sich allerdings wesentlich auf die Auswertung zeitgenössischer Literatur, insbesondere der Veröffentlichungen des AFET, beschränken.10 Ähnlich verweist die Arbeit von Julia Fontana auf die Spuren der Heimerziehung im späteren Leben von Frauen11 und knüpft an erste zeitgenössische Evaluationsforschungen der 1950er Jahre in Hamburg von Lieselotte Pongratz an. Sie stellt damit auch Material für die Erfahrungskonstruktion ehemaliger Heimkinder in Interviews bereit.12 Die Forschungen von Lieselotte Pongratz über den Erfolg der

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of German Child Welfare, S. 244-285, Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, S. 509-562, bes. 537ff.; Lützke, Öffentliche Erziehung. Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky/Judith Pierlings/Thomas Swiderek/Sarah Banach, Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945–1972), Essen 2011. Eva Gehltomholt/Sabine Hering, Das verwahrloste Mädchen. Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945-1965) Opladen 2006. Julia Fontana, Fürsorge für ein ganzes Leben? Spuren der Heimerziehung in den Biographien von Frauen, Opladen 2007. Luise Pongratz, Herkunft und Lebenslauf. Längsschnittuntersuchung über Aufwuchsbedingungen und Entwicklung von Kindern randständiger Mütter, Weinheim/München 1988; dies./Hans Odo Hübner, Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung. Eine Hamburger Untersuchung über das Schicksal aus der Fürsorge-Er-

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Fürsorgeerziehung und die ‚Lebensbewährung‘ der Zöglinge oder von Annemarie Dührssen über Heim- und Pflegekinder machten bereits Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre die Reformbedürftigkeit der Heimerziehung deutlich.13 Vor allem der traditionelle Indikationsbegriff für die Verhängung von Fürsorgeerziehung, die „Verwahrlosung“, wurde auf der Grundlage des soziologischen Ansatzes des „Labeling approach“ wegen seiner sozialisationsschädigenden und stigmatisierenden Wirkung kritisiert. Die Verfestigung sozialer Ausgrenzung bzw. die mangelnde Vermittlung von Chancen auf soziale Teilhabe durch die Heimerziehung wurde angeklagt. Das vom amerikanischen Soziologen Erving Goffman entwickelte Modell der „Totalen Institution“ war der Referenzpunkt für die Kritik an den depersonalisierenden und enkulturierenden Wirkungen der Heimerziehung als Organisation.14 Dies bereitete eine Öffnung der Institutionen zum gesellschaftlichen Umfeld vor, was die nachfolgende Dezentralisierung, Binnendifferenzierung und konzeptionelle Neuorientierung in Form von Jugendwohngruppen oder betreutem Einzelwohnen begünstigte.15 Die Fachverbände, in denen staatliche und konfessionelle Fürsorgeträger und Verbände seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts organisiert waren, haben jubiläumsindizierte Rückblicke auf ihre Geschichte gemacht, welche zumindest das Schwergewicht der Fachdiskurse andeuten.16 Zudem liegen sowohl frühe zeitgenössische Beschreibungen

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ziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe entlassener Jugendlicher, Darmstadt u.a. 1959. Annemarie Dührssen, Heimkinder und Pflegekinder in ihrer Entwicklung. Eine vergleichende Untersuchung an 150 Kindern in Elternhaus, Heim und Pflegefamilie, Göttingen 1958. Die Ergebnisse der Hospitalismusforschung wurden jedoch erst Ende der 1960er Jahre breiter rezipiert. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/Main 1973 (Original 1961). Dies bedeutete zentral die Wandlung zur Lebensweltorientierung, welche u.a. im 8. Jugendbericht der Bundesregierung zum Bezugspunkt genommen wurde (Bundestag 11. WP, DS 11/6576, 6.3.1990). Martin Scherpner/Christian Schrapper (Hg.), 100 Jahre AFET – 100 Jahre Erziehungshilfe 1906-2005, Hannover 2007; Evangelischer Reichserziehungsverband (Hg.), 75 Jahre EREV. Antworten eines Fachverbandes auf die Herausforderungen der Erziehungsarbeit, o. O. [Hannover], o. D. [1995]; Stephan Hiller/Eckhart Knab/ Heribert Mörsberger (Hg.), Erziehungshilfe – Investition in die Zukunft. 100 Jahre BVkE, Freiburg i. Br. 2009; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.), Forum für Sozialreformen. 125 Jahre Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Berlin 2005; Harald Jenner, Ein Jahrhundert Jugendhilfe und

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der Jugendpolitik in der Bundesrepublik vor17 wie auch die in den letzten Jahren erschienene zwölfbändige Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, welche wichtige Rahmenbedingungen für die Jugendfürsorge streifen.18 Jüngst wurden verschiedene Projekte, die angesichts der verstärkten Debatte seit 2006 eine vermehrte Aufklärung über Zustände in der Jugendfürsorge in Westfalen, Hessen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen etc. versprachen, abgeschlossen bzw. erbrachten erste Ergebnisse.19

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Familienrecht. Vom Archiv deutscher Berufsvormünder zum Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) e.V. – 1906 bis 2006, o. O. [Heidelberg], o. J. [2006]. Bruno W. Nikles, Jugendpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungen, Merkmale, Orientierungen, Opladen 1976. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. 12 Bde., Baden-Baden 2001 bis 2008. Darin für die Bundesrepublik bis 1989 die Bände 3 bis 7; siehe zudem Friedrike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007. Vgl. Matthias Frölich, Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Westfalen, Paderborn 2011; ders., Das Landesjugendamt in Westfalen. Kooperation und Konflikt zwischen Behörde und konfessionellen Trägern der Jugendhilfe, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 174-190; Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.): Aus der Geschichte lernen – Die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagnen und die Heimreform. Tagungsdokumentation der Veranstaltung des LWV Hessen mit der IGfH und dem SPIEGEL-Buchverlag bei DVA am 9.6.2006 in Idstein, Kassel, August 2006; Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein/Universität KoblenzLandau (Hg.), Runder Tisch mit ehemaligen Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt am 19. Januar 2008, Kiel 2008; Rainer Kröger/Christian Schrapper (Hg.), Fürsorgeerziehung der 1950er und 60er Jahre. Stand und Perspektiven der (fach-)historischen und politischen Bearbeitung. Dokumentation eines ExpertInnengesprächs am 5. März 2008 in Koblenz (hg. in Kooperation mit AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. und Universität Koblenz-Landau, Institut für Pädagogik), Koblenz 2008 (Ms.); dies. (Hg.), Fürsorgeerziehung der 1950er und 60er Jahre. Stand und Perspektiven aktueller Forschung. Dokumentation eines ExpertInnengesprächs am 3. Juni 2009 in Koblenz (hg. in Kooperation mit AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. und Universität Koblenz-Landau, Institut für Pädagogik), Koblenz 2009 (Ms.); Irene Johns/Christian Schrapper (Hg.), Landesfürsorgeheim Glückstadt 1949-74. Bewohner – Geschichte – Konzeption, Neumünster 2010; Margret Kraul/Dirk Schumann/Annabell Daniel/Rebecca Eulzer, Anne Kirchberg, Sandra Wenk, Forschungsbericht „Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975“. Zwischenbericht im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration sowie des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (Langfassung, 16.11.2010) [http://www. uni-goettingen.de/de/document/download/f51d05056122668654c9a252dc9bc6bb.

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Auch erste Ansätze zu einer international vergleichenden Forschung (u.a. Großbritannien und Deutschland) beschreiben für die Zeit vor 1975 z. B. auch für Großbritannien Ähnlichkeiten im Stil, im Ethos und der informellen Kultur der Heimerziehung.20 Allerdings herrscht auch hier eine sehr viel intensivere Forschung über die Veränderungen seit den 1970er Jahren vor.21 Eine umfassende Betrachtung des konfessionellen Bereichs der Heimerziehung wirkt stark unterbelichtet. Dabei lag der Anteil der im Rahmen der FE und FEH von den freien Trägern (dies waren zu mehr als 90 % die konfessionellen Wohlfahrtsverbände) Betreuten bei schulpflichtigen Minderjährigen 1963 bei 71,2 % und bei nicht mehr schulpflichtigen sogar bei 78,1 %.22 Von den Fachschulen zur Ausbildung von Erzieher/innen waren 1970 noch 36 % in katholischer, 21 % in evangelischer und nur 39 % in staatlicher Trägerschaft.23 Die konfessionelle Heimerziehung erscheint in vielen der oben erwähnten Studien als Hort der Reaktion, der lange an veralteten Erziehungskonzepten festgehalten habe und ein Hemmschuh der pädagogischen Modernisierung gewesen sei. Allerdings dominiert in solchen Beschreibungen das bereits angedeutete statische Bild einer konfessionellen Heimerziehung, die weder wandlungsfähig, noch gar zu Reformen bereit gewesen wäre. Dieses Bild dürfte aber bis zur Gegenwart ei-

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pdf/Langfassung%20Zwischenbericht%20Heimerziehung%20Niedersachsen%20 1949-1975.pdf] (04.01.2011). Wesentlich die Studie von Spencer Millham u.a., After Grace-Teeth, Brighton 1979 (Erstausgabe 1975). Siehe Gabriel, Forschung zur Heimerziehung, bes. S. 53-68 (Großbritannien). Insgesamt sehr vielfältig die Beiträge in: Herbert Colla/Thomas Gabriel/Spencer Millham/Stefan Müller-Treusler/Michael Winkler (Hg.), Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, Neuwied/Kriftel 1999. In Irland rückte die Arbeit einer Kommission zur Aufklärung von Kindesmissbrauch in allen der Erziehung dienenden Institutionen die z. T. katastrophalen Verhältnisse in kirchlichen Erziehungsheimen ins Licht der Öffentlichkeit. Die Geschichte der Kommission, ihrer Arbeitsweise und der 2009 vorgelegte Abschlussbericht sind zugänglich über http:// www.childabusecommission.ie. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe (Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, DS V/302; [in der 4. Wahlperiode am 25.6.1965 verteilt]), S. 144. Thomas Rauschenbach, Jugendhilfe als Arbeitsmarkt. Fachschul-, Fachhochschulund Universitätsabsolventen/Innen in sozialen Berufen, in: Peukert/Münchmeier (Hg.), Jugendhilfe, S. 243. Erst seit 1972 fand eine Ausweitung der staatlichen Trägerschaft von Fachschulen statt. Vgl. auch Ralph Christian Amthor, Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit. Auf der Suche nach Professionalisierung und Identität, Weinheim 2003, S. 426-431.

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ner Kampf- und Feindbildrhetorik geschuldet zu sein, die zu Beginn der sozialpädagogischen Reformphase durchaus eine gewisse Berechtigung hatte24, doch im historischen Rückblick eher von wenig Kenntnis der Transformation der Kirchen wie auch ihrer sozialreligiösen Organisationsformen Caritas und Diakonie zeugt.25 Fragen nach dem Wandel des Personals (von ordensgebundenen zu fachspezifisch ausgebildeten Kräften), nach deren Professionalisierung, nach dem Generationsbruch im Erziehungspersonal, nach der Differenzierung der Heime etc. stehen weit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des sozialpädagogischen wie des aktuellen öffentlichen Diskurses über die Heimerziehung in den 1950er bis 1970er Jahren. Auf Seiten der Trägerstruktur gilt es, die modernisierungsresistenten Residualbereiche z. B. bei kirchlichen Trägern genauso zu untersuchen wie die staatlich geschaffenen Randbedingungen, welche diese existieren ließen. Der gesellschaftliche Wandel in diesen Jahren ist dabei ebenso in Rechnung zu stellen wie die mangelnde Anpassungsfähigkeit verschiedener konfessioneller Träger daran. Bislang gibt es kaum Beschreibungen der konfessionellen Debatten über die Heimerziehung und der Mentalitätsveränderungen, die hier stattgefunden haben und sich keineswegs auf die Jahre nach 1968 begrenzen lassen. Der Frage nach Modernisierungsprozessen innerhalb der Handlungsfelder Fürsorgeerziehung und Heimerziehung der konfessionellen Wohlfahrtspflege sind bislang nur wenige Arbeiten nachgegangen.26 Insbe24

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Auf dem 4. Jugendhilfetag in Nürnberg 1970 wurde von der „Sozialistischen Aktion“ u.a. die Entkonfessionalisierung der Heimerziehung und die Abschaffung zölibatärer Erzieher gefordert (vgl. Matthias Almstedt/Barbara Munkwitz (Hg.), Ortsbestimmung der Heimerziehung. Geschichte, Bestandsaufnahme, Entwicklungstendenzen, Weinheim/Basel 1982, S. 41-44; Wolfgang Müller, Helfen und Erziehen. Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert, Weinheim/Basel 2002, S. 115-124). Siehe als neuere Sammelbände: Traugott Jähnichen/Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky/Katharina Kunter (Hg.), Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“ des bundesdeutschen Sozialstaats. Transformationen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren, Stuttgart 2010; Wilhelm Damberg/Staf Hellemans (Hg.), Die neue Mitte der Kirche. Der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945, Stuttgart 2010. Vgl. als gelungene Beispiele zu katholischen Einrichtungen die beiden Studien zur Geschichte des heutigen „Sozialdienstes Katholischer Frauen“: Andreas Wollasch, Der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1899-1945). Ein Beitrag zur Geschichte der Jugend- und Gefährdetenfürsorge in Deutschland, Freiburg i. Br. 1991 sowie Petra von der Osten, Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat. Auf dem Weg zum Sozialdienst katholischer Frauen 1945-1968, Paderborn u. a. 2003 und Andreas Henkelmann, Caritasgesschichte zwischen katholischem

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sondere die bei Gräser für die Zeit der Weimarer Republik formulierte These der Blockierung des Wohlfahrtsstaates durch die konfessionelle Wohlfahrtspflege erscheint auch für die Nachkriegszeit untersuchenswert. Interessante Ansätze bieten Andreas Wollasch und Petra von der Osten in ihren Forschungen über den Katholischen Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (KFV), der in der offenen wie geschlossenen Jugend- und Gefährdetenfürsorge tätig war. Wollasch, der die ersten fast 50 Jahre der Vereinsgeschichte in den Blick nimmt, kommt dabei zu dem Ergebnis, dass „der KFV ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Mischungsverhältnis von Traditionalismus und Modernität“ aufwies.27 Denn er verband sein Fürsorgeziel der moralischen Beeinflussung seiner Klientel einschließlich der Rettung ihrer Seelen u.a. mit juristischem Wissen und Praxisnähe seiner vielfach ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen. Anknüpfend an diese Studie Wollaschs untersuchte von der Osten die Entwicklung des KFV vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur 1968 erfolgten Änderung des Vereinsnamens in Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) auf der Basis der Quellenüberlieferung der Vereinszentrale. Letztlich geht es um den programmatischen Wandel des Vereins von der Fürsorge zum sozialen Dienst. Breiten Raum nimmt die Schilderung der Einflussnahme des Verbands auf die Gesetzgebung des Fürsorgerechts ein. Im Zentrum stehen hier dann die 1961 im Bundessozialhilfegesetz eingeführten und 1967 vom Bundesverfassungsgericht wieder verworfenen Regelungen einer „Bewahrung“, durch das der KFV die Fürsorgeerziehung auch auf Erwachsene ausdehnen wollte. Daneben zeigt von der Osten, dass der Verein bereits seit Mitte der 1950er Jahre – wenn auch unter äußeren Zwängen wie etwa dem Mangel an Ordensschwestern auch innerhalb der Heimerziehung – eine langsame Öffnung in Richtung moderner Methoden der Sozialarbeit anstrebte. Gleichzeitig begann der KFV vor dem Hintergrund der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils und des sich lang-

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Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebeswerk (1889-1971), Paderborn u.a. 2008, bes. 430-461; siehe auf evangelischer Seite mit Blick auf die Schattenseite der Modernisierung in Form der Zwangssterilisation in der NS-Zeit: Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995; zudem die Beiträge in: Erika Welkerling/Falk Wiesemann (Hg.), Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. Jugendpflege und Hilfsschule im Rheinland 1933-1945, Essen 2005. Wollasch, KFV 1899-1945, S. 351.

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sam auflösenden katholischen Milieus, in seinen Bestrebungen einem pluralistischen Welt- und Menschenbild Raum zu geben. Über die Auswirkungen dieser Prozesse auf die konkrete Arbeit des Vereins vor Ort, also z. B. auf die Ende der 1960er Jahre existierenden ca. 100 Heime des KFV/SkF, lassen sich in der Untersuchung jedoch keine Erkenntnisse gewinnen. Von einer langsamen Modernisierung berichtet auch Andreas Henkelmann in seiner Dissertation über das Seraphische Liebeswerk, einen 1889 gegründeten katholischen Erziehungsverein. Diese Modernisierung lässt sich vor allem an einer Renovierung der Heime bis hin zum Einbau eines Schwimmbads belegen. Die ebenfalls dokumentierten Missstände in den frühen 1950er Jahren, die darin bestanden, dass einzelne als Erzieherinnen tätige Ordensschwestern ihre Gruppe mit exzessiver körperlicher Züchtigung unter Kontrolle zu bekommen versuchten, leiteten sich demnach aus einer Überforderung der Ordensschwestern ab, die nur aus Mangel an geeigneten Nachfolgerinnen in ihrer Aufgabe geblieben waren. Sie waren auf Grund der anstrengenden Kriegs- und Nachkriegszeit psychisch und physisch ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen. Auch Dickinson verweist auf die konfessionelle Dominanz im Feld der Jugendfürsorge. Er betont allerdings die teilweise subtilen Veränderungen in der Akzentuierung der zeitgenössischen kirchlichen Kulturkritik, die stärker auf Internalisierung von Normen als auf äußere Disziplinierung bei erziehungsschwierigen Kindern setzten.28 Damit markiert er einen Trend der Liberalisierung, der auf freiheitlichere Formen setzte, die sich mit der Rezeption psychologischer und pädagogischer Erkenntnisse vertrugen.29 Jüngst wurde auf einer Tagung des Bochumer Projektes von Andreas Henkelmann für die katholische Seite und Traugott Jähnichen für die evangelische Seite der Kenntnisstand skizziert, der auch in die hier vorgelegten Studien eingegangen ist.30 Schließlich sei an dieser Stelle 28 29

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Dickinson, The Politics of German Child Welfare, bes. S. 270-273. Vgl. allgemein für den katholischen Bereich die Studie von Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945-1975, Göttingen 2006. Andreas Henkelmann, Die Entdeckung der Welt – Katholische Diskurse zur religiösen Heimerziehung zwischen Kriegsende und Heimrevolten (1945-1969), in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 147-171; Traugott Jähnichen, Von der „Zucht“ zur Selbstverwirklichung“? – Transformation theologischer und religionspädagogischer Konzeptionen evangelischer Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren, in: ebd., S. 131-146.

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darauf hingewiesen, dass sich laufende Studien um die Heimerziehung in den so genannten „Sonderanstalten“ – hier vor allem Einrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung – befassen, die offenbar in stärkerem Maß als zunächst gedacht Minderjährige aus dem Bereich der Jugendfürsorge betreuten.31

Vernetzung mit anderen Projekten Verschiedene Projekte über konfessionelle Einrichtungsträger bzw. Personalgesteller (z. B. über die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, die Einrichtung Freistatt, die Volmarsteiner Anstalten, die Heimerziehung in evangelischen Heimen in Niedersachsen oder im Johannesstift in Berlin bzw. katholischen Heimen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart etc.) haben hier Erkenntniszuwächse gebracht und Schneisen für eine weitere Forschung eröffnet.32 Teilergebnisse des Bochumer Projektes zur konfessionellen Heimerziehung wurden durch den Vortrag von Traugott Jähnichen beim 31

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Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung – der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld 2011. An der Ruhr-Universität Bochum wird zur Zeit eine Untersuchung zur Heimerziehung im Franz-Sales-Haus in Essen und im St. Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen durchgeführt (vgl. http://www.ruhr-uni-bochum.de/mnkg/ media/pdf/projekte/projekt_skizze.pdf) Siehe Helmut Rosemann, Der Erziehungsbereich in Eckardtsheim: Fürsorgeerziehung und (halb-) offene Jugendsozialarbeit (bis 1970), in: Matthias Benad/ Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Bethel-Eckardtsheim. Von der Gründung der ersten deutschen Arbeiterkolonie bis zur Auflösung als Teilanstalt (1882-2001), Stuttgart 2006, S. 242-285; Erhard Wehn, Auf dem Weg zu einer anderen Pädagogik (ab 1970), in: ebd., S. 286-293; Ulrike Winkler, „Den eigenen Weg finden“. 100 Jahre Jugendhilfe Hephata (1908-2008), in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Hundert Jahre Jugendhilfe Hephata Diakonie, Schwalmstadt-Treysa 2008, S. 16-50; Matthias Benad/Hans-Walter Schmuhl/Kerstin Stockhecke (Hg.), „Endstation“ Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel von den 1890er Jahren bis in die 1970er Jahre, Bielefeld 2009; Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010; dies., Heimwelten. Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers e. V. von 1945 bis 1978, Bielefeld 2011;. Helmut Bräutigam, Heimerziehung im Evangelischen Johannesstift zwischen 1945 und 1970, o. O. [Berlin], o. D. [2010]; Susanne Schäfer-Walkmann/Constanze Störk-Biber/Hildegard Tries, Die Zeit heilt keine Wunden. Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hg. v. der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Freiburg 2011.

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„Runden Tisch Heimerziehung“ im Frühjahr 2009, Zuarbeit von Sachinformationen durch die Autoren und Teilnahme an einer Expertenanhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit des Deutschen Bundestages am 27. Juni 2011 eingebracht. Die Projektverantwortlichen haben zudem auf einer Fachtagung im Oktober 2009 verschiedene Forschende aus diesem Feld zusammengebracht und erste Zwischenergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt.33 Teile von Einzelbeiträgen hiervon finden sich nachfolgend noch einmal im Gesamtkontext konfessioneller Heime verwandt. Weitere Vorträge der Projektverantwortlichen fanden in zahlreichen Veranstaltungen der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände bzw. der Fachverbände für Heimerziehung statt und haben eine Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder im Ergebnis gefördert. Der „Runde Tisch Heimerziehung“ hat verschiedene Expertisen über die Bewältigung von Traumatisierungen, die juristischen Fragen und über die Erziehungsvorstellungen in den 1950/60er Jahren erstellen lassen und einen Zwischenbericht sowie seinen Abschlussbericht (alle in 2010) vorgelegt.34 Darin sind viele der in der politischen Debatte eine Rolle spielende Fragen angesprochen und z. T. auch beantwortet worden. Allerdings scheint eine historische Rekonstruktion der Heimerziehung in ihren regionalen und konfessionellen Kontexten nach wie vor defizitär zu sein.

Regionaler Zuschnitt und Typologie der Heime Die letztlich landesgesetzliche Zuständigkeit für das Feld der Jugendfürsorge und Jugendhilfe bedingt für das eigene Forschungsdesign eine Auswahl von Regionen. Hierbei sind die Gebiete Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern auf Grund ihrer konfessionell gemischten oder auch stark evangelisch oder katholisch geprägten Struktur als Untersuchungsbereiche herangezogen worden, in denen dann in ‚Tie33 34

Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat? Siehe die im Internet zugänglichen Dokumente (mittlerweile auch als Broschüren gedruckt): [http://vg05.met.vgwort.de/na/1bde3c5857444876947ef78f5703c9e3?l=ht tp://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Expertise_Trauma_000. pdf] (10.11.2010); [http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_ Expertise_Rechtsfragen.pdf] (10.11.2010); [http://www.rundertisch-heimerziehung. de/documents/RTH_Expertise_Erziehungsvorstellungen.pdf] (10.11.2010); [http:// www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Zwischenbericht_000.pdf] (10.11.2010); [http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht_000.pdf] (10.1.2011).

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fenbohrungen‘ auch die Geschichte einzelner Heime detaillierter beforscht wurde. Eine flächendeckende Erforschung der rund 1000 Heime in konfessioneller Trägerschaft war nicht zu leisten und konnte nur über eine Vernetzung mit anderen Forschungen in diesem Feld teilweise kompensiert werden. Bei der Auswahl der Heime war auf eine einigermaßen zufrieden stellende Überlieferung auf den verschiedenen Ebenen staatlicher und kirchlicher Archive, anstaltseigener Überlieferung und Zugängen über lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden zu achten. Die ausgewählten Einrichtungen umfassen zum einen größere Einrichtungen in einer Region, die zum Teil eine umfassende innere Differenzierung nach Alter, Geschlecht und Erziehungsschwierigkeit aufwiesen, besondere Jungen- oder Mädchenheime darstellten oder auch spezifisch von einer Ordensgemeinschaft getragen wurden. Darin wird die Vielfalt konfessioneller Heimerziehung deutlich, die altersmäßig vom Kinderheim (Henneckenrode, Düsselthaler Anstalten) zum Heim mit Ausbildungsangeboten (Johannesburg, Herzogsägmühle) reichte und für Mädchen (Birkenhof, Kaiserswerther Mädchenheime, Marienburg, Heime vom Guten Hirten) andere Aspekte betonte als für Jungen (Fassoldshof, Herzogsägmühle, Josefshaus, Martinistift, Johannesburg). Zudem galt es katholischer- wie evangelischerseits, das in den christlichen Personalgenossenschaften (Orden bzw. Diakonenbrüderschaften und Diakonissenschwesternschaften) organisierte Personal in seiner Erziehungspraxis (Heime vom Guten Hirten, Diakonissenanstalt Kaiserswerth, Fassoldshof) zu betrachten. Daneben finden sich in den regionalen Kapiteln jeweils zahlreiche Hinweise auf weitere Einrichtungen, die kurz charakterisiert, aber nicht ausführlich untersucht werden konnten. In den ausgesuchten Heimen spiegelten sich zudem fast alle allgemeinen Entwicklungen des Feldes von der Kooperation mit den zuständigen staatlichen Stellen, der ökonomischen Lage der Einrichtungen, der Modernisierung der Häuser, der Differenzierung der Gruppen, dem Personalmangel, dem Mentalitätswandel und den Reaktionen auf die eruptiven Heimkampagnen seit 1968. Der bei Beginn des Projektes noch bestehende Gedanke der Erstellung einer Typologie der Heime löste sich im Forschungsprozess zu Gunsten einer Heimtopographie auf, die jeweils regional für die einzelnen Landesteile skizziert wird. Der dafür verantwortliche historische Prozess einer äußeren wie inneren Heimdifferenzierung brachte eine Aufsplitterung mit sich, die eine Zuordnung des Großteils von

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Heimen auf Hierarchiestufen eines schlechten Umgangs mit den Minderjährigen – wie sie im Rahmen der politischen Debatte verschiedentlich gefordert oder auch behauptet wurde – nicht angemessen sein ließ. Abgesehen von den wenigen bekannten „Endstationen“ entfaltete sich regional eine eher netzwerkartige Struktur konfessioneller und staatlicher, nach Alter, Erziehungsschwierigkeit, psychiatrischer Diagnose oder Ausbildungsmöglichkeit differenzierter Einrichtungen. So deuteten heilpädagogische Heime oder der verstärkte Einsatz von Psychologen zwar eine fachliche Verbesserung an, doch konnten diese von den dort untergebrachten Minderjährigen ebenso traumatisch erlebt werden.

Quellen Die Annäherung an das zu erforschende Feld barg nicht geringe Schwierigkeiten. Viele der in Frage stehenden Aktenüberlieferungen sind nicht oder nur rudimentär vorhanden oder befinden sich noch in Registraturen, was ihre Benutzung z. T. unmöglich machte. Die archivalisch erschlossene Überlieferung stellte dabei zwar einen Grundstock dar, doch kann sie keineswegs als hauptsächliche Überlieferung gelten. Bei den verschiedenen Ebenen, auf denen nach Akten gesucht wurde, kann die Ebene staatlicher und kirchlicher Archive genauso unterschieden werden wie die Bundesebene, Landesebene (bes. Landesjugendämter bzw. Bezirksregierungen in Bayern), Landschaftsverbandsebene (in Rheinland und Westfalen) und die örtliche Ebene mit einzelnen Einrichtungen. In staatlichen Archiven haben sich in verschiedenen Bereichen Heimaufsichtsberichte, Beschwerden, Statistiken und allgemeiner Schriftwechsel über kirchliche Einrichtungen erhalten. Auf der kirchlichen Ebene waren Überlieferungen im Archiv des Diakonischen Werkes der EKD in Berlin und des Archivs des Deutschen Caritasverbandes wichtig, um allgemeine Einschätzungen über die Politik und die Einflüsse der konfessionellen Wohlfahrtsverbände sowie ihrer Fachverbände für Erziehungshilfe zu gewinnen. In ähnlicher Weise war hier regional auf der Ebene der Bistümer bzw. evangelischen Landeskirchen der Bundesländer NRW, Niedersachsen und Bayern vorzugehen. Die politischen und kirchlichen Grenzen decken sich nur in Ausnahmefällen, weswegen sich der Aufwand teilweise vervielfachte. Auf der Ebene der einzelnen Einrichtungen wurden neben Eigenschrifttum auch Akten, Registraturgut und Materialsammlungen

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gesichtet und ausgewertet. In Einzelfällen konnte auch Einblick in Einzelakten erlangt werden.35 Durch die Mitarbeit eines Autors bei der interdisziplinären Forschergruppe zur Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes im Rheinland ergaben sich Synergieeffekte, ohne die die Masse des Materials nicht zu bewältigen gewesen wäre.36 Lebensgeschichtliche Interviews dienten zudem dazu, einen tieferen Einblick in beispielhafte Alltagsverläufe in den Einrichtungen und auf die biografische Verarbeitung der Erfahrungen ehemaliger Heimkinder wie ehemaliger Mitarbeitender in den Heimen zu werfen. Teilweise stellten die Interviewten auch Materialien bereit, die sie im Rahmen der Recherche ihres eigenen Schicksals gesammelt haben, wofür ihnen hier noch einmal ausdrücklich gedankt sein soll. Manche der ehemaligen Heimkinder haben aus Furcht vor möglichen Nachteilen in ihrem sozialen und beruflichen Leben ihre Lebensbeschreibung anonymisiert. Alle Interviews sind voll transkribiert, werden den Archiven des Diakonischen Werkes der EKD in Berlin und des Archivs des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg zur Verfügung gestellt und gehen damit in eine dauerhafte Überlieferungsbildung zum Thema Geschichte der Heimerziehung ein.

Aufbau der Studie Neben der in die Erforschung des Gesamtfeldes einführenden Einleitung wird in einem zweiten Kapitel eine statistische Vermessung des Gesamtfeldes vorgenommen, nachdem zuvor der rechtliche Rahmen von Fürsorgeerziehung, Freiwilliger Erziehungshilfe und kommunalen Erziehungshilfen im statistischen Zusammenhang skizziert und die vorhandene Datenbasis erläutert wurden. So kann mit Angaben über Heime, ihre Platzzahlen und Belegung sowie Hinweisen auf das dort arbeitende Personal eine statistische Annäherung an die Dimension der konfessionellen Heimerziehung erfolgen. Das dritte Kapitel wendet sich den Entwicklungen und Debatten innerhalb der konfessionellen Heimerziehung im Überblick zu. Es verweist auf die Traditionen im deutschen Erziehungswesen, die Heimaufsicht und andere Kontrollen der Unterbringung von Heimkindern, den 35

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Den Leitungen der Archive und der Einrichtungen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Vgl. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung.

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Personal- und Ausbildungsmangel wie die äußere und innere Heimdifferenzierung. Diese steht mit der Frage nach dem Pflegesatz der Heime und nach den Erziehungsmitteln und Strafen in einem engen Zusammenhang. Nach dieser Annäherung aus der Sicht quellenkritisch zu interpretierender Akten geht es im vierten Kapitel um die Erfahrungsgeschichte ehemaliger Heimkinder und Mitarbeitender in der Heimerziehung. Nach einer auf die Frage der Methodik abhebenden Einleitung sollen anhand von ausgewählten Interviews individuelle Biographien in typischen Aspekten vorgestellt werden. Die Interviews sind in ihrer Qualität als Quelle sowohl in die nachfolgenden Mikrostudien als auch in die Beschreibungen des Heimalltags eingeflossen. Vor den neun Mikrostudien zu konfessionellen Einrichtungen der Erziehungsfürsorge und Jugendhilfe erfolgt eine Skizzierung der jeweiligen regionalen und zum Teil auch rechtlichen Kontexte, in denen die Heime eingebettet waren. Hier finden sich auch zahlreiche Informationen über weitere Heime in den Regionen, ohne dass diese Gegenstand eigener ausgearbeiteter Studien geworden sind. Gerade die Vielzahl der Waisenhäuser/Kinderheime, in denen ein großer Teil der ehemaligen Heimkinder untergebracht war und nicht selten der Weg durch die verschiedenen Einrichtungen begann, konnte nur in Einzelbeispielen berücksichtigt werden. Von den neun Mikrostudien beziehen sich regional zwei auf das Rheinland, eine auf Westfalen, drei auf Niedersachsen, zwei auf Bayern und eine auf einen katholischen Heimträger, der sowohl Heime in NRW wie in Bayern unterhielt. Darunter beziehen sich fünf auf evangelische Träger und vier auf katholische. Die Klientel der Heime bestand in zwei Fällen im Wesentlichen aus Schulpflichtigen, in vier Fällen aus schulentlassenen Jungen und in drei Fällen aus schulentlassenen Mädchen. In allen Einrichtungen spielten katholisches Ordenspersonal oder von Diakonen- und Diakonissengemeinschaften gestellte Kräfte eine wichtige Rolle, wenn sie auch gerade in den evangelischen Einrichtungen keineswegs in der Mehrheit waren. Je nach Einrichtung werden unterschiedliche thematische Schwerpunkte (z. B. Arbeit, Strafen, Personal) gesetzt, wenngleich sich allgemeine Angaben zur Geschichte, zur Struktur und dem Heimalltag in jeder Fallstudie finden. Im sechsten Kapitel sollen systematisch Aspekte des Heimalltags zusammengetragen werden, wie sie sich teilweise in den Mikrostudien dargestellt haben. Dabei geht es um den zeitlich reglementierten Tagesablauf, die religiöse Erziehung im Heim, die Freizeit, die mögliche oder unmög-

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liche Bindung an Bezugspersonen, die Fragen nach Schule und Arbeit im Heim, nach Strafen und Demütigungen und nach sexueller Gewalt. Das siebte Kapitel befasst sich mit dem Wandel der Heimerziehung zwischen 1968 und 1975. Dabei werden die Debatten in den konfessionellen Verbänden seit den 1960er Jahren als Vorbereitung der dann 1969 einsetzenden Heimkampagnen skizziert, die in den jeweiligen Schwerpunktregionen kurz mit den Reaktionen der konfessionellen Träger zur Darstellung kommen. Schließlich werden die Veränderungen in ihrem Bereich angedeutet. Die Praxis in der Heimerziehung wie der Jugendhilfe hing den hier propagierten Veränderungen noch lange nach.

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2. Statistische Annäherung an die Heimerziehung unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens und des Prinzips der Konfessionalität1 Einführung

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ie einleitend erwähnt wurden im Rahmen des Projekts zur Erforschung der konfessionellen Heimerziehung die Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern auf Grund der Dichte konfessioneller Einrichtungen als Beispiel-Regionen ausgewählt. Immerhin befanden sich 1965 in Niedersachsen 90 %, in NRW 85,6 % und in Bayern 85,1 % der im Rahmen von FE und FEH in Heimen untergebrachten Minderjährigen in privaten, meist in konfessioneller Trägerschaft stehenden Einrichtungen. Allerdings stellte sich in Hamburg und Schleswig-Holstein der Anteil konfessioneller Heime mit 26,8 % bzw. 37,2 % weitaus geringer dar, sodass konfessionelle Träger hier keine große Rolle spielten.2 Für eine genauere Analyse ist also die Länderperspektive unerlässlich. Es bedarf aber nicht nur im Hinblick auf die regionale Streuung konfessioneller Heime einer differenzierten Heimstatistik. Sie sollte auch für etwaige Gesamtzahlen, die unterschiedlichen Formen der Heimunterbringung oder Größenordnungen beim Personal eine wesentliche Voraussetzung sein. Die Sammlung und Auswertung der notwendigen Datenbasis ist jedoch nicht zuletzt auch wegen der zunehmenden Differenzierung der Heimerziehung z. T. sehr schwierig3 und im Zuge dieser Untersuchung nur ansatzweise zu leisten. Letztlich kann an dieser Stelle nur eine Annäherung erfolgen, die es durch weitere Studien zu ergänzen gilt. Statistische Befunde zur Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik führen den Betrachter zunächst die große Zahl

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Das Kapitel basiert für den statistischen Teil auf: Bernhard Frings, Annäherung an eine differenzierte Heimstatistik – Statistik der Betroffenheit, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 28-46. Dort ist auch eine Reihe von Tabellen aufgelistet, auf die hier jeweils Bezug genommen wird. Auswertung der Angaben des AFET-Mitglieder-Rundbriefs vom März 1967 für das Jahr 1965. Thomas Rauschenbach/Matthias Schilling (Hg.), Die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Statistik, Bd. 1: Einführung und Grundlagen, Neuwied 1997, S. 34.

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von Kindern und Jugendlichen vor Augen, die in diesem Zeitraum in Kontakt mit der Heimerziehung gerieten. Und auch die Vielzahl an Einrichtungen, die, weitgehend konfessionell geprägt, eine solche Größenordnung überhaupt möglich machte, wird deutlich. Schließlich lassen die Zahlen erahnen, in welchem Maß die Mitarbeiter gerade auch der konfessionellen Heime bei der Bewältigung ihrer Aufgaben oftmals ge- bzw. überfordert und welche Konsequenzen für die betreuten Minderjährigen damit verbunden gewesen sein müssen. Denn in den Einrichtungen ergaben sich lange Zeit in der Regel Personalschlüssel, die den nur wenigen Erziehungskräften meist sehr große Gruppen an Kindern und Jugendlichen zuwiesen.4 Allerdings ist es zum Verständnis und zur Einordnung der Zahlen notwendig, die rechtlichen Grundlagen mit einzubeziehen. So unterschieden sich etwa die gesetzlichen Zuständigkeiten bei der Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Waisenhäuser/Kinderheime oder in Heime der Fürsorgeerziehung, was wiederum nicht selten für die teilweise unzureichende Datenbasis verantwortlich ist. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden zunächst kurz die rechtlichen Rahmenbedingungen der Heimerziehung, die Datenbasis und die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes dargelegt werden, um dann die Dimension und zunehmende Differenzierung der Heimerziehung insgesamt zu zeigen. Schließlich wird der konfessionelle Bereich in den Fokus gerückt. Obwohl vieles dabei nur angerissen werden kann, erschließen sich doch Relationen und Tendenzen wie auch weiter führende Fragestellungen.

Der rechtliche Rahmen: Kommunale Erziehungshilfen – Fürsorgeerziehung – Freiwillige Erziehungshilfe Eine statistische Bestandsaufnahme der Fremderziehung in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 hat zunächst die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen der Interventionen und auch der damit verbundenen Zuständigkeiten für den Erziehungsverlauf der in den Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. Anhand der Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts, das zum 1. April 1950 die Statistik der öffentlichen Jugendhilfe als bundeseinheitliche Statistik einführte, lassen sich diese Rückwirkungen nachzeichnen. 4

Vgl. die Beispiele in den Mikrostudien in Kap. 5.4.

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„Folgende Arbeitsgebiete wurden als Erhebungsgegenstand aufgeführt: Pflegekinderschutz, Amtsvormundschaften, Vaterschaftsfeststellungen, Adoptionen, Tätigkeit des Gemeindewaisenrates, Schutzaufsicht und sonstige Betreuung gefährdeter Jugendlicher, Amtspflegschaft bzw. Amtsbeistandschaft, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe, soweit diese von den Jugendämtern durchgeführt wurden. Anders als bei den Vorläuferstatistiken wurde die Fürsorgeerziehung nicht mehr in einer gesonderten Statistik erhoben, sondern in die Statistik der öffentlichen Jugendhilfe integriert.“5 Zu diesem Zeitpunkt orientierten sich nicht nur die Statistik, sondern auch der konkrete rechtliche Rahmen der Heimerziehung am auch nach der Gründung der Bundesrepublik weiterhin geltenden Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922/24.6 Es hatte die im Deutschen Kaiserreich erlassenen Zwangserziehungsgesetze und die Bestimmungen des BGB von 1900 abgelöst.7 § 1 schrieb erstmals fest, dass „jedes deutsche Kind ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit [hat]. Das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung werden durch dieses Gesetz nicht berührt. Gegen den Willen des Erziehungsberechtigten ist ein Eingreifen nur zulässig, wenn ein Gesetz es erlaubt. Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit, öffentliche Jugendhilfe ein.“ Für die Maßnahmen in Verantwortung der kommunalen Jugendämter gaben die §§ 3 und 4 die grundsätzliche Handhabe. Zu den Aufgaben des Jugendamts gehörten nach § 3 die „Fürsorge für hilfsbedürftige Minderjährige“, und nach § 4, „Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen für: 1. Beratung in Angelegenheiten der Jugendlichen; 2. Mutterschutz vor und nach der Geburt; 3. Wohlfahrt der Säuglinge; 4. Wohlfahrt der Kleinkinder; 5. Wohlfahrt der im schulpflichtigen Alter stehenden Jugend außerhalb des Unterrichts; 6. Wohlfahrt der schulentlassenen Jugend.“

5 6 7

Rauschenbach/Schilling, Statistik, S. 28. Reichsgesetzblatt 1922, Teil 1, S. 633-648. Vgl. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 21-28.

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Zu den hier relevanten Einrichtungen zählten Beratungsstellen ebenso wie Kindergärten und Erholungsheime, aber auch Waisenhäuser/Kinderheime. Grundsätzlich waren die Jugendämter gehalten, „die freiwillige Tätigkeit zur Förderung der Jugendwohlfahrt unter Wahrung ihrer Selbständigkeit und ihres satzungsmäßigen Charakters zu unterstützen, anzuregen und zur Mitarbeit heranzuziehen“, um ein koordiniertes Vorgehen öffentlicher und freier Jugendhilfe zu gewährleisten (§ 6). Ein wichtiger Bereich war hier die Pflegeaufsicht der Jugendämter. Sie umfasste auch diejenigen Minderjährigen, die nicht in Pflegefamilien, sondern in Einrichtungen wie Säuglings- und Kinderheimen untergebracht waren. Sie zählten statistisch betrachtet daher auch in den Bereich der Pflegeaufsicht, ohne allerdings gesondert aufgeführt zu werden.8 Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass ein uneheliches Kind von seiner Geburt an unter die Vormundschaft des örtlichen Jugendamtes gelangte (§ 35), das damit die gesetzliche Vertretung des Kindes wahrnahm. Im Fall einer Heimeinweisung war hier eine enge behördliche Verquickung gegeben. So standen uneheliche Kinder wie ihre Mütter durch die gesetzliche Amtsvormundschaft grundsätzlich unter besonderer „behördlicher Beobachtung und Kontrolle“.9 Allerdings blieb die Sorge für das uneheliche Kind wie auch dessen Aufenthaltsbestimmungsrecht bei der Mutter. Eine Heimeinweisung im Rahmen der kommunalen Pflegeaufsicht wegen Gefährdung des Kindeswohls gegen den Willen der Eltern war darüber hinaus nur nach §  1666 des BGB möglich, indem das Vormundschaftsgericht entsprechende Schritte anordnen konnte. Neben diesen von den örtlichen Jugendämtern beantragten und dann auch beaufsichtigten Heimunterbringungen von Kindern und Jugendlichen regelte das RJWG diejenigen Maßnahmen, die vor allem die Jugendämter bei aus ihrer Sicht sowohl drohender als auch eingetretener körperlicher oder sittlicher „Verwahrlosung“ eines Minderjährigen einleiten konnten. Zur Verhütung dieses Zustands bestand wie für Eltern und Vormünder die Möglichkeit, beim Vormundschaftsgericht die Schutzaufsicht für den Minderjährigen zu beantragen. Das Vormundschaftsgericht übertrug dem Jugendamt oder nach Anhörung dessel8 9

Rauschenbach/Schilling, Statistik, S. 31. Friedericke Wapler/Dietmar von der Pfordten, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Gutachten im Auftrag des „Runden Tisch Heimerziehung“, erstellt am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen, 31. Mai 2010, http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Expertise_Rechtsfragen.pdf, S. 21.

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ben einer Vereinigung für Jugendhilfe oder einer einzelnen Person die Schutzaufsicht, wobei „auf das religiöse Bekenntnis oder die Weltanschauung des Minderjährigen tunlichst Rücksicht zu nehmen ist“ (§ 60). Schien die Schutzaufsicht nicht erfolgreich oder war die „Verwahrlosung“ bereits eingetreten, beantragte das Jugendamt die Anordnung der Fürsorgeerziehung (FE) durch das Vormundschaftsgericht, die entweder in einer geeigneten Familie oder einer Erziehungsanstalt unter öffentlicher Aufsicht auf öffentliche Kosten durchzuführen war. Sie betraf Minderjährige, die das 18. Lebensjahr oder bei berechtigten Erfolgsaussichten der FE das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. „Bei Gefahr im Verzuge kann das Vormundschaftsgericht die vorläufige Fürsorgeerziehung des Minderjährigen beschließen.“ (§ 67) Die Ausführung der FE, die ausführende Behörde – nach Möglichkeit das jeweilige Landesjugendamt – und die Kostenträger sollten durch die Länder geregelt werden. Auch wurde vorgeschrieben, dass die unter ärztlicher Mitwirkung zu erfolgende Unterbringung in FE bei Minderjährigen, die an „geistigen Regelwidrigkeiten leiden (Psychopathie, Epilepsie, schwere Erziehbarkeit usw.) oder an schweren ansteckenden Erkrankungen (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten usw.), in „Sonderanstalten oder Sonderabteilungen“ zu erfolgen habe, „soweit es aus hygienischen oder pädagogischen Gründen geboten erscheint“ (§ 70). Daneben entwickelte sich aus der Tradition, Kinder auch auf privatrechtlicher Basis außerhalb der eigenen Familie unterbringen zu können, die Freiwillige Erziehungshilfe (FEH) bzw. Erziehungsfürsorge. Da das RJWG hierzu keine einheitlichen Bestimmungen erlassen hatte, war diese Form der Fremderziehung in den Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt und ausgeprägt. Während Länder oder Fürsorgeverbände wie Hamburg, Baden und Sachsen oder Nordrhein und Westfalen teilweise bereits seit den 1920er Jahren FEH in wachsender Zahl durchführten, blieb sie in anderen Ländern wie Schleswig-Holstein, Württemberg und Bayern weitgehend bedeutungslos.10 Seit 1955 kam allerdings zumindest die statistische Gleichstellung der FEH mit der FE zum Tragen, indem die FEH nun differenziert und bundeseinheitlich erfasst wurde, „obwohl es […] zum damaligen Zeitpunkt noch keine bundesgesetzliche Grundlage gab“.11 10 11

Wapler/Pfordten, Expertise, S. 21-26. Rauschenbach/Schilling, Statistik, S. 30f. Vgl. auch Gertraude Schulz, Die Freiwillige Erziehungshilfe. Geschichtliche Entwicklung, gegenwärtiger Stand, zukünftige

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Im Rahmen der FEH übertrugen die Erziehungsberechtigten eines Minderjährigen durch Vertrag mit der zuständigen Jugendwohlfahrtsbehörde (Jugendamt, Landesjugendamt, Fürsorgeerziehungsbehörde) das Erziehungsrecht an die Erziehungsbehörde. Je nach Bundesland verpflichteten sie sich dabei, die Vereinbarung erst nach einer bestimmten Frist widerrufen zu können. Gleichzeitig bestanden unterschiedliche Regelungen, ob und in welchem Umfang sich etwa die Eltern an den Kosten der Heimunterbringung beteiligen mussten.12 Im Rheinland wurde die Finanzierung zu zwei Dritteln durch das Landesjugendamt und zu einem Drittel durch den zuständigen Bezirksfürsorgeverband oder die Erziehungsberechtigten getragen. Wenn auch die FEH als eine leichtere Form der FE angedacht war, bestanden doch zwischen FE- und FEH-Zöglingen bei der Heimunterbringung etwa hinsichtlich der Gruppenaufteilung und der angewandten Erziehungsmethoden in der Regel keine Unterschiede. 1953 führte der Gesetzgeber eine Novelle des RJWG durch, um es an die bundesrepublikanischen Verhältnisse anzupassen und dabei die 1939 erfolgten Änderungen, die die Jugendämter nach dem „Führerprinzip“ strukturiert hatten, wieder aufzuheben. Ansonsten blieben die wesentlichen Regelungen des RJWG in Kraft, wobei jedoch die Interpretation verstärkt in Richtung einer „vorbeugenden Erziehungsfürsorge“ ging.13 Das 1961 vom Bundestag verabschiedete und zum 1. Juli 1962 in Kraft getretene Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) – nach Meinung vieler Beobachter wurde kein grundlegender Wandel zum RJWG erreicht14 – brachte doch für den Bereich der Heimerziehung einige Neuerungen. § 5 schrieb als Aufgabe des Jugendamts fest, „die für die Wohlfahrt der Jugend erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen“, wobei Träger der freien Jugendhilfe vorrangig zu behandeln seien.15 Der sich an-

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Regelung und Abgrenzung zur Fürsorgeerziehung und sonstigen Erziehungsmaßnahmen, Freiburg 1953. Rudolf Sieverts, Allgemeine Rechtsgrundlagen der fürsorglichen Heimerziehung, in: Friedrich Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt a. M. u.a. 19521966, S.1094-1099; Kurt Lücken, Elternrecht und Heimerziehung, in: ebd., S. 1173f. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 44. Hasenclever, Jugendhilfe , S. 202-206. Gegen die hier formulierte Form des Subsidiaritätsprinzips, das gerade den kirchlichen Verbänden Vorteile brachte, legte eine Reihe von Kommunen und Ländern Verfassungsbeschwerde ein. 1967 bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese gesetzliche Vorgabe, ohne jedoch der freien Jugendhilfe einen grundsätzlichen Vorrang einzuräumen. Vgl. Hasenclever, Jugendhilfe, S. 203-205; Johann Münder u.a,

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schließende Aufgaben-Katalog ähnelte dem § 4 RJWG, wobei sich eine Reihe von Maßnahmen auf Personen über 18 Jahren erstrecken konnte. Vor allem die „Pflege und Erziehung von Säuglingen, Kleinkindern und von Kindern im schulpflichtigen Alter außerhalb der Schule“ stellte ein Feld dar, dass auch die Heimunterbringung einschloss. § 6 konkretisierte dann: „Werden einem einzelnen Minderjährigen nach § 4 oder § 5 Hilfen zur Erziehung gewährt, so gehört hierzu der in einer Familie außerhalb des Elternhauses des Minderjährigen, in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung gewährte notwendige Lebensunterhalt.“ Allerdings enthielt das JWG bis auf FEH und FE, die einen stärker eingreifenden Charakter hatten, keine zusammenfassende Rechtsregelung für die Erziehung außerhalb des Elternhauses, obwohl die formlose Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie gegenüber FE/ FEH zahlenmäßig eine deutlich größere Rolle spielte. Als entscheidende rechtliche Voraussetzung für eine entsprechende Unterbringung des Minderjährigen galt einzig das Einverständnis der Personensorgeberechtigten.16 Nur durch eine privatrechtliche Vereinbarung etwa im Heimvertrag konnten fortan die Erziehungsbefugnisse der Eltern auf die Heimleitung übertragen werden. Die FEH trat jetzt bundeseinheitlich neben die FE, wobei weiterhin die „Verwahrlosung“ die Voraussetzung zur Einweisung bildete, aber die Altersgrenze in beiden Formen bis zur Volljährigkeit von 21 Jahren angehoben wurde. Schließlich führte das Gesetz die Aufsicht durch das Landesjugendamt über alle „Heime und andere Einrichtungen“ ein, „in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, betreut werden oder Unterkunft erhalten“, sofern sie nicht der landesgesetzlichen Schulaufsicht unterstanden (§ 78). Die gesteigerte Bedeutung der Jugendhilfe kam zudem dadurch zum Ausdruck, dass fortan in jeder Legislaturperiode die Bundesregierung einen Bundesjugendbericht vorlegen sollte (§ 25).17 Erst 1990 löste die Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes das JWG ab.

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Frankfurter Kommentar zum Gesetz für Jugendwohlfahrt, 2., überarb. Aufl., Weinheim/Basel 1981, S. 112-119. Münder, Frankfurter Kommentar, S. 107. Hasenclever, Jugendhilfe, S. 202f.

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Datenbasis und Eingrenzung Grundlage der nachfolgenden Zusammenstellungen sind vor allem Zahlen des Statistischen Bundesamts zur Öffentlichen Jugendhilfe18, die Mitglieder-Rundbriefe des Allgemeinen Fürsorge-Erziehungstags (AFET)19, AFET-Verzeichnisse20, Caritas-Handbücher21, Statistische Auswertungen des Deutschen Caritasverbands (ADCV) von 200722 sowie Angaben aus einem Verzeichnis des Evangelischen Reichserziehungsverbands (EREV)23 und aus Diakoniejahrbüchern24. Regio18

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Hier besonders in: Wirtschaft und Statistik 3 (1951), Heft 11, S. 457-461; ebd. 6 (1954), Heft 1, S. 44-46; ebd. 8 (1956), Heft 12, S. 670-673; ebd. 13 (1961), Heft 10, S. 591-594; ebd. 18 (1966), Heft 9, S. 579-584; ebd. 24 (1972), Heft 11, S. 648-654; ebd. 25 (1973), Heft 12, S. 726-731; ebd. 28 (1976), S. 744-750 sowie Statistische Berichte, Reihe VI/29; Statistisches Bundesamt, Fachserie K, Reihe 2; Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 6. Freundlicherweise stellte Melanie Mangold vom Arbeitsbereich Sozialpädagogik an der Universität Koblenz-Landau, wo sich eine Sammlung der Rundbriefe befindet, zahlreiche Kopien zur Verfügung. 1926 gab der AFET erstmals ein „Verzeichnis der deutschen Anstalten für Fürsorgezöglinge“ heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1949 die vierte Auflage, der 1954, 1959, 1964, 1968 und 1975 weitere folgten. Da der Umfang und die Unterteilung der Verzeichnisse kontinuierlich anwuchsen, erwies sich eine durchgehende differenzierte Auswertung als zunehmend schwieriger und zeitaufwendiger. Bei den AFETVerzeichnissen ist zu berücksichtigen, dass hier ausschließlich diejenigen Heime aufgeführt wurden, in denen Minderjährige in FE und FEH untergebracht waren. Carl Becker (Bearb.), Handbuch der caritativen Jugendhilfe in Deutschland. Übersicht über die Anstalten und Einrichtungen der Kath. Jugendhilfe nach dem Stande vom 1. November 1953, hg. v. d. Zentrale des Deutschen Caritasverbands, Freiburg i. Br. 1954; ders. (Bearb.), Die Heime der katholischen Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Stande vom 1. Mai 1965, hg. v. d. Zentrale des Deutschen Caritasverbands, Freiburg i. Br. 1965. 2007 wurden im ADCV die Ergebnisse regelmäßiger Rundfragen an die Mitgliedseinrichtungen des Verbands statistisch ausgewertet. In einem anlässlich des 75. Jubiläums des Verbands verfassten Beitrag zu dessen zahlenmäßiger Entwicklung wurde für den Bereich der Jugendhilfe offenbar die gleiche Zahlenbasis genutzt. Dabei sind teilweise größere Abweichungen festzustellen, die vermutlich in einer unterschiedlichen Kategorisierung der Heime begründet liegen. Vgl. Harro Bühler, Die Einrichtungen der deutschen Caritas 1913–1970, in: Alfons Fischer (Red.), 18971972. 75 Jahre Deutscher Caritasverband, hg. v. Deutschen Caritasverband, Waldkirch 1972, S. 201-219, bes. 213. Verzeichnis Evangelischer Erziehungsheime, in: Evangelische Jugendhilfe, Sonderheft, Sept. 1953, S. 4. Die Entwicklung der Anstaltsarbeit 1950–1960, in: Diakoniejahrbuch 1959/60, S. 127-130; Gräfin von Polier, Zahlen aus der Arbeit der Diakonie, in: Diakoniejahrbuch 1970, S. 124.

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nale Statistiken, so sie denn vorlagen, werden in den Kapiteln zur Topographie der Beispiel-Regionen erwähnt. Für den Bereich FE/FEH ließen sich sowohl in den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts als auch des AFET fast durchgängig und gut aufgeschlüsselt Angaben finden, die jedoch teilweise Unterschiede aufwiesen. Dagegen blieb das Feld der Waisenhäuser/Kinderheime, also derjenigen Minderjährigen, die im Rahmen der Pflegeaufsicht und dann nach §§ 5/6 JWG in Heimerziehung kamen, bis Ende der 1960er Jahre nur schwer zu erfassen. Hier fehlten offenbar zentrale Stellen, die die bei den zuständigen kommunalen Jugendämtern anfallenden Zahlen sammelten und ordneten. Erst in Anpassung an das neue JWG von 1961 wurde 1963 auch die Jugendhilfe-Statistik gesetzlich neu geregelt und dabei die Erhebungstatbestände angepasst. So fanden bei der Erfassung Minderjähriger unter Pflegeaufsicht auf Grund der neuen Bestimmungen des JWG zur Heimpflege diejenigen keine Berücksichtigung mehr, die gemäß §§ 5 und 6 in Heimen untergebracht waren. Wegen des starken Eingriffscharakters von FEH und FE erhielt die Statistik für diesen Bereich eine weitere Differenzierung, indem die Erhebungsmerkmale Altersgruppen sowie Dauer und Beendigungsgründe der Unterbringung neu hinzukamen. Hinsichtlich der Erfassung der Einrichtungen der Jugendhilfe fand eine Ausdehnung der Einrichtungsarten u.a. durch die Unterscheidung von Kinderheimen und Erziehungsheimen im Rahmen der Heimerziehung von 12 auf 17 statt. Nach Rauschenbach/Schilling war „1963 der Punkt erreicht, an dem die Jugendhilfe über eine eigene Statistik verfügt, die einerseits Rechtssicherheit durch die gesetzliche Verankerung erhalten hat und andererseits jugendhilferelevante Informationen nicht mehr aus Statistiken zu anderen Bereichen (Fürsorge) zusammengetragen werden müssen.“25 Im Zusammenhang mit der Erstellung des Mitte 1965 vorgelegten Ersten Jugendberichts der Bundesregierung wurde dann ersichtlich, dass eine bundeseinheitliche Jugendhilfestatistik erforderlich war, die einheitliche Begrifflichkeiten verwenden und die freien Träger der Jugendhilfe mit einbeziehen sollte. Denn wegen der unzureichenden Datenbasis verzögerten sich die Arbeiten der Kommission um zwei Jahre. „Das Erhebungskonzept wurde in den folgenden Jahren unverändert weitergeführt. Im Jahre 1969 wurde eine schon lange offenkundige 25

Rauschenbach/Schilling, Statistik, S. 33.

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Unzulänglichkeit behoben. Wie bereits erwähnt, wurden ab 1963 nicht mehr diejenigen Kinder gezählt, die in Heimen gemäß §§ 5/6 untergebracht waren, da ab diesem Zeitpunkt nicht mehr die Pflegeaufsicht des Jugendamtes zuständig war, sondern die Heimaufsicht bei den zuständigen Landesjugendämtern lag. Somit konnte im Jahre 1969, also 7 Jahre nach Inkrafttreten des JWG, erstmals aufgezeigt werden, dass die vom Jugendamt im Rahmen der Hilfen zur Erziehung nicht nur vorübergehend untergebrachten Minderjährigen (gemäß §§ 5/6 JWG) zu zwei Dritteln im Heim und einem Drittel in Pflegefamilien untergebracht waren (vgl. Statistisches Bundesamt 1970, S. 582). Die Aufnahme dieser Erhebungskategorie ist im Kontext der in der Öffentlichkeit heftig geführten Diskussion um die Fürsorgeerziehungsheime zu sehen, die auch eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die in Kinderheimen untergebrachten Minderjährigen lenkte.“26 Es dürfte deutlich geworden sein, dass eine aussagekräftige Heimstatistik wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum nur schwierig zu erstellen ist. Aber auch die zunehmende Vielfalt der Einrichtungen erschwerte eine klare Bestandsaufnahme. So stellte der 1965 vorgelegte erste Bericht der Bundesregierung über die Jugend fest, dass das Feld der Heimerziehung nur schwer mit einem Blick zu erfassen war: „Auf der Seite der Erziehungsheime differenzieren sich die Heime immer mehr nach den neuen Erkenntnissen über die Ursachen und die Heilungsaussichten von Erziehungsschwierigkeiten. Zu den beiden Hauptformen – Heime für Kinder und Heime für Jugendliche – ist eine dritte für heranwachsende junge Menschen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren hinzugekommen. Die Sonderheime für Körperbehinderte, Sinnesgeschädigte, geistig Minderbegabte und charakterlich besonders Gefährdete werden außerdem noch nach dem Grad der Bildungsfähigkeit der Jugendlichen aufgegliedert. In allen Kategorien haben sich zudem einzelne Heime auf eine heilpädagogisch-therapeutische Behandlung spezialisiert; damit ist der neue Typ des heilpädagogischen Erziehungsheimes entstanden. Ferner gibt es besondere Heimstätten für die vorübergehende Aufnahme, für die Beobachtung und auch für die dauernde Bewahrung junger Menschen. Außerdem entwickeln die Pflegeheime, die lange Zeit von den Erziehungsheimen kaum zu unterscheiden waren, gegenwärtig eigene Formen. Neben den Säuglingsund Kinderheimen gibt es heute Wohnheime für alleinstehende Mütter 26

Ebd., S. 34.

29

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

mit Kindern; mit den Pflegenestern und Kinderdörfern geht die Heimerziehung ebenfalls neue Wege.“27 Daher ergaben sich bei der Auswertung der Zahlen des Öfteren Probleme hinsichtlich der Vergleichbarkeit der aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragenen Daten, zumal die oben skizzierte zunehmende Differenzierung der Einrichtungen die eindeutige Zuordnung erschwerte. So wurden die Sonderheime nur bei der Gesamtübersicht, die Lehrlings- oder Jugendwohnheime gar nicht ins engere Blickfeld genommen, da zudem im Rahmen des Projekts eine weitgehende Konzentration auf die Kinderheime und Erziehungsheime erfolgte.

Heime, Plätze, Belegung Heime gesamt (aus Wirtschaft und Statistik) Art der Einrichtung

1952

1955

1960

1965

1970

1975

Säuglingsh.

269

348

417

442

309

119

Kinderheime

932

989

1.008

968

207

232

286

186

206

199

282

316

396

78

91

86

2.184

2.162

2.054

Heime für Schulpflicht. Heime für Schulentl. Erz.-Heime Schulfpl. Erz.-Heime Schulentl. Vorasyle

1.045

1.052

178

204

117

Beobacht.-H

102

104

Sonder-H. Mutter/Kind Gesamt

27

72 1.390

1.673

1.777

Erster Bericht über die Jugend 1965, Bundesdrucksache V/302, S. 140.

30

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

Plätze gesamt (aus Wirtschaft und Statistik) Art der Einrichtung

1952

1955

1960

1965

1970

1975

Säuglingsh.

14.450

15.695

18.128

17.324

10.375

3.214

Kinderheime

56.540

60.091

55.976

45.738

16.147

19.246

17.641

16.105

16.108

11.371

17.749

23.681

28.802

Heime für Schulpflicht. Heime für Schulentl. Erz.-Heime Schulfpl. Erz.-Heime Schulentl. Vorasyle

71.537

72.417

18.147

17.495

2.589

Beobacht.-H

2.426

2.569

Sonder-H. Mutter/Kind Gesamt

2.120 75.699

107.805

110.609

2.012

2.126

2.202

129.428

127.512

108.968

Die Erhebungen des Statistischen Bundesamts von 1952 bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre verzeichneten einen kontinuierlichen Anstieg der Einrichtungen bis auf ca. 2.200 Heime, um danach langsam zu sinken. Dabei gab es bis etwa 1955 und zwischen 1960 und 1965 jeweils Wachstumsschübe. Die Zunahme der Sonderheime – darunter auch Heilpädagogische Heime oder Kinder- und Jugenddörfer28 – verlief zwar entgegen dem insgesamt zu beobachtenden Trend, stand jedoch für die einsetzende und sich verstärkende Differenzierung. Der gleichzeitige Blick auf die Platzzahlen mit einem Höhepunkt von rund 130.000 Plätzen bestätigt die Tendenz. Sie weisen zudem darauf hin, dass Anfang der 1970er Jahre gerade in den Säuglingsheimen29, deren zuvor beträchtliche Zahl drastisch zurückging, aber auch in den Kinderheimen und den Erziehungsheimen für schulentlassene Minderjährige das Platzangebot spürbar gerin28

29

Zu den Sonderheimen zählten in der Regel auch Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie, ohne hier eine genaue Aufschlüsselung zu erhalten. Die Angaben zu den Sonderheimen sind aufgenommen worden, um auch die seit Mitte der 1960er Jahre erfolgte Differenzierung zu erfassen. Vgl. Carlo Burschel, Säuglingsheime: Die „vergessenen“ Kinderheime der „Wirtschaftswundergesellschaft“, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 305-336.

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

31

ger wurde. Zu beobachten ist dagegen zwischen 1970 und 1975 ein starkes Anwachsen der Erziehungsheime für schulpflichtige Minderjährige bei gleichzeitiger Abnahme der Plätze, was auf einen Übergang zu immer kleineren Einrichtungen verweist. Auch die Anpassung der Jugendhilfe-Statistik an das JWG mit der Unterscheidung von Kinderheimen und Erziehungsheimen wird deutlich.30 Sowohl die Zahl der Kinderheime als auch der in ihnen vorgehaltenen Plätze zeigen ihre Bedeutung innerhalb der Heimerziehung. So standen 1965 fast 1.000 Kinderheimen mit 60.000 Plätzen annähernd 400 Erziehungsheime mit gut 32.000 Plätzen gegenüber. Wenn man noch die mehr als 440 Säuglingsheime mit ihren ca. 17.000 Plätzen hinzunimmt, tritt die zahlenmäßige Ausprägung dieses Bereichs noch stärker hervor, wobei die Grenzen zwischen Säuglings- und Kinderheimen nicht selten fließend gewesen sein dürften. Die Heim- und Platzzahlen aus der Länderperspektive spiegelten im Wesentlichen das bereits zuvor erkennbare Bild wider. Allerdings lassen sich auch Unterschiede erkennen. So kam es etwa in Schleswig-Holstein und NRW zwischen 1951 und 1955 zu einer Abnahme der Heime, in den meisten anderen Bundesländern jedoch zu einem Anstieg, der in Baden-Württemberg und Bayern beträchtlich ausfiel. Die Platzzahlen nahmen eine ähnliche Entwicklung, wobei in NRW allerdings entgegen den Heimzahlen eine ansteigende Tendenz festzustellen ist. Während das Platzangebot in Schleswig-Holstein im Untersuchungszeitraum relativ konstant blieb, war in Baden-Württemberg seit Anfang der 1950er Jahre in den nachfolgenden zehn Jahren eine fast anderthalbfache Zunahme zu verzeichnen. Und auch in Rheinland-Pfalz, Bayern und Hessen weitete sich das Platzangebot deutlich aus. Es bedarf vermehrter Regionalstudien, um diese nur schlaglichtartig erwähnten Befunde näher zu deuten. Dazu zählen auch differenziertere statistische Angaben, wie sie für den Bereich FE/FEH teilweise bereits vorliegen.31 Mit fast 64.000 Kindern und Jugendlichen befanden sich Mitte der 1950er Jahre die meisten Minderjährigen in diesen beiden Formen der Öffentlichen Erziehung.32 Fünf Jahre später waren es gut 10.000 weniger, und 1970 lag die Zahl bei gut 44.000. Bis 1975 sank sie dann noch30 31 32

Rauschenbach/Schilling, Statistik, S. 33. Vgl. Tabellen in: Frings, Heimstatistik, S. 33-35. Die Auflistungen des Statistischen Bundesamts und des AFET weisen bis Mitte der 1960er Jahre Unterschiede auf, wobei die Tendenzen jedoch vergleichbar sind. Wegen der im Rahmen der Recherchen erlangten größeren Vollständigkeit wurden hier meist die AFET-Statistiken genutzt.

32

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

mals um gut 10.000 Minderjährige. Während 1950 gegenüber der FE nur bei einem Sechstel der Minderjährigen in öffentlicher Erziehung FEH angeordnet war33, betrug ihr Anteil 1955 schon gut ein Drittel, um in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein ausgeglichenes Verhältnis zu erreichen. 1975 waren dann ca. drei Viertel der Minderjährigen in FEH. Aber längst nicht alle in FE/FEH überwiesene Minderjährige befanden sich in Heimen. Bei vielen erfolgte die Unterbringung in der eigenen oder einer fremden Familie, wobei letztere meist mit einer Lehroder Dienststelle gekoppelt war. 1950 lag der Anteil der in Heimen untergebrachten Minderjährigen bei 51 %34, 1955 bei 46,6 %. Bis 1960 stieg er auf 67,6 % an, um bis 1970 wieder auf 52,8 % zu fallen. 1975 ging er dann auf 74 % hoch. Der für die erste Hälfte der 1960er und 1970er Jahre feststellbare Anstieg bei gleichzeitigem Rückgang der Gesamtzahl könnte dafür sprechen, dass unter den in FE/FEH verbliebenen Minderjährigen deutlich mehr „Schwererziehbare“ waren, die nicht in Familien vermittelt werden konnten. FE- und FEH-Fälle auf 1000 Minderjährige (AFET-Rundbriefe) Bundesland Schleswig-Holstein

1950/51

1955/56

1960

1965

1971

1975

2,8

2,9

2,6

2,7

2,2

1,5

Hamburg

5,0

4,1

2,8

3,9

2,9

1,8

Niedersachsen

2,8

2,7

2,8

2,3

2,0

1,4

NRW

5,2

4,4

3,7

2,9

2,3

1,4

Bremen

4,2

3,6

3,4

3,0

2,2

1,9

Hessen

4,0

4,3

3,5

2,7

1,9

1,5

Baden-Württemberg

4,4

4,8

4,2

3,6

2,3

1,3

Bayern

3,7

3,4

2,8

2,3

1,6

1,6

Rheinland-Pfalz

5,5

4,2

2,6

2,4

1,6

1,4

3,0

2,7

2,2

1,1

4,2

3,9

4,6

2,1

0,8

4,0

3,3

2,8

2,0

1,5

Saarland West-Berlin Gesamt

4,2

Um das Ausmaß und die Bedeutung von FE und FEH in der Bundesrepublik bis Mitte der 1970er Jahre bewerten zu können, bietet die Rela33

34

Für 1950 ließ sich diese Zahl nur aus der Auflistung des Statistischen Bundesamtes ermitteln. Aus Zahlen des Statistischen Bundesamts erhoben.

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

33

tion der angeordneten Fremderziehung auf 1000 Minderjährige einen noch aussagekräftigeren Zugang. So kamen 1950/51 auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik – ohne Berlin und das Saarland – von 1000 Minderjährigen durchschnittlich 4,2 in FE oder FEH, 1960 waren es noch 3,3, Anfang der 1970er Jahre 2,0 sowie 1975 noch 1,5 Minderjährige. Allerdings wiesen die einzelnen Bundesländer hier teilweise große Unterschiede auf. In allen ließ sich jedoch bis Anfang der 1970er Jahre eine deutliche Abnahme der Einweisungshäufigkeit feststellen, wobei die jeweiligen Veränderungen nicht zeitlich synchron verliefen. Einen regelrechten Sprung nach unten verzeichneten während der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Hamburg (von 4,1 auf 2,8) und Rheinland-Pfalz (von 4,2 auf 2,6), wo noch 1950/51 mit 5,5 Minderjährigen vor NRW (5,2) und Hamburg (5,0) der höchste Anteil in FE/FEH überwiesen worden war. In Hamburg und Berlin (West) stieg die Zahl zwischen 1960 und 1965 dagegen wieder an, was u. U. mit einer konsequenten Umsetzung der im JWG verfügten Ausweitung der FE auf bis zu 20-jährige Jugendliche zusammenhing. Die Ursachen für die insgesamt deutlichen Differenzen unter den Bundesländern lassen sich noch nicht bestimmen. So wäre genauer zu untersuchen, ob der in der Literatur häufig genannte Grund, die FE vor allem als Disziplinierungsmaßnahme gegen die Arbeiterjugend in den Großstädten zu betrachten, hier eine Rolle spielte.35 Aber auch andere Faktoren wie z. B. die Dichte des Netzwerks an Organisationen der konfessionellen Jugendwohlfahrt, über die bislang wenig bekannt ist, dürften hinzugekommen sein. Wenn im Untersuchungszeitraum für FE und FEH relativ differenzierte Aussagen auch hinsichtlich der tatsächlichen Unterbringung in Heimen möglich sind, ist dies für die anderen nach dem RJWG der Pflegeaufsicht der Jugendämter zugeordneten Formen der Fremderziehung und im JWG auf Grundlage der §§ 5/6 genannten „Hilfen zur Erziehung“ nur teilweise der Fall. Zwischen 1951 und 1955 machte das Statistische Bundesamt zwar noch Angaben zur tatsächlichen Belegung der Heime, denen jedoch bis Ende der 1960er Jahre keine weiteren vergleichbaren Daten folgten.36 Demnach waren 1951 in Säuglingsheimen, Kinderheimen, Vorasylen sowie Mutter/Kind-Heimen insgesamt 35

36

Peukert, Sozialdisziplinierung; Peukert/ Münchmeier, Entwicklungsstrukturen und Grundprobleme. Örtliche Einrichtungen der halboffenen und geschlossenen Jugendhilfe, in: Statistische Berichte, Reihe VI/29 1952, 1954 und 1956. Zumindest gaben die bislang eingesehenen Veröffentlichungen keine weiteren Hinweise. Die Statistischen Berichte

34

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

77.453 Kinder und Jugendliche untergebracht. 1953 erreichte die Zahl mit 84.188 ihren Höhepunkt, um dann in den nachfolgenden zwei Jahren wieder auf 75.876 zu sinken.37 Zieht man für 1953 die Minderjährigen in FE und FEH ab, wären noch 53.621 Minderjährige im Zuge der Pflegeaufsicht der Jugendämter in Heimen gewesen. Man erkennt also, dass diese Form der Heimunterbringung gegenüber FE/FEH eine weitaus größere Zahl Kinder und Jugendlicher betraf. Das Statistische Bundesamt berichtete, wie oben erwähnt, dann 1969 erstmals in differenzierter Form über die von den kommunalen Jugendämtern im Rahmen der „Hilfen zur Erziehung“ betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ende des Jahres waren auf dieser rechtlichen Grundlage 95.448 Minderjährige nicht nur vorübergehend außerhalb der eigenen Familie untergebracht, darunter 33.376 in anderen Familien (35 %) und 62.092 in Heimen (65 %).38 Die Zahl dieser Fremdunterbringungen nahm in den nachfolgenden Jahren kontinuierlich zu und lag 1975 bei 121.458 Minderjährigen. Allerdings wurden nun mit 62.593 (51,5 %) Jungen und Mädchen mehr Minderjährige in anderen Familien untergebracht, wobei 58.865 (48,5 %) in Heimen waren.39 Addiert man die Anzahl der nach §§ 5/6 Jugendwohlfahrtsgesetz in Heimen untergebrachten Minderjährigen mit denjenigen der FE- und FEH-Fälle ergibt sich für 1969 eine Gesamtzahl von 91.140 und für 1975 von 76.347 Jungen und Mädchen in Heimunterbringung. Auf Basis der hier bislang bekannten statistischen Daten ist es nur schwer möglich, eine seriöse Gesamtzahl für die zwischen 1949 und 1975 in Heimen untergebrachten Minderjährigen anzugeben. Wenn man die für die 1950er Jahre und ab 1969 erhaltenen Angaben über die tatsächliche Belegung der Heime heranzieht und ohne weitere Kenntnis über den Auslastungsgrad der verfügbaren Heimplätze als Fixgrößen annimmt, dürften in dieser Zeitspanne kaum mehr als 100.000 Heimplätze gleichzeitig belegt gewesen sein. Und auch hinsichtlich einer im Untersuchungszeitraum für alle Heimformen gültigen Verweildauer, die nicht zu ermitteln war, kann nur eine Annäherung geschehen. Nach den Angaben für das Jahr 1969 war in der FE eine Unterbringung bis

37

38 39

machen in diesem Zeitraum keine Angaben für das Saarland sowie 1951 und 1953 auch nicht für West-Berlin. 1955 sind zudem für West-Berlin 3.867 Kinder angegeben, die sich in Säuglingsheimen befanden, sodass die Gesamtzahl bei ihrer Einbeziehung auf 79.745 Minderjährige ansteigen würde. Wirtschaft und Statistik 22 (1970), S. 582. Wirtschaft und Statistik 28 (1976), S. 747.

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

35

zu drei Jahren häufig, und auch für die zurückliegenden Jahre scheint eine ähnliche Verweildauer trotz aller Schwankungen für FE/FEH vertretbar zu sein. Vergleichbare Hinweise für die noch größere Zahl von Minderjährigen, die im Rahmen von Pflegeaufsicht und „Hilfen zur Erziehung“ in Kinder- und Säuglingsheimen untergebracht waren, sind erst seit 1969 mit einer zweijährigen Dauer zu finden.40 Würde trotzdem für alle Heimformen eine durchschnittliche dreijährige Verweildauer zugrunde gelegt, wäre von insgesamt etwa 800.000 Heimkindern in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 auszugehen.

Zahlen zur konfessionellen Heimerziehung Für die Heimerziehung in den 1950er/60er Jahren erwies sich nach wie vor das Prinzip der Konfessionalität als maßgeblich. Denn es waren die aus religiöser Motivation heraus von einzelnen Personen, Vereinen oder kirchlichen Verbänden im Lauf des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen evangelischen und katholischen Rettungshäuser, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten, die oftmals auch noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine wesentliche Grundlage für die öffentliche Ersatzerziehung boten. Zudem stand mit den Angehörigen der nicht selten gleichzeitig entstandenen, vor allem weiblichen Ordenskongregationen und Diakonen/Diakonissen-Gemeinschaften das Personal für die Erziehungsarbeit zur Verfügung. Der Staat, der, wenn überhaupt, kaum so billige Alternativen besaß, bediente sich in der Regel gerne dieser privaten und kirchlichen Initiativen.41 Für die weitere Entwicklung einer konfessionell ausgerichteten Heimerziehung erwies sich dann das RJWG als entscheidender Meilenstein, der das Prinzip der Konfessionalität festschrieb. Denn § 69 sah vor, dass im Falle der Familienerziehung der „Minderjährige mindestens bis zum Aufhören der Schulpflicht in einer Familie seines Bekenntnisses, im Falle der Anstaltserziehung soweit möglich in einer Anstalt seines Bekennt40

41

Dritter Bericht über die Jugend 1971, Bundesdrucksache VI/3170, S. 65; Wirtschaft und Statistik 22 (1970), S. 582. Vgl. Hasenclever, Jugendhilfe; Christian Schrapper/Dieter Sengling (Hg.), Waisenhäuser und Erziehungsanstalten in Westfalen, Münster 1985; Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft; Carola Kuhlmann/Christian Schrapper, Wie und warum Kinder öffentlich versorgt und erzogen wurden – Zur Geschichte der Erziehungshilfen von der Armenpflege bis zu den Hilfen zur Erziehung, in: Vera Birtsch u.a. (Hg.), Handbuch der Erziehungshilfen, S. 282-328. Vgl. auch Kap. 3.1.

36

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

Abb. 1: Bundeskanzler Ludwig Erhard beim Besuch des Kinderheimes Niederdollendorf 1963

nisses“ unterzubringen sei. Die Bekenntniszugehörigkeit wurde im Streitfall vom Vormundschaftsgericht festgestellt.42 Die Unterbringung erfolgte durch die Fürsorgeerziehungsbehörde, welche bei Überführung in eine nicht bekenntnisentsprechende Einrichtung eine zustimmende Erklärung der Erziehungsberechtigten oder des über 14-jährigen Minderjährigen beizubringen hatte. Das Erreichen des in § 1 formulierten Ziels öffentlicher Ersatzerziehung sollte letztlich auch in der FE durch ein Umfeld erleichtert werden, „wo Erzieher und Zögling in der Religion Erhebung des Gemüts und sittliche Stärkung“ fänden.43 Dies beinhaltete, dass auch Heime in öffentlicher Trägerschaft meist nur Minderjährige einer Konfession aufnahmen. Das JWG bestätigte diese Ausrichtung, indem es die Träger der freien Jugendhilfe vorrangig behandelte. Und nach wie vor wurde für die Fremdunterbringung gefordert, „Rücksicht auf das religiöse Bekennt42

43

Ausschlaggebend war das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 (RGBl. 1921, S. 939-941). Demnach galt die Religionsmündigkeit des Kindes ab dem 14. Lebensjahr, ab dem 12. Lebensjahr durfte es nicht mehr zur Übernahme eines veränderten Bekenntnisses gezwungen werden und ab dem 10. Lebensjahr war es in Streitfällen zwischen den Eltern anzuhören. Karl-Wilhelm Jans/Erika Müller, Jugendwohlfahrtsrecht, hg. v. Landschaftsverband Rheinland, Landesjugendamt, Düsseldorf 1958, S. 104f.

37

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

nis oder die Weltanschauung des Minderjährigen und seiner Familie“ (§ 38) zu nehmen und daher etwa bei angeordneter FE/FEH Familien oder Heime auszuwählen, „in denen die Erziehung nach den Grundsätzen seiner Kirche, Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft durchgeführt wird“ (§ 71).44 FE/FEH in Heimen – Anteil freier Träger in Prozent (aus AFET-Rundbriefen)45 Bundesland

1965

1971

1975

Schleswig-Holstein

37,2

50,5

61,1

Hamburg

26,8

28,4

19,9

Niedersachsen

90,0

90,0

84,0

NRW

85,6

81,6

82,5

Bremen

74,4

72,1

67,6

Hessen

65,2

67,8

64,3

Baden-Württemberg

81,0

80,7

77,5

Bayern

85,1

90,4

90,0

Rheinland-Pfalz

92,0

90,3

85,2

Saarland

82,9

87,1

81,3

West-Berlin

44,7

44,6

36,9

Gesamt

77,5

78,5

78,4

So erklären sich auch die eingangs genannten Zahlen zur Heimunterbringung von Minderjährigen in FE/FEH im Jahr 1965. Sie wiesen zwar auf teilweise große regionale Unterschiede hinsichtlich privater, also in der Regel konfessioneller Heimträger hin. Aber nicht nur für Niedersachsen, NRW und Bayern, sondern auch für Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und das Saarland sind sehr hohe Werte zu konstatieren, für die gesamte Bundesrepublik waren es immerhin 77,5 %. Die sich hier widerspiegelnde große Inanspruchnahme konfessioneller Heime bei FE/FEH blieb zudem zwischen 1965 und 1975 fast überall relativ konstant, obwohl in dieser Phase gerade auch die religiöse Ausrichtung in der öffentlichen Ersatzerziehung stark in der Kritik stand.

44 45

Vgl. Johannes Münder u.a., Frankfurter Kommentar, S. 339. Erst ab Mitte der 1960er Jahre waren differenzierte Angaben möglich.

38

STATISTISCHE ANNÄHERUNG AN DIE HEIMERZIEHUNG

Stichproben zu anderen Heimformen für den Zeitraum von 1965 bis 1975 zeigen, auch mit deutlichen Differenzen bei den unterschiedlichen Heimtypen, ebenfalls die große Bedeutung der konfessionellen Einrichtungen. Während etwa die Quote bei den Säuglingsheimen bei ca. 50 % in freier Trägerschaft lag, waren es bei den Mutter/Kind-Heimen zwischen 80 % und 90 %. Bei den verfügbaren Plätzen war die Entwicklung ähnlich.46 Nach einer Bestandsaufnahme über Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege von 1964, die rund 70 % aller Einrichtungen erfasste, waren gut 89 % der Heime (51,5 % katholisch und 37,7 % evangelisch) und fast 92 % der verfügbaren Plätze (55 % kath. und 36,6 % ev.) einem konfessionellen Träger zuzuordnen.47 Legt man auf Grundlage dieser Anhaltspunkte für Heime in konfessioneller Trägerschaft vorsichtig eine Quote von 70 % bis 80 % zu Grunde, hätten etwa 500.000 bis 600.000 betroffene Minderjährige Kontakt zu einem katholischen oder evangelischem Heim gehabt.48

Caritative und Diakonische Heimerziehung im Vergleich Jahr

Katholische Einrichtungen Heime Plätze/Betten

Evangelische Einrichtungen

Mitarbeiter

Heime

Plätze/Betten

Mitarbeiter

1955

543

46.416

11.359

391

25.878

1960

549

44.487

11.018

458

25.332

6.774

1967/68

606

50.378

12.789

466

26.884

7.762

Die konfessionellen Träger begegneten demnach den an sie gestellten Anforderungen der Heimerziehung mit dem entsprechenden Angebot. So bewegten sich die Zahlen katholischer Einrichtungen vom Beginn der 1950er bis Ende der 1960er Jahre zwischen ca. 550 und gut 600 Heimen bei Platzzahlen zwischen fast 46.500 und gut 50.000, wohingegen die evangelischen Einrichtungen zwischen fast 400 und rund 470 Heimen mit annähernd 27.000 Plätzen vorhielten. Dies bedeutete, dass in diesem Zeitraum 55 % bis 58 % der konfessionellen Heime in katho46

47

48

Auswertung der Angaben in: Statistisches Bundesamt, Fachserie K, Reihe 2 (1965), S. 68-75 sowie Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 6 (1975), S. 68-75. Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege, hg. v. d. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Freiburg i. Br. 1965, S. 5f. u. 17-23. Vgl. Tabellen in: Frings, Heimstatistik, S. 41-44.

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lischer und zwischen 42 % und 45 % in evangelischer Trägerschaft waren. Bei den verfügbaren Plätzen ergab sich eine Relation von ca. 65 % in katholischen und rund 35 % in evangelischen Heimen. 1975 befanden sich dann in 513 caritativen Heimen nur noch 35.285 verfügbare Plätze. Die größte Dichte an evangelischen Einrichtungen und Plätzen lag Mitte der 1950er Jahre in den Gebieten der Landesverbände Rheinland, Bayern und Westfalen der Inneren Mission. Die zu Tage tretenden teilweise großen Unterschiede zwischen den Angaben des Statistischen Bundesamts und denjenigen der konfessionellen Verbände legen den Schluss nahe, dass u. U. Einrichtungen, die etwa als Kinderheim auch eine Heilpädagogische Abteilung besaßen, doppelt gezählt und/oder dass bei den Erhebungen der Verbände nicht alle Einrichtungen mit ihren verfügbaren Plätzen erfasst bzw. andere Aufnahmekriterien angelegt wurden. Aber trotz dieser Unzulänglichkeiten lassen sich doch für die konfessionelle Heimerziehung Schwerpunkte aufzeigen. So waren beide Konfessionen auf dem Feld der Waisenhäuser/Kinderheime stark vertreten, und bei den Erziehungsheimen konzentrierten sich ebenfalls beide besonders auf den Bereich der weiblichen Minderjährigen. Unter den caritativen Einrichtungen nahm seit Mitte der 1950er Jahre die Zahl der Heilpädagogischen Heime und seit Anfang der 1960er Jahre der Jugenddörfer fast kontinuierlich zu, ohne allerdings zu wissen, ob es sich um die Ausrichtung des kompletten Heims oder um einzelne Abteilungen handelte. Für die diakonischen Einrichtungen müssen hier noch Daten erhoben werden. Die Schwerpunktsetzung innerhalb der konfessionellen Heimerziehung hing vermutlich auch von den Möglichkeiten der Rekrutierung von Erzieherinnen und Erziehern ab. Dabei lässt sich in der Zusammensetzung des Personals ein tief greifender Umbruch beobachten, da die Zahl der aus einer Ordensgemeinschaft oder aus einem Diakonissen-Mutterhaus bzw. einer Diakonen-Brüderschaft kommenden Kräfte bei gleichzeitig wachsendem Bedarf abnahm. So waren 1949 von 12.569 hauptberuflichen Mitarbeitern in den caritativen Heimen – darunter auch viele z. B. in der Hauswirtschaft und Ökonomie Beschäftigte – 7.310 Ordensangehörige, 1964 von 11.049 5.437 und schließlich 1975 von 14.834 Mitarbeitern nur noch 3.738 aus einer Ordensgemeinschaft. In den Erziehungsheimen für weibliche Jugendliche stellte sich die Entwicklung noch drastischer dar. Hier verrichteten 1955 1.719 und 1967 noch 1.460 Ordensschwestern ihren Dienst. Danach brach ihr Anteil regelrecht ein, da 1970 nur noch 974 Ordensschwestern tätig waren und sich ihre Zahl bis 1975 auf fast 536 halbierte. Bei den Erziehungs-

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Abb. 2: Herz-Jesu-Missionare der Johannesburg (1960): in der Mitte Direktor P. Güldenberg

heimen für männliche Jugendliche war die Entwicklung wechselvoller, zeigte aber letztlich das gleiche Ergebnis, da nach einem Absinken von 440 Ordenskräften im Jahr 1955 auf 427 im Jahr 1960 dann in den folgenden vier Jahren vermutlich durch eine Bündelung der Mitarbeiter ein deutlicher Anstieg auf 626 Schwestern, Brüder und Patres gelang, ehe ihre Zahl bis 1975 auf 134 zurückging.49 Im Gegensatz etwa zu Einrichtungen der katholischen Kirche, wo der Anteil der Ordensangehörigen in der Erziehungsfürsorge 1960 noch etwas mehr als die Hälfte ausmachte50, war der Anteil der Diakonissen und Diakone im evangelischen Feld sehr viel geringer: Das traditionelle Ordenspersonal stellte im Bereich der Diakonie bereits Anfang der 1950er Jahre nur noch rund ein Fünftel der Mitarbeiterschaft. Die Statistikreferentin des Diakonischen Werkes errechnete für Ende 1960, dass „unter den vollbeschäftigten männlichen Mitarbeitern in der 49 50

Auswertung der Statistiken des ADCV von 2007. Vgl. z.B. „Anstalten, Einrichtungen und Personal der Caritas in Deutschland. Statistische Übersicht nach dem Stand vom 1.1.1960“, in: ADW, HGSt 7336. In Erziehungsheimen für schulentlassene weibliche Jugendliche standen sogar 1506 Ordensleute 612 Laien gegenüber.

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BRD“ nur noch „10,6 % Diakone, unter den weiblichen 16,3 % Diakonissen“ seien.51 Eine genaue statistische Zuordnung auf die Arbeitsbereiche fehlte. Der Anteil der evangelischen Schwestern – ohne Schwestern des Kaiserswerther Verbandes – mit einer pädagogischen Ausbildung wie Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen und Heimerzieherinnen machte am 1. Januar 1968 nur 3 % und derjenige der Sozialarbeiterinnen nur 1,1 % aus.52 Dagegen hatten rund drei Viertel der Schwestern eine Ausbildung als Kranken- oder Kinderkrankenschwester. Wie viele von diesen trotzdem im Heimerziehungsbereich gearbeitet haben, ist leider nur für einzelne Schwesternschaften bekannt. Anfang der 1960er Jahre hatte es nach den Bestimmungen des JWG in verschiedenen Bundesländern für langjährig in der Heimerziehung Tätige – meist Schwestern – Möglichkeiten zur nachträglichen Anerkennung eines Abschlusses als Heimerzieher/in gegeben. Vielfach hatten zudem Kindergärtnerinnen in den Feldern der schulpflichtigen oder schulentlassenen Jugend gearbeitet. Zudem versuchten evangelische Heime in der ersten Hälfte der 1960er Jahre offenbar, durch eine vermehrte Einstellung von Teilzeitbeschäftigten der Personalkrise Herr zu werden.

Fazit Die hier vorgenommene statistische Annäherung an die konfessionelle Heimfürsorge innerhalb der allgemeinen Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 weist eine Reihe von Datenlücken auf. Dennoch sind einige grundsätzliche Befunde zu konstatieren. Trotz der zu beachtenden regionalen Unterschiede zeigt sich zunächst die häufig weitgehende Dominanz konfessioneller Bemühungen auf dem Feld der Heimerziehung. Dabei dürften sich von den weit über 2.000 Einrichtungen mit bis zu gut 130.000 verfügbaren Plätzen vermutlich 70 % bis 80 % 51

52

Annemarie Burger, Die Mitarbeiter in evangelischen Anstalten und Heimen nach dem Stand vom 31.12.1960, in: Die Innere Mission 54 (1964), S. 65-75, hier 66. Statistische Informationen aus der diakonischen Arbeit Nr. 44: Die Schwestern in evangelischen Mutterhäusern und Schwesternschaften in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) von 1952-1970, in: Die Innere Mission 61 (1971), S. 183-191, hier 184 u. Tabelle 5. Allerdings waren zeitgenössisch für diese Statistik von dem größten evangelischen Schwesternverband, dem Kaiserswerther Verband, keine Zahlen zu erhalten.

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in konfessioneller Trägerschaft befunden haben, sodass 500.000 bis 600.000 Minderjährige mit wenigstens einem dieser Heime in Berührung kamen. In diesen Häusern stand maßgeblich lange Zeit kirchlich geprägtes Personal in der Erziehungsarbeit. Das durch das seit dem RJWG von 1922/24 festgeschriebene und im JWG von 1961 bestätigte Prinzip der Konfessionalität in der Heimerziehung blieb also im Untersuchungszeitraum von großer Bedeutung. Darüber hinaus sind weiße Flecken erkennbar, die Forschungsdesiderate darstellen. So wäre die Komplettierung vor allem für den sowohl zahlenmäßig als auch durch Klagen ehemaliger Heimkinder häufig erwähnten Bereich der Unterbringungen im Rahmen von Pflegeaufsicht und „Hilfen zur Erziehung“ wünschenswert, um ihn, ähnlich wie bei FE/FEH, durch weitere Erhebungen auf ein sichereres Fundament stellen zu können. Das noch weitgehend vernachlässigte Feld der Mitarbeiterschaft muss ebenfalls ausführlicher behandelt werden. So könnten Einzelstudien etwa über ausgewählte Ordensgemeinschaften oder Schwestern-/Brüderschaften Aufschlüsse für das wichtige Feld des Verhältnisses ordensgebundener Kräfte zu weltlichen Mitarbeitern geben.

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3. Entwicklungen und Debatten innerhalb der konfessionellen Heimerziehung im Überblick 3.1 Traditionen im deutschen Erziehungswesen – religiöse Prägungen von Kinder- und Erziehungsheimen

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ie Heimerziehung in den 1950/60er Jahren basierte auf verschiedenen Traditionssträngen, die die konkrete Erziehungsarbeit beeinflussten. Zunächst ist hier die Unterscheidung zwischen den Waisenhäusern und den Erziehungsheimen zu nennen, die jedoch in der Praxis sowohl hinsichtlich der aufzunehmenden Minderjährigen als auch etwaiger pädagogischer Leitlinien des Öfteren unscharf blieb. Entscheidendes Kriterium für die Einweisung in die jeweilige Einrichtung war daher neben dem Alter häufig die Ursache, also z. B. die richterliche Anordnung von Fürsorgeerziehung. Daher gab es, wie etwa beim Katholischen Jugendwerk St. Ansgar in DelmenhorstAdelheide, vereinzelt Heime, die auch in den entsprechenden Heimverzeichnissen in verschiedenen Rubriken vertreten sind.1 Inwieweit hier u. U. eine gewisse Durchmischung der zu betreuenden Minderjährigen stattfand, müsste im Einzelfall geprüft werden. Auch ist zu vermuten, dass die pädagogischen Konzepte, so sie denn vorhanden waren, kaum grundsätzlich variierten.2 Jedenfalls wurde die Betreuung von Waisen wie auch vernachlässigter Kinder und Jugendlicher gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der wirtschaftlichen Umwälzungen zu einem wichtigen Anliegen von Kommunen, Kirchengemeinden und Stiftungen. Aus meist bescheidenen Anfängen wurden viele Waisenhäuser bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf Grund des wachsenden Bedarfs an Plätzen vergrößert. Sie waren, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, oftmals sehr einfach eingerichtet. Neben den ausschließlichen Säuglingsheimen3 besaßen auch manche Waisenhäuser eine Abteilung für Säuglinge. Ansonsten begann die Betreuung in den Waisenhäusern im Kleinkinderalter in geschlechtsgemischten Gruppen. Des Öfteren 1 2 3

Becker, Handbuch, S. 88f.; vgl. zum Jugendwerk St. Ansgar Kap. 5.2. Vgl. Schrapper/Sengling, Waisenhäuser und Erziehungsheime in Westfalen. Vgl. Burschel, Säuglingsheime; Fachbereich Jugend und Familie der Landeshauptstadt Hannover, Heimerziehung in der Landeshauptstadt Hannover in den 50er und 60er Jahren. Eine Dokumentation, Hannover 2011 [http://www.hannover.de/data/ download/lhh/ges_soz/doku_heimerziehung.pdf (26.6.2011)].

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gehörten ebenfalls Kindergärten zu den Häusern, die auch von anderen Kindern des Ortes genutzt werden konnten. Die schulpflichtigen Jungen und Mädchen kamen dann in geschlechtsspezifische Gruppen und wechselten zumindest in größeren Einrichtungen im Alter von ca. zehn Jahren nochmals die Gruppe. Sie gingen entweder in die heimeigene Volksschule oder besuchten die öffentliche Schule des jeweiligen Ortes. Daneben mussten sie vielfach entsprechend ihres Alters auf den Gruppen Ämter übernehmen und gegebenenfalls in der Hauswirtschaft oder in den zu den Heimen gehörenden Gärten und bäuerlichen Einrichtungen arbeiten. Im Alter von 14 oder 15 Jahren verließen die Jugendlichen nach dem Ende der Schulpflicht schließlich die Waisenhäuser, um in eine Dienst- oder Ausbildungsstelle zu wechseln, wobei diejenigen, die weder in der eigenen Familie noch am Arbeitsplatz eine Unterkunft besaßen, vermehrt in Lehrlings- und anderen Wohnheimen Aufnahme fanden. Nicht wenige führte der Weg jedoch wegen vermeintlicher Erziehungsschwierigkeiten bzw. fehlender geordneter Verhältnisse in der Familie in ein Erziehungsheim. In vielen, auch in kommunaler Trägerschaft befindlichen Waisenhäusern stellten Ordensschwestern bzw. Diakonissen das Personal für die Erziehung und Hauswirtschaft. Innerhalb eines engen Ordnungsrahmens sollte den Kindern das Rüstzeug vermittelt werden, nach der Schulentlassung im Leben bestehen zu können. Großer Wert wurde auf die religiöse Formung gelegt. Häufige Gebete und die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst wurden hierzu als wesentliche Voraussetzung betrachtet. Eine besondere Bedeutung erlangte zudem die Vorbereitung auf die Erstkommunion bzw. Konfirmation. Andere Erziehungsmittel wie etwa in Richtung einer Förderung des musisch-kreativen Bereichs oder des bewussten Erlebens der Natur mit Ausflügen und Wanderungen wurden zwar in den 1920er Jahren unter Anthroposophen oder von anderen, z. B. durch die bündische Jugend inspirierten Gruppierungen thematisiert, ohne dass sich diese auf breiter Front durchgesetzt hätten.4 Verbesserungen beschränkten sich meist auf die Anlage eines größeren Spielplatzes oder der Anschaffung von mehr Spielzeug.5 Letztlich ging es in den meisten Waisenhäusern eher um die Versorgung und Verwahrung der Kinder als um eine individuell ausgerichtete erzieherische Betreuung und Förderung. 4

5

Albrecht Müller-Schöll/Manfred Priepke, Handlungsfeld: Heimerziehung, Tübingen 1982, S. 31. Vgl. Friedrich Franz Röper, Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Ein Beitrag zur historischen Entwicklung der Fremderziehung, Göttingen 1976.

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In der NS-Zeit unterlagen Kinder- und Waisenhäuser ähnlichen Entwicklungen wie die Jugendfürsorge insgesamt. Ihre rassistische Überwölbung ließ bereits Kinder ab dem 10. Lebensjahr ins Visier des Zwangssterilisationsgesetzes geraten. Manchen Einrichtungen drohte eine Entkonfessionalisierung bei gleichzeitigem Ausbau der NSV-Kinder- und Jugendfürsorge. Im Krieg wurden viele Heimkinder aus ihren Häusern vertrieben, ins Umland der bombengefährdeten Großstädte oder gar andere Landesteile evakuiert. Ihre Häuser wurden fremdgenutzt für Soldaten, ausländische Zwangsarbeiter oder Parteistellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Waisenhäuser durch die vielen Kriegswaisen wie auch der durch Flucht und Vertreibung zunächst elternlos durch Deutschland ziehenden, vermeintlich auch vernachlässigten Kinder und Jugendlichen in starkem Maß gefordert, da die Aufnahmezahlen enorm anstiegen.6 Neben den Flüchtlingskindern kamen jetzt zudem vermehrt uneheliche Kinder und Kinder geschiedener Eltern in die Heime. Konzeptionelle Veränderungen hinsichtlich der Betreuung wurden jedoch nur selten auf den Weg gebracht. Hervorzuheben ist hier das Städtische Münchener Waisenhaus, das seit 1945 vom promovierten Pädagogen Andreas Mehringer geleitet wurde. Von Anfang an bemühte er sich um die Einführung des „Familienprinzips“, indem er die Tradition der großen Schlaf- und Speisesäle zu Gunsten kleiner Wohngruppen mit ca. 15 Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters durchbrach. Zudem beließ er auch teilweise schulentlassene Kinder im Waisenhaus. Dieser Wandel führte jedoch zu massiven Konflikten mit der seit 90 Jahren im Waisenhaus in der Erziehungsverantwortung stehenden Ordensgemeinschaft der Englischen Fräulein, die ihre „klösterliche Erziehungstradition“ gefährdet sah und 1952 ihre Tätigkeit im Münchener Waisenhaus aufkündigte.7 Obwohl das Münchener Waisenhaus in Öffentlichkeit und Fachwelt wegen der Umsetzung seines neuen Erziehungskonzepts – hier besonders eine familienähnliche Atmosphäre durch wohnliche und überschaubare Gruppenräume, qualifizierte Mitarbeiter, Einsatz po6

7

Wenn etwa das Waisenhaus in Dülmen in der Vorkriegszeit jährlich 5 bis 15 Aufnahmen hatte waren es jetzt bis 1950 40 bis 74. Vgl. Bernhard Frings, Sorgen – Helfen – Heilen. Dülmen und seine sozial-caritativen Einrichtungen, Dülmen 1997, S. 201. Zahner, Jugendfürsorge in Bayern, S. 337-353, Zitat S. 348. Vgl. auch Günther Baumann, Das Münchener Waisenhaus. Chronik 1899-1999, München 1999; Christian Schrapper, Andreas Mehringer (1911-2004) – Ein Leben in zwei Welten. Anmerkungen und Fragen zu Leben und Werk, in: Unsere Jugend 57 (Heft 9/2005), S. 385393.

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sitiver Erziehungsmittel anstatt körperlicher Züchtigung oder individueller Freizeitgestaltung – Anerkennung erfuhr, blieb es lange eine Ausnahme.8 Gerade die Umwandlung der geschlechtsspezifischen in geschlechtsgemischte Gruppen konnte sich bis in die 1970er Jahre nur selten durchsetzen. Dagegen fand die Verkleinerung und Neugestaltung der Gruppen mit einer wohnlicheren Atmosphäre schon früher Eingang in die Waisenhäuser, die sich nicht zuletzt auf Grund der stark abnehmenden Zahl wirklicher Waisen und der sich damit verändernden Zusammensetzung immer mehr in Kinder- oder Kinderwohnheim umbenannten. Die Einrichtung, Zielsetzung und strukturelle Ausgestaltung der Erziehungsheime gingen auch noch in den 1950er/60er Jahren oftmals auf das wilhelminische Kaiserreich zurück. Hier war es das im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 verankerte und 1876 durch ein Ergänzungsgesetz nochmals erweiterte „Zwangserziehungsgesetz“, das zunächst entscheidend die Richtung vorgab. Es sah vor, dass jugendliche Straftäter als Alternative zu einem Gefängnisaufenthalt in Ersatzerziehung kommen konnten. Diese Vorgaben wurden dann in den Bundesländern durch unterschiedliche Ausführungsgesetze umgesetzt. In Preußen hatte ein Vormundschaftsgericht die Zwangserziehung auszusprechen, deren Durchführung den Kommunal- bzw. Provinzialverbänden zukam. Mit der reichsweiten Einführung des Fürsorgeerziehungsgesetzes auf Basis des BGB von 1900 fiel die Straffälligkeit als Voraussetzung für die Anordnung der öffentlichen Ersatzerziehung grundsätzlich fort. Nun betraf die öffentliche Ersatzerziehung auch alle Minderjährigen, die in Gefahr standen zu ‚verwahrlosen‘. Dieser Begriff kennzeichnete das Verhalten der Jugendlichen, das von den herrschenden gesellschaftlichen Normen abwich und als Aufsässigkeit eingeschätzt wurde. Bei den Mädchen spielte hier oftmals ein als auffällig betrachtetes Sexualverhalten, bei den Jungen Handlungen wie Diebstahl und Körperverletzung eine wesentliche Rolle. Letztlich ging es nicht zuletzt um eine Anpassung an die wilhelminischen Gehorsamsvorstellungen, wobei die Fremderziehung etwa in den preußischen Ausführungsbestimmungen jetzt auch als vorbeugende Maßnahme konzipiert war.9 Die ersten Heimskandale des Jahres 1910 zeigten durch die Klagen ehemaliger Zöglinge jedoch, dass dabei in vielen Heimen körperliche Züchtigungen exzessiv durchgeführt wurden, die trotz gesetzgeberi8 9

Zahner, Jugendfürsorge in Bayern, S. 351f. Vgl. Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 24f.

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scher Initiativen beispielsweise in Preußen nur unzureichend einzugrenzen waren.10 So behielt die Praxis der Fürsorgeerziehung „den Charakter einer verwahrenden Strafmaßnahme“, wie etwa für die Provinz Westfalen festgestellt wurde.11 Durch die starke Zunahme des Anteils der schulentlassenen Minderjährigen in den FE-Heimen, die als besonders schwer erziehbar galten, kam zudem ein Diskurs über die „Unerziehbarkeit“ dieser Gruppe in Gang. Nicht selten wurden dabei medizinisch ausgerichtete Argumente ins Spiel gebracht und die Jugendlichen auch auf Grund vermeintlich erblicher Defizite als „abnorm“ oder „psychopathisch“ charakterisiert. Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz von 1900 wurde in der Weimarer Republik durch das RJWG fortgeschrieben, ohne grundlegend verändert zu werden. So blieb während der 1920er Jahre auch die vor allem an Ordnung und Gehorsam orientierte Ausrichtung der FEHeime trotz vereinzelter Reformansätze wirksam, wodurch die Einrichtungen auch in den Augen der Öffentlichkeit eher schlecht angesehen waren. Dabei traf die FE auch außerhalb der Arbeiterbewegung, die bereits im Kaiserreich zu den entschiedendsten Kritikern der Zwangserziehung zählte, auf Vorbehalte, weil sie die Minderjährigen zu stigmatisieren drohte und sie so nicht resozialisieren, sondern ihr Leben lang als ‚asozial‘ abstempeln würde. Revolten und Unruhen wie in den Anstalten Rickling in Schleswig-Holstein, Waldhof-Templin und Scheuen bei Celle, die 1930 für Aufsehen sorgten, passten in dieses Bild.12 Unter dem Spardiktat der Weltwirtschaftskrise wurden unter ökonomischen Vorzeichen die schon zuvor aus pädagogischen Gründen als „unerziehbar“ geltenden Minderjährigen vermehrt ausgesondert und die Erziehungsmaßnahmen abgebrochen. Gleichzeitig drängten gerade auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände wie etwa der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder dazu, durch ein „Bewahrungsgesetz“ junge, u. U. auch geistig behinderte Erwachsene, aber auch Minderjährige im besonders gefährdeten Alter zwischen 18 und 21 Jahren in einer geschlossenen Einrichtung zu behalten, wenn sie auf Grund ihrer vermeintlichen Verwahrlosung nicht für sich selber Sorge 10 11

12

Ebd., S. 28. Ewald Frie, Wohlfahrtsstaat und Provinz. Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes Westfalen und des Landes Sachsen 1880-1930, Paderborn 1993, S. 36. Gräser, Wohlfahrtsstaat, S. 102-106; Köster, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, S. 199-209; Sarah Banach, Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand, Opladen 2007; Annette Hinz-Wessels, Heinrich Grüber und der Fall Waldhof-Templin, in: ZKG 118 (2007), S. 45-80.

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tragen könnten. Ein entsprechendes Gesetz kam jedoch nicht zustande.13 Einzelne Bewahrungsregelungen wurden in der Jugendfürsorge z. B. im Rheinland 1934 verwirklicht und dauerten dort auch bis in die 1960er Jahre.14 Während des Dritten Reichs prägte die NS-Ideologie der Volksgemeinschaft auch die Jugendfürsorge, indem die vermeintlich ‚Wertvollen‘ gefördert, die ‚Erbkranken‘, ‚Gemeinschaftsunfähigen‘ und ‚Nichtarier‘ jedoch ausgegrenzt werden sollten. Gerade die Schwererziehbaren und Verhaltensauffälligen fielen durch das Netz. Im Rheinland führten diese Bestrebungen zur Einrichtung von Bewahrungsstationen auch in konfessionellen Heimen.15 Hinzu kam 1940 reichsweit die Einführung des ‚Jugendarrests‘. Die ‚Jugendschutzlager‘ Moringen (1940 für Jungen) und Uckermark (1942 für Mädchen) müssen als die extremen Varianten einer sozialdisziplinierenden Politik betrachtet werden. Denn sie standen für die „Zufluchtnahme zu autoritären Konzepten der Erziehung“, die als „Gesamttendenz für die Entwicklung der Fürsorgeerziehung behauptet werden kann“, die in letzter Konsequenz eine Differenzierung der Heime nach der „Erfolgsaussicht“ der Erziehung zur Folge hatte.16 Darüber hinaus gelangten im Zuge des im Sommer 1933 verabschiedeten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch „Zöglinge“ der FE-Heime meist mit der zuvor gestellten Diagnose des „angeborenen Schwachsinns“ in die Maschinerie von Erfassung, Aussonderung und Zwangssterilisierung. In Westfalen und im Rheinland wurden bis 1938 mehr als 6 % aller in den Heimen untergebrachten Minderjährigen sterilisiert.17 Damit verbunden war die „Parallelisie-

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Andreas Wollasch, Von der Fürsorge „für die Verstoßenen des weiblichen Geschlechts“ zur anwaltschaftlichen Hilfe. 100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen (1899-1999), Bigge-Olsberg 1999, S. 161-168, 175-181. Steinacker, Der Staat als Erzieher, S. 640-650; Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 47f. Henkelmann/Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), S. 34. Ebd., S. 35 Sabine Blum-Geenen/Uwe Kaminsky, „Reinigung von der Last der Erbkranken“ Fürsorgeerziehung und Zwangssterilisation, in: Landschaftsverband Rheinland, Archivberatungsstelle (Hg.), Folgen der Ausgrenzung. Studien zur Geschichte der NS-Psychiatrie in der Rheinprovinz, Köln 1995, S. 34; Steinacker, Der Staat als Erzieher , S. 920; Kuhlmann, Erbkrank, S. 135.

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rung von Erbkrankheit mit Erziehungsschwierigkeit“18, die durchaus auch in konfessionellen Heimen zum Tragen kam. Einige regionale Beispiele mögen das illustrieren. Die nationalsozialistische Machtergreifung war auch von Heimen im heutigen Niedersachsen begrüßt worden. Insbesondere der damit verbundene Aufschwung einer autoritätsfixierten Erziehung und die Begeisterung über die „nationale Erhebung“, die zum Teil auch an die Jugendlichen zu vermitteln war, wurde hier in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus hoch geschätzt.19 Inwieweit dies auch der Grund dafür war, dass auf der bei Papenburg gelegenen Johannesburg, einem FE-Heim für schulentlassene Jungen in Trägerschaft der Hiltruper Herz-Jesu-Missionare, bereits im November 1933 eine HJ-Schar ins Leben gerufen wurde, muss offen bleiben.20 Die Abkehr vom Individualismus, der mit dem Liberalismus der Weimarer Republik identifiziert wurde, und die Hinwendung zur Gemeinschaft, zu Rasse und Volk, waren in den Erziehungsheimen wie in der Gesellschaft allgegenwärtig. Die Mitgliedschaft der Diakone des Stephansstiftes in Hannover in der NSDAP lag 1939 bei 33,2 %, in der SA bei 15,8 % und in der DAF und der NSV bei 80 %.21 „Der Nationalsozialismus erfaßt und fordert den ganzen Menschen“, schrieb der Leiter des zum Stephansstift zählenden Erziehungs- und Lehrlingsheims Kronsberg, Hans Müller, in der Rubrik „aus der Arbeit für die Arbeit“ 1935 in der „Evangelischen Jugend-

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Henkelmann/Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), S. 36f. Vgl. Bruno Bendokat, Wie wirken sich die nationalsozialistischen Erziehungsgedanken und die Wandlungen, die der Nationalsozialismus auf entscheidenden Gebieten des deutschen Volkslebens hervorgerufen hat, in der Praxis der männlichen Fürsorgeerziehung aus? in: Evangelische Jugendhilfe 1935, S. 265-278. Alfred Völler/Alois Hügle (Hg.), 75 Jahre Johannesburg, Surwold 1988, S. 90. Im Zuge des „Klostersturms“ wurde die Johannesburg jedoch 1941 enteignet, sodass die Herz-Jesu-Missionare das Haus verlassen mussten. Nach Rückgabe der Einrichtung im Sommer 1946 konnte die Erziehungsarbeit wieder aufgenommen werden. Vgl. auch Kap. 5.4.3. Michael Häusler, Dienst an Kirche und Volk. Die deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913-1947), Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S. 325-367, hier bes. 333-337; vgl. auch ders., Kontrollierte Gleichschaltung. Die hannoversche Diakonenanstalt Stephansstift im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Hans Otte/Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim/New York 2001, S. 183-195.

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hilfe“ und betonte die notwendige „Einheitlichkeit der Beeinflussung“ für die „Bewegung“.22 Als „Landesführer der Inneren Mission“ in Hannover lavierte seit 1934 Pastor Johannes Wolff zwischen den radikalen Nationalsozialisten sowie Deutschen Christen und dem Bischof Mahrarens, wobei er, wie auf Reichsebene, einen Neutralitätskurs der Inneren Mission im kirchenpolitischen Streit vertrat. Die in der Folge uneinheitliche Politik gegenüber den nationalsozialistischen Zumutungen ermöglichte nur manchen Einrichtungen eine erfolgreiche Gegenwehr.23 Dennoch blieb der Bestand der evangelischen Einrichtungen und Heime in Hannover über das Kriegsende hinweg erhalten. Die nationalsozialistische Zwangssterilisation betraf auch die Zöglinge niedersächsischer Heime. Gerade die dominierenden evangelischen Einrichtungen hatten eine fördernde Einstellung zur Zwangssterilisation. Allein im ersten Jahr der Gültigkeit des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden 202 Minderjährige in der Fürsorgeerziehung der preußischen Provinz Hannover (6,9 % des Zöglingsbestandes) zur Unfruchtbarmachung beim Erbgesundheitsgericht beantragt. Bei 321 weiteren Fällen war die Frage einer Antragstellung noch nicht abschließend geklärt.24 Aus der von Pastor Hans Müller geleiteten Anstalt Kronsberg sind zwischen 1933 und 1945 mindestens 52 Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren zwangssterilisiert worden.25 Durchgeführt wurden die Sterilisationen nicht nur in staatlichen oder städtischen Krankenhäusern, sondern auch in evangelischen Einrichtungen wie im Krankenhaus Siloah, dem Henriettenstift, dem Friederikenstift oder dem Clementinenhaus.26 Flächendeckende Forschungen 22

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Hans Müller, Die nationalsozialistische Schulung im Fürsorgeerziehungsheim der Inneren Mission, in: Evangelische Jugendhilfe 1935, S. 103f. Hans Otte, Die Tradition der hannoverschen Diakonie und der Landesverein für Innere Mission in der NS-Zeit, in: Otte/Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit, S. 107-127. Die Fürsorgeerziehung in Preußen im Rechnungsjahr 1934, in: Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches 1936, H. 1, S. 133. Vgl. Christoph Mehl, Innere Mission und Nationalsozialismus am Beispiel des Stephansstiftes Hannover, in: Heinrich Grosse/Hans Otte/Joachim Perels (Hg.), Bewahren ohne Bekennen? Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus, Hannover 1996, S. 301-328, bes. 316. Vgl. Andreas Sonnenburg, Die Henriettenstiftung Hannover in der nationalsozialistischen Zeit im Spiegel der ‚Blätter aus dem Henriettenstift‘ und der ‚Schwesternrundbriefe‘, in: Otte/Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit, S. 229-259, bes. 258.

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zur Betroffenheit der Heimzöglinge durch die Erbgesundheitspolitik in Niedersachsen liegen leider nicht vor. Während der NS-Zeit war insbesondere auf evangelischer Seite der Anpassungswille an das einen Aufstieg Deutschlands versprechende Regime z. T. sehr stark ausgeprägt. Im Rahmen der Verhandlungen über einen Neubau der evangelischen Reichskirche verabschiedete der Landesausschuss für Innere Mission in Bayern am 18. Mai 1933 eine vom Leiter der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, Hans Lauerer, formulierte Unterstellungserklärung unter den Landesbischof. Damit erfolgte die Eingliederung der Inneren Mission in die ‚intakte‘ Landeskirche, die am 28. Juni 1934 mit einer „Ordnung für Innere Mission“ rechtlich verankert wurde. Der bayerische Bischof Meiser ernannte dann den in der Landeskirche für Innere Mission verantwortlichen Oberkirchenrat zum „Landesführer“ der Inneren Mission (1934 Oskar Daumiller, 1935 Hans Greifenstein), der wiederum einen Führerrat berief (u.a. Hans Lauerer, Karl Nicol, Heinrich Riedel, Landesvereinsdirektor Kurt Halbach). Ein Versuch Halbachs, die Innere Mission Bayerns der Reichskirche zu unterstellen, misslang. Halbach wurde im Oktober 1934 zum Rücktritt gezwungen. Nachfolgend unterstellten sich auch die großen Einrichtungen nach und nach dem „Führerrat“, um den Schutz der Landeskirche vor nationalsozialistischen oder deutschchristlichen Eingriffen in ihre Eigenständigkeit zu besitzen.27 Auf der Sitzung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 24. Mai 1933 meinte der Vorsitzende und zugleich als Konrektor der Brüderanstalt für die Heimerziehung zuständige Ernst Naegelsbach zwar: die „nationale Revolution wurde in der Anstalt Rummelsberg lebhaft begrüßt“ und „eine besondere Umstellung war nicht nötig“. Doch distanzierte er sich zusammen mit anderen Anstaltsleitern von Bestrebungen der Anstaltsleitungen von Auhof und Fassoldshof, welche die „Gleichschaltung sämtlicher evangelischer Erziehungsanstalten in der Art, daß Leitung und Verwaltung sich in den Dienst der nationalen Regierung stellen“, gefordert hatten.28 Die An27

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Hannelore Braun, Evangelisches Vereinswesen und Anfänge der Inneren Mission, in: Gerhard Müller/Horst Weigelt/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 2: 1800 – 2000, St. Ottilien 2000, S. 281-289; Helmut Baier, Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz. Die Innere Mission Münchens in der Zeit des Nationalsozialismus, München 2008, S. 14-24. Protokoll über die Sitzung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 24.5.1933, in: ELKAN, DW Bayern 1608. In der Sitzung Ende des Jahres wurde die Unterstellung dann vom Verband als Linie ausgegeben und die Einrichtungen sollten sich mit ihren Vorständen darüber besprechen (Protokoll der Mit-

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stalten Fassoldshof (1934) und Auhof (1938) gerieten nachfolgend unter die Ägide der NSV, das Jean Paul-Stift in Bayreuth wurde 1938 aufgelöst.29 Insgesamt allerdings konnten sich die evangelischen Heime in Bayern gegenüber der nationalsozialistischen Entkonfessionalisierungspolitik durchaus behaupten.30 Auch die katholischen Heime standen in der Gefahr, ihren konfessionellen Charakter zu verlieren. So versuchten etwa die NS-Behörden des Öfteren, durch gezielte Ermittlungen gegen Einrichtungen des Katholischen Jugendfürsorgevereins (KJF) in München entsprechende Schritte einzuleiten. Mehrfach waren hier vermeintliche Beschwerden von Jugendlichen oder anderen Personen aus dem Umfeld der Einrichtungen über die angebliche Verhängung ungerechtfertigter Arreststrafen oder vermeintlicher Körperverletzungen und sexueller Vergehen Auslöser für Untersuchungen der zuständigen Stellen, die sich offenbar auch gezielt gegen die konfessionelle Ausrichtung der Heime richteten und zu personellen Konsequenzen wie auch wirtschaftlichen Einbußen durch ausbleibende Zuweisungen von Kindern und Jugendlichen führten. Allerdings blieb die Trägerschaft erhalten.31 Im Bereich des Diözesancaritasverbands Regensburg wurden dagegen bis 1945 neun Erziehungsheime einschließlich kriegsbedingter Fremdnutzungen geschlossen oder beschlagnahmt.32 Hinsichtlich der Herausforderungen durch die NS-Sterilisationspolitik verhielten sich die bayerischen evangelischen Heime durchaus kooperativ. Denn der Ministerialerlass des Staatsministeriums des Innern vom März 1934 betr. „Biologische Erfassung der Fürsorgezöglin-

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gliederversammlung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 13.12.1933, in: ebd.). Protokoll der Mitgliederversammlung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 13.12.1934 und Jahresbericht des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten für 1938, in: ebd.. So war die Zöglingszahl 1938 sogar um 135 gestiegen und sank 1939 nur um 85. Die Gesamtzahl der untergebrachten Kinder und Jugendlichen lag bei 2.133, was zum Urteil führte, dass neben den Einrichtungen Auhof, Jean-Paul-Stift Bayreuth, Marienthal-Schweinfurt, Wunsiedel „keine so bedrohliche[n]“ Verluste in den letzten drei Jahren zu verzeichnen gewesen seien (Vgl. Jahresbericht des Verbandes der Bayerischen Evangelischen Erziehungsanstalten für 1939, in: ELKAN, DW Bayern 1612). Rudolf Oswald, „Christliche Tradition und zeitgemäße Hilfe“. 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising e.V., hg. v. KJF München-Freising, München 2010, S. 55-59. Manfred Eder, Helfen macht nicht ärmer. Von der kirchlichen Armenfürsorge zur modernen Caritas in Bayern, Altötting 1997, S. 436.

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ge“ postulierte viele „durch Erbanlage minderwertige Jugendliche“, die es zu erfassen gelte, da sie „eine wirtschaftliche Belastung der Volksgemeinschaft verursachen und rassisch-blutmässig zu einer Gefährdung der Volkskraft und Volksgesundheit führen können“. Die Jugendlichen sollten aus erziehlichen Gründen aber nicht beunruhigt werden. Die Erfassung hatte im normalen Anstaltsalltag zu geschehen. Der als Anlage beigelegte „Biologische Frage- und Befundbogen“ gab bereits in den Benennungen eine krude Mischung charakterlicher, psychologischer und „erbmäßiger“ Eigenschaften vor.33 Die Heime sollten die Einstufungen ihrer Zöglinge ohne besondere Honorierung vornehmen.34 Der Nürnberger Bezirksarzt versuchte im Sommer 1934, die Rummelsberger Anstalten zur Anzeigestellung nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ für ihre Zöglinge zu motivieren: „Die Anzeigen bleiben geheim, die Anzeigeformblätter kommen nicht zu den Akten, werden vernichtet. Nie erfährt jemand wer die Anzeige gemacht hat, auch nicht das Gericht. Verdächtig sind Alle, die jemals in einer Heil- & Pflegeanstalt waren, deren Eltern in einer solchen waren.“35 Die Rummelsberger Anstalten sandten die entsprechenden Anzeigenformulare zurück. Auch noch für die Kriegszeit ist die Mitwirkung des Heims an der Sterilisierung eines Zöglings belegbar.36 Auch Minderjährige aus katholischen Heimen Bayerns gelangten im Zuge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ seit 1934 in die Spirale von Meldung, Begutachtung, richterlichem Beschluss und Sterilisierung. Wegen der grundsätzlichen Ablehnung dieser Maßnahmen durch den bayerischen Episkopat scheinen zudem auch Häuser zu geschlossenen Einrichtungen ausgebaut worden zu sein, ohne Zwangssterilisierungen letztlich verhindern zu können. Belegt sind diese etwa für das Piusheim bei Glonn.37 Für die Münchener Heime der KJF spielte offenbar der Psychiatrie-Professor Hans Luxenburger, der für die KJF als Gutachter fungierte, eine ambivalente Rolle. Er war Mitarbeiter des 33

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Ministerialerlass des Staatsministeriums des Innern v. 22.3.1934, Nr. 4166 e 1 (MABl., S. 53), in: ELKAN, Bestand Rummelsberger Anstalten, Nr. 168. Staatsministerium des Innern an Erziehungsanstalt Rummelsberg v. 16.5.1934, in: ebd. u. ELKAN, DW Bayern 1613. Bezirksarzt Nürnberg (Obermedizinalrat Dr. Carl Bauer) an Rektor Nicol v. 18.8.1934, in: ELKAN, Bestand Rummelsberger Anstalten, Nr. 170. Erziehungsanstalt Rummelsberg (Nägelsbach) an Obermedizinalrat Bauer v. 30.1.1935 u. der Vorsitzende des Erbgesundheitsgerichts Bamberg an Erziehungsanstalt Rummelsberg v. 28.2.1941, in: ebd. Eder, Helfen macht nicht ärmer, S. 452; Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 63.

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Rassenhygienikers Ernst Rüdin am Institut für Genealogie und Demographie der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und befürwortete die Unfruchtbarmachung bei bestimmten Krankheitsbildern. Allerdings wollte er die Entscheidung für den operativen Eingriff dem Betroffenen überlassen. Er geriet mit seiner Einstellung immer stärker ins Abseits und schied 1940 von seiner Forschungsstätte aus. Nach 1945 gelang ihm u.a. mit Unterstützung des Direktors der KJF, Prälat Alois Hennerfeind, nach einem erfolgreichen Entnazifizierungsverfahren eine zweite Laufbahn innerhalb der städtischen Jugendfürsorge Münchens.38 Genaue Zahlen über den Anteil der Opfer der NS-Zwangssterilisationspolitik an der Gesamtzahl der befürsorgten Minderjährigen liegen für Bayern nicht vor. Die Mitwirkung der Heime an der NS-Zwangseugenik, die, wie gesehen, bereits zeitgenössisch verschleiert und unkenntlich gemacht werden sollte, wurde erst recht nicht nach dem Krieg thematisiert. Immer wieder waren konfessionelle Heime vor allem seit Ende der 1930er Jahre zwar von den Bestrebungen der staatlichen Behörden und der NSDAP zur Entkonfessionalisierung betroffen, die jedoch meist wegen des Fehlens von weltlichem als Alternative zu konfessionell geprägten Personal und der sich verschärfenden Kriegsverhältnisse, die eine andere Schwerpunktsetzung der Fürsorgepolitik erforderten, scheiterten. Insgesamt lässt sich die NS-Zeit hinsichtlich der Fürsorgeerziehung „als eine rassistisch überwölbte Phase“ in die Geschichte der Jugendfürsorge einordnen. „Viele der Ausgrenzungen und Repressionen waren bereits in der Krisenphase der Weimarer Republik grundgelegt.“39 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Dritten Reichs versuchten die für die öffentliche Erziehung zuständigen Landesjugendämter mit Billigung der Besatzungsmächte, ihre Arbeit auf Grundlage der durch das RJWG bestimmten gesetzlichen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik weiterzuführen. Dies umfasste auch die inhaltliche Ausprägung, indem der Begriff der ‚Verwahrlosung‘, die sich nach immer noch weit verbreiteter Meinung etwa in Schuleschwänzen, Arbeitsbummelei, Herumtreiben oder sexuellen Verfehlungen zeigte, seine zentrale Bedeutung behielt. Bis in die 1960er Jahre hinein blieben die wilhelminischen Gehorsamsvorstel38 39

Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 63f. Henkelmann/Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), S. 42.

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lungen beim Erzieherpersonal ein kennzeichnendes Merkmal. Hier dürfte es eine Rolle gespielt haben, dass zumindest eine große Zahl der ordensgebundenen Kräfte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihre Sozialisation erhalten hatte. Zumindest die katholischen Ordengemeinschaften sahen sich seit Mitte der 1930er Jahre durch staatliche Einschränkungen damit konfrontiert, weitaus weniger Nachwuchs rekrutieren zu können. Diese personalmäßige Prägung verband sich auch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch mit der autoritären und patriarchalen Ordnung der christlichen Personalgenossenschaften, die insbesondere in den 1950er Jahren noch vielerorts das Personal und später oftmals noch die Führungspersonen in den Heimen stellten. Sie wirkte sich als Anstaltshierarchieprinzip im Verhältnis zu den Mitarbeitenden aus und setzte sich bis in die Organisierung der Heimgruppen durch. Außer den auf Befehl und Gehorsam40, geringe Information etc. gründenden Prinzipien stellte auch Religion und ihre kultische Praxis ein prägendes Moment dar. Neben der Anstalt als „totaler Institution“ mit den Zwängen von Großküchen, Subsistenzwirtschaften, Arbeitszeitökonomien etc. galt hier z. T. offen oder versteckt das Vorbild der Schwestern- oder Brüdergenossenschaft in Form einer christlichen Hausgemeinschaft mit strenger hierarchischer Gliederung, Akzeptanz von Autorität, Weltabgeschiedenheit, Ordnung, Sauberkeit, Leibfeindlichkeit, mangelnder sexueller Aufklärung und einer Defizitorientierung in der Erziehung, die bis in die 1960er Jahre auch als vermeintlicher „Charakter“ der zu Erziehenden festgeschrieben wurde. Bei katholischen Ordensgemeinschaften – hier vor allen bei Schwesterngemeinschaften – ist davon auszugehen, dass die eigene Prägung durch das Noviziat und den Ordensalltag im Mutterhaus, die in der Regel bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil auf den meist kaum abgeänderten, im Kaiserreich oder noch davor verfassten Konstitutionen der Gemeinschaften basierte, den Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen in den Heimen in starkem Maß beeinflusste. Darüber hinaus kam für sie hinzu, bei ihren Erziehungsbemühungen sowohl das eigene als auch das Seelenheil der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen im Blick zu haben. Obwohl diese klösterlich ausgerichtete Erziehungspraxis bereits seit dem Ende der 1950er Jahre im Fachverband und über die Zeitschrift „Jugendwohl“ als nicht mehr zeit40

Jähnichen, Von der „Zucht“ zur „Selbstverwirklichung“?, S. 132-139.

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Abb. 3: Die einsame Lage der Johannesburg im emsländischen Moor (Luftaufnahme um 1970)

gemäß in Frage gestellt wurde und sich hier spätestens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil für die katholische Heimerziehung die Wende von der „Bewahrung zur Bewährung im Leben“ abzuzeichnen begann, wirkte sich dies in den einzelnen Heimen nicht sogleich aus.41 Denn traditionell verpflichtete sich der Ordens-Christ durch die Ablegung der Gelübde zu einem Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Im freiwilligen Verzicht auf Besitz, Ehe und Selbstbestimmung sah man die beste Voraussetzung, Gott zu finden und die Vollkommenheit zu erlangen. Ohne die Abkehr von der Welt mit ihren bösen und lasterhaften Seiten schien das Erreichen dieses Ziels nicht möglich. Diese Weltdistanz kam besonders im Ordenskleid und in der Klausur zum Ausdruck. Die Hervorhebung der traditionellen Leibfeindlichkeit betonte die Absage an den eigenen Körper, die Geschlechtlichkeit sowie alle Erotik. So war etwa das Ordenskleid so weit geschnitten, dass es die Formen des Körpers verdeckte. Die im 19. Jahrhundert entstehenden Ordensgemeinschaften wollten im Rahmen eines klösterlichen Lebens der sozialen, moralischen und geistigen Not ihrer Zeit mit einer religiösen Antwort begegnen. 41

Vgl. Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S.160-164.

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Damit waren Spannungen grundgelegt, die sich nicht nur im Ordens-, sondern auch im Apostolatsalltag zeigten. Denn sie übernahmen das tradierte, vor allem auf Verzicht und Entsagung basierende Vollkommenheitsideal, wirkten aber gleichzeitig mit großem Einsatz im sozial-caritativen Bereich, wobei sie nicht selten mit den von ihnen als gefährlich erachteten Teilen der Welt in Berührung kamen.42 Dies traf gerade für die Heimerziehung zu, wo etwa die jungen Frauen in den FE-Heimen im Gegensatz zu den dort eingesetzten Schwestern vielfach sexuelle Erfahrungen besaßen. Eine fortschrittliche Orientierung hinsichtlich der Erziehungsarbeit in den Heimen dürfte daher auch stark davon abhängig gewesen sein, inwieweit die Gemeinschaften es geschafft haben, die Vorgaben des Ordenslebens von den ihnen anvertrauten Minderjährigen zu lösen. Hier war etwa die Abkehr von der Forderung zur Keuschheit an die Jungen und Mädchen ein wichtiges Kriterium. Welche Spannung sich daraus ergab, zeigten die Heimordnungen und Ordenssatzungen. Einerseits verwiesen sie wie Mitte der 1950er Jahre bei den bayerischen St.-Anna-Schwestern darauf, dass die Erziehung von „verstehende[r] Liebe“ geprägt sein solle, die „ihre Auswirkung […] in einer nie versiegenden Hochschätzung vor jedem Schützling in seiner Würde als Mensch und Christ und der ihm von Gott gegebenen Ewigkeitsbestimmung“ finde.43 Andererseits widersprach dem jedoch offenbar nicht selten das Verhalten des Erziehungspersonals, indem es sich immer wieder hauptsächlich an den vermeintlichen Defiziten der Minderjährigen orientierte und z. B. eine festgestellte Triebhaftigkeit oder Oppositionshaltung hervorhob. Dieser defizitären Perspektive entsprach es, dass etwa nach der 1953 verfassten Heimordnung der Johannesburg, eines Erziehungsheims im Emsland, „ein großer Teil der Erziehungsarbeit im Heim darin [besteht], das Böse durch Aufsicht und straffe Ordnung zu verhindern“.44 Zudem wird genauer zu untersuchen sein, inwieweit die Ordensangehörigen ihre ordensspezifischen Wertvorstellungen in die Erziehung einbrachten, also ob etwa die im eigenen Ordensleben einer Schwester geforderte Demut das Vollziehen demütigender Strafen beeinflusste 42

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Vgl. Bernhard Frings, Mit ganzem Herzen. Hundert Jahre Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu von Hiltrup, Dülmen 2000, S. 8-20. Satzung der St.-Anna-Schwestern vermutlich von Anfang 1950, Archiv DiCV München, Ordner: Rechtsreferat 1969-1970 – Satzungen. Heimordnung für die Mitarbeiter der Johannesburg v. 20. 3. 1953, Archiv Johannesburg, Ordner: Dokumente aus dem Heimalltag, S. 8f. Vgl. auch Kap. 5.4.3.

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oder eine besondere Wertschätzung des Leidens in der Ordensspiritualität Einfluss auf die Bestrafung hatte. Besonders die Konstitutionen und Gebräuchebücher der Schwestern-Gemeinschaften enthalten immer wieder Passagen, die den hierarchischen Aufbau der Gemeinschaft betonen und von den Schwestern unbedingten Gehorsam gegenüber der Leitungsebene verlangen. Der genau reglementierte Tagesablauf mit festen Gebetszeiten, Gottesdienstbesuch, geistlichen Übungen, Schweigegebot etwa bei den Mahlzeiten wie auch rigiden Bestimmungen hinsichtlich des Besuches von bzw. bei den Angehörigen oder des Postverkehrs – in der Regel wurden die Briefe von den Oberen gelesen – schufen einen engen Ordnungsrahmen, der vermutlich von den meisten Schwestern verinnerlicht wurde. Dies galt auch für die Bedeutung ihrer Apostolatsarbeit, die sie innerhalb der Gemeinschaft mit großem Einsatz verrichteten. Schließlich war es bereits den Novizinnen oftmals untersagt, sich mit einer Mitschwester näher anzufreunden, also eine besondere Bezugsperson in der Gemeinschaft zu haben.45 Auf evangelischer Seite war der Anteil des Personals aus Brüder-/Diakonissen-Gemeinschaften sehr viel geringer als auf katholischer Seite. Hier soll als Beispiel für eine verbreitete Mentalität im Feld evangelischer Heimpädagogik, der sich selbst als autoritativen „Kutscher“46 bezeichnende Pfarrer Gerhard Fangmeier (1900– 1985) ausführlicher vorgestellt werden. In seinem Wirken im Heim Oberbieber bei Neuwied repräsentiert sich Tradition und Prägung evangelischer Heimerziehung. Er hatte nach seinem Studium der Theologie in Bonn, Tübingen, Münster und Berlin seit 1926 am Religionspädagogischen Institut in Berlin unter der Leitung des Pädagogen Eduard Spranger und des Theologen Friedrich Delekat gearbeitet, wo er mit den zeitgenössischen psychologischen Theorien in Kontakt kam. Er arbeitete in den Erziehungseinrichtungen in Beuggen bei Basel (1924) und Altdüsseltal (1927), machte ein Praktikum in der Heil- und Pflegeanstalt Tannenhof und in der Anstalt Ober45

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Vgl. Annnelies van Heijst, Models of Charitable Care. Catholic Nuns and Children in their Care in Amsterdam, 1852-2002, Leiden u.a. 2008, S. 213-264. „Meine Betreuungsweise im Heim war autoritativ ausgerichtet, und zwar nicht nur darum, weil dies in diesem Zeitraum allgemein üblich war und von den Behörden erwartet wurde, sondern auch darum, weil sie mir deutlich auf den Leib geschnitten war. [...] „Ich habe die mir gesuchte Lebensaufgabe darin gefunden, eine verwahrloste Jugend anzuschirren, um sie in eine lebensgerechte Richtung hineinzulenken, wo es ging, mit lockerer Zügelführung, wo es sein musste, mit festem Zaum.“ Gerhard Fangmeier, Blick vom Wingertsberg (Ms. 1978), S. 65.

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bieber, deren Heim er von 1928 an leitete. Nach dem endgültigen Wechsel des Direktors Robert Horning zu den Düsselthaler Anstalten wurde er 1939 bis 1968 auch Direktor der Gesamteinrichtung, die neben dem Heim in Oberbieber noch aus zwei Filialheimen in Rengsdorf und einer Aufnahmestation in Neuwied bestand.47 Fangmeier war über die Leitung der Einrichtung Oberbieber, welche die Aufnahmeeinrichtung für evangelische Kinder- und Jugendliche in der südlichen Rheinprovinz war, hinaus ein vielgefragter Fachmann der evangelischen Heimerziehung. Gerade in der direkten Nachkriegszeit galt er als Ansprechpartner sowohl des Evangelischen Reichserziehungsverbandes wie auch staatlicher Stellen, wenn es um Vorträge im Rahmen von Fortbildungen etc. ging. Da er kurz nach seinem Amtsantritt eine psychologische Begutachtung der in den Heimen der Anstalt Oberbieber untergebrachten Kinder und Jugendlichen einführte, genoss er beim Landesjugendamt nach eigener Auskunft hohes Ansehen.48 Fangmeier schöpfte aus einem offensiv vertretenen Praxisbezug, den er in seine Ausführungen immer wieder einfließen ließ.49 Er 47

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Vgl. Jürgen Fangmeier, Gerhard Fangmeier 1900-1985, in: Reinhard Witschke (Hg.), Diakonie bewegt. 150 Jahre Innere Mission und Diakonie im Rheinland, Köln 1999, S. 479-496; ferner Gerhard Fangmeier, Erlebnisse und Gedanken eines Neusiedlers, (Ms. 1977); ders., Blick vom Wingertsberg. Vgl. insgesamt Gerhard Fangmeier, Individualpsychologie und Anstaltserziehung, in: Evangelische Jugendfürsorge, 4 (1928), S. 142-149; ders., Die Individualpsychologie in der Anstaltserziehung, in: Die Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz 7 (1931), S. 43-44, ders., Gemeinschaftserziehung im Erziehungsheim, in: Die Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz 9 (1933), S. 366-368; ders., Versuch einer Typisierung geistesschwacher Kinder unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit von Familienerziehung, in: Die Rheinprovinz 10 (1934), S. 40-41; ders., Unsere psychologische Arbeit im Beobachtungsheim, in: Evangelische Jugendhilfe 1939, S. 171-174, 182-187; ferner ders., Jahresbericht über die Erziehungs-Anstalt Oberbieber für das Jahr 1929, in: Evangelische Jugendfürsorge 6 (1930), S. 126-129; ders, Jahresbericht über das Erziehungsheim Oberbieber (Heime in Oberbieber, Rengsdorf und Neuwied) für das Jahr 1930, in: Evangelische Jugendfürsorge, 7 (1931), S. 77-84; ders., Jahresbericht über das Erziehungsheim Oberbieber (Heime in Oberbieber, Rengsdorf und Neuwied) für das Jahr 1931, in: Evangelische Jugendfürsorge, 8 (1932), S. 72-76. Fangmeier, Heutige Probleme der Arbeitserziehung, in: Evangelische Jugendhilfe Nr. 2 (August 1950), S. 1-5; ders., Verträgt sich die heutige Menschenführung mit Strafe?, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 40-48; ders., Gesichtspunkte für die Differenzierung unserer Heime, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 9-17; ders., Ein Überblick über die Geschichte der Heilpädagogik unter Berücksichtigung der Heimerziehung für Schwachsinnige, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 162-173;

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schrieb nicht nur im seit 1952 erscheinenden „Handbuch für Heimerziehung“ den Artikel über die „Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, insbesondere für die männliche Heimjugend“, sondern verfertigte auch eine Geschichte der Anstalt.50 Über seine eigene Tätigkeit verfasste er zahlreiche Rückblicke und 1977 ein autobiographisches Manuskript.51 Darin beschrieb er seinen Werdegang zum Leiter der Erziehungseinrichtung in Oberbieber, der mit einem Interesse für Psychologie und Pädagogik begann. Zugleich grenzte er sich aber immer wieder von allzu viel Theoretisieren ab und beschrieb, wie er in Düsselthal ins „kalte Wasser“ des Erziehungsalltags geworfen worden war, was ihn die „Eigengesetzlichkeiten“ der Heimwelt ohne „ideologische Modeströmungen“ entdecken ließ.52 Fangmeier hatte nach eigener Aussage nach seinem Amtsantritt in Oberbieber „lockerere Zügel“ eingeführt und das strenge disziplinarische Regime der Anstalt etwas gelockert – z. B. wurden Wanderungen der Jugendlichen nicht mehr in Marschformation mit Bewachern ausgeführt. Die Anklänge an jugendpflegerische Methoden wurden in der Kriegszeit und in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch gestärkt, als es auch für das Heim um das unmittelbare Überleben und den Wiederaufbau zerstörter Anstaltsteile ging. Die Kehrseite der Benutzung jugendpflegerischer Methoden und gewisser Freizügigkeiten war die verschärfte Ausgrenzung Jugendlicher durch die Eugenik in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch an vermeintlich „fortpflanzungsgefährlichen“ Heimzöglingen der Anstalt Oberbieber fanden Sterilisationen auf Grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933 statt – bis 1939 sind 9 Fälle nachweisbar.53 Zudem wurden

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ders., Überblick über die Heilpädagogik der letzten Jahrezehnte; abgestellt auf die Heilpädagogik an erziehungsschwierigen Minderjährigen, in: Evangelische Jugendhilfe 1958, S. 120-129; ders., Der Erzieher als Mensch, in: Fortbildungsbrief 2, Nr. 4 (November 1961) (ohne Paginierung); ders., Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen, in: Fortbildungsbrief 6, Nr. 1 (März 1965), S. 14-23; ders., Erziehungsschwierigkeiten im Schulalter, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 3 (September 1966), S. 9-16; ders., Der Mensch und seine Vergangenheit, in: Fortbildungsbrief 8, Nr. 1 (März 1967), S. 8-16. Fangmeier, Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, insbesondere für die männliche Heimjugend, in: Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 638-657; ders., Vier Glieder einer Kette: die Wandlungen des Evangelischen Kinder- und Jugendheimes Oberbieber auf seinem 100jährigen Werdegang, o. O. o. D. ca. 1955]. Gerhard Fangmeier, Erlebnisse; ders., Blick vom Wingertsberg; vgl. auch Jürgen Fangmeier, Gerhard Fangmeier 1900-1985, S. 479-496. Fangmeier, Erlebnisse, S. 46. Vgl. Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“, S. 535, Tab. 8.

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die bis 1939 von hier zentral betreuten Familienzöglinge einem Screening unterzogen und nachfolgend sterilisiert. Eine Liste vom Oktober 1935 wies 119 Jugendliche aus, an deren Sterilisationsverfahren die von Oberbieber aus agierende Evangelische Zentralstelle für Familienerziehung beteiligt war, 104 die ohne deren Beteiligung in einem Sterilisationsverfahren standen und 128, die zu einem späteren Zeitpunkt angezeigt werden sollten.54 Die eigene Aufgabe verstand Fangmeier darin, „das innere Ja des Kindes zur Sterilisierung zu wecken“, wie er es auch am Beispiel eines Mädchens beschrieb, das „aus Vertrauenseinstellung sehr leicht von der Notwendigkeit des folgenreichen Eingriffes zu überzeugen und zu dem Opfergang willig zu machen war“.55 Über die Mitwirkung an der nationalsozialistischen Zwangssterilisationspolitik schwieg Fangmeier in seinen Erinnerungen und Tagebuchnotizen. Er selbst fühlte sich in der NS-Zeit verfolgt, weil er einen Mitarbeiter, der sich 1938 in seiner Freizeit an antijüdischen Aktionen beteiligte, zu sofortigem Dienstantritt in der Anstalt verpflichtet hatte. Er blieb während der Kriegszeit von einer Einberufung zum Militär verschont, musste aber im Herbst 1944 für drei Monate an Schanzarbeiten teilnehmen. Anfang April 1946 sprach Fangmeier auf einer Arbeitstagung der Anstalten für schulentlassene Mädchen im Erziehungsheim Christi Hilf in Düsseldorf über die mentale Lage der Jugendfürsorge.56 Zum Thema „Die pädagogische Situation der Gegenwart“ trug neben ihm die Ministerialrätin a. D. Weber vor. Sie setzte nach dem „Macht- und Führerrausch“ des Nationalsozialismus und der von dort geförderten „Revolte gegen die eigentlichen Erziehungsautoritäten des Elternhauses und der Erziehergeneration“ wieder auf die „Einordnung der Jugend“, die „Pflege der Ehrfurcht“ vor Gott und in der Folge auch vor den Menschen. Fangmeier sah seit den „Erschütterungen“ einen „schrankenlosen Selbsterhaltungstrieb“ walten. Den Eltern und Zöglingen könne nicht mehr vertraut werden. „Die Eltern entführen leicht ihre Kinder und die Zöglinge haben einen starken Entweichungsdrang.“ Die Heime erlebten in seinem Verständnis „Entladungsstörungen“ einer „stärkeren seelischen Spannung“ der 54 55 56

Ebd., S. 218f. Ebd., S. 200 u. 225. Bericht über die Arbeitstagung der Anstalten für schulentlassene Mädchen im Erziehungsheim Christi Hilf in Düsseldorf am 10.4.1946, in: HStAD, NW 41 Nr. 7, Bl. 72-74.

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Gefährdeten. Dabei unterschied Fangmeier verschiedene seelische Typen. So würde der „verhärtete Mensch“ unter dem „Dressat“ (Fritz Künkel) stehen und die Heime für die eigene Not verantwortlich machen. Der „sensitive und expansive Mensch“ suche die Schuld dagegen bei sich und sei entweder gelähmt oder aber so robust, dass die Unzufriedenheit zu „stehlen und einbrechen“ führe. Dagegen sei der „asoziale Mensch“, der „faule, nachlässige Mensch“ ungepflegt und arbeitsunlustig. Der „gemütlose Mensch“ habe wiederum keine Herzenswärme, sei grausam und quäle andere. Er sei gefährlich im Heim, denn sein Werkzeug sei der „haltlose Mensch“, der sich reibungslos in die Heimordnung passe, leicht zu lenken sei, freundlich erscheine, aber im freien Leben versage. Diese Charakterologie, die sowohl Anklänge an die zeitgenössische wertende Charakter-Psychologie des Individualpsychologen Fritz Künkel57 besaß, als auch eigene systematische Betrachtungen einer langen Heimleiterzeit einbezog, diente ihm letztlich zum Lob des Heimes. Gerade in der notvollen Nachkriegszeit unterstrich er die Mühen des Heimes um Nahrung für die Kinder, welche auch diesen sichtbar seien. „Das bindet sie an die Heime.“ Ihm erschien allerdings die Pflege des seelischen Lebens noch wichtiger als des körperlichen Wohls: „Die einzige Macht, der im Zusammenbruch Vertrauen erhalten geblieben ist, das ist die Kirche. An sie klammern sich die Menschen, auch die Jugend. Man muß ihr daher die Religion nahe bringen.“58 In einem Vortrag über „Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen“ zählte Fangmeier drei Typen von jugendlichen Delinquenten auf, die er mit biblischen Gleichnisgeschichten parallel setzte: den Labilen, den Verhärteten und die aus aus sexueller Triebhaftigkeit Abwei57

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Fritz Künkel (1889-1956) hatte sich in der Zwischenkriegszeit der Adlerschen Richtung der Psychoanalyse angeschlossen und eine umfangreiche Charakterlehre entwickelt, die die vermeintliche philosophische Schwäche der Individualpsychologie durch Religionsphilosophie ausgleichen sollte. Er arbeitete als Arzt und während der NS-Zeit am 1936 gebildeten „Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie“ (Göring-Institut). Er kehrte von einer USA-Reise im Sommer 1939 nicht wieder nach Deutschland zurück und wirkte nachfolgend in Los Angeles. Vgl. Michael Kölch, Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin 1920-1935. Die Diagnose „Psychopathie“ im Spannungsfeld von Psychiatrie, Individualpsychologie und Politik, Berlin 2006; Regine Lockot: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1985, bes. S. 134ff, 188-212. Bericht über die Arbeitstagung der Anstalten für schulentlassene Mädchen im Erziehungsheim Christi Hilf in Düsseldorf am 10.4.1946, in: HStAD, NW 41 Nr. 7, Bl. 72-74.

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chenden.59 Der „Labile“ als wurzelloser Mensch ohne Ausdauer und Stetigkeit, der im Heim u.a. zum Weglaufen tendiere, wurde nach seiner Sicht von der Bibel mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn abgedeckt. Hier plädierte er nicht für Strenge, sondern für die „liebevoll geöffneten Arme des Vaters“, die eine Verhaltensänderung herbeiführen würden. Allerdings gebe es zur Heimpraxis hier auch eine Bruchstelle, denn man dürfe die Jugendlichen nicht einfach ziehen lassen. „Wie würden die Behörden kommen, wenn ich die mir anvertrauten Schützlinge in dieser Weise absinken ließe! Ich würde für unfähig und verantwortungslos erklärt werden.“60 Die „Verhärteten“ mit den Merkmalen Egoismus, Enttäuschtheit und Zynismus wurden von ihm als „Judasnaturen“ identifiziert. Dieser Typus müsse, anders als die zuvor beschriebenen „verwahrlosten Labilen“ nicht hinaufgezogen werden, sondern im Gegenteil aus seiner „vermessenen hoffärtigen Haltung, aus seinem Herrenmenschentum heruntergedrückt werden und zur Demut gebracht werden“. „Aber diese Demütigung darf nicht – wenigstens nicht lediglich – mit billigen Mitteln erfolgen. D. h. von kränkenden Worten und erniedrigender Behandlung und roher Bestrafung geht keine wirkliche und entscheidende Hilfe aus.“ Die Erzeugung von „Herzensdemut“ sollte in seiner Sicht durch das Vorbild von Menschen mit „innerer Hoheit“, mit „klarer und gutherziger Seele“ erfolgen, die er z. B. in einer älteren Schwester erkannte, die mehr als 20 Jahre in Oberbieber gearbeitet hatte.61 Eine dritte Ursache „jugendlicher Verfehlungen“ erkannte Fangmeier schließlich in der „ungezügelten Sexualität“, welche durch „den weitgehenden Sittenverfall allerdings nicht groß auffällig“ würden. Hier sah er eine Ursache von „Sünden-, Schuld- und Angstgefühl, das bis zur Verzweifelung gehen kann“. Er betrachtete dies als die in der Bibel beschriebene „Urangst“, welche aus dem Verstoß gegen „Gottes Schöpfungsordnung“ resultiere. Jugendliche Sexualität erhielt darin den Charakter von „Mißbrauch mit dem Bewußtsein des Frevels“. Ob hier allerdings ein Aufklärungsvortrag, der eine „Ergriffenheit durch das Schöpfungswunder“ erzeuge, wie Fangmeier bezeichnenderweise am Beispiel des Vortrags eines katholischen Geistlichen zeigen wollte, half, war ihm insbesondere bei „schwerer sexueller Abirrung“ selbst zwei59

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Gerhard Fangmeier (Oberbieber), Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen, in: Fortbildungbrief 6, Nr. 1 (März 1965), S. 14-23.. Ebd., S. 16-17. Ebd., S. 18f.

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felhaft. Am Beispiel eines von ihrem Vater sexuell missbrauchten noch nicht schulpflichtigen Mädchens – bei dem übrigens, ganz im Duktus der Zeit, das Mädchen als mit einer „merkwürdig koketten Art“ beschrieben wurde62 – verwies Fangmeier auf ein zusätzliches Heilmittel: die „Vergebung von Schuld“. Wenn diese, wie im vorliegenden Fall, als sich Mutter, Vater und Tochter in einem Gottesdienst wiedertrafen, „im Glauben begehrt und in der Liebe Christi gespendet“ werde, könne der „Bann der Sünde“ gebrochen werden.63 Das Credo des Theologen verschob dabei pädagogische, psychologische und heilerzieherische Fragen in eine Glaubensdimension. So sehr sich Fangmeier dabei auch des Beifalls der zeitgenössisch nach einem evangelischen Profil der Heimerziehung suchenden Praktiker, denen er auf Fortbildungsveranstaltungen vortrug oder dieses in den „Fortbildungsbriefen“ des Evangelischen Erziehungsverbandes aufschrieb, sicher sein konnte, so wenig konkret waren letztlich seine Ratschläge. Auch in weiteren Beiträgen betonte Fangmeier eine nach dem „Charakter“ oder der Erziehungsschwierigkeit zu differenzierende Heimerziehung. In einem Referat auf der Jahrestagung des Evangelischen Jugendfürsorgevereins der Rheinprovinz in Ratingen am 4. November 1954 verwies er darauf, dass die frühere auf „charakterologischen Gesichtspunkten“ beruhende Differenzierung der verschiedenen Heime, bei der es auch separate Aufnahmeheime gegeben habe, sich in der Nachkriegszeit zu einer mehr inneren Differenzierung der Heime verändert habe, die mittlerweile fast alle kleine Beobachtungsstationen vorgeschaltet hätten.64 Zudem habe eine Ausdifferenzierung nach Erziehungsschwierigkeit („Aggressive“, „Dauerausreisser“) und heilpädagogischen Gesichtspunkten stattgefunden. Fangmeier sah die Problemfelder in der Gewinnung geeigneter Persönlichkeiten als Heimerzieher und in der Überbetonung der Psychotherapie, die den Eindruck vermittele, es gäbe „unter den erziehungsschwierigen und verwahrlosten Kindern nur noch Neurotiker“. „Es gibt ja wohl doch Kinder, die von Natur etwa ein gefühlsarmes Wesen 62

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Vgl. allgemein zu der oftmals durchgeführten Zuschreibung einer Mitschuld an die Missbrauchten die Beobachtung von Lützke, Öffentliche Erziehung, S. 211-214. Alle Zitate bei Fangmeier, Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen, S. 20-23; vgl. auch seinen Vortrag „Schuld und Vergebung im Leben des Kindes“ (Vortrag in Düsseldorf am 30.10.1957), in: AEKR, 7 NL 136 (Pastor Gerhard Fangmeier). Gerhard Fangmeier, Gesichtspunkte für die Differenzierung unserer Heime, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 9-17, hier S. 10.

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oder verhängnisvolle Triebbereitschaften besitzen. Setzen wir aber diese schlecht veranlagten dabei seelisch derben Kinder dem milden Klima der Neurosenpädagogik aus, so nutzen sie zwangsläufig diese Luft in ihrem Sinne weidlich aus.“65 Fangmeier sah die Anstaltspädagogik zwar durch die Heilpädagogik befruchtet, doch meinte er, bereits in den 1950er Jahren eine Überbetonung zu einer „medizinischen Heilpsychologie“ feststellen zu können, die es durch eine Stärkung der Pädagogik zu korrigieren gälte.66 Er stellte in Frage, ob „die heutige einseitige Auflockerungs- und Entfaltungstaktik den unbedingten pädagogischen Fortschritt“ bedeute. Man müsse „nicht nur verstehen und mündig machen und heilen“ sondern auch „ganz schlicht ordnen und disziplinieren“.67 Trotz aller psychologischen und psychotherapeutischen Erkenntnisse, mit denen Fangmeier in Verbindung kam und die er offenbar auch anwendete68, blieb für ihn die schon erwähnte Charakterologie entscheidend. Dabei kombinierte sich eine phänomenologische Typenbildung aus dem eigenen Erfahrungswissen mit einer wertenden Charakterbeschreibung der Kinder und Jugendlichen. Für ihn waren zwar auch Elternarbeit und Geschlechtserziehung, um zwei in den 1950er Jahren als besonders modern geltende Erweiterungen gängiger Heimpädagogik zu nennen, wichtig, doch bevorzugte er eine grundsätzlich autoritäre Ausrichtung in der Erziehung. Der Verlust von Autorität und Leitbildern in der modernen Gegenwart durch (Fernsehen, Musik etc.) hatten seiner Meinung nach erst zu „bedrängenden Zuchtschwierigkeiten“ geführt. Als Erzieher solle man wieder Leitbild sein.69 Verantwortlich war in seiner Sicht der „Zeitgeist“, „Filme und Schundlektüre“ mit „ihren verführerischen Umwelteinflüssen“. Hier sah er sich konfrontiert mit dem „asozialen Typus“, der heilpädagogisches Eingehen für Schwäche halte und sogar die Erziehenden zu Grenzüberschreitungen (körperlichen Züchtigungen) reize. Dagegen verwies er auf Makarenko, der 65 66

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Ebd., S. 12. Gerhard Fangmeier, Ein Überblick über die Geschichte der Heilpädagogik unter Berücksichtigung der Heimerziehung für Schwachsinnige, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 162-173, hier 163. Ebd., S. 164 u. 173; ähnlich Gerhard Fangmeier, Überblick über die Heilpädagogik der letzten Jahrzehnte; abgestellt auf die Heilpädagogik an erziehungsschwierigen Minderjährigen, in: Evangelische Jugendhilfe 1958, S. 120-129. Siehe Beispiele in: Gerhard Fangmeier, Der Mensch und seine Vergangenheit, in: Fortbildungsbrief 8, Nr. 1 (März 1967), S. 8-16; ders., Erziehungsschwierigkeiten im Schulalter, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 3 (September 1966), S. 9-16. Fangmeier, Erziehungsschwierigkeiten im Schulalter, S. 12.

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durch Arbeitserziehung und Gemeinschaftsbildung vorbildlich gewirkt habe.70 Rückblickend sah Fangmeier nach 1945 neue Zöglingsschaften in Form bürgerlicher Kinder mit einem „mutwilligen Mutismus“ in den Heimen. Die „Wohlstandskriminalität“ der 1950er Jahre ließ ihn, wie er zugab, manchmal von einer therapeutischen Haltung absehen und auf „Abschreckung“ umschalten. Er sah sich, auch zur Überraschung seiner eigenen Angehörigen, zu einer „autoritären Heimleitung“ genötigt.71 Ein persönliches Merkmal, unter dem er auch selbst litt, waren seine „Zornausbrüche“.72 Das ehemalige Heimkind Ursula Steingräber, die Anfang der 1950er Jahre in Oberbieber war, berichtet, dass sie von ihm geohrfeigt und leicht verletzt worden ist, als ihr beim Einsammeln von Gesangbüchern diese durch Schabernack eines anderen Kindes heruntergefallen waren.73 Aus dem Dienst schied er in seiner sinngebenden Rückschau 1968 als „Kriegsverletzter“, denn sein rechtes Auge wurde auf der Abschiedsfeier bewegungsunfähig.74 Fangmeier sprach sich z. B. 1953 gegen eine straflose Erziehung aus, denn diese bedeute auch „Verflachung“, „Oberflächlichkeit“ und verhindere das Vorstoßen zum „Eigentlichen“, worunter er die Zuerkennung von innerer Menschenwürde durch Gott und damit verbunden das Gefühl von Schuld und Sühne verstand.75 Das „Eigentliche“, die „entscheidende Hilfe“ sah er aus der Seele kommen. Gegen eine durch die Kriegsereignisse seelisch enthemmte Jugend hoffte er, durch Religion eine „Bindung des Herzens“ herstellen zu können.“76 Im Ideal schwebte ihm eine „christliche Werkgemeinschaft“ und Hausgemeinschaft vor, die sich dem „Auflösungsprozeß“ der Familie oder gar der Nation entgegen stelle.77 Hier sollte ein paternalistisch wirkender 70 71 72

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Fangmeier, Überblick über die Heilpädagogik der letzten Jahrzehnte, S. 127ff. Fangmeier, Erlebnisse, S. 68f. Siehe Jürgen Fangmeier, Gerhard Fangmeier (1900-1985), S. 495; Fangmeier, Blick vom Wingertsberg, S. 12. Interview Ursula Steingräber (20.8.2010), Transkript, S. 47. Fangmeier, Erlebnisse, S. 72. Gerhard Fangmeier, Verträgt sich die heutige Menschenführung mit Strafe?, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 40-48. Als „einseitige Parole“ identifizierte er: „Wer barmherzig ist, suche nur zu heilen, aber nicht zu strafen! Auf solchem Wege werden wir keine rechten Helfer, sondern verführen nur zur Oberflächlichkeit.“ (Fangmeier, Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, S. 653). Fangmeier, Vier Glieder einer Kette, S. 31. Fangmeier, Heutige Probleme der Arbeitserziehung, S. 5; ders., Überblick über die Heilpädagogik der letzten Jahrzehnte, S. 129.

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„christlicher Hausvater“ mit einer „christlichen Erzieherschaft“ eine Gemeinde im Heim bilden.78 Darin sollten die Heimkinder je nach Begabung und Fähigkeit mitwirken. Die am Beispiel von Gerhard Fangmeier vorgestellte Verbindung von traditioneller Prägung, Praxis, Theologie, Psychologie, eigener Unvollkommenheit und Personalmangel im Heim fängt viele Aspekte evangelischer Heimerziehung ein, die nachfolgend in den Mikrostudien ergänzt und detaillierter ausgeführt werden sollen.

3.2 Die Heimaufsicht und andere Kontrollen der Unterbringung Wie die statistische Annäherung an das Feld der Heimerziehung anschaulich belegt, war auch in den 1950/60er Jahren die Bedeutung freier, meist konfessioneller Träger groß. Die Kinder und Jugendlichen gelangten über die Jugendämter und Vormundschaftsgerichte, also über staatliche Institutionen und aus staatlicher Verantwortung in die Heime. Die Heimunterbringung wurde, bis auf wenige Ausnahmen, in staatlicher Kostenträgerschaft finanziert und durch gesetzlich erlassene Bestimmungen, etwa zur Strafpraxis, reglementiert. Daraus ergaben sich Abhängigkeiten und vielfältige Kooperationen zwischen den konfessionellen Trägern und den zuständigen staatlichen Behörden. Eng damit verbunden war die Frage, ob und inwieweit hier Kontrollstrukturen zum Tragen kommen mussten, die sowohl eine staatliche Heimaufsicht als auch eine Binnenprüfung etwa des Trägers oder des Personalgestellers gegenüber der Einrichtung umfassten. Bis zum JWG von 1961 bestand keine bundeseinheitliche Regelung hinsichtlich einer konkreten staatlichen Aufsicht über die Heime, sodass hier nur einzelne landesrechtliche Bestimmungen griffen. Die Jugendämter und Landesjugendämter als einweisende Behörden waren vom Gesetzgeber nur verpflichtet, das Wohl der von ihnen in den Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen im Blick zu behalten, also eine auf die Person bezogene Aufsicht auszuüben, die von den zuständigen Stellen „offenbar nur unzureichend koordiniert“ wurde.79 Dennoch besuchten etwa Vertreter des Landesjugendamts Hannover seit Ende der 1940er Jahre regelmäßig die Heime in ihrem Zuständigkeitsgebiet, um sich über den Erziehungsverlauf der Minderjährigen, aber auch die Verhältnisse 78 79

Fangmeier, Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, S. 655. Wapler/Pfordten, Expertise, S. 80.

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in den jeweiligen Einrichtungen zu informieren. Und auch die zuständige Landesrätin Scheuner vom westfälischen Landesjugendamt visitierte in den 1950er Jahren die Heime und verfasste zumindest kurze Berichte über den baulichen Zustand, die Gruppengrößen oder die personellen und hygienischen Bedingungen.80 Eine echte Heimaufsicht, die in Beschwerdefällen funktioniert hätte, wurde in dieser Phase jedoch außer durch den fehlenden rechtlichen Rahmen ebenso durch die traditionell bestehenden konfessionell-staatlichen Arrangements erschwert, wie es z. B im Rheinland, in Westfalen, in Bayern und in Niedersachsen der Fall war. Hier bestanden nicht nur durch die hohen Anteile der konfessionellen Heimplätze am Gesamtangebot an Heimplätzen ein alternativloses Angewiesensein auf die konfessionellen Heime, sondern vor allem in den Jahren direkt nach dem Krieg sehr starke personelle Verwobenheiten zwischen konfessionellen und staatlichen Verwaltungen. So war der langjährige Leiter des Stephansstiftes Hannover, Pastor Johannes Wolff, von 1946 bis 1950 zugleich Vorsitzender des AFET wie auch in den ersten Jahren Leiter des Landesjugendamtes. Die sich zum Teil daraus herleitende mangelnde Form eines Gegenübers wurde positiv mit dem Begriff „Vertrauen“ beschrieben, bedeutete aber faktisch wenig ‚Kontrolle‘.81 Darüber hinaus war es ein dauerhaftes Interesse von Innerer Mission (später Diakonie) und Caritas als Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, die Eingriffe des Staates in die Verbands- und Trägerautonomie gering zu halten.82 Dieses Interesse zeigte sich auch in allen 80

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Christian Kaindl, (Erster) Projektbericht für die Dokumentation: Heimkinder und Heimerziehung in Westfalen-Lippe 1945-1980, in: Kröger/Schrapper (Hg.), Dokumentation eines ExpertInnengesprächs am 5. März 2008 in Koblenz, S. 19. Siehe zu Westfalen am Beispiel von Ellen Scheuner auch Frölich, Das Landesjugendamt in Westfalen, S. 174-189. So wurde im Gefolge der Novelle des RJWG im Auschuss für Geschlossene Jugendfürsorge des EREV über die Ausführungsbestimmungen diskutiert, die von den obersten Landesjugendbehörden vorgeschlagen waren. Pastor Georg Suhr hatte Bedenken gegen bestimmte Empfehlungen die Heimaufsicht betreffend, wohingegen allerdings der EREV-Vorsitzende Otto Ohl betonte, dass den Landesjugendämtern „ein gewisses Aufsichtsrecht nicht abgesprochen werden könne, da sie ja den Eltern gegenüber die Verantwortung für die Unterbringung der Kinder trügen“. Allerdings müssten der Umfang der Aufsicht und die Art der Durchführung begrenzt sein. Vgl. „Für die Sitzung des Ausschusses für geschlossene Jugendfürsorge am 21.9.1954“ [Auszug aus den Ergebnissen und Empfehlungen der Vorkonferenzen der Juristen der obersten Jugendwohlfahrtsbehörden am 3./4.11.1953 und 1./2.2.1954] und Niederschrift der Sitzung des Ausschusses für geschlossene Jugendfürsorge in Frank-

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zum Teil auch öffentlich skandalisierten Ereignissen um die Heimerziehung in konfessionellen Anstalten (z. B. Mädchenerziehungsheim Boppard/Rheinland 1946/47, Faßoldshof/Bayern 1949/50, Martinistift/Westfalen 1958/5983). Auf breiter Front entzündete sich der Konflikt mit dem Staat am Thema der Heimaufsicht 1955/56. Als es in Folge eines Todesfalles in dem privaten, nicht-konfessionellen Kinderheim Zeven durch die Misshandlung eines Kindes durch einen vorbestraften Heimerzieher zu einer Debatte über eine verschärfte Heimaufsicht kam – auch CDU-Abgeordnete im Bundestag forderten dies –, fühlten sich die konfessionellen Verbände zu Unrecht mit betroffen. Sie wollten auch angesichts von Anwürfen des Kinderschutzbundes aus Hamburg ihre Handlungsfreiheit und mögliche Freiheit von staatlicher Aufsicht wahren.84 So hieß es in einer Stellungnahme des EREV, dass die Forderungen nach einer verstärkten Anstaltsaufsicht an Erfahrungen mit einem „totalitären Staat“ erinnern würden.85 In einem Rundbrief des EREV an die Landesverbände der Inneren Mission im Januar 1956 wurde angeregt, die Heimaufsicht an die konfessionellen Trägerverbände zu delegieren. Im Hintergrund stand hier eine Ausarbeitung von Olga Glaue, die umriss, dass Spitzenverbände ein Interesse daran hätten, dass die Arbeit hygienisch, pflegerisch und pädagogisch einwandfrei durchgeführt werde. Zudem sei die religiöse Ausrichtung relevant. „Ob in gutem und rechtem Geist gearbeitet wird, können erfahrungsgemäß nur Menschen beurteilen, die auf dem gleichen Boden des religiösen Bekenntnisses oder der Weltanschauung stehen, und auch nur sie können beurteilen, ob die im Einzelnen durchgeführten Maßnahmen richtig sind.“86 Im Frühjahr 1956 intensivierte sich die Diskussion über eine stärkere Aufsicht so-

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furt/Main am 21.9.1954 (Glaue, 2.10.1954), in: ADWRh Ohl 10.2.2.3 (vgl. auch ADW, EEV 167). Vgl. die Mikrostudien zum Fassoldshof (Kap. 5.4.5) und zum Martinistift (Kap. 5.4.9). Zu Boppard siehe Lützke, Öffentliche Erziehung, S. 82-86. Vgl. Hinweise bei Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung, S. 48f.; siehe auch die Debatte im Spiegel der Akten des EREV: ADW, EEV 166, 257, 258, 259. Der Bundesinnenminister beantwortete die Anfrage im Bundestag mit einem Verweis auf die Kompetenz der Länder nach dem RJWG. Siehe BT-DS 2030, 2. Wahlperiode, Bundesminister des Inneren v. 3.1.1956 (Beantwortung der kleinen Anfrage DS 1932), in: ADW, EEV 259. „Das erinnert stark an den totalitären Staat“, (aus: epd ZA Nr. 283 v. 7.12.1955; hier auch weitere Stellungnahmen), in: ADW, EEV 258 u. ADWRh, Ohl 10.2.2.3. Siehe Rundschreiben des EREV v. 6.1.1956 und Betr. Anstaltsaufsicht (Glaue) (o. D.), in: ADW, EEV 257.

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gar noch, weil zudem Missbrauchsfälle (u.a. in einem evangelischen Internat in Moers) skandalisiert wurden und sich die Frage mit der mangelnden Fachausbildung in der Diakonie verband.87 Das für die Heimaufsicht in Schleswig-Holstein zuständige Kultusministerium legte in zwei Erlassen zum § 29 RJWG fest, dass für die Genehmigung von Heimen vorausgesetzt würde, dass die Fachkräfte „staatlich geprüft“ seien. Eine solche Festlegung hatte der AFET-Vorsitzende, Pastor Wolff, vermeiden wollen, weil demnach die Grundausbildung als Diakon nicht mehr ausreichte. Selbst der Ricklinger Brüderhausvorsteher Schmidt teilte diese Meinung. Wolff hatte zudem in Verhandlungen mit dem Leiter des Kieler Landesjugendamtes zugeben müssen, dass nicht in allen Brüderhäusern eine so qualifizierte Ausbildung wie im Stephansstift gemacht würde, „so daß man, wenn man redlich und wahrhaftig bleiben will, in Wirklichkeit auch gar nicht behaupten kann, daß ohne weiteres jeder, der sich ‚Diakon‘ nennt, auch wirklich geeignet“ sei.88 Der AFET gab im März 1956 Empfehlungen über die Gestaltung der Anstaltsaufsicht heraus, in denen u.a. vorgeschlagen war, eine Mitteilung der Änderung der Personalzahl, der Platzzahl und die Meldung des Todesfalles eines Minderjährigen für die Heime zur Pflicht zu machen.89 Wenig später veröffentlichte Rudolf Sieverts in der „Evangelischen Jugendhilfe“ einen Aufsatz „Zur Frage der Heimaufsicht“, der kritisierte, dass der für die konfessionellen Wohlfahrtsverbände entscheidende Punkt einer Sachverständigen-Beratung nicht berührt wurde.90 Dies forderte die Kritik der AFET-Vertreterin Gertraude Scholz heraus, die meinte, „es hätte sich hier sofort die Diskussion ergeben, wer diese Sachverständigenberatung durchführen soll, vermutlich würden doch die Organe der staatlichen Stellen diese Aufgabe als die ihre angesehen haben.“ So sei die Frage der Übertragung der Anstaltsaufsicht auf die Wohlfahrtsverbände mittlerweile verschiedentlich diskutiert worden, doch auch wohlgesonne87

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Vgl. zu diesem Fall die Darstellung im Schriftwechsel Held an Ohl v. 26.4.1956 und Ohl an Held v. 7.5.1956, in: AEKR, 6 HA 006 (Präses Heinrich Held), Nr. 128; Janssen an Hauptgeschäftsstelle Innere Mission u. Hilfswerk v. 11.2.1956 und Kinderschutzbund (Lejeune) an Janssen v. 26.4.1956, in: ADW, EEV 258. Stephansstift (Wolff ) an Janssen v. 22.2.1956, in: ADW, EEV 258. Empfehlungen des AFET für die Gestaltung der Anstaltsaufsicht v. 19.3.1956, in: ADW, EEV 259 Rudolf Sieverts, Zur Frage der Heimaufsicht, in: Evangelische Jugendhilfe 1956, S. 83-87.

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ne Vertreter sahen in der Anstaltsaufsicht eine hoheitliche Aufgabe, die nicht übertragbar sei. Mit der Anstaltsaufsicht könne man nicht nur alte Praktiker betrauen.91 In einer Sitzung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge des EREV im September 1956 wurde nicht nur auf die revoltenähnlichen Vorkommnisse in Freistatt und Borstel, die zum Tode eines Erziehers92 und zu schweren Erkrankungen einer Lehrerin geführt haben, hingewiesen, sondern auch auf das Thema Heimaufsicht. Bei der Übersicht über die Regelungen in den einzelnen Bundesländern wurde deutlich, dass zumindest die Selbstkontrolle der konfessionellen Verbände durch eine vorgeschaltete Selbstkontrolle (so in Niedersachsen), durch die Entsendung eines Vertreters in die Ausschüsse (so in Hamburg geplant) oder aber durch Einbau in die Staatskontrolle (so in Württemberg) vorgesehen war. Nur in Bayern wurde kein Unterschied zwischen privaten Einrichtungen und Heimen der freien Wohlfahrtsträger gemacht und die Staatsaufsicht erfolgte nur durch Hoheitsträger. Man hoffte, einheitliche Regelungen mit den Bundesländern vereinbaren zu können.93 Die Verantwortung sollte der Heimleiter haben, Meldungen über die Spitzenverbände erfolgen und der Umfang der Staatsaufsicht eingegrenzt bleiben. So erhoffte man sich die „Beachtung des Sendungsrechts der Brüder- und Mutterhäuser“, die „Beschränkung der Aufsicht auf Vorlage der Unterlagen: Lebenslauf, Führungszeugnis, Nachweis der Vorbildung (erforderlich fachliche Eignung und Ausbildung richtiger als fachliche Ausbildung, da sonst Theologen, Lehrer, Juristen, Volkswirte, Ärzte usw. nicht erfaßt werden).“ Zudem sollte überall das Gruppensystem eingeführt werden.94 An dem schon erwähnten Fall Zeven entbrannte seit 1956 insgesamt auf der Bundesebene die Frage einer möglichen Verschärfung der Heimaufsicht der Landesjugendämter über die konfessio-

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AFET (Scholz) an EREV (Glaue) v. 10.9.1956, in: ADW, EEV 259. Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 66f. Siehe zu Bayern Kap. 5.3. Niederschrift der Sitzung des Ausschusses für geschlossene Jugendfürsorge am 24.09.-25.09.1956 im Birkenhof, Hannover-Kirchrode (Glaue) v. 6.10.1956), in: ADW, EEV 167; Empfehlungen des EREV an Landesverbände u. Einrichtungen der Inneren Mission betr. Anstaltsaufsicht auf Grund der Beratungen am 25.9.1956 v. 5.11.1956, in: ADW, EEV 331.

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nellen Einrichtungen.95 In Bayern erhob sich insbesondere die Frage der Beteiligung der Kirche oder des Landesverbandes für Innere Mission an der Aufsicht.96 Hier war die Geschäftsstelle des Verbandes sehr zurückhaltend. Zwei zusätzliche Stellen wären notwendig. Man sah darin keine erstrebenswerte Aufgabe, da man Konflikte mit den Einrichtungen fürchtete.97 Der Leiter des Evangelischen Erziehungsverbandes, Ernst Nägelsbach, erklärte, dass insgesamt eine staatliche Aufsicht nicht wegzudenken sei. Eine nur eigene Aufsicht wäre gar nicht gut für die freie Wohlfahrtspflege. Damit meinte er nicht nur deren hohen Aufwand an Personen und Kosten, sondern dachte gerade auch an Konfliktfälle, in denen die Stellung der Freien Wohlfahrtspflege besser sei, wenn sie „nicht nur der eigenen Aufsicht untersteht“. Allerdings dürfe die staatliche Aufsicht nicht allzu kleinlich sein. Die Innere Mission sei aber nie der „Pflicht zur Selbstkontrolle enthoben“, denn ihr Ansehen stehe ansonsten in Frage. Insofern plädierte Nägelsbach für die Einsetzung von Kommissionen in bestimmten Fällen, die beratenden Charakter haben, doch „auch harte Wahrheiten“ aussprechen können sollten.98 Auch wurde versucht, mit den zuständigen staatlichen Behörden einvernehmliche Lösungen zu finden, zumal hier oft gute persönliche Beziehungen bestanden. Prälat Alois Hennerfeind, Direktor des Katholischen Jugendfürsorgevereins der Erzdiözese München und Freising (1928–1960) und Vorsitzender des Landesverbands der katholischen caritativen Erziehungsanstalten in Bayern (1953–1960) ging 1956 in seinen Bemerkungen zu Fragen der Anstaltsaufsicht auf die spezifischen bayerischen Verhältnisse ein: „Es ist jedoch Aufgabe und Pflicht der freien Verbände, unter Verwertung der Erfahrungen und begründeten Erkenntnisse der Psychologie und Pädagogik aus dem Geist des Christentums und der kath. Kirche, die pädagogische Arbeit in den kath. Einrichtungen des Erzie95

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Siehe oben und Hinweise bei Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in den 50er und 60er Jahren, S. 46ff. Landesverband der IM Bayern (KR Dyroff ) an Konrektor Nägelsbach v. 9.9.1958 (mit Protokoll der Präsidiumssitzung v. 18.4.1958), in: EKAN, DW Bayern 1611. KR Dyroff (Landesverband für Innere Mission) hielt es nicht für gut, eine solche Beteiligung an der Aufsicht durch die AG der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege machen zu lassen, „wenn die anderen Verbände dann in Mißstände bei uns hineinschauen können“. Er wollte das Für und Wider in einer Denkschrift zusammengefasst sehen (Ebd.). Ev. Erziehungsverband (Nägelsbach) an Landesverband v. 15.11.1958, in: EKAN, DW Bayern 1611.

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hungs- und Unterrichtswesens in jeder Weise zu fördern. Es muß dankbar anerkannt werden, dass das bayer. Landesjugendamt regelmäßig Vorkommnisse und Klagen aus dem Bereich der kath. Erziehungsheime dem Landesverband der kath. carit. Erziehungsheime unter Übersendung der entsprechenden Unterlagen überschickt mit dem Ersuchen, die Angelegenheit zu prüfen, die Erziehungsheime zu beraten und dem Landesjugendamt das Ergebnis mitzuteilen. Diese Übung, die sogar von einem Beamten gepflegt wird, der der SPD angehört, ist sehr zu begrüßen. Auch das Stadtjugendamt München hat wiederholt Klagen über Anstalten uns zur Prüfung und Beratung übermittelt, in der Überzeugung, dass dieser Weg den Kindern mehr nützt als behördliche Untersuchungen. […] Zusammenfassend möchte ich sagen: a) ein Aufsichtsrecht des Staates über die Erziehungsheime kann nicht bestritten werden. b) dieses Aufsichtsrecht ist jedoch sachlich begrenzt und muß begrenzt bleiben. Eine unsachliche Ausweitung führt zur Staatsomnipotenz. c) der Diözesanbischof kann dieses Aufsichtsrecht des Staates nicht ersetzen. Es empfiehlt sich auch nicht Ausnahmen für katholische Einrichtungen zu erstreben. d) Aufgabe der Verbände muß es sein, gegebenenfalls mit Unterstützung der kirchlichen Behörde die erzieherische Arbeit und den Ausbau unserer Heime mit aller Kraft zu fördern.“99 Es lässt sich verfolgen, dass sich zumindest die Möglichkeit einer fachverbandsinternen Aufsicht bis in die Formulierungen des 1961 verabschiedeten JWG (§ 78 Abs. 6) findet. Dies wurde auf der Länderebene, auf der die Durchführungsbestimmungen zu erlassen waren, nicht durchgesetzt und von den Fachverbänden faktisch auch nicht durchgeführt.100 Zu groß waren die Ängste vor Konflikten mit den Trägern, welche hierin einen Autonomieverlust befürchteten. In den Bestimmungen des 1961 erlassenen Jugendwohlfahrtsgesetzes war eine mögliche Beteiligung der Verbände der freien Träger an der Heimaufsicht 99

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Bemerkungen Hennerfeinds v. 20.2.1956, in: ADCV 319.030 Fasz. 02. Zu Hennerfeind vgl. Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 60f. Siehe Ev. Erziehungsverband in Bayern an Mitglieder v. 5.4.1966, in: ELKAN, DW 1601 (mit Bezug auf Artikel aus dem Caritasdienst 1/1966 (Hanns Reichert) über die Heimaufsicht § 78 JWG); ferner zum Ev. Erziehungsverband in Bayern: Kolb an Nägelsbach v. 30.11.1965, in: ELKAN, DW 1606.

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vorgesehen101, was in Bayern auch anvisiert, aber wegen der bereits oben dargestellten Bedenken nicht durchgeführt wurde. So lag die Heimaufsicht in Bayern nicht wie im JWG § 78 Abs. 1 vorgesehen, beim Landesjugendamt, sondern bei der obersten Landesjugendbehörde (für Jugendfürsorge das Innenministerium, für Jugendpflege, Kindergärten, Horte etc. das Kultusministerium), die wiederum nach Ermächtigung von § 89 JWG auf die Regierungen übergegangen war. „Auf Wunsch der freien Verbände, die eine generelle Subdelegation der Heimaufsicht an die Jugendämter möglichst vermeiden wollten (Aufsicht durch die Konkurrenz), wurde in der obengenannten Entschließung bestimmt, daß die Jugendämter zwar im Wege der Amtshilfe mit der Aufsicht beauftragt werden können, aber immer nur im Einzelfall und mit einer schriftlichen Beauftragung durch die Regierung. Einrichtungen der freien Verbände, bei denen das örtlich zuständige Jugendamt die Heimaufsicht durchführen will, sollen sich in jedem Falle die schriftliche Beauftragung durch die Regierung vorweisen lassen. Dort, wo das Jugendamt die Aufsicht im Auftrage der Regierung übernimmt, hat es kein Recht, dem Träger gegenüber irgendwelche Beanstandungen geltend zu machen bzw. Forderungen zu stellen.“ Das Jugendamt konnte nur einen Bericht an die Regierung machen, die dann Änderungen verlangen konnte: „Von der Möglichkeit nach § 78 Abs. 6 JWG haben die freien Träger in Bayern bis jetzt nicht Gebrauch gemacht. Es war in dieser Frage auch in unseren Reihen keine einheitliche Meinung zu erzielen. Deshalb hat man sich entschlossen, die Heimaufsicht zunächst durch die öffentliche Hand ausführen zu lassen, zumal nach § 78 Abs. 5 zur Überprüfung einer Einrichtung ja sowieso ein Vertreter des zentralen Trägers, dem das Heim angeschlossen ist, zugezogen werden soll.“ Zudem bestimmte das Bayerische Ausführungsgesetz für Jugendwohlfahrt (Jugendamtsgesetz) vom 23. Juli 1965 in Art. 39, dass der Träger der zur Aufsicht ermächtigten Aufsichtsbehörde Auskünfte erteilen muss. Das Staatsministerium konnte durch Rechtsverordnung „Mindestvoraussetzungen“ festlegen für die Gewährung des leiblichen, geistigen und seelischen Wohls des Minderjährigen.102 Nach Art. 101

102

Siehe hierzu im Detail die Mitschrift des Referates von Olga Glaue auf der Erzieherfreizeit in Sulzbürg am 17.5.1962 „Wie stellen wir uns zur Heimaufsicht?“, in: ELKAN, DW Bayern 1623. Ev. Erziehungsverband in Bayern an Mitglieder am 5.4.1966, in: ELKAN, DW Bayern 1607 (auch in: DW Bayern 1601). Dabei wurde auf einen Artikel aus dem Cari-

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28 Abs. 2 sollten Heime nur als Unterbringungsorte anerkannt werden, wenn die Unterbringung wie die Versorgung und „eine ausreichende Zahl geeigneter Fachkräfte“ gewährleistet seien. Am 1. Juni 1966 traten „Richtlinien für Heime und andere Einrichtungen nach § 78 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt“ in Kraft, wonach die Gliederung in Erziehungsgruppen bis zu 15 Kindern mit je einer sozialpädagogischen Fachkraft die Mindestvoraussetzung war. Die Heime hatten auf Formblättern entsprechende Eignungserklärungen nach § 28 zu beantragen.103 Diese eher indirekte Heimaufsicht erhöhte zwar den Druck auf die Heime, beließ aber den Trägern und ihren Verbänden eine große Macht, was sich auch in ersten Erfahrungsberichten der bayerischen Regierungen 1968 spiegelte. Außerdem zeigten sie deutlich, dass „die alten Probleme, von denen in Fachkreisen seit Jahren die Rede war, nichts an Schärfe verloren hatten“.104 Die Regierung Unterfranken verstand die Heimaufsicht „als Mitverantwortung dafür, daß in den Heimen alle äußeren und inneren Voraussetzungen für eine Erziehung bestehen, die es jungen Menschen ermöglichen, sich wohl zu fühlen und gesund zu entwickeln“. Man meinte, eine große Aufgeschlossenheit der Träger dabei festgestellt zu haben, was insbesondere „die Aufteilung in kleinere Erziehungsgruppen“ betreffe. Allerdings hatte man beobachtet, dass „noch viele unausgebildete Erziehungskräfte tätig“ waren und der Einsatz von Praktikanten stattfand. Der Landesverband der katholischen caritativen Erziehungsheime in Bayern führte z. B. im Diözesan-Caritasverband Würzburg in dreijährigem Turnus mehrtägige Fortbildungsseminare durch. Jedoch hatten insgesamt besonders alte Heime Schwierigkeiten bei der Einhaltung der Richtlinien. Man stellte in den Heimen „noch überbelegte Schlafräume (25 bis 40 Betten) und zu kleine Aufenthaltsräume“ fest. Es fehlten zudem Gruppen-, Neben-, Werk- und Gymnastikräume.105

103

104

105

tasdienst 1/1966 (Hanns Reichert) über die Heimaufsicht § 78 JWG verwiesen. Landesverband Innere Mission (Diakon Krumm) an Rechtsträger der Kinder- und Jugendheime der Inneren Mission v. 27.7.1966, in: ELKAN, DW Bayern 1617. Wilfried Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders. Soziale Probleme, Randgruppen und Subkulturen 1949 bis 1973, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Bayern im Bund, Bd. 2: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973, München 2002, S. 419. Regierung Unterfranken (Oberregierungsdirektor Maag) an Staatsminsterium des Innern v. 11.4.1968, in: BHStA, MInn Nr. 89742.

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Die Regierung Schwaben sah große Probleme bei der Einhaltung der Richtlinien. Der Nachholbedarf wurde hier auf 15 bis 20 Millionen DM beziffert. Die Heimaufsicht sei „machtlos“, da ein Eingriff in die finanzielle Seite der Träger unmöglich sei. „Die Überbelegung ist einer der größten Mißstände.“ Die Entsendestellen (Jugendämter) würden, ohne sich zu informieren, in die Einrichtungen überweisen, diese geradezu nötigen, Kinder aufzunehmen. Der Personalmangel, gerade in kleineren Orten, bestehe fort. „In privaten Heimen wird auf Fortbildung des Personals kein Wert gelegt. Wenn die Fachkraft nicht ihren Urlaub für ihre Weiterbildung verwendet, bleibt sie eben auf ihrem augenblicklichen Stand.“106 Auch die Regierung von Mittelfranken sah die Verhältnisse in den Heimen den neuen rechtlichen Bestimmungen nicht immer angepasst, weder in der Belegung, noch in der Ausbildung.107 Im ähnlichen Tenor fand die Regierung von Oberfranken, dass es eine „Neigung zur Überbelegung“ in manchen Heimen gebe, nicht nur wegen des Bedarfs, sondern auch aus wirtschaftlichen Motiven. Die Platzprobleme bedingten, dass nicht jedes Kind einen Schrank oder ein abschließbares Schrankteil besitze.108 Die Regierung Oberpfalz meldete, dass von 60 Einrichtungen nur sieben den 1967 erlassenen Richtlinien entsprechen würden. Gerade bei den Heimen der kirchlichen Spitzenverbände herrsche ein großer Nachholbedarf. Zwar würden bautechnische Vorschläge gerne angenommmen, „während es in Fragen der Heimstruktur oftmals langwieriger Verhandlungen bedarf, um überholte heimpädagogische Vorstellungen abzubauen“ wie z. B. kleinere Gruppeneinheiten, veraltete Speisesäle aufzulassen, Hobbyräume einzurichten oder sozialpädagogische Prinzipien durchzusetzen. „Der insbesondere notwendige Bruch mit der Waisenhaustradition der Jahrhundertwende ist derzeit das wesentlichste Anliegen im Vollzug der Heimaufsicht“, sei aber nur behutsam vorantreibbar wegen der erzieherischen Selbstständigkeit der Träger, die zu achten sei. „Manche als dringend erkannte Reorganisation kommt allerdings erst zum Tragen, wenn ein Wechsel in der Heimleitung eintritt. Hier wirkten sich vor allem der mangelnde Nachwuchs und die dadurch bedingte Über106

107

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Regierung Schwaben (Regierungsdirektor Dr. Veits) an Staatsminsterium des Innern 16.4.1968, in: ebd.. Regierung von Mittelfranken (Regierungsdirektor Dr. Großmann) an Staatsminsterium des Innern v. 18.4.1968, in: ebd. Regierung von Oberfranken an Staatsministerium des Innern v. 11.4.1968, in: ebd.

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alterung in den Ordensgemeinschaften nachteilig aus. Kaum ein Viertel der Einrichtungen ist zudem ausreichend mit voll ausgebildetem Personal besetzt.“ Eine Fortbildung scheitere oft an unzureichendem Ersatz. Jährliche eintägige Fortbildungsveranstaltungen in der Verantwortung des konfessionellen Verbandes könnten eine fundierte pädagogische Ausbildung nicht ersetzten. „Die kirchlichen Träger gehen auch nur zögernd dazu über, den fehlenden Ordensnachwuchs durch weltliche Kräfte zu ersetzen, da sie neben wohl weltanschaulichen Befürchtungen vor allem die dann notwendigen Pflegesatzerhöhungen scheuen.“ Man schlug vor, die Gewährung regelmäßiger öffentlicher Beihilfen „an das Vorliegen gewisser personeller Mindestvoraussetzungen“ zu binden.109 Die Regierung Niederbayern bemängelte am häufigsten den Bausektor. Zudem sei „fast die Hälfte der Heimerzieher“ ohne fachliche Ausbildung. Vor allem junge Kräfte, „welche die in den Ausbildungsstätten gelernten modernen Erziehungsmethoden in den Heimen anwenden“, fehlten. Eine „Umstellung auf Erziehungsgruppen (Familiengruppen)“ in den Heimen sei durchgeführt, wie auch die Zusammenarbeit mit Erziehungsberatungsstellen angeregt (bes. mit der Erziehungs- und Beratungsstelle des Katholischen Jugendfürsorgevereins für die Diözese Passau e.V.).110 Die bauliche Unzulänglichkeit vieler Heime, die zu „zu große[n] Gruppen und wenig individueller Betreuung“ führe, war auch im Bericht der Regierung Oberbayern erwähnt. Der Personalmangel wurde trotz eines oft „täuschende[n] Bild[es]“ der Statistik erkannt, da bei den Besichtigungen klar werde, dass die angegebenen Mitarbeiter bereits wieder ausgeschieden oder aber 16-jährige oder alte Mitarbeiter (70 bis 80) als Fachkräfte gemeldet waren. Manche der privaten Heime seien beratungsresistent und es dauere immer sehr lange und mache auch erheblichen Verwaltungsaufwand, bis ein Heim geschlossen ist. Die Regierung beklagte die geringe Unterstützung durch andere Behörden wie die Staatsanwaltschaft – „wozu auch die Überschreitung des Züchtigungsrechts gehören kann“. „Bei den caritativen Heimen ist sowohl die Regelung der Besichtigung als auch die Überprüfung von Besschwerden nicht befriedigend. 109

110

Regierung Oberpfalz (Oberregierungsdirktor Greim) an Staatsministerium des Innern v. 2.4.1968, in: ebd. Regierung Niederbayern (Oberregierungsdirektor Dr. Schmidt) an Staatsministerium des Innern v. 9.4.1968, in: ebd.

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Nach § 78 Abs. 5 Satz 3 JWG ‚soll das Landesjugendamt (in Bayern die Regierung) einen zentralen Träger der Freien Jugendhilfe, wenn diesem der Träger der Einrichtung angehört, bei der Überprüfung zu ziehen‘.“ Dies werde von vielen Heimträgern abgelehnt, die lieber auf der Voranmeldung der Besichtigung bestehen. Die meisten Beschwerden würden zwischen den Jugendämtern erledigt und die Regierung erhalte keine Kenntnis. „Eine Schwierigkeit ergibt sich hinsichtlich caritativer Einrichtungen schließlich daraus, daß Träger großer Heime nicht selten kleine Vereine und Kongregationen sind, die von moderner Sozialarbeit keine Vorstellung haben und die die Erfüllung ihrer caritativen Aufgabe z. B. darin sehen, möglichst niedrige Tagessätze zu nehmen und daneben noch zahlreiche Freiplätze zu vergeben. Damit fehlt eine Grundvoraussetzung für die erforderliche räumliche und personelle Umstellung. Sie kann nur in geduldiger, müheseliger Arbeit – zusammen mit den zuständigen caritativen und kirchlichen Stellen – angestrebt werden.“ Nur ein guter Kontakt der Heimaufsicht mit caritativen Trägern bewirke eine Veränderung (kleinere Gruppen etc.). Von umfangreichen Berichten über die Besichtigungen, die an die Heimträger, die Heimleitung, das Bayerische Landesjugendamt, die Kreisjugendämter, Gemeindejugendämter und gegebenenfalls den Spitzenverband gingen, wollte man zukünftig wegen des Zeitaufwandes absehen und nur noch Aktenvermerke weitergeben.111 In allen Bundesländern wurden allerdings von Seiten der Aufsichtsbehörden bereits Ende der 1950er Jahre formale Bestimmungen erlassen, die eine bessere Kontrolle der Heime und des von hier angestellten Personals gewährleisten sollten. Vorbestrafte oder Mitarbeiter unbekannter Herkunft, wie sie häufig in der direkten Nachkriegszeit in den Einrichtungen unterkamen – so war 1955 der Täter im ZevenFall wegen verschiedener Sittlichkeitsdelikte vorbestraft – sollten ausgeschlossen werden. Zudem verband sich mit den Regelungen eine Qualifizierungsnotwendigkeit, da nicht nur die Anzahl der Mitarbeiterschaft, sondern auch deren Ausbildung bei den heimaufsichtführenden Landesjugendämtern anzugeben waren.112 111

112

Regierung Oberbayern (Regierungsvizepräsident Dr. Schmitt-Lermann) an Staatsministerium des Innern v. 16.4.1968, in: ebd. Vgl. Ausführung des Landes NRW zum Gesetz für Jugendwohlfahrt nebst Erläuterung des Arbeits- und Sozialministers von NRW (o. D. ca. 1956 [23.10.1956]), in: ADWRh Ohl 10.2.2.7; Jugendwohlfahrtsrecht, bearbeitet von Karl-Wilhelm Jans

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In der Folge setzte nicht nur die mangelhafte Personalausstattung der Landesjugendämter als Fürsorgeerziehungsbehörden einer effektiven Aufsicht praktische Grenzen, wie es entsprechende Berichte der Landesjugendämter im Rheinland und in Niedersachsen thematisierten.113 Ein Sanktionsinstrumentarium, das im Wesentlichen nur die Nichtbelegung konfessioneller Heime kannte, war angesichts eines permanenten Heimplatzmangels unwirksam. Dies betraf dann auch die Kontrolle über in den Heimen geschehene Züchtigungen.114 Nach der Einführung einer regulären Heimaufsicht durch das JWG seit 1962 fanden meist in einem Abstand von zwei Jahren Visitationen der Heime statt. Sie sollten sicherstellen, dass das leibliche, geistige und seelische Wohl der in den Einrichtungen betreuten Minderjährigen durch die dortigen Verhältnisse nicht beeinträchtigt wurde. Bei festgestellten Mängeln standen den aufsichtführenden Behörden verschiedene Maßnahmen wie Empfehlungen, Beratungen, Unterstützung des Trägers bis hin zu Bußgeldbescheiden und letztlich die Schließung der Einrichtung zur Verfügung. Die nun etwa von den Jugendämtern des Rheinlands oder Westfalens einsetzenden Bemühungen, ihrer Aufsichtspflicht auch mit einer konzeptionellen Zielrichtung nachzukommen, blieben nicht konfliktfrei. So hat Matthias Frölich für die westfälische Behörde herausgearbeitet, dass hier mit dem 1966 vollzogenen altersbedingten Wechsel der Leitung des Landesjugendamts ein stringenterer Kurs gefahren wurde. Nachfolgend war eine zunehmende Zahl an Konflikten zwischen der Behörde und verschiedenen Heimen zu konstatieren, „die sich meist an Fragen der pädagogischen Praxis, der Professionalisierung der Erzieherschaft und der körperlichen Züchtigung entzündeten“ und bis zum Ende der 1970er Jahre reichten.115 Teilweise wurden diese Eingriffe des Landesjugendamts von Seiten der Heime sogar als eine Art Entkonfessionalisierung ihrer Arbeit betrach-

113

114

115

und Erika Müller, hg. V. Landschaftsverband Rheinland Landesjugendamt, 8. überarb. Aufl., Düsseldorf 1958, S. 22-29. Vgl. LJA an Kultusminister v. 13.1.1959 und LJA an Kultusminister 9.6.1959 u. , in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 34/93 Nr. 4; zum Rheinland siehe Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 91-113. Ein Beispiel für eine solche Einflussnahme findet sich in Niedersachsen, wo es dem evangelisch dominierten Verband der Erziehungsheime gelang, die 1951 erlassene Vorschrift zur halbjährlichen Einsendung der Strafbücher dahingehend zu verändern, dass die Strafbücher nur bei einer Revision vorzulegen seien. Siehe Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 4.2.1952 im Erziehungsheim Rischborn, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Frölich, Das Landesjugendamt in Westfalen, S. 182.

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tet und dementsprechend erbittert mit der staatlichen Institution gerungen.116 Hinsichtlich einer Binnenkontrolle der konfessionellen Heime durch ihre Träger bzw. der Ordens- und Diakonissen/Diakonen-Gemeinschaften als wesentliche Personalgesteller ergaben sich kaum Hinweise, die für einen institutionalisierten Ablauf sprechen. Offenbar war der entscheidende Gradmesser die Wirtschaftlichkeit der Häuser, um u. U. aktiv zu werden. Vielfach scheinen die Leitungen der einzelnen Häuser große Handlungsspielräume gehabt zu haben, ohne dass der Träger das Agieren kontinuierlich beaufsichtigte.117 Und inwieweit bei den Visitationen z. B. einer Provinzoberin neben Fragen des klösterlichen Lebens innerhalb des jeweiligen Konvents wie auch der Gesamtgemeinschaft ebenfalls Probleme der konkreten Arbeit thematisiert wurden, war nur schwer nachzuvollziehen. Gleiches gilt für die Versetzungen von Ordenspersonal. Wenn etwa in der Chronik der Marienburg 1961 zur Versetzung einer Schwester, die hier 27 Jahre „als Gruppenschwester mit Umsicht und Klugheit“ tätig gewesen war, festgehalten wurde, dass sie „überall, wo es galt, Arbeiten zu leisten, sei es im Haus, im Garten oder auf dem Feld, […] mit den Kindern zur Stelle [war], und deshalb […] ihr Fortgang von allen, auch den Angestellten, sehr bedauert“ wurde, ist der Grund für diesen Schritt kaum ersichtlich.118 Nach dem Protokoll einer Vorstandstagung des „Verbands der katholischen caritativen Erziehungsheime Deutschlands“ von 1956 sollte in allen deutschen Diözesen „vor und während des Krieges“ von den Bistumsleitungen ein „Diözesanrat für das Anstaltswesen“ installiert worden sein, der „beratend, fördernd und aufsichtsführend“ wirkte und „den Heimen in schweren Nottagen ein guter Beschützer, Helfer und Förderer“ gewesen war. In welchem Umfang diese Diözesanräte in den einzelnen Bistümern tatsächlich aktiv waren und ob sie nach Kriegsende weiter bestanden, ließ sich im Einzelnen nicht klären.119

116 117

118 119

Vgl. die Konflikte mit der Marienburg und dem Martinistift in Kap. 5.4.9. So hatten etwa die geistlichen Direktoren der in Trägerschaft des Bischöflichen Stuhls in Münster stehenden Erziehungsheime weitgehend freie Hand bei ihren Entscheidungen. Vgl. ebd. Chronik der Marienburg für das Jahr 1961, BAM Marienburg A 6, S. 259. Protokoll des erweiterten Vorstandes des Verbandes der katholischen caritativen Erziehungsheime Deutschlands in Königstein/Taunus am 21.–23.2.1956, in: ADCV 319.040 Fasz. 1.

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3.3 Der Personal- und Ausbildungsmangel Quantitativer und qualitativer Mangel Bereits 1949 war auf einer Zentralratstagung des DCV festgestellt worden, dass die „Entwicklung des [Ordens] Nachwuchses in den Nachkriegsjahren 1945 bis 1949 […] bei weitem nicht den Erwartungen [entspreche], die nach dem ungeheuren Zusammenbruch, nach all den körperlichen und seelischen Erschütterungen der Menschen gehegt wurden, vor allem entspricht er nicht dem großen Bedarf an Schwestern, der auf allen Gebieten caritativer Fürsorge besteht.“120 Diese Ausführungen verdeutlichten die in Kirchenkreisen vorherrschende Fehleinschätzung, dass nach den Beschränkungen der NS-Zeit mit der Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der erwarteten „Rechristianisierung“ der Gesellschaft auch die Zahl der Novizinnen wieder zunehmen würde. Anfang der 1950er Jahre wich diese Hoffnung jedoch einer gewissen Ernüchterung. Denn wenn die größeren caritativen Mutterhäuser in den Kriegsjahren 1940 bis 1945 trotz der Beschränkungen durch die NS-Machthaber 4.000 junge Schwestern „einkleiden“ konnten, hatten die ebenfalls vier Jahre zwischen 1945 und 1949 mit 4.800 „Einkleidungen“ nicht die erwartete durchgreifende Steigerung gebracht.121 Auch die Zahl der Mitarbeiter aus evangelischen Schwestern- und Brüderschaften nahm wegen des sich hier verschärfenden Nachwuchsmangels immer mehr ab. Diese Entwicklung ließ auch die Heime wie die konfessionellen Fachverbände der Heimerziehung erkennen, dass auf ihrem Betreuungsfeld eine Personalkrise existierte. So schätzte 1954 der Evangelische Reichserziehungsverband hier den Fehlbestand auf 15 %.122 „Weltliche“, also nicht an religiöse Gemeinschaften gebundene Kräfte waren wegen der Unattraktivität des Berufsfeldes auf Grund geringer Entlohnung, Schichtdienst, Wohnen in der Einrichtung usw. bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Boom, der seit Mitte der 1950er Jahre Arbeitskräfte in besser bezahlte Bereiche zog, kaum zu finden. Einige regionale Beispiele sollen das illustrieren. In Bayern war die Personalfrage eines der Hauptprobleme der evangelischen Heimerziehung. Hier war die Schaffung eines Aus120

121 122

Carl Becker, Es fehlt an Ordensschwestern, in: Herder Korrespondenz 4 (1949/50), S. 234. Ebd., S. 234f. Rundschreiben des EREV (Glaue v. 18.11.1954), in: ADWRh, Ohl 10.2.2.3.

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gleichs des allgemeinen Heimerzieher/innenmangels besonders schwierig, da bis Mitte der 1960er Jahre die beiden traditionellen Personalgesteller, die Diakonissenanstalt Neuendettelsau und die Diakonenanstalt Rummelsberg, das Feld beherrschten und Interessierte, die sich gerade nicht in eine christliche Personalgenossenschaft einfügen wollten, abschreckten. In der Diakonenanstalt Rummelsberg wurde angesichts einer Diskussion über die zuletzt 1942 neu gefasste Diakonenordnung die Forderung nach einer Spezialisierung der Ausbildung noch 1959 als Bedrohung für „das Ganzheitsprinzip der männlichen Diakonie“ begriffen. Die staatlichen Prüfungen für Erzieher, Jugendpfleger und Sozialarbeiter drohten eine Konkurrenz zur Diakonenausbildung zu werden, denn die müsste ansonsten entsprechend verlängert werden oder „die Sonderausbildungen gehen auf Kosten der bisherigen praktischen Ausbildung“, die aber gerade „zur Bewährung in der Diakonie entscheidende Bedeutung“ habe und sie von einem kirchlichen Seminar unterscheide. Allerdings war auch in den deutschen Diakonenanstalten diese Front gegen eine staatlich anerkannte Ausbildung nicht einheitlich. Verschiedene Anstalten (Rauhes Haus, Stephansstift, Johannesstift, Karlshöhe) besaßen eigene Wohlfahrtspflegerschulen und die Einrichtung Treysa eine staatlich anerkannte Erzieherschule. Sie konnten die Forderung nach einer staatlichen Prüfung in die eigenen Ausbildungen besser einbauen als dies in Bayern geschah. Die Rummelsberger Brüderhausleitung konstatierte: „Man sollte sich wenigstens im kirchlichen Raum fragen, ob diese sich immer mehr ausbreitende Spezialisierung nicht auf dem Boden des Materialismus erwachsen ist und ob sie dem Dienst am Menschen nach dem Neuen Testament nicht grundlegend widerspricht.“ Denn das damit vermeintlich begünstigte „Berechtigungswesen“ hebe den „bisherigen charismatischen Charakter der männlichen Diakonie“ auf.123 So gab es im Rahmen der Rummelsberger Diakonenausbildung nur die Möglichkeit zu einer staatlich anerkannten krankenpflegerischen Ausbildung, nicht zu einer Erzieherausbildung.124 Die langjährige Leiterin der Sozialen Frauenschule und des Katechetischen und Erzieherinnenseminars in Neuendettelsau, Marie Meinzolt, 123

124

Gruß aus Rummelsberg, 7. Jg. (August 1959), Nr. 3, S. 3-5 zitiert nach ELKAN, LKR V 854a Bd. V (Diakonenanstalt Rummelsberg). Siehe Werner Guth, Die Ausbildung der Diakone, in: Hermann Bürckstümmer (Hg.), Dienstauftrag Liebe. 75 Jahre Diakonenanstalt Rummelsberg, Rummelsberg o. D. [1965], S. 31-37.

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erkannte bereits Anfang der 1950er Jahre das Problem und sah besonders auf der männlichen Seite die Schwierigkeit, dass man in Rummelsberg doch auch junge Männer in eine Ausbildung ähnlich dem dreigeteilten Seminar in Neuendettelsau hereinnehmen müsste, die nicht Diakon werden wollen.125 Sie beschrieb in einem Memorandum, dass sich der Beruf des oder der Heimerzieher/in oft aus Lehrern, Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen, Jugendfürsorgerinnen, Jugendpflegern, Krankenschwestern etc. rekrutieren würde. „Da aber viel zu wenig Menschen aus diesen Berufen in Heimarbeit gehen und vor allem darin bleiben, müssen sehr oft pädagogisch völlig unausgebildete Kräfte eingestellt werden. Dies wirkt sich aber auf die Heimerziehung und damit auf den Ruf der Heime ungünstig aus.“ Eine staatlich anerkannte Ausbildung sei anzustreben, die sowohl theoretisch wie praktisch sein solle.126 Bei einer Besprechung über die Aus- und Fortbildung von Heimerziehern zwischen Meinzolt und Vertretern des Landesverbandes der Inneren Mission im November 1953 in München wurde behauptet, dass in Neudettelsau zu 95 % zivile Kräfte, doch in Rummelsberg nur Diakone ausgebildet wurden.127 Auch hinsichtlich der Frage der staatlichen Anerkennung der Ausbildung war man in Bayern, doch wohl auch in anderen Ländern wegen der möglichen Kosten zur Bezuschussung sehr zurückhaltend, wie sich bei einer Besprechung von Vertretern der Verbände der freien Wohlfahrtspflege mit dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus im Februar 1955 erwies. Die Sitzung war ein scharfes Gericht über die in 125

126

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Marie Meinzolt an Pfarrer Tratz (LV Bayern) v. 11.3.1953, in: ELKAN, DW Bayern 1594a. Siehe zur Person: Schwester Marie Meinzolt 70 Jahre, in: Blätter für Innere Mission in Bayern 12 (1959), H. 7/8, S. 37-38; und ihren Nachruf: Diakonisse Marie Meinzolt, in: Die Innere Mission 52 (1962), S. 123-124 u. Bahnbrechend in der Erziehung, in: Nürnberger Nachrichten v. 28.2.1962, in: ELKAN, DW Bayern 1630. Marie Meinzolt (Neuendettelsau): Ausbildung für den Beruf des Heimerziehers, der Heimerzieherin (Denkschrift v. 11.3.1953 an LV Bayern übersandt), in: ELKAN, DW Bayern 1594a. Der Lehrgang zur Ausbildung von Heimerzieherinnen in Neuendettelsau wurde 1955 staatlich anerkannt (Bay. Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Dr. Meinzolt) an Direktor Neuendettelsau v. 14.7.1955, in: ELKAN, DW Bayern 1630). Bericht über die Besprechung v. 2.11.1953 in München betr. Aus- und Fortbildung von Heimerziehern, in: ELKAN, DW Bayern 1594a. Allerdings hatte Meinzolt nur ein Jahr zuvor noch um einen Zuschuss für die einzige weltliche Teilnehmerin an einem Achtwochenkurs für Erzieherinnen gebeten. Vgl Neuendettelsau (Marie Meinzolt) an Ev. Erziehungsverband (Nägelsbach) v. 4.9.1952, in: ELKAN, DW Bayern 1625.

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Neuendettelsau erteilte „Schmalspurausbildung“, was Marie Meinzolt als „ungerechtfertigte[n] und gefährliche[n] Rückschritt in der Berufsbewertung des Heimerziehers“ ansah.128 Den nächsten Versuch einer Veränderung unternahm 1962 die mittlerweile im Ruhestand befindliche Elisabeth Nägelsbach, die insbesondere die Ausbildung von Erziehern als „Stiefkind“ der Inneren Mission bezeichnete. Die Rummelsberger Diakonenausbildung könne dies nicht ausgleichen, da die jungen Diakone immer gleich Heimleiter werden sollten. Sie bemängelte nicht nur einen fehlenden „Opfergedanken“, sondern sah auch in der Trägerschaft der Einrichtungen durch örtliche Vereine mit einem zufälligen Pfarrer in der Verantwortung ein Problem. Diese hätten oft keine Kenntnis von Pädagogik, Vorbildung der Erzieher und psychologischen Rücksichten, wohingegen doch gälte: „Fachleute verlangen das jetzt mit Recht und im Interesse der Kinder“. „Es geschieht zu viel Unrecht sowohl an den Kindern, wie auch an den Erzieherkräften, einschließlich Leitern, wenn die Zustände so schleifen. (Beispiel jetzt Puckenhof, Waisenhaus Fürth). Junge in moderner Erziehung ausgebildete Kräfte werden mutlos, wenn sie in die alten ungenügenden Verhältnisse kommen, und nichts anwenden können von dem, was sie gelernt haben.“129 Der Geschäftsführer des Landesverbandes der Inneren Mission riet ihr, ihren Brief zu entschärfen, da er auch in Gesprächen mit dem Rummelsberger Rektor Bürckstümmer bemerkt habe, „wie weit alle zusätzlichen Maßnahmen, Erzieher zu gewinnen, zu einer Konkurrenzsituation gegenüber Rummelsberg“ führen könnten.130 Im Entwurf zu einem vermutlich vom Geschäftsführer des Landesverbandes verfassten Memorandum zur Ausbildungsfrage für männliche Heimerzieher in Bayern im März 1964 wurde die gegenwärtige Erziehersituation umrissen: 128

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Niederschrift über die Besprechung mit Vertretern der Verbände der freien Wohlfahrtspflege v. 24.2.1955 in München (Sitzungssaal des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus) (Senninger, 4.3.1955) und Meinzolt an Präsident LV IM v. 24.3.1955, in: ELKAN, DW Bayern 1590. Vgl. auch Lehrpläne des Birkenhofes in Hannover-Kirchrode sowie ein Ausbildungsplan des Erzieherinnen-Seminars im Ev. Mädchenheim in Ratingen (29.3.1955) sowie ein Manuskript der Ev. sozialpädagogischen Ausbildungsstätte am Diakonissen-Mutterhaus Münster (10.7.1955), in: ADW, EEV 332. Elisabeth Nägelsbach, Die Kinder-Erziehungsaufgabe der Inneren Mission v. 15.12.1962, in: ELKAN, DW Bayern 1606. Landesverband IM Bayern (Kolb) an Elisabeth Nägelsbach v. 25.1.1963, in: ebd.

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„Auf Annoncen in den Fachblättern melden sich zwar immer wieder Erzieher und Erzieherinnen, sie werden aber weithin den selbstverständlichsten Forderungen nach einer erzieherischen Qualifikation nicht gerecht, sei es, daß sich die Gesuchsteller unter Erziehung eine Art Ausweichberuf für Berufsbrüchige vorstellen, sei es, daß bestimmte Mängel im Charakter, in der Berufsausbildung oder Erzieherpraxis eine feste Anstellung laufend verhindert haben. Bestimmte Namen der Bewerber tauchen z. B. immer wieder auf.“ Eine Umfrage im Sommer 1963 bei 29 Kinderheimen, 11 Erziehungsheimen und 6 Sonderheimen mit 3.124 Plätzen ergab, dass man bei einer maximalen Gruppenstärke von 15 Minderjährigen rund 416 Gruppenerzieher haben müsse, doch nur eine Ist-Stärke (ohne Praktikanten etc.) von 182 Erziehern besaß. Bei insgesamt 53 Heimen hielt man einen Fehlbestand von 240 Erziehern fest. Zudem benötigten u.a. Jugendwohnheime, Schülerheime, Freizeitheime vermutlich weitere 100 Kräfte. Eine Ausbildungsstätte sei nötig. Weiterhin seien männliche Erzieher mit rund einem Viertel der Gesamtzahl unterrepräsentiert, da sie ca. ein Drittel ausmachen müssten. Als weiteres Manko galten die nicht vorhandenen kleinen Gruppen mit Koedukation, die besonders außerhalb Bayerns mit Stärken von maximal zwölf Kindern – in SOSKinderdörfern sogar bis neun – ausgerüstet mit Haupt- und Nebenerziehern bereits die Norm seien. Als Schulen für den Erziehernachwuchs wurden Neuendettelsau (Soziales Seminar, Heimerzieherinnenschule, Kindergärtnerinnenseminar), Kindergärtnerinnenseminare in Augsburg und Gunzenhausen, die Rummelsberger Diakonenschule (von hier gingen maximal fünf Absolventen pro Jahr in die Erziehungsarbeit) aufgezählt. Für junge Männer müssten alternative Ausbildungen neben der Diakonenausbildung geschaffen werden. In außerbayerischen Ausbildungsstätten geschulte junge Männer aus Bayern kehren nicht zurück, da „die fortgeschrittene Heimpädagogik in den anderen Landeskirchen eine höhere Anziehungskraft besitze und eine Rückkehr nach Bayern offensichtlich verhindert“. Als Vorschlag wurde hier u.a. die Verlegung der Wohlfahrtspflegerschule und Heimerzieherschule von Neuendettelsau nach Nürnberg mit dem Ziel, auch junge Männer auszubilden, eingebracht.131

131

(Entwurf zu) Memorandum zur Ausbildungsfrage für männliche Heimerzieher in Bayern v. 10.3.1964, in: ebd.

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ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

Der Erziehermangel war nicht nur auf Bayern begrenzt, doch blieben hier offenbar die Möglichkeiten, einen Ausgleich zu schaffen, bis in die Mitte der 1960er Jahre besonders eingeschränkt. Auch durch die katholischen Initiativen ließ sich nur bedingt weltliches Personal rekrutieren. Zudem beklagte sich 1955 der Direktor des Piusheims, der seit Monaten vergeblich einen geeigneten Erzieher einstellen wollte, dass die „jungen Herren von Freiburg“, wie er die Absolventen der dortigen Wohlfahrtschule bezeichnete, nur „noch Interesse an ‚Heimleiterposten’“ hätten.132 Somit zeigte sich auch in Bayern das Problem, gut qualifiziertes Personal in die Heime zu bekommen bzw. dort auch zu halten. Denn nicht selten wechselten die Kräfte in besser bezahlte und mit einer geregelteren Arbeitszeit konzipierte Stellen etwa in die kommunalen Verwaltungen. Insgesamt blieb ein Mangel sowohl in der Quantität wie in der Qualität der Erziehungskräfte für Heime bestehen. Das Bayerische Staatsministerium des Innern stellte 1971 einen Fehlbedarf von insgesamt 3.719 erzieherischen Fachkräften und 1.152 Hilfskräften in Einrichtungen der Jugendhilfe – Kinderkrippen und Heime ohne Erzieher am Arbeitsplatz – fest. Der größte Fehlbedarf bestand bei den Kinder- und Jugendheimen. Man stellte in den Säuglingsheimen, Kinderheimen, Erziehungsheimen, Heimen für Behinderte und Heimen für Mutter und Kind 535 teilzeitbeschäftigte Mitarbeiter fest, doch gegen den Einsatz von teilzeitbeschäftigten Erziehern bestanden große Vorbehalte. Der Heimerziehermangel bedeutete damit eine Erschwernis des ohnehin bestehenden Elends der Heimerziehung. Die Debatten der konfessionellen Fachverbände rankten sich aber nicht nur um die fehlende Quantität, sondern auch um die unzureichende Qualität der Mitarbeiterschaft in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Gründe hierfür waren vielschichtig und lagen allgemein in der Unterfinanzierung des gesamten Bereiches der Erziehungsfürsorge in Deutschland. Dennoch hat es auch konfessionelle Spezifika gegeben, die eine Vermehrung und Verbesserung des Personals hemmten.

132

Direktor des Piusheims an DiCV München v. 30.11.1955, in: Archiv des DiCV München, Verbandsakten Nr. 25-3.

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PERSONAL- UND AUSBILDUNGSMANGEL

Personalsituation in Heimen in Bayern 1967133 Einrichtungen Kinderkrippen Säuglingsheime, Kinderheime, Erziehungsheime, Heime f. Behinderte u. Heime f. Mutter u. Kind Erholungs- u. Kurheime Jugendwohnheime gesamt

Zahl der Fachkräfte Fachkräfte Plätze soll ist

fehlende Hilfskräfte Fachkräfte soll

Hilfskräfte ist

fehlende Hilfskräfte

3.131

386

340

46

261

67

194

26.846

5.079

2.393

2.686

2.065

1.209

856

8.045

804

402

402

402

300

102

17.119

570

285

285







55.141

6.839

3.720

3.719

2.728

1.576

1.152

So galt es nach den Worten von Maria Kiene, Leiterin des Referats Kinderfürsorge beim Deutschen Caritasverband, das zumindest Ende der 1940er Jahre „noch in den kirchlichen Kreisen weithin bestehende Vorurteil, weltliche Fachkräfte einzustellen“, nicht zuletzt „im Hinblick auf den mangelnden Nachwuchs in den Ordensgenossenschaften und die fehlenden klösterlichen Fachkräfte“ zu überwinden.134 Bezüglich des Qualifizierungsgrades unter den Erziehungskräften in den Heimen spielte es anscheinend auch eine Rolle, welche Ordensgemeinschaft dort das Personal stellte. Denn die Ausbildung war in der Regel vom Apostolatsschwerpunkt abhängig – für die Patres der Herz-Jesu-Missionare galt hier das Theologiestudium als ausreichend135. Eine Gemeinschaft wie etwa die Schwestern vom Guten Hirten, die ihre ureigenste Aufgabe in der Erziehung „gefallener“ Mädchen sah, war dagegen bemüht, ihren Schwestern auch die notwendigen pädagogischen und fürsorgerischen Grundlagen zu vermitteln. So wurden in den Ordensprovinzen bereits seit dem Ende der 1920er Jahre Kurse in ordenseigenen sozial-pädagogischen Schwesternseminaren angeboten. Ebenso legten die Schwestern vom Gu133

134

135

Bayerisches Staatsministerium des Innern an Bundesministerium für Justiz, Familie u. Gesundheit v. 15.2.1971, in: BHStA, MInn Nr. 89740. Für Erziehungsheime war die Grundlage eine Erhebung v. 1.1.1967. Bericht über die Sitzung des Zentralrates des DCV v. 27.-29.4.1949, in: ADCV, 111. Zentralrat 055, Berichte 0, Fasz.: 1949-1950. Vgl. zu den Patres der Johannesburg Kap. 5.4.3.

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ten Hirten Wert darauf, Arbeitserzieherinnen mit den erforderlichen handwerklichen Grundlagen einzusetzen.136 Und die Dominikanerinnen von Bethanien errichteten im Kinder- und Jugenddorf „Maria im Klee“ in Waldniel eine staatlich anerkannte Fachschule für Heimerziehung. Dagegen setzten z. B. eher in der Krankenpflege engagierte Gemeinschaften andere Prioritäten bei der Qualifizierung ihrer Mitglieder, wie das Beispiel des niedersächsischen Kinderheims Henneckenrode, das sich über eine Stiftung in Trägerschaft des Bistums Hildesheim befand, zeigte.137 Ebenso führten ordensinterne Überlegungen138 bzw. kirchenrechtliche Bestimmungen immer wieder dazu, dass auch über lange Jahre in den jeweiligen Heimen bewährte Erzieherkräfte versetzt wurden. Welch groteske Auswirkungen dies haben konnte, lässt sich für den Anfang der 1950er Jahre für das Clemens-Maria-Kinderheim in München nachzeichnen, nachdem der für die Gemeinschaft zuständige Freiburger Generalvikar die Generaloberin der Franziskanerinnen von Aachern ermahnt hatte, in Beachtung des Kirchenrechts Oberinnen nicht mit einer dritten Amtszeit in einer Niederlassung zu belassen. Da dies auf die Oberin des Münchener Kinderheims zutraf, veranlasste die Ordensleitung die Abberufung, wogegen sich der Katholische Jugendfürsorgeverein als Träger in Person von Direktor Hennerfeind wandte. Denn die erfahrene, bei Behörden und Eltern angesehene Leiterin würde ein nicht zu stopfendes Loch reißen. Als sich sogar der Leiter des Stadtjugendamts massiv gegen den Weggang der langjährigen Oberin aussprach, ließ sich eine für alle einvernehmliche Lösung finden, indem sie neben einer neuen Haus-Oberin quasi als „Alt-Oberin“ dem Heim erhalten blieb.139 Bei weniger „prominenten“, aber gleichfalls in den Heimen erprobten Kräften fanden die Versetzungen offenbar ohne größere Anfragen statt, da sie meist ausschließlich in der Verantwortung der jeweiligen Ordensleitung lagen. Die Bemühungen für eine Qualifizierung des Personals, sei es Fortbildung, sei es Ausbildung, scheiterten in vielen evangelischen Landesverbänden an der Angst, damit die traditionellen Diakonissen- und Di136 137 138

139

Vgl. zum Guten Hirten Kap. 5.4.6. Vgl. Kap. 5.4.1. Vgl. etwa Chronik der Marienburg in Coesfeld für die 1950er Jahre, BAM Marienburg A 6. Schriftwechsel zwischen Direktor Hennerfeind, der Generaloberin der Franziskanerinnen von Aachern und dem Stadtjugendamt München zwischen März und Dezember 1951, in: Archiv KJF, Ordner Direktion 1951-1961, Mutterhäuser (alt).

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akonengemeinschaften in ihrem wissenschaftsfernen Praxiswissen zu delegitimieren. In Bayern z. B. existierte – wie gezeigt – bis zum Ende der 1960er Jahre keine Ausbildungsmöglichkeit für männliche Erzieher abgesehen von der Diakonenschule der Rummelsberger Anstalten.140 Erst Mitte der 1960er Jahre konnten sich hier Ausbildungsangebote in größerer Distanz zu ordensähnlichen Festlegungen innerhalb der Diakonie entwickeln. Vor allem um den ordensgebundenen Erziehern eine bessere Qualifizierung zu ermöglichen, wurde 1952 mit Unterstützung der Bischöfe und Diözesancaritasverbände beim Landesverband katholisch-caritativer Erziehungsheime in Bayern unter der Leitung des Salesianer-Paters Nikolaus Endres ein Referat für katholische Heimerziehung eingerichtet. Neben der monatlichen Herausgabe „Pädagogischer Rundbriefe“ gab es fortan ein festes Angebot an Fortbildungskursen. Am ersten Kurs in der Erzdiözese München zum Thema „Die seelische Entwicklung des Kindes und Jugendlichen und ihre erzieherische Bedeutung“ nahmen immerhin 350 Schwestern aus Oberbayern teil.141 Allerdings zeigte sich auch, dass es den Ordensgemeinschaften wegen des sich verschärfenden Schwesternmangels schwer fiel, überhaupt Schwestern für die Kurse freizustellen zu können. Gleiches war in evangelischen Heimen zu beobachten, wo der existierende Kräftemangel ebenfalls die Freistellung von Personal aus den Heimen für Fortbildungsveranstaltungen verhinderte.142 Am Beispiel des von dem oben erwähnten Gerhard Fangmeier geführten Heimes Oberbieber lassen sich die empfundenen Probleme des Mangels an Mitarbeitenden und der Veränderung der Mitarbeiterschaft beschreiben. Nach Fangmeier sollten in den Heimen „gottbegnadete Erzieherpersönlichkeiten“ wirken, welche Glauben und Leben vereinigten.143 Doch einerseits schieden langjährige Mitarbeiter aus Altersgründen aus und die „freie Schwesternschaft“, welche dem Heim angegliedert war, hatte keinen Nachwuchs mehr. Andererseits herrschte Erziehermangel, da der Beruf als unattraktiv galt. Zudem 140

141

142

143

So beschrieben im Brief Landesverband IM Bayern (Kolb) an Elisabeth Nägelsbach v. 25.1.1963, in: ELKAN, DW 1606. Siehe auch Kap. 5.3. P. Christian Moser an die Heimleitungen in Bayern v. 25.1.1952, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern v. Guten Hirten, Zin 7. Vgl. Schriftwechsel in: ADW, EEV 323; Fassoldshof an Landesverband IM (Pfr. Max Tratz) v. 10.1.1956, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Landesverband der IM“. So beschrieben bei Otto Ohl, Rückblick und Ausschau, in: Evangelische Jugendhilfe, Januar 1952, H. 1, S. 3-7.

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waren die Ausbildungsmöglichkeiten in Erzieherschulen nur in geringem Maß vorhanden. „So musste recht wahllos zugegriffen werden, wenn sich – auf Zeitungsinserate hin – überhaupt ein Bewerber meldete. Meist waren es noch unbehauste Ostvertriebene, die es auf einen Versuch ankommen lassen wollten.“144 Fangmeier versuchte diese nach Dienstschluss zu schulen und hatte, wie er rückblickend sagt, durchaus Erfolg darin. Allerdings verschweigt er nicht, dass verschiedene „Nieten“ unter den Angeworbenen gewesen waren und zwischenzeitlich eine „Untergangsstimmung“ im Heim geherrscht hatte. „So mussten wir zwei Männer mit verkappten Geistesstörungen und einen heimlichen Trinker und eine zu Selbstmord neigende junge Frau wieder des Dienstes entheben. Hinzu kam, dass ein Blender, als er sich durchschaut sah, bei Nacht davonlief und dabei zwei Zöglinge entführte, wobei sich die Jugendlichen erhebliche Frostschäden an den Füssen zuzogen.“145 In seinen Tagebuchnotizen beschrieb er zudem für den Juni 1960 eine Erzieherin als „Quartals-Neurotikerin“, die „wieder zur Schnapsflasche gegriffen“ habe. „Ich müsste angesichts dieses Zustandes scharf durchgreifen, aber alle Mühe, einen Ersatz für die Betreuung der Schar zu finden, wäre vergeblich.“146 Er hoffte bei der Erzieherin, die er als „tiefgründige[n] Mensch[en]“ und nicht als „Versagertyp“ charakterisierte, nur auf eine kurze Phase, die es zu überwinden gälte. Der Erzieher/innenmangel und die geringe Auswahlmöglichkeit bei der Beschäftigung von Personal bedeutete in den 1950/60er Jahren ein allgemeines Problem in der Heimerziehung. Bei einer 1962 erfolgten Besichtigung durch das NRW-Sozialministerium, das die Einrichtung, die seit 1947 im neu gebildeten Bundesland Rheinland-Pfalz lag, weiter belegte, wurden z. B. in einem alten Gebäude drei Schlafräume mit 15 bis 20 Betten moniert. Fangmeier vertrat hier allerdings die Meinung, „daß kleinere Schlafräume mit etwa 3 Betten die Heimleitung vor besondere Probleme hinsichtlich der Überwachung stellen, während bei großen Schlafsälen die Selbstkontrolle der Gemeinschaft sich ausgezeichnet bewährt habe.“147 Fangmeier verwies in seinen Tagebuchnotizen – zeitgenössisch publizierte er Teile davon als diejenigen eines vermeintlich unbekann144 145 146 147

Fangmeier, Erlebnisse, S. 69. Ebd., S. 70. Fangmeier, Blick vom Wingertsberg, S. 34f. Vermerk Besichtigung von FE- und FEH-Heimen in Rheinland-Pfalz v. 8.11.1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98.

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ten Heimleiters – auf die inneren Spannungen, auf die „Erwartungsangst“, unter denen er und seine Mitarbeiter mit ihrer Sorge um die Kinder und Jugendlichen standen.148 Zudem beschrieb er darin Mechanismen, mit denen Erzieher eigenen Überforderungen begegneten, z. B. indem sie sich die schwierigen Kinder in einer Gruppe zu Freunden machten und eng an sich banden, wodurch diese in eine Machtstellung kamen und zu „Despoten“ wurden. Im Gegensatz zu dieser falsch verstandenen „Humanität“ sah er den Typus des „wenig umgänglichen, eigenwilligen Erziehers“, der eine Belastung für die Hausgemeinschaft bedeute, aber bei bestimmten Kindern und Jugendlichen in der Lage sei, Orientierung zu geben. Selbst ein kränkelnder Erzieher könne über die Erzeugung von Mitleid in seiner Gruppe eine erzieherische Wirkung entfalten. Die Eingliederung auch dieser Erzieherpersönlichkeiten in die Hausgemeinschaft im Heim galt ihm als notwendig, wenn auch das Ideal des Heimerziehers derjenige war, der mit „Gottes Hilfe und unter seinem Geist den Menschen retten“ wolle. Die „berufenen Heimerzieher“, die „dem Moloch des Lebensstandards keine Gefolgschaft leisten, sondern im Dienst wie außerhalb Zeugen eines verinnerlichten Menschentums“ seien, galten ihm als vorbildlich. Diese würden auch angesichts der sich abzeichnenden sozial-wirtschaftlichen Eingliederung der Heime, wonach die Erzieher das Recht auf einen Acht-Stunden-Tag, ausreichenden Lohn und frei verfügbare Zeit bekamen, ihre Würde erhalten. Die Würde des Heimerziehers sei durch Opfersinn bestimmt. Als „Entartungserscheinung“ und „radikal unchristliche Wertungsweise“ sah er 1961 die zunehmende Orientierung am „Lebensstandard“.149 In einer Gegenübersetzung der Funktionen der Gruppenerzieher und der Arbeitserzieher in den Heimen verwies Fangmeier darauf, dass die ersteren die Arbeit der Persönlichkeitsentwicklung unterordnen, wohingegen die Arbeitserzieher mit der Arbeit Nutzwerte schaffen wollen. Er hob dabei auf Übertreibungen ab: „Ich denke etwa an den blinkenden Zauber der stets geputzten Räume. Warum in den Heimen dieses Trachten nach bestechender Sauberkeit und nach soldatisch peinlicher Sorgfalt? Ganz offenbar soll diese Aufmachung ein Zeugnis ablegen vom hohen Stande der Persönlichkeitsbildung in dem betreffenden Heim.“ Dem hielt er den Verweis auf die Wichtigkeit des „In148

149

Gerhard Fangmeier, Der Erzieher als Mensch, in: Fortbildungsbrief 2 (November 1961), Nr. 4 (ohne Paginierung); vgl. auch ders., Blick vom Wingertsberg, S. 12. In beiden Texten finden sich identische Passagen. Fangmeier, Der Erzieher als Mensch.

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nen“ der Kinder und Jugendlichen entgegen. Allerdings betonte er mit Blick auf die Arbeitsleistung: „Gewöhnung, Übung, Stetigkeit und Pünktlichkeit sind die Grundlagen für das Arbeitsleben. Diese zu erzielen, ist der Sinn der Erziehung zur Arbeit.“150 In Fangmeiers Beschreibungen war der Personalmangel zur Tugend geworden, zu einer Herausforderung für die Heime. Dies führte allerdings nicht zu einer veränderten Sicht auf die Arbeit der Heimerziehenden, deren Ideal in charismatischer Begabung und nicht etwa in einer zu finanzierenden Professionalisierung gesehen wurde.

Bemühungen um die Aus- und Fortbildung des Erziehungspersonals – Psychologische Fachkräfte in den Heimen Psychologen bzw. Psychologinnen konnten sich in den Einrichtungen nur schwer durchsetzen, da sie als Repräsentanten der säkularisierenden Humanwissenschaften oft misstrauisch beäugt wurden und zusätzliche Kosten verursachten. In evangelischen Heimen waren sie nur durch eine ausgesprochene ‚evangelische Haltung‘, ihre feste Einbindung in den Organisationsablauf einer Einrichtung und in ihrer beratenden Funktion akzeptiert. Die einzigen von ihnen dominierten Refugien waren die heilpädagogischen Abteilungen oder auch Spezialeinrichtungen, von denen es allerdings bis Ende der 1960er Jahre nicht genügend gab. 1963 galten in den Einrichtungen des EREV nur rund 1 % der Plätze als zu heilpädagogischen Abteilungen oder Heimen gehörig. So war eine Unterstützung der Heimerziehung durch Psychologinnen und Psychologen insbesondere in den 1950er Jahren zwar auch vom Verband der Erziehungsheime in Bayern als notwendig erkannt worden, doch blieb eine Verwirklichung schwierig. Nur die größeren evangelischen Heime in Bayern leisteten sich eigene Psychologen für die Einrichtungen, so die Heime Fassoldshof und Rummelsberg. Oft war dies kombiniert mit der Eröffnung eines heilpädagogischen Heims bzw. einer entsprechenden Abteilung in einem Heim. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Rummelsberger Anstalten, wo seit 1950 der promovierte Psychologe Hugo Schaubert als Erziehungsleiter fungierte151, und die im November 1955 ein heilpädagogisches Kinderheim mit 25 Plätzen im bisherigen Helferhaus eröff150 151

Fangmeier, Heutige Probleme der Arbeitserziehung, S. 3-4. Hugo Schaubert war von 1950 bis 1959 Erziehungsleiter in Rummelsberg und wechselte dann an die Wohlfahrtspflegerschule des Stephansstiftes in Hannover. Vgl.Gruß

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neten.152 Die Leitung übernahm die Diplompsychologin Elisabeth Nüssle, die zuvor an der Universitätskinderklinik Tübingen unter Leitung des Psychiaters Kretzschmer tätig war. Ihr war sogar noch eine zweite Psychologin als Assistentin beigeordnet. Neben diesen waren dort vier Kindergärtnerinnen beschäftigt. Diese sollten die Kinder in drei Gruppen in Einzel- und Gruppentherapie betreuen.153 Die Einrichtung des Heimes erfolgte in Kombination mit einer Erziehungsberatungsstelle für den Umkreis.154 Das Problem einer ausreichenden psychologischen Betreuung der evangelischen Heime in Bayern bestand allerdings weiterhin. Anfang 1962 beriet man über die Anstellung eines beratenden Psychologen oder einer Psychologin für die Erziehungseinrichtungen im Bereich der Inneren Mission in Bayern. Das Vorbild war hier der Landesverband Württemberg der Inneren Mission, wo der Psychologe Martin Maußhardt seit 1955 angestellt war. Zu diesem Zeitpunkt existierten Psychologen in Rummelsberg, Fassoldshof, Naila, in München (Erziehungsberatung durch Frau Dr. Hege), Neuendettelsau (Frau König für den Unterricht) und in Traunreut (Herr Delpus als Direktor der evangelischen Hilfsschule). Die Anstalt Puckenhof war ehrenamtlich betreut und in Hof sollte bald eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle errichtet werden. Geografisch sah man Unterfranken, Niederbayern/Oberpfalz, Schwaben und das Allgäu als unterversorgt an. Doch man konnte sich im Landesverband der Inneren Mission nicht dazu entschließen, einen hauptamtlichen Psychologen anzustellen, da dieser nicht durch die Umlage zu bezahlen sei. Als Alternative soll-

152

153

154

aus Rummelsberg, 7. Jg., Nr. 3 (August 1959), S. 2-3 zit. n. ELKAN, LKR V 854a Bd. V (Diakonenanstalt Rummelsberg). „Heilpädagogische Behandlung im Kinderheim“ (Hugo Schaubert), in: Gruß aus Rummelsburg, 5. Jg, 1957, H. 3/4, zit. n. ebd. Vgl. Rummelsburger Anstalten an Landratsamt Miesbach v. 1.10.1955, in: STAM, LR Miesbach 217788; Rummelsberger Anstalten an Landratsamt Altdorf v. 22.9.1955 und Rummelsberger Anstalten an Regierung von Mittelfranken v. 3.1.1956, in: Archiv Rummelsberger Anstalten, Ordner „RHPH Haus 22 (19)“. Das Heim wurde allerdings erst nach Klärung der Frage, wie der Schulpflicht der Kinder Genüge getan wird, im Mai 1958 genehmigt (Bescheid der Regierung von Mittelfranken v. 24.6.1958, in: ebd.). Rummelsberger Anstalten an Landratsamt Miesbach v. 1.10.1955, in: STAM, LR Miesbach 217788. Vgl. auch Wolfgang Schnaith, Heilpädagogisches Kinderheim Rummelsberg, in: Bürckstümmer (Hg.), 75 Jahre Diakonenanstalt Rummelsberg, S. 78-79.

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te ein „Arbeitskreis hauptamtlicher Psychologen“ geschaffen werden, der auch unversorgte Heime mitbetreuen könnte.155 Die in den Heimen beschäftigten Psychologen bestritten verschiedentlich Fortbildungsveranstaltungen, in denen sie versuchten, psychologisches Wissen über Gruppenpädagogik etc. zu vermitteln.156 Auch die Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern sprach sich auf ihren Tagungen für eine stärkere Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse aus. Diese sollten in Beobachtungsabteilungen in den Heimen generell und nicht nur in Spezialheimen verwertet werden, wobei Erziehungsberatungsstellen entsprechend vorarbeiten müssten.157 Der bayerische Geschäftsführer der Inneren Mission, Kolb, meinte Ende 1965, dass sowohl er wie Ernst Nägelsbach die Notwendigkeit der psychologischen Betreuung der Heime seit Jahren erkannt hätten, doch „in den meisten dieser Heime wird diese Einsicht zwar nicht ohne weiteres geteilt, aber gerade dann ist sie doppelt wichtig“. Er habe deswegen eine Stelle für einen Psychologen in den Etat eingeplant.158 Auf der nächsten Arbeitsausschusssitzung des Evangelischen Erziehungsverbandes in Bayern im März 1966 wurde auch die Einstellung einer Psychologin zur psychologischen Beratung der Heime von Ernst Naegelsbach vorgeschlagen. Kolb meinte: „Es gibt in unseren Kreisen eine noch nicht ausgestandene Aversion gegen den Psychologen und Psychagogen und Psychiater. Ehe wir uns nicht klar werden, was ein Psychologe sein kann und muss, können wir nicht entscheiden. Es liegt bereits eine Zusammenstellung vor, welche Heime Psychologen haben und welche nicht. Von 92 Heimen insgesamt (davon 34 Schülerheime – auch von daher kommt ein Hilferuf) haben 20 eine gute Verbindung zu Fachleuten.“ Er verwies auf das Vorbild Württemberg und beschrieb 155

156

157

158

Betr. Anstellung eines beratenden Psychologen (oder Psychologin) für Erziehungseinrichtungen im Bereich der Inneren Mission in Bayern v. 24.1.1962, in: ELKAN, DW Bayern 1606. Zuvor war bereits am 19.9.1961 im Diakonischen Rat über die Anstellung einer Psychologin beraten worden, wobei es sich um Adelheid Nägelsbach, die im nächsten Jahr promoviert und in den Dienst der Inneren Mission gewollt hätte, handelte. Siehe Niederschrift über die Fortbildungsfreizeit für Heimerzieher in Rummelberg v. 13.-15.1.1964 (Nägelsbach), in: ebd., Hauptreferent Dr. Stange, Naila: „Einführung in die Grundlagen der Gruppenpädagogik“. AG der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern: Zusammenfassung der Tagungsergebnisse (Referate und Diskussion) von Ottobeuren und Nürnberg 1964, in: ebd. Kolb an Nägelsbach v. 30.11.1965, in: ebd..

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die Aufgaben mit „Hilfe bei der Aufnahme von Kindern und bei der Erstellung von Erziehungsberichten, Beratung der Heimleiter, Fortbildung der Erzieherkräfte, Verbindung vom Verband zum Heim, Mitwirkung bei den Freizeiten und Mitgl. Versammlungen, Mitarbeit an der Sozialen Schule“ 159 Auf der Mitgliederversammlung des Evangelischen Erziehungsverbandes in Bayern im Mai 1966 wurde dann mittels eines Referats von Dr. Tobler über einen „Psychologischen Beratungsdienst in Kinder- und Jugendheimen“ gesprochen. Der Bedarf wurde auf 40 Heime geschätzt, doch meinte der Herzogsägmühler Leiter Decker, dass höchstens 20 Heime in Frage kämen. Ein verbindlicher Beschluss scheiterte vermutlich erneut an der Kostenfrage, da die Heime die Hälfte der Kosten tragen sollten.160 Im November 1966 wurde dann in einer Arbeitsausschusssitzung des Evangelischen Erziehungsverbandes in Bayern über das Ergebnis einer Umfrage unter den Heimen zur Anstellung einer Psychologin berichtet. Nur elf Heime hatten dabei einen Bedarf angemeldet, etliche Heime nicht reagiert. So empfand es der neue Leiter des Erziehungsverbandes, Heidecker, „sinnvoller, zunächst die bestehenden Erziehungsberatungsstellen zu bitten, unsere Kinder bevorzugt zu behandeln“. In der Diskussion entschloss man sich jedoch, eine Psychologin für einen überschaubaren Bereich anzustellen.161 In einem Aufsatz über erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche im „Bayerischen Wohlfahrtsdienst“ von 1965 wurden explizit die in Bayern offenbar nicht nur auf evangelischer Seite bestehenden Widerstände gegen eine „Psychologisierung“ in den Heimen beklagt, die im

159

160

161

Niederschrift der Arbeitsausschusssitzung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 11.3.1966 (KR Naegelsbach, 24.6.1966), in: ELKAN, DW Bayern 1601 (auch in: ELKAN, DW Bayern 1617). Protokoll über die Mitgliederversammlung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 11.5.1966 (Günther Heidecker, 30.6.1966), in: ELKAN, DW Bayern 1617. Im Vorfeld hatte Kolb an Tobler seine Einschätzung geschrieben: „Dabei weiß ich schon jetzt, daß viele Kinderheime, die von Schwestern geführt werden, sich gar nicht zu Wort melden, sondern sich das ihrige denken und hinterher in ‚altbewährter Weise‘ tun, was sie für richtig halten. Sie von der Notwendigkeit einer psychologischen Beratung zu überzeugen, – den Anlauf dazu haben wir ja schon öfters unternommen – das soll der Nachmittag leisten.“ Vgl. Ev. Erziehungsverband in Bayern (Kolb) an Landesverband der IM Württemberg (Fr. Dobler) v. 20.4.1966, in: ELKAN, DW Bayern 1601. Niederschrift der Arbeitsausschusssitzung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 4.11.1966 (Bräuer), in: ebd. (auch in: ELKAN, DW Bayern 1617).

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Endeffekt nur bedeuten würden, „offensichtliche Mängel der personellen Besetzung im Heim als Vorzug zu preisen“.162 Insofern lässt sich für Bayern eine charakteristische Verzögerung der humanwissenschaftlichen Professionalisierung im Heimerziehungsbereich konstatieren, die aber auch in anderen Regionen immer wieder zu beobachten war. So bemerkte 1966 der Neuendettelsauer Rektor Ratz, dass „doch mancherlei Bedenken seitens der Hausväter und Hausmütter der dem Verband angeschlossenen Heime gegenüber der Einstellung eines Psychologen vorhanden sind. Ich kann das nur so erklären, daß sie einerseits fürchten, daß in ihr Heim von jemand hereingeredet wird, den sie nicht als letzte Autorität anerkennen können, daß sie andererseits vor Forderungen gestellt werden, die sie einfach nicht erfüllen können, weil sie nicht das Erzieherpersonal haben, das man dazu brauchen würde.“163 Eng verwoben mit der Frage der Professionalisierung in den Heimen durch die Anstellung von Psychologen war die Frage der Ausbildung der Heimerzieherschaft. Hinsichtlich der katholischen Einrichtungen waren damit vor allem die Ordensgemeinschaften angesprochen, die nach wie vor als maßgeblich für die Erziehungsarbeit betrachtet wurden. Dennoch war bereits dem Direktor der KJF der Diözese Augsburg, Prälat Max Schneller, 1946 klar, dass auch die Basis der weltlichen Kräfte – allerdings mit einer möglicht großen Bindung an den konfessionellen Rahmen – erweitert werden musste. So rief er die Schwesternschaft „Ancillae caritatis Jesu“ ins Leben, die konkret Aufgaben innerhalb der Heimerziehung übernahm. Daneben intensivierte er die bereits Ende der 1920er Jahre entstandenen Fortbildungsbemühungen der KJF und beantragte zudem bereits 1950 beim Bayerischen Innenministerium einen Zuschuss zur Errichtung einer Erzieherinnenschule in Anlehnung an die Schwesternschaft.164 Wenn 1952 die Ordensgemeinschaften 68,5 % der hauptamtlichen Kräfte in den Heimen stellten, darunter neben 1.036 Schwestern 48 Patres und Brüder, zeigt dies den Stellenwert vor allem der Ordensschwestern in der bayerischen Heimerziehung.165 Verbreitet waren etwa 162

163

164 165

Erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst 7/1965 (Sonderdruck), in: ELKAN, DW Bayern 1607. Neuendettelsau (Ratz) an Günther Heidecker (EEV) v. 5.8.1966, in: ELKAN, DW Bayern 1614. Direktor Max Schneller an das StMdI v. 28.6.1950, BHStA, MInn Nr. 89274. Leistungsübersicht der geschlossenen, halboffenen und offenen Fürsorge in den bayerischen Diözesen für das Jahr 1952, in: Archiv des DiCV München, Verbandsakten Nr. 27/1a.

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Mallersdorfer Franziskanerinnen, St. Anna-Schwestern, Arme Schulschwestern aus München oder Dillinger Franziskanerinnen auf diesem Feld tätig.166 Diese Dominanz dürfte in der direkten Gruppenerziehung noch größer gewesen sein, da die weltlichen Kräfte eher im Schul- und Ausbildungsbereich beschäftigt waren. Zu dieser Zeit hatten, wie weiter oben bereits erwähnt, auch die Verantwortlichen in den Fachverbänden und den Bistumsleitungen die Notwendigkeit zur Qualifizierung des Ordenspersonals erkannt, wie der Caritas-Dienst der Erzdiözese München-Freising zu vermelden wusste: „Bayern hatte seit je ein blühendes, reiches katholisches Heimwesen. So bekannt und geschätzt seine Ordensgymnasien und Schulinstitute waren und sind, so froh sind staatliche und kirchliche Fürsorgeeinrichtungen über die große Auswahl von Erziehungsheimen für alle Altersstufen und Sonderaufgaben. Diese letzteren sind fast vollzählig zusammengefasst im Landesverband der kath. Waisenhäuser und verwandten Erziehungsanstalten, der mehr als 50 % der Gesamtbettenzahl aller bayerischen Heime umfaßt. Die Hauptaufgabe dieses Landesverbandes war es, die katholische Erzieherschaft all dieser Häuser, die zum großen Teil aus Ordensschwestern besteht, pädagogisch weiterzubilden und zu schulen. […] Nun ist es den unaufhörlichen Bemühungen des Msgr. Alois Hennerfeind in vielen Verhandlungen mit dem Provinzial der Salesianer und Eingaben an die Hochwürdigen Bischöfe von Bayern endlich gelungen, in der Person des Lektors für Psychologie und Pädagogik an der Hauslehranstalt der Salesianer in Benediktbeuren P. Dr. Nikolaus Endres einen Referenten für die kath. Heimerziehung zu gewinnen, der die große Tradition des Landesverbandes in der pädagogischen Fortbildung seiner Erzieherschaft aufnehmen und in neuem Geiste fortführen soll. Die Konferenz der Bayer. Bischöfe im vergangenen Herbst hat dieses Referat gebilligt und den Landesverband der kath. Waisenhäuser in Verbindung mit dem Bayer. Landesverband der Kath. Jugendfürsorgevereine und dem Landes-Caritasverband beauftragt, die Belange kath.-caritativer Heimerziehung nach den Grundsätzen der kath. Kirche zu wahren und zu fördern.“167 Neben den direkt anlaufenden Fortbildungskursen für Ordensschwestern und der Versendung der Pädagogischen Rundbriefe führte Pater Endres auch in den Heimen und Mutterhäusern eine Umfrage 166

167

Zu den bayerischen apostolisch-tätigen Ordensgemeinschaften vgl. Eder, Helfen macht nicht ärmer, S. 103-152. Caritas-Dienst – Katholischer Caritasverband der Erzdiözese München und Freising 1952, S. 7.

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nach den Ausbildungsperspektiven des Heimerziehers durch. Die Antworten ergaben, dass nach wie vor die meisten Gefragten „die Ausbildung im Kindergärtnerinnenseminar als grundlegend“ ansahen, aber diese „für dringend ergänzungsbedürftig durch eine entsprechend erweiterte Vorlesung über allgemeine und besondere Fragen der eigentlichen Heimerziehung“ hielten. Eine Ordensgemeinschaft, die hauptsächlich Jugendliche betreute, orientierte sich vermehrt am Lehrplan der Katholischen Sozialen Frauenschule „in entsprechender Umformung und mit wesentlicher Ergänzung (besonders bezüglich Pädagogik und Psychologie)“. Seiner Meinung nach bestand „bezüglich der Heimerzieherausbildung eine Lücke zwischen Kindergärtnerinnenseminar und Jugendleiterinnenseminar, die planmäßig auszufüllen wäre. Vielleicht dürfte man hier zuerst an eine direkte Ergänzung der Grundausbildung im Kindergärtnerinnenseminar oder aber an die Möglichkeit einer wahlfachmäßigen Aufgliederung der Fächer in den beiden letzten Semestern des Kindergärtnerinnenseminars denken.“168 Anfang 1956 thematisierte dann eine Mitteilung des bayerischen Landesverbands der katholischen Erziehungsheime nochmals die Ausbildungsfrage der Mitarbeiter, indem er sich zunächst für die Teilnahme an den heimpädagogischen Fortbildungskursen bedankte, „die in Treue zum Ziel und zur Aufgabe unseres Verbandes einzig und allein der Vertiefung und Verinnerlichung der Erziehungsarbeit im Geiste der katholischen Kirche und der Würdigung des uns von Gott anvertrauten Lebens dienen“ wollten. Denn die Heime ständen „in schweren Jahren erhöhter Anforderung und verantwortungsvoller Entscheidungen. Ist uns doch in einer hierfür mangels genügenden und hinreichend vorgebildeten Personals sehr ungünstigen Zeit die schwierige Aufgabe zugefallen, eine heute notwendige innere und äussere Reform der Heime und der Heimerziehung durchzuführen, die in der Geschichte der Pädagogik einmalig dasteht und die wir nur in gemeinsamer Zusammenarbeit und in gegenseitiger Unterstützung zu leisten vermögen. So bitten wir Sie gerade im Interesse dieser großen Zeitaufgabe auch für die Zukunft um die erforderliche Solidarität und Mitarbeit. Heime, die in den wirklichen Zeiterfordernissen und in dringenden ‚Zeitrufen’ nicht ‚Gottesrufe’ hören und beachten, gefährden heute nicht nur ihre eigene Existenz, sondern auch den Ruf unserer katholischen Heimerziehung.“ Dazu zählte nach Auffassung des Verbands auch ein ausreichen168

P. Endres an Gustav von Mann (Referent bei DCV in Freiburg) v. 24.9.1953, in: ADCV 319.030 Fasz. 02.

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des Gestellungsgeld für die Mutterhäuser, die vor allem in der Lage sein müssten, „unseren zukünftigen Heimerzieherinnen eine heute unbedingt erforderliche, gute pädagogische und psychologische Ausbildung für ihre verantwortungsschwere Berufsarbeit mitzugeben. Auch hier geht es um die Solidarität der katholischen Heime. Wo immer unsere Erzieher infolge unzulänglicher Ausbildung und ungenügender persönlicher Durchformung so schlechte und rückständige Erziehungsarbeit leisten, dass bei Jugendwohlfahrtbehörden hierüber gesprochen wird und die allzu wache Kritiksucht und Sensationsgier einer offenbar nicht sehr heimfreundlichen Presse und Öffentlichkeit neue Anregung erhält, trifft die Schädigung an gutem Ruf nicht nur das betreffende Heim, sondern auch alle anderen.“169 Trotz dieser Bemühungen fehlte in Bayern eine spezielle HeimerzieherInnen-Schule, zumal auch hier der fehlende Ordensnachwuchs zu immer größeren Personalproblemen führte. 1959/60 entstand neben der „Sozialen und Caritativen Frauenschule“ in München, die 1964 in Ellen-Ammann-Schule umbenannt wurde, u.a. auf Initiative des Bayerischen Landesverbandes eine „Wohlfahrtsschule für Männer“. 1968 kamen dann die „höhere Fachschule der Sozialpädagogik der Salesianer Don Boscos“ in Benediktbeuren und die „Höhere Fachschule für Sozialpädagogik“ in München hinzu.170 Im niedersächsischen Bistum Hildesheim kam es 1956 auf Initiative des Diözesancaritasverbands zur Einrichtung einer mit einer Psychologin besetzten Heimerziehungsberatungsstelle. Zu ihren Hauptaufgaben zählte bei den regelmäßigen Besuchen der zehn im Bistum gelegenen katholischen Kinder- und Erziehungsheime die „pädagogisch-psychologische Beratung der Ordens- und Laienkräfte“ sowie ihre entsprechende Aus- und Fortbildung.171 Aber sowohl die langen Abstände der 169

170

171

Bayer. Landesverband der kath. Erziehungsheime an seine Mitglieder v. 16.1.1956, in: ebd. Als Direktor der KJF München bemühte sich Prälat Hennerfeind, durch eine kontinuierliche Erhöhung der Mutterhausabgabe für die in den Heimen der KJF tätigen Gemeinschaften, diesem Anliegen gerecht zu werden, was auch in den 1960er Jahren fortgeführt wurde. Vgl. Schriftwechsel mit verschiedenen Ordensgemeinschaften in dieser Zeit, in: AKJF, Ordner Direktion 1951-1961, Mutterhäuser (alt). Vgl. Broschüre Heimpädagogisches Aufbauseminar für Bayern o. D. [vermutlich Anfang der 1960er Jahre], in: ADCV 319.4 A02/07b Fasz. 2 1955-1962; Kath. Seminar für Sozialberufe in Bayern e. V., Stiftungsfachhochschule 1961-1977, in: Archiv des DiCV München XVIII-2. Projektbeschreibung „Erziehungsberatung in den Kinderheimen und Heimen der Fürsorgeerziehung in der Diözese Hildesheim“ v. 21.12.1955, in: BAHI, Caritasverband Nr. 1836.

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Besuche als auch die hohe Fluktuation der Erzieherkräfte erschwerten die Bemühungen enorm. Darüber hinaus scheint die Tätigkeit der Beratungsstelle gerade auch hinsichtlich einer Verbesserung der pädagogischen Arbeit von den Heimen unterschiedlich aufgenommen und zum Teil als unerwünschte Beaufsichtigung betrachtet worden zu sein.172 Insgesamt lässt sich beobachten, dass im Lauf der 1960er Jahre vermehrt Psychologen Eingang in die Erziehungsarbeit der katholischen Heime fanden. Zunächst arbeiteten sie des Öfteren in nebenamtlicher Tätigkeit (1968 Schloss Zinneberg, Schloss Wollershausen), ehe die Einrichtungen eine entsprechende Fachkraft einstellten. Ebenso gab es immer wieder Spannungen zwischen ordensgebundenem und weltlichem Erzieherpersonal, die auch in unterschiedlichen pädagogischen Vorstellungen ihre Ursache hatten. Schließlich erkannten auch Praktikanten/innen aus den Heimerzieher- oder Sozialen Fachschulen, deren Zahl in den Heimen zunahm, auf Grund ihrer erworbenen Kenntnisse die unzulänglichen Verhältnisse mancher Heime. Auf die Vorschläge der Psychologinnen und Psychologen für eine andere Organisation der Einrichtungen, die ein therapeutisches Handeln an den Kindern und Jugendlichen ermöglichen sollte, wurde von den Heimleitungen oft nicht eingegangen, sei es aus Geld-, sei es aus Personalmangel bzw. Mangel an qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern. Über ihre Erfahrungen im evangelischen Kinderheim Feldkirchen mit unqualifiziertem Personal merkte eine Psychologin 1965 rückblickend an: „Ich bin gegen stopfende Tanten allergisch. Sie halten sich am Stopfstrumpf fest und legitimieren sich gegen ihr eigentlich schlechtes Gewissen.“173 Der Aufbau von Heimerzieher- und Heimerzieherinnenschulen fand in allen Bundesländern zwar statt, doch war die Ausbildung nicht einheitlich, nicht überall staatlich anerkannt und der Output an Ausgebildeten angesichts des Mangels zu gering.174 Am Ende der 1950er 172 173

174

Vermerk v. 16.5.1968 (Fr. L. Schinkel), ebd. Vgl. auch Kap. 6.4.1. Aktenvermerk über ein Referat von Frau Dr. Hege anlässlich der Psychologentagung süddeutscher evangelischer Psychologen auf dem Schwanberg am 26.1.1965 (Kolb, 26.1.1965, vertraulich), in: ELKAN, DW 1607. Bereits 1952 waren bei einer Konferenz der Deutschen Schulen für Sozialarbeit in Treysa Reformvorschläge zur Sozialarbeiterausbildung gemacht worden. In Niedersachsen existierte im Stephansstift in Hannover eine Modellschule für Jugendund Sozialarbeit (Wichernschule). Vgl. zur Debatte: Olga Glaue, Der Beruf des Heimerziehers. Vorschläge für seine sozial- und arbeitsrechtliche Eingliederung (als Denkschrift vorgelegt vom Ev. Reichserziehungsverband e.V.), Münster o. D.

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Jahre meldeten sich verstärkt Psychologen aus den Heimerziehungsausbildungsstätten zu Wort, die das sinnbildlich alte „Gemäuer“ der Anstalten fallen sehen wollten. In einer Leserzuschrift der Zeitschrift „Sozialpädagogik“ griff der Psychologe Martin Maußhardt die nur äußere Disziplinierung und Abgeschlossenheit der Erziehung im Heim scharf an. Ein über die Missstände berichtender Journalist würde sofort als „verdächtiges Subjekt“ ausgemacht.175 In der gleichen Zeitschrift benannte der Diplom-Psychologe und Leiter der Heimerzieherschule Reutlingen, Bernhard Kraak, in einem kritischen Beitrag zu der Frage „Warum ist der pädagogische Ertrag der Heimerziehung so gering?“ „etliche Anzeichen dafür, daß die Heimerziehung in der Entwicklung ihrer erzieherischen Methoden zurückgeblieben ist“: Nichteinhaltung der theoretischen Ansprüche, ein fehlender Heimerzieherstand, der seine Arbeit nur als „Durchgangsstation“ auffasse und letztlich fehlendes Geld.176 Parallel setzte innerhalb des EREV durch die Herausgabe der „Fernschulungsbriefe“ (ab 1958) und dann der „Fortbildungsbriefe“ (seit 1960) eine intensive Schriftenverteilung an die Heimerzieher/innen ein, in denen besonders die erwähnten Psychologen ihre zum Teil wissenschaftlich gut untermauerten Praxisratschläge für Heimerzieher erteilten. Wenn auch das Bemühen um eine verbesserte Ausbildung hierin sichtbar wurde, so war die praktische Resonanz eher bescheiden, wie die Zahlen von 273 Beziehern der „Fernschulungsbriefe“ belegen, von denen aber nur zwei den Kurs bis zum Ende absolvierten.177 Dennoch gingen seit den 1950er Jahren Impulse vom Fortbildungsausschuss im EREV auf eine Vermehrung und Verwissenschaftlichung der Ausbildung aus.

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[1958]; Theodor Falt, Berufsbild des Heimerziehers (Beilage zum Mitgliederrundbrief des AFET Nr. 1/2, Mai 1960, S. I-XIV); Einheitliche Ausbildung für Erzieher in der Jugendhilfe? Ein Beitrag zur Diskussion um eine Neuordnung der Erzieherausbildung, hg. v. d. Hauptgeschäftsstelle Innere Mission und Hilfswerk der EKD, Stuttgart 1964; zu einem Beispiel der Heimerzieherinnenschule im Birkenhof siehe Kap. 5.4.7. Martin Maußhardt, Das alte Gemäuer muß fallen, in: Sozialpädagogik 1 (1959), S. 221-222. Bernhardt Kraak, Warum ist der pädagogische Ertrag der Heimerziehung so gering?, in: Sozialpädagogik 1 (1959), S. 198-202. Vgl. York-Herwarth Meyer, Geschichte des Evangelischen (Reichs)-ErziehungsVerbandes (EREV). Zur Entstehung und Entwicklung eines diakonischen Fachverbandes, Diss. Ms., Bielefeld 1997, S. 242.

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Wie sich allerdings an den problematischen Themen der Strafen, der unzureichenden Schulausbildung der Heimkinder, der verengten Berufsausbildungen (besonders bei Mädchen), der mangelhaften Sozialversicherung im Heim und der bis Ende der 1960er Jahre stark reglementierten Freizeit zeigte, drang wenig davon wirklich bis zur Praxis der Heimerziehung in evangelischen Heimen durch. Bisherige Studien über den Wandel der Mitarbeiterschaft im Feld der Heimerziehung haben durchgängig die geringe Grundqualifikation der hier Beschäftigten betont, welche im Ergebnis zu Überforderungssituationen angesichts einer schwieriger werdenden Klientel geführt haben. So richtig dies auch im Grunde ist, so bleibt dabei ein grundsätzliches Moment unberücksichtigt, das in der langfristigen Entwicklung der sozialen Berufe in Deutschland liegt. Insbesondere das geringe wissenschaftliche Anspruchsniveau des in den 1950/60er Jahren verbreiteten sozialpädagogischen Praxiswissens ist dabei zu konstatieren. Hier dominierten berufsethische und politische Ziele, die es mit Hilfe erlernter Erfahrungsregeln zu erreichen galt. Fallbeschreibungen und deskriptive Problemübersichten beherrschten das Feld, wohingegen die Verwendung wissenschaftlich bestätigter Thesen in der sozialen Praxis eher selten anzutreffen war.178 Damit soll nicht gesagt werden, dass die Verwendung wissenschaftlicher Theorien automatisch eine Verbesserung des Loses ehemaliger Heimkinder bedeutet hätte. Sie eröffneten nur eine Möglichkeit zur Verbesserung. Vielmehr stellten die insbesondere von psychologischer Seite erfolgten Beurteilungen der damaligen Jugendlichen in Eingangsuntersuchungen oft genauso vorurteilsbehaftete Geringschätzungen dar, wie sie von den nach „Daumenregeln“ urteilenden Erzieher/innen, Diakonissen/Brüdern oder Angehörigen der Ordensgemeinschaften erfolgt sind.179 Dennoch begünstigte die in der Praxis verwirklichte Form der Heimerziehung eine wissenschaftsferne Erfahrungslegitimation, 178

179

Vgl. zu dieser bereits zeitgenössischen Einschätzung Jochen Matthes, Gesellschaftspolitische Konzeptionen im Sozialhilferecht. Zur soziologischen Kritik der neuen deutschen Sozialhilfegesetzgebung 1961, Stuttgart 1964, S. 67-84; ferner Carola Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Siehe hierzu die Eindrücke, welche die Forschungsgruppe zur Geschichte der Heimerziehung im Rheinland bei der Durchsicht von mehreren hundert Einzelakten und Anamnesen der rheinischen Fürsorgeerziehung gewonnen hat und die dort zitierte zeitgenössische Studie von Hans Thomae, die ähnlich eine wissenschaftliche Bekleidung von Vorurteilen in den psychologischen Begutachtungen ausmachte (Vgl. Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 114-124, bes. 120).

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welche die gesellschaftlichen Hintergründe der eigenen Tätigkeit nicht reflektierte. Die Zuflucht zu sekundärtugendhaften Mustern von Autorität, Disziplin, Sauberkeit, Gehorsam und Unterordnung hatte insofern nicht nur etwas mit verbreiteten vorgesellschaftlichen, gemeinschaftsorientierten Vorstellungen der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände zu tun, obgleich diese eine Begünstigung dieser Muster bewirkten. Oftmals hatten Ausführungen über eine abstrakte „evangelische Heimerziehung“ die Funktion, praktisches Erziehungshandeln zu rechtfertigen. Weniger waren daraus konkrete Verhaltensmuster abzuleiten. So spielte umgekehrt die Erstellung der „rules of thumb“ im Erziehungsalltag eine wichtige Rolle. Die hier gültigen Regeln herauszufinden, ist mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Selten sind diese aufgeschrieben oder gar in den Hausordnungen der Heime kodifiziert worden. Ihre oft nur von Mund zu Mund weiter getragenen Gehalte lassen sich nur indirekt aus den Beschreibungen in Interviews mit ehemaligen Heimkindern, mit Erziehenden oder aber den bewussten gegenteiligen Beschreibungen und Abgrenzungen in Vorträgen auf Fortbildungsveranstaltungen entnehmen.

3.4 Die äußere und innere Heimdifferenzierung und der Pflegesatz Seit den 1950er Jahren setzten auch im konfessionellen Spektrum pädagogische Differenzierungsversuche im Feld der Heimerziehung durch die Schaffung neuer Heimformen ein, die sowohl von Einrichtungen als auch von einzelnen Landesjugendämtern ausgehen konnten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Modernisierungsdefizit auf Grund der Kriegszerstörungen und der Nachkriegsnot nicht ausgeglichen wurde. So blieb es für viele Heime auch aus ökonomischer Sicht lange Zeit schwierig, etwa die Gruppengrößen entscheidend zu verkleinern und so durch die Schaffung eines überschaubaren, stärker auf die Individualität der Kinder und Jugendlichen ausgerichteten Gruppensystems den Anstaltscharakter vieler Heime zu beseitigen.180 Eine im Zuge des Wirtschaftswunders langsam beginnende Modernisierung setzte zwar neue Akzente, ohne allerdings einen schnellen und umfassenden Wandel zu erreichen. Über eine rege Bautätigkeit konnten pädagogisch wichti180

Vgl. ebd., S. 87f.

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Abb. 4: Kriegszerstörungen des Klosters vom Guten Hirten Köln-Melaten

ge Ziele wie die Schaffung von Freizeiträumen sowie die Verkleinerung der Schlafsäle – erste Heime verfügten sogar schon Mitte der 1950er Jahre über Einzelzimmer – erreicht werden. Auch die Größe der Gruppen wurde verringert, wobei diese aber stark schwankte. Im Eduardstift in Helenenberg bei Trier umfassten etwa 1967 die Gruppen 25 bis 35, 1969 im Agnesstift in Bonn nur 16 bis 23 Plätze. Für diese unterschiedlichen Entwicklungen spielten jedoch nicht nur die ökonomischen Möglichkeiten, sondern auch die pädagogischen Konzepte der einzelnen Heime eine wichtige Rolle. So hielt das Erziehungsheim Birkeneck bei München, das sich in der Trägerschaft der Oberdeutschen Provinz der Herz-Jesu-Missionare befand und schulentlassene Jungen aufnahm, noch Mitte der 1960er Jahre entgegen der „gegenwärtigen pädagogischen Strömung“ u.a. deshalb bewusst an Großgruppen mit 30 bis 40 Jugendlichen fest, da gerade die hier bestehende „Gruppenhierarchie“ dem „Anfänger“ zum „Ordnunghalten“ veranlasste.181 Dagegen betrug auf der im Emsland gelegenen Johannesburg, die mit der gleichen Ausrichtung in Trägerschaft der Norddeutschen Provinz der Ordensgemeinschaft stand, die durchschnittliche Gruppenstärke ca. 20 Jungen, wobei vermehrt Auflockerungen angestrebt wurden.182 An den konträren Beispielen wird auch deutlich, dass die Einrichtungen in unterschiedlichem Ausmaß die Modernisierungen als notwendig erachteten. Neben den Auflockerungen der Gruppen kam es in einigen Heimen noch zu einer weiteren inneren Differenzierung durch die Schaffung von neuen Abteilungen für Kinder und Jugendliche mit speziellen Erziehungsschwierigkeiten. Z. B wurde bereits Anfang der 1950er Jahre im Mädchenheim Kaiserswerth eine Sonderabteilung für „sexuell gefährdete bzw. geschädigte ältere evangelische Schulmädchen“ und im Mädchenheim Ratingen für „schwachbegabte, bewahrungsbedürftige, 181

182

Hans Held, Das Erziehungsheim Birkeneck und seine Pädagogik, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst 17 (Heft 5/6 1965), S. 54f. Vgl. zur Johannesburg Kap. 5.4.3.

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schulentlassene Jugendliche“ eingerichtet. Zudem entstanden auch heilpädagogische Abteilungen. Diese Entwicklung führte allerdings zu einer Ballung von Problemfällen, wobei sich die Differenzierung primär auf die Schwere der vermeintlichen Verwahrlosung und Erziehungsschwierigkeit bezog.183 Darüber hinaus fand auch eine äußere Differenzierung statt, indem neue Spezialheime wie heilpädagogische Heime oder Kinderund Jugenddörfer errichtet wurden. Auf Initiative des Landesjugendamts wurde etwa bei der Erweiterung des 1952 eingeweihten Heims für schulentlassene Mädchen in Waldniel in Trägerschaft der Dominikanerinnen von Bethanien 1956 neben der schon bestehenden Einrichtung das Kinder- und Jugenddorf „Maria im Klee“ ins Leben gerufen. Ca. 15 Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 14 Jahren lebten jeweils in einem der vier neuen Pavillons zusammen, wobei besonders die Individualität der Jugendlichen und verstärkte Außenkontakte im Mittelpunkt der Bemühungen standen.184 Und Anfang der 1960er Jahre wurde die Marienpflege im württembergischen Ellwangen durch den Neubau von sieben Kinderhäusern ebenfalls zu einem Kinder- und Jugenddorf umgestaltet.185 Insgesamt blieben diese Gründungen jedoch zahlenmäßig begrenzt. Anne Frommann wies darauf hin, dass nach dem Heimverzeichnis des EREV 1963 von 475 Heimen mit 32.939 Plätzen nur 8 heilpädagogische Heime mit 352 Plätzen und laut dem AFET-Verzeichnis von 1964 in Deutschland von insgesamt 920 Heimen nur 67 heilpädagogische Heime und Abteilungen geführt wurden.186 Am Beispiel Niedersachsens lässt sich gut die bestehende Differenzierung der Heime nach Religion, Alter, Geschlecht, Erziehungsschwierigkeit und zunehmend auch psychiatrischer Diagnose nachvollziehen. So schätzte Albrecht Gaupp bereits zu Beginn der 1950er Jahre den Anteil der Minderjährigen mit Neurosen, die keinen 183

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Henkelmann/Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), S. 85ff. Andreas Henkelmann, Religiöse Erziehung in Anstalten der Kinder- und Jugendfürsorge in den 1950er und 1960er Jahren – Das Beispiel „Maria im Klee“ in Waldniel, in: Damberg u.a., Mutter Kirche – Vater Staat, S. 263-266; vgl. auch Klaus Esser, Die Kinderdorfbewegung in der katholischen Heimerziehung, in: 100 Jahre BVkE, S. 73-90. Vgl. Erwin Knam, Spurensuche 1719-2010. Geschichte und Geschichtchen aus drei Jahrhunderten Marienpflege, hg. v. Kinder- und Jugenddorf Marienpflege, Ellwangen 2010. Anne Frommann, Die Situation der Heilpädagogik in den evangelischen Heimen und Anstalten, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 2 (Juni 1966), S. 18-24.

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Erziehungserfolg zeigten und einer besonderen heilpädagogischen Behandlung bedürften, auf 20 %.187 In seiner Einrichtung in Adelheide schuf er 1952 eine Aufnahmeabteilung, in der Neuzugewiesene „psychologisch, schulisch und ärztlich“ überprüft wurden.188 Eine weitere Heimdifferenzierung nach psychiatrischen Begutachtungen wurde 1952 von den Heimen durchaus als hilfreich angesehen. Neben ihrem Wunsch zur Einbeziehung der „neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ erhoben sich Fragen nach der Kostenübernahme. So arbeitete im Frauenheim in Himmelsthür eine therapeutisch ausgebildete Psychiaterin. Im Birkenhof machte Landesobermedizinalrat Rizor psychiatrische Untersuchungen – er hatte nach eigenen Angaben bereits von 1922 bis 1938 alle evangelischen Erziehungsheime der Provinz Hannover beraten189 – und der Leiter der Kästorfer Anstalten, Pastor Müller aus Rischborn, berichtete, dass der Direktor des Göttinger Landesjugendheims, Walter Gerson, ihn berate und u.a. Teambesprechungen wie „in den englischen Heimen“ durchführe. Dr. Gerson reiste zudem für psychiatrische Untersuchungen der Jugendlichen zur Johannesburg ins Emsland und nach Celle.190 Darüber hinaus galt neben der psychiatischen (und damit ärztlichen) Diagnose und Behandlung auch eine psychologische als geboten. Anstaltsleiter wie Johannes Badenhop von der Pestalozzistiftung in Großburgwedel oder Direktor Henke vom Bernwardshof waren nicht für visitierende Psychologen, sondern dafür, dass diese im Heim arbeiten sollten, da sie sonst nur Fremdkörper seien. Von Badenhop ist bekannt, dass auch er ohnehin eine Vorherrschaft der Psychologen in den Heimen befürchtete, welche durch eine solche Einbindung eingegrenzt bleiben sollte.191 Auch die Heimleitung des Mädchenheims Schloss Wollershausen stand „tiefenpsychologischen und psychiatri187

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Ferdinand Carspecken/Albrecht Gaupp, Wo steht die Fürsorgeerziehung? Vergleichende Untersuchung im Bezirk des Landesjugendamtes Oldenburg für die Jahre 1942-1952 mit einer Studie über die pädagogischen Folgen, München/Düsseldorf 1953 (Unsere Jugend ; Beih. 7), S. 43-48, bes. 47. Vermerk an Sachbearbeiter des LJA v. 30.4.1952, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Vgl. Fünfundsiebzig Jahre Birkenhof 1954, S. 83. Stellungsnahme des LJA für den Kultusminister hinsichtlich Durchführung und Finanzierung psychiatrischer Untersuchungen und psychotherapeutischer Behandlungen v. 14.7.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 34/93 Nr. 3. Vgl. hierzu die Angabe und die spärlichen Antworten auf die Rundfrage des EREV nach der Mitarbeit von Psychologen und Psychiatern im Heim: Janssen an Ohl v. 7.10.1955, in: ADWRh Ohl 10.2.2.1.

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sche Behandlungen sehr zurückhaltend gegenüber“. Dies war „umso erstaunlicher, als gerade in dem einzigen Fall, in dem das Heim eine solche Behandlung einer Jugendlichen durch einen selbst dafür ausgewählten Psychiater veranlasste, ein beachtlicher Erfolg erzielt und mindestens 1 Jahr Heimkosten erspart wurde. Nach einer Rücksprache des Landesjugendamtes mit dem Caritasdirektor Herrn Sendker, Hildesheim, wird voraussichtlich Frau Dr. Zarnke, eine der bewährtesten psychiatrischen Kräfte der Caritas, den psychiatrischen Dienst in Wollershausen übernehmen und das Heim 2-3 mal im Jahre aufsuchen.“192 Andere Heimleitungen betonten besonders die Ausbildungsfunktion von Psychologen, welche die Schulung aller Erzieher durchführen sollten. Auch der im Wichernstift in Adelheide arbeitende Pädagoge Prof. Albrecht Gaupp bejahte „die Führung von heilpädagogischen Gruppen für besonders schwierige Kinder“.193 Die konkrete Umsetzung erschien aber selbst dem anwesenden Dr. Tornow vom Psychotherapeutischen Institut Hannover schwierig, denn Kurzkurse könnten eine zweijährige Ausbildung nicht ersetzen.194 Größere Einrichtungen stellten ausgebildete Psycholog/innen eigens ein, wie z. B. der Birkenhof 1955.195 Zu den Aufgaben der als Leiterin der Hildesheimer Heimerziehungsberatungsstelle des DiCV eingestellten, zuvor als Assistentin an der Pädagogischen Hochschule in Vechta tätigen Diplom-Psychologin Regina Alicke – zur Beratungsstelle gehörten außerdem noch eine Fürsorgerin und eine Sekretärin – zählte vor allem die „pädagogischpsychologische Beratung der Ordens- und Laienkräfte in der Erzie192

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Stellungsnahme des LJA für den Kultusminister hinsichtlich Durchführung und Finanzierung psychiatrischer Untersuchungen und psychotherapeutischer Behandlungen v. 14.7.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 34/93 Nr. 3. Siehe zu Gaupps neuem Nachkriegs-Credo der „Individualpsychologie“ seinen Beitrag in Carspecken/Gaupp, Wo steht die Fürsorgeerziehung?, S. 41-61. Hier vertrat er für seine Zeit fortschrittliche Positionen (der Individualität des Kindes gerecht werden, Bettnässer bedürfen der psychotherapeutischen Hilfe und keiner Strafe etc.). Auf seine Promotion von 1935, die sehr im Sinne des Nationalsozialismus ein rassistisches Erziehungsprogramm propagiert hatte, sei aber ausdrücklich hingewiesen: Albrecht Gaupp, Vorarbeiten zur Pädagogik der Kameradschaft, Greifswald 1935. Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 4.2.1952 im Erziehungsheim Rischborn, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Bericht über den unangemeldeten Besuch im Mädchenheim Birkenhof am 6.12.1956 (71 Rev. 6; 7.12.1956), in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7. Diese hatte dort jedoch offenbar Probleme und verließ die Einrichtung bereits ein Jahr später wieder.

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hungsarbeit der Heime“ und die „psychologische Arbeit in den Kindergruppen der Heime mit dem Ziel, die einzelnen Kinder kennen zu lernen“ und bei schwierigeren Kindern gegebenenfalls genauere diagnostische Untersuchungen in die Wege zu leiten. Zu diesem Zweck versuchten die Mitarbeiterinnen, in etwa sechswöchigen Abständen die zehn im Gebiet der Diözese liegenden Heime aufzusuchen. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen wurde auch eine „Differenzierung der Heime“ in den Blick genommen, wobei sowohl die Errichtung eines „Hilfsschulheims“ als auch eines „Aufnahmeheims“ zur Sprache kamen. Bei der festgestellten „Notwendigkeit einer heilpädagogischen Behandlung“ eines Kindes „müßte dieserhalb mit solchen Heimen in anderen Diözesen zusammengearbeitet werden“.196 Das Thema der ambulanten jugendpsychiatrischen Versorgung der mittleren und kleineren Erziehungsheime wurde in den Heimleiterbesprechungen – seit 1951 firmierte zudem als eine Art Ansprechpartner des Landesjugendamtes die vom Leiter der Pestalozzistiftung in Großburgwedel, Johannes Badenhop, geleitete „Arbeitsgemeinschaft der Fürsorgeerziehungsheime Niedersachsens“ – erst wieder 1966 besprochen.197 Dabei trat u.a. die Wunsdorfer Ärztin Dr. Dames für eine Versorgung der Heime durch Ärzte und Kliniken ein, doch wünschten verschiedene Heimvertreter eine Versorgung im Heim. Auch der Psychiater und Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landeskrankenhauses Wunsdorf, Hans Heinze198, hielt eine Versorgung im Heim für besser, da dabei auch das Personal geschult werden könnte. Er erhob die Frage, ob für die Heime spezielle jugendpsychiatrische Kliniken geschaffen werden sollten. Entsprechende Pläne wurden von den Ver196

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Vermutlich von Caritasdirektor Sendker verfasste Ausarbeitung zur Einrichtung einer Heimerziehungsberatungsstelle im Bistum Hildesheim v. 21.12.1955, in: BAHI, DiCV Hildesheim Nr. 1836. Siehe Protokolle von Sitzungen aus den Jahren 1950 bis 1956, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Hans Heinze (1895-1983), war Obergutachter der sogenannten „Kinder-Euthanasie“ im Nationalsozialismus und Leiter der Klink Brandenburg-Görden gewesen, in der zahlreiche Kinder ermordert wurden. Im April 1966 wurde er nach mehreren amtsärztlichen Gutachten vom Landgericht Hannover im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen der „Euthanasie“ „außer Verfolgung gesetzt“, weil er angeblich „psychisch ein Wrack“ und „dauernd verhandlungsunfähig“ sei. Vgl. Ernst Klee, Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Krankenund Judenmord, Frankfurt a. M. 2004, S. 136-139. Annette Hinz-Wessels, Hans Heinze. Psychiater und Aktivist der nationalsozialistischen „Euthanasie“ geb. 1895, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 108-115.

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tretern des Landesjugendamtes als in der Behandlung befindlich bestätigt. Deutlich wird darin der Versuch einer weitergehenden Differenzierung der Minderjährigen, ohne dass dies für die kleineren Heime durch Einstellung eines eigenständigen Psychologen oder gar Psychiaters durchführbar war. Eine weitere Differenzierung des Heimwesens für Jugendliche bestand auch in Bayern in der Schaffung von heilpädagogischen Heimen. So strukturierte man z. B. das Kinderheim Naila 1952 zu einem heilpädagogischen Heim um, das alte Hauselternpaar wurde abgelöst.199 Die damit angestrebte Verbesserung der pädagogischen Situation trat allerdings nicht ein, da der neue Heimleiter offenbar nicht im heilpädagogischen Sinne wirkte, vielmehr offensiv sein Züchtigungsrecht im Falle therapeutischer Unzugänglichkeit verteidigte. Bis 1955 hatten sich bereits mehrere evangelische Heime in Bayern auf die Erziehung psychisch besonders auffälliger Kinder konzentriert. Neben dem Heim Martinsberg in Naila handelte es sich um das Kinderheim Lochhausen in Oberbayern für Mädchen im schulpflichtigen Alter, die „auf der Grenze zwischen Normal und Pathologisch stehen“. Auch im Kinderheim in Rummelsberg war eine heilpädagogische Abteilung von elf Betten eingerichtet worden. Doch erwies sich die Ballung schwieriger Kinder als zu ungünstig, weswegen ein eigenes heilpädagogisches Kinderheim mit 25 Plätzen eingerichtet wurde.200 Als im August 1962 im Bayerischen Staatsministerium in einer Sitzung eine Aufstellung der im Sinne der AFET-Richtlinien als heilpädagogisches Heim zu bezeichnenden Einrichtungen vorgenommen wurde, waren unter den 15 aufgelisteten Heimen drei mit evangelischer Trägerschaft (Heilerziehungsheim Neuendettelsau201, Heilpädagogisches Kin199

200 201

Rummelsberger Anstalten (Nägelsbach) an EREV v. 30.7.1953, in: ADW, EEV 326; Auszüge aus dem Übersichtsbogen des Ev. Erziehungsverbandes per 30.11.1953, in: ELKAN, DW 1608; vgl. hierzu auch die Aussagen des ehemaligen Heimkinds Richard Sucker, der von regelmäßigen Prügeln bei Nichtigkeiten berichtete: Der Schrei zum Himmel, Leipzig 2008, bes. S. 56ff. sowie das Interview Richard Sucker (25.8.2010). EREV an Mitglieder v. 6.3.1956, in: ELKAN, DW Bayern 1605 [auch in ebd. 1604]. Im Heilerziehungsheim Neuendettelsau befanden sich 1962 insgesamt 145 Kinder und 80 Jugendliche, die hauptamtlich von 5 Hilfsschullehrern, 2 Volksschullehrerinnen, 4 Kindergärtnerinnen, 2 Heimerzieherinnen, 12 Gruppenerzieherinnen und nebenamtlich von einer Ärztin, einem Psychiater und einer Gymnastik-Lehrerin, zudem noch von Wirtschaftspersonal (7 in der Küche, 3 im Haus, 2 in der Waschküche, 8 in der Nähstube) betreut wurden. Als heilpädagogische Erziehungsmittel galten die

110

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

derheim Rummelsberg und Kinderheim Feldkirchen) und drei katholische Heime (St. Annaheim, Kochel am See von der Vereinigung der St. Annaschwestern, Erziehungsheim Piusheim Post Glonn b. Grafing des Katholischen Vereins zur Betreuung gefährdeter Jugend e.V., München und die Psychotherapeutisch-Heilpädagogische Station im St. Josefsheim des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen u. Kinder in Würzburg). Die anderen Träger waren kommunal oder privat.202 Etwaige Bemühungen der Heimdifferenzierung waren immer auch von den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Einrichtungen bzw. Träger abhängig. Dabei blieb die Heimerziehung zumindest bis Anfang der 1960er Jahre finanziell schlecht ausgerüstet, was bereits 1953 zu einer Denkschrift des AFET über die Not der Erziehungsheime führte. Eine weitere Denkschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege über den Nachbesserungsbedarf für die Renovierung, den Umbau bzw. Ausbau der Heime bezifferte diesen 1964 mit insgesamt 900 Mio. DM.203 Die Frage der Kostendeckung des Betriebes der Einrichtungen stellte sich je nach Heim durchaus differenziert dar. Grundsätzlich war es ein Unterschied, ob ein Heim Teil einer diakonischen Komplexeinrichtung (mit Krankenhaus, Ausbildungsstätte etc.) war, oder aber eine eigenständige Einrichtung. Im ersten Fall konnten Querfinanzierungen zwischen verschiedenen Anstaltsteilen erfolgen und Defizite ausgeglichen werden. Die größte Refinanzierung des Heimbetriebs geschah durch die Zubilligung von Pflegesätzen im Rahmen der kommunalen Pflegekinderfürsorge oder der Fürsorgeerziehung bzw. Freiwilligen Erziehungshilfe (bzw. in Bayern Erziehungsfürsorge), die durch die Kassen der Kommunalverbände bzw. der Bundesländer gewährt wurden. Dazu kamen Spenden teilweise in Form von Kollekten der Kirchen. Ein gewisser Teil der Heime besaß landwirtschaftliche oder handwerkliche Betriebe, in denen die Heimzöglinge zur Arbeit erzogen wer-

202

203

„Koch’sche Fingerlesemethode, basteln und werken, flöten, Orff ’sches Schulwerk“. Meldebogen des Heilerziehungsheims Neuendettelsau (nach ME v. 14.3.1962), in: BHStA, MInn Nr. 89734. Aufstellung der in der Sitzung v. 2.8.1962 als heilpädagogisches Heim im Sinne der AFET-Richtlinien festgestellten Heime, in: ebd. AFET, Die Notlage der Erziehungsheime für Kinder und Jugendliche (19.2.1953), Hannover 1953; AFET (Hg.), Erziehungsheime in Wort und Bild. Eine Auswahl von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten aus den Jahren 1951 bis 1961, Hannover 1961; Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hg.), Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Bestandsaufnahme, o. O. [Freiburg], o. D. [1964].

111

HEIMDIFFERENZIERUNG UND PFLEGESATZ

den sollten, doch ebenso durch ihre Mitarbeit die eigenen Heimkosten verminderten. In welchem Grade dies geschah, ist nur in gut dokumentierbaren Einzelfällen sichtbar zu machen. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass zu Beginn der 1950er Jahre die konfessionellen Heime im Durchschnitt (die regionalen Unterschiede waren erheblich) 25 % niedrigere Kosten im Bereich der Fürsorgeerziehung zugebilligt erhielten als öffentliche Heime, wie sich aus einer zeitgenössischen Aufstellung ergibt. Durchschnittliche FE-Kosten, je Kopf und Tag in Deutschland 1951/52204

Land

im öffentlichen Heim im privaten Heim

Unterschied

Schleswig-Holstein

4,48

2,03

2,45

Hamburg

5,86

3,33

2,53

Niedersachsen

-

3,36

-

L.lA Hannover

-

3,40

-

L.lA Braunsduweig

-

3,44

-

L.lA Oldenburg

4,10

3,08

1,02

Nordrhein-Westfalen

5,77

3,22

2,55

L.lA Nordrhein

6,34

3,03

3,31

L.lA Westfalen

4,10

3,46

-,64

-

-

-

Bremen Hessen

4,03

2,94

1,01

Regierungsbezirk Darmstadt

3,89

2,75

1,14

Regierungsbezirk Kassel

1,27

3,02

+ 1,75

Regierungsbezirk Wiesbaden

7,32

2,98

4,34

Baden-Württemberg

2,69

2,61

0.08

Bayern

2,30

2,73

+ -,43

Rheinland-Pfalz Bundesgebiet (insgesamt ohne Bremen)

3,25

2,51

-,74

4,10

2,97

1,13

204

Erarbeitet auf Basis der Statistik des AFET im Berichtsjahr 1951/52, zit. n. Karl Janssen, Brennende Fragen. Fragen der Gesellschaft an die Heime – Fragen der Heime an die Gesellschaft, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 75-78.

112

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

Die Deckung der Selbstkosten war nachfolgend das Ziel, das die Heime in den verschiedenen Bundesländern ansteuerten.205 In einer Zusammenfassung der fünf mehrtägigen Arbeitsbesprechungen zwischen den drei niedersächsischen Landesjugendämtern und den Erziehungsheimen, die 1956 bis 1963 stattfanden, hob der Leiter des oldenburgischen Landesjugendamtes, Ferdinand Carspecken, nicht nur die von den Heimen betonten Grenzen einer vorbeugenden Jugendhilfe und der Freiwilligen Erziehungshilfe hervor, sondern umschrieb auch die aktuelle Situation der Neuzugänge in die öffentliche Erziehungshilfe.206 Er konstatierte einen Rückgang der „Armutsverwahrlosung“ und eine Zunahme von „Tiefenschädigungen“ auf Grund einer „Wohlstandsverwahrlosung“, was die durchschnittliche Heimaufenthaltsdauer ansteigen und den Anteil der Minderjährigen in Familienpflege sinken lasse. Die Zahl der „früh sexuell Gefährdeten“ unter den 12- bis 14-jährigen Kindern steige an, ebenso wie die Zahlen der verwahrlosten weiblichen und der „aggressiven, ehrfurchtslosen“ männlichen Jugendlichen. Dem könne nur durch Betonung des Einzelgesprächs und damit einem vermehrten Erziehereinsatz begegnet werden.207 Dies hätte nun nicht nur verstärkte Personal-, sondern ebenso umfangreiche Geldmittel für eine Renovierung und einen Umbau der räumlichen Verhältnisse in den Heimen erfordert, was zwangsläufig zur Frage der Finanzierung führte. Offenbar war es in dieser Frage wichtig, auf welcher Ebene die Pflegesatzverhandlungen geführt wurden, da manche Heimleitungen bzw. -träger anscheinend überfordert oder desinteressiert waren. Auch hing es von den Interessen der zuständigen staatlichen Behörden ab, in welchem Maß den Einrichtungen entgegen gekommen wurde. In Niedersachsen war es bis 1960 Praxis, dass die Arbeitsgemeinschaft der Erziehungsheime dem im Kultusministerium zuständigen Beamten mitteilte, dass etwa wegen Lohnerhöhungen des Erzieherpersonals eine Anhebung des Pflegesatzes notwendig sei. Daraufhin erfolgte dann automatisch für alle Heime eine Erhöhung des Satzes, die auch Heime mit geringeren Lohnkosten einschloss. Nun 205

206

207

Siehe zur Finanzierung in den Wohlfahrtsverbänden: Peter Hammerschmidt, Heimfinanzierung – aktuelle Tendenzen im Licht historischer Erfahrungen, in: Neue Praxis, H. 6, 2002, S. 567-583; ders. Zur Organisation und Finanzierung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände, in: Jähnichen u.a. (Hg.), Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“, S. 22-38. Ferdinand Carspecken, Probleme der Heimerziehung heute, in: Unsere Jugend 15 (1963), S. 214-220. Ebd., S. 219f.

HEIMDIFFERENZIERUNG UND PFLEGESATZ

113

musste jedes Heim mittels eines Antrags mit Angabe der Selbstkosten selbst aktiv werden, was nach Auskunft von Regierungsdirektor Spitta an den Hildesheimer Caritasdirektor Sendker gerade in den katholischen Heimen auf Probleme stieß: „Nach diesem Verfahren wurden die Pflegesätze im Sommer dieses Jahres [1960] in vielen Heimen neu bestimmt. Nach und nach haben die meisten Heime befriedigende Pflegesätze erhalten. Es haben sich aber nicht alle Heime gerührt. Z. B. haben die vier katholischen Heime in Niedersachsen keinen neuen Pflegesatz gefordert. Ich fürchte, diese Heime warten auf meine Initiative. Ich kann aber diese Initiative nicht mehr entfalten. […] Die Heime müssten ihre Pflegesätze zu einem in der Zukunft liegenden Termin kündigen, einen entsprechend erhöhten Pflegesatz fordern und mit einer Selbstkostenrechnung die Forderung begründen.“208 Das gute Verhältnis zwischen dem Regierungsdirektor und Caritasdirektor Sendker dürfte für die zukünftigen Pflegesatzverhandlungen der katholischen Heime, in denen auch die Mitfinanzierung der Heimerziehungsberatungsstelle der Diözese Hildesheim geltend gemacht wurde, ein wichtiges Moment für die Gewährung ausreichender Pflegesätze gewesen sein. Dennoch überstieg gerade auch vor dem Hintergrund der Modernisierungsanforderungen an die Heime der Finanzbedarf die erhaltenen Mittel. In einer „Denkschrift des Fachverbandes evangelischer Erziehungs- und Kinderheime in Niedersachsen über die wirtschaftliche Lage der Erziehungsanstalten der Inneren Mission“ vom April 1963 skizzierten diese das Problem der Unterfinanzierung der Einrichtungen (trotz kalkulatorischer Pflegesatzökonomie) und baten um Hilfen zur „Substanzerhaltung“ von jährlich 6 % des betriebsnotwendigen Kapitals.209 Hierauf konnte sich das verantwortliche Niedersächsische Kultusministerium nicht einlassen und bot an, einen trotz kostendeckender Pflegesätze entstehenden Fehlbetrag (z. B. auf Grund plötzlicher Kostensteigerungen oder Unterbelegung) durch höhere Pflegesätze für das Folgejahr auszugleichen.210 Die Diskussion über eine Unterfinanzierung der Hei208

209

210

Regierungsdirektor Dr. Theodor Spitta an Caritasdirektor Sendker v. 23.111960, in: BAHI, Caritasverband Nr. 1776. Denkschrift des Fachverbandes evangelischer Erziehungs- und Kinderheime in Niedersachsen über die wirtschaftliche Lage der Erziehungsanstalten der Inneren Mission im Lande Niedersachsen (gez. Hesse, 30.4.1963), in: HAB, Birkenhof 132. Stellungnahme des Niedersächsischen Kultusminsters zur Denkschrift des Fachverbandes evangelischer Erziehungs- und Kinderheime in Niedersachsen über die wirt-

114

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

me und Anstalten der freien Wohlfahrtspflege in ganz Westdeutschland baute sich zu diesem Zeitpunkt auf und führte 1964 zu der bereits oben erwähnten Denkschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege über den Nachbesserungsbedarf, der mit insgesamt 900 Mio. DM beziffert wurde.211 Gleichzeitig hatte in Niedersachsen die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege das Kultusministerium informiert, dass die niedersächsischen Erziehungsheime der freien Träger „einen Nachholbedarf von ca. 38 Mill. DM aufzuweisen hätten, wovon 30 Mill. DM auf Einrichtungen der Inneren Mission bzw. der Ev. Landeskirche und 8 Mill. DM auf unsere [katholischen] Einrichtungen entfallen.“212 Der Wirtschaftsfachmann der rheinischen Diakonie, Helmut Seifert, bezeichnete 1967 den Pflegesatz als eine Mischung von „Miet- und Dienstvertragselementen“, der aber privatrechtlicher Natur sei. Die Heime erhielten nach § 84 des JWG eine Kostenerstattung durch den jeweiligen öffentlichen Träger der Jugendhilfe. So habe der betriebswirtschaftliche Kostenbegriff auch in freigemeinnützigen Einrichtungen Niederschlag in der Form des „Selbstkostendeckungsprinzips“ gefunden. Neben Versorgungseinrichtungen wie Küche und Wäscherei hätten diese auch Wirtschaftsbetriebe, weswegen eine Einnahmen- und Ausgaberechnung hier nicht erstellt werden und nicht jeder Betrieb Teil der Selbstkostenrechnung sein könne. Wenn z. B. die Landwirtschaft lediglich aus Versorgungsgründen betrieben würde, so müsste der Betrieb bei der Berechnung des Pflegesatzes außen vor bleiben. Sollte dort aber auch Arbeitserziehung oder Ausbildung betrieben werden, hätte dieser in die Selbstkostenrechnung eingehen müssen. „Dies wird von den Heimträgern mitunter geflissentlich übersehen, wenn es sich um Betriebe handelt, die einen Gewinn abgeworfen haben.“213 Ein besonderes Problem mache die Bewertung der Arbeitskraft der minderjährigen Pfleglinge. Die Gewährung eines vergleichbaren Tarif211

212

213

schaftliche Lage v. 21.10.1963, in: ebd. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hg.), Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Bestandsaufnahme, o. O. [Freiburg], o. D. [1964]. Caritasdirektor Schenk an die Leitungen der kath. FE-Heime Bernwardshof, Johannesburg, Wollershausen v. 6.11.1963, BAHI, DiCV Hildesheim Nr. 57. Vgl. auch mit Blick auf die Lage in Niedersachsen: Kraul u.a., Forschungsbericht „Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975., S. 35-38. Vgl. Helmut Seifert: Die Finanzierung der Betriebskosten von Erziehungsheimen (Vortrag vor Mitgliedern des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge v. 7.11.1967 in Karlsruhe), in: ELKAN, DW 1600.

HEIMDIFFERENZIERUNG UND PFLEGESATZ

115

Abb. 5: Mädchen beim Heißmangeln in der Marienburg/Coesfeld

lohnes ohne Berücksichtigung des Standes der Erziehung war nach Seiferts Ansicht nicht vertretbar; denn selbst die höheren Kosten würden sich durch höhere Erträge aufwiegen und keine Verbilligung der Fürsorgeerziehung zur Folge haben. Besonders schwierig zu bewerten sei die Mitarbeit von Mädchen in Wäschereien, die über die Eigenversorgung der Heime hinaus wirkten. Bei solchen Fremdarbeiten müsse die Ware teilweise nach Marktpreisen, also unterhalb des Selbstkostenpreises, verkauft werden. Ferner seien in den Betrieben oft Automatisierungen mit Blick auf die Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten nicht möglich. Seifert verwies auf die Notwendigkeit einer fachgerechten Buchführung in den Heimen – ein Ideal, das, wie er selbst aufzeigte, nur in wenigen Heimen durchgeführt wurde. In den letzten Jahren seien nach seiner Einschätzung wegen der „permanenten Kostensteigerungen kostendeckende Pflegesätze nicht immer zur rechten Zeit

116

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

erzielt“ worden. Er wollte deshalb die Kirche hier stärker für Bereiche wie Ausbildung etc. zur Kasse bitten.214 So war teilweise nicht nur ein schlechtes finanzielles und Organisationsmanagement in den Einrichtungen mitverantwortlich für eine verzögerte Modernisierung. In einzelnen Fällen verhinderten auch Trägerinteressen einen Umbau renovierungsbedürftiger Häuser hinsichtlich einer von Seiten der Aufsichtsbehörden angestrebten Heimdifferenzierung. Die Erlangung eines kostendeckenden Pflegesatzes war eine entscheidende Voraussetzung, um Modernisierungen, so sie denn angestrebt wurden, durchzuführen. Im Rahmen der für die Festsetzung der von den verschiedenen Kostenträgern zu zahlenden Pflegesätze im Lauf der 1950er Jahre maßgeblich werdenden Selbstkostenrechnungen nahmen die Personalkosten den deutlich größten Raum ein. Daher spielte es für die Träger der katholischen Heime eine wichtige Rolle, in der Regel für die dort tätigen Ordenskräfte nur ein im Vergleich zum Lohn weltlichen Personals geringes Gestellungsgeld an die Mutterhäuser und erst seit Anfang der 1970er Jahre Sozialabgaben zahlen zu müssen. Ob dies jedoch der Grund dafür war, dass in Westfalen noch 1966 die Pflegesätze der evangelischen Heime durchweg höher lagen als diejenigen der katholischen Einrichtungen, stellte auch schon zeitgenössisch eine nicht gelöste Frage dar. Zumindest wurde dieser Punkt auf einer Besprechung einiger Leiter katholischer Heime Westfalens mit einem Vertreter des Diözesancaritasverband Paderborn und der Solidaris-Gesellschaft über wirtschaftliche Angelegenheiten als Frage formuliert, der näher nachgegangen werden sollte.215 Letztlich konnten in den katholischen Heimen teilweise erst im Lauf der 1960er Jahre kostendeckende Pflegesätze erreicht werden.216 In Bayern hatte sich Direktor Hennerfeind einige Jahre zuvor allerdings genötigt gesehen, in Anbetracht des großen Reformbedarfs der Heimerziehung auf die Bedeutung der Ausschöpfung des möglichen Pflegesatzes hinzuweisen. Denn es sei „im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme katholischer Heime untragbar, wenn Kinder mitunter über wei214

215

216

Ebd. Noch sehr viel schwieriger gestaltete sich die Lage im Sektor des Krankenhauswesens, da dort erst nach einer Krise und Schließung verschiedener Krankenhäuser sowie einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 1963 das Selbstkostendeckungsprinzip anerkannt wurde. Vgl. Seifert, Finanzierung der diakonischen Arbeit, in: Diakonie 1 (1964), Heft 1, S. 47-49, hier 49. Aktennotiz des Direktors des Martinistifts Wiggenhorn v. 18.5.1966, in: BAM Marienburg A-27. Vgl. Ausführungen zur Johannesburg in Kap. 5.4.3.

HEIMDIFFERENZIERUNG UND PFLEGESATZ

117

te Entfernungen hinweg in ‚billigeren’ Heimen untergebracht und oft unter dürftigen Verhältnissen erzogen und verpflegt werden, während nahe gelegene Heime, die von der vollen Höhe zugebilligter Verpflegungssätze Gebrauch machen, unterbelegt“ blieben. So müsse die Pflegesatzerhöhung genutzt werden, um die „Verpflegung im Sinne einer ausreichenden und jugendgemäßen Ernährung“ zu verbessern und „für die Erfüllung der Erziehungsaufgabe […] entsprechend vorgebildete[s] Personal“ bereitzustellen. Wie schon weiter oben erwähnt, müssten durch die Zahlung ausreichender Gestellungsgelder gerade die Ordensgemeinschaften in die Lage versetzt werden, ihren Angehörigen die erforderlichen Ausbildungen zu ermöglichen. Schließlich seien die Heime in „hygienischer und pädagogischer Hinsicht“ zu optimieren, wobei „nicht zuletzt auch an die erforderliche Verkleinerung der Gruppen, die dem Kinde, seiner Erziehung und dem überlasteten Erzieher in gleich vorteilhafter Weise zugute kommt“, zu denken sei. Allerdings könnten größere Baumaßnahmen der Heime nicht durch die höheren Pflegesätze, sondern nur durch die „gesamte Wirtschaftskraft der Anstalt“, also etwa durch Darlehen oder Spenden verwirklicht werden, ohne dass billige staatliche Gelder zur Verfügung ständen.217 Auch der Leiter des EREV, Janssen, konstatierte 1966, dass die Zusammenarbeit der Freien Jugendhilfe untereinander nur auf oberster Ebene gut funktioniere, doch auf mittlerer und unterer Ebene „in einigen entscheidenden Fragen ein gefährliches Nebeneinander festzustellen“ sei. Dabei erwähnte er ausdrücklich, dass die Caritas nicht für das Bemühen um kostendeckende Pflegesätze gewonnen werden könne.218 Das hier offenbar thematisierte, aus einer Konkurrenzsituation der Heime erwachsende Bestreben von Einrichtungen, durch einen niedrigen Pflegesatz möglichst voll belegt zu sein, wird auch in anderen Regionen vorgekommen sein. Aber auf der anderen Seite stand gerade in den 1950er Jahren immer wieder das Bemühen der staatlichen Kostenträger, über niedrige Sätze Ausgaben zu minimieren. Dazu zählte auch der Ansatz, in Heimen Produktionsstätten von Fremdbetrieben anzusiedeln. Jedenfalls wurde auf Anregung des LJA Rheinland-Pfalz in einem Nebengebäude des Eduard-Stifts Helenberg bei Trier ein „Filialbetrieb einer Matratzenfabrik“ eingerichtet. Die hier arbeitenden Jugendlichen erhielten einen „tarifähnlichen Lohn, von dem sie 60 % 217

218

Hennerfeind an die Mitglieder des bayerischen Landesverbands v. 16.1.1956, Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern v. Guten Hirten, Zin 7. Niederschrift über die Arbeitstagung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge am 8./9.3.1966 in Celle (K.H. Lähnemann), in: ADW, EEV 170.

118

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

für die Unterbringungskosten“ bezahlten, den Restbetrag für ihre persönlichen Bedürfnisse und für die Anlegung von Ersparnissen“ verwandten. Schwierigkeiten bereitete jedoch die Versicherung bei der AOK Trier, die im Gegensatz zum LJA nicht von einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit ausging.219

3.5 Erziehungsmittel und körperliche Züchtigung Ein wesentlicher Punkt in der öffentlichen Erziehung war ihre Strafkompetenz gegenüber abweichendem Verhalten. In der Grundkonstellation versuchten die zuständigen staatlichen Stellen hier Begrenzungen durchzusetzen, wohingegen die Heime möglichste Unbeschränktheit in der Anwendung von Strafen verlangten. Neben dem Entzug von Vergünstigungen (z. B. Taschengeld, Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, Besuch, Urlaub etc.) stellten vor allem Arreststrafen und die körperliche Züchtigung problematische Strafformen dar. Am Beispiel der Konstellationen in den Bundesländern Bayern und Niedersachsen soll dies im Hinblick auf konfessionelle Heime näher in den Blick genommen werden. Die Erlaubnis der Züchtigung in Bayern und die Folgen Die Lockerung des Züchtigungsverbotes in der NS-Zeit wirkte in Bayern nach und musste in der Nachkriegszeit wieder eingefangen werden. So wurde die Verbreitung der körperlichen Züchtigung als Problem des „nationalsozialistischen Prügeldämons“ begriffen, was zwar die Lockerungen hinsichtlich der Anwendung von Körperstrafen während des Nationalsozialismus beschrieb, jedoch zugleich ein Missverständnis der Zeitgenossen markierte, welche glaubten, durch den Wandel der Verhältnisse oder zumindest der Mitarbeiterschaften der Einrichtungen – insbesondere an Erziehende aus Ordensgemeinschaften bzw. Diakonissenhäusern/Brüderschaften war gedacht – gleichsam diesen austreiben und durch eine liebende Zuwendung ersetzen zu können.220 Dies misslang aus zweierlei Gründen. Einmal waren die Mitarbeiter, die in der nationalsozialistischen Zeit gleichsam mit dem Erziehungsmittel des 219

220

Vermerk über die Besichtigung von FE- und FEH-Heimen in Rheinland-Pfalz v. 8.11.1962, HStA Düsseldorf, NW 648 Nr. 98. Vgl. Faßoldshof (Werner) an Stadtjugendamt Nürnberg (Dir. Staudt) v. 19.3.1949, in: StAN, Abg. 1978 Nr. 6798.

ERZIEHUNGSMITTEL UND ZÜCHTIGUNG

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Schlagens bei Disziplinproblemen groß geworden waren, angesichts des Personalmangels der Einrichtungen nicht einfach ersetzbar – hinzu kamen oft lokale Verwobenheiten mit dem sozialen Umfeld der Einrichtungen, welche einen Austausch hemmten. Zudem verfehlte diese Ansicht die Wahrnehmung der langen Tradition der Sozialdisziplinierung in der Jugendfürsorge, welche zumindest als gleichsam letztes Mittel immer auch die Züchtigung vorgesehen hatte. Hiermit befanden sich die schlagenden Erzieher im Einvernehmen mit einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem in Familien oder in der Schule ebenfalls Schläge als Strafe verteilt wurden. Der in Skandalen um einzelne Heime verschiedentlich gehörte Hinweis auf eine Mäßigung beim Schlagen war insofern verräterisch, weil er immer ein unhinterfragbares Züchtigungsrecht im Allgemeinen voraussetzte und offensiv verteidigte. So ließ das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1947 die Züchtigung an den Volksschulen wieder zu, nachdem diese zunächst im Juni 1946 in Abkehr von der nationalsozialistischen Züchtigungspraxis verboten worden war.221 Als Anlass dieses Erlasses des bayerischen Kultusministers Hundhammer wurde eine Umfrage unter Eltern erklärt, die mit einer Mehrheit von 61,2 % zu 38,8 % zum Ausdruck gebracht hatte, dass „sie die Anwendung der körperlichen Strafe nicht unbedingt ausgeschlossen wissen wollen“.222 So wurde die körperliche Züchtigung bei Jungen erlaubt, wenn „alle anderen Erziehungsmittel versagt haben“ zur „Aufrechterhaltung der Schuldisziplin, bei schweren Verfehlungen, insbesondere bei grober Unbotmäßigkeit oder Roheit“. Mädchen blieben in jeder Form hiervon ausgenommen. In diesem Klima einer ultima ratio der körperlichen Züchtigung durfte man auch in den Heimen keine Überwindung des „nationalsozialistischen Prügeldämons“223 erwarten. In einem Erlass vom März 1948 beklagte das Landesjugendamt Züchtigungen durch Handwerksmeister und Erzieher wie auch die Praxis des Haareabschneidens. Es bat die Regierungen von Mittel- und 221

222

223

Handhabung des Züchtigungsrechts an den Volksschulen, in: Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Nr. 9 v. 5.7.1947 (Bekanntmachung Nr. IV 25 227 v. 30.6.1947 des Bay. Staatsministeriums für Unterricht und Kultus in: KMBl. 1947, 66 mit Bezug auf Erlass v. 5.6.1946, in: KMBl. 1946, 48), in: ELKAN, DW Bayern 1630. Aufruf an die Lehrer und Lehrerinnen der bayerischen Volksschulen (Staatsminister für Unterricht und Kultus, Alois Hundhammer v. 30.6.1947), in: Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Nr. 9 v. 5.7.1947, in: ebd. So die Formulierung in: Faßoldshof (Werner) an Stadtjugendamt Nürnberg (Dir. Staudt) v. 19.3.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952.

120

ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

Oberfranken um Überprüfung und Abstellung dieser Strafmethoden.224 Die Belege für Züchtigungen in bayerischen Heimen, die von Seiten Dritter auch beklagt worden sind, waren zahlreich. In den aktenmäßig dokumentierten Fällen handelt es sich oft um besonders schwere Fälle, die zu Ermittlungen von Jugendämtern oder gar der Kriminalpolizei geführt haben.225 Der oft gewaltsame Alltag in den Heimen, der vom rüden Umgangston bis kleinen Knuffen, Schlägen etc. reichte, findet sich darin überwiegend nicht abgebildet. Dieser wird z. T. nur in Interviews mit ehemaligen Heimkindern sichtbar und bleibt ansonsten unbelegt. Der Fassoldshof war eine Einrichtung, die bereits aus ihrer Vorzeit während des Nationalsozialismus eine stark körperstrafende Erziehungstradition mitbrachte. Der neue Anstaltsleiter versuchte zwar nach eigener Angabe, die körperstrafende Züchtigung zurückzudrängen und meinte bereits Fortschritte darin gemacht zu haben, doch erklärte er 1948: „Wenn in einigen Fällen auch bei uns notorische ständige Ausreißer und unverbesserliche Streuner sich eine kurze Haartracht gefallen lassen mußten, so soll der Betreffende dadurch nicht bestraft, sondern vor weiterem Streunen bewahrt werden. Dabei hat hier in Fassoldshof eine völlig unbeeinflußte, nach demokratischen Vorschriften durchgeführte, geheime und schriftliche Abstimmung unserer Zöglinge ergeben, daß diese selbst in überwältigender Mehrheit für die Berechtigung einer solchen Maßnahme in Ausnahmefällen entschieden haben.“226 Diese Äußerung verweist allerdings eher auf die Gewohnheit und Internalisierung der körperstrafenden Disziplinierung bei den Kindern und Jugendlichen, die von der Anstalt als vermeintlich „demokratische“ Entscheidung verkauft wurde. Abschließend vermerkte der Anstaltsleiter: „Dabei vergessen wir nicht, daß in der Bibel die Züchtigung in jeder erlaubten Form als eine sehr heilsame Erziehungsmethode von Gott selbst uns Erziehern in die Hände gegeben wird (Hebr. 12, Vers 5-14).“ 224

225

226

LJA an Regierung von Mittel- und Oberfranken v. 4.3.1948, in: Archiv Faßoldshof, Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“ (vgl. auch: StAN, Abg. 1978 Nr. 6798). Siehe die Beispiele in den Beiträgen zu den einzelnen Heimen und an entsprechender Stelle. Fassoldshof (Werner) an Kreisjugendämter Kulmbach u. Lichtenfels v. 9.4.1948, in: StAN, Abg. 1978 Nr. 6798 [auch in: Fassoldshof, Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“].

ERZIEHUNGSMITTEL UND ZÜCHTIGUNG

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Ein Skandal über eine Züchtigung im Fassoldshof führte 1949 zu einem in Nürnberg auch verhandelten politischen Skandal, der im wenig später stattfindenden Rückzug von Anstaltsleiter, leitender Diakonisse und Anstaltsarzt seine vorläufige Lösung fand.227 In der Einrichtung Martinsberg in Naila hatte in der direkten Nachkriegszeit ebenfalls unter der Leitung eines Diakons der Rummelsberger Brüderschaft eine stark disziplinierende Anstaltserziehung stattgefunden. Der dort zu Beginn der 1950er Jahre untergebrachte Richard Sucker berichtet von Schlägen bei den kleinsten Verfehlungen, die mit einem Ochsenziemer ausgeführt wurden.228 Auch nach der Umgestaltung zu einem heilpädagogischen Heim im September 1953229 fand der neue psychologische Leiter die körperliche Züchtigung auf das nackte Gesäß nicht verwerflich und verteidigte diese sogar noch im Rahmen der Ermittlung einer kirchlichen Kommission.230 Eine Untersuchungskommission, die auf Grund von Vorwürfen des Jugendamtes Schweinfurt in das von einem Rummelsberger Diakon geleitete Erziehungsheim Marienthal entsandt worden war, stellte nicht nur fest, dass die Atmosphäre im Heim schlecht war und die Hauseltern einen überforderten Eindruck machten. Auch der leitende Diakon blieb im Gespräch uneinsichtig. Dass „er nicht mehr körperlich züchtigen darf, wollte ihm unbedingt nicht eingehen, so dass es ihm strikte verboten werden musste – er weiss wohl nicht, wie unangenehm sein Redepathos wirkt. Laut anmassend, unnatürlich, im besten Fall grossväterlich, jedenfalls nicht wie es einem Hausvater ansteht und einem Erzieher von Kindern wirkt seine Redeweise, in ihrem ostpreussischen Dialekt, für uns doppelt fremd.“ Man meinte zwar, dass die Vorwürfe der Kinder überzogen seien, doch hatte der Hausvater mit einem Lineal geschlagen und Ohrfeigen verteilt. Die Mädchen im Heim wurden für Putzarbeiten verwendet und ersetzten die Dienstboten.231 227 228

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Siehe zum Faßoldshof Kap. 5.4.4. Sucker, Der Schrei zum Himmel, bes. S. 56-81; Interview mit Richard Sucker (25.8.2010). Auszüge aus den Übersichtsbogen des Ev. Erziehungsverbandes per 30.11.1953, in: EKLAN, DW Bayern 1608. Vgl. Ev. Erziehungsverband Bayern (Nägelsbach) an EREV v. 15.5.1953, in: ADW, EEV 326; Bericht über Prüfung der Verhältnisse im heilpädagogischen Kinderheim Martinsberg (Naila) durch Ratz, Dr. Schaubert (Rummelsberg) u. Naegelsbach am 5.5.1955 und „Dr. Hennicker erhielt 300 u. 500 Mk. Geldstrafe“ (Nailaer Zeitung Nr. 118 v. 2.10.1956), in: ELKAN, DW Bayern 1966. Betr. Erziehungsheim Marienthal (Diakon Grau, Konrektor Naegelsbach v. 24.5.1962), in: ELKAN, DW Bayern 1631.

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Auch im Jugendheim Rummelsberg gelang es nur nach und nach, die alten Disziplinierungsmittel wie Strafzellen und die körperliche Züchtigung zurückzudrängen. Horst Fiedler (Jg. 1933), der von 19511953 als Vorpraktikant und seit 1960 als stellvertretender Leiter im Jugendheim der Rummelsberger Anstalten arbeitete, berichtet über das raue Klima, in dem er sich Anfang der 1950er Jahre als junger Erzieher hatte zurechtfinden müssen. Hier waren auch noch entsprechende Strafen wie die Ausgabe von Anstaltskleidung an rückgeführte, zuvor entwichene Zöglinge mit blauen und weißen Hosenbeinen, das Scheren der Haare etc. üblich, die erst nach und nach von dem Erziehungsleiter und Dipl.-Psychologen Hugo Schaubert überwunden werden konnten.232 Auch das ehemalige Heimkind Richard Sucker (Jg. 1934), der nach eigenen Angaben im Heim Martinsberg/Naila vom Heimleiter, einem Rummelsberger Diakon, streng bestraft und schwer gezüchtigt worden war, berichtet auch für das Jugendheim der Rummelsberger Anstalten zu Beginn der 1950er Jahre über Schläge, die er durch einen Diakon erhalten hat.233 Weitere Hinweise finden sich in Beschwerden von Eltern, die sich in Akten erhalten haben. So stellte eine Pflegefamilie 1956 fest, dass ihr Pflegesohn Peter, der in der Landwirtschaft beschäftigt war, vom Hausvater „mit der Faust vier Nierenschläge bekommen“ habe und merkte an: „Wir haben nichts dagegen, wenn Peter wegen Ungehorsam einige Ohrfeigen bekommt, nehmen aber schärfsten Protest über Bestrafungen, die sich gesundheitsschädigend auswirken können.“234 Dies sind nur einige Beispiele aus einer Reihe von Fällen, die in den Mikrostudien für die Einrichtungen Fassoldshof und Herzogsägmühler Heime im Anstaltskontext im Detail beschrieben werden. Im Gefolge des Skandals im Faßoldshof hielt Ernst Nägelsbach als Vorsitzender des evangelischen bayerischen Erziehungsverbandes auf der nächsten Mitgliederversammlung im Januar 1950 einen Vortrag über „Strafen im Erziehungsheim“. Er konstatierte entgegen den Anfragen in der Presse, dass der Erzieher auch das „Strafamt“ ausüben müsse. „Wir brauchen uns nicht von denen scheel ansehen zu lassen, die da von straffreier Erziehung sprechen und auch über die Körperstrafe kann und muss noch diskutiert werden.“ Dennoch betonte er, dass bereits Comenius einen Erzieher, der schlage, mit einem Musiker verglichen habe, der sein un232 233 234

Vgl. die Angaben im Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 26f. Vgl. Sucker, Der Schrei zum Himmel, S. 81f.; Interview Richard Sucker (25.8.2010). Familie Saballus an Dr. Schaubert v. 20.10.1956 (Abschrift), in: ELKAN, DW Bayern 1611.

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gestimmtes Instrument mit Fäusten bearbeite. So gebe es auch keine biblische Begründung für Körperstrafen (Sprüche 22, 15 könne mit 5. Mose 21, 18-21 gekontert werden). Er habe die Hoffnung, dass solche zukünftig ausgemerzt werden können. Die christliche Erziehung habe aber den „Menschen unter dem Evangelium mit dem Gesetz zu erziehen.“ Da könne „die Strafe nicht fehlen“.235 Auch in vielen katholischen Heimen dürften in den ersten Nachkriegsjahrzehnten körperliche Züchtigungen der dort betreuten Jugendlichen zur Normalität gehört haben. Wenn offenbar etwa Direktor Hennerfeind bereits Ende der 1920er Jahre für die Einrichtungen in Trägerschaft der KJF München solche Strafen strikt untersagte und auch nach 1945 für diese Ausrichtung stand, stellt sich doch die Frage, welche Auswirkungen diese Verbote im Alltag hatten, zumal hier anscheinend auch unterschiedliche Maßstäbe etwa hinsichtlich der Verabreichung von Schlägen unter den Erziehenden bestanden. Schließlich spielte auch die permanente Überbelastung der Schwestern eine Rolle, die immer wieder zu Überreaktionen führen konnte.236 Andere Heime wie etwa das Piusheim besaßen zudem hinsichtlich der Anwendung von Strafen eine bedenkliche Tradition, an die in den 1950/60er Jahren angeknüpft wurde. Hier war nach wie vor der „Alltag im Heim durch strikte Disziplinierung, physische Gewalt und Arreststrafen geprägt – mit den bekannten Konsequenzen: erneut wurde über ständige Entweichungen geklagt, wieder war die Leitung des Hauses mit der Gefahr von offenen Revolten konfrontiert.“237 Darüber hinaus befand sich 1955 ein Erzieher des Hauses, „ein sonst äusserst fähiger Mensch“, wegen Sittlichkeitsvergehen „in Untersuchungshaft“, was der damalige Direktor als einen „der härtesten Schläge, die mich während meines Hierseins betroffen“ haben, bezeichnete.238 Die Tendenz zu einer körperstrafenden Pädagogik bestand in Bayern weiter, was sich in der Verteidigung des Züchtigungsrechts in verschiedenen Konfliktfällen spiegelte. In einem Rundschreiben des Evangelischen Erziehungsverbands in Bayern am 7. Juli 1956 meinte man, im Gefolge des bereits erwähnten Falles Zeven und der Debatte über eine Verschärfung der Heimaufsicht festhalten zu müssen: 235

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Strafen im Erziehungsheim (Nägelsbach v. 26.1.1950) [gehalten bei Mitgliederversammlung v. 17.1.1950], in: ELKAN, DW Bayern 1605. Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 53f. Ebd., S. 115. Direktor des Piusheims an DiCV München v. 30.11.1955, in: Archiv des DiCV München, Verbandsakten Nr. 25-3.

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„1. Eine zuchtvoll gehandhabte und in wenigen besonderen Fällen geübte Körperstrafe widerspricht nicht den Grundsätzen einer christlichen Erziehung. Infolgedessen wollen wir für unsere Heime ein generelles und unbedingtes Verbot der Körperstrafe nicht aufstellen. 2. Andererseits haben übereilte und verfehlte körperliche Strafen schon viel Unheil angerichtet und viel dazu beigetragen ein mühsam gewonnenes Vertrauen der Öffentlichkeit zu den Heimen immer wieder zunichte zu machen. Besonders unerfahrene und noch nicht ausgebildete Erzieherkräfte sind in sehr grosser Gefahr, durch körperliche Strafen und ihren Missbrauch Jugendlichen, sich selbst und der Sache zu schaden. 3. Deshalb wird es allen Heimen zur strengsten Pflicht gemacht, bei körperlichen Strafen die strengste Zurückhaltung zu beobachten und auf keinen Fall über das für die Volksschule zulässige Mass und Strafe hinauszugehen. Eine unumgängliche körperliche Strafe darf nur der Heimleiter, die Heimleiterin oder deren Stellvertreter vollziehen. Den anderen Erzieherkräften ist jede Körperstrafe zu verbieten. Dieses Verbot ist durch die Erzieherkräfte schriftlich zu bestätigen.“239 Auch in den Folgejahren blieb die Züchtigungsmöglichkeit durch den Anstaltsleiter die ultima ratio der Beeinflussung unzugänglicher Zöglinge, wenn auch ein Rückgang des Züchtigungsthemas und ein Anwachsen der Diskussionen über weniger autoritäre Erziehungskonzepte in den Akten bemerkbar ist. Die Möglichkeit der körperlichen Züchtigung zumindest als Drohung aufrecht erhalten zu können, wurde von den Einrichtungen wie dem Evangelischen Erziehungsverband vehement verteidigt. Zuletzt sichtbar wurde dies angesichts der Beschlusses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 24. September 1969, der eine obligatorische Führung des sogenannten „Erziehungsbuches“ – hier mussten verhängte Strafen eingetragen werden – vorsah. Dieser Beschluss war ohne Fühlungnahme mit den konfessionellen Spitzenverbänden erfolgt. Der Evangelische Erziehungsverband meinte: „Für jedes Heim, das solch ein Buch führen müsse, stelle dies eine Diskriminierung der Arbeit dar.“ Was solle mit Jugendlichen geschehen, bei denen die erlaubten Mittel nicht reichen, wurde gefragt.240 239

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Rundschreiben des Ev. Erziehungsverbands in Bayern v. 7.7.1956, in: ELKAN, DW Bayern 1604. Niederschrift der Arbeitsausschusssitzung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 12.11.1969 (Bräuer), in: ELKAN, DW Bayern 1617 (auch in: 1601).

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Erziehungsmittel – Rechtslage, Praxis und Theorie in Niedersachsen Als das Landesjugendamt in Hannover anlässlich eines Vorfalls in einem niedersächsischen Erziehungsheim Anfang 1951 keinen neueren Erlass des Kultusministeriums über das Züchtigungsrecht als den Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom Juli 1935 ermitteln konnte – dieser hatte das Züchtigungsrecht entgegen vorheriger Bestimmungen stark ausgeweitet – fragte es beim Ministerium an, ob die seit 1946 für Schulen bestehenden Bestimmungen auch für die Kindergärten, Heime und Fürsorgeerziehungsheime verbindlich seien. Da man die Situation für Heime, insbesondere auch für Fürsorgeerziehungsheime, wesentlich anders sah und mittlerweile verschiedene „Sonderfälle“ vorlagen, bat es das zuständige Kultusministerium um einen Erlass über das Züchtigungsrecht in Heimen.241 Parallel sind aus dem Frühjahr 1951 auch Beschwerden über Züchtigungen in Heimen in Niedersachsen überliefert, welche zusätzlich die Dringlichkeit einer Regelung unterstrichen. So beschwerten sich im Frühjahr 1951 die Eltern eines 16-jährigen Mädchens aus Bremen, das in der Pestalozzistiftung in Großburgwedel untergebracht war, über Prügelstrafen und wandten sich an die KPD-Zeitung „Tribüne“. Auch das Jugendamt in Bremen unterstützte die Beschwerde mit der Beobachtung einer Fürsorgerin, wonach ein besuchter Junge ebenfalls davon gesprochen habe, dass „oft und willkürlich geohrfeigt würde, ‚ehe man begriffen hat, was man soll, hat man schon eine kleben‘.“242 Die Nachprüfung ergab, dass das Kind bei der Befragung durch Anstaltsleiter Badenhop, die Oberschwester und die Erzieherin zwar nicht mehr behauptete, verprügelt worden zu sein, doch habe sie am Ende des vergangenen Jahres zwei „Klapse“ von der Küchenleiterin und Gruppenerzieherin erhalten, die beide als „berechtigt“ anerkannt worden seien.243 Der Verweis auf die vermeintliche Verlogenheit des im Elternhaus misshandelten Kindes, die „in ihrer psychischen Eigenart“ liege, markierte dabei die standardmäßige Rechtfertigungsstrategie der Heime. Und dennoch gab das Heim dabei die erwähnten „Klapse“ zu, weil es hierzu kein Unrechtsbewusstsein besaß. Ähnlich agierte das zu den Kästorfer Anstalten gehörende Heim Rischborn auf Beschwerden: „Le241

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LJA an Kultusminister v. 16.2.1951 betr. Züchtigungsrecht in Fürsorgeerziehungsheimen, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 91. Jugendamt Bremen an LJA Hannover v. 27.3.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc 34/93 Nr. 5. Pestalozzistiftung Großburgwedel an LJA v. 14.4.1951, in: ebd.

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diglich einige Jungen hätten dann und wann eine Ohrfeige erhalten. Das sei bei der Feldkolonie passiert, wo hier und da ständig Widersetzlichkeiten von einigen Jungen vorgekommen seien.“ Anstaltsleiter Müller sah in den Vorwürfen eine Verleumdung, gegen die er sich gar gerne mit einer Klage wehren würde.244 In dem dann im Juli 1951 veröffentlichten Erlass des Kultusministers über „Erziehungsmaßnahmen in Erziehungsheimen und Kinderheimen“ hieß es u. a.: „1. Körperliche Züchtigungen an Mädchen dürfen nicht mehr ausgeübt werden. 2. Körperliche Züchtigungen gegenüber Jungen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt werden, z. B. bei außergewöhnlicher Rohheit oder schwerer Widersetzlichkeit. Sie sind außerdem nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn andere Strafen ohne erzieherische Wirkung geblieben sind. 3. Schläge an den Kopf, Puffen, Kneifen, Ziehen an den Ohren und Haaren sind verboten. 4. Jede einmal ausnahmsweise vorgenommene körperliche Züchtigung ist umgehend dem Heimleiter (Heimleiterin) mitzuteilen. Der Leiter (Leiterin) hat die körperliche Züchtigung in eine Liste mit dem Namen des Erziehers (Erzieherin) einzutragen. Die Liste ist dem Landesjugendamt in Abständen von 6 Monaten vorzulegen.“ [Hervorhebung im Original]245 Zudem sahen ergänzende Bestimmungen vor, dass der Erlass regelmäßig mit dem Erziehungspersonal besprochen werden sollte, eine Liste des Anstaltspersonals regelmäßig dem Landesjugendamt vorzulegen war und die Bestimmungen auch in die Heimordnungen zu übernehmen waren. Die Heime waren jedoch mit diesen reglementierenden Bestimmungen keineswegs einverstanden, wie sich auf einer Heimleiterkonferenz im Februar 1952 zeigte: „Der Erlaß des Kultusministeriums vom 25.7.1951 wurde zunächst von Pastor Badenhop scharf kritisiert. Er verliere sich in Kleinigkeiten und die Aufnahme der Bestimmungen in die Hausordnung sei unmöglich. Es gäbe eben eine ‚ungeschriebene Hausordnung‘, und man sei sich in allen Heimen völlig darüber einig, daß die Prügelstrafe kein 244

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Rischborn (P. Müller) an LJA v. 8.11.1951, in: ebd. Auch das LJA meldete an das Kultusministerium, dass die Vorwürfe wenig Substanz besäßen und nach Aussage des Jugendamtes die Mutter viel Umgang mit Kommunisten habe, weswegen kein Anlass vorliege, „dem Erziehungsheim Rischborn Vorwürfe wegen Mißhandlungen von Fürsorgezöglingen zu machen“. LJA an Kultusminister v. 23.11.1951, in: ebd. Zit. n. Archiv Stephansstift 1549 (ich danke Ulrike Winkler für die Zurverfügungstellung des Wortlauts des Erlasses). Vgl. auch HHSA, Nds. 120, Hannover, Acc. 34/93 Nr. 5; Hans-Walter Schmuhl, Die doppelte Buchführung in Freistatt, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 211-228, hier S. 212.

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pädagogisches Mittel sei. Immerhin müsse man zwischen einem Klaps und einer körperlichen Züchtigung unterscheiden, nach seiner Ansicht sei der Erlaß rückständig und in dieser Form untragbar.“ Der Leiter des Stephansstiftes und ehemalige Leiter des Landesjugendamtes, Johannes Wolff, kritisierte, dass der Erlass im Gegensatz zu früheren Zeiten „nicht von einem Vertrauen zwischen den Erziehungsheimen und der Fürsorgeerziehungsbehörde zeuge“. Oberregierungsrat Spitta bestand zumindest auf das Führen eines Strafbuchs in jedem Heim, in das „jede erteilte Ohrfeige und sonstige Züchtigung sofort eingetragen werden“ müsste, wohingegen er die Vorlage der Strafliste im Abstand von sechs Monaten „nicht für unbedingt erforderlich“ hielt. Bei den Revisionen sollten die Strafbücher geprüft werden. Er beschrieb den Erlass nicht als „Schikane“ gegen die Heime, sondern sah ihn als „Schutz für die Erzieher, falls sie in echtem Zorn einen Zögling geschlagen haben“. Auch den Jugendlichen – bei Kindern könne davon abgesehen werden – seien die Bestimmungen bekannt zu geben.246 Den Heimen gingen diese Auflagen des Landesjugendamtes zu weit. So bemühten sich sowohl das Stephansstift wie auch der Birkenhof in Hannover festzustellen, dass die eigene Praxis den nun angemahnten Bestimmungen bereits seit längerer Zeit entsprechen würde.247 Allerdings wollten weder der Birkenhof noch die Heime in Freistatt oder das Linerhaus in Altencelle die Übernahme in eigene Heimordnungen durchführen, teilweise weil gar keine fixierten Heimordnungen bestanden.248 Nur das Ostfriesische Erziehungsheim Großefehn gab eine veränderte Heimordnung zur Kenntnis, wonach es in der Regel keine, ansonsten nur in „besonderen Ausnahmefällen“ körperliche Züchtigungen gebe.249 Das Mädchenheim Schloss Wollershausen sandte ebenfalls seine Heimordnung ein, ohne den entsprechenden Wortlaut zu kennen.250 Auf die konkrete Erziehung scheint sich der Erlass hier jedenfalls noch nicht nachhaltig ausgewirkt zu haben. Denn die Heimleiterin Beckmann hat246

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Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 4.2.1952 im Erziehungsheim Rischborn, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Stephansstift (Wolff ) an LJA v. 1.9.1951 und Birkenhof (Pf. Wasmuth) an LJA v. 26.9.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc 34/93 Nr. 5. „Zwei Erzieherinnen, die trotzdem körperlich straften, sind fristlos entlassen worden.“ (so im Birkenhof). Linerhaus an LJA v. 15.9.1952, Freistatt an LJA v. 3.10.1951 und Birkenhof (Pf. Wasmuth) an LJA v. 26.9.1951, in: ebd. Großefehn (Thümmel) an LJA v. 29.9.1951, in: ebd. Wollerhausen an LJA v. 27. 9.1951, in: ebd.

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te vermutlich Ende 1951 zwei Mädchen geohrfeigt, was beim Landesjugendamt bekannt wurde. Nach Mitteilung an das Kultusministerium besprachen die Mitarbeiter bei einer am 24./25. Januar 1952 erfolgten Revision des Heims durch das Landesjugendamt den Fall „eingehend mit den betreffenden Mädchen und Frl. Dr. Beckmann“. Dabei legten beide Mädchen „betont Gewicht darauf, dass von der Sache nicht weiterhin gesprochen werde. Offensichtlich empfanden sie die Bestrafung als berechtigt und wünschten, daß die Angelegenheit damit als absolut abgeschlossen betrachtet werden möchte. […] Frl. Beckmann wurde von uns sehr eingehend und ernst darauf hingewiesen, daß alle körperlichen Strafen an Mädchen und insbesondere Ohrfeigen durch Ihren Erlaß vom 25.7.1951 – V/644/51 – unbedingt verboten sind und dass sich Vorfälle wie diese nunmehr auf keinen Fall mehr wiederholen dürfen. Frl. Beckmann versprach ausdrücklich, dem Erlaß des Kultusministeriums in Zukunft voll Rechnung zu tragen. Da die Handlungen deutlich affektiv zur Bestrafung ‚schwerer Widersetzlichkeiten’ und zur Brechung offenen Widerstandes geschahen, scheint uns eine Strafverfolgung nicht in Frage zu kommen. Wir bitten daher, die Sache durch unsere Ermittlungen und Besprechungen in Wollershausen und durch diesen Bericht als vorläufig abgeschlossen zu betrachten.“251 Nachdem der Direktor der Johannesburg, Pater van der Zanden, im Herbst 1951 auf Anfrage des Landesjugendamts nur davon gesprochen hatte, den Erlass mit dem gesamten Erziehungspersonal eingehend besprochen zu haben252, verfasste sein im folgenden Jahr ins Amt gekommener Nachfolger, Pater Güldenberg, 1953 eine Heimordnung, die ausführlich auf den Bereich körperliche Züchtigung einging. Inwieweit dies eine Reaktion auf den Züchtigungserlass war, blieb allerdings unklar.253 Im Frühjahr 1952 schob das Landesjugendamt noch einen ergänzenden Erlass nach, in dem festgelegt wurde, dass eine halbjährliche Prüfung entweder durch einen Beauftragten des Landesjugendamtes oder aber durch Einsendung der Strafliste erfolgen sollte. Als Personal, dem die Regelung über die Züchtigung bekannt zu machen sei, galten 251

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LJA an Kultusminister v. 5.2.1952, in: ebd. Nach „schwierigen Ereignissen“ verließ Dr. Beckmann offenbar 1955 Schloss Wollershausen, obwohl es Caritasdirektor Sendker „gerne gesehen [hätte], wenn Sie doch noch länger dort geblieben“ wäre. (Sendker an Dr. Beckmann v. 20.9.1955, in: BAHI, DiCV, Hildesheim Nr. 740. Antwort P. van der Zandens v. 2.10.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc 34/93 Nr. 5. Heimordnung für die Mitarbeiter des Jugendheimes Kloster Johannesburg v. 20.3.1953, in: Archiv Johannesburg, Ordner Dokumente aus dem Heimalltag.

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danach auch die „Wirtschaftsleiterin, Küchenleiterin, Meister, Erziehungspraktikanten usw., nicht aber Küchenmädchen, Gesellen, Gehilfen und Arbeiter“.254 Ganz offen machte das Schreiben des Leiters des Stephansstiftes an das Landesjugendamt im Sommer 1952 gegen die Bestimmungen Front. Hierin berichtete der Leiter Johannes Wolff nicht nur über die Belehrung des Personals über die Bestimmungen des Erlasses, sondern beklagte erneut die Praxisferne und Undurchführbarkeit der Bestimmungen. Er beschrieb darin als Beispielfall einen Ausflug, bei dem von einer Jungengruppe sechs entwichen waren, von denen drei von einem Betreuer gestellt und ins Heim zurück gebracht werden konnten. Die anderen drei waren noch flüchtig. Der Hausvater des Knabenhofes, Lehrer Wöbking, habe „jedem dieser 3 Jungen 2 Stockschläge auf das Gesäss verabfolgt, die auch wie vorgeschrieben, in der Strafliste eingetragen worden sind. Er hat damit genau genommen, gegen die Erlasse des Herrn Ministers verstossen, in welchem es in Ziffer II ausdrücklich heißt, dass körperliche Züchtigungen gegenüber Jungen nur dann ausnahmsweise zulässig sind, wenn andere Strafen ohne erzieherische Wirkung geblieben sind.“ Doch bei der Frage nach anderen Mitteln werde der Erzieher „im Stich“ gelassen. Bei nur einer „Verwarnung“ hätten die Jungen auf ihrer Gruppe nach Meinung von Wolff mit ihrer Entweichung geprahlt. Insofern habe der Lehrer richtig gehandelt, gleich zum Stock zu greifen. „Der Lehrer Wöbking hat hierbei meine Zustimmung gefunden, und ich spreche das ausdrücklich aus.“255 Die Strafpraxis in den Heimen war durch diese amtlichen Versuche der Einschränkung der körperlichen Züchtigungen letztlich offenbar kaum zu beeinflussen, zumal sich noch Ende der 1950er Jahre das Landesjugendamt „bei der augenblicklichen personellen Besetzung nicht in der Lage“ sah, „seine unabweisbare Pflicht zu erfüllen, den Einsatz des Erzieherpersonals in den Erziehungsheimen, denen es seine Zöglinge anvertraut, regelmäßig zu überprüfen.“256 Insbesondere in Heimen für erziehungsschwierige männliche Jugendliche, wie in der „Endstation Freistatt“, ist dies umfangreich dokumentiert worden.257 In der Pestaloz254

255

256 257

Vgl. Erlass des Kultusministers v. 9.4.1952, in: Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen, 4. Jg., Heft 5, Hannover 15.5.1952, S. 105 (wir danken Frau Kirchberg von der Universität Göttingen für die Zurverfügungstellung des Wortlauts). Stephansstift (Wolff ) an LJA v. 26.8.1952, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc 34/93 Nr. 5. LJA an Kultusminister v. 13.1.1959, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc 34/93 Nr. 4. Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt.

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zistiftung in Großburgwedel kam es 1956 offenbar zu einer Züchtigung mit dem Stock auf das nackte Gesäß durch einen Erzieher, der bereits zwei Jahre zuvor durch Schläge aufgefallen war. Der Vorfall führte allerdings zu seiner Entlassung. In einem Vermerk an den Leiter der Einrichtung und Vorsitzenden des Verbandes der Erziehungsheime, Johannes Badenhop, hielt das Landesjugendamt fest: „Wenn auch die Tendenz der Stiftung und wohl aller mit neuzeitlichen sozialpädagogischen Methoden arbeitenden Heime dahingeht, körperliche Züchtigungen auszuschalten, so schliesst das leider nicht aus, dass einzelne Personen dieser Tendenz und den bestehenden gesetzlichen Geboten entgegen handeln, wie das Landesjugendamt gerade an zentraler Stelle Gelegenheit zu beobachten hat.“258 Bei dieser Gelegenheit wurden auch „einige Backpfeifen“ durch den Vorsteher selbst zum Thema, was andeutet, dass die körperlichen Strafen keineswegs eine Ausnahme darstellten.259 Auch im Mädchenheim Birkenhof wurde entgegen den Bestimmungen und den Behauptungen in frühen Revisionsberichten, dass „Bestrafungen [...] nicht erfolgt“260 seien, nach Aussage Ehemaliger körperlich bestraft.261 So wurde 1958 vom Birkenhof an das Landesjugendamt eine Strafliste zurückgereicht „mit der Ergänzung der Namen derer, die die körperlichen Züchtigungen vorgenommen haben. Desgleichen wurde der Sichtvermerk nachgeholt. […] Bei der ständigen Belegung von 220 Mädchen und dem häufigen Wechsel einerseits und der dortigen immerhin oft zögernden Haltung, uns in schwierigen Fällen ein hier nicht tragbares Mädchen bald abzunehmen, halten wir die erfolgten 10 körperlichen Züchtigungen innerhalb eines halben Jahres nicht für übertrieben hoch, zumal die Erziehungssschwierigkeiten bei den eingewiesenen Jugendlichen im Laufe der letzten Jahre doch erheblich zugenommen haben.“262 Die Übertretung des eindeutigen Verbotes der Züchtigung von Mädchen wurde offensiv mit dem Vorwurf des Versäumnisses des Landesjugendamtes abgewehrt, die Mädchen rechtzeitig zu verlegen. Ein Umstand, der die starke Position des Heimes gegenüber der behördli258

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Vermerk an Vorsteher Pestalozzistiftung v. 9.1.1956, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 2001/024 Nr. 37. Vermerk v. 9.1.1956, in: ebd. Bericht über die Besichtigung des Mädchenheims Birkenhof in Hannover-Kirchrode am 4.3.1953, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7. Siehe Hinweise bei Nicola Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50/60er Jahren im Birkenhof, Hannover 2009, S. 21-23. Birkenhof (Hesse) an LJA v. 19.9.1958, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7.

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chen Aufsichtsstelle unterstreicht. Die Erzieherinnen weigerten sich, solch schwierige Mädchen in ihrer Gruppe zu behalten. Das Landesjugendamt regte daraufhin die Schaffung einer „Sondergruppe“ an, um durch die Aussonderung zumindest den Einfluss auf die anderen Minderjährigen zu minimieren, zumal eine Verlegung wegen der deutschlandweit bestehenden Unterbringungsschwierigkeiten für schulentlassene Mädchen nicht durchgeführt werden konnte.263 Wenige Monate später berichtete eine Notiz über einen Besuch von Vertretern des Landesjugendamtes, dass eine „Rückkehrer-Familie“ wieder bestehe und sich die neue „Familie 12“ seit einigen Wochen „in abgeschlossener Etage in Haus V“ befinde. Die Mädchen lebten dort überwiegend in Einzelzimmern und „müssen Heimkleidung“ tragen.264 Die in diesem Beispiel zu Tage tretende zunehmende Repression war nicht nur eine Ausnahme gegenüber Mädchen.265 Der Vorsteher Johannes Badenhop aus der Pestalozzistiftung züchtigte wiederholt Mädchen und rechtfertigte dies als ‚letztes Mittel‘, wie es 1959 in einem Vermerk festgehalten wurde. „Er betonte, daß er ganz sicher nicht in Leidenschaft und auch nur dann schlage, wenn alle anderen Erziehungsmittel ohne Erfolg gewesen seien. Als letztere gab er für die Mädchen an, daß sie keine Sonntagskleider tragen dürfen, die Jungen erhalten keine Prämien, außerdem werde Kinoverbot erteilt.“266 Charakteristisch für die bereits frühe Problematisierung von Strafmitteln neben der körperlichen Züchtigung war ein Rundschreiben des Kultusministerium an die Heime für schulentlassene Fürsorgezöglinge vom Februar 1950 über die Verwendung von Isolierzellen: „Ist es richtig, einen ungebärdigen Zögling ‚zur Besinnung‘ in einem Einzelzimmer einzuschliessen? Der Gedanke ist dabei wohl, dass in der 263

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Birkenhof (Hesse) an LJA v. 22.1.1959 und LJA an Vorsteher des Birkenhofs v. 28.1.1959, in: ebd. Notiz über den angemeldeten Besuch im Mädchenheim Birkenhof am 1.9.1959, in: ebd. Vgl. z. B. Revisionsbericht über die Pestalozzistiftung Großburgwedel am 13.5.1954, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 2001/024 Nr. 37. Über „nur“ einen Strafbucheintrag wurde berichtet: „Christa S., ein 17jähriges primitives Mädchen, mußte, weil sie sich störrisch und widersetzlich zeigte, die Arbeit verweigerte und nicht essen wollte, um einen Schock zu erzielen, gestraft werden mit drei Klapsen auf die Wange. Die Wirkung trat sofort ein und Christa konnte von ihrem störrischen Wesen vorübergehend befreit aus ihrer Isolierung entlassen werden. [...] Kleine Klapse, die als momentane Schockwirkung bei den Kindern nicht zu vermeiden sind, werden dem Vorsteher von den Erziehern gemeldet und die Situation begutachtet, da es sich um keine wesentlichen und schweren ‚Züchtigungen‘ handelt, waren sie nicht eingetragen.“ Aktenvermerk v. 16.4.1959, in: ebd.

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ENTWICKLUNGEN UND DEBATTEN DER KONFESSIONELLEN HEIMERZIEHUNG

Isolierung der junge Mensch sich selber finden soll. Aber ist nicht gerade die Krankheit unserer schwer erziehbaren Zöglinge, dass sie dieses Selbst nicht finden können? Packt sie nicht, allein mit sich selbst, nur die Angst vor der Leere und Öde im eigenen Innern? Sollten die Reaktionen, das Toben, das Lärmen, die Selbstmordversuche und Selbstmorde nicht ernst zu denken geben? Ist die Isolierung zum Brechen von Trotzreaktionen notwendig? Kann ein exaltierter, hysterischer junger Mensch sich beruhigen, wenn er allein ist? Ist es richtig, entwichene Zöglinge bei ihrer erneuten Einlieferung grundsätzlich zunächst zu isolieren? Wie lange darf Isolierung dauern?“ Das Kultusministerium legte fest, dass die Verantwortung für eine solche Maßnahme nur der Anstaltsleiter tragen sollte. In dem Isolierraum musste eine Klingel oder ein Fallzeichen etc. vorhanden sein, damit der Zögling mit dem Erzieher in Verbindung treten konnte.267 Die meisten Heime dürften Isolierungszimmer oder „Besinnungsstübchen“ besessen haben. So war im Birkenhof in Hannover im Haupthaus „im obersten Stock ein kleines schräges Zimmer mit gesichertem Fenster als ‚Besinnungsstube‘ eingerichtet“.268 Man hatte zudem 1958 einen zweiten „Isolierraum im Neubau“ im Kellergeschoß des Verwaltungsgebäudes neben den Archivräumen errichtet. „Der Raum ist mit Stuhl und Liege ausgestattet, hat ein über der Erde liegendes Fenster mit undurchsichtigen, unzerbrechlichem Glas. Es ist durch ein Gitter nach draußen geschützt. Durch dieses Fenster kann ausreichend frische Luft in den Raum zugeführt werden.“269 Und das Frauenheim Himmelsthür schrieb 1955: „Das Frauenheim hat für die gesamte Erziehungsabteilung ganze 2 Einzelzimmer, in denen Mädchen, die in gröblichster Weise gegen die Heimordnung verstossen haben, für kurze Zeit – gewöhnlich nur 24 Stunden – isoliert werden. Gleichzeitig werden diese Zimmer benutzt, um Jugendarreste, die von Gerichten verhängt wurden, durchzuführen.“270

267

268

269

270

Niedersächsischer Kultusminister an die Heime für schulentlassene Fürsorgezöglinge v. 31.1.1950, in: HAB, Birkenhof 131. Bericht über die unangemeldete Besichtigung des Mädchenheimes Jöhrenstr. 16, des Birkenhofes und des Lydiahauses, Hinüberstr. am 17.1.1958, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Birkenhof (Hesse) an LJA v. 19.9.1958, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7. Frauenheim Himmelthür an LJA v. 23.7.1955, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66.

ERZIEHUNGSMITTEL UND ZÜCHTIGUNG

133

Wie die Antworten auf eine Rundfrage des Landesjugendamts vom Herbst 1955 zeigten, bestanden in der Frage des Jugendarrests allerdings bei den Leitungen der Erziehungsheime unterschiedliche Auffassungen über den pädagogischen Nutzen dieser Maßnahme. So sollte nach Meinung von Pater Güldenberg, Direktor der Johannesburg, der Jugendarrest nicht im Heim, sondern in einer Jugendarrestanstalt vollzogen werden, da ansonsten das Heim den Charakter einer Arrestanstalt erhielte.271 Dagegen sprach die Leiterin des Mädchenheims Schloss Wollershausen, in dem bislang viermal solche Strafen vollstreckt worden waren, in allen Fällen von einer feststellbaren positiven Wirkung, da die Mädchen „ihre Opposition“ aufgaben und dann einen „guten Willen“ zeigten, „sich in die Gruppe“ einzuordnen. Dabei war für den Arrest „ein Raum mit einfacher Möblierung hergerichtet“, der „ein Bett mit Matratze und Wolldecke, einen Stuhl und einen Schemel zum Abstellen des Essgeschirres“ enthielt. „Die Verpflegung entsprach an den leichteren Tagen der üblichen Heimverpflegung; an den drei strengeren Tagen entfiel das 2. Frühstück; die anderen Mahlzeiten wurden an diesen Tagen knapper gehalten. Die Jugendlichen wurden während des Arrestes mit Handarbeiten beschäftigt. (Das Haus führt Strickaufträge für verschiedene Firmen aus) Als Lesestoff wurde jeweils ein geeignetes Buch aus der Heimbücherei gegeben.“ Allerdings betrachtete sie den JugendArrest nicht als grundsätzlich anwendbare Methode, da es oftmals besser sein dürfte, „die Jugendliche aus der Heimerziehung nicht zu entfernen. Die Isolierung aus der Gruppe wird – in Verbindung mit einem Erziehergespräch – oft genügen, um das Mädchen zur Einsicht zu führen. Im Falle hartnäckiger Verstocktheit kann jedoch der Strafvollzug in der Jugendarrestanstalt einen heilsamen Schock auslösen. Wann die eine oder andere Art des Vollzuges angebracht erscheint, müsste u. E. vom Richter während der Verhandlung zu beurteilen sein.“272 Auch wenn von den Heimen bei Revisionen oder in Beschwerdefällen immer wieder die nur seltene Benutzung dieser Räume behauptet wurde, so sprechen die Erinnerungen der Betroffenen hier eine andere Sprache.273 271

272

273

Antwort P. Güldenbergs v. 19.10.1955, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 145/86 Nr. 21. Antwort des Mädchenheims Schloss Wollershausen v. 26.10.1955 v. 5.10.1955, in: ebd. Vgl. hierzu die Beschreibungen bei Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof, S. 21-23.

134

EINLEITUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK

GESCHICHTE UND IHRE SUBJEKTIVE VERARBEITUNG

135

4. Die Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Mitarbeitern als Pfadfinder für eine problematische Geschichte 4.1 Interviews als Quelle für Geschichte und ihre subjektive Verarbeitung

D

ie im Rahmen des Projektes geführten Interviews dienen zur Korrektur wie auch zur Ergänzung der aus den Akten zu gewinnenden Ergebnisse. Sie machen zudem die subjektive Seite der Heimerziehung deutlich. So meldeten sich kurz nach dem veröffentlichten Beginn der Studie in wachsender Zahl Betroffene und ehemalige Erzieher direkt bei der Universität bzw. den Projektmitarbeitern. Diese wollten einerseits „ihre Geschichte“ als eine Kompensation für die lange fehlende Beachtung ihrer Schicksale erzählen. Denn sowohl die Träger der Heime als auch sie selbst haben angesichts der drohenden gesellschaftlichen Entwertung über die Verhältnisse in den Heimen geschwiegen. Andererseits berichteten sie auch interessante Aspekte über den Heimalltag, die eine historische Auswertung geboten erscheinen ließen. Die Oral History beschreibt zwei Funktionen, die Interviews in der historischen Annäherung besitzen1: 1. Interviews dienen als Quellen über Bereiche, die ansonsten in der Aktenüberlieferung nicht auftauchen. Im vorliegenden Fall der Geschichte der konfessionellen Heimerziehung sind sie als ergänzende oder manchmal auch einzige Überlieferung über den Heimalltag und individuell erlebte Besonderheiten von hohem Wert. Weder in Besichtigungsberichten der Heimaufsichtsbehörden noch in Heimordnungen lassen sich konkrete Informationen über die Bedeutung der Gefüge in den jeweiligen Wohngruppen für ehemalige Heimkinder finden. Aber gerade diese Strukturen spielen in den geführten Gesprächen mit Betroffenen eine ebenso große Rolle wie z. B. der enge Ordnungsrahmen. Gerade für schwächere „Zöglinge“ konnte diese „Hackordnung“ den Heimalltag außerordentlich negativ beeinflussen. Auch über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen der Minderjährigen in den Heimen – positive wie negative – halten sich die schriftlichen Quellen oftmals bedeckt, da hier eher Angaben zum Umfang der Ausbildungs- und Ar1

Siehe nachfolgend auch die Beschreibungen bei Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 517-520.

136

DIE INTERVIEWS

beitsmöglichkeiten abgebildet sind. Schließlich scheint es für die im Heim untergebrachten Kinder und Jugendlichen auch im urteilenden Rückblick großes Gewicht zu haben, ob sie unter den Mitarbeitern eine feste Bezugsperson gefunden haben. Dieser wichtige Aspekt für ein differenziertes Bild der Heimerziehung ist ebenfalls häufig nur im Rahmen einer Zeitzeugen-Befragung zu ermitteln.2 2. Interviews und ihre Auswertung beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit der Verarbeitung von Geschichte, der Veränderbarkeit der Selbstdeutungen von Menschen. Das zum Zeitpunkt eines Interviews Berichtete liegt bereits länger zurück und erhält seine Formung durch verschiedene Filter. Die rückblickende mündliche Erzählung ist nur eine von vielen Quellen, die neben den zeitnäheren Formen wie Tagebücher, Briefe etc. existiert.3 Erinnerung erhält erst durch die Einflüsse der dazwischen liegenden Zeit ihre Form und Beständigkeit. Die mündlich produzierten Lebenserinnerungen spiegeln Wahrnehmungen, Interpretationen und Erfahrungsmuster wider, die bei der wissenschaftlichen Analyse nicht ausgeblendet werden dürfen. Der prinzipielle Unterschied zwischen historisch rekonstruierter Wirklichkeit und der sie abbildenden Quelle ist durchaus kein Merkmal der Oral History. Mündliche Erinnerungen dienen, wie andere Quellen auch, als „Überreste“ zur Rekonstruktion von Geschichte in einem Prozess des Spurenlesens.4 Sie bedürfen der Kritik wie andere Quellen auch. Die Überlagerungen, Deckerinnerungen und konstituierenden Prozesse der Erlebniswahrnehmung, Erlebnisverarbeitung und erzählenden Rekonstruktion sind ein wichtiger Bereich in der methodischen Diskussion über die Oral History.5 Die biographische Forschung weist 2

3

4

5

Klaus Esser, Die retrospektive Bewertung der stationären Erziehungshilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Wirkungsorientierung, Diss., Köln 2010; ders., Zwischen Alptraum und Dankbarkeit. Ehemalige Heimkinder kommen zu Wort, Freiburg i. Br. 2011. Siehe als Überblick über die Interpretation verschiedener Quellen Bernd Rusinek (Hg.), Die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn 1995, bes. S. 13-79. Siehe hierzu die Bemerkungen bei Lutz Niethammer, Oral History, in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1994, S. 189-210; vgl. aus der Perspektive der Gedächtnisforschung: Harald Welzer, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: BIOS 13 (2000), S. 51-63; ders. (Hg.), Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001; ders., Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. Vgl. Lutz Niethammer,: Fragen-Antworten-Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hg.), „Wir

GESCHICHTE UND IHRE SUBJEKTIVE VERARBEITUNG

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darauf hin, dass es nicht nur kollektive Muster der Erinnerung gibt, sondern ebenso Orientierungen am biographischen Gesamtkonzept des sich Erinnernden sowie an Formtraditionen der gesellschaftlichen Kommunikation (z. B. Lebenslauf, Beichte, ärztliche oder pädagogische Anamnese). Die Interviewpartner greifen auf einen Fundus von Erzählfiguren und kollektiver Geschichtentradition zurück. Zudem existiert eine Differenz von Ereignis, Erlebnis und Erinnerung. Ereignisse werden erst in der Wahrnehmung und im Erlebnis Einzelner konstituiert. Erlebnisse wiederum werden in den lebensgeschichtlichen Erzählungen aus einer Perspektive der Gegenwart erinnert.6 Da ein lebensgeschichtliches Interview ein Interaktionsprozess zwischen Interviewtem und Interviewer ist, sind diese an der Produktion der Quellen beteiligt. In diesem Zusammenhang kann im besten Fall von einer kreativen Rolle des Interviewers für den Interviewprozess gesprochen werden, von „Mäeutik“ (Geburtshelferkunst), die im philosophischen Sinne durch geschicktes Fragen die Antworten hervorbringt, die dem Befragten vorher nicht klar waren.7 Im schlechtesten Fall kann es aber auch zu einer Störung der Kommunikation kommen, in der die Beziehungsaspekte der Kommunikation die Inhaltsaspekte überlagern. Annette Lützke, die in ihrer Studie zur Heimerziehung für Mädchen die Auswertung zahlreicher Fürsorge-Akten mit Interviews mit neun ehemaligen weiblichen Heimkindern verbindet – dabei waren nur Frauen zu einem Gespräch bereit, die sich nach dem Heimaufenthalt im Leben „bewährt“ hatten –, berichtete etwa über unterschiedliche Strategien im Umgang mit den Ereignissen in der eigenen Heimerzie-

6

7

kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1939 bis 1969, Bd.3, Berlin/Bonn 1985, S. 392-445; Alexander Geppert, Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History, in: GWU, 45 (1994), S. 303-323, bes. S. 313ff.; Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M./New York 1995. „Indem sich die Erinnerung auf ein vergangenes Erlebnis bezieht und damit auf das Gesamtsystem der möglichen Perspektiven verweist, unter denen sich das Erlebnis für den Erinnernden darbieten kann, also auch auf die Perspektive kurz nach dem Erleben, wirkt die Vergangenheit auf die Gegenwart ein.“ Gabriele Rosenthal, Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Daten, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 125-138, hier S. 132. Vgl. Herwart Vorländer, Mündliches Erfragen von Geschichte, in: ders. (Hg.), Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, S. 7-28, hier S. 18f.

138

DIE INTERVIEWS

hung. Vollständige Abspaltung und starke Verdrängung im privaten Bereich bestimmten hier nicht selten den Blickwinkel.8 Carola Kuhlmann, die für ihre Studie die Interviewpartner/innen über eine Tageszeitung gesucht hatte und ehemalige Heimkinder wie auch Erzieher befragte, betont die Ambivalenz mancher Erzählungen. So wurden das Aufwachsen und die Arbeit im Heim innerhalb eines Interviews positiver und dann auch wieder negativer erinnert. Das Heim galt sowohl als „Knast“ wie auch kurze Zeit später als Ort, an den der Erzählende nach der Entlassung wieder zurück wollte. „Im Verlauf einiger Interviews präzisierten die Befragten auf Nachfragen die widersprüchlichen Erinnerungen und viele bekannten sich auch zu ihren bis heute ambivalenten Gefühlen.“9 Es gilt daher zu beachten: Lebensgeschichten verweisen sowohl auf die sie prägenden Ereignisse in der Vergangenheit wie auf die Deutungsmuster in der Gegenwart der Zeitzeugen, die sie konstruieren. Es bleibt deshalb geboten, die erzählten Erlebnisse zu analysieren, um die Mechanismen ihrer Auswahl aus dem Gedächtnis und die Art ihrer Darbietung zu verstehen. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Problematisierung, aber auch der Chancen einer Annäherung an das Thema mit den Mitteln der Oral History, sind lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Erziehenden geführt worden, die im Hintergrund von einem spezifischen Leitfaden mitbestimmt waren. Hierin ging es um Fragen der Heimankunft, des Erlebens im Heim, der Disziplinierungen, der Ausbildung, besonderer Ereignisse etc. In der Praxis können Interviews sowohl lebensgeschichtlich wie auch leitfadengestützt sein. Um die Relevanz der erzählten Geschichten für die gesamte Biographie der Interviewten bestimmen zu können, bietet sich ein lebensgeschichtlicher Ansatz an, der durch einen Leitfaden thematisch entsprechend zu vertiefen ist. Im Ablauf wurde idealtypisch von drei Phasen ausgegangen – einer offenen Phase, einer Nachfragephase und einer durch den Leitfaden bestimmten Phase, welche nicht bereits im Gesprächsverlauf behandelte Themenfelder abdecken sollte.10 8 9

10

Annette Lützke, Öffentliche Erziehung, S. 444. Carola Kuhlmann, „So erzieht man keinen Menschen!“ Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, Wiesbaden 2008, S. 39; siehe auch dies., Erfahrungsrekonstruktionen Erzogener und Erziehender in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 337-353. Vgl. zur Beschreibung dieses Vorgehens Roswitha Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher

GESCHICHTE UND IHRE SUBJEKTIVE VERARBEITUNG

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Bei der Auswahl der Interviewpartner ist nicht nach Kriterien einer vermeintlichen ‚historischen Gerechtigkeit‘ verfahren worden, die möglichst viele Menschen oder besonders schwere Schicksale zu Wort kommen lässt.11 Hier galt es vielmehr, eine qualitative Auswahl zu treffen, die sich an Kriterien orientiert, die durch die Auswertung des Aktenmaterials als vermeintlich typische Betroffene oder als systematisch fehlend in anderer Überlieferung identifiziert werden konnte. Auch die Erfahrungen der Erziehenden sind dabei einbezogen worden. Dieser Blickwinkel erscheint vor dem Hintergrund der bislang sich abzeichnenden historischen Situation des Personalmangels in den Einrichtungen eine wichtige, und weiter zu vertiefende Zusatzperspektive zu sein, die bislang auch in den öffentlichen, stark opferzentrierten Debatten über das Themenfeld kaum Berücksichtigung gefunden hat. Angestrebt wurde bei der Auswahl der ehemaligen Heimkinder eine ausgewogene konfessionelle wie auch Geschlechterverteilung, eine regionale Streuung und eine Verteilung auf Einrichtungen, die Minderjährige mit unterschiedlichen Graden von Erziehungsschwierigkeiten versorgten. Ähnlich galt es, möglichst in Anlehnung an vorherige Aktenrecherchen, bei denen gute, durchschnittliche oder ausgesprochen schlechte Rahmenbedingungen etwa bezüglich der räumlichen Begebenheiten, der Anzahl und Qualifikation der Erziehenden oder der Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für die Minderjährigen herrschten, Interviewpartner zu gewinnen. Bisherige Auswertungen von Oral History-Projekten zu anderen Themen wie auch zur Erfahrungsgeschichte der Heimerziehung12 verweisen

11

12

Interviews, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte, S. 199-222, bes. S. 204-209. Die Schaffung von Kommunikationsgelegenheiten für Opfer historischer Ungerechtigkeiten kann nicht das primäre Ziel historischer Forschung sein. Dies muss im vorliegenden Themenfeld der Heimerziehung den Einrichtungen bzw. Verbänden der konfessionellen Träger aufgetragen bleiben, die sich hier nicht von einer Betreuungsaufgabe entlasten können. Siehe neben den beispielhaften Befragungen bei Carola Kuhlmann und Annette Lützke: Fontana, Spuren der Heimerziehung in den Biographien von Frauen; Andreas Gatzemann, Die Erziehung zum „neuen“ Menschen im Jugendwerkhof Torgau. Ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis, Berlin 2008, bes. S. 109-170; Hans-Walter Schmuhl, „Papst Leo“, „Blondi“, Karpfen“ und die anderen. Fürsorgeerziehung in Freistatt aus der Sicht der Zöglinge, in: Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 153-216, bes. 159f.; Schmuhl/Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe, S. 29-165; Sarah Banach, Lebenserinnerungen ehemaliger Heimkinder, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 515-536; Schäfer-Walkmann/ Störk-Biber/Tries, Die Zeit heilt keine Wunden, bes. S. 113-238.

140

DIE INTERVIEWS

zudem auf die so genannte „Sättigung“ im Interviewmaterial, die es erlaubt, auch mit kleinen Zahlen zu führender Interviews valide Aussagen zu treffen.13 Dies gilt es auch gegen eine Scheinrepräsentativität der Führung einer großen Zahl von Interviews festzuhalten, denn nicht nur die Bildung einer entsprechend großen Gruppe von Interviewten ist arbeitstechnisch unmöglich, auch die Ansprechbarkeit potentieller Interviewpartner stellt eine Einschränkung dar. So gilt es zu reflektieren, dass sich gerade diejenigen ehemaligen Heimkinder zu Interviews über die zum Teil belastenden und stigmatisierenden Erlebnisse in der Heimerziehung bereit finden, die diese Zeiten in ihre Lebenserzählung in irgendeiner Form integrieren können. Diejenigen, die diese Form des Umgangs nicht erreicht haben, womöglich auch eine Retraumatisierung durch ein solches Interview in einem bewusst nicht therapeutischen Setting befürchten, melden sich nicht oder es kommt in der Interviewsituation zu einem Abbruch.14 Auch bei den ehemaligen Erziehenden sind besonders diejenigen zu Interviews bereit, die eher gute Erfahrungen gemacht haben und sich entweder nichts vorzuwerfen haben oder aber in der Lage sind, eigenes oder fremdes Fehlverhalten in der Erziehungshilfe zu benennen und in ihre (Berufs)biographie zu integrieren. Insgesamt ist die Führung von elf Interviews mit ehemaligen Heimkindern aus aktenmäßig beforschten wie auch nicht beforschten Einrichtungen und sechs Interviews mit ehemaligen Erziehenden aus entsprechenden Einrichtungen gelungen. Die Interviews wurden volltranskribiert und stehen als Sammlungsbestände in den Archiven des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin und des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg für Forschende zur Verfügung. Die Interviews mit den Betreffenden haben auf diese Weise ähnlich wie Akten als Überlieferung Eingang in professionell verwaltete Archive gefunden. Die Interviewten hatten die Möglichkeit, sich im Interview zu anonymisieren. Dann wurde ihnen ein Aliasname gegeben. Nur vier ehemalige Heimkinder machten von dieser Möglichkeit Gebrauch.

13

14

Lutz Niethammer spricht dabei vom Erfahrungswert von fünf bis fünfzehn Interviews aus denen sich „gesättigte Verlaufstypen“, die eine Auswertung erlauben, herauspräparieren lassen. Vgl. ders., Oral History, S. 208. In verschiedenen der geführten Interviews kam es zu Unterbrechungen auf Grund der starken affektiven Erregung der Interviewten, die verstummten, in Tränen ausbrachen oder für eine kurze Pause vor dem Interview durch einen Gang an einen anderen Ort in der Wohnung flohen. Siehe auch das Beispiel für zwei abgebrochene Interviews in Henkelmannn u.a., Verspätete Modernisierung, S. 521.

ERINNERUNG UND BOTSCHAFT EHEMALIGER HEIMKINDER

141

Bei den elf ehemaligen Heimkindern erstreckt sich die Spannweite der Jahrgänge der Interviewten von 1932 bis 1963, wobei der Schwerpunkt mit sechs Interviewpartner/innen auf den Jahrgängen 1940-1947 liegt. Die damit bezeichnete Generation der Kriegskinder litt besonders unter unvollständigen bzw. auseinandergerissenen Familien und die durch Evakuierung, Flucht und Vertreibung schwierigen sozialen Verhältnisse, die noch durch eine teilweise diskriminierende Behandlung durch ‚Einheimische‘ verstärkt worden sind. Die Heimaufenthaltszeitbereiche erstrecken sich von 1933 bis 1978 mit dem Schwerpunkt auf den Jahren bis 1960. Vier von elf Interviewten waren auch noch nach 1960 in Jugendhilfeeinrichtungen. Bei den sechs Erziehenden, die zu Interviews bereit waren, umfassten die Geburtsjahrgänge die Jahre 1933 bis 1938. Die vier Männer und zwei Frauen waren also entsprechend älter als die ehemaligen Heimkinder. Die Tätigkeitszeiten in der Heimerziehung lagen überwiegend nach dem Jahr 1960, zwei hatten bereits zuvor angefangen, in diesem Bereich zu wirken. Bei fünf von diesen handelt es sich um in Brüderoder Schwesterngemeinschaften bzw. katholischen Ordensgemeinschaften sozialisiertes und ausgebildetes Personal. Die tabellarische Aufstellung auf den folgenden beiden Seiten gibt genaueren Aufschluss über Geschlecht, Jahrgänge, Einrichtungen und Tätigkeits- bzw. Aufenthaltszeiten der Interviewten.

4.2 Differenzierte Erinnerung und eindeutige Botschaft ehemaliger Heimkinder In der Heranziehung der Interviews als Quelle für Alltagssituationen in den Einrichtungen, die entweder selten überlieferte Hinweise auf konkrete soziale Situationen im Erziehungsalltag erbringen oder auch mit vorhandenen schriftlichen Überlieferungen korrespondieren, steht der historische Informationsgehalt im Vordergrund. Trotz der dazwischenliegenden Zeiten und den Faktoren, die hier Einfluss auf die Erinnerungsbildung gehabt haben, erwiesen sich die mitgeteilten Details in vieler Hinsicht als differenziert und keineswegs nur von der Perspektive geformt, ein möglichst schlimmes eigenes Schicksal zu beschreiben. Im Gegenteil waren die „Geschichten“ und „Anekdoten“ ganz überwiegend mit einem durch andere Quellen (Akten, Berichte anderer Zeitgenossen etc.) gezeichneten Bild in Übereinstimmung zu bringen.15 Die Ungenauigkeit in Details, einzel15

Siehe hierzu auch die in den Mikrostudien zitierten Interviewpassagen.

142

DIE INTERVIEWS

Ehemalige Heimkinder Geschlecht

Jg.

männlich

1932

männlich

1933

männlich

1933

weiblich

1940

männlich

1940

weiblich

1943

weiblich

1944

weiblich

1945

männlich

1947

weiblich

1957

weiblich

1963

Heime Johannesburg/Niedersachsen ab 1935 in Kinderheimen in Schlesien, ab 1945 in Bayern, 1946 bis ca. 1948 im Kinderheim Martinsberg (Naila), ab ca. 1948 im Jugendheim in Rummelsberg (bei Nürnberg) 1933-1943 Waisenhaus St. Joseph in Dortmund-Eving/ NRW 1943-1946 Marienburg Coesfeld/NRW 1943 ½ Jahr Haus Widey bei Paderborn/NRW 1947-1958/59 Kloster vom Guten Hirten in Münster/ NRW 1947 Neudüsselthal in Düsseldorf/NRW, 1948 Wolf an der Mosel, 1951 Kinder- und Jugendpsychiatrie Bonn, 1951-1953 Kinder- und Jugendheim Oberbieber, 1953-1955 in Familienpflege bei Bauern, danach Haushaltsstellen Johannesburg/Niedersachsen, Kurzfristig Jugendwohnheim Osnabrück, zuletzt in Außenfürsorge im Münsterland (als Fahrer des Fürsorgers) Dorotheenheim der Diakonissenanstalt Friedehorst in Bremen-Lesum 1955; Jugendpsychiatrie in Wunsdorf 1956; ab Sommer 1956 Birkenhof in Hannover; 1958 Jugendgefängnis Vechta (bis ca. 1960) Kinderheim Haus Hoheneck in Essen-Heidhausen/ NRW 1953 in Pflegestelle zu einem Bauern, 1956-1960 Linerhaus in Altencelle/Niedersachsen, 1960/61 Dienststellen, 1961/62 Birkenhof in Hannover, danach Haushaltsstellen 1955 Neudüsselthal in Düsseldorf/NRW, 1958 in Pflegestelle bei Bauern, 1965 Lehrlingsheim Zoppenbrück (Altdüsselthal) in Düsseldorf 1962 städtisches Kinderheim in Morsbach, 1967-1974 städtisches Kinderheim Küllenhan in Wuppertal, 1975-1977 Jugendwohnheim der Diakonie Aprath in Wuppertal 1977-78 Birkenhof in Hannover/Niedersachsen

Funktion/ Zeitraum Heimkind 1947-1949

Heimkind 1935-1954

Heimkind 1933-1954

Heimkind 1947-1953 Heimkind 1956, 19571960 Heimkind 1955 bis ca. 1960 Heimkind 1948-1959 Heimkind 1956-1960, 1961-1962 Heimkind 1955-58 u. 1965

Heimkind 1962-1977 Heimkind 1977/78

ne Fehlerinnerungen (insbesondere hinsichtlich einer Datierung), Zusammenziehungen und Verdichtungen mancher Erlebnisse sprechen dabei nicht gegen eine grundsätzliche Glaubwürdigkeit, ja sie erhöhen diese sogar hinsichtlich des Kerns des Berichteten. Die erzählerische Rekonstruktion des Vergangenen gibt diesem erst eine Form und einen Sinn.

143

ERINNERUNG UND BOTSCHAFT EHEMALIGER HEIMKINDER

Erziehende Geschlecht

Jg.

Heime

Funktion/Zeitraum

männlich

1933

Jugendheim Rummelsberg, Fassoldshof in Mainleus/Bayern Mädchenheime der Diakonissenanstalt Düsseldorf-Kaiserswerth/NRW

Heimerzieher, Diakon (seit 1947) Heimerzieherin, Diakonisse 1958-1969 1963/64 Praktikant (Sozialarbeit Freiburg) 1973 Leiter Schulheim 1977 Erziehungsleiter 1984-2000 Direktor

weiblich

1934

männlich

1934

Johannesburg/Niedersachsen

weiblich

1934

1950-1954 Handelsschule und Bürotätigkeit 1955-1957 Noviziat im Guten Hirten in Münster/NRW 1962-1965 Höhere Fachschule für Sozialarbeit 1966 Erziehungsleiterin einer Gruppe beim Guten Hirten in Münster 1967 Heilpäd. Kindergarten in Berlin 1968-2009 Provinzökonomin 1977-1980 Oberin im Guten Hirten in Ibbenbüren

männlich

1938

Fassoldshof in Mainleus/Bayern

männlich

1938

Johannesburg/Niedersachsen

Schwester vom Guten Hirten Heimerzieherin 19651998 Ökonomin 1968-2009

Heimerzieher, Diakon ab 1961 bis 1988, dann Altenheimleiter Herz-Jesus-Missionar/ Priester 1967-1982 Erzieher

Im Verlauf des Erzählprozesses offenbart der Erzählende oft mehr, als ihm oder ihr bewusst ist. Der Gestaltschließungszwang, also eine Geschichte zu Ende zu bringen, ein Ereignis oder eine Entscheidung plausibel zu machen, wirken auf die Erzählenden.16 Zudem fordern auch die Interviewenden die Erzählenden immer wieder bewusst oder unbewusst auf eine Weise heraus, die das Interview zum Ergebnis einer kooperativen Anstrengung machen. Dabei können „latente Sinnstrukturen“ offenbar werden, die sich theoriegeleiteter Interpretation erschließen.17 Für das Feld der Erziehung im Heim kann zudem auf sozialpsychologische Theorien über die Wirkungen „totaler Institutionen“ oder tiefenpsychologische Theorien über Wirkungen gewalttätiger Erzie16

17

Fritz Schütze, Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien, Bielefeld 1977. Ulrich Oevermann, Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Hans-

144

DIE INTERVIEWS

hungspraxen zurückgegriffen werden. Die Schäden einer gewaltsamen Unterwerfung von Kindern für deren psychische Entwicklung hat u.a. Alice Miller beschrieben, die von Psychosen, psychosomatischen Erkrankungen bis zu weniger schwerwiegenden, doch ebenfalls belastenden Folgen wie mangelndes Selbstbewusstsein, tiefe Schamgefühle und das Gefühl, nicht liebens- und lebenswert zu sein, reichen.18 Die Lebensgeschichten der Interviewten sind vor dem Hintergrund der eigenen Heimzeit rekonstruiert. Diese war das entscheidende Kriterium für einen Kontakt mit dem Projekt. Manche der Interviewten engagieren und organisieren sich in Vereinen oder Internetforen um das Thema Heimerziehung und tauschen ihre Geschichten aus.19 Andere sind im Rahmen der Debatte über die Heimerziehung Gegenstand von Medienberichten geworden oder haben gar, wie z. B. Richard Sucker, ein eigenes Buch über ihre Heimzeit verfasst.20 Alle haben versucht, ihr Schicksal und damit die Heimerziehung generell aus dem Vergessen der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte zu holen. Die so fokussierte Konstruktion der eigenen Biographie trägt eine eindeutige Botschaft, die zum Teil in den Interviews auch offen formuliert wird: es soll Zeugnis abgelegt werden, die Umstände der eigenen Demütigung dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Teilweise wird dies auch mit expliziten Entschädigungsforderungen verknüpft. Dennoch sind die präsentierten Lebenserzählungen keine einlinigen Leidensgeschichten, die nur anklagend daher kommen. Sie sind differenziert hinsichtlich der Wahrnehmung des eigenen Schicksals. Neben der Erinnerung an demütigende und bedrückende Zustände stand oft auch die Erinnerung an zumindest einzelne Bezugspersonen, denen man zwischenzeitlich vertraute, die sich für einen eingesetzt oder einen zu einer Berufsausbildung geführt haben. Dies verweist auf die persönliche Stärke der Interviewpartner, denen es gelungen ist, persönlichkeitsverhindernde oder gar –zerstörende Einflüsse zu überstehen und diese in ein biographisches Gesamtkonzept einzuordnen. Bereits Carola Kuhlmann hat in ihrer auf Interviews basierenden Studie zur Heimerziehung der

18

19

20

Georg Soeffner, Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352-433. Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/Main 1980; siehe auch Kuhlmann, Erfahrungskonstruktionen, S. 342f. So haben sich z. B. Frau Fast und Frau Kerste im sogenannten „Birkenhof-Forum“ engagiert. Sucker, Schrei zum Himmel. Josef Dorsten machte über einen Zeitungsartikel auf sein Schicksal aufmerksam.

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1950/60er Jahre einige der Folgen erkennbar gemacht, die aus einer Deprivation im Elternhaus und in der Heimerziehung bestanden.21 Die Gefühle des „Unbedeutend-Seins“, der „systematischen Demütigung des Ichs“, auf die der Sozialpsychologe Erving Goffman als Produkt von „totalen Institutionen“ hingewiesen hat, spielen dabei eine zentrale Rolle. 22 Die nachfolgenden vier Beispiele ehemaliger Heimkinder sollen die angesprochenen Aspekte im biographischen und historischen Zusammenhang exemplifizieren. Dieter Schmidt wurde 1947 in Wuppertal geboren. Er hat insgesamt sieben Geschwister bzw. Halbgeschwister, die er allerdings erst in den letzten Jahren kennengelernt hat. Er war das außereheliche Kind seiner Mutter und kam im Kleinkindalter bereits zu Pflegeeltern in Wuppertal. Seine Pflegemutter soll eine Freundin der leiblichen Mutter gewesen sein. Als die Pflegemutter 1954 an Krebs erkrankte und starb, kam er ins städtische Kinderheim Küllenhan und von dort 1955 ins Kinderheim Neudüsseltal in Düsseldorf-Wittlaer. In der Pflegefamilie trug er den Nachnamen des Pflegevaters. Sein richtiger Name wurde ihm erst bei der Heimeinweisung eröffnet. Dem Pflegevater wurde die Adoption auch nicht genehmigt, als er später mit einer neuen Frau verheiratet war. Dieter Schmidt war im Wege der Freiwilligen Erziehungshilfe zunächst in Neudüsseltal und ab Ende 1958 als Pflegekind bei einem Bauern in Erder/Kalletal an der Weser untergebracht. „Ja, und in diesem Kinderheim Neudüsseltal, in Düsseldorf Kaiserswerth, hab ich an und für sich an das Heim direkt auch nur gute Erinnerungen. Nach meiner Ansicht haben sich die Erzieher auch immer sehr um das Wohl ihrer Untertanen gekümmert. Doch, das haben se wirklich. Ja, und, wie gesagt, mein Pflegevater besuchte mich auch regelmäßig. Auch nach dem Tod der Pflegemutter. Und, äh, eine sehr nette Erzieherin hat es mir dann noch ermöglicht, dass ich meine Pflegemutter noch mal sehen durfte. Was ja nicht so im Interesse des Jugendamtes lag, wie ich im Nachhinein so annehmen musste laut dieser Erfahrungen und so weiter. Wahrscheinlich hatte sie auch deswegen Schwierigkeiten bekommen.“23 Dieter Schmidt musste mit der Heimeinweisung im Alter von acht Jahren einen Identitätswechsel vornehmen. Ihm wurde eröffnet, dass er 21 22 23

Kuhlmann, Lebens- und Berufserinnerungen, S. 167-171. Goffman, Asyle, S. 25. Interview Dieter Schmidt (1.9.2009), Transkript, S. 1.

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anders hieß und jemand anderer sei, als er glaubte. Was ihm noch eine gewisse Sicherheit vermittelte, war die aufrecht erhaltene Beziehung zu seinem Pflegevater. Dass ihm die Erzieherin im Heim ermöglichte, hier den Kontakt sogar zu seiner Pflegemutter noch einmal zu haben, rechnet er ihr hoch an. Nach seiner Erinnerung ist er im Heim nicht geschlagen worden oder hätte nicht heraus gedurft. Dennoch verweist der von ihm gebrauchte Begriff des „Untertanen“ für die Heimkinder auf das autoritäre Abhängigkeitsverhältnis zu den Erziehern. Sind seine Erinnerungen an das Heim eher positiv, so sind seine Erinnerungen an die Zeit beim Bauern sehr negativ gefärbt. Schwere Arbeit auf dem Bauernhof bei dem autoritären Hausherrn ließ ihn häufiger auch in körperliche Auseinandersetzungen geraten. Dies lässt ihn im Rückblick die Heimzeit umso unbeschwerter erinnern. Von der Frau des Bauern fühlte er sich dagegen angenommen. Er wurde regelmäßig von einer Fürsorgerin – womöglich der Außenfürsorgerin der Düsselthaler Anstalten – besucht. So fand er im Lauf der Zeit in der öffentlichen Erziehung immer wieder Bezugspersonen, die ihn wertschätzten und die er mochte. Er beendete in Erder zunächst die Volksschule und machte dann eine Lehre als Maurer und später als Fliesenleger. Nach Abschluss der Lehre kehrte er 1965 nach Düsseldorf zurück, lebte im Lehrlingsheim Zoppenbrück (Altdüsseltal) und arbeitete als Geselle auf Baustellen. Er nahm wieder Kontakt zu seinem ehemaligen Pflegevater in Wuppertal auf, was ihm sein Amtsvormund verbieten wollte. Dieter Schmidt meldete sich 1965 freiwillig als Zeitsoldat zur Bundeswehr – nach eigenen Angaben, um der Gängelung durch das Jugendamt zu entgehen. Nach der Probezeit schied er aus der Bundeswehr aus, kehrte nach Wuppertal zurück und lebte kurz bei seinem ehemaligen Pflegevater. Doch verstand er sich nicht mit diesem und tauchte nachfolgend unter, um bis zu seiner Volljährigkeit einer befürchteten Aufsicht durch das Jugendamt bzw. den Amtsvormund zu entgehen. Er arbeitete dann ohne Papiere auf verschiedenen Baustellen u.a. in Frankfurt/Main und lernte später seine Frau kennen, mit der über 40 Jahre verheiratet ist. Sie haben einen Sohn. Dieter Schmidt arbeitete bis zu seinem Ruhestand als Fliesenleger. Dieter Schmidt hat versucht, sein Schicksal zu recherchieren, doch sind leider viele Dokumente in Einrichtungen oder Jugendämtern nicht mehr vorhanden. Vorwürfe für sein elternloses Aufwachsen in Heimen und Pflegestellen macht er rückblickend seiner Mutter, die nach seiner Fantasie aus „asozialen Verhältnissen“ stammte, doch auch dem Jugendamt, das ihn nicht über seine Herkunft aufgeklärt hat. Indem er

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selbst aktiv war, als er sich zur Bundeswehr meldete, um als 18-jähriger weiterer Bevormundung zu entgehen, erfüllte er die Grundbedingung für eine gelingende Emanzipation von der öffentlichen Erziehung. Dagmar Kerste (anonymisiert) ist 1942 in Leipzig geboren. Ihre Mutter hat sie nach der Geburt als Pflegekind freigegeben. Ihr Vater blieb im Krieg vermisst. Sie verbrachte ihre ersten Lebensjahre in einem Säuglingsheim und kam dann zu Pflegeeltern in Leipzig. Dort wuchs sie bis zu ihrem elften Lebensjahr auf und wurde von ihrer leiblichen Mutter gegen ihren Willen im November 1954 nach Bremerhaven zur Familie des Stiefvaters gebracht. Hier schwänzte sie die Schule, lief weg und stahl Geld für eine Fahrkarte nach Leipzig, die sie zurückbringen sollte. Das Jugendamt schaltete sich ein und die Mutter stimmte der Freiwilligen Erziehungshilfe zu. Über das Wichernstift in Bremen wurde sie im Februar 1955 ins Renthe-Fink-Heim in Osnabrück gebracht. Über die Unterbringung berichtet sie: „Ich habe geschlafen in einem Schlafsaal mit, glaube ich, 16 Betten, ja. Matratzen gab es nicht, so Strohsäcke gab es. Und das waren so Doppelbetten, also so oben und unten eins. Und ich weiß noch, da war ein Mädchen, die war Bettnässer und die lag über mir, ja und dann kriegte ich das ja irgendwie ab. Das lief ja durch die Strohsäcke durch, und, ja sagen wollte ich auch nichts und dann habe ich mich unters Bett gelegt. Ich habe unter meinem Bett geschlafen. Und irgendjemand hatte mich dann verpetzt, wir durften ja nachts auch nicht auf Toilette oder so, also das war für Bettnässer sowieso unmöglich. Und irgendjemand hatte mich verpetzt, dass ich nicht in meinem Bett schlafe und dann kam plötzlich da mitten in der Nacht da der Hausmeister rein, zog mich da unter dem Bett raus und dann haben die mich an meinen Zöpfen am Bett festgebunden und da musste ich sitzen bleiben bis zum nächsten Morgen. Bestrafung, weil ich unterm Bett geschlafen hatte und nicht im Bett.“24 Nach ihrer Erinnerung gab es auch eine Strafzelle im Heim: „Oh ja, die hatten da im Keller, also das war, das war so eine Pritsche, so eine Holzpritsche, eine alte Militärdecke gab es da. Überhaupt die Sachen da, das war also irgendwie, ich weiß nicht, das war, da waren so Nummern drauf. Dann gab es auch Bestrafung in Form von verschiedener Kleidung, also der eine kriegte dann so ein Sackkleid an, der hatte Strafe, also, dass auch jeder sehen konnte, dass man böse war. Ja, dolle Sachen.“25 24 25

Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 12. Ebd., S. 14.

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Die hier gegebenen Beschreibungen verweisen auf eine ganz andere Heimrealität der heilpädagogisch orientierten Einrichtung, als sie in den Akten des Landesjugendamtes Hannover beschrieben wurde.26 Demnach war das Renthe-Fink-Haus zumindest bis zum Umzug 1957 in das „Haus Neuer Kamp“ von überbelegten Schlafsälen und einem strafenden Hausmeister bestimmt. Dagmar Kerste entwich aus dem Renthe-Fink-Haus, wurde nach erneutem Aufgreifen in das Dorotheenheim der Diakonissenanstalt Friedehorst in Bremen-Lesum gebracht. Nach erneuter Entweichung kam sie zur Begutachtung in die jugendpsychiatrische Klinik in Wunsdorf und anschließend im Sommer 1956 zum Birkenhof in Hannover. „Ich kam in den Birkenhof und bekam ein Zimmer, vergesse ich nie, ohne Fenster. Das war eine umgebaute Kammer. Ich kriegte eine Gardinenpredigt und der Schlusssatz war: ‚Wir werden aus dir hier einen Menschen machen. Ob mit Gewalt oder ohne liegt an dir selber.‘ Ja, so wurde das gesagt.“27 Von dort entwich sie mehrfach, beging Diebstähle und wurde zu einem ersten Jugendarrest verurteilt. Sie wurde nach eigener Aussage als „unverbesserlich“ aus der Fürsorgeerziehung ausgeschieden und arbeitete nachfolgend in einer Gaststätte. Anschließend beging sie mit einer Bekannten mehrere Einbrüche und wurde 1958 zu einer Jugendstrafe von mindestens eineinhalb Jahren verurteilt. Nach ihrer Entlassung aus der Haft im Jugendgefängnis Vechta („Also im Gefängnis war es eigentlich so wie im Heim, bloß Prügel gab es nicht mehr.“28) setzte sie sich in die Schweiz ab, wo sie nachfolgend illegal in der Gastronomie arbeitete. Nachdem sie 1964 von einem Exfreund wegen ihres illegalen Aufenthalts denunziert worden war, kam sie in Abschiebehaft und gelangte zurück nach Deutschland. 26

27 28

In einem Besuchsbericht von Ende 1955 wurden „die großen Schlaf- und Wohnräume für die Erziehungsmethode des Renthe-Fink-Hauses“ als „außerordentlich ungünstig“ charakterisiert. In der Perspektive der besichtigenden Landesoberinspektorin Nora König waren die Räume und die Wäsche sauber, „die Kinder machten einen fröhlichen, zufriedenen Eindruck“. Man setzte Hoffnungen auf eine Verbesserung der räumlichen Zustände durch den Beginn des Neubaus im Frühjahr 1956. Neben einer Verstärkung der nachgehenden Fürsorge nach Entlassungen wurde auch das Strafbuch kontrolliert. „Keine Beanstandungen“, hieß es dabei. Siehe Bericht über den Besuch des Renthe-Fink-Hauses in Osnabrück am 14.11.1955 v.16.11.1955, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 21. Ebd., S. 31.

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Sie war nun volljährig, wandte sich nach eigener Einschätzung auf Grund der selbsterfüllenden Prophezeiung in ihrer Heimzeit, wonach sie später sowieso „anschaffen gehen“ würde, dem Hamburger Rotlichtmilieu zu und versuchte als Prostituierte zu arbeiten. Nach eigener Einschätzung war sie dafür nicht geeignet und managte nachfolgend ein Domina-Studio und verschiedene Gaststätten. Als 1982 einer ihrer Mitarbeiter mit ihrem Auto eine Bank überfiel, wurde sie wegen Beihilfe und Mitwisserschaft, die sie bis heute bestreitet, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Bei dieser Gelegenheit wurde ihre Glaubwürdigkeit durch ihre Heimzeit und die Jugendstrafen als vermindert angesehen. Als sie nach drei Jahren entlassen wurde, baute sie eine Tierpension und Hundezucht auf. Sie war insgesamt viermal verheiratet und mit ihrem letzten Mann 19 Jahre zusammen. Sie engagiert sich seit dem Jahre 2006 in verschiedenen Internetforen ehemaliger Heimkinder und lernte hierbei u.a. Ehemalige des Birkenhofes kennen. Sie baute zusammen mit diesen 2008 das „Birkenhof-Forum“ auf. Sie war kurzzeitig auch Mitglied im „Verein ehemaliger Heimkinder“. Dagmar Kerste hat zu ihrem Schicksal recherchiert, sich alte Akten aus dem Dorotheenheim senden lassen und diese auch dem Projekt zur Verfügung gestellt. Aus diesen geht hervor, dass sie in den Heimen immer große Schwierigkeiten gemacht, aber auch freundliche Briefe mit einer Diakonisse getauscht hat, in der sie zwischenzeitlich eine Bezugsperson gefunden hatte. Dagmar Kerste empfand die Heimzeit als Strafe für etwas, das sie nicht begangen hatte. Die Konstruktion einer Verfolgten, die so geworden ist, weil die Heimaufenthalte ihr keine Entwicklungsmöglichkeiten einräumten, ist bestimmend. Auch ihren Lebensweg als erwachsene Frau sieht sie darauf bezogen. Gerda Franz (anonymisiert) wurde 1933 in Dortmund geboren. Ihre Eltern wie auch etwaige Verwandte hat sie nicht kennen gelernt – der Name der Mutter ist ihr nur vom Taufschein, der des Vater gar nicht bekannt. Aus dem Krankenhaus gelangte sie direkt in das Waisenhaus St. Joseph in Dortmund-Eving, in dem Vinzentinerinnen die Kinder betreuten und das während des Kriegs wegen der zunehmenden Bombengefahr in den ostwestfälischen Kreis Höxter evakuiert wurde. 1943 kam sie zum Coesfelder FE-Heim Marienburg, wo sie bis zur Schulentlassung blieb. Es folgte ein halbes Jahr in Haus Widey bei Paderborn, ehe sie 1947 zum Kloster vom Guten Hirten in Münster kam. Hier machte sie eine Lehre als Weißnäherin und Stickerin und arbeitete in ihrem Beruf. Mit 21 Jahren ging sie in eine Dienststelle, kehr-

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te aber bald wieder als Hauskind zum Guten Hirten zurück. Ende der 1950er Jahre verließ sie endgültig das Haus und arbeitete in einem Paramentengeschäft in Münster. 1963 heiratete sie einen Mann mit einer zehnjährigen Tochter, mit dem sie 30 Jahre bis zu seinem Tod zusammenlebte. Mehrfach zwangen schwere Krankheiten sie zu längeren Krankenhausaufenthalten und Reha-Maßnahmen. Heute ist sie wirtschaftlich gut abgesichert, betätigt sich ehrenamtlich in der Kirchengemeinde und pflegt viele Kontakte. Die Jahre im Waisenhaus, wo jeweils ca. zehn Kinder in den Gruppen lebten, sind Gerda Franz als Zeit in Erinnerung geblieben, in der brutale Schläge und andere Strafen sowie Ungerechtigkeiten der dort tätigen Ordensschwestern an der Tagesordnung waren, denen sie als Bettnässerin in besonderem Maß ausgesetzt war. „Ich war ja, das nehme ich dann einmal vorweg, ich war lange […] Jahre Bettnässerin. Und im Waisenhaus Bettnässerin zu sein, das ist etwas ganz Schlimmes. Da bekommt man nur Schläge, da wird man eingesperrt oder man liegt nachts in der Badewanne. Oder aber auf einer Pritsche ohne Decke ohne alles. Oben in der Decke ein kleines Lichtloch sonst nichts in dem Raum, abgeschlossen und da ich ja viel Bettnässerin war, habe ich in diesem Raum viel Zeit verbracht. Sehr viel. […] Und dann bei den Größeren, wie gesagt immer Ellenbogen gebrauchen, dass du ja jeden Morgen, wenn du das Bettchen nass hattest, die Angst aufzustehen oder dann auch dieses, man wurde ja zur Unehrlichkeit erzogen, man hatte es ja vertuschen wollen, man hat es ja verstecken wollen. Man hat sich nachts das Höschen ausgezogen das Hemd ausgezogen, also das es nicht nass wurde und morgens das Betttuch, das war ja dann natürlich gezeichnet, dass ich schnell das Höschen wieder angezogen und den Schlafanzug wieder angezogen, der war dann trocken. Das Erste was die Schwester natürlich machte, griff sofort zwischen die Beine, oh ist trocken, ja dann war man glücklich. Man bekam ja dann keine Schläge dann und dann mussten wir ja auch im Sommer immer mit unseren nassen Sachen in den Garten rein, da war ein Fluss, ein kleiner Teich und da war so ein plätscherndes Wasser, da mussten wir das auswaschen selber. Und dann hatten wir einen Geistlichen einen Priester, der ging sein Brevier beten morgens. Früher wusste ich nicht, dass das ein Brevier war, aber der ging mit seinem dicken Buch da durch den Garten. Mit Soutane vor der heiligen Messe. Wir mussten ja jeden Morgen in die Kirche wie ich dann so sieben, acht, neun Jahre alt war. Und dann auch klatsch, klatsch bekamen wir sie erst einmal und dann mussten wir

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zur Strafe immer mitten im Gang in der Kapelle stehen, dann wussten sie alle, die hat wieder das Bett nass gemacht.“29 Eine Form von Geborgenheit hat sie im Kinderheim nicht erfahren: „Ja, bei den Vinzentinerinnen, das waren ganz Schlimme. Da waren Schwester […], das war eine, uh ich sage, ich sage heute, das darf man heute vielleicht nicht sagen, ja, das war ein Sadist. Ich habe ja jetzt gelernt, was ein Sadist ist und das hatte man ja früher, das kannte man als Kind ja gar nicht. Die hat geschlagen, wo man stand und lag und ging. Immer also, was jetzt im Alter mir auffällt, eine Zärtlichkeit, eine liebevolle Umarmung, mal auf den Schoß genommen zu werden, einmal das Gefühl zu haben, du wirst geliebt, das gab es nicht. So etwas gab es nicht, das kannte man nicht und das tat man auch nicht.“30 Trotzdem wollte sie lieber in der Gemeinschaft des Heimes als in einer Pflegefamilie sein. Im Rückblick beschreibt sie sich selbst als sehr aufsässiges und aggressives Kind, das seine Ellenbogen zu gebrauchen wusste. So erkannte sie auch, dass sie wegen ihres Verhaltens zur Marienburg gekommen war. Diese empfand sie wegen der nochmals verschärften Verhältnisse als „Hölle“, demgegenüber das Waisenhaus eine „Wohltat“ gewesen war.31 Und auch das halbe Jahr in Haus Widey mit seiner Kammer unter dem Dach, „wo sie die Mädchen rein sperrten, genau auch so mit einer Luke da unter dem Himmel“32 hat sich ihr negativ in der Erinnerung eingeprägt, da sie dort von einer Schwester wegen des Bettnässens häufig geschlagen und eingesperrt wurde. Vor diesem Hintergrund war sie, wie es auch in der Mikrostudie zum Ausdruck kommt, vom Guten Hirten positiv überrascht, da sie hier auch bei durchaus vorkommenden Konflikten nicht geschlagen und eingesperrt wurde, sondern mit ihr gesprochen wurde.33 Und auch die Arbeit hat sie trotz des damit verbundenen Bewegungsmangels ausgefüllt. Zudem bereiteten ihr die große Abgeschlossenheit, der stark monastisch geprägte Alltag und die Betonung der religiösen Erziehung im Guten Hirten, die sie ebenfalls wahrgenommen hatte, bedeutend weniger Schwierigkeiten als vielen anderen Mädchen, die das Leben „draußen“ kannten. Allerdings betonte sie, dass es kaum eine Möglichkeit gab, zu anderen Mädchen oder zu einer Schwester ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Als eine engere Bindung zu 29 30 31 32 33

Interview Gerda Franz (6.10.2010), Transkript, S. 1 u. 3. Ebd., S. 2. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. zum Guten Hirten Kap. 5.4.6.

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einer nur wenig älteren Schwester entstand, wurde die Schwester versetzt, was sie tief getroffen hat. Letztlich wird Gerda Franz im Guten Hirten eine Art Ruhepunkt gefunden haben, der ihr trotz vieler Einschränkungen auch Sicherheit vermittelte. So blieb sie auch nach der Entlassung aus der FE als Hauskind im Guten Hirten und hält bis in die Gegenwart Kontakt zu Schwestern und besucht immer noch das Kloster, in dem die Heimerziehung in den 1980er Jahren beendet wurde. Trotz ihrer Heimzeit und vielen Krankheiten blickte sie nicht verbittert auf ihr Leben zurück, wobei ihr ihre Ehe wichtigen Halt gab. Walter Bertelt, der 1940 in Kiel geboren wurde, hat ebenfalls seine Eltern nicht gekannt. Bald nach der Geburt kam er in eine Pflegefamilie nach Bad Laer, wo er mit dem Pflegevater nach dessen Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ständig Auseinandersetzungen hatte und er, wie auch seine Pflegemutter, häufig geschlagen wurden. Nach der Schulentlassung arbeitete er zunächst ein Jahr im elterlichen Betrieb, um danach eine Schlosser-Lehre zu beginnen. Die wachsenden Schwierigkeiten mit dem Vater führten 1956 zur Einweisung in die Johannesburg. Am Ende des Jahres kehrte er zu den Eltern zurück, da er dort als Arbeitskraft gebraucht wurde. Nach erneuten Problemen mit dem Vater wechselte er in ein Jugendwohnheim nach Osnabrück und arbeitete auf dem Bau. Im Sommer 1957 folgte der zweite Aufenthalt auf der Johannesburg, wo er meist als Gehilfe in der Landwirtschaft eingesetzt wurde und mit 19 Jahren den Führerschein machen konnte. Bis zu seiner Entlassung aus der FE betätigte er sich als Fahrer des im Münsterland tätigen Außenfürsorgers des Heims. Danach machte er noch den Busführerschein und arbeitete als Angestellter wie auch selbstständiger Busfahrer. Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau und seinen Kindern. Die ersten Monate in der Aufnahmegruppe der Johannesburg mit der Arbeit im Torf sind Walter Bertelt als harte, aber von ihm gut zu bewältigende Zeit in Erinnerung geblieben: „Ich hab dann im Moor gearbeitet. Es gab immer jede Woche samstags so Arbeitszettel, da stand dann von gut bis sehr schlecht. Oder genau kann ich es nicht wiedergeben. Auf jeden Fall konnte ich mich anstrengen wie ich wollte, jede Woche ‚sehr schlecht’. Das hieß natürlich, dass ich nicht einkaufen durfte. Das heißt zur damaligen Zeit, was uns gefehlt hat, war eigentlich nur Tabak. Das durfte ich dann nicht, kriegte ich dann nicht. […] Also der da im Torf arbeitete, das war für mich immer einer […]. ‚Peppen Hams‘ haben wir immer zu ihm gesagt. Der ... wenn man

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Abb. 6: Jungen helfen 1962 beim Neubau des Werkstattgebäudes der Johannesburg

mich heute fragt, dann sag ich der kommt aus dem KZ Börgermoor, der ist gleich da dann versetzt worden. Er war auch so gekleidet: Hosen, Stiefel, Schirmmütze erschien er jeden Tag, Knüppel in der Hand. […] Ja, ja, das habe ich des Öfteren gesehen. Ich habe es auch selber zu spüren bekommen, aber, wie gesagt, mir hat es nichts ausgemacht.“34 Was während seiner Zeit in Osnabrück der entscheidende Auslöser dafür war, dass er wegen vermeintlicher Verwahrlosung erneut zur Johannesburg kam, wusste Walter Bertelt nicht eindeutig zu benennen. „Warum auch immer weiß ich nicht. Ach ja, ich bin immer viel in das Kino gegangen, aber das hat man mir in Bad Laer auch vorgeworfen“35 Bei seinem zweiten Aufenthalt auf der Johannesburg hatte er das Glück, dass ein Arbeitserzieher seine Fähigkeiten als Autoschlosser und seine große Arbeitsbereitschaft erkannte und er eine privilegierte Stellung erhielt. „Ich war nun ein bisschen technisch begabt, so war es auch beim ersten Mal, als ich da war. Und das war ein Herr […] hieß er. Der war Erzieher und fuhr in der Landwirtschaft Trecker und machte ähnliche Sachen. Der hatte mich dann wohl entdeckt und hat gemeint ich könnte wohl was und habe dann da alle Fahrzeuge, die hatten einen LKW 34 35

Interview Walter Bertelt (17.6.2010),Transkript, S. 2 u. 11. Ebd., S. 20.

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und so weiter, habe ich alles repariert. Ich habe bei einem Autoschlosser gelernt. Und hatte dadurch ein sehr gutes Leben dort. Dann hat man mich so als Treckerfahrer ausgebildet. Man hat mir die Möglichkeit gegeben, den Führerschein zu machen. Den ich auch da gemacht habe. So, und den Führerschein brauchte ich dort auch nicht abgeben, nichts. Den konnte ich behalten, damit ich mit dem Trecker auch außerhalb des Klosters Johannesburg rumfahren konnte. Von der Seite habe ich nur Vorteile gehabt. Ich hatte einen Schlüssel, wenn sonntags morgens die Kühe Wasser haben mussten, oder was. Dann bin ich mit dem Trecker dahin und habe denen Wasser gegeben oder ich habe mittags durchgearbeitet beim Pflügen oder wie auch immer und dann haben die mir Essen gebracht. Das Essen war natürlich, viele sagen es gab Pamps. Gab es auch, […] Das war so ein Mischmasch durcheinander gemixt, habe ich nie bekommen. Ich habe immer das Essen bekommen, was auch die Patres bekommen haben.“36 Zudem kam Walter Bertelt, der sich anscheinend gut den gegebenen Umständen anzupassen wusste, in eine Gruppe, die relativ viele Freiheiten besaß, und auch die Zeit als Fahrer des Außenfürsorgers, während der er in einer Gaststätte ein Zimmer hatte, brachte ihm viele Vorteile. Daher betrachtete er im Rückblick die Phase auf der Johannesburg letztlich positiv. Die entscheidende Schuld für die Tatsache, dass ihm die „schönste Zeit des Lebens“ zwischen 16 und 21 Jahren genommen wurde, sah er beim zuständigen Jugendamt, das ihm eine vermeintliche Verwahrlosung attestiert hatte. Damit verbunden sind heute fehlende Beitragsjahre für die Rente. „Wegen nichts und wieder nichts, nicht wenn ich jetzt irgendeine strafbare Handlung begangen hätte, dann hätte ich alles Verständnis dafür gehabt, aber das war ja nicht. Ich wurde da als Lügner hingestellt, wenn ich gesagt hatte, dass ich geschlagen würde und das habe ich ihnen sehr krumm genommen. Die haben mich auch ... Ich wüsste nicht einmal, dass ein Jugendamt oder irgendjemand vom Jugendamt in Osnabrück in Bad Laer gewesen ist, um irgendwelche Erkundigungen oder irgendwas ähnliches einzuholen. Das ist nie da gewesen. Ich hab nie einen gesehen. Es wurde auch nicht überprüft, ob für mich als junger Mensch, es hat mich die Rente ja nicht interessiert mit 16 ... das ist doch logisch. Und dass die mal nachgeforscht haben, ob da auch Rentenversicherung bezahlt wird, nichts, gar nichts.“37 36 37

Ebd., S. 3. Ebd., S. 20f.

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Nach der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung hakte er diese Zeit ab. Kontakte zur Johannesburg oder zu Patres und Brüdern bestanden nicht mehr. Erst in den letzten Jahren hat Walter Bertelt zusammen mit seiner Frau begonnen, Nachforschungen zu seiner Vergangenheit vorzunehmen. Demnach ist er offenbar mit sechs Monaten von Kiel aus zu Pflegeeltern gekommen, weil seine Mutter ins Arbeitslager nach Glücksstadt musste. Später soll sie in einem KZ umgekommen sein. Mit seiner Frau besuchte er 2009 auch die Johannesburg und nahm Einsicht in seine Akte.

4.3 Die Erziehenden zwischen Ohnmacht und Rechtfertigung Gerhard Riemann hat in einer Studie über narrative Interviews mit Psychiatriepatienten deutlich gemacht, wie sehr diese Schwierigkeiten hatten, wirkliche „Geschichten“ aus dem Alltag zu erzählen. Er interpretierte diesen Befund, dass in Institutionen, die von der Außenwelt abgeschirmt und durch einen festen Zeitplan geregelt sind, die Insassen bzw. Bewohner nur selten eigenständige Entscheidungen über ihr Leben hatten fällen können. Ähnliches sah Gabriele Rosenthal auch für Ordensschwestern und –brüder als zutreffend an.38 Bei den vorliegenden fünf Beispielen von Erziehenden, die Mitglieder von Ordensgemeinschaften oder Diakonen- bzw. Diakonissengemeinschaften sind, bestätigt sich diese Begrenzung biographischer Produktion nicht. Die hier gegebenen Lebenserzählungen sind durchweg differenziert, sprechen von einem vielfältigen Erleben und sprengen das Vorurteil einer Abgeschiedenheit des Lebens der Ordensangehörigen, deren starre Zeitstruktur auch zu einer Stereotypie der Erzählungen führe. Dies mag auf der katholischen Seite mit den z. T. erreichten verantwortlichen Positionen zu tun haben, die eine Weltzugewandtheit notwendigerweise mit sich brachten. Auf evangelischer Seite waren die Gemeinschaften an sich bereits seit ihrer Gründung weltoffener und weiter, was sich auch in der Vielfalt der Aufgabengebiete der Interviewten abbildet. Für Diakone galt zudem mit der eigenen Ehe auch kein normierter Verzicht auf Sexualität und Familie. Für alle gilt dennoch ein gewisser Wertekanon, der sich als enger verstand, als er in der umgebenden Gesellschaft praktiziert wurde. 38

Gerhard Riemann, Das Fremdwerden der eigenen Biographie. Narrative Interviews mit psychiatrischen Patienten, München 1987; Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 109ff.

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Bei den interviewten Diakonen galt z. B. die Not bringende Kriegsund Nachkriegszeit als etwas sehr Entscheidendes. Sie führte dazu, dass man sich überhaupt der Diakonenanstalt Rummelsberg zuwandte. Hier erhielten die Diakonenanwärter Versorgung und Bildung, beides lebenswichtige Güter, die auch verhinderten, dass man in den Heimen später nicht auf der anderen Seite – bei den dort versorgten Zöglingen – zu stehen kam. Die eigene Sozialisation und Erziehung, die man hier erlangte, waren wichtig für die spätere Rolle des Erziehenden. Als Beispiele seien nachfolgend vier Biographien von Erziehern und Erzieherinnen vorgestellt, die Aspekte des Berufsfeldes erhellen. Dabei handelt es sich um eine in den Kaiserswerther Mädchenheimen in den 1960er Jahren arbeitende Diakonisse, einen Diakon in den Jugendheimen der Rummelsberger Anstalten, eine Schwester vom Guten Hirten in Münster und einen in einem Jungenheim tätigen Sozialarbeiter. Agnes Bröcker wurde 1934 in Duisburg als ältestes Kind in einer evangelisch- reformiert geprägten Familie geboren. Ihr Vater war Bilanzbuchhalter bei der Firma Raab Karcher, ihre Mutter Hausfrau mit einer Ausbildung zur Kinderpflegeschwester. Agnes Bröcker wuchs mit fünf Geschwistern auf, zwei weitere starben bereits sehr früh. In der Kriegszeit war die Familie nach Ostpreußen evakuiert. Agnes musste bereits in sehr jungen Jahren bei Abwesenheit der Mutter auf ihre jüngeren Geschwister achten. Hierbei erlebte sie Situationen der Überforderung, von denen sie im Rückblick ihren Wunsch ableitet, keine eigenen Kinder zu haben. Sie absolvierte nach dem Krieg ein neuntes Schuljahr und machte anschließend eine Schneiderlehre, nachdem sie bereits ein Jahr bei einer Schneidermeisterin hat mitarbeiten müssen. Da sie nach Abschluss der Lehre keine Arbeitsgelegenheiten als Schneiderin fand, vermittelte ihr Vater ihr eine Aushilfstätigkeit bei seinem Arbeitgeber, wo sie knapp vier Jahre im Büro u.a. in der Telefonzentrale tätig war. Sie wollte allerdings mit Jugendlichen arbeiten, mit denen sie bereits im Mädchenkreis ihrer Kirchengemeinde Erfahrungen gesammelt hatte. 1957 trat sie in die so genannte Vorprobe der Diakonissenanstalt Kaiserswerth ein. Dort durchlief sie den „kleinen Kursus“, wurde 1959 zur Erprobung in die Kaiserswerther Mädchenheime delegiert und 1964 als Diakonisse eingesegnet. Sie fand in der damaligen Gruppenleiterin Renate Fritsch, die in der Schweiz eine heilpädagogische Ausbildung gemacht hatte, eine Mentorin. Agnes Bröcker durchlief danach die Heimerzieherinnenausbildung der Kaiserswerther Seminare und arbeitete

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in den Mädchenheimen (vorwiegend in Haus „Eben-Ezer“) bis zu deren Schließung 1969. Anschließend war sie für die Schwesternschaft tätig und machte eine Ausbildung zur Ergotherapeutin in der Altenhilfe. Bereits vor ihrem Ruhestand war sie wieder verschiedentlich für die Schwesternschaft aktiv, löste z. B. die Schwesternnachlässe auf und engagiert sich seitdem u.a. in der Rumänienhilfe. Agnes Bröcker wurde nach eigenen Angaben ins kalte Wasser geworfen, als sie 1959 als Erzieherin zur Erprobung in die Mädchenheime kam: „Ich bin vier Wochen früher abgelöst worden, weil jemand im Mädchenheim gebraucht wurde. Das stand schon fest, dass ich dahin kommen würde, und da in dem Mädchenheim war immer Personalmangel, weil die Leute, die da arbeiteten, immer unzufrieden waren, die kamen mit der Frechheit der Mädchen nicht zurecht. Die konnten sich nicht durchsetzten, was bei mir auch am Anfang das Problem war. Weil die gesamten Menschen damals eine patriarchalische Vergangenheit hatten. Also in der Schule hatten sie zu gehorchen, zu Hause hatten sie zu gehorchen und dann haben sie so freche Mädchen, die die Arbeit verweigern, die Essen verweigern und Wiederworte geben und all so etwas, da kamen die nicht mit klar. Und die eine Schwester, die vor mir da war, die wurde richtig krank.“39 Der Personalmangel auf der einen Seite und das Gefühl, gebraucht zu werden auf der anderen bestimmten ihren Einsatz in den Mädchenheimen. Sie wurde, wie es bei Diakonissen üblich war, entsandt. Zuvor hatte sie kurz im Schwesternkrankenhaus Tabea gearbeitet und wurde von der Leitung versetzt. Eine Überforderungssituation – die Erzieherin war weggefahren und sie hatte mit den Mädchen einen Nachmittag alleine zu überstehen – ließ sie zu Beginn an ihrer Eignung für das Berufsfeld zweifeln. Doch wurde sie nachfolgend in ein anderes Haus versetzt, wo sie unter einer heilpädagogisch ausgebildeten Diakonisse langsam in das Arbeitsfeld eingeführt wurde. Hier arbeitete sie mit „zivilen“ Erzieherinnen nach ihrer Erinnerung immer gut zusammen. Man wäre ansonsten von den Mädchen gegeneinander ausgespielt worden. Bei Gruppenkeilereien, bei denen sich die Mädchen zum Teil mit der Stiefelspitze ins Gesicht getreten und brutal gegenseitig misshandelt haben, mussten die Erzieherinnen mit vereinten Kräften dazwischen gehen. Misshandlungen durch das Personal erinnert Agnes Bröcker nicht. In einem Fall, in dem sie einmal ein Mädchen, dessen Namen sie 39

Interview Agnes Bröcker (25.2.2010), Transkript, S. 11.

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sogar nennen kann, eine Ohrfeige gegeben hat, musste sie einen Bericht anfertigen. Sie war im Heim auf ihre Beobachtungsgabe angewiesen, denn die Erzieherinnen erhielten keine Akteneinsicht über die Mädchen. Die Akte verblieb bei der Heimleiterin. Sie selbst hatte alle sechs Wochen einen Erziehungsbericht über die einzelnen Mädchen zu schreiben, was dann von der Heimleiterin zu einem Abschlussbericht kombiniert wurde. Rückblickend sagt sie, dass sie nur solange im Beruf der Heimerzieherin hat bleiben können, weil sie trotz aller Empathie auf Distanz zu den Mädchen geachtet habe. „Wir haben zum Beispiel eine gehabt, die hat sich geärgert, dass die Erzieherin sie nicht besonders lieb gehabt hat. Also die wollte so eine besondere Nähe. Man muss ja als Erzieher auch eine gewisse Distanz halten, sonst sind sie verraten und verkauft. Sie müssen immer als Erzieherin oder Erzieher sich total in das Schicksal des Betreffenden hinein versetzten, Mitleid haben. Denken, ich in dieser Situation, wie würde ich handeln. Das ist die beste Voraussetzung, um die zu verstehen. Das müssen sie machen, aber sie dürfen sich nicht gehen lassen und eine engere Beziehung eingehen. Dann wurde sofort verlegt. Das ist das A und O, dass sie immer ... die merken das, ob man sie gern hat, aber es muss eine Distanz sein, sonst können sie nicht gerecht sein. Das ist das wichtigste als Erzieher.“40 Sie rechtfertigt ihre Haltung zudem mit der Josefsgeschichte aus dem alten Testament (1. Mos. 37, 1-11): „Wenn die einen denken, das ist so ein armes Mädchen, da bin ich mal besonders lieb und nett zu. Und schon, da braucht gar nichts passiert sein, da gucken alle anderen – die hat eine Sonderrolle und dann geht es denen so wie Josef und seinen Brüdern mit dem bunten Rock. Ich habe immer gesagt, der bunte Rock von Josef, das war sein Verderben. Der Vater hat es gut gemeint, hat seinem Sohn eine Freude gemacht, hat aber damit den Neid aller Geschwister herausgeholt und deshalb müssen sie versuchen, so sachlich wie möglich sein, aber die merken, ob sie mit dem Herz dabei sind oder nicht.“41 Diese Begründung verweist zurück auf das Demutsideal der Diakonissen, das diese selbst im Rahmen ihrer Ausbildung als vorbildhaft erlernt haben. Es wurde, wie an obigem Beispiel gesehen werden kann, auf das Verhältnis zu den Mädchen übertragen und diente einer Äqui40 41

Ebd., S. 28. Ebd.

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distanz zu allen zu Erziehenden. Die individuellen Bedürfnisse einzelner nach einer vermehrten Zuwendung wurden damit als nicht erfüllbar charakterisiert. Agnes Bröcker betont, dass es gerecht zugegangen sei. „Die Schwester Ilse galt für mich auch als Vorbild, weil die sehr gütig war, sehr streng, aber auch sehr gütig.“42 Sie unterstreicht dies noch durch eine Geschichte, in der sie eine abfällige Äußerung über das Fichtennadelduschbad, das sich die Mädchen gekauft hatten, gemacht hatte – „das ganze Haus riecht wie ein siebenstöckig Freudenhaus“. Die Mädchen beschwerten sich über die empfundene Diskriminierung. Sie wurde daraufhin von der Heimleiterin eindringlich verwarnt und den Mädchen wurde in ihrem Protest Recht gegeben. Das eigene Wirken in Demut als Mitglied in einer Schwesternschaft, in der sie eingesetzt wurde, bestimmte ihr Berufsleben. Die in der Mikrostudie über die Kaiserswerther Mädchenheime43 ausführlicher vorgestellten Grundzüge über die Sparsamkeit und die in der Einrichtung herrschende „Vorratswirtschaft“ prägen ihr Leben bis in den gegenwärtigen ‚Feierabend‘ hinein. Horst Fiedler ist 1933 in Neustadt bei Coburg geboren. Sein Vater starb bereits als er sechs Wochen alt war. Er wuchs bei seinen Großeltern auf, zu denen seine Mutter zog. Sie heiratete 1938 noch einmal und er lebte kurz bei seiner Mutter und seinem Stiefvater, doch ihr zweiter Ehemann galt schnell während des Krieges als verschollen. Seine Mutter und er kehrten zu seinen Großeltern zurück. Als er 14 Jahre alt war, ging er zur Rummelsberger Diakonenanstalt, welche ihm – ähnlich wie beim Interviewpartner Arnold Schubert – eine Ausbildungsperspektive eröffnete. Angeregt war dies vom Ortspfarrer wie vom dort arbeitenden Gemeindediakon. Für seine Mutter soll diese Entscheidung schwer gewesen sein. Er arbeitete dann als Helfer, später als Vorpraktikant u.a. in der Anstalt bei der Fürsorgerin im Büro – z. B. Schreibmaschineschreiben als eine Art Sekretär für den Erziehungsleiter Hugo Schaubert – und 1951 bis 1953 im Jugendheim. Von 1953 bis 1955 besuchte er die Diakonenschule. Anschließend war er von 1955 bis 1960 Gemeindediakon in Nürnberg. In dieser Zeit lernte er seine Frau kennen, die er 1958 heiratete. 1960 wurde er vom Rektor in das Jugendheim delegiert, wo er als Gruppenerzieher und stellvertretender Hausvater arbeitete. Ab 42 43

Ebd., S. 32 Vgl. Kap. 5.4.5.

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DIE INTERVIEWS

1967 hatte er die Funktion des Heimleiters, und 1971 folgte er als Erziehungsleiter der Rummelsberger Anstalten dem Pfarrer Günther Heidecker. Er übernahm auch für zwölf Jahre den Sitz für die bayerischen Heime im EREV-Vorstand. Er machte die Heimbefreiungen durch den ASTA in Erlangen mit, erinnert sich auch an Aktionen des SDS Fürth und des „Rationaltheaters“ München. Er stellte sich den Diskussionen mit den Aktivisten und nahm nach drei Wochen Jugendliche, die sich nach München abgesetzt hatten, auch wieder zurück ins Heim, als die Aktivisten sich nach seiner Aussage mit deren Betreuung überfordert gefühlt hatten. Er setzte die 1977 eröffnete Pädagogisch-Therapeutische Intensivabteilung (PTI), welche eine geschlossene Abteilung war, um. 1985 übernahm Horst Fiedler die Leitung im Fassoldshof für rund vier Jahre. 1989 berief man ihn zum Leiter des Stephanusheimes in Rummelsberg, wo bereits seine Frau als Krankenschwester arbeitete und er die mehr seelsorgerische Arbeit einer Sterbebegleitung ausübte. 1995 ging er in den Ruhestand. Zum Zeitpunkt des Interviews kam er gerade von einem „Klassentreffen“ seiner Diakonenklasse. Angeregt davon erzählte er von den strengen Regeln, denen er sich als Diakon hatte unterwerfen müssen. Nach einem Skandal um den vorherigen Leiter war noch Unruhe in der Bruderschaft44, weswegen die Gedanken um den Regelkosmos intensiv waren. Horst Fiedler erinnert u.a., dass die Diakonenbräute immer ein halbes Jahr einen so genannten „Bräutekurs“ in der Einrichtung u.a. bei Familien der eingesegneten Diakonen mitmachen mussten, bevor sie den Diakon heiraten durften.45 Das Modell der gratis mitarbeitenden Diakonenfrau, die ihren Mann in seiner Hausvaterfunktion zu unterstützen hatte, war lange in Rummelsberg Usus. Dennoch erinnert Horst Fiedler, dass von 14 der Diakonenbräute in seinem Kurs nur zwei zu jenem Zeitpunkt keinen eigenen Beruf besaßen. Da er zudem bei seiner Heirat noch nicht 25 Jahre alt war, musste er für seine Eheschließung beim damaligen Rektor Bürckstümmer eine Genehmigung einholen. Mit dieser Bevormundung hat er immer gehadert. 44

45

Der Leiter der Rummelsberger Anstalten bis 2007, Karl-Heinz Bierlein, hatte Diakonenschüler gequält und wurde im Juni 2008 zu elf Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Siehe „Früherer Diakonie-Chef auf Bewährung“ (Süddeutsche Zeitung v. 21.6.2008); Diakone gezüchtigt und gequält (Stern v. 9.6.2008) [http:// www.stern.de/panorama/:Rummelsburger-Anstalten-Diakone/623166.html]. Vgl. zeitgenössisch: Andrea Bürckstümmer, Praktikum der Diakonenbräute, in: Bürckstümmer (Hg.), 75 Jahre Diakonenanstalt Rummelsberg, S. 22-26.

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Horst Fiedler empfand häufiger die Ungeeignetheit von im Erziehungsheim eingesetzten Brüdern. Er hatte diesbezüglich einige Konflikte mit dem Erziehungsleiter Hugo Schaubert und mit dem Rektor durchzustehen. Zweimal wollte er nach seiner Erinnerung sogar ausscheiden, doch ist er von einem älteren Diakon „eingefangen“ worden. Horst Fiedler wurde von späteren Diakonenschülern als, wie er sagt, „Gruppenerzieher der fünfziger Jahre“ bezeichnet. Dennoch empfindet er sich als jemand, der viel Wandel erlebt und vollbracht hat. Über den sonntäglichen Kirchgang in der Einrichtung erinnert er, dass in den ersten drei Bankreihen ohne Lehne die Zöglinge des Jugendheims saßen und die Erzieher als eine Art Aufsichtspersonal an der Wand standen. Als einmal bei der Begrüßung durch den Heimleiter und Psychologen Dr. Hugo Schaubert keine Ruhe einkehrte, ging ein Diakon, der im Heim auch „gedöbert“ (geschlagen) hat, zum Pult, legte sein Gesangbuch ab und sagte „Rand halten“ und danach konnte man eine Stecknadel fallen hören. Noch heute steht Horst Fiedler zu der Ansicht, „es gab Situationen, da hat eben eine Ohrfeige einmal etwas Klärendes gebracht“.46 Er erinnert auch eigene Fälle – u.a. Streit mit einem Messer in der Gruppe –, in denen er geschlagen hat, meint aber, dass man abends diese Konflikte immer hat klären können. Er habe immer den Rat des alten Rektors befolgt: „Lassen Sie die Sonne nicht über dem Zorn untergehen, am Morgen müssen sie reinen Tisch machen.“47 Als er 1951 im Heim anfing, brachte ihn der erwähnte ältere Diakon zur Gruppe, die aus 18 Jugendlichen bestand.48 Der „Stubenälteste“ rief diejenigen zusammen, die über die neue Situation berieten. Am nächsten Morgen hieß es, „wo der Porzellanteller steht ist ihr Platz“. Alle anderen hatten zu jenem Zeitpunkt noch die kurz danach abgeschafften Blechteller.49 Horst Fiedler verweist damit auf das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein, das er im Heim erlebte, wo die hierarchische Gruppenstruktur wesentlich war. Seine hervorgehobene Position hing auch von der Akzeptanz der Jugendlichen ab. Beim Psychologen Schaubert hatte Horst Fiedler bereits zuvor gearbeitet, dessen Berichte auf Schreibmaschine geschrieben und u.a. die Heimzeitschrift „Heimspiegel“ erstellt. Schaubert hat von den Erziehern Soziogramme gefordert, 46 47 48

49

Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 16. Ebd. Es gab aber wohl auch eine 45er Gruppe im Heim. Siehe Helmut Winter (Hg.), Zum Leben helfen. Aus der Geschichte der Rummelsberger Anstalten 1948-2001, Feucht 2001, S. 169-172, hier 169. Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 18.

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DIE INTERVIEWS

damit sie sich mit ihrer Gruppe beschäftigten. Abends gegen 21.00 Uhr war nach seiner Erinnerung immer Erzieherbesprechung. Der Gruppenälteste wurden von den Erziehern bestimmt, ein „Heimbeirat“ der Jugendlichen wurde gewählt. Dieser sollte so etwas wie eine Beschwerdestelle sein. Fiedler erinnert die bescheidenen materiellen Verhältnisse Anfang der 1950er Jahre. So hatten z. B. die Jungen keine Fußballschuhe. Der enge Regelkanon im Heim sah in den 1950er Jahren – ähnlich wie auch im ebenfalls von Rummelsberger Diakonen geführten Fassoldshof – strenge Strafen und Arrestzellen, eine blau-weiß gestreifte Anstaltskleidung für Wegläufer etc. vor. Schaubert habe dies aber noch in seiner Zeit bis 1960 abgeschafft. Das durch den erwähnten Erlass 1969 eingeführte Erziehungsbuch hieß in Rummelsberg „Zuchtbuch“. Hier mussten Arreste und Ohrfeigen eingetragen werden. Daran musste man nach Horst Fiedlers Erinnerung aber immer wieder die Erzieher erinnern, damit es nicht vergessen wurde.50 Disziplinierungsmittel waren nach der Erinnerung von Horst Fiedler begrenzt, z. B. Strafdienste zum Gruppen säubern, Werkstattbücher schreiben, Ausgang sperren etc. Als Problem bestand, dass Vergünstigungen nicht in dem Maß gestrichen werden konnten, wie man es von Erzieherseite gerne gemacht hätte. Auch Missbrauchsfälle von Mitarbeitern gegenüber den Jugendlichen wie z. B. den Bäckerlehrlingen werden von Horst Fiedler erinnert. Begünstigt wurde dies z. T. durch bauliche Unzulänglichkeiten. Bei der Massendusche der Jugendlichen in Reihen zu 20 hat immer ein Erzieher zugesehen und zentral kaltes oder warmes Wasser bedient. In den Werkstätten der Rummelsberger Anstalten wurden laut Horst Fiedler von den Jugendlichen auch Aufträge für externe Firmen ausgeführt.51 So wurden z. B. in den 1950er Jahren Schubkarren produziert und in den 1960er Jahren Gabelstapler für die Firma „Almocar“ in Dachau hergestellt. Hierfür stellte man extra einen Elektroingenieur und zusätzliche Arbeitserzieher ein. Erst spät galt die Regelung, dass man für zehn Auszubildende einen Arbeitserzieher in den Pflegesatz hineinrechnen konnte. Zudem dienten die anstaltseigene Schreinerei, Metzgerei und Bäckerei der Eigenversorgung, doch wurden auch Überschüsse nach außen verkauft. Horst Fiedler sieht diese Arbeiten rückblickend als nützlich 50

51

Das beim Bürobruder geführte Erziehungsbuch wurde beim Archivbesuch des Verfassers nicht ausfindig gemacht. Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 39f.

ERZIEHENDE ZWISCHEN OHNMACHT UND RECHTFERTIGUNG

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für die Ausbildung an, da hier verkaufbare Produkte hergestellt wurden, an denen die Jugendlichen lernen konnten. Er war aktiv in den Auseinandersetzungen mit den APO-Gruppen, die 1969 am Buß- und Bettag das Heim belagerten. Er führte mit acht Jugendlichen, acht Erziehern und acht Mitgliedern der SDS-Gruppe eine paritätisch besetzte Diskussion herbei. „Das Ergebnis war dann später, naja sie müssten uns eine neue Hausordnung schicken, denn mit unserer Hausordnung soll das nicht weiterfahren und sie wollen vor allem eine neue Ausbildungsordnung bringen für die Werkstätten. Da will ich einmal ganz schlicht sagen, da warten wir heute noch darauf, aber das ist jetzt nur mal so.“52 Ähnlich meint er heute, darin Recht gehabt zu haben, den zehn Jugendlichen, die von einer Münchener Gruppe des „Rationaltheaters“ aus dem Heim herausgelockt worden sind, abgeraten zu haben. Nach drei Wochen rief die Gruppe des linksalternativen „Rationaltheaters“ nach seiner Erinnerung an und bat, die Jugendlichen wieder zurück zu nehmen. Diese ganz vorne im Interview erwähnte Geschichte verweist auf sein Grundgefühl, richtig gehandelt und eingeschätzt zu haben. Die 1934 im münsterländischen Bocholt als Tochter eines Malermeisters geborene Elisabeth (Gudula) Busch kam nach der Volksschule durch ein Juvenat im Kloster vom Guten Hirten in engeren Kontakt zur Ordensgemeinschaft. Nach der Handelsschule und Berufserfahrungen in einem Ingenieurbüro trat sie 1955 in Münster in die Gemeinschaft ein und legte 1957 die Ersten und 1960 die Ewigen Gelübde ab. Zwischen 1962 und 1965 besuchte sie die Höhere Fachschule für Sozialarbeit in Münster. In verschiedenen Heimen des Ordens war sie als Erzieherin und Erziehungsleiterin tätig. Gleichzeitig hatte sie von 1968 bis 2009 das Amt der Provinzökonomin in Münster inne. Heute lebt sie mit einigen Mitschwestern in einem Hochhaus im Frankfurter Stadtteil Frankfurter Berg, wo sich die Gemeinschaft hauptsächlich um Migranten kümmert. Für den Weg Schwester Gudulas in die Gemeinschaft der Schwestern vom Guten Hirten spielte auch ihre Betätigung in der Jugendarbeit eine wichtige Rolle. „Ja, erst einmal weil es in Bocholt die Anknüpfung gab und weil mir diese Arbeit auch gelegen hat. Ich kam auch aus der kirchlichen Jugendarbeit, ich war auch Gruppenleiterin sowohl im KKF als auch bei uns in der Pfarrei. Ich hatte dort zwei Gruppen. Und Kinder- und 52

Ebd., S. 1.

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DIE INTERVIEWS

Jugendarbeit haben mir viel Freude gemacht, das muss ich auch sagen, und erst recht die Leute, die nicht das Glück hatten, eine Familie zu haben, wie ich sie hatte. Und die hatte ich auch schon unter meinen Gruppenkindern in der Pfarrei, und es ist nicht so, als ob die nur in der Pfarrei gewesen wären. Also, das hat mich eigentlich immer angezogen.“53 Wie auch in der Mikrostudie ersichtlich, betrachtete Schwester Gudula ihre Noviziatszeit durchaus kritisch wie auch die konkrete Erziehungsarbeit in den Klöstern vom Guten Hirten bis Ende der 1960er Jahre durch restaurative Tendenzen geprägt, was sich vor allem in der großen Abgeschlossenheit und im monastischen Lebensstil der Häuser zeigte. Zum Guten Hirten wurden ihrer Wahrnehmung nach in der Regel sehr erziehungsschwierige Mädchen überwiesen, die hier jedoch meist eine erfolgreiche Formung erhielten. Als wesentliches Erziehungsmittel betrachtete sie die persönlichen „Entwicklungsgespräche“ zwischen der in der Regel pädagogisch qualifizierten Erziehungsleiterin und den Mädchen. Auf Grund ihrer Leitungsfunktionen erhielt sie einen guten Einblick und erkannte die sich verändernden Strukturen der Apostolatsarbeit, deren grundsätzliche Voraussetzungen ihrer Einschätzung nach zunehmend schwieriger wurden. „Ich habe die Ausbildung gemacht, mein Anerkennungsjahr gemacht und wurde dann sofort Erziehungsleiterin in Münster und war verantwortlich für 140 Jugendliche. Damals ging auch deren Großjährigkeit noch bis zum 21. Lebensjahr. Ich habe das gerne gemacht, das muss ich wirklich sagen. Und wir hatten noch so richtig hartgesottene Mädchen. Das waren nicht die komplizierten, die man später hatte, die kamen von der Zeit, hier in Frankfurt kamen die, die kamen vom Steinplatz in Dortmund, von der Reeperbahn in Hamburg, also die ganzen Flächen kannten wir. Aber mit den Leuten konnte man arbeiten. Das waren Mädchen, wie sie gemerkt haben, dass man ihnen gut war, dass man sie gefördert hat. Also dann konnte man mit denen Pferde stehlen. Dann kam eine Zeit, in der wir immer mehr so psychisch angeknackste Jugendliche bekamen. Dann fingen die plötzlich an, ihre Exkremente in Taschentücher einzuwickeln und unter die Türklinge zu hängen und solche Sachen und auf solche Sachen waren wir wirklich nicht vorbereitet, auf so etwas. Und mehr und mehr in der Zwischenzeit waren wir so ein Zwischending zwischen einem Erziehungsheim, Psychiatrie und Knast. Und das habe ich eigentlich sehr früh erkannt, dass das nicht 53

Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 4.

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unser Ding sein kann, auch was da von uns erwartet wurde. Auf der einen Seite wurden die Jugendlichen immer später eingewiesen, wenn im Grunde alle ambulanten Sachen schon gescheitert waren. Und wir sollten dann in einem Jahr aufarbeiten, was in 16 Jahren schief gelaufen ist und das ist ein Unding, das geht überhaupt nicht.“54 Beim Guten Hirten spielte auch die religiöse Erziehung eine dominante Rolle. „Das hat sich eigentlich immer gehalten, weil das auch bei uns, wir haben gesagt, wir verstehen uns auch von daher, aus dem Glauben heraus den Leuten ein Fundament mitzugeben, auch mit ihrer gebrochenen Geschichte leben zu können, dass ich von Gott geliebt bin und dass auch, wenn meine Eltern mich nicht lieben, und dass aber immer noch Gott da ist, an den ich mich wenden kann und auch Menschen da sind, an die ich mich wenden kann. Ich hab auch manchen Mädchen gesagt, bevor du irgendwie Mist baust, komm hierher, so schlecht kann es gar nicht gewesen sein, dass wir gar nicht mehr miteinander reden können, komm. Haben auch eine ganze Reihe gemacht. Die gesagt haben, ich brauche jetzt einmal eine Auszeit, ich muss mal da raus.“55 Allerdings zeigte Schwester Gudula Verständnis dafür, dass sich manche Mädchen mit dem regelmäßigen Kirchgang schwer taten. Die in den Strukturen des Guten Hirten grundgelegte durchgängige Überwachung der Mädchen wurde von ihr insofern positiv bewertet, als sie der Vermeidung rigider Strafen wie körperliche Züchtigungen oder Isolierungen diente. Solche zählten nach ihren Erfahrungen aber auch grundsätzlich nicht zur verfolgten Erziehungspraxis, die stark durch eine Art „Sozialkontrolle“ der Schwestern untereinander und die Spezialisierung der Gemeinschaft auf dieses pädagogische Feld gewährleistet war. Sie selbst hat einmal einem Mädchen im Affekt eine Ohrfeige gegeben. Die nach dem Konzil einsetzende Offenheit innerhalb der Gemeinschaft und den nachfolgenden Veränderungen im Ordensleben sah sie im Rückblick als wesentliche positive Entwicklung, die sich auch auf die konkrete Erziehungsarbeit auswirkte. Letztlich führte sie auch dazu, dass sich die Schwestern ihrer Ordensprovinz seit Mitte der 1970er Jahre schrittweise aus der Heimerziehung zurückzogen und sich anderen Apostolatsaufgaben zuwandten, wie es in der Mikrostudie beschrieben ist.56 54 55 56

Ebd., S. 3. Ebd., S. 8. Vgl. Zum Guten Hirten Kap. 5.4.6.

166

DIE INTERVIEWS

Der 1943 als ältestes von 14 Kindern in der Nähe von Freiburg geborene Alois Hügle machte zunächst eine Ausbildung zum Landwirt, da er den elterlichen Bauernhof übernehmen sollte. Als er mit 29 Jahren seinen Beruf wegen einer Erkrankung nicht mehr ausüben konnte, studierte er an der Höheren Fachschule in Freiburg Sozialarbeit. Sein sozialpädagogisches Praktikum absolvierte er 1963/64 auf der im Emsland gelegenen Johannesburg, einem Erziehungsheim für Jungen. Nach Tätigkeiten im Jugendamt in Berlin-Kreuzberg und einer Erziehungsberatungsstelle beim Caritasverband in Bochum kehrte er 1973 als Leiter des neu eröffneten Schulheims zur Johannesburg zurück, wo er seit 1977 als Erziehungsleiter und von 1984 bis 2000 als Direktor wirkte. Als Alois Hügle sein Praktikum im Erziehungsheim antrat, hatte dieses an der Höheren Fachschule wegen seiner geographischen Lage und vor allem einer vermeintlich „handfesten Pädagogik“ einen schlechten Ruf. „Aber ich war doch von der Atmosphäre im Haus angenehm überrascht, die besonders durch die Brüder des Ordens, aber auch durch einige Patres [...] geprägt war. Da war die Atmosphäre wesentlich offener, zuwendender und Pater Maaß hat ja auch dafür gesorgt, dass mehr pädagogische und psychologische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben und nicht nur der wirtschaftliche Aspekt, Torf verkaufen, Landwirtschaft etc. Also, das war schon eine angenehme Überraschung.“57 Allerdings gab es einige Erzieher, die teilweise brutal straften, indem sie mit den Fäusten prügelten, was Alois Hügle strikt ablehnte. Auf die am Ende seines Praktikums gestellte Anfrage des damaligen Direktors Pater Maaß, ob er nach dem Studium zur Johannesburg zurückkehren würde, antwortete er, dass er Sozialarbeit studiere, „um Heimerziehung abschaffen zu können“.58 Sowohl zu dieser Zeit als auch noch in den 1970/80er Jahren empfand er besonders die ordensspezifischen Strukturen, die solche Auswüchse mit bedingten, als negative Faktoren, die die erforderlichen, durchaus von Pater Maaß und Direktor Pater Kaperschmidt angestrebten Modernisierungen teilweise blockierten und gegen die er – auch in seiner Rolle als weltlicher Mitarbeiter – in seinen Leitungsämtern immer wieder, letztlich erfolgreich, ankämpfen musste. „Ich meine, [das Haus] braucht sich nicht verstecken und es ist relativ gesehen nicht so häufig vorgekommen wie in anderen Einrichtungen, auch in Einrichtungen, die von Nonnen geführt wurden. Aber es 57 58

Interview Alois Hügle (13.7.2010), Transkript, S. 4. Ebd., S. 1.

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ist doch ... zu oft vorgekommen aus persönlicher Befindlichkeit. Vielleicht kann man es so sagen: es hat zu wenig Objektivität im pädagogischen Umgang bestanden, auch ein bisschen Distanz, sodass, das weiß ich aus Erzählungen, dass dort doch manchmal recht schlimm geprügelt wurde. Auch als ich hier war, selbst als ich schon Direktor war, habe ich einem Ordensmitglied einmal gesagt: Es ist nicht gut, dass ihr immer von euren Jungs redet ... unsere eigenen Jungs, das könnte doch schnell in Leibeigenschaft abgleiten und das bemängel ich. Und das war halt der Konflikt. Verstehen Sie, was ich vorher gesagt habe, auch mit Ordensinstitutionen? Es war, ja ein …, es ist jetzt hart ausgedrückt, aber Pädagogik oder die Heimerziehung war Mittel zum Zweck, den Auftrag Christi auszuführen, das klingt jetzt zynisch und hart, aber manchmal war es doch so.“59 Andererseits hatte er die harten Bedingungen, unter denen die Brüder in der Gruppen- und Arbeitserziehung tätig waren, selbst erfahren. So beschrieb er seine Erfahrungen der Praktikumszeit sehr anschaulich. „22 Jungen. Ein Sozialpädagoge, der ... wie nennt man das, Quartalssäufer war. Und ein nicht ausgebildeter Erzieher, der aber hauptsächlich eingestellt worden ist für Sportmachen. Der hat sich sporadisch ab und zu in der Gruppe blicken lassen. Es war keine Einführung. Ich wurde einfach zugeteilt. Ich hatte zwei Mal ... erheblich Konflikte mit den Jungs, weil einer der Hauptamtlichen versprochen hatte, die durften Fernsehen schauen und der andere nein. Und ich habe gesagt, nach der Regel dürften Sie jetzt nicht und ich habe es auch durchgesetzt, aber das war ein Aufstand. Ich als kleiner Zwerg, riesen Jungen 18, 19, 20. […], das war o.k. […] Die Brüder haben neben ihrem Gruppendienst und daneben, dass sie in der Gruppe geschlafen haben, in einem separaten Kämmerlein noch eine andere Arbeit verrichtet, sei es, dass sie ein Meister in der Werkstatt waren oder in der Landwirtschaft oder im Torf. Das war hart für die Brüder. Ich weiß es am eigenen Leibe, offensichtlich war ich nicht ganz ungeschickt, da irgendwann nach einem Monat hat mich Bruder […] oder der damalige Verwaltungsleiter […] gefragt, ich wäre doch Landwirt gewesen. Der Landwirtschaftsmeister ist krank, ob ich das machen würde. Neben dem Gruppendienst, o.k., das habe ich noch gemacht. Dann hat es geheißen, der Bruder, der in der Gruppe Junghorst schläft nachts, ist schon zu alt, ich soll auch da schlafen. Ich hatte dann auch nachts keine Freizeit und das war, muss man sehen, All59

Ebd., S. 7.

168

DIE INTERVIEWS

tag für die Ordensbrüder. Ich hab dann auch im Torf gearbeitet, als der Kapo da krank gewesen ist im Spätjahr unter bitterer Kälte. Da hatte man mich allerdings angeleitet und hat gesagt, das ist ein schwerer Job, das sind ja immer die schwierigsten Jungen, also die neu aufgenommen worden sind. So genannte Einübungen in die Einsamkeit. Es war für mich kein Problem die Jungen, wir haben, wenn es zu kalt war, wenn es geregnet hat, sind wir sowieso zurück, aber dann haben wir so ab 3 Uhr, wenn wir einigermaßen die Norm erreicht hatten, wir mussten nur Gräben ziehen, Entwässerungsgräben, haben wir dann ein Lagerfeuer gemacht und haben Würstchen gegrillt, die ich auf eigene Kosten gekauft habe. Ich habe die Jungen auch ein bisschen bestochen, dass ich zurecht kam. Ich glaube, es waren eineinhalb Monate.“60 Als Alois Hügle Mitte der 1970er Jahre, nun in leitenden Funktionen, zur Einrichtung kam, bedurfte es großer Anstrengungen, die alten Strukturen aufzubrechen und weitere Modernisierungen auf den Weg zu bringen. Dabei zeigten sich innerhalb der Ordensgemeinschaft, in deren Trägerschaft das Haus stand, sowohl Beharrungs- als auch fortschrittliche Kräfte. Letztere setzten sich nach seiner Einschätzung schließlich durch. Bei den Erziehenden dominieren die positiven Erinnerungen an die im Heim gemachten Erfahrungen. Kritische Töne hinsichtlich der z. T. körperstrafenden Pädagogik klingen zwar in allen Interviews durch, doch die erinnerten Hilfen in den Bereichen der Berufsausbildung, der Hinführung zu einer gewissen Eigenständigkeit erscheinen rückblickend viel dominanter. Dies ist im Hinblick auf das berufsbiographische Gesamtkonzept nicht verwunderlich. Die völlige Infragestellung des zurückgelegten beruflichen Weges würde auch eine Identitätskrise nach sich ziehen können. Im Sinne des Konzeptes einer selbstreflexiven Existenz ist jedoch ebenso die Abgrenzung zu überwundenen Zuständen gefordert, was zumindest die Kritik an z. B. ordensspezifischen Strukturen durch den katholischen Laien Alois Hügle oder der engen Regeln in den Diakonissen- und Diakonengemeinschaften durch Agnes Bröcker oder Horst Fiedler ermöglicht, zumal sich diese Regeln seitdem sehr verändert haben. Strafen wie Strafarbeiten, der Arrest und im Extrem auch Ohrfeigen wurden in der Heimerziehung meist als alternativlos angesehen und zeitgenössisch akzeptiert. Das Eingeständnis, zumindest in Einzelfällen auch einmal 60

Ebd., S. 9.f.

ERZIEHENDE ZWISCHEN OHNMACHT UND RECHTFERTIGUNG

169

geschlagen zu haben, verweist auf die Überforderung der Erziehenden, die teilweise ohne Ausbildung in konfliktträchtige Situationen gestellt wurden. Tilman Moser reflektierte 1969 über das labile Gleichgewicht zwischen Berufsideal und Berufswirklichkeit, das bei den z. T. hochidealistischen, sich selbst ausbeutenden Erzieherinnen und Erziehern durch die Heimkampagnen gestört wurde. „Paradoxerweise ließe sich fast formulieren, daß die hohen Ideale und die Bereitschaft zur Selbstaufopferung mit dazu beigetragen haben, die Heimerziehung als ganze in einem Gesamtzustand einer relativen Unzulänglichkeit gehalten zu haben. Denn private, religiös oder ideologisch abgestützte Tugenden können bei bestimmten sozialen Strukturen in der Bilanz zu sozialen Untugenden werden, weil sie zu wenig objektive Einsicht in unzulängliche Verhältnisse zulassen, vor allem aber zu wenig fordernde, selbstbewußte Aktivität, um gegen diese Verhältnisse selbst und nicht so sehr gegen das eigene Versagen vorzugehen.“61

61

Tilman Moser, „Wie sieht der Journalist die Heimerziehung – Warum sieht er sie kritisch?“, in: Protokoll Nr. 276 „Heimerziehung und Öffentlichkeit“ der Ev. Akademie Rheinland-Westfalen, Haus der Begegnung, Mülheim/Ruhr (in: AEKR), S. 1-21, hier S. 10.

170

EINLEITUNG UND FORSCHUNGSÜBERBLICK

RHEINLAND UND WESTFALEN

171

5. Konkretionen – Regionen und Heime 5.1 Rheinland und Westfalen

Z

ur Jugendfürsorge – speziell zur Fürsorgeerziehung in Verantwortung der nordrhein-westfälischen Landesjugendämter liegen bereits umfangreiche Studien vor, die auch die 1950/60er Jahre einschließen.1 Daher sollen an dieser Stelle nur die wesentlichen Strukturen gerade im Hinblick auf die konfessionelle Heimerziehung skizziert und mit einigen statistischen Angaben angereichert werden. 1946 errichtete die britische Besatzungsmacht aus der preußischen Provinz Westfalen und dem nördlichen Teil der ebenfalls zu Preußen zählenden Rheinprovinz das Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW). Im nachfolgenden Jahr kam noch das Land Lippe hinzu. Damit war NRW mit 1950 knapp 13 Mio. und 1970 17 Mio. Einwohnern das bevölkerungsreichste Land, das zudem nach dem Wiederaufbau mit dem Ballungsraum an Rhein und Ruhr über eine äußerst urbanisierte und industrialisierte Region verfügte. Daneben gab es eher dünn besiedelte Gebiete wie Ostwestfalen-Lippe, das Münsterland und die bergischen Gebiete im Süden NRWs. Im Ruhrgebiet bestanden durch die Migration während der Industrialisierung gemischtkonfessionelle Verhältnisse, Ostwestfalen, das Bergische Land und Teile des Sauerlands waren vorwiegend protestantisch, dagegen weite Teile des Rheinlands, des Niederrheins und des Münsterlands sowie das Paderborner Land größtenteils katholisch geprägt. Durch die gut 1,3 Mio. Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten und der SBZ/DDR, die während der 1950er Jahre nach NRW – oftmals ins Ruhrgebiet – gelangten, verschob sich die konfessionelle Verteilung. So waren etwa 1925 47,3 % der westfälischen Bevölkerung evangelisch und 49,8  % katholisch, 1958 49,8 % evangelisch und 45,9 % katholisch.2 Im Rheinland war auf Grund der Zuwanderung durch Flüchtlinge und Vertriebene der evan1

2

Frie, Wohlfahrtsstaat und Provinz; Köster, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel; ders./Thomas Küster (Hg.), Zwischen Disziplinierung und Integration. Das Landesjugendamt als Träger öffentlicher Jugendhilfe in Westfalen und Lippe (19241999), Paderborn 1999; Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz; Steinacker, Der Staat als Erzieher; Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung. Köster, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, S. 162; ansonsten zur Geschichte NRWs: Detlev Briesen/Gerhard Brunn/Rainer S. Elkar/Jürgen Reulecke, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte Rheinlands und Westfalens, Köln 1995.

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

172

gelische Bevölkerungsanteil – besonders in den Ballungsräumen - stark gestiegen.3 Vor diesem regionalen und demographischen Hintergrund vollzog sich in NRW die Heimerziehung, die nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts zur Jugendhilfe für das Jahr 1965 folgendes Bild ergab4: Heimtyp Heime f. werdende Mütter Mutter/Kind-Heime

Einrichtungen

Freie Träger (%)

Plätze

Freie Träger (%)

19

100

318

100

9

100

226

100

Säuglingsheime

110

71

5.285

83

Kinderheime

259

78

19.454

83

21

95

2.621

97

44

89

4.845

77

Erziehungsheime für Schulpflichtige Erziehungsheime für Schulentlassene Sonderheime

32

75

2.834

54

Beobachtungsheime

10

90

222

92

504

79

35.805

81

Gesamt

Gut zehn Jahre zuvor umfasste die katholische Heimerziehung 127 Waisenhäuser/Kinderheime und 36 Fürsorgeerziehungseinrichtungen. Gerade beim ersten Heimtyp zeigten sich große Unterschiede hinsichtlich der Größe der Einrichtungen. Neben Häusern wie dem Aachener Kinderheim Stadtwald in Trägerschaft der Schwestern vom Armen Kinde mit 225 Plätzen, dem St. Vinzenz-Kinderheim in Bochum mit 220 Plätzen, dem St. Elisabeth-Waisenhaus in Dortmund in Trägerschaft der Propstei-Kirchengemeinde mit 225 Plätzen, dem Kinderheim St. Raphael des Katholischen Waisenvereins in Düsseldorf mit 250 Plätzen, dem St. Joseph-Elisabeth-Kinderheim in Trägerschaft der gleichnamigen Stiftung in Köln-Mülheim mit 311 Plätzen bestanden Heime mit 20 oder 30 Plätzen. Gerade in den Städten des Ruhrgebiets gab es zudem Heime, die zwischen 100 und 150 Plätze meist für Mädchen und Jungen im Alter von 2 bis 14 Jahren vorhielten. Aber sowohl hinsichtlich des Geschlechts als auch des Alters variierten die Angebote.5 3

4 5

Vgl. hierzu Uwe Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit. Die Transformation der Evangelischen Kirche im Rheinland (1948-1989), Bonn 2008, bes. S. 39-41. Statistisches Bundesamt, Reihe K, Fachserie Reihe 2 (1965), S. 69 u. 73. Becker, Handbuch, S. 96-108.

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Ebenfalls unterschiedlich waren die Ordensgemeinschaften, die das Personal für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen sowie die Hauswirtschaft stellten. Wenn dabei in den zum damaligen Zeitpunkt vier auf dem Gebiet NRWs bestehenden Diözesen Aachen, Köln, Münster und Paderborn – 1958 kam durch Abtrennungen noch das Bistum Essen hinzu – auch eine Konzentration derjenigen Gemeinschaften zu erkennen ist, deren Mutter- bzw. Provinzhäuser dort ansässig waren, ist jedoch durchaus auch eine Streuung zu beobachten. Auf diesem Feld besonders engagiert waren z. B. die Schwestern vom Armen Kinde Jesu aus Aachen-Burtscheid, die Paderborner Vinzentinerinnen, die Vorsehungsschwestern und die MSC-Schwestern aus Münster, die Schwestern Unserer Lieben Frau aus Mühlhausen und Coesfeld, die Elisabeth-Schwestern aus Essen-Bredeney oder die Franziskanerinnen aus Olpe. Als Gemeinschaft, die außerhalb NRWs ihr Mutterhaus besaß, waren die Dernbacher Schwestern in verschiedenen Heimen tätig.6 Im 1955 erschienenen ausführlichen Verzeichnis der caritativen Anstalten im Bistum Münster sind für den NRW-Teil der Diözese 19 „allgemeine Erziehungsheime für Kinder und Jugendliche und Waisenhäuser“ aufgeführt.7 Die Häuser in den ländlichen Regionen entstammten meist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Ruhrgebiet eher den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das Kinderheim „Maria in der Drucht“ entstand 1946 in noch vor Kriegsende u.a. für ausländische Zwangsarbeiter errichteten Steinbaracken in Duisburg-Großenbaum in Trägerschaft des Stadtcaritas-Verbands Duisburg, um Flüchtlingskinder aufzunehmen. Die Beschreibung des Anstaltsführers zeichnet außer der Schilderung der Besonderheiten der Gründungsphase und der Erzieherschaft doch auch ein interessantes Bild der zeitgenössischen Sicht der dortigen Bemühungen: „Die Flüchtlingskinder sind dem Heim allmählich entwachsen. Die Jungen und Mädchen wurden in gute Lehrstellen vermittelt. Junges Leben aus geschädigtem Milieu – vom Säugling bis zu 14- und 15jährigen Buben und Mädchen – sucht heute in ‚Maria in der Drucht’ Heimstatt. Bis September 1953 betreuten weltliche Kräfte (Säuglingsschwestern, Kindergärtnerinnen, Pflegerinnen, Jugendleiterinnen, Fürsorger und einige Handwerker) mit dem geistlichen Direktor und 2 bzw. 3 Lehrkräften die Kinder. 6 7

Ebd. Die caritativen Anstalten im Bistum Münster, hg. v. Diözesancaritasverband Münster, Bd. II, Münster o. D. [1955], S. 75-95.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Abb. 7: Kinderheim „Maria in der Drucht“ (vor 1955)

Seit dem 1.9.1953 sind auch 5 Schwestern aus der Kongregation der Schwestern Unserer Lieben Frau im Heim tätig. Das Waisenhaus Duisburg, Niederstraße, siedelte mit 80 Kindern und einigen Schwestern nach ‚der Drucht’ über. Rund 230 Kinder tummeln sich in der Freiheit des Druchtgeländes, so daß die große Familie mit all den Kräften, die sich für die Jugend einsetzen, rund 300 Personen zählt. Pünktlich viermal täglich gibt die Großküche das Essen an alle Häuser, es sind jetzt 11 Wohnhäuser, aus. Ernährung, Kleidung und Wohnung sicherzustellen, ist manchmal mit Sorgen verbunden, denn die Drucht-Niederung mit ihrem schlechten Boden bietet keine ausreichende Versorgung. Die Pflegesätze und die milden Gaben bilden die Einnahmequelle.“8 Unter den 1953 im Handbuch der caritativen Jungendhilfe aufgelisteten 36 Heimen der Fürsorgeerziehung stellte das Raphaelshaus in Dormagen mit 500 Plätzen für Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 21 Jahren die mit Abstand größte Einrichtung dar, die in Trägerschaft des Kölner Katholischen Erziehungsvereins für die Rheinprovinz stand. Es war als Aufnahme- und Beobachtungsheim für vorschul- und schulpflichtige Kinder wie auch als Durchgangsheim für 8

Ebd., S. 79.

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Schulentlassene konzipiert. Neben fast 50 MSC-Schwestern waren dort 15 weltliche Mitarbeiter – sieben Kindergärtnerinnen, eine Jugendleiterin, zwei Fürsorger, eine Fürsorgerin und fünf Handwerksmeister – tätig. Das St. Josefshaus im münsterländischen Wettringen mit 380 Plätzen9, das Kloster vom Guten Hirten in Münster mit 365 Plätzen10 und das Josefshaus der Arenberger Dominikanerinnen – 40 Schwestern und 7 weltliche Kräfte betreuten hier 315 Mädchen im Alter von 6 bis 21 Jahren – sowie das Kloster vom Guten Hirten in Bocholt besaßen zum damaligen Zeitpunkt über 300, weitere acht Heime immerhin über 200 Plätze. Jeweils sieben Heime standen in Trägerschaft der Schwestern vom Guten Hirten der Ordensprovinzen Köln und Münster bzw. des katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder. Die hier zu Tage tretende Schwerpunktsetzung auf die Betreuung von Kindern und weiblichen Jugendlichen war auch insgesamt zu konstatieren. Denn von den 36 Heimen nahmen nur vier männliche Minderjährige sowie fünf Häuser Jungen und Mädchen auf. Laut dem Verzeichnis evangelischer Erziehungsheime vom September 1953 existierten im Rheinland 75 evangelische Heime mit 6.331 Plätzen und in Westfalen 66 Heime mit 4.331 Plätzen.11 Die Heime waren nach Alter, Geschlecht und Erziehungsschwierigkeit differenziert. In Westfalen waren die Anstalten Schweicheln im Kreis Herford mit 415 Plätzen von Kleinkindern bis zu Schulentlassenen, die Betheler Zweiganstalten Freistatt bei Diepholz (über 300 Plätze), das Erziehungsheim Gotteshütte in Kleinenbremen (190 Plätze) und die Mädchenheime Ummeln (250 Plätze), Wengern bei Witten (175 Plätze) und Werther bei Bielefeld (126 Plätze) die größten Einrichtungen, die überwiegend von Diakonen der Betheler Nazarethbruderschaft bzw. Diakonissen der Betheler Sareptaschwesternschaft personell bestimmt wurden.12 9 10 11

12

Vgl. zum Josefshaus Kap. 5.4.9. Vgl. zum Guten Hirten Kap. 5.4.6. Verzeichnis evangelischer Erziehungsheime, in: Evangelische Jugendhilfe, September 1953, S. 36. Vgl. Benad/Schmuhl/Stockhecke, Endstation Freistatt; Ulrike Winkler, „Gehste bummeln, kommste nach Ummeln“. Sarepta-Diakonissen in der Fürsorgeerziehungsarbeit (1946-1979), in: Benad/Schmuhl/Stockhecke, Endstation Freistatt, S. 309-339; dies., Treibstes stürker, kommste nach Werther“. Die Sarepta-Schwestern von Bethel in der Fürsorgeerziehung, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 249-260; Tina Theobald/Melanie Mangold, Die Heime des Diakonieverbundes Schweicheln e.V., in: ebd., S. 279-291.

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Die größten Einrichtungen im Rheinland stellten nach dieser Aufstellung von 1953 die Düsselthaler Anstalten in Wittlaer bei Düsseldorf und die Kinder- und Erziehungsheime der Diakonissenanstalt Kaiserswerth dar.13 Waren die Düsselthaler Anstalten eine Einrichtung, die auch männliche Schulentlassene unterbrachte, so waren weitere große Einrichtungen wie die Kinder- und Mädchenheime der Bergischen Diakonissenanstalt Aprath (484 Plätze), die Heime des Neukirchener Erziehungsvereins (220 Plätze), die Karl-Immanuel-Küpper-Stiftung in Köln-Lindenthal (160 Plätze), das Evangelische Mädchenheim in Ratingen (150 Plätze), das Dorotheenheim in Düsseldorf (122 Plätze) und eine Vielzahl weiterer kleinerer Einrichtungen vorzugsweise für die Aufnahme von Mädchen jeden Alters vorgesehen. Insbesondere im Südrheingebiet, das seit 1946 zum neugegründeten Bundesland Rheinland-Pfalz gehörte, lagen noch weitere große Einrichtungen wie das alte Aufnahmeheim Oberbieber bei Neuwied (220 Plätze), das Mädchenheim „Bethesda“ in Boppard (180 Plätze), das Kinderheim „Auf ’m Schmiedel“ bei Simmern (160 Plätze) oder das Ev. Kinder- und Jugendheim Wolf an der Mosel (200 Plätze), die noch lange auch vom Landschaftsverband Rheinland zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen benutzt wurden. Allerdings sank hier der Anteil der Minderjährigen aus diesem Gebiet in den 1960er Jahren ab. Neben den konfessionellen Heimen existierten im Rheinland vier Landesjugendheime für männliche Jugendliche in Solingen (Halfeshof), Krefeld (Fichtenhain), Euskirchen (Erlenhof) und Brauweiler (Dansweilerhof), die 1961 von einem Heilpädagogischen Landesjugendheim in Viersen-Süchteln ergänzt wurden. Der Dansweilerhof wurde 1966 zu Gunsten der Einrichtung Abtshof in Hennef aufgegeben. Von 1950 bis 1960 existierte nur ein Landesjugendheim für Mädchen in Ratheim, weil die Platzzahlen im konfessionellen Bereich nicht ausgereicht hatten. Der starke Einfluss des Faktors Konfession wird in der Tatsache deutlich, dass selbst die Landesjugendheime nach der Konfession der Zöglinge – der Halfeshof in Solingen war für evangelische Jungen – gegliedert und von entsprechendem Personal geleitet

13

Die hier angegebenen Zahlen von 830 Plätzen (Düsselthaler Anstalten) und 605 Plätzen (Erziehungsheime Kaiserswerth) beruhen allerdings auf Doppelzählungen, die dann noch einmal durch eine separate Zählung des Heimes Neu-Düsselthal (470 Plätze) zusätzlich aufgebläht werden.

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waren.14 Somit wurde das im Rheinland bestehende System einer Differenzierung nach Alter, Geschlecht und Konfession weiter fortgeführt. In den vier Landesjugendheimen befanden sich häufig die als ‚schwieriger‘ eingestuften Kinder und Jugendlichen. Einen Überblick über die nach Konfession und Alter eingeteilten Plätze vermittelt eine Übersicht aus Mitte der 1950er Jahre.15 Hierin sind alle Plätze der Heime abgebildet, die auch FE- und FEH-Zöglinge aufnahmen, einschließlich der für andere Landesjugendämter oder zahlende Stellen – insbesondere ist dabei an die kommunale Jugendfürsorge zu denken – vorgehaltenen Plätze. Von den dort insgesamt 6.436 verzeichneten Plätzen waren fast die Hälfte (2.853) für vorschul- und schulpflichtige Kinder, der Rest teilte sich bei den schulentlassenen Minderjährigen nach Plätzen für männliche Jugendliche (1.115) und für weibliche Jugendliche (2.473). Insbesondere die Fürsorge für weibliche Schulentlassene war eine traditionelle Domäne der konfessionellen Heime, deren prozentuale evangelische und katholische Platzzahlen sich fast exakt mit der Konfessionsverteilung im Rheinland deckten. Insgesamt waren immer über 70 % aller Zöglinge der Fürsorgeerziehung und Freiwilligen Erziehungshilfe in Heimen konfessioneller Träger untergebracht.16 Eine Auflockerung des konfessionellen Prinzips der Verteilung der Kinder- und Jugendlichen in der öffentlichen Erziehung im Rheinland erfolgte erst Anfang der 1970er Jahre. Während der NS-Zeit fand eine rassistische Überwölbung der traditionellen öffentlichen Erziehung statt, die eine Betonung der autoritären Formen, eine Differenzierung nach Erbgesundheit und eine 14

15 16

Vgl. Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 80-83; dies., Religion und religiöse Erziehung in den Heimen des Landschaftsverbandes, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 449ff.; Judith Pierlings/Thomas Swiderek, Die Heime des Landschaftsverbandes Rheinland unter konfessionellen Vorzeichen, in: ebd., S. 191-209. Vgl. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 553-559. Doch zeigt der Wert deutliche Abweichungen, wenn man Kinder und Jugendliche in FE und FEH vergleicht. Der Anteil an Zöglingen in FEH liegt etwa 5 % über diesem Durchschnittswert, der bei Zöglingen in FE etwa 5 % darunter. Danach befanden sich etwa 1954 insgesamt 78,2 % aller in Heimen untergebrachten Minderjährigen in öffentlicher Erziehung in konfessionellen Heimen. Differenziert man diesen Wert nach FE oder FEH, lag er bei 73,6 % gegenüber 85,5 %. Dieser Ausschlag veränderte sich bis 1970 kaum: 1970 waren es 76,1 % gegenüber 70,5 % bzw. 80,1 %, vgl. Landschaftsverband Rheinland, Leistung Zahlen, 1954-1964, S. 100 sowie Landschaftsverband Rheinland, Leistung Zahlen, 1970-1980, S. 145. Siehe zudem Henkelmann/ Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 71f.

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versuchte Entkonfessionalisierung sowohl im Heimbereich wie im Pflegekinderwesen mit sich brachte. Im Rheinland wie in Westfalen kam es zur Zwangssterilisation von rund 6 % der Minderjährigen in öffentlicher Erziehung und zur Ausgrenzung von Jugendlichen jüdischer oder mit als „minderwertig“ erachteter Herkunft.17 Dieser „völkisch-rassenhygienische Rahmen“, der somit im NS-Staat auch die Fürsorgeerziehung in Westfalen beeinflusst hatte, verschwand nach 1945 „offiziell umgehend wieder in der Versenkung“. Dennoch war offenbar auch hier „die zumindest rudimentäre Fortexistenz erbbiologischer Bewertungskriterien“ zu konstatieren. So enthielten die von der Psychiaterin Gertrud Wember, die sich zwischen 1948 und 1971 als hauptamtliche Gutachterin für die westfälische Erziehungsbehörde betätigte, verfassten psychologischen Beurteilungen „eine erstaunlich ungebrochene sozialbiologische Diktion“. Und ebenso galt die Anordnung der Fürsorgeerziehung als bewährtes Mittel im Kampf gegen die als immer problematischer empfundene Jugendverwahrlosung in der direkten Nachkriegszeit. Immerhin stieg die Zahl der Einweisungen von 6.000 im Jahr 1945 auf 7.500 drei Jahre später an.18 Im Rheinland gerieten die während der Zeit des Nationalsozialismus Verantwortlichen der Rheinischen Provinzialverwaltung, der katholische Landesrat Walther Hecker und die evangelische Landesoberverwaltungsrätin Martha Beurmann, im Herbst 1945 zunächst in alliierte Internierung. Nach erfolgreichen Entnazifizierungen – u.a. durch Befürwortungen der konfessionellen Verbände – kamen sie aber bereits zu Beginn der 1950er Jahre wieder zurück in ihre Positionen.19 Einige der Instrumente der Jahre vor 1945 liefen auch danach weiter. Dabei ist nicht nur an die im Rheinland bereits 1927 eingeführte „Freiwillige Erziehungshilfe“ zu denken20, sondern auch an die Instrumente der Gefährdeten- und Bewahrungsfürsorge, die bis in die 1960er Jahre – wenn auch nur statistisch marginal – in Gebrauch 17

18 19

20

Henkelmann/Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), S. 33-42; Kuhlmann, Erbkrank, S. 135; Steinacker, Der Staat als Erzieher, S. 920. Köster, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft, S. 540ff. Vgl. Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 50-60. Vgl. ebd., S. 30f., Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung, S. 380-384; Steinacker, Der Staat als Erzieher, S. 239-243 sowie die Selbstdarstellung bei Karl-Wilhelm Jans/Martha Beurmann, Öffentliche Erziehung im Rheinland. Aufgabe, Weg und Ziel, Köln o. J. [1963], S. 37ff.

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blieben.21 Noch 1960 forderte der Landschaftsverband Rheinland ein Bewahrungsgesetz. Hinsichtlich der Steuerung der Jugendfürsorge spielte es eine große Rolle, dass am 6. Mai 1953 per Landtagsbeschluss die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe als Rechtsnachfolger der preußischen Provinzialverbände konstituiert wurden. Nach der neuen Landschaftsverbandsordnung hatten die neuen Körperschaften wie ihre Vorgänger ein Landesjugendamt für die Bewältigung der Aufgaben der Jugendwohlfahrt zu unterhalten. Sie sollten „im Auftrage des Landes die Fürsorgeerziehung“ durchführen sowie „die notwendigen fürsorgerischen, erzieherischen und pflegerischen Anstalten und Einrichtungen“ vorhalten. Dabei galt es, „die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege“ zu fördern und zu unterstützen.22 Damit hatten sich nach zähem Ringen letztlich diejenigen Protagonisten durchgesetzt, die an den traditionellen Strukturen festhalten wollten. Diese Praxis war in Westfalen nach 1945 relativ bruchlos fortgeführt worden, obwohl sich daraus ein permanenter Konflikt zwischen dem Düsseldorfer Sozialministerium, das in seinem Haus eine Zentralisierung der Jugendhilfeverwaltung anstrebte, und den Befürwortern der landschaftlichen Selbstverwaltung in Münster ergab.23 Gerade auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände unterstützten die westfälischen Bestrebungen, da sie innerhalb des althergebrachten Rahmens eine dominierende Rolle einnahmen. Denn von Beginn an hatte der westfälische Provinzialverband für die Heimerziehung auf die Heime in freier, meist konfessioneller Trägerschaft zurückgegriffen, ohne eigene Einrichtungen zu schaffen. Durch die konfessionelle Verankerung der leitenden Beamten im Landesjugendamt wurde dieser Kurs abgestützt. Darüber hinaus herrschte die Meinung vor, auf diese Weise die jugendfürsorgerischen Aufgaben mit deutlich geringeren Kosten und gleichzeitig effizienter durchführen zu können. Trotz zeitweiliger Versuche während des Dritten Reichs, die Ju-

21

22 23

Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 47f. Landschaftsverbandsordnung NRW v. 12. Mai 1953, § 5. So war die rheinische Provinzialbehörde 1946 faktisch aufgelöst und dem 1946-1953 bestehenden Sozialministerium eingegliedert worden. Erst als 1953 der Landschaftsverband Rheinland neu gegründet wurde, trat seine Fürsorgeverwaltung wieder eigenständig auf. Siehe Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 49.

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gendfürsorge zu entkonfessionalisieren, blieb dieses System ohne Einbußen erhalten.24 Gefördert von der britischen Militäradministration, wurde diese enge Zusammenarbeit nach 1945 fortgeführt. Da andere freie Träger wie etwa die SPD-nahe Arbeiterwohlfahrt im NS-Staat zerschlagen worden waren, hatte sich das Übergewicht der konfessionellen Träger noch erhöht. Und auch in der Nachkriegszeit wurden diese Verhältnisse auf der personellen Schiene nachhaltig getragen, indem mit der promovierten Volkswirtin Ellen Scheuner die seit 1943 bis zum Ruhestand 1966 im westfälischen Landesjugendamt maßgebliche Person – seit 1953 als Landesrätin – enge Verbindungen zu den konfessionellen Trägern unterhielt, die sich wiederum im Entnazifizierungsverfahren für das ehemalige NSDAP-Mitglied mit Erfolg einsetzten. In ihrer Personalakte befinden sich etwa Leumundzeugnisse vom Direktor der Marienburg, Prälat Röer, und von Pastor Bellingrodt, dem Direktor der evangelischen Anstalt Schweicheln.25 Als bundesweit anerkannte Verwaltungsexpertin war Ellen Scheuner doch auch der direkte Kontakt zu den „Heim-Zöglingen“ wichtig. So besuchte sie regelmäßig unangemeldet die von ihrer Behörde belegten Heime und führte dabei auch Einzelgespräche mit den Mädchen und Jungen. Offenbar ließ sie es sich auch nicht nehmen, ab und an selbst „die Bahnhöfe nach ‚gefährdeten Mädchen’“ abzusuchen.26 Für Markus Köster fand ihr Wirken „in einer eigentümlichen Mischung aus christlichem Hilfeimpetus, preußischem Beamtenethos und einem hochkonservativen Gesellschafts- und Menschenbild“ statt. Sie verkörperte „geradezu idealtypisch […] in ihrer beruflichen Karriere und ihren Überzeugungen die durch die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts bemerkenswert ungebrochenen Kontinuitäten des konservativ-christlichen Strangs der deutschen Wohlfahrtspflege.“27 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Landesjugendamt Westfalen und den konfessionellen Trägern bis Mitte der 1960er Jahre ohne sichtbare größere Probleme funktionierte. Das Übergewicht der privaten Heime war erheblich, und erst Ende der 1950er Jahre kam hier mit dem Elsa-Brandström-Haus in Minden, das sich in Trägerschaft des DRK befand, das erste nicht-kon24

25 26 27

Köster, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, S. 509-536; Frölich, Landesjugendamt in Westfalen, S. 176-181. Vgl. zu Scheuner: Köster/Küster, Disziplinierung, S. 90-99. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98f.

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fessionelle Haus hinzu. In der Nachkriegszeit bestanden zudem nur insgesamt sechs landschaftsverbandseigene Erziehungsheime, die jedoch auf Grund ihrer geringen Platzzahlen ebenfalls kaum eine spürbare Rolle unter den westfälischen Heimen spielten.28 Nicht nur die im JWG von 1961 festgeschriebene Heimaufsicht durch das Landesjugendamt, die grundsätzlich bei den konfessionellen Fachverbänden wie auch vielen Trägern und Heimleitern auf Widerstand stieß, sorgte dann jedoch für eine Trübung des Bildes. Auch die Übernahme der Leitung der westfälischen Jugendbehörde nach dem Ausscheiden von Landesrätin Scheuner durch Günter Happe bedeutete einen wesentlichen Einschnitt. Der promovierte Jurist war seit 1955 beim Landschaftsverband Rheinland auf dem Feld der Jugendwohlfahrt vor allem in Fragen des Jugendhilferechts tätig. So widmete er sich in Erläuterungen und Kommentaren zum JWG intensiv der Heimaufsicht. Diese versuchte er durch seine Behörde gerade auch bezüglich der pädagogischen Praxis und der Qualifizierung der Mitarbeiterschaft in den Einrichtungen konsequenter durchzusetzen, wobei er auch Konflikte mit Heimleitungen in Kauf nahm.29 Im Rheinland dauerte ebenfalls das konfessionell-fürsorgestaatliche Kartell, das bereits die Jugendfürsorge in der Zwischenkriegszeit bestimmt hatte, nach 1945 fort. Es erfolgte neben einer konfessions- und geschlechtsspezifischen Einteilung der Heimlandschaft eine zunehmende äußere und innere Differenzierung der Einrichtungen, welche sich besonders an der Erziehungsschwierigkeit orientierte.30 „Alter, Geschlecht, normale oder verminderte Begabung, Heimschulbedürftigkeit oder Möglichkeit zum Ortsschulbesuch, Art und Grad der Gefährdung oder Schädigung und danach z. B. Heim für kurzen Übergang zur Familienpflege bis hin zu Heimen für stark sexuell geschädigte Schulkinder und Sonderheimen oder Heimteilen für stark regelwidrige, ‚psychopathische‘ Minderjährige, Befähigung zur Erlernung handwerklicher Berufe oder überwiegend zur Anleitung zur Arbeit, körperliche Erkrankungen oder Gefährdungen, vornehmlich in Bezug auf Tbc oder Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft oder

28 29 30

Frölich, Landesjugendamt Westfalen, S. 176. Ebd., S. 181f.; Köster/Küster, Disziplinierung, S. 99-103. Die „erforderliche Differenzierung der Einrichtungen und Heime nach der zu leistenden Erziehungsaufgabe“ wurde dann auch bei der Reform des JWG 1961 im § 72 für die FE/FEH verpflichtend gemacht.

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Mutterschaft, auch Lage (Großstadt, Mittelstadt, Land) und Größe der Heime waren unterschiedlich.“31 Heimdifferenzierung und Gruppendifferenzierung führten zur Schaffung einer zunehmenden Zahl von Sondereinrichtungen im Rheinland: Abteilungen für schwerverwahrloste Mädchen, heilpädagogische Heime und der zunehmende psychiatrische Zugriff bestimmte die Differenzierung der Heime. Nachfolgend werden auf evangelischer Seite in Mikrostudien zwei große Heimkomplexe vorgestellt, die beispielhaft die evangelische Heimfürsorge im Rheinland repräsentieren: die Düsselthaler Anstalten in Wittlaer (Düsseldorf) mit ihrem breiten Fürsorgeprofil von Kindern bis schulentlassenen Jungen und die Mädchenheime der Kaiserswerther Diakonissenanstalt für schulentlassene Mädchen. Auf katholischer Seite werden die münsterländischen Einrichtungen Josefshaus, Martinistift und Marienburg mit ihrem Schwergewicht auf schulpflichtigen wie schulentlassenen Jungen sowie die Heime der Schwestern vom Guten Hirten mit ihrer Problemklientel der schulentlassenen Mädchen näher betrachtet.

31

Bericht zu dem Arbeitsgebiet „Heimdifferenzierung“. Arbeitsstand 29.2.1972 (Beurmann, 31.5.1972), in: ALVR 18679 (auch ALVR 39268).

NIEDERSACHSEN

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5.2 Niedersachsen Im Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen entwickelten sich im 19. Jahrhundert ausgehend vor allem von evangelischen Initiativen Heime für Waisenkinder und für erziehungsschwierige Mädchen und Jungen. Auf Grund der konfessionellen Verteilung als auch der jugendfürsorgerischen Bemühungen der Bistumsleitungen lagen die katholischen Heime schwerpunktmäßig im Oldenburger Münsterland, im Emsland sowie im Hildesheimer und Osnabrücker Raum. Dabei brachte es die weitgehende Diaspora-Situation mit sich, dass im Bistum Hildesheim die Gründung einer Reihe von Kinderheimen offenbar nicht zuletzt zur Vorbereitung der verstreut wohnenden katholischen Kinder auf die Erstkommunion vorgenommen wurde. Denn in diesen „Kommunikantenanstalten“ verbrachten sie zur katechetischen Unterweisung einen mehrwöchigen Aufenthalt.32 Das Zwangserziehungsgesetz im Kaiserreich, das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz und schließlich das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bedingten eine große Ausweitung der jugendfürsorgerischen Arbeit, die ganz überwiegend von den Pflegegeldern der Behörden bezahlt wurde. Organisation der Fürsorgeerziehung in Niedersachsen Nach der NS-Zeit setzte die britische Militärregierung beim Neuaufbau gerade im personellen Bereich auf die Kirchen, was auch für die Jugendhilfe und Heimfürsorge zutraf. So wurde der langjährige Leiter des Stephansstiftes (1924-1960) und zugleich Vorsitzende des AFET, Johannes Wolff (1884-1977), 1945 der erste Leiter des Landesjugendamtes.33 32

33

Vermutlich von Caritasdirektor Sendker verfasste Ausarbeitung zur Einrichtung einer Heimerziehungsberatungsstelle im Bistum Hildesheim v. 21.12.1955, in: BAHI, DiCV Hildesheim Nr. 1836. Johannes Wolff, geb. 1.8.1884 in Lachem/Niedersachsen, gest. 28.2.1977 in Hannover, Pfarrer, Inspektor des Alumnats und Hilfslehrer am Gymnasium HannoverschMünden, 1910 Hilfsgeistlicher in Harburg und Pastor in Quickborn, 1914-1923 Vorsteher der Pestalozzistiftung in Groß-Burgwedel, 1923-1960 Vorsteher des Stephansstiftes in Hannover-Kleefeld, seit 1924 Vorsitzender des AFET, 1925-1965 Vorsitzender des CVJM-Landesverbandes Hannover, 1932/33 Leiter des Verbandes Evangelischer Wohlfahrtspfleger, 1945/46 Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks (Hauptbüro Hannover), 1946-1950 Leiter des Landesjugendamtes Hannover, seit 1950 Präsident der Landessynode Hannover.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Erst 1950 löste ihn Fritz Söhlmann in dieser Funktion ab.34 Die Militärregierung gab Wolff im September 1945 die Zusage: „Private freiwillige Organisationen und insbesondere die Kirchen werden dahingehend unterstützt werden, ihre Betätigung auf dem Gebiete der Jugendwohlfahrt im vollen Umfange wieder aufzunehmen.“35 Johannes Wolff hatte während der NS-Zeit erfolgreich taktiert und eine nationalsozialistische Gleichschaltung des Stephansstiftes verhindert – im März 1934 beorderte er etwa auf Anfrage der „Kommandantur der staatlichen Konzentrationslager“ in Papenburg vier (Hilfs) Diakone zum Wachdienst in die sogenannten Emslandlager, um nicht als illoyal zum NS-Regime zu erscheinen.36 Dennoch galt er nach dem Krieg als unbelastet und war sowohl Vorsitzender des AFET, als auch Leiter des Evangelischen Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Hannover.37 Für die „Sicherung der Erziehungsarbeit im demokratischen Sinne“ legte der Minister für Volksgesundheit und Wohlfahrt 1947 entscheidenden Wert auf eine Entnazifizierung, weswegen das Landesjugendamt von den Heimen Listen mit Angaben über eine Parteizugehörigkeit der Mitarbeiter, laufende Spruchverfahren etc. einforderte.38 Ein überliefertes Beispiel bietet die Liste des Birkenhofs, von dessen 89 Mitarbeitern demnach 26 ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, bei 13 galt zudem, dass sie zwar nicht der NSDAP, aber in einer ihrer Gliederungen wie der NS Frauenschaft, HJ, dem BDM etc. gewesen waren, so auch die Hausmutter, die Diakonisse Anna Meyberg aus dem Henriettenstift in der NS-Frauenschaft. Die Theologen waren mehrheitlich nicht Parteimitglieder geworden, sodass sie als unbelastet galten. 34 35

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38

Siehe Unsere Jugend 2 (1950), Nr. 4, S. 158. Militärregierung Hannover an Pastor Wolff im Stephansstift als Leiter des LJA betr. Jugendwohlfahrt einschl. verwahrloste und kriminelle Jugend v. 26.9.1945, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 34/93 Nr. 4. So auch die Beschreibung in: Nach dem Sturm. Bericht über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern 1945/46, bes. S. 2. Vgl. die sehr differenzierte Bewertung durch Häusler, „Dienst an Kirche und Volk“, S. 338-350. Siehe für eine ausführlichere Beschreibung der Verhältnisse in Kirche und Innerer Mission in der hannoverschen Landeskirche: Hans Otte, Ein schwieriges Erbe im Rückblick. Die hannoversche Landeskirche und die Henriettenstiftung, in: JochenChristoph Kaiser/ Rajah Scheepers (Hg.), Dienerinnen des Herrn. Beiträge zur weiblichen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 184-209. LJA an private Erziehungsheime der Provinz Hannover v. 5.2.1947 und Liste des Personals, in: HAB, Birkenhof 130.

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Die britische Militärregierung bestätigte 1945 die bestehende Verwaltungsstruktur in ihrer Besatzungszone. Doch wurden dem Oberpräsidium zusätzlich die Aufgabenbereiche der Reichs- und Preußischen Ministerialinstanzen übertragen. Ab Anfang 1946 wechselte auch die bisherige Verwaltung des Provinzialverbandes zum Oberpräsidium. Das seit 1930 in Niedersachsen formell bestehende Landesjugendamt wurde eine Abteilung beim Oberpräsidenten als Verwaltung des Provinzialverbandes. Das Landesjugendamt war weiterhin Fürsorgeerziehungsbehörde für den Bereich der sechs ehemaligen hannoverschen Regierungsbezirke. Seine Aufgaben bestanden in der Pflegekinderaufsicht und Durchführung der Fürsorgeerziehung. Dafür bediente es sich wesentlich neben dem staatlichen Landeserziehungsheim in Göttingen konfessioneller Heime. Diese wurden für evangelische „Zöglinge“ von in der Inneren Mission zusammengeschlossenen Vereinen sowie für katholische „Zöglinge“ meist von Ordensgemeinschaften wie den Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim, den Bischöflichen Stühlen in Hildesheim und Osnabrück, dem KFV/ SkF und von Kirchengemeinden getragen. Spätestens seit 1954 bestand ein Landesjugendwohlfahrtsausschuss beim Landesjugendamt Hannover. Zudem gab es bis 1954 bei 39 Jugendämtern in Niedersachsen entsprechende Ausschüsse. Das Landesjugendamt wurde von 1959 bis 1972 als Fachdezernat ins Landesverwaltungsamt eingegliedert und seine Aufgaben danach auf die Regierungspräsidenten/Verwaltungspräsidenten verteilt.39 Darüber hinaus gab es die Landesjugendamtsbezirke Oldenburg und Braunschweig, da 1946 bei der Gründung des Landes Niedersachsen das Land Oldenburg und der Freistaat Braunschweig, die nicht zur preußischen Provinz Hannover gezählt hatten, als Verwaltungsbezirke konstituiert wurden. In den ersten Monaten nach Kriegsende ruhte offenbar die Arbeit der Amtsgerichte, weswegen es z. B. im Heim Birkenhof zu keinen Zuweisungen kam.40 Erst seit September 1945 mehrten sich die Aufnahmen wieder, wobei zusätzlich gemäß den Bestimmungen gegen die wandernde Jugend Minderjährige auch aus Strafgründen von der eng-

39

40

Vgl. die Bestandsbeschreibung „Landesjugendamt“ von Sven Mahmens (2004), in: HHSA. Nach dem Sturm. Bericht über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern 1945/46, bes. S. 2.

186

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

lischen Besatzungsbehörde in die Heime eingewiesen wurden.41 Einen zeitgenössischen Eindruck von den Mädchen in moralisierender Perspektive gibt der Jahresbericht des Heimes Birkenhof vom Juni 1946: „Die gesundheitliche, geistig-seelische und erziehliche Lage der Jugendlichen ist sehr ernst. Mit wenigen Ausnahmen sind die Mädchen unterernährt, körperlich verwahrlost, ungepflegt, unsauber, mangelhaft gekleidet, die Kleider schmutzig, zerrissen, verkommen. Diese haben Läuse und fast alle sind mit Krätze behaftet. Ein geregeltes Leben sind sie nicht mehr gewöhnt. Das trostloseste Bild bieten die Mädchen, die in Flüchtlings- und Ausländerlagern gelebt haben, von ihnen geht eine Woge von äußerem und innerem Schmutz aus. Sie sind anfangs sehr schwierig und können sich schwer wieder an Zucht und Sitte gewöhnen, versuchen auch zu entweichen, während andere auch dankbar sind für die Sauberkeit und Ordnung, die sie im Heim vorfinden.“42 Weiterhin sei das Schulwissen auf Grund des unregelmäßigen Schulbesuches während des Krieges gering, ebenso das „religiöse Wissen“: „die 10 Gebote, das Vaterunser, die Glaubensartikel kennen nur einzelne“. Die Beschreibungen sozialer Not koppelten sich mit moralischen Bewertungen über die „Verwirrung der Begriffe“ in „sittlicher Beziehung“, der Kritik an der vermeintlichen „Triebhaftigkeit“ der Mädchen und ihrer reduzierten Interessen auf die „Magen- und Kleiderfrage“. In Niedersachsen wurde formal die Freiwillige Erziehungshilfe auf der Basis des Runderlasses des Reichsinnenministeriums über die Erziehungsfürsorge vom 25.8.1943 gewährt.43 Die Zahlen der in FEH statt FE befürsorgten Kinder und Jugendlichen blieben bis Anfang der 1950er Jahre gering44, was wohl wesentlich an der Kostenfrage lag. Die Leiterin des Renthe-Fink-Hauses in Osnabrück betonte Ende 1955 die Schwierigkeiten bei der FEH, seit die Abrechnung über die örtli41

42

43

44

Siehe z. B. den Fall eines wegen Diebstahls zu „drei Jahre[n] Erziehungs-Anstalt“ verurteilten Mädchens aus dem Birkenhof. Anklageschrift der Militärregierung (Charge Sheet) v. 19.9.1946 u. Laufzettel des Landgerichtsgefängnisses Hildesheim (o. D.), in: HAB, Birkenhof 112. Nach dem Sturm. Bericht über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern 1945/46, bes. S. 3. Siehe die Übersicht bei Schulz, Die Freiwillige Erziehungshilfe, bes. S. 21ff.; Kraul, u.a., Zwischenbericht, S. 12f. Im Land Oldenburg konnte die FEH erst im Oktober 1949 eingeführt werden (vgl. Carspecken/Gaupp, Wo steht die Fürsorgeerziehung?, S. 9). So waren die Zahlen für die FEH in Niedersachsen 1950 mit 171 absolut marginal und stiegen bis 1955 auf 1.041 und 1960 auf 2.295; vgl. Frings, Heimstatistik, S. 35.

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chen Jugendämter laufe. Diese suchten zur Kostenerstattung der FEH die Eltern heranzuziehen. „An dieser Forderung von einigen Jugendämtern scheitere so manche Heimerziehung bzw. sie würde zum Schaden des Kindes vorzeitig abgebrochen, weil viele Eltern es mit Recht nicht glaubten verantworten zu können, daß u. U. zur Finanzierung des Heimaufenthaltes für eines ihrer Kinder die Geschwister von der höheren Schule genommen bzw. von der Erlernung eines höheren Berufes ausgeschlossen werden müssten.“45 Seit 1951 wurde die FEH in Niedersachsen wie die FE durchgeführt. Allerdings endete mit der Heimerziehung auch der Aufgabenbereich der Jugendämter, womit festgelegt war, dass eine Vermittlung in Pflege- bzw. Dienststellen nicht mehr erfolgen sollte.46 Die länderspezifischen Unterschiede in der Gewährung und Ausgestaltung der FEH verschwanden überwiegend erst nach der gesetzlichen Vereinheitlichung durch das JWG von 1961. Nachfolgend waren auch in Niedersachsen keine Unterschiede zwischen FE und FEH zu machen. Pflege-, Lehrund Arbeitsvermittlungen konnten vorgenommen, die FEH nur auf schriftlichen Antrag der Personensorgeberechtigten mit schriftlicher Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides aufgehoben werden. „Das bedeutet praktisch eine Art Kündigungsfrist“, interpretierte 1963 das Landesjugendamt in einem Rundschreiben an die Heime. Diese seien aber nicht zur Herausgabe eines Minderjährigen auf Verlangen eines Personensorgeberechtigten ohne vorherige Genehmigung des Landesjugendamtes verpflichtet.47 Insbesondere der Umstand der Zustimmung der Eltern zur FEH, die ja auch zurückgezogen werden konnte, machte den Heimen zu schaffen. Die Heime befürchteten eine Diskontinuität der pädagogischen Einwirkung auf die Minderjährigen, wenn in Konfliktfällen die Zustimmung zur FEH zurückgezogen und eine Entlassung verlangt werden konnte. In anderen Bundesländern wie in Schleswig-Holstein existierten deshalb sogar unterschiedliche Einrichtungen für Minderjährige in FE und FEH. Die niedersächsischen Heimleiter forderten im November 1968 daher, die Eltern bei Abbruch der FEH zur Zahlung der vollen Heimkosten heranzuziehen, was jedoch aus rechtlichen Bedenken vom Landesjugendamt abgelehnt wurde. Insgesamt stellte 45

46 47

Bericht über den Besuch des Renthe-Fink-Hauses in Osnabrück am 14.11.1955 v. 16.11.1955, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Schulz, Die Freiwillige Erziehungshilfe, S. 21. Landesjugendamt an Erziehungsheime v. 12.3.1963, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 106/85 Nr. 29.

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188

der Braunschweiger Landesjugendamtsvertreter Trowitzsch fest: „Das Durchhaltevermögen der Eltern bei Gewährung der Freiwilligen Erziehungshilfe läßt allgemein zu wünschen übrig. Im Bereich des Landesjugendamtes Hannover wird die Freiwillige Erziehungshilfe in 10 % aller Fälle, im Bereich des Landesjugendamtes Braunschweig in etwa 50 % aller Fälle vorzeitig abgebrochen.“48 Dieser Umstand ließ die Heime eher an eine Einschränkung der Elternrechte als an eine verstärkte Elternarbeit denken. Heimtopographie In Niedersachsen war die Heimfürsorge entsprechend der konfessionellen Zusammensetzung der untergebrachten Minderjährigen sehr stark von konfessionellen Einrichtungsträgern bestimmt, die zudem nach ihrem Selbstverständnis staatliche Aufgaben wahrnahmen.49 Bereits eine Übersicht über die wichtigsten Arten der Unterbringung im Rahmen der Fürsorgeerziehung in der Britischen Zone 1949 verdeutlicht die ausgeprägte Dominanz der konfessionellen und besonders der evangelischen Trägerschaft.50 Gesamtzahl

in v.H.

NRW

Niedersachsen

SchleswigHolstein

Hamburg

in der eigenen Familie

3.774

17,0

7.367

908

389

110

In Familienpflegestellen

2.101

9,5

1.402

469

210

20

In Lehr-, Dienst- und Arbeitsstellen

4.615

20.8

2.882

1.262

386

85

11.317

51,0

6.895

2.907

1.019

496

2.587

22.9

1.246

267

688

388

Art der Unterbringung

in Heimen darunter: in öffentlichen Heimen in ev. Heimen

4.249

37,6

2.150

2.038

1

60

in kath. Heimen

4.030

35,6

3.499

508

10

13

48

49

50

Ergebnisniederschrift über die vom LJA Hannover veranstaltete Arbeitstagung für Heimleiter am 4./5.11.1968 in Hannover, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc 103/76 Nr. 13/2. „Von 100 Eltern im Mädchenheim Linerhaus ist nur eine Mutter, von 40 Eltern in der Kinderheimat Bückeburg e. V. ist nur ein Elternpaar zu einer echten Mitarbeit bereit“. Vgl. Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 3.11.1953 im Erziehungsheim Bernwardshof in Himmelsthür v. 5.11.1953, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Gertraude Scholz, Statistik über die Durchführung der Fürsorgeerziehung in der britischen Besatzungszone der Bundesrepublik, in: AFET-Mitgliederrundbrief September 1950 (Sonderdruck Nr. 1), S. 2.

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Von den im Frühjahr 1949 insgesamt 2.907 in Heimen in Niedersachsen betreuten Minderjährigen im Rahmen der FE waren allein 2.038 in evangelischen und 508 in katholischen Heimen untergebracht. Noch 1965 lag die Quote der in Einrichtungen nicht-staatlicher Träger – das waren fast ausschließlich evangelische oder katholische – im Rahmen von FE oder FEH befürsorgten Kinder und Jugendlichen bei 90 %.51 Im protestantisch dominierten Niedersachsen waren es wiederum die evangelischen Träger, welche zahlenmäßig überwogen. In den Landesverbänden Braunschweig (4), Hannover (31) und Oldenburg (4) der Inneren Mission bestanden 1953 insgesamt 39 Heime, die 3.552 Plätze anzubieten hatten.52 Von den Anfang bis Mitte der 1960er Jahre existierenden rund 3.000 Heimplätzen für nach FE und FEH untergebrachte Jugendliche rühmten sich die evangelischen Anstalten 1963, rund 2.500 anbieten zu können.53 Die größten evangelischen Heime mit über 100 Plätzen bestanden 1953 in Hannover mit dem 1873 gegründeten Stephansstift mit 582 schulpflichtigen und schulentlassenen Jungen und mit dem 1879 gegründeten Birkenhof, der einschließlich seiner Außenheime in Schloss Hämelschenburg, Bad Harzburg, Gleidingen und Neuenkirchen 350 meist schulentlassene Mädchen befürsorgte. Die 1899 gegründete Einrichtung Freistatt gehörte zu den westfälischen von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld und bot 336 Plätze für schulentlassene männliche Jugendliche.54 In Großburgwedel befand sich die 1846 gegründete Pestalozzistiftung für 317 Jungen und Mädchen vom Vorschul- bis zum Schulentlassenenalter, in Altencelle das 1845 gegründete Linerhaus für 180 schulpflichtige Mädchen und in Celle das Evangelische Waisenhaus, das 104 Kinder und Jugendliche vom ersten Lebensjahr bis zur Schulentlas51

52

53

54

Bernhard Frings/Uwe Kaminsky, Konfessionelle Heimerziehung von den 1950er bis in die 1970er Jahre – Spezifika und Tendenzen, in: Rainer Kröger/Christian Schrapper (Hg.), Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre Stand und Perspektiven aktueller Forschung Dokumentation eines ExpertInnengesprächs am 3. Juni 2009 in Koblenz in Kooperation AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. und Universität Koblenz-Landau, Institut für Pädagogik, Koblenz 2009 (Ms.), S. 29-36. Zahlen nach Verzeichnis Evangelischer Erziehungsheime (Sonderheft der „Evangelischen Jugendhilfe“, September 1953); vgl. Statistik in Kap. 2. Siehe Zahlen allgemein in Statistik in Kap. 2; Denkschrift des Fachverbandes evangelischer Erziehungs- und Kinderheime in Niedersachsen über die wirtschaftliche Lage der Erziehungsanstalten der Inneren Mission im Lande Niedersachsen v. 30.4.1963, in: HAB, Birkenhof 132. Siehe ausführlich zu dieser Anstalt Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt.

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sung betreute. In Himmelsthür bei Hildesheim existierte das 1884 gegründete Frauenheim mit 270 schulentlassenen Mädchen und Frauen, bei Bruchmühlen das „Erziehungsheim Hünenburg“ für 140 vorschulund schulpflichtige Kinder, und in Osnabrück das Renthe-Fink-Haus, das für 125 Schulpflichtige mit ausdrücklicher psychotherapeutischer Behandlung vorgesehen war. Im Oldenburgischen Landesteil stach als Einrichtung mit mehr als 100 Plätzen das erst 1946/48 gegründete Evangelisch-Lutherische Wichernstift in Adelheide bei Delmenhorst als Teil des dort errichteten christlichen Jugenddorfes hervor, das 360 Plätze für Kleinkinder bis zu Schulentlasssenen anzubieten hatte. Zudem bestanden in allen Landesteilen noch kleinere Waisen- und Erziehungsheime.55 Laut Handbuch der caritativen Jugendhilfe in Deutschland56 gab es 1953 in Niedersachsen vier FE-Heime: die 1913 bei Papenburg gegründete Johannesburg in Trägerschaft der Hiltruper Herz-Jesu-Missionare mit 170 Plätzen für schulentlassene Jungen, das 1948 in DelmenhorstAdelheide durch einen Trägerverein ins Leben gerufene Katholische Jugendwerk St. Ansgar mit zusammen 375 Plätzen für Jungen und Mädchen bis 19 Jahren, der 1906 gegründete Bernwardshof in Himmelsthür bei Hildesheim mit 180 Plätzen für Jungen im Alter von 2 bis 21 Jahren, der in Trägerschaft der Hildesheimer Barmherzigen Schwestern stand, sowie das Mädchenheim Schloss Wollershausen, in dem der KFV schulentlassene Mädchen bis zum Alter von 21 Jahren betreute. Daneben waren im Handbuch 20 Waisenhäuser/Kinderheime aufgeführt, von denen das Kinderheim St. Josef in Hannover-Döhren mit 200 Plätzen, das Antoniusstift in Damme mit 140 Plätzen, Gut Leye und das Waisenhaus St. Johann in bzw. bei Osnabrück mit jeweils 120 Plätzen sowie das Kinderheim Johanneshof in Hildesheim, das Blumsche Waisenhaus in Henneckenrode und das Kinderheim St. Hedwig des Jugendwerks St. Ansgar in Delmenhorst-Adelheide mit jeweils etwa 100 Plätzen die größten waren. Immer wieder bedienten sich die konfessionellen Heime der Möglichkeit, schwierige Fälle in das Landeserziehungsheim Göttingen verlegen zu lassen. Das Landesjugendheim galt dem Geschäftsführer des EREV, Janssen, bis 1945 als „eine Einrichtung, vor der alle Welt eine ziemlich heilsame Furcht hatte“. „Mancher wurde dadurch zweifellos gehindert, sich zum Schwersterziehbaren zu entwickeln“. Doch 1952 55

56

Verzeichnis der Evanglischen Erziehungsheime, September 1953 (Sonderheft der „Evangelischen Jugendhilfe“); vgl. zudem die Heimliste bei Kraul u.a., Zwischenbericht, S. 102-134. Becker: Handbuch.

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konstatierte Janssen, Göttingen sei eines der vermeintlich angenehmsten Heime, da dort nach drei Monaten eine pädagogische Beurlaubung ausgesprochen werde, weswegen sich andere Zöglinge schwerverwahrlost stellen würden, um dorthin zu gelangen.57 Allerdings wirkte für die Jungen der Johannesburg eine in Aussicht gestellte Überführung in das als „Fuchsbau“ bekannte Göttinger Heim abschreckend. Zudem markierte der Landesjugendamtsleiter 1950 zwei Heimabteilungen in Moringen für 30 bis 50 Mädchen und 20 bis 30 Jungen, die wegen Schwererziehbarkeit oder Veranlagung (Homosexualität, leichter Schwachsinn) woanders nicht tragbar seien. Dabei verwies er darauf, wie schwer es sei, den alten Begriff „Arbeitshaus“ auszumerzen. Das alte Arbeitshaus in Moringen, das in der Kriegszeit als Jugendkonzentrationslager zur Disziplinierung renitenter Jugendlicher gedient hatte58, galt ihm nunmehr als Heim, das allerdings eine ähnliche Station wie in der NS-Zeit darstellen sollte. „Moringen soll Endstation sein für Jugendliche, die mindestens 18 Jahre alt sind“. Der Psychiater und Leiter des Landesjugendheims Göttingen, Walter Gerson59, kam zu Begutachtungen extra angereist und wollte diese nicht in Göttingen machen, um das Niveau seines Heims nicht herunterzuziehen.60 An diesen Beschreibungen wird deutlich, wie sehr die Jugendhilfedebatten in Niedersachsen zu Beginn der 1950er Jahre auf die klassische Heimfürsorge und ihre Differenzierung bezogen blieben. Alter57

58

59

60

Janssen (EREV) an Pfarrer Naegelsbach v. 27.3.1952, in: ADW, EEV 30 (auch in: ELKAN, DW 1610). Diese Äußerung erfolgte im Zusammenhang mit der Anfrage des Leiters des Verbandes der evangelischen Erziehungsheime in Bayern, der nach der Beteiligung evangelischer Einrichtungen bei der Unterbringung Schwerstverwahrloster fragte. Zu den Verhältnissen im Landesjugendheim Göttingen siehe Kraul u.a., Zwischenbericht, S. 25-35. Vgl. Martin Guse/Andreas Kohrs, Zur Entpädagogisierung der Jugendfürsorge in den Jahren 1922 – 1945, in: Hans-Uwe Otto/Heinz Sünker, Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt/Main 1989, S. 228 – 249; Martin Guse, „Wir hatten noch garnicht angefangen zu leben“. Eine Ausstellung zu den Jugend-Konzentrationslagern Moringen und Uckermarck 1940 – 1945, Moringen 1992. Walter Gerson (1899-1971), hatte 1924 in Bonn in Medizin promoviert und war seit 1947 Lehrbeauftragter an der philosophischen und der medizinischen Fakultät der Universität Göttingen (vgl. Klaus-Peter Horn, Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2003, S. 237). Niederschrift über die Heimleiterbesprechung am 9.10.1950 v. 27.10.1950, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Nach einem Schreiben des Birkenhofs vom Juli 1951 wurden suizidale Mädchen nach Göttingen und die dauerhaft sich verweigernden und renitenten Mädchen nach Moringen überwiesen (vgl. Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung, S. 23).

192

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native Konzepte hatten es schwer, von den Heimen überhaupt bedacht zu werden. Die damit umrissene Heimtopographie in Niedersachsen änderte sich äußerlich im Grunde nur wenig bis in die 1970er Jahre. Dennoch setzten seit den 1950er Jahren – wie in anderen Bundesländern auch – hier Prozesse der Differenzierung, der Verkleinerung der Gruppen, der baulichen Modernisierung und des Mentalitätswandels in der Mitarbeiterschaft ein. Der Start in den ersten Nachkriegsjahren gestaltete sich aber auch in Niedersachsen zunächst schwierig. Die Eingabe der „Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände des Regierungsbezirks Osnabrück“ an den Präsidenten des Niedersächsischen Landtags vom August 1949 beschrieb beispielhaft die schwierigen Verhältnisse in der Erziehungsanstalt Hünenburg im Kreis Melle. Die besichtigenden Vertreter der Jugendverbände Günter Halberstadt (Freischar), Hildegard Lanver (Katholische Jugend), W. Fasel (Gewerkschaftsjugend) und Lilo Rossi (Freie Deutsche Jugend) konstatierten „unverantwortliche Zustände“ in dem mit insgesamt 150 Zöglingen überbelegten Heim. So waren die Strümpfe der Kinder eingezogen und wurden nur zum Winter ausgegeben. Es gab nur ein Handtuch in der Woche. Die Kinder waren in einem Schlafraum von 7 x 8 m zu je 30 Kindern untergebracht, vier Betten befanden sich auf einem fensterlosen Flur. In den Schulferien mussten die Kinder bei Drescharbeiten helfen. Die „Methoden der Fürsorgeerziehung“ erschienen „völlig ungeeignet, um nicht zu sagen schädlich“. Kinder bis zum Alter von 14 Jahren sollten nur in Familien oder Kinderheimen untergebracht werden. Die Besichtigenden regten eine Untersuchung durch den Landtag, nicht durch die Behörde, an.61 Zur gleichen Zeit besuchte die Arbeitsgemeinschaft ebenfalls die Johannesburg und kritisierte in einer ähnlichen Eingabe an den Landtag die dortigen „trostlosen“ Verhältnisse, die jedoch „in den anderen Anstalten des Landes noch weit schlechter sein“ sollten.62 Der enorme Anstieg der Minderjährigen in den Heimen in den Jahren nach dem Kriegsende sowie die nach wie vor oftmals auch durch die Kriegszerstörungen und die schwierige wirtschaftliche Situation vieler Einrichtungen geprägten unzureichenden Unterbringungsbedingungen bestimmten nicht nur in diesen Beispielen die Lage. 61

62

Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände des Regierungsbezirks Osnabrück an Niedersächsischen Landtag v. 2.8.1949, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Eingabe v. 14. Juli 1949, in: StaatsA Osnabrück, Rep. 430 Dez. 400 Nr. 492; vgl. zur Johannesburg Kap. 5.4.3.

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Ein besonderes Problem der Nachkriegszeit, das insbesondere die grenznahen Länder in der Bundesrepublik betraf, waren die großen Zahlen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Gebieten wie aus der SBZ bzw. DDR. In einer Nachricht an den Leiter des Birkenhofs im Frühjahr 1948 teilte Landesjugendamtsleiter Wolff vertraulich mit, dass er auf regierungsamtlicher Seite die Absprache getroffen habe, Jugendliche aus der sowjetischen Zone, obwohl gerade „pädagogische Gründe“ dagegen sprächen, schnell wieder abzuschieben, da sonst zuviel Kosten für das Landesjugendamt Hannover entstehen würden. Er bat den Birkenhof, ein Verzeichnis der im Heim befindlichen Mädchen aus der „russischen“ Zone aufzustellen.63 Langfristig waren solche Abschottungsbestrebungen jedoch erfolglos. Der Birkenhof, der 1949 noch 43,2 % Flüchtlinge unter den aufgenommenen Mädchen errechnete, besaß im Jahr 1954/55 immer noch einen Anteil von 17,7  %.64 Und auch im Kinderheim Henneckenrode ließen Kinder aus Flüchtlingsfamilien den Platzbedarf beträchtlich ansteigen.65 Nach einer Berechnung für den Bezirk des Landesjugendamtes Oldenburg bedeutete die Zunahme der Bevölkerung um rund ein Drittel auch eine entsprechende Zunahme der in FE oder FEH befindlichen Minderjährigen. Der Gesamtanstieg dieser Kinder und Jugendlichen – zwischen 1942 und 1952 verdoppelte sich ihre Zahl – lag aber nicht, wie zeitgenössisch vermutet, in einem überproportionalen Anstieg der heimatvertriebenen und entwurzelten Jugend, sondern vielmehr in den allgemeinen Auswirkungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, die unvollständige Familien, soziale Not, Wohnraummangel und mangelnde soziale Integration auch bei den Einheimischen mit sich brachten. Als Problemgruppe wurden nur die 15- bis 18-jährigen Heimatvertriebenen angesehen, die auch überproportional in den Heimen anzutreffen waren.66 Zudem befanden sich viele jugendliche Flüchtlinge unterhalb der in der Bundesrepublik bestehenden Volljährigkeitsgrenze von 21 Jahren – in der DDR lag die Grenze seit 1950 bei 18 Jahren –, die zum Teil aus Aufnahmelagern direkt in Abteilungen der Erziehungsheime gebracht wurden.67 Hier unterlagen sie einer Arbeitspflicht und einem ähnlich 63 64

65 66 67

Wolff an Wasmuth v. 27.3.1948, in: HAB, Birkenhof 130. 70. Jahresbericht 1948/49 über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern, S. 13; Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 1954-1957, S. 17. Vgl. zu Henneckenrode 5.4.1. Vgl. Carspecken/Gaupp, Wo steht die Fürsorgeerziehung?, bes. S. 15, 34f., 39f. Vgl. hierzu erste Hinweise am Beispiel der Frauenanstalt Himmelsthür bei Hildesheim bei Harald Jenner, Jugendliche SBZ-Flüchtlinge in westdeutschen Heimen –

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engen disziplinären Rahmen wie die nach FE und FEH eingewiesenen Jugendlichen. Die große Zahl nach Niedersachsen kommender heimatvertriebener Jugendlicher bewog im Frühjahr 1948 die britische Militärregierung dazu, die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zur Schaffung einer Einrichtung zur „Resozialisierung von Jugendlichen“ auf dem ehemaligen Fliegerhorst Delmenhorst-Adelheide aufzufordern. Unter paritätischer Beteilung beider Kirchen entstand daraufhin das „ökumenische Projekt“ des Christlichen Jugenddorfs Adelheide mit dem evangelischen Wichernstift und dem Katholischen Jugendwerk St. Ansgar – letzteres in Mitträgerschaft der sechs Bistümer der britischen Zone, wobei hier die Diözese Hildesheim wegen der direkten Grenze zur SBZ/DDR die treibende Kraft war. Als Ziel wurde zunächst festgelegt, immerhin jeweils 1.500 Jungen aufzunehmen. Nachdem der alte Flugplatz vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wieder militärischen Zwecken zugeführt werden sollte, mussten die Heime den Standort Ende der 1950er Jahre verlassen. Das Wichernstift fing auf einem in der Nähe gelegenen Gelände neu an. Der Vorstand des Jugendwerks St. Ansgar entschloss sich dagegen, die staatliche Abfindung für den Neubau moderner Häuser für Jungen im rheinischen Happerschoß sowie zusätzlich auf Drängen des Hildesheimer Caritasdirektors Sendker für ein Mädchenheim in Hildesheim zu verwenden. Der Umzug fand 1959 statt.68 Heimdifferenzierung In Niedersachsen scheint neben der Qualifizierung des Personals hinsichtlich psychologischer und heilpädagogischer Erkenntnisse die Frage nach einer Vermehrung und besseren Besoldung des Erziehungspersonals eine grundsätzliche gewesen zu sein. Insbesondere Anfang der 1950er Jahre ging man dazu über, diese in die Pflegesätze aufzunehmen. Zudem plante das Landesjugendamt 1953 einen Kurs für den Umgang mit dem „schwererziehbaren Kind“, an dem ein bis zwei Teilnehmer aus den Heimen teilnehmen sollten. Hiergegen hatten aller-

68

Ein Hinweis, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 293-304. Siehe zeitgenössisch Curt Bondy/Hans Eyferth, Bindungslose Jugend. Eine sozialpädagogische Studie über Arbeits- und Heimatlosigkeit, München/Düsseldorf 1952. Vgl. Michael Hirschfeld, Der heimatlosen, wandernden Jugend Hilfe geben. Das katholische St.-Ansgar-Jugendwerk im Christlichen Jugenddorf Adelheide 1948-1959, in: Oldenburger Jahrbuch 98 (1998), S. 143-155, bes. S. 144.

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dings, wie bereits erwähnt, die Leiter von Kinderheimen Bedenken, da sie zuviel psychologische Theorie vermuteten.69 Die Konzeptionen des Landesjugendamtes zu Beginn der 1950er Jahre sahen sich zum einen in einem Denken in der Zahl der Heimplätze gefangen. So veröffentlichte der Oberregierungsrat Theodor Spitta aus dem Kultusministerium 1950 eine Planskizze über die in Zukunft benötigten Plätze im Rahmen der Fürsorgeerziehung. Er rechnete dabei, dass man in normalen Zeiten für 1.300, in schwierigen für 1.000 Kinder einen Heimplatz benötigen würde. Ähnlich legte er einen Platz in der Heimfürsorge für 600 Jugendliche von 14 bis 21 Jahren in normalen und 500 Jugendliche in schwierigen Zeiten zu Grunde. In seiner Prognose über die junge Bevölkerung bis zum Jahr 1962 konstatierte er gemäß der Schwankung der Bevölkerung insgesamt eine Abnahme der heimfürsorgebedürftigen Kinder und ein Ansteigen der heimpflegebedürftigen Jugendlichen bis 1956, für die je nach Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt – dies war sein Kriterium für „schwierige“ Zeiten – 140 bis 440 Heimplätze zusätzlich benötigt würden. Damit regte er ein Umschwenken der Arbeit der Heime von Kindern zu Jugendlichen an.70 Spitta trug dies auf einer Heimleiterbesprechung im Oktober 1950 vor, bei der er auch die ernste Finanzlage u.a. wegen der Fürsorge für Flüchtlinge ansprach. Der Finanzminister hatte deswegen vorgeschlagen, die Pflegesätze um 0,10 DM zu kürzen, wogegen allerdings der Kultusminister argumentierte, zumal eine Debatte im Landtag bevorstand. So verwies er gegenüber den Heimen auch auf das Sparpotential von 1.078 DM pro Heimplatz im Jahr. Er regte weiter eine Intensivierung der Familienerziehung an, die vor dem Krieg rund 50 % und nach dem Krieg nur noch 40 % ausgemacht hatte. Aktuell lag sie nach seinen Angaben wieder bei 51 %. Er wollte schwierige Fälle vorzeitig aus der FE entlassen sehen und plädierte für eine frühe Platzierung in Pflegefamilien und Dienststellen, eine Verstärkung der amtlichen Schutzaufsicht (Probation) durch die Jugendämter und Heime (mit Fachkraft) sowie die Einrichtung der Erziehungsberatung. Hierfür sandte das Land z. B. drei Fachkräfte zu einem dreimonatigen Studienaufenthalt nach England. Zudem regte er an, die Kosten der Heimschulen und 69

70

Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 3.11.1953 im Erziehungsheim Bernwardshof in Himmelthür v. 5.11.1953, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Theodor Spitta, Anzahl der Heimplätze in der Fürsorgeerziehung in Niedersachsen, in: Unsere Jugend 2 (1950), Nr. 10, S. 372-374.

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Heimerzieher aus dem Pflegesatz herauszunehmen und unmittelbar zu zahlen, damit das „kaufmännische Interesse“ der Heime dabei wegfalle und diese sich auf ihr pädagogisches Handeln konzentrierten. Gegen diese Hoffnung des Landesjugendamtes auf Kosteneinsparung durch eine vermiedene Heimerziehung machten die Heime in der Aussprache allerdings mobil. Sie warnten vor neuen Methoden. Die Heimerziehung müsste die Grundlage der Fürsorgeerziehung bleiben. Zudem seien die Heime besser geeignet, einen Übergang hin zu Pflegefamilien zu markieren, die bei direkter Konfrontation mit Fürsorgeerziehungszöglingen verständnis- und hilflos wären. So hätte die Pestalozzistiftung einmal die direkte Vermittlung in Pflegestellen versucht, wäre aber gescheitert. Die Heimvertreter führten zudem ins Feld, wie wichtig die „Heimbeobachtung“ sei, die sich von der stundenweisen Beobachtung in Erziehungsberatungsstellen unterscheide. Im Heim sei auch das Training zu körperlicher Sauberkeit besser. „Das Ziel der Erziehung muß auf die Einfügung in die Gemeinsamkeit ausgerichtet sein. Es wurde gewarnt, nach einer Überwindung der Vermassung jetzt zu einer Überbetonung der Individualität zu kommen.“ Die Heime verwiesen dabei darauf, dass aktuell für 30 Pflegestellen „keine geeigneten Kinder“ vorhanden seien, was auf „die Schwierigkeiten, die in den Kindern selbst liegen“ hinweise. Man führte Klage über die Jugendämter, die zu sehr auf Beschwerden der Zöglinge und ihrer Eltern eingingen und bei Entweichungen nicht zunächst ins Heim zurücksenden würden. Auch der neue Leiter des Landesjugendamtes, Fritz Söhlmann, merkte den Höchststand der Verwahrlosung nach dem Krieg an. Die aktuellen Höchstzahlen in Familienpflege wie Heimfürsorge müssten gehalten werden. Den Rückgang der Einweisungen um 20 % in den letzten Monaten führte er auf die negative Stimmung gegen die Fürsorgeerziehung in der Öffentlichkeit durch die Presse und Filme wie „Peter Martin Lampel“, „Mädchen hinter Gittern“, „Eine Heilige unter Sünderinnen“ zurück. Er betonte zudem die wirtschaftliche Bedeutung der Heime in Niedersachsen, die zu 45 % bis 50 % durch auswärtige Landesjugendämter belegt würden, was dem Land rund zwei Millionen DM Bareinnahme eintrage.71 Der in Niedersachsen nach englischem System eingeführte „Probationsoffizier“, der eine Art „Bewährungsfürsorge“ als offene Arbeit durchführen sollte, wurde z. B. vom EREV-Geschäftsführer Karl Jans71

Niederschrift über die Heimleiterbesprechung am 9.10.1950 v. 27.10.1950, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66.

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sen 1953 als nicht neu charakterisiert. Damit würde das Heim pauschal schlecht gemacht, indem, wie in der Presse zum Teil geschehen, die „Bewahrung“ als überflüssig bezeichnet werde.72 In einer Heimleiterbesprechung wurde 1953 die Zusammenarbeit zwischen Heim und Schutzaufsicht in einem Referat näher umschrieben. Es sollte sich dabei um schwierige Elemente, die nicht in eine Gruppe passen, „negative Führerpersönlichkeiten“, aus Gefängnissen entlassene Jugendliche handeln, aber nicht um so genannte „Dirnentypen“ oder geistig behinderte Minderjährige. Die Probationsfürsorgerin sollte vorher im Heim Gespräche führen. Für die anderen Minderjährigen im Heim sollte die Probation nicht als Bevorzugung erscheinen. Als Arbeitsmethode wurde anders als im Heim „echtes Vertrauen“ betont. Landesjugendamtsleiter Söhlmann wies in der Diskussion darauf hin, dass die Probation die konfessionellen Verhältnisse beachten sollte und z. B. „keine katholischen Kinder etwa in der Diaspora untergebracht werden“ sollten, sondern vielmehr im katholisch dominierten Raum Hildesheim oder Duderstadt.73 Oberregierungsrat Theodor Spitta wollte gar durch die Verstärkung der nachgehenden Heimfürsorge eine Verdoppelung der Pflegefamilienstellen und eine Senkung der Zahl in den Heimen um die Hälfte erreichen. Dafür schlug er sogar eine Erhöhung der Pflegesätze um 0,72 DM vor. Das ließ selbst einen Heimleiter wie Badenhop auf die Notwendigkeit einer Außenfürsorgerin für 150 Fälle hinweisen: „Bislang seien die Heime finanziell nicht in der Lage, eine intensive nachgehende Fürsorge zu treiben.“74 Die hier zum Ausdruck kommende Bevorzugung der Familien- gegenüber der Heimunterbringung durch die zuständigen staatlichen Stellen wurde auch beim Hildesheimer Diözesancaritasverband mit Sorge betrachtet, ohne dass nicht auch der teilweise schlechte bauliche Zustand nicht weniger Heime für die ungünstige Belegung der dortigen Heime gesehen wurde. Letztlich führe das Verhalten der Behörden je72 73

74

Karl Janssen, Was uns auffiel, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 94. Niederschrift über die Heimleiterkonferenz am 3.11.1953 im Erziehungsheim Bernwardshof in Himmelsthür v. 5.11.1953, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66. Ebd. Im Mai war die Arbeitsgemeinschaft der niedersächsischen Erziehungsheime wegen einer Erhöhung der Pflegesätze und Beispielrechnungen für bestimmte Heime an das Landesjugendamt herangetreten (Betr. Eingabe der Arbeitsgemeinschaft der Niedersächsischen Erziehungsheime über die Erhöhung der Pflegesätze (Wolff, Badenhop, Isermeyer, Witt v. 1.5.1953), in: ADWRh, Ohl 10.2.2.2).

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doch zu einer zu späten Einweisung in die Heime bzw. einer zu frühen Herausnahme aus den Heimen. Obwohl diese Tendenz auch für die meisten anderen Bundesländer konstatiert wurde, sah man hier doch ebenso das Bestreben „unserer sozialistisch geführten Abteilung für Jugendwohlfahrt im Niedersächsischen Kultusministerium […] gegen kirchliche, insbesondere kath. Einrichtungen“ wirken, „wobei man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, daß man auf diese Weise den gesetzlich im Jugendwohlfahrtsgesetz verankerten Anspruch auf konfessionelle Heimunterbringung in der Fürsorgeerziehung auf ein Minimum zurückdrängen möchte“. Durch die Arbeit der vom Verband geplanten Heimerziehungsberatungsstelle und die damit verknüpfte Entwicklung hin zu einer „sachlich und fachlich qualifizierten Leistung unserer Heime“ sollten die Jugendämter wieder von der Einweisung in die Einrichtungen überzeugt werden.75 Der Diözesancaritasverband trat durch die vorläufige Finanzierung der 1956 eingerichteten Heimerziehungsberatungsstelle quasi in Vorleistung und brachte dadurch zum Ausdruck, wie viel ihm an der Verbesserung der Erziehungsarbeit lag. Nach einem halben Jahr begann er dann mit unterschiedlichem Erfolg, die Heime für eine finanzielle Beteiligung an den Kosten zu gewinnen. Indem schließlich eine Vereinbarung „mit den Landesjugendämtern bzw. mit den örtlichen Jugendämtern, die für die Kinder in unseren Heimen pro Pflegetag einen Aufschlag von DM 0,20 für die psychologisch-pädagogische Beratung unserer Erziehungsberatungsstelle gewähren“76, gelang, zeigte sich auch die Anerkennung der Bemühungen von Seiten der Behörden. Aber sowohl die langen Abstände der Besuche durch die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle, die mehrmalige auch längere Vakanz der Psychologenstelle als auch die hohe Fluktuation der Erzieherkräfte in den Heimen erschwerten die Bemühungen enorm. Darüber hinaus scheint die Tätigkeit der Beratungsstelle gerade auch hinsichtlich einer Verbesserung der pädagogischen Arbeit von den Heimen unterschiedlich aufgenommen und zum Teil als unerwünschte Beaufsichtigung betrachtet worden zu sein. Zumindest beklagte sich noch 1968 ihre Leiterin, dass im Konzept der Arbeit keine Erfolgskontrolle angelegt sei und die angemeldeten Besuche keinen Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse bö75

76

Vermutlich von Caritasdirektor Sendker verfasste Ausarbeitung zur Einrichtung einer Heimerziehungsberatungsstelle im Bistum Hildesheim v. 21.12.1955, BAHI, DiCV Hildesheim Nr. 1836. Caritasdirektor Schenk an Dechant Holling v. Maria-Goretti-Heim v. 20.6.1963, BAHI, DiCV Hildesheim Nr. 1766.

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ten. So würde mehr zufällig festgestellt, „wie häufig die Kinder stillsitzen mussten, angebunden waren und frühzeitig ins Bett gingen“.77 Insgesamt blieben die Außenfürsorge, die Bewährungsfürsorge oder sogar die vorbeugende Jugendfürsorge und Schutzaufsicht von den Heimen kritisch beäugt, enthielten diese Alternativen doch auch immer ein mögliches Dementi der Betreuungsform Heim. In zwei überlieferten Arbeitsbesprechungen der Vertreter der Erziehungsheime mit den hauptamtlichen Schutzaufsichtshelfern und den Landesjugendämtern Niedersachsens 1956 und 1957 wurde dies deutlich.78 So wurde 1956 auf die Grenzen der vorbeugenden Jugendhilfe durch ein erziehungsunfähiges Elternhaus hingewiesen. Die Gefährdung der Minderjährigen bestehe, wenn eine längere und konstante Erziehungseinwirkung nicht gegeben werden könnte. „Die Heimerziehung ist umso erfolgreicher, je früher sie bei einer sich anbahnenden Gefährdung oder Fehlentwicklung einsetzen kann.“ Bei mangelnder „Durchstehfähigkeit“ des Elternhauses oder bei Anstaltspflegebedürftigkeit sollte vor allem keine FEH vereinbart und bei der FEH keine Sorgerechtsentziehung durchgeführt werden, da dies nicht ihrem Ziel entspreche. Die Heime hielten insbesondere eine psychologische Vorbereitung der Heimaufnahme für wichtig. Bei Zuweisungen sollten die Eltern mitgenommen werden bzw. das Kind selbst bringen und nur in Ausnahmefällen eine „Zwangsaufholung“ erfolgen. Es seien keine Versprechungen über die Dauer zu machen, da die Heimerziehung ohne zeitliche Begrenzung angetreten werde. Die Heimzuführung dürfte das Ansehen des Minderjährigen in der Öffentlichkeit nicht verletzen. Es sei die Gelegenheit zu einem „Abschied“ zu geben und ein Aufnahmegespräch in Gegenwart der Begleiterin und des Kindes für dieses in einer verständlichen Form zu führen. Jugendlichen müsste die angestrebte pädagogische Zusammenarbeit als „echte Partnerschaft“ vorgestellt werden. Geschwister sollten möglichst zusammen untergebracht werden, ein Heimwechsel nur bei besonderem Grund erfolgen. Im Falle einer Heimrücknahme aus einer Familienpflegestelle oder Ausbildungsstelle hätte diese in das gleiche Heim zu erfolgen. 77 78

Vermerk v. 16. Mai 1968, BAHI, Caritasverband Nr. 1836. Zusammenfassung der Arbeitsbesprechung der Vertreter der Erziehungsheime mit den hauptamtlichen Schutzaufsichtshelfern und den Landesjugendämtern Niedersachsens über Fragen der Zusammenarbeit vom 22.-24.10.1956 und 21.23.9.1957, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 103/76 Nr. 66.

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Eine gute Zusammenarbeit mit den örtlichen Jugendämtern durch den Austausch gegenseitiger Berichte u.a. auch über eventuelle Veränderungen der häuslichen Verhältnisse sei wichtig. Die Heimentlassung habe „in gegenseitiger Absprache“ zu geschehen. Das Elternhaus galt es vorzubereiten. Die Jugendlichen sollten keinen Schul- oder Berufsabbruch (Lehre) erleben, und die Arbeits- und Berufserziehung im Heim dürfe nicht nur bloße Beschäftigung, sondern müsse Vorbereitung auf den „Arbeitseinsatz“ sein. Die Betreuung nach der Heimentlassung sollte entweder vom Jugendamt oder vom Heim erfolgen und danach entschieden werden, wo der Minderjährige „den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen gefunden hat“. Insbesondere bei der Unterbringung auf dem Land sei die Heimnachsorge zu verstärken, da oftmals „Überforderung durch Film, Tanz u.ä.m. und die allgemeine Milieuveränderung und das Herabsinken der sittlichen Maßstäbe“ bestehe. Gerade der „Strukturwandel des heutigen öffentlichen Lebens“ zwinge zu einer Besinnung. Das Verräterische an den hier behandelten Punkten, die Selbstverständlichkeiten thematisierten, war ihr indirekter Hinweis auf eine anders geartete Praxis, die in der Realität der öffentlichen Erziehung und in den Heimen herrschte. Deutlich wurde darin, wie stark die Schere zwischen den Ansprüchen auf eine ‚moderne‘ Erziehung seitens des Landesjugendamtes und den materiellen wie mentalen Bedingungen in den Einrichtungen auseinander klaffte. Eine Bebilderung erhielt dieser Umstand in der Auswertung von 72 Sozialpraktikumsberichten aus den Jahren 1961 bis 1963, die ein Mitarbeiter der Pädagogischen Hochschule Hannover 1963 veröffentlichte.79 Unter den Heimen, die hier angesichts der zum Teil „schockierenden Erfahrungen“ der Studierenden leider nicht genannt wurden, werden viele Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft gewesen sein. Die Sozialpraktikanten beschrieben nicht nur ihren untergeordneten Status in den Heimen, in denen sie zum Teil zum Putzen etc. eingesetzt wurden. Sie markierten auch die Diskrepanz zwischen den Erziehungszielen, den Aufgliederungsprinzipien der Heime (Anspruch auf „Familie“, doch keine familienähnlichen, sondern altershomogenen Gruppen), dem Ausbildungsmangel der Gruppenerzieher(innen), der Erziehungsmittel (Dominanz der körperlichen Züchtigung), der 79

Werner Küchenhoff/Joachim Brauer, Zur Situation der Heimerziehung. Ergebnis einer Auswertung von Sozialpraktikumsberichten, in: Unsere Jugend 15 (1963), S. 442-454. Siehe auch Werner Küchenhoff/Wolfgang Dalibor, Das Sozialpraktikum der Studierenden an Pädagogischen Hochschulen, Spandau 1962, bes. S. 55ff..

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fehlenden Freizeitgestaltung oder der Sexualerziehung und der bescheidenen Erziehungserfolge. Empörung meldete sich bei den Sozialpraktikanten gerade angesichts des rauen Umgangstons und der körperlichen Züchtigung, die nur in 17 Berichten eher am Rande erwähnt war, in allen anderen aber „offenbar als Grundlage zur Aufrechterhaltung von Autorität und Ordnung dienen sollte“. „Und wie steht es mit der Würde des Menschen und der Selbstkraft des Kindes, wenn den Läufern eine ‚Halbglatze geschoren‘ wird?“ Entwichenen Jungen wurden zudem noch Hosen mit abgeschnittenen Hosenbeinen und Mädchen „gleichfarbige, für jeden erkenntliche Strafkleider“ und „zu große Holzpantinen“ zugewiesen. Ähnlich defizitär empfanden die Studierenden die ausufernd gehandhabte Isolation, die Redeverbote, die Versagung jeglicher mitverantwortlichen Gestaltung durch die Minderjährigen.80 In diesen Berichten machte sich das Unverständnis einer in das Berufsfeld drängenden jungen Generation deutlich, die mit den überlieferten Disziplinierungsritualen und noch aktuellen strafpädagogischen Zugängen keine gelingende Erziehung mehr zu leisten verstanden. Der Generationenwandel und die Professionalisierung deuteten sich seit 1960 auf vielen Ebenen an. Im Gefolge des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961 machte sich ein Problem in der Heimfürsorge immer stärker bemerkbar: der Heimplatzmangel. Zwischen 1956 und 1963 waren nach Auskunft des Kultusministeriums auf Grund der Verkleinerung der Gruppen 25 % der vorhandenen Heimplätze verlorengegangen.81 Das JWG hatte u.a. die Fürsorge für 18- bis 21-jährige zur Pflicht gemacht, eine Problemgruppe, die angesichts des vorauseilenden gesellschaftlichen Wertwandels wie kaum eine andere eine Herausforderung für die Heime mit ihren eng geführten, freiheitsbeschränkenden Disziplinregeln darstellte. Ministerialrat Spitta kündigte 1966 an, dass das Land Niedersachsen 8 Mio. DM Kapitalhilfe für die nächsten zehn Jahre bereit stelle. Bei einer Annahme, wonach ein Heimplatz 40.000 DM koste, könnten bis 1975 ca. 2.000 neue Heimplätze erstellt werden. Allerdings müsse ein Teil des Geldes für Modernisierungen der Heime ausgegeben werden, sodass er hoffte bis 1975 zumindest 1.000 neue Heimplätze schaffen zu 80 81

Küchenhoff/Brauer, Zur Situation, S. 450. Stellungnahme des Niedersächsischen Kultusministers zur Denkschrift des Fachverbandes evangelischer Erziehungs- und Kinderheime in Niedersachsen über die wirtschaftliche Lage v. 21.10.1963, in: HAB, Birkenhof 132.

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können. Insbesondere Heimplätze mit Sonderschulen gäbe es zu wenig.82 Auf der gleichen Arbeitstagung mit den Heimleitern hielt Prof. Willy Strzelewicz von der Pädagogischen Hochschule Hannover ein Referat über „Autorität in der Erziehungsarbeit – Würde und persönliche Freiheit des Menschen“, in dem er „Herrschaftsautorität der ständischen Gesellschaft gegen Auftragsautorität in der demokratischen Gesellschaft“ markierte. Der Übergang sei in europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften zu einem neuen Erziehungsziel im Gange, wonach es gälte, „den zu Erziehenden selbstbewußt, kritikfähig, verantwortungsbewußt und mündig zu machen“. Wie schwer sich allerdings nicht nur die Vertreter der Heime, sondern auch der Landesjugendämter damit taten, diesen Übergang anzuerkennen, wurde in der folgenden Diskussion deutlich, in der nur der Leiter des Landesjugendheims Göttingen, Martin Scherpner, davor warnte, sich „gegen die demokratische Entwicklung“ zu stellen und die Erzieher in Ratlosigkeit zurückzulassen. Der Vertreter des Landesjugendamtes Braunschweig, Oberregierungsrat Trowitzsch, betonte, dass „ein Auslebenlassen des zu Erziehenden nicht richtig sei, und daß dem Erziehenden oft der Maßstab für ein richtiges Verhalten fehle, weil sich auch in der Gesellschaft die Werte ständig wandeln würden. So sei es für die Erziehenden heute sehr schwierig, die Begriffe „Vaterland“, „Treue“, „Ehre“, in die Erziehung einzubauen. Auch in der Besprechung weiterer Themen wie der Frage des freien Ausgangs oder des Weihnachtsurlaubs wurde deutlich, wie uneinheitlich und teilweise willkürlich die Haltungen der Heime waren. So wollten zum Beispiel die Heimvertreter Lähnemann (Freistatt), Volkert (Birkenhof), Steinkopff (Mädchenheim Schloß Wollershausen) und Isermeyer (Himmelsthür), dass das erste Weihnachtsfest grundsätzlich im Heim zu feiern sei, wohingegen diejenigen, die „die echten Anliegen der Minderjährigen gebührend“ berücksichtigen wollten (so Wieler vom Mädchenheim Dietrichsfeld, Dühsler vom Schloss Rittmarshausen), in der Minderheit waren. Beim Thema der Zusammenarbeit zwischen Heim und Eltern unter Mitwirkung des Heimatjugendamtes und der Famlienfürsorgerin erklärten die meisten Heime, dass diese an „der Uneinsichtigkeit der Eltern“ scheitern würde. Man sei auch gegen Heimbesichtigungen durch die Eltern, welche diese nur zu „Aufhetzun82

Ergebnisniederschrift über die Arbeitstagung des LJA Hannover für die Heimleiter am 7. u. 8.11.1966, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc 103/76 Nr. 13/1.

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gen“ am Heimatort nützen würden. Diese abwehrende Haltung gegenüber dem vermehrten Freiheitsbedürfnis der Minderjährigen verweist auf die „verspätete Modernisierung“, welche die Heimfürsorge auch in Niedersachsen kennzeichnete. Insbesondere nach der Geltung des JWG von 1961 entstand im Feld der Erziehungsheime für schulentlassene Mädchen ein immer größerer Bedarf an Heimplätzen. Mit dem Wandel zu einer größeren Liberalität in der Erziehung hatten die Heime große Not. In den nachfolgenden Mikrostudien des katholischen Kinderheims Henneckenrode und des evangelischen Mädchenerziehungsheims Birkenhof in Hannover werden die vorstehenden Aspekte des mentalen Umbruchs und der Heimdifferenzierung der 1960er Jahre vertieft und auch ein Blick in die 1970er Jahre vorgenommen.

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5.3 Bayern Vorgeschichte Die Heimfürsorge im größtenteils katholischen Bayern war in den 1950/60er Jahren weitgehend konfessionell geprägt. So besaßen nach den Angaben des Statistischen Bundesamts für 1965 56 % der Säuglingsheime, 63 % der Kinderheime sowie 89 % der Erziehungsheime für schulpflichtige und 84 % für schulentlassene Minderjährige einen freien, in der Regel konfessionell ausgerichteten Träger. Bei den verfügbaren Plätzen lagen die Werte für diese Heimtypen sogar bei 71 %, 73 %, 93 % und 87 %.83 Dabei basierten auch diese Verhältnisse auf den seit dem 19. Jahrhundert gewachsenen Strukturen, als der Staat die Jugendfürsorge in großen Bereichen der freien Wohlfahrtspflege überließ. Die geschlossene Jugendfürsorge der evangelischen Kirche lag vor allem in den Händen des bayerischen Landesvereins für Innere Mission, wo im angeschlossenen Verband bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten ein regionaler Fachverband bestand. Katholischerseits konstituierten sich zwischen 1890 und 1914 in Bayern verschiedene Organisationen, die sich auf diesem Feld betätigten. Neben dem vom Kapuziner-Pater Cyprian Fröhlich ins Leben gerufenen Seraphischen Liebeswerk84, das auch verschiedene Heime unterhielt, traten etwa 1903 der „Münchener Jugendfürsorge-Verband“ und 1906 der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder ins Leben. Als bayerische Besonderheit kamen zudem auf Diözesanebene die Katholischen Jugendfürsorgevereine (KJF) hinzu. 1905 ausgehend von der Pfalz, folgten einige Jahre später Gründungen in den anderen bayerischen Bistümern. Schwerpunkte der Vereinsarbeit waren das Vormundschaftswesen, die Unterbringung gefährdeter Minderjähriger in Familien und Heimen, die Erholungsfürsorge wie auch die konkrete Heimerziehung. Zur besseren Koordination der Aktivitäten schlossen sich die Gruppierungen 1912 zum „Bayerischen Landesverband Katholischer Jugendfürsorgevereine und Fürsorgeerziehungsanstalten“ zusammen. 1920 konstituierte sich noch als weiterer Zusammenschluss der „Landesverband der Katholischen Waisenhäuser und verwandter Erziehungsanstalten in Bayern“. Nach der 1918 bis 1922 erfolgten Gründung der bayerischen Diözesancaritasverbände verloren die Jugendfürsorgever83 84

Statistisches Bundesamt, Fachserie K, Reihe 2 (1965), S. 71 u. 75. Vgl. auch Henkelmann, Seraphisches Liebeswerk.

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eine in den Bistümern Bamberg, Eichstätt, Speyer und Würzburg ihre Eigenständigkeit und wurden als Referate in die Caritasverbände integriert. Dagegen behielten die Vereine in den Diözesen Augsburg, München, Passau und Regensburg ihre Selbstständigkeit.85 Jugendnot der Nachkriegszeit und rechtliche Grundlagen der Jugendfürsorge Insbesondere Bayern war in der Nachkriegszeit der Anlaufpunkt vieler obdachloser Jugendlicher aus der SBZ und späteren DDR. In zahlreichen Berichten der Kreisjugendämter und Landratsämter lassen sich Beispiele für die schwierige materielle und psychologische Situation einer Flüchtlingsjugend greifen.86 Zugleich wird deutlich, wie stark man von Verwaltungsseite darauf aus war, die insbesondere von Minderjährigen ersehnten Freiheiten (z. B. Besuch von Tanzveranstaltungen durch junge Mädchen) einzuschränken. Das Landratsamt Miesbach (Oberbayern) wies Anfang 1946 darauf hin, dass die Zahl umherstreunende Kinder zugenommen hätte. „Die Kinder waren bei Ende des Krieges in KLV-Lagern und NSKinderheimen untergebracht und konnten nach deren planlosen Aufhebung zum Teil nicht zu ihren Angehörigen zuückkehren, weil diese in der russisch besetzten Zone wohnten oder überhaupt nicht mehr lebten.“ Viele hätten „an dem Wanderleben Gefallen gefunden“, wollten nicht mehr die Schule besuchen oder auch nichts mehr arbeiten.“ Sie seien verwahrlost, bettelten und fallen teilweise Homosexuellen in die Hände. Sie bildeten eine Gefahr, sich in ein „Verbrechertum und Hochstaplertum schlimmster Art“ zu entwickeln.87 Das Stadtjugendamt Nürnberg sah Ende 1945 durch vagabundierende Jugendliche eine „Entsittlichung“ drohen. „Es erscheint daher als vordringliche Aufgabe, diese Jugendlichen beiderlei Geschlechts von der Landstrasse abzuziehen und sie zu verwahren, bis sie sesshaft gemacht werden können.“ Es fragte deshalb die Erziehungsanstalten an,

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Eder, Helfen macht nicht ärmer, S. 239-249, 295-309; Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge. Vgl. z. B. Kreisjugendamt Freising an RP (Zweigstelle des Landesjugendamtes) v. 8.3.1946, in: STAM, LR Freising 225575. Demnach wurden insgesamt 30 Kinder als Flüchtlinge im Kreis gezählt, die keine Verbindung mit ihren Eltern hatten. Landratsamt Miesbach an Bürgermeister v. 7.3.1946, in: STAM, LR Miesbach 217817.

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ob diese sich einer solchen Aufgabe stellen würden.88 Dem Flüchtlingskommissar für Ober- und Mittelfranken schlug es vor, für jeden Regierungsbezirk „Sammmellager für vagabundierende Jugendliche“ angegliedert an vorhandene Fürsorgeerziehungsanstalten zu schaffen. Hier sollte der Aufenthalt andauern, bis Erhebungen über die Herkunft und die Zuführung ins Elternhaus geschehen könnten.89 Die evangelischen Heime waren hierbei allerdings zunächst defensiv und wollten eine Vermischung dieser Verwahrungsaufgabe mit der Fürsorgeerziehung vermeiden.90 Die Rummelsberger Anstalten stellten in diesem Zusammenhang die Anstalt Auhof zur Verfügung, wollten dort allerdings die Fürsorgeerziehung aufgeben.91 Insbesondere befürchtete man Disziplinprobleme durch „hartnäckige Ausreisser“. Nach der Verordnung Nr. 73 des bayerischen Ministerpräsidenten vom 15. April 1946 konnten Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne festen Aufenthaltsort waren und nicht unter Aufsicht eines erwachsenen Angehörigen standen, als „jugendliche Wanderer und Streuner“ in ein Heim eingewiesen werden.92 Dabei galten allerdings Jugendliche aus den Westzonen, die Angehörige hatten, nicht als Zielgruppe, wohingegen wandernde ostdeutsche Jugendliche auch bei Vorhandensein von Angehörigen im Osten dem Zugriff mit anschließender Heimeinweisung nicht entgingen. Am 27. Oktober 1947 fand eine bayernweite Jugendrazzia statt, die 1.586 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren den 88

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Stadtjugendamt Nürnberg an Leitung des Erziehungsheims Rummelsberg v. 11.12.1945, in: ELKAN, DW Bayern 1613. Stadtjugendamt Nürnberg (Marx) an Flüchtlingskommissar für Ober- und Mittelfranken v. 10.12.1945, in: ebd.. Vorgeschlagen wurden die Einrichtungen Fassoldshof, Auhof bei Hilpoltsheim, „Pruckhof “ [gemeint war Puckenhof] bei Erlangen und Rummelsberg bei Feucht. Rummelsberg an Staatsministerium des Innern v. 8.1.1946, in: ebd. Bayerischer Verband Ev. Erziehungsheime oder Verein für Innere Mission an Regierungskommissar für das Flüchtlingswesen v. 8.1.1946, in: ebd. Eine eigene VO Nr. 74 erweiterte am 16.4.1946 den Kreis der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiblichen Geschlechts auf bis zu 25 Jahre und zielte auf Gegenden mit starker Truppenkonzentration wie München, Fürstenfeldbruck und Grafenwöhr. Die VO Nr. 75 v. 20.8.1946 sah zudem die Möglichkeit der Arbeitserziehung für Jugendliche und junge Erwachsene bis zum 25. Lebensjahr vor, wenn sie bettelten, als arbeitsscheu galten etc. Vgl. Zahner, Jugendfürsorge in Bayern, S. 110-123, bes. 111ff. und 118ff. „So war angesichts der als beispiellos empfundenen Gefährdungen der ersten Nachkriegsjahre gerade von Bayern der Ruf ausgegangen, die Zwangsmittel gegen ‚verwahrloste’ Jugendliche zu erweitern.“ (Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders, S. 418.)

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Jugendämtern gemäß der Verordnung Nr. 73 zuführte.93 Die höchste Zahl streunender Jugendlicher mit 529 wurde im Regierungsbezirk Oberbayern aufgegriffen. Hier war es vor allem der Fürsorgehof Herzogsägmühle, der als eine Art Sammellager fungierte. „Die Jugendlichen sind vielfach Strandgut aus dem trüben und wirbelnden Meer der Kriegs- und Nachkriegszeit“, hieß es im Protokoll der Mitgliederversammlung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten im Oktober 1946. Die Flüchtlinge und heimatlosen Jugendlichen brachten viel Unruhe und eine hohe Entweichungsziffer mit sich. Die materiellen Probleme in der Versorgung mit Schuhwerk und Bekleidung sowie der Beheizung der Heime verschlechterten die Lage zusätzlich. Von den 44 evangelischen Anstalten waren vier in der NS-Zeit als verloren betrachtet worden, doch der Faßoldshof und der Auhof waren zu jenem Zeitpunkt wieder an evangelische Trägerorganisationen zurückgegeben worden. Die sich darin abbildende Rechristianisierung war der allgemeine Trend in der evangelischen Kirche in den Jahren nach dem Kriegsende gewesen. Im Erziehungsverband meinten die Mitglieder, es müsse „stärker denn je Gewissenssache sein, dass jedes unserer Erziehungsheime ein Stück Kirche Jesu Christi sein muss, die Erzieherschaft aber eine Gemeinschaft von Menschen unter Gott“. Selbst bei Neueinstellungen des Wirtschaftspersonals sei darauf Rücksicht zu nehmen. Auch auf eine konfessionelle Trennung der Kinder sei zu achten, was bedeutete, dass man nur evangelische Kinder aufnehmen sollte. Dem stehe allerdings die Gefahr der Abhängigkeit von den die Anstaltsplätze belegenden Jugendämtern entgegen, was zu „einer schlimmen Saekularisation und zu einer Fremdherrschaft“ führe. Die methodische Fragestellung um „christliche Anstaltserziehung im demokratischen Staat“ sei erneut entbrannt. „Auf der einen Seite herrschen sogenannte demokratische Ideen und stehen jeder Härte in der Erziehung mit scharfem Misstrauen und Zorn oder ängstlicher Ablehnung gegenüber. Auch die Öffentlichkeit schwimmt wieder in diesem Fahrwasser.“ Der Staat sollte eine Anstalt für Schwererziehbare schaffen, an die man sich entlasten können sollte.94 Im Bericht über den Evangelischen Erziehungsverband im Mai 1951 beschrieb der Leiter Naegelsbach die empfundenen Schwierigkeiten hinsichtlich der Erziehbarkeit der Minderjährigen mit „weniger Sinn für Autorität, Unterordnung und Bindungen“ als früher.95 93 94

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Zahner, Jugendfürsorge in Bayern, S. 113ff. Protokoll der Mitgliederversammlung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 22.10.1946, in: ELKAN, DW Bayern 1608. Bericht über den Erziehungsverband v. 10.5.1951, in: ebd.

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Erziehungsfürsorge und Fürsorgeerziehung In Bayern bestand, ähnlich wie in Schleswig-Holstein und Württemberg, bis 1961 formal keine „Freiwillige Erziehungshilfe“.96 Nur nach §  6d der Reichsgrundsätze wurde von den Bezirksfürsorgeverbänden eine Minderjährigenfürsorge durchgeführt. Der Jahresbericht des Evangelischen Erziehungsverbandes 1952 beschrieb allerdings die Tendenz zur freiwilligen „Erziehungsfürsorge“.97 Elisabeth Nägelsbach umriss in ihrem Referat auf der Mitgliederversammlung des Erziehungsverbandes die bayerische Regelung dieser Form der Jugendhilfe. Die Kostenregelung bestand, wie sie 1925 festgelegt worden war, wonach 50 % der Kosten vom Staat, 30 % vom Landesfürsorgeverband und 20 % von der Gemeinde getragen wurden. Bei der Anordnung werde das Jugendamt gefragt. Im Vollzug sah Elisabeth Nägelsbach keine Unterschiede zwischen der Fürsorgeerziehung und der Erziehungsfürsorge. Doch nähmen die Eltern immer mehr Anstoß an der Vermischung der Erziehungsfürsorge mit der Fürsorgeerziehung, wollten sie doch den Makel der Fürsorgeerziehung durch ihre Zustimmung zur Erziehungshilfe von ihren Kindern fernhalten. Sie fand wichtig, dass ein Vertrag zwischen Eltern und Heim bestehe, wonach „bei Schwierigkeiten durch die Eltern im Falle einer Erziehungsfürsorge die Fürsorgeerziehung droht“.98 Die sich hierin ausdrückende Angst der evangelischen Heime, die volle Kontrolle über die Minderjährigen in den Heimen zu verlieren, wodurch nach ihrer Ansicht der Erziehungsprozess verhindert werden würde, ließ eine Freiwillige Erziehungshilfe immer kritisch betrachtet sein. Dennoch sprachen sich die bayerischen Heime Anfang 1952 in einem Arbeitskreis einstimmig für die Einführung der Freiwilligen Erziehungshilfe aus, u.a. weil die Fürsorgeerziehung einen „Makel vielleicht für das ganze Leben“ bedeute.99 Die Kosten waren in Bayern nach Einschätzung des Landtags bei Anordnung der FE für die Gemeinden und die Angehörigen günstiger geregelt als bei der FEH. Dies sollte reformiert werden. Der Fokus war besonders hierauf gerichtet, weil in bayerischen Heimen nicht nur Kinder aus Städten wie Nürnberg und 96 97

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Schulz, Freiwillige Erziehungshilfe, S. 17 u. 23. Jahresbericht 1951 des Ev. Erziehungsverbandes (gehalten am 6.2.1952), in: ELKAN, DW Bayern 1608. Ebd. Niederschrift über zwei Sitzungen in Sache „freiwillige Erziehungshilfe“ v. 9.1.1952 mit Niederschrift aus der Sitzung am 7.1.1952, in: ELKAN, DW Bayern 1611.

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Augsburg im Zuge einer Erziehungsfürsorge untergebracht waren, sondern auch aus außerbayerischen Städten wie Frankfurt/Main.100 Eine Umfrage unter den Heimen über den Umfang der Erziehungsfürsorge aus dem Jahr 1959 zeigte, dass etliche Heime wie z. B. Fassoldshof (bei Kulmbach), Klauckehaus (Augsburg), Sophienheim (Fürth), Oberlauringen etc. bereits über 70 % Minderjährige nach der Erziehungsfürsorge aufgenommen hatten. Diese wurde durchweg von den Bezirksfürsorgeverbänden finanziert und nur in vereinzelten Ausnahmen privat. Die Ängste vor einer vorzeitigen Rücknahme der Minderjährigen durch die Eltern schien sich mehrheitlich nicht und eher nur für bestimmte Heime zu bestätigen.101 Zwar konnte erst mit der bundesweiten Einführung der Freiwilligen Erziehungshilfe durch das Jugendwohlfahrtsgesetz 1961 diese Regelung auch in Bayern eingeführt werden, doch zeichnete sich bereits zuvor der Umschwung zu der eher im Einvernehmen mit den Eltern zu treffenden Form der Jugendhilfe ab. So stiegen die Zahlen der im Rahmen der Erziehungsfürsorge befürsorgten Minderjährigen bis 1955 von 900 (1950) bereits auf über 3.000, wohingegen die Anzahl der in FE betreuten Jugendlichen und Kinder von über 9.000 im Jahre 1950 auf gut 4.312 im Jahre 1960 auf unter die Hälfte absank.102 Interessant am bayerischen Beispiel ist, dass die 1960 in FEH gezählten Minderjährigen fast ausschließlich in Heimen untergebracht waren und kaum in Familienpflege. Dies spricht dafür, dass das Instrument der Erziehungsfürsorge bzw. Freiwilligen Erziehungshilfe insbesondere bei heimpflegebedürftig erklärten Minderjährigen angewandt wurde, die mit Zustimmung der Sorgeberechtigten im Heim untergebracht wurden. Die Bedenken der Heime angesichts eines möglichen Abbruchs des Heimaufenthalts durch die Zurückziehung der Zustimmung der Eltern wurde auf diese Weise offenbar überkompensiert. Letztlich drückt sich darin die Skepsis der Heime gegenüber der Mitwirkung der Sorgeberechtigten an den Jugendhilfemaßnahmen aus.

100

101

102

Landesverband für Innere Mission in Bayern an CA v. 15.5.1952, in: ELKAN, DW Bayern 1611. Ergebnisse der Umfrage nach Erziehungsfürsorge v. 13.2.1959, in: ebd. Besonders die Heime Ruth (Neuenmarkt) und Schafhof (Nürnberg) berichteten von 45 % bis 90 % Abbrüchen der Erziehungshilfe. Vgl. Frings, Heimstatistik, S. 34f.

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

210

Belegung der dem Ev. Erziehungsverband in Bayern angeschlossenen Heime am 1.1.1961103 Altersgruppen

FE

Minderjährigenfürsorge

FEH

sonst. (privat)

Vorschulpflichtige Knaben

25

165

29

49

Vorschulpflichtige Mädchen

15

112

9

45

Schulpflichtige Knaben

146

498

247

223

Schulpflichtige Mädchen

100

363

69

105

schulentlassene Knaben

202

86

184

181

schulentlassene Mädchen

164

102

46

59

Gesamt

652

1.326

584

662

Die vorstehende Tabelle verdeutlicht die Belegung evangelischer Heime in Bayern, die überwiegend Plätze für (vor)schulpflichtige Jungen und Mädchen im Rahmen der Minderjährigenfürsorge zur Verfügung stellten, wohingegen Schulentlassene hauptsächlich im Wege der FE oder FEH bzw. durch private Finanzierung in den Heimen untergebracht waren. Heimtopographie Der Anteil der konfessionellen Träger der Jugendfürsorgeeinrichtungen lag in Bayern 1965 bei 85,1 %.104 Gemäß der konfessionellen Verteilung befand sich die Mehrheit der Heime in katholischer Trägerschaft. Nach einer Auflistung der Caritas-Leistungen in der geschlossenen, halboffenen und offenen Fürsorge in den sechs bayerischen Diözesen Augsburg, Bamberg, Eichstätt, München-Freising, Passau, Regensburg und Würzburg für das Jahr 1952 umfasste das Netz der geschlossenen Erziehungsfürsorge insgesamt 115 Heime mit zusammen annähernd 9.350 Plätzen. Darunter befanden sich 94 „Waisenhäuser und allgemeine Erziehungsheime“ und 21 „Fürsorgeerziehungsheime“ – für das Bistum Regensburg waren allerdings beide Heimtypen unter der ersten Gruppe addiert. Bei den Plätzen lagen die Werte bei 7.690 zu 1.656. Die meisten Heime waren mit insgesamt jeweils 27 Häusern in den Diözesen München-Freising und Regensburg, gefolgt vom Bistum Augsburg mit 24 Häusern. Nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass die Landeshauptstadt München zur Diözese zählte, wurden im Erzbistum München103 104

Angaben in: ELKAN, DW Bayern 1603. Vgl. Statistikteil in Kap. 2.

BAYERN

211

Freising mit fast 2.438 Plätzen in den Waisenhäusern/Kinderheimen und 660 Plätzen in den drei FE-Heimen die weitaus meisten Plätze vorgehalten.105 Das im nachfolgenden Jahr erschienene Handbuch der caritativen Jugendhilfe führte für Bayern 113 Waisenhäuser und Kinderheime sowie 33 Fürsorgeerziehungsheime auf.106 Neben vielen kleineren und mittleren Waisenhäusern/Kinderheimen mit ca. 30 bis 100 Plätzen gab es in den meisten Diözesen auch zumindest eine Einrichtung mit 150 bis über 200 Plätzen. Das größte Haus war das Nikolausheim in Dürrlauingen bei Günzburg mit über 300 Plätzen in Trägerschaft des Katholischen Jugendfürsorgevereins der Diözese Augsburg, das für schwachbegabte bildungsfähige Jungen im Alter von 6 bis 21 Jahren ausgerichtet war. 37 Ancilla-Schwestern und 17 weitere Kräfte, darunter 11 Handwerksmeister, betreuten die Kinder und Jugendlichen, wobei eine Sonderschule und eine Berufsschule sowie zahlreiche Werkstätten zum Heim gehörten. In Herzogenaurach unterhielt das Seraphische Liebeswerk mit dem Liebfrauenhaus ein Kinderheim für Mädchen und Jungen mit über 200 Plätzen, die fast ausschließlich von 25 Mallersdorfer Schwestern erzogen wurden. Mit dem Maria-Theresia-Heim – im 19. Jahrhundert gegründet und 1923 vom Verein übernommen – mit 154 Plätzen, dem AdelgundenHeim – 1889 gegründet und ebenfalls 1923 übernommen – mit 104 Plätzen und dem Clemens-Maria-Kinderheim – 1916 gegründet – mit 150 Plätzen besaß die KJF drei große Kinderheime in München. Letzteres diente als „Zufluchtsheim“ für Mädchen und Jungen bis 14 Jahren, „die von ihren Eltern verstoßen wurden oder deren Verbleib in der Familie untragbar geworden war“.107 Hinzu kamen in der Landeshauptstadt weitere fünf Einrichtungen, von denen das Marien-Ludwig-Ferdinand-Kinderheim 225 Plätze vorhielt und in Trägerschaft des gleichnamigen Vereins stand. In Regensburg und Würzburg wurden ebenfalls in mehreren größeren katholischen Waisenhäusern/Kinderheimen Kinder betreut, wobei hier vor allem verschiedene Stiftungen als Träger fungierten. Von den Fürsorgeerziehungsheimen waren 19 für Mädchen und jeweils sieben für Jungen oder für Mädchen und Jungen konzipiert. Neben Heimen, die ausschließlich schulentlassenen Minderjährigen zur 105

106 107

Leistungsübersicht der geschlossenen, halboffenen und offenen Fürsorge in den bayerischen Diözesen für das Jahr 1952, in: Archiv des DiCV München, Verbandsakten Nr. 27/1a. Becker, Handbuch, S. 28-38. Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 45-49, Zitat S. 45.

212

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Verfügung standen, nahm eine Reihe von Häusern nur schulpflichtige Kinder und Jugendliche bzw. Minderjährige vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen auf. Bei den Mädchenheimen spielten die Klöster vom Guten Hirten in München, Ettmannsdorf und Zinneberg eine wichtige Rolle.108 Auch das Heim des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder in München schuf mit 100 Plätzen für Mädchen einschließlich Wöchenerinnen und 60 Plätzen für deren Säuglinge ein wichtiges Angebot. Unter den FE-Heimen für Jungen stach das 1919 in München gegründete Jugendheim Salesianum mit 400 Plätzen hervor, in dem 18 Salesianer-Patres, fünf Brüder und sieben Ordensschwestern für die Erziehung und Berufsausbildung wie auch für die Versorgung verantwortlich waren. Die Ordensgemeinschaft der Salesianer bot in sieben Werkstätten mit traditionellen handwerklichen Angeboten Ausbildungs- bzw. Anlernmöglichkeiten. Die 1925 von den Herz-Jesu-Missionaren der Süddeutschen Provinz gegründete Fürsorgeerziehungsanstalt Birkeneck bei Freising besaß 250 Plätze. Außer neun Patres und Brüdern sowie acht Mallersdorfer Schwestern waren noch drei Lehrer und 14 Meister als weltliches Personal in der heimeigenen Berufschule und den 17 Ausbildungswerkstätten beschäftigt. 1905 rief der in München bestehende „Katholische Verein zur Betreuung der gefährdeten Jugend“ bei Glonn das Piusheim ins Leben, in dem zunächst vor allem straffällig gewordene Jugendliche aufgenommen wurden. Diese sollten in ausreichender Entfernung zu den Großstädten durch das Landleben gebessert werden. Neben der Landwirtschaft und einem Mühlenbetrieb boten einige Werkstätten Ausbildungsangebote. 1953 wurden 230 Jungen von nur vier weltlichen Erziehern und 12 Meistern sowie elf Ordensschwestern betreut. „Hinsichtlich der Erziehungsmethoden zählte das Piusheim zu jener Kategorie von Einrichtungen, die im Laufe der 1920er Jahre zu Recht in die Schlagzeilen gerieten. Brutale Erzieher, besser: ‚Aufseher‘ – die von 1913 bis 1969 tätigen Schwestern von Maria Stern waren nur für die Hauswirtschaft zuständig – wachten mit rücksichtloser Strenge über eine peinlich einzuhaltende Ordnung. Prügel und Arrest, verhängt bei nichtigsten Anlässen, waren üblich. […] Angesichts des Alltags im Piusheim durfte es kaum verwundern, dass Jugendliche immer wieder die Flucht ergriffen oder gar den Aufstand wagten. Unter den zahllosen Vorfällen ragen zwei Ereignisse besonders hervor: das Eindringen von Soldatenräten in die 108

Vgl. zum Guten Hirten Kap. 5.4.6.

BAYERN

213

Anstalt zur Zeit der Münchener Räterepublik (Frühjahr 1919), das von vielen Zöglingen zum Entweichen genutzt wurde, sowie eine offene Meuterei im Jahre 1925.“109 Der Anteil evangelischer Heime an in FE und FEH in Bayern untergebrachten Minderjährigen betrug 1960/61 ungefähr 17 %.110 Die meisten und die größten evangelischen Einrichtungen in Bayern sind in Franken ins Leben gerufen worden. Hier lag 1953 mit dem 1856 gegründeten Fassoldshof bei Kulmbach in Oberfranken mit einer Kapazität von 332 Plätzen für Minderjährige die beinahe größte Einrichtung, der in anderen Orten wie Altdorf (bei Nürnberg), Rummelsberg (Jugendheim der Rummelsberger Anstalten), Bayreuth (Jean-Paul-Stift), Augsburg (Klauckehaus), Buckenhof (bei Erlangen), Oberlauringen (Kr. Hofheim) Einrichtungen mit einer Kapazität von rund 100 Plätzen folgten. Größere evangelische Einrichtungen fanden sich zudem in Sulzbach-Rosenberg (Oberpfalz) mit 350 Plätzen, die 1953 zu 80 % Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien betreute, dem Fürsorgehof Herzogsägmühle (Schongau/Oberbayern), der rund 300 Plätze für ab 14-jährige Kinder und Jugendliche (u.a. auch mit geistigen und körperlichen Behinderungen) aufwies sowie in München, wo das Evangelische Knabenheim „Spengelhof “ 124 Plätze für Volksschulpflichtige und das Ev. Säuglingsund Kinderheim Löhehaus 140 Plätze besaßen. Das Evangelische Waisenhaus in der Kaulbachstraße in München für 52 schulpflichtige und schulentlassene Mädchen war dagegen relativ klein. Insgesamt existierten in Bayern im Jahre 1953 68 Heime mit 4.535 Plätzen.111 Zudem existierten noch zahlreiche weitere kleinere Einrichtungen, die z. T. angesichts der Flüchtlingsnot erst nach dem Krieg eingerichtet worden sind. Ein Beispiel ist das Landerziehungsheim Vorra an der Pegnitz, das in einem zuvor von der DAF genutzten Schloss untergebracht war und von 1946 bis 1948 bestand. Die Baroness überließ die Leitung einer 70-jährigen Erzieherin. In einem Besichtigungsbericht aus dem Jahre 1947 hieß es: „Es fehlt da und dort an der nötigen Ordnung. Sehr vermissen wir vor allen Dingen auch einen herzlichen, liebevollen Ton, den Kindern gegenüber.“ Das Heim wurde auf Grund von Schulden 1948 109 110

111

Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge , S. 114f. So waren am 1.1.1961 insgesamt 1.136 Minderjährige in evangelischen Heimen im Rahmen von FE (652) und FEH (584) untergebracht. Insgesamt waren laut AFETVerzeichnis 1960 in FE (3.711) und FEH (2.854) 6.565 Minderjährige in Heimen. Alle Zahlen nach Verzeichnis der Ev. Erziehungsheime v. Sept. 1953 (Sonderheft der „Evangelischen Jugendhilfe“), S. 6-11 u. 36. Hierin waren allerdings wohl auch Heime im Bereich der Heil- und Pflegeanstalten (bes. Neuendettelsau) gezählt.

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

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geschlossen.112 Das EREV-Verzeichnis vom September 1953 wies noch sechs Heime mit einem (Neu)Gründungsdatum ab 1945 aus.113 Die nachfolgende Übersicht über die evangelischen Heime und ihre Belegung 1948-1970114 ergibt einen Höchststand der Belegung für 1952 mit über 4.000 Kindern und Jugendlichen, wobei seit 1953 besonders die Zahl der Schulentlassenen nachlässt, allerdings hier am ehesten der Ausgleich durch die nicht näher spezifizierten „Sonderheime“ erfolgt. Dennoch wurden gerade die Schulentlassenen in den 1960er Jahren zu der Problemgruppe in den Heimen. Dies betraf einmal schulentlassene Mädchen und bezog sich generell auf den Befund, dass sich in den dann noch vorhandenen Heimen und Heimgruppen für diese Klientel die erziehungsschwierigen Fälle konzentrierten. Das Auseinandertreten der sich liberalisierenden gesellschaftlichen Normen und der strengen Reglements in den Heimen tat ein Übriges, um das Konfliktpotential zu steigern. Das soll in den nachfolgenden Mikrostudien genauer betrachtet werden. Jahr

Kinderheime (vorschul- u. schulpflichtig)

1948

2.356

917

3.273

1949

2.689

1.091

3.780

1950

2.646

1.204

3.850

1951

2.561

1.181

3.742

1952

2.852

1.391

4.243

1953

2.764

1.418

4.182

1954

2.554

1.384

3.938

1955

2.440

1.381

3.821

1956

2.481

1.292

3.773

1957

2.214

1.312

3.535

1958

2.303

1.268

3.571

1959

2.232

1.176

3.408

1960

2.200

1.024

1965 1968 1970

2.372 2.251 2.159

769 764 552

112 113 114

Schulentlassene

Sonderheime

Plätze insgesamt

3.224 289 339 762

3.430 3.354 3.473

Besichtigungsbericht v. 15.11.1947, in: ELKAN, DW Bayern 1979. Verzeichnis der Ev.Erziehungsheime v. Sept. 1953, S. 6-11. Zusammengestellt aus: Jährliche Auflistung der Übersichtsbogen des Evangelischen Erziehungsverbandes für Bayern 1948-1958 mit Nachtrag bis 1960, in: ELKAN, DW Bayern 1603; Statistik für Mitgliederversammlung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 3.5.1971, in: ELKAN, DW Bayern 1601.

BAYERN

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Insgesamt bestand in Bayern eine Differenzierung der Heime nach Religion, Alter, Geschlecht und Erziehungsschwierigkeit. Allerdings wurden die Kriterien von den zuweisenden Jugendämtern nicht immer eingehalten. Der Verband Bayerischer Evangelischer Erziehungsanstalten klagte gegenüber dem Regierungspräsidenten in Ansbach im November 1946 eine „bekenntnismäßige Anstaltserziehung“ ein, denn wegen Überfüllung und Verkehrsschwierigkeiten waren „Jugendliche ohne Rücksicht auf das Bekenntnis in das nächstgelegene Heim gebracht worden, wo noch ein Platz frei war“.115 So sollte die Konfession der Minderjährigen eigentlich ein fixes Kriterium für eine Differenzierung sein, wurde aber in der Praxis immer wieder durchbrochen. Daher lag 1962 der Anteil katholischer Kinder in evangelischen Heimen bei rund 10 %. 116 Insbesondere in der Nachkriegszeit waren auch weitere Kriterien der Differenzierung ungenau. So klagte man auf der Mitgliederversammlung des Erziehungsverbandes 1948, dass viele Heime noch sehr unspezifisch alle Minderjährigen aufnehmen würden. Es sollte aber eine Unterscheidung erfolgen nach Heimen mit Hilfsschülern, Heimen mit besonders leistungsfähiger Schule für Normalbegabte und Heimen mit psychiatrischer Betreuung oder Heimen für Schulmädchen in sexueller Gefährdung. Die Heime sollten je nachdem einen geschlossenen oder offenen Charakter tragen.117 Dennoch ging eine entsprechende Differenzierung nur langsam vonstatten. Insbesondere die Schaffung von Heimen für erziehungsschwierige Minderjährige zur Entlastung anderer Heime blieb ein dauerhaftes Problem in Bayern. Die Innere Mission Bamberg schuf mit dem Heim Voccawind 1948 ein Durchgangslager für „streunende“ männliche Minderjährige. Es hatte in der Nachbarschaft einen Basaltsteinbruch, in dem die Jugendlichen zu arbeiten hatten.118 Dieses Heim, das erst 1957 auch formal dem 115

116

117

118

Die Jugendämter sollten auf die Bestimmungen der § 69 RJWG und § 128 der Bayerischen Vollzugsvorschriften hingewiesen werden. Siehe Verband Bayerischer Ev. Erziehungsanstalten an RP Ansbach v. 21.11.1946, in: StAN, Abg. 1978 Nr. 6798. Jahresbericht für die Mitgliederversammlung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 23.3.1962 in Nürnberg, in: ELKAN, DW Bayern 1601. Niederschrift über die Mitgliederversammlung des Verbandes Bayerischer Ev. Erziehungsanstalten am 30.11.1948 in Nürnberg, in: ebd. Vgl. zu Voccawind: Fernsehsendung ZDF, 8.1.1969, 20:15 Uhr, Voccawind (9.1.1969) (Nachschrift der Sendung), in: ELKAN, DW Bayern 1617; ASTA-Sozialreferat der Universität Erlangen (Hg.): ASTA-Dokumente: Erziehungsheime der Inneren Mission – nach Voccawind [ca. 1969], in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „APO“ [19681972].

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Evangelischen Erziehungsverband in Bayern beitrat, hatte von Beginn an eine gewisse Skandalgeschichte. Bereits 1948 monierte der Erziehungsverband gegenüber dem Träger, dass sowohl der Landesverband der Inneren Mission wie auch das Stadtjugendamt Fürth auf Mängel hingewiesen hätten, wonach die von der Inneren Mission Bamberg getragenen Einrichtungen Mädchenheim Bamberg wie auch Voccawind „zu sehr den Charakter des Unfreundlichen, Zwangs- und Gefängnismässigen [besäßen] und lassen die Art und den Geist des Fürsorglichen, fortschrittlich Erzieherischen, ja des Christlichen vermissen.“ „In Voccawind wirkt besonders aufreizend der Stacheldraht und es sei unerzieherisch, dass die Jungen ständig unter fremden Arbeitern beschäftigt seien.“119 Ein Jahr später gab es bereits die ersten Skandalberichte, wonach Jugendliche im Basaltwerk „Zwangsarbeit“ verrichten müssten. Als Kollektivstrafen seien 20 Schläge auf das nackte Gesäß für den Diebstahl von Zigaretten üblich. Zudem gäbe es sogenannte „Gruppenwickel“ (Decke über den Kopf und Verprügeln durch die anderen Jugendlichen), von denen ein ehemaliger Zögling berichtete.120 Voccawind galt als ein „Bewahrungsheim“.121 Die Plätze für die Problemklientel der schwererziehbaren männlichen Jugendlichen in den konfessionellen Einrichtungen reichten jedoch bereits in der direkten Nachkriegszeit nicht aus. So wurde die bayerische „Staatserziehungsanstalt Lichtenau“ im September 1948 in der ehemaligen Festung Lichtenau eingerichtet. Hierzu hieß es zeitgenössisch: „Die Stadträte und Landratsämter – Jugendämter – weisen seit mehr als zwei Jahren beim Landesjugendamt immer dringender darauf hin, dass die Fürsorgeerziehung zum Teil mit grosser Verzögerung und in vielen Fällen überhaupt nicht durchgeführt werden kann weil eine Anstaltsunterbringung in der Regel nicht möglich ist. In ganz dringenden Fällen müssen die schwererziehbaren Jugendlichen in ausserbayerischen Anstalten untergebracht werden wodurch dem Bayer. Staat wesentlich höhere Kosten entstehen.“122 119

120

121 122

Bayerischer Verband Ev. Erziehungsheime an IM Bamberg v. 14.8.1948, in: ELKAN, DW Bayern 1613. Zwangsarbeit und Stockhieb – Was ich in der Erziehungsanstalt erlebte (Südbayerische Volkszeitung v. 15.10.1949), in: ELKAN, Rummelsberger Anstalten 176. Hintergrund der Berichte war offenbar ein Missbrauchsfall durch einen Mitarbeiter der Einrichtung. Jugendhof Lichtenau (Thomae) an LJA v. 15.10.1948, in: BHStA, MInn Nr. 89745. Staatsministerium d. Innern an Haushaltsreferat v. 6.7.1948, in: ebd., Bl. 52.

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Die zunächst nur für 40 bis 50 Jugendliche gedachte Einrichtung, die früher ein Zuchthaus, dann ein Gefängnis, eine „Obsorgeanstalt“ für Strafgefangene, ein Lager des Reichsarbeitsdienstes war und zuletzt als Unterkunft für Flüchtlingsfamilien gedient hatte, wurde sukzessive ausgebaut. Sie stellte die staatliche Lösung zur Unterbringung der ‚Schwererziehbaren‘ und der nach der Verordnung Nr. 73 in Heimen zu kasernierenden umherwandernden Jugendlichen in Bayern dar. Der Versuch des ersten Leiters der Einrichtung, des Psychologen Hans Thomae, den sittlichen und moralischen Mängeln der „Bewahrungsfälle“ durch die Einstellung bewusst religiöser Erzieher zu begegnen, kann als gescheitert betrachtet werden.123 Auch der Umbau der ungünstigen baulichen Gegebenheiten ließ lange auf sich warten. Die Einrichtung wurde zeitgenössisch schnell Gegenstand einer kritischen Presseberichterstattung, weshalb der bayerische Landtagsabgeordnete Beck 1950 im Ausschuss für kulturpolitische Fragen die Bildung eines Beirates bei den Jugenderziehungsanstalten anregte, um „negative Vorstellungen im Volke über die FE allmählich zu beseitigen und damit der in letzter Zeit vielfach negativen Kritik von Zeitungen entgegenzuwirken“. Gesetzlich sei der „Staat zur Überwachung der Anstalten verpflichtet, da die Fürsorgeerziehung eine Staatsaufgabe sei, deren Durchführung teils privaten, teils öffentlichen Anstalten übertragen wurde.“124 Scharfmacher hinsichtlich einer repressiven Behandlung der Minderjährigen war das zuständige Landratsamt, dem es in Lichtenau nicht streng genug zuging, wobei u.a. der Ausgang als mangelnde Aufsicht interpretiert wurde, und das Briefe von Insassen benutzte, um vermeintlich unhaltbare Zustände zu skandalisieren. Erst nach einem Wechsel in der Leitung im Frühjahr 1950 und einer Wandlung der Klientel nach dem Wegfall der nach Verordnung Nr. 73 eingewiesenen Jugendlichen änderte sich das Klima in der Einrichtung ein wenig. Die dann rund 100 Jungen im Alter von 10 bis 19 Jahren wurden von einem eher zufällig rekrutierten Personal beaufsichtigt. Ziel sollte sein, eine „Straffreiheit im Tagesverlauf “ zu erreichen. Eine vorübergehend eingerichtete geschlossene Abteilung wurde z. B. wieder aufgelöst, was 123

124

Vgl. Jugendhof Lichtenau (Thomae) an LJA v. 15.10.1948 (Monatsbericht 15.9.15.10.); Landesjugendhof Lichtenau an Bayer. Staatsministerium d. Innern v. 4.11.1949, in: ebd., Bl. 96-98, 179-181. Vormerkung für den Innenminister v. 13.1.1950, in: BHStA, MInn, Nr. 89746, ohne Pag. Der Vorsitzende des Kulturpolitischen Ausschusses änderte den Antrag dahin, dass nur für Lichtenau ein Beirat zu bilden sei.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

zu einem Rückgang der Entweichungen führte.125 Zur besseren inneren Differenzierung wurde Anfang der 1950er Jahre das Gut Weihersmühle im Landkreis Fürth erworben, wo 30 Jugendliche untergebracht waren. Der versprochene Ausbau erfolgte allerdings mangels zugebilligter Mittel nicht.126 Es wurde im Gegenteil im Landtag eine Auflösung Lichtenaus und in einer Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände 1957 überlegt, ob Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege Einrichtungen für geschlossene Heimunterbringung schaffen sollten.127 Verschiedene Heime wie Rummelsberg, Fassoldshof oder Voccawind verwiesen darauf, dass sie bereits Plätze für Schwererziehbare im Rahmen ihrer inneren Heimdifferenzierung bereitstellen würden.128 In Folge einer Besprechung mit dem Bayerischen Staatsministerium im September 1957 kam es in den Rummelsberger Anstalten zur Ausarbeitung der Planung eines Sonderheimes für Schwersterziehbare, auf die der bayerischen Staat aber nicht einging.129 Auf Seiten der evangelischen Heime wurde 1966 angesichts des Anstiegs der Geschlechtskrankheiten eine „Endstation“ für sexuell Verwahrloste „etwa in der Form des Arbeitshauses“ gefordert.130 Durch Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften wurde versucht, den Ruf der Einrichtung Lichtenau zu heben. So wurde 1957 das Prinzip der „offenen Tür“ im Heim betont.131 Doch die Frage des weiteren Ausbaus oder der Veränderung der Arbeit an einen neuen Ort schwebte weiter. So wurde 1958 auf Beschluss des Landtages in Lichtenau erneut eine geschlossene Abteilung für schwersterziehbare Jugend-

125 126 127 128

129

130

131

LJA an Deutscher Verein v. 6.6.1950, in: ebd. LJA an Schwabacher Arbeitsgemeinschaft v. ca. Aug. 1958, in: ebd. Vermerk v. 5.2.1957, in: ELKAN, DW Bayern 1610. Niederschrift über die Besprechung zur Abteilung für Schwersterziehbare am 12.3.1957 in Rummelsberg, in: ebd. Der zu dem Problem befragte EREV riet hier eher zur Zurückhaltung: EREV an Naegelsbach v. 15.2.1957, in: ebd. Rummelsberger Anstalten an Staatsministerium d. Innern v. 10.2.1959, in: ebd. Mit diesem Schreiben mahnte Rummelsberg das Architektenhonorar für die Planung an, das dann lt. Vermerk v. 25.3.1959 durch eine indirekte Zubilligung eines größeren Zuschusses für ein anderes Heim abgegolten wurde. Niederschrift der Arbeitsausschusssitzung des Ev. Erziehungsverbandes in Bayern am 4.11.1966, in: ELKAN, DW Bayern 1607 (auch in DW Bayern 1601). Bericht über Lichtenau in: Der Helfer. Monatsschrift der Arbeiterwohlfahrt Landesverband Bayern e.V. 11 (1957), H. 7 (zitiert nach ebd.).

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liche und „notorische Streuner“132 errichtet, die nachfolgend von 16 auf 50 Plätze erweitert wurde, um dem hohen Bedarf der Jugendämter und anderer Heime auf Entlastung von den schwierigen Fällen entgegen zu kommen.133 Die baulichen Begrenzungen durch die Vorgaben der alten Festung und das Erschrecken der Fachkollegen angesichts dieser baulichen Verhältnisse waren sehr groß. Zudem hatte die Einrichtung personelle Probleme, denn 1963 arbeitete „keine einzige ausgebildete Kraft mehr in der Erziehungsarbeit“. Seit Jahren freistehende Erzieherstellen konnten mangels Bewerbern nicht besetzt werden. Der Leiter Fridolin Kreckl wollte die Kapazität auf 120 Plätze begrenzt sehen, damit die Gruppengröße höchstens 14 Plätze betrage.134 Doch die wichtige Frage einer Auflösung und eines alternativen Umgangs mit den erziehungsschwierigen Minderjährigen wurde nicht gelöst, z. T. wohl auch deshalb, weil der politische Druck auf der Ebene des Landtags nicht entsprechend hoch war. Letztlich wurde der Landesjugendhof Lichtenau erst 1972 aufgelöst.135 Nachfolgend sollen für die konfessionelle Heimerziehung am Beispiel der evangelischen Einrichtungen Fassoldshof (bei Mainleus) und Herzogsägmühle (in Peiting, Oberbayern) wie der katholischen Heime der Schwestern vom Guten Hirten der Heimalltag, die Heimdifferenzierung und auch die Modernisierung näher beschrieben werden.

132

133

134

135

So Fridolin Kreckl, „Die geschlossene Unterbringung schwersterziehbarer Kinder und Jugendlicher. Einige Erfahrungen aus der geschlossenen Abteilung des Landesjugendhofes Lichtenau, in: Unsere Jugend 1963, S. 455-464, hier S. 456. Auch die anderen Heime brachten ihre schwierigen Fälle nach Lichtenau. Vgl. Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 2. Landesjugendhof Lichtenau an Staatsministerium d. Innern v. 3.7.1963, in: BHStA, MInn Nr. 89748. Einen gewissen Ersatz stellte die „Pädagogisch-Therapeutische Intensivabteilung“ (PTI) des Rummelsberger Jugendhilfezentrums dar, die 1977 eröffnet wurde. Vgl. Konzeption der pädagogisch-therapeutischen Intensivabteilung (PTI) (R. Schweizer/G. Meixner, August 1973), in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Konzept (bis 1977)“; Zuschussantrag v. 25.11.1977, in: StAN, Reg. Mittelfranken, Abg. 2000, Reg. 6 Nr. 124 Akte 32; Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 24ff.

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5.4. Erziehungseinrichtungen in Mikrostudien 5.4.1 Das Kinderheim Henneckenrode (Niedersachsen) – Vom Waisenhaus zum Kinderheim Das auf Basis der Blumschen Waisenhausstiftung entstandene Heim in Henneckenrode wies im Vergleich zu den anderen Einrichtungen der caritativen Heimerziehung in der Diözese Hildesheim während der 1950/60er Jahre eine Reihe von Besonderheiten auf. Diese betrafen sowohl die speziellen Verwaltungsstrukturen als auch die Beschulung der in Henneckenrode betreuten Kinder. Anhand der im Diözesanarchiv Hildesheim zu findenden Akten ist davon auszugehen, dass sich insgesamt lange Zeit eine starke Rückständigkeit zeigte, die dann seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfolgreich abgebaut wurde. Die 1971 erfolgte offizielle Umbenennung der Einrichtung von Waisenhaus in Kinderwohnheim signalisierte daher auch nach außen hin diese modernere Ausrichtung. Südlich von Hildesheim im Harzvorland wurden im 1579 erbauten Schloss Henneckenrode seit 1838 Waisen aufgenommen. Die materielle Grundlage ging auf das Testament des letzten Besitzers des Anwesens, Landrentmeister Friedrich Blum (1768-1832) zurück, der als seinen Erben ein zu errichtendes Waisenhaus für katholische Kinder eingesetzt hatte, wobei der Bischöfliche Stuhl in Hildesheim mit der Leitung betraut wurde. Als Waisenhaus-Inspektor fungierte fortan der jeweilige Pfarrer von Henneckenrode, der auch den Jungen Elementarschulunterricht erteilte – für die Mädchen war eine Lehrerin zuständig. Da der zum Schloss gehörende Gutshof das Waisenhaus möglichst wirtschaftlich unabhängig machen sollte, erlangte zudem der dortige Verwalter eine wichtige Bedeutung. 1856 kamen dann zur Betreuung der Kinder Schwestern aus der Ordensgemeinschaft der Vinzentinerinnen in Hildesheim nach Henneckenrode, die in Folge des Kulturkampfes das Heim von 1877 bis 1891 verlassen mussten. Die nach der Wiederkehr der Schwestern vom Bischof verfasste neue Hausordnung der Einrichtung, die Kinder ab dem sechsten Lebensjahr aufnahm, legte fest, dass diese neben dem von einem weltlichen Lehrer zu erteilenden Schulunterricht zur Vorbereitung auf ihr späteres Leben viele Dienste innerhalb des Hauses wie auch im Garten zu übernehmen hatten. Mit dem Ende der Schulpflicht wurden die Jungen in der Regel entlassen, wohingegen die Mädchen noch ein Jahr im Haus bleiben sollten, um nochmals durch eine intensive häusliche Betätigung auf eine Lehr- bzw. Dienst-

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stelle vorbereitet zu werden. Anfang 1942 richtete die Wehrmacht in den Gutsgebäuden und der Schule ein Lazarett ein, sodass die Kinder in andere Häuser der Vinzentinerinnen nach Hannover-Döhren, Hildesheim und Salzgitter verlegt werden mussten.136 Erziehung unter schwierigen Voraussetzungen Nach Kriegsende konnten Ende 1945 in Henneckenrode der Waisenhausbetrieb wieder aufgenommen werden und Vinzentinerinnen mit den Kindern zurückkehren. Im Frühjahr 1946 erteilte die britische Militärbehörde dann auch die Genehmigung zur Wiedereröffnung der Schule. Wegen der Nähe zur SBZ bzw. DDR war Henneckenrode vom starken Zustrom der Vertriebenen und Flüchtlinge in die Region betroffen, sodass in den ersten Nachkriegsjahren die Einwohnerzahl von ca. 180 auf 280 Personen anstieg. Unter ihnen befanden sich viele elternlose Kinder, die ins Waisenhaus aufgenommen wurden. Da nach wie vor einzig der Gutshof und das Waisenhaus die Henneckenroder Ansiedlung bestimmten, fehlten jedoch Arbeitsmöglichkeiten wie Infrastruktur für die gewachsene Einwohnerschaft. Deshalb verließ eine Reihe der zugezogenen Familien die Gemeinde nach einigen Jahren wieder.137 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung befanden sich bald über 100 Mädchen und Jungen im Waisenhaus, dessen Räumlichkeiten samt Inventar durch die vorherige Lazarettzeit stark in Mitleidenschaft gezogen waren. In dieser schwierigen Phase des Neuanfangs betraute die Hildesheimer Bistumsleitung im Herbst 1946 mit den „Armen Schwestern vom hl. Franziskus“ aus dem Mutterhaus in Aachen eine neue Ordensgemeinschaft mit der Betreuung der Kinder im Waisenhaus. Schwestern der Gemeinschaft waren im Herbst 1944 auf Grund der Kriegslage im rheinischen Raum nach Hameln und HannoverschMünden evakuiert worden. Nach Kriegsende betätigten sich noch weitere Schwestern, die vermutlich in Folge des Krieges ihre ursprünglichen Einsatzstätten verlassen mussten, an anderen Orten im Bistum Hildesheim meist in Schwestern-Stationen, aber auch im

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Vgl. Oswin Harry, 150 Jahre Blum`sches Waisenhaus zu Henneckenrode (Festvortrag), Henneckenrode 1982, BAHI. Willi Stoffers (Red.), Handbuch des Bistums Hildesheim im Jahr des Bernwardjubiläums 993-1993, Teil 1, hg. v. BGV Hildesheim, Hildesheim 1992, S. 164.

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Kinderheim Immingerode.138 Offenbar war Bischof Godehard Machens daran gelegen, die Schwestern der Gemeinschaft in seiner Diaspora-Diözese zu halten, indem er ihnen für das Mutterhaus möglichst attraktive Apostolatsaufgaben übergeben wollte.139 Dabei geriet das Waisenhaus Henneckenrode in den Blick, das nach einer Besichtigung der Generaloberin durch seine ruhige und landschaftlich schöne Lage geeignet erschien. Durch den Abzug ihrer Schwestern aus Hannoversch-Münden sah sie daraufhin die Voraussetzungen für die Übernahme der Erziehungstätigkeit und Hauswirtschaft im Waisenhaus gegeben.140 Inwieweit diese Entwicklung tatsächlich auch den Interessen der Vinzentinerinnen, die durch Kriegszerstörungen ihr Mutterhaus in Hildesheim und eine Reihe anderer Einrichtungen verloren hatten, entsprach, ließ sich nicht eindeutig klären. Immerhin stellte die Gemeinschaft seit dem Ende der 1920er Jahre in allen katholischen Jugendfürsorgeeinrichtungen in der Diözese Hildesheim das verantwortliche Erziehungspersonal, und seit dieser Zeit bestand bis zur Aufhebung durch die NS-Behörden im Jahr 1942 in gemeinsamer Trägerschaft mit dem Bistum und dem Diözesancaritasverband Hildesheim im Mutterhaus ein Sozialpädagogisches Schwesternseminar, in dem nicht zuletzt die eigenen Schwestern zur Kindergärtnerin, Hortnerin und Jugenderzieherin ausgebildet wurden.141 Jedenfalls erwähnte Bischof Machens in seinem Dankesschreiben an die Generaloberin der Vinzentinerinnen, dass die Schwestern der Hildesheimer Gemeinschaft nicht nur „fast ein Jahrhundert hindurch […] ihre Kräfte für das Heil unsterblicher Seelen opferbereit eingesetzt“ hätten, sondern auch, dass 138

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Renate Kumm, Das Bistum Hildesheim in der Nachkriegszeit. Untersuchung einer Diaspora-Diözese vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1945 bis 1965), Hannover 2002, S. 247f. Lieselotte Sterner, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim von 1852 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Untersuchung einer karitativen Ordensgemeinschaft vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Hannover 1999, S. 202. Generaloberin an Bischof Machens v. 9.8.1946, BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 393. Sterner, S. 146-149. 1947 wurde das Seminar wegen der Zerstörung des Hildesheimer Mutterhauses in Duderstadt wieder eröffnet, da die Vinzentinerinnen zu diesem Zeitpunkt 74 Jugendfürsorgeeinrichtungen unterhielten, für die sie dringend fachlich geschulte Erzieherinnen benötigten. Nach der Einrichtung des Kinderdorfs St. Ansgar bei Hildesheim entstand 1961 hier eine weitere sozialpädagogische Ausbildungsstätte.

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diese „nach solch langer verdienstvoller Arbeit von Ihnen aus eigenster Initiative zurückgezogen wurden, um anderen Schwestern, die in der Diözese arbeiten, Gelegenheit zu geben, einen brauchbaren Stützpunkt für Ihre Arbeit zu finden“.142 Allerdings zeigt ein Konflikt im Sommer 1932, dass zumindest in dieser Phase das Verhältnis zwischen den Schwestern des Waisenhauses und dem Pfarrer von Henneckenrode als Direktor des Hauses stark angespannt war. Denn er beschwerte sich beim Generalvikar über die mangelnde Beaufsichtigung der Jungen und einen fehlenden Austausch mit ihm. Seine Anwürfe scheinen nicht vollkommen aus der Luft gegriffen gewesen zu sein, da das Mutterhaus dem Generalvikar den Austausch aller Schwestern einschließlich der ebenfalls kritisierten Oberin anbot, was vom Direktor begrüßt wurde.143 Ohne zu wissen, ob die Anschuldigungen gerechtfertigt waren, ob es tatsächlich zu diesem personellen Wechsel gekommen ist und ob die Spannungen beigelegt wurden, weist die Auseinandersetzung doch auf Probleme innerhalb der Henneckenroder Waisenhausstrukturen hin, die sich dann auch im 1947 zwischen dem Generalvikariat und dem Mutterhaus der „Armen Schwestern“ geschlossen Gestellungsvertrag in der dort festgeschriebenen Kompetenz-Verteilung widerspiegelte. Bei monatlich 50 RM Mutterhausabgabe pro Schwester leiteten diese zwar die Erziehungsarbeit und Hauswirtschaft. Aber über die Aufnahme der Kinder entschied das Generalvikariat, das auch die Lehrer für die mit dem Waisenhaus verbundene Schule einstellte. Die Unterbringung der zur Schulentlassung kommenden Kinder in geeignete Lehr- oder Dienststellen erfolgte wiederum durch das Waisenhaus. Für die Rechnungsführung des Heimes war die Verwaltung des Gutshofes zuständig. Schließlich erhielt weiterhin der Ortspfarrer als Direktor Einfluss auf die Abläufe innerhalb der Einrichtung.144 Nachdem die Armen Schwestern am 1. Oktober 1946 in Henneckenrode ihre neue Aufgabe übernommen hatten, werden ihnen die vorgefundenen Verhältnisse bei gleichzeitig starker Beanspruchung von Waisenhaus und Schule durch die vielen Flüchtlinge sehr schnell alles abverlangt haben, zumal die dringend notwendigen Reparaturen an Räumlichkeiten und Inventar erst seit etwa 1950 in Angriff genom142

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Bischof Machens an Generaloberin Mutter Honoria v. 26.10.1946, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 393. Schriftwechsel zwischen Direktor Stolte und dem Hildesheimer Generalvikariat zwischen dem 3.6 und 14.7.1932, in: ebd. Gestellungsvertrag zwischen dem Hildesheimer BGV und den „Armen Schwestern“ v. 4.7.1947, in: ebd.

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men werden konnten. Durch Vermittlung des Hildesheimer Diözesancaritasverbands beim Ministerium für Gesundheit und Aufbau wurden 11.000 DM Beihilfen für das Waisenhaus erreicht. Zur Durchführung der Schul-Renovierung beantragte die Oberin zudem beim Kultusministerium 10.000 DM.145 Auf Wunsch der Schwestern konnten Mitte der 1950er Jahre der Anschluss Henneckenrodes an das Stromnetz und Neuanschaffungen von einigen Einrichtungsgegenständen erreicht werden. Aber damit änderten sich die nach wie vor sehr einfachen Verhältnisse kaum, was im Generalvikariat allein durch weitere Anfragen der Schwestern zu erkennen gewesen sein musste. Oberin Schwester Domitilla bat etwa im Februar 1954 Bischof Machens, für eine extra vom Mutterhaus wegen des großen Bedarfs an Stopfen und Stricken von Strümpfen der Jungen nach Henneckenrode geschickte Schwester Gestellungsgeld zu zahlen und zudem die dringende Erneuerung des Küchenherds in Angriff nehmen zu dürfen. Über den Ernst der Gesamtlage und den sich daraus für die im Heim lebenden Mädchen und Jungen ergebenden Konsequenzen bestand offenbar jedoch keine wirkliche Kenntnis. So war der Bischof geradezu schockiert, als das Mutterhaus im Mai 1955 den Gestellungsvertrag zum 1. Januar 1956 kündigte.146 Diesen Schritt begründete die Provinzoberin mit dem auch bei den Armen Schwestern spürbaren Nachwuchsmangel und die für die Ordensgemeinschaft erforderliche Konzentration auf ihr Kernapostolat der Krankenpflege. In seiner Antwort sprach der Bischof jedoch auch die vermutete Rückständigkeit des Heimes als eine Ursache an. So war ihm durchaus bewusst, dass das Waisenhaus „in seiner baulichen Anlage zwar nicht modern“ war, was aber auf Grund „seiner abgeschlossenen Lage in landschaftlich herrlicher Umgebung große Vorteile bietet wie kaum ein Haus“ einschließlich der „Erholungsmöglichkeiten für kranke Schwestern“. Um dem Mutterhaus zudem entgegen zu kommen, stellte er eine Reduzierung der Schwestern in Aussicht, da „sich ein Haus wie das Waisenhaus in Henneckenrode in Notzeiten mit wesentlich weniger Schwestern leiten lässt. Wenn Sie vielleicht nur drei oder vier Schwestern zur Leitung des Hauses in Henneckenrode belassen, so könnte die übrige Arbeit mit weltlichem Personal bestritten werden. Aber die Leitung bliebe dort in Ihren bewährten Händen.“ Zudem ver145

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Verwalter an BGV v. 20.7.1950, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 475. Provinzoberin S. Ambrosia an Bischof v. 7.5.1955, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 393.

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deutlichte er nochmals die Krisensituation bei einer Abberufung aller Schwestern, die durch keine andere Gemeinschaft zu kompensieren sei. Schließlich skizzierte er auch noch die negativen Folgen durch Politik und Verwaltung, weil die so mit dem Abzug der Schwestern zwangsläufig verbundene Aufgabe des Heimes als Haus „an der Zonengrenze gerade jetzt wenig günstig wirkte und sogar in weiten Kreisen, auch der Regierung, unverstanden bliebe.“147 Obwohl die Provinzoberin in einem weiteren Schreiben hervorhob, dass sie die weiterhin aufrecht erhaltene Kündigung nicht wegen der spezifischen Henneckenroder Verhältnisse, sondern wegen des augenblicklichen Schwesternmangels ausgesprochen habe, setzten vermutlich auf Initiative Caritasdirektor Sendkers von Seiten der Trägerverantwortlichen gezielte Erkundigungen zur tatsächlichen Situation in Henneckenrode ein, deren Ergebnisse schwere Missstände zu Tage förderten. Zunächst beschwerte sich ein Vertreter des Jugendamts Hildesheim-Marienburg beim Caritasdirektor über die Einsetzung von fünf Oberinnen in nicht einmal zehn Jahren, was weder in pädagogischer noch in allgemeiner Hinsicht Kontinuität bringen könne. Des Weiteren sei dem Jugendamt mitgeteilt worden, dass „die Schulkinder schon morgens zwischen 5 und 6 Uhr aufstehen und dann vor der Schule schon für die Haushaltsarbeiten herangezogen würden. Das hat zur Folge, dass die Kinder in der Schule übermüdet sind. Ferner haben sie wenig Zeit für die Schularbeiten. Die Kinder machen dort auch teilweise einen vernachlässigten und ungepflegten Eindruck. Der Kreisarzt Dr. Büchner hat schriftlich festgehalten, dass die Kinder sich in einem erträglichen Allgemeinzustand befinden. Bereits im Jahre 1953 ist von dem Gesundheitsamt durch den Amtsarzt ebenfalls eine Beschwerde über den Gesundheitszustand der Kinder vorgelegt worden. Eine Rücksprache mit der Küchenschwester habe ergeben, dass diese nicht ausreichend Bewegungsfreiheit in dem Wirtschaftsgeld habe. Sie müsse sich das Geld jeweils anfordern, da die Geldverwaltung nicht in den Händen der Oberin, sondern in den Händen des Gutsinspektors […] liege. In pädagogischer Hinsicht scheint es so, dass für die großen Jungen die richtige Führung fehlt; vielleicht liegt es auch etwas an der inneren Organisation der einzelnen Gruppen. Es ist Klage darüber geführt, dass für die älteren Jungen zu ihrer Gruppenschwester auch kein persönliches Verhältnis entsteht oder entstehen dürfe, was doch gerade für die großen Jungen von besonderer Bedeutung sei. Bezüglich der Aufnahme der Kinder scheint 147

Bischof an Provinzoberin S. Ambrosia v. 28.5.1955, in: ebd.

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auch nicht eine genügende Sorgfalt und Auswahl getroffen zu werden. Vielleicht ist das darauf zurückzuführen, dass das Haus nicht voll belegt ist. Als Beispiel wurde angeführt, dass ein 15jähriger schwachsinniger Junge aufgenommen sei, der sich in das Gruppenleben nicht recht einfüge und nun auch die kleineren Kinder belästige. Es sei festgestellt, dass die Kinder schlecht angezogen seien, besonders im Winter und auf der anderen Seite sollen gewisse Vorräte von Strümpfen von Motten zerfressen in irgend einer Ecke bei der Heimbesichtigung gelegen haben.“148 Demnach war bereits das zuständige Jugendamt nach dem Eingang von Beschwerden tätig geworden und hatte das Waisenhaus in Henneckenrode besichtigt. Vermutlich daraufhin wurde die Belegung eingestellt, sodass sich nur noch 43 Kinder im Heim befanden. Aber es zeigte sich bereit, wieder mehr Kinder zu überweisen, wenn dringend notwendige Maßnahmen wie die Verbesserung der Wasserversorgung, der Schulräume und der sanitären Einrichtungen durchgeführt würden. Über einen höheren Pflegesatz, den das Jugendamt schon „vor geraumer Zeit“ dem Haus vorgeschlagen hatte, ohne einen entsprechenden Antrag erhalten zu haben, könnte zudem mehr Personal eingestellt werden. Schließlich wurde noch der Vorschlag gemacht, die „gesamte Pflegegeldverwaltung von der Verwaltung des Gutes“ abzutrennen und „den Schwestern zur selbständigen Bewirtschaftung“ zu übertragen.149 Die Stellungnahme des Henneckenroder Verwalters machte nicht nur deutlich, dass eine Reihe der Probleme aus der in der Stiftung grundgelegten engen Verflechtung des Gutsbetriebs mit dem Waisenhaus resultierte, sondern ihm etwa auch die dringende Forderung des Schularztes nach neuen Schulmöbeln bekannt war.150 Und in einem nicht überlieferten Schreiben der Provinzoberin an die Bistumsleitung scheinen dann auch von dieser Seite wesentliche Schwierigkeiten und eine Änderung der Zweckbestimmung des Hauses thematisiert worden zu sein – letzteres war nach Auskunft des Hildesheimer Generalvikars, der durchaus die Existenz der Einrichtung gefährdet sah, wegen der Stiftungssatzung nicht möglich. Außerdem erklärte er in seiner Antwort, durch die Ausführungen Schwester Ambrosias „zum ersten Mal Näheres über solche Schwierigkeiten erfahren“ zu haben.151 Eine durch 148

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Aktennotiz Sendkers v. 11.7.1955 über ein Gespräch mit dem Jugendamt des Landkreises Hildesheim-Marienburg, in: ebd. Ebd. Stellungnahme des Gutsverwalters v. 16.7.1955, in: ebd. Generalvikar an S. Ambrosia v. 6.8.1955, in: ebd.

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regelmäßige Besuche des Waisenhauses gekennzeichnete Aufsicht der Trägerleitung hatte also offenbar während der ersten zehn Nachkriegsjahre nicht stattgefunden. Nachdem Caritasdirektor Sendker sich vor Ort ein konkretes Bild der Verhältnisse in Henneckenrode gemacht hatte, begab er sich schließlich zu einer Besprechung in das Aachener Mutterhaus. Bei diesem Austausch wurde deutlich, dass aus Sicht der Schwestern vor allem ihre Überanstrengung durch die unzureichenden Arbeitsbedingungen und die „belastete Atmosphäre zur Gutsverwaltung“ für die Probleme verantwortlich waren. Sie befürchteten sogar, „ihrer Aufgabe an den Kindern, die sie gern erfüllen wollen, nicht gerecht werden zu können“. So käme es etwa häufig zu Stromausfällen, weswegen die Schwestern den gesamten „Tagesbedarf an Wasser für 80-100 Personen von der Pumpe heranschleppen“ müssten. Darüber hinaus zählten zu ihren Aufgaben das Putzen der Büros der Gutsverwaltung und der Schulräume, die Beköstigung der Besucher der Verwaltung oder „im Winter [die] Versorgung der Öfen der Schule“. Auch gegenüber dem Pfarrer bestanden Spannungen, „weil dieser öffentlich auf der Kanzel gegen das Verhalten der Schwestern wiederholt Stellung nimmt. Z. B. wenn eine oder zwei Schwestern beim letzten Evangelium die Kirche verlassen, um das Frühstück für die Kinder vor Schulbeginn oder für die Schwestern selbst fertig zu machen. Der Pfarrer verlangt täglichen Messbesuch aller Kinder, was die Schwestern aus pädagogischen Gründen nicht durchführen können. Die Jungen gehen wenigstens zweimal, die Mädchen auch viermal in der Woche zur Messe. Ich verweise in diesem Zusammenhang hin auf die Klagen des Jugendamtes bzgl. Übermüdung der Kinder.“ Zwei jüngere Schwestern waren auf Grund der Belastungen bereits krankheitsbedingt nicht mehr voll einsatzfähig, aber weltliches Personal ließ sich wegen der „abseitige[n] Lage des Hauses, die nicht durch zusätzlich[es] Geld ausgeglichen werden“ könnte, nicht rekrutieren.152 Caritasdirektor Sendker konnte die Kritik der Schwestern und ihre hieraus abgeleiteten Verbesserungswünsche gerade im hauswirtschaftlichen Bereich nachvollziehen und empfahl der Bistumsleitung, die Probleme zielgerichtet und mit einem Zeitplan versehen abzustellen, zumal diese bei einer anderen Ordensgemeinschaft ebenfalls auftreten würden. Im Lauf der nächsten Monate wurden daher u.a. sowohl die Trennung von Waisenhaus und Gut vollzogen als auch Reparaturund Sanierungs- sowie weitere Baumaßnahmen im Umfang von jeweils 152

Aktennotiz Sendkers v. 12.8.1955 über Gespräch im Mutterhaus, in: ebd.

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100.000 DM anvisiert. Auf dieser Grundlage erklärte sich die Leitung der Armen Schwestern bereit, in Henneckenrode zu bleiben, wobei die wesentlichen Veränderungen offenbar auch Eingang in einen neuen Gestellungsvertrag fanden, der zudem eine monatliche Mutterhausabgabe von 50 DM je Schwester festschrieb.153 Konkrete Erziehungsarbeit Die geschilderten, gut dokumentierten Ereignisse des Jahres 1955 stehen nicht nur für die nach dem Zweiten Weltkrieg bis zumindest Mitte der 1950er Jahre bestehenden, stark durch die Stiftungsvorgaben und die abgeschiedene Lage bedingten strukturellen Probleme bzw. Defizite an Räumlichkeiten und Ausstattung im Henneckenroder Waisenhaus, sondern lassen auch vermuten, dass es während dieser Jahre an einer differenzierten pädagogischen Ausrichtung bei der Betreuung der Mädchen und Jungen fehlte. Jedenfalls scheint dieser Aspekt, wie vom Jugendamt moniert, etwa im Mutterhaus der Armen Schwestern bei dem häufigen Wechsel der Oberinnen keine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Auch weist die Klage über ein anscheinend bewusst unpersönliches Verhältnis der Gruppenschwester zu den älteren Jungen auf pädagogische Mängel hin, die vermutlich einer Übertragung von Regeln des Ordenslebens auf die Erziehungsarbeit geschuldet waren.154 Hinsichtlich der Qualifikation des Henneckenroder Erziehungspersonals ist nur bekannt, dass unter den seit 1946 jeweils ca. sieben im Waisenhaus wirkenden Schwestern die später als Heimleiterin fungierende Schwester Lukretia Lehrerin war. Ansonsten befanden sich 1953 unter den fünf weltlichen Kräften drei Kindergärtnerinnen, zwei Lehrerinnen und eine Kinderpflegerin.155 Anhand verschiedener Hinweise ließ sich zumindest ein ungefähres Bild ihrer konkreten Erziehungsarbeit unter den speziellen Hennenckenroder Verhältnissen während der 1950/60er Jahre zeichnen. Nachdem der große Zustrom an Kindern der ersten Nachkriegsjahre nachgelassen hatte, war das Haus bei ca. 60 zur Verfügung stehenden Plätzen meist mit etwa 50 Mädchen und Jungen im Alter von 1 bis 15 153

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S. Ambrosia an BGV v. 3.10.1955 u. Entwurf für einen neuen Gestellungsvertrag o. D., in: ebd. Vgl. Aktennotiz Sendkers v. 11.7.1955 über ein Gespräch mit dem Jugendamt des Landkreises Hildesheim-Marienburg, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 393. Becker, Handbuch, S. 88.

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Jahren belegt, wobei sich 1959 unter ihnen 30 Kinder wegen eines „erzieherischen Notstandes“ befanden.156 Neben einer gemischten Kleinkinder-Gruppe bestand jeweils eine Gruppe für die schulpflichtigen Mädchen und Jungen, die 1968 je 20 Kinder umfassten. Die Leitung der einzelnen Gruppen blieb in der Hand einer Ordensschwester, die von weltlichen Kräften unterstützt wurde – 1968 waren es bei den Kleinkindern zwei Kinderpflegerinnen, bei den Mädchen eine Heimerzieherin und eine Kinderpflegerin sowie bei den Jungen eine Krankenschwester, eine Hauswirtschaftsgehilfin und eine Putzfrau. Wie vom Landesjugendamt festgestellt, fehlte „dringend 1 soz.päd. Fachkraft für die Jungengruppe. Es wäre zu begrüßen, wenn hierfür eine männliche Kraft gewonnen werden könnte.“157 Wenn die Schwestern sich 1955 vor dem Hintergrund der gewünschten Umstrukturierungen zwar ausdrücklich dafür einsetzten, dass der Hausmeister des Waisenhauses bleiben solle, da er auch als „handwerklicher Erzieher für die großen Jungen wertvoll ist“, dürfte der 18 Jahre später vom Landesjugendamt geäußerte Vorschlag zur Einstellung eines männlichen Erziehers von der Hausleitung eher mit Vorbehalten aufgenommen worden sein.158 Zwischen 1956 und 1959 nahmen in Henneckenrode vier Schwestern – eine Heimleiterin und drei Gruppenleiterinnen – sowie eine weltliche Erzieherin und eine Lehrkraft an den turnusmäßigen Beratungsgesprächen durch die Mitarbeiterinnen der vom Hildesheimer Diözesancaritasverband eingerichteten Heimerziehungsberatungsstelle teil.159 Inwieweit diese Fortbildungen als Einzel- oder als Gruppengespräch, in dem meist allgemeine Erziehungsfragen wie „bes. typische Einzelschicksale aus ihren Kindern und Zöglingen“ Thema waren160, durchgeführt wurden, ließ sich im Einzelnen nicht feststellen. Vermutlich werden auch in Henneckenrode Gruppengespräche bevorzugt worden sein, da „die Wahrnehmung gleicher und ähnlicher Probleme und Schwierigkeiten bei anderen Erzieherinnen“ den einzelnen Teilnehmer „zur offenen Aussprache, zur Einsicht und zum Sehen von Zusammenhängen mit der eigenen Haltung

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Bericht von Psychologin Alicke für die Zeit vom 1.5.1956-30.4.1959, in: BAHI, DiCV Nr. 1836, S. 4. Besichtigungsbericht des LJA Hannover v. 20.2.1968, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 1788. Ebd.; Aktennotiz Sendkers v. 12.8.1955 über Gespräch im Mutterhaus, in: ebd., Nr. 393. Vgl. zur Heimerziehungsberatungsstelle des DiCV Hildesheim Kap. 3.3 u. 5.2. Bericht des Psychologen Skowronek v. 29.12.1960, in: BAHI, DiCV Nr. 1836.

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und Einstellung“ ermutigten.161 Allerdings erkannten es die Mitarbeiter der Beratungsstelle als Problem, dass bei den Gruppengesprächen Laienund Ordenskräfte getrennt waren.162 Zudem dürfte sich auch in Henneckenrode die zumindest für diesen Zeitraum in den zehn Heimen zu Tage tretende hohe Fluktuation der Erziehungskräfte negativ ausgewirkt haben. Denn auf eine konstant im Haus bleibende Erzieherin kamen zehn Erzieherinnen, die bald wieder an eine andere Arbeitsstätte wechselten. Insgesamt wurde allerdings für das Henneckenroder Heim festgehalten, dass „alle pädagogischen Probleme […] von Schul- und Ordinariatsorgen“ überschattet wurden.163 In einem 1961 von einer Fürsorgerin und einem Psychologen der Hildesheimer Beratungsstelle verfassten Bericht über eine statistische Untersuchung in den Kinderheimen der Diözese Hildesheim, die die Problematik des Hospitalismus thematisierte, wurden neben den 242 „Dauerheimkindern“164 aller acht Heime sämtliche 289 Mädchen und Jungen in den Heimen in Henneckenrode (55 Kinder), Hannover-Döhren (137) und Hildesheim-Johannishof (97) in den Blick genommen. Diese drei Heime waren nicht nur die größten, sondern erschienen den Autoren der Studie auch als die „reformbedürftigsten“. Sie führten zwar keine nach den Heimen differenzierten Untersuchungsergebnisse auf, aber die Erkenntnisse der Auswertung ließen sich immer wieder auch auf die Henneckenroder Verhältnisse übertragen. So betraf die Kritik an den zahlreichen Gruppenwechseln der Kinder auf Grund der am Alter anstatt am Familienprinzip orientierten Gruppen auch dieses Heim. Gleiches dürfte für die nicht-katholischen Kinder gegolten haben, „die in frühem Alter ohne Rücksicht auf ihre Konfession aufgenommen“ wurden – dies betraf immerhin 72 der 289 erfassten Kinder – und die nach „den Erfahrungen der Beratungstätigkeit […] mit etwa 12 Jahren mit weniger Zögern verlegt [werden], da bei ihnen die erzieherische Beeinflußung vom Bereich des Religiösen her nicht so gut möglich ist wie bei katholischen Kindern“.165 161 162 163 164

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Bericht von Psychologin Alicke für die Zeit vom 1.5.1956-30.4.1959, in: ebd., S. 8. Bericht des Psychologen Skowronek v. 29.12.1960, in: ebd. Bericht von Psychologin Alicke für die Zeit vom 1.5.1956-30.4.1959, in: ebd., S. 8. Damit waren diejenigen Kinder gemeint, „die in einem Alter von weniger als 2 Jahren, bzw. weniger als 5 Jahren in ein Heim aufgenommen wurden und ganz oder überwiegend in Heimpflege blieben“. Vgl. A. Rheinländer/H. Skowronek, Bericht über eine statistische Untersuchung in den katholischen Kinderheimen der Diözese Hildesheim, Ms., Hildesheim 1961, in: BAHI, DiCV Nr. 1836. Ebd., S. 10.

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Wie diese Gruppen- bzw. Heimwechsel stellte auch der in der Untersuchung konstatierte starke Wechsel der pädagogischen Kräfte oftmals eine große Belastung für die betroffenen Kinder dar, weil dadurch die „Stabilität der persönlichen Beziehung zur Gruppenerzieherin“ fehle. Zudem zeigte die Studie, dass in Henneckenrode in fünf Fällen Geschwisterkinder wegen ihres unterschiedlichen Alters und Geschlechts auf verschiedene Gruppen verteilt worden waren, was sich in der Regel ebenfalls negativ auf die Entwicklung dieser Jungen und Mädchen auswirken musste.166 Schließlich hieß es in der Studie hinsichtlich der Förderung des „für Dauerheimkinder so lebensnotwendigen menschlichen Kontakt[s] mit den Erziehungskräften“, dass „wohl auch die Art und das Ausmaß und die Planung der Verpflichtungen zu erwägen [seien], denen die Erziehungskräfte, soweit sie religiösen Kongregationen angehören, unterliegen.“ Wenn dann zur Konkretisierung zwar auf die in den Heimen tätigen Vinzentinerinnen eingegangen wurde, werden durchaus Parallelen zu den Armen Schwestern in Henneckenrode zu ziehen sein. Jedenfalls begrüßten die Verfasser in diesem Zusammenhang den aktuellen Entschluss der Vinzentinerinnen, „die Gruppenschwestern wenigstens eine Mahlzeit mit den Kindern gemeinsam einnehmen zu lassen“. Die im Bericht vorgenommene Hervorhebung der immerhin einen Mahlzeit sollte jedoch die dringende Notwendigkeit weiterer Lockerungen der durch das Ordensleben bedingten Einschränkungen für eine an modernen pädagogischen Maßstäben ausgerichtete Erziehungsarbeit deutlich machen – so nahmen die Schwestern in der Regel zusammen im Refektorium die Mahlzeiten ein und hatten auch gemeinsame Gebetszeiten. Daher wurde auch darauf verwiesen, „daß im Johannishof die Zeit, die den Schwestern effektiv für die persönliche Beschäftigung mit ihren Kindern verbleibt, für Schulkinder auf 4 Stunden täglich beschränkt ist.“167 Mitte der 1960er Jahre gab es offenbar erneut Diskussionen, ob die Armen Schwestern, die immerhin 1951 auch die Erziehungstätigkeit und Hauswirtschaft im Hildesheimer Kinderheim Johannishof mit bis zu 13 Schwestern übernommen hatten und demnach zumindest in den Augen der Verantwortlichen des Trägers, der „Katholischen Wai-

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 17f.

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senhaus-Stiftung Hildesheim“, als geeignet angesehen worden waren168, in Henneckenrode bleiben würden. Da sie anscheinend innerhalb der eng mit dem Heim verknüpften Dorfgemeinschaft wenig Anerkennung genossen, könnten wiederum im Aachener Mutterhaus Stimmen aufgekommen sein, die Schwestern von dort abzuziehen. Aber auch Vertreter der Hildesheimer Bistumsleitung standen nicht mehr uneingeschränkt zu den Schwestern. Denn „trotz aller Dankbarkeit den Schwestern gegenüber muß doch gesagt werden, daß sie der pädagogischen Aufgabe nicht voll gewachsen sind (wesentlich Pflegeorden)“, wie Domkapitular Brüggeboes 1965 feststellte. Er sah es zwar als unsicher an, ob die Schwestern auch in Zukunft verbleiben, aber „anderes Personal zu beschaffen, dürfte unter den jetzigen räumlichen Verhältnissen schwierig sein.“169 Damit glich die Situation stark derjenigen von 1955. In Ermangelung wirklicher personeller Alternativen blieben die Armen Schwestern in den Augen der Trägerverantwortlichen die einzige Möglichkeit, den Bestand des Heimes zu gewährleisten. Die Umstellung auf ausschließlich weltliche Erziehungskräfte scheint daher auch nicht konkret angedacht worden zu sein. Allerdings hätten sich diese auch kaum in ausreichender Zahl rekrutieren lassen. So verwies ein 1968 verfasster Bericht der Heimerziehungsberatungsstelle auf die in der Diözese Hildesheim zu beobachtende eindeutige Tendenz, dass in den kommenden Jahren zwar immer mehr Ordenschwestern allein auf Grund ihres Alters aus dem Dienst ausscheiden würden, aber bislang in den Heimen mit schulpflichtigen Kindern nur 16 weltliche Erzieherinnen Gruppenbzw. Heimleiterinnen seien. Dieser Feststellung schloss sich die Frage an, wer „eines Tages den Platz der Schwestern einnehmen“ werde.170 Vielleicht hatten auch die bis zum Ende der 1960er Jahre unzureichenden räumlichen und ausstattungsmäßigen Verhältnisse des Hauses die Schwestern in Henneckenrode bewogen, erneut über einen Weggang nachzudenken. Denn obwohl seit Mitte der 1950er Jahre kontinuierlich Veränderungen angestrebt wurden, die 1959 von der Leiterin der Heimerziehungsberatungsstelle der Diözese Hildesheim als „pädagogisch angemessen“ anzusehende „Verbesserungen bzw. Ausbau168 169

170

Kumm, Bistum Hildesheim, S. 248. Aktenvermerk von Domkapitular Brüggeboes v. 14.7.1965 über ein Gespräch mit Caritasdirektor Schenk, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 468. Bericht der Hildesheimer Heimerziehungsberatungsstelle über die Situation der Kinder- und Erziehungsheime v. 23.4.1968, in: BAHI, DiCV Nr. 1836.

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ten“ gekennzeichnet worden waren171, gelang es im Gegensatz zu den meisten anderen von der Beratungsstelle betreuten zehn Einrichtungen nicht, bis Ende der 1960er Jahre die Gruppenstärke auf 12 bis 16 Kinder zu reduzieren – nur in Hannover-Döhren war dies ebenfalls noch nicht geschehen.172 Außerdem monierte das Landesjugendamt neben der dürftigen Ausstattung vor allem den Zustand der sanitären Anlagen und die noch ungenügende Unterteilung der Schlafsäle. So hatte die Kleinkinder-Gruppe keinen eigenen sanitären Bereich, sodass alle Kinder zur Benutzung der für sie bestimmten beiden Toiletten durch den Schlafsaal der schulpflichtigen Mädchen gehen müssten. Dies sei nicht nur „umständlich“, sondern „auch aus pädagogischen Gründen nicht erwünscht“. Ebenso stelle die mittlerweile im Schlafsaal der kleineren Mädchen und Jungen installierte Badewanne „nur eine Notlösung dar“, da diese nicht vom Schlafsaal abgegrenzt sei. Schließlich müssten die sich über Jahre hinziehenden Renovierungs- und Ausbesserungsarbeiten jetzt zügig beendet werden.173 Neben diesen schwierigen häuslichen Bedingungen beeinflusste auch die äußerst abgeschiedene Lage Henneckenrodes den Heimalltag. So bildeten seltene Einkaufsfahrten mit dem Fahrrad in die benachbarte Ortschaft Holle wie auch vereinzelte Theaterbesuche in Hildesheim den einzigen Ausgang außer Spaziergängen in der Natur. Allerdings bemühten sich die Schwestern darum, vielen Kindern die Ferien außerhalb des Heimes zu ermöglichen. Weil nur wenige von ihnen ein entsprechendes Zuhause besaßen, nutzten sie vermutlich die Nähe des Aachener Mutterhauses zur belgischen und niederländischen Grenze, um Mädchen und Jungen in Pflegefamilien der Nachbarländer unterzubringen. Sogar an Ferienlagern in der Schweiz konnten Henneckenroder Kinder teilnehmen. Ansonsten bestand die Freizeitbeschäftigung weitgehend aus Basteln und Musizieren. In welchem Umfang und in welcher Form während dieser Zeit Strafen innerhalb der Erziehungsarbeit der Schwestern eine Rolle spielten, ließ sich kaum nachvollziehen. 171

172

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Bericht Alickes für die Zeit vom 1.5.1956-30.4.1959, in: ebd., S. 2 u. 4. Das Waisenhaus Henneckenrode wurde hier gemeinsam mit anderen Einrichtungen wie dem Bernwardshof, dem Johannishof, Schloss Wollershausen und dem Maria-GorettiHeim in Wolfsburg erwähnt, ohne dass die Maßnahmen im Einzelnen Benennung fanden. Bericht über die Situation der Kinder- und Erziehungsheime im Bereich der Heimerziehungsberatungsstelle v. 23.4.1968, in: BAHI, DiCV Nr. 1836. Besichtigungsbericht des LJA Hannover v. 20.2.1968, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 1788.

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Anfang 1968 enthielt das vom Landesjugendamt geprüfte Strafbuch jedenfalls keinen Eintrag.174 Das 1965 vom Domkapitular entworfene düstere Bild hatte sich also nicht bewahrheitet. Die Armen Schwestern waren in Henneckenrode geblieben und suchten offenbar verstärkt den Weg der Modernisierung sowie des Ausbaus der Kontakte der Kinder nach Außen und besonders zu den Eltern, der offenbar durch keine Postkontrolle gestört war. So hieß es im Bericht des Landesjugendamts Braunschweig über eine Ende November 1971 erfolgte Besichtigung, der bei 48 betreuten Kindern auch die gute personelle Besetzung mit Fachkräften hervorhob, zum Gesamteindruck: „Beim Rundgang durch das Haus führte uns Oberin Schwester Alfons. Es war eine Freude, dieses Heim zu besichtigen, das in den letzten Jahren entscheidend umgestaltet wurde! In den Schlafräumen hatte man das alte Mobiliar zum Teil durch Paidimöbel ersetzt. Geschickte Unterteilungen in den Schlafräumen verhalfen den Kindern zu größerer Geborgenheit. Lebhafte bunte sehr geschmackvolle Ausstattungen in allen Räumen vermitteln einen freundlichen Eindruck. In den Aufenthaltsräumen steht viel Spielmaterial zur Verfügung, sehr schön auch die Musikinstrumente für die Mädchen. Jedes Kind hat reichlich eigenen Schrankraum zur Verfügung. Die sanitären Anlagen sind zweckentsprechend. […] Der Gesamteindruck der Besichtigung kann als ausgesprochen positiv bezeichnet werden. Die Kinder können sich in diesem Heim wirklich wohl fühlen.“175 Allerdings befanden sich für den Zeitraum von Ende Mai 1968 bis Mitte September 1970 47 Einträge im von den Schwestern geführten Strafbuch. Diese relativ hohe Zahl bewog den Leiter des Landesjugendamts Braunschweig, das Buch nochmals genau zu prüfen, was wiederum bei der Oberin Sorgen hinsichtlich der mittlerweile erreichten, eigentlich guten Reputation des Hauses auslöste. Auf ihre Anfrage hin hob der Leiter zunächst die Bedeutung des in den niedersächsischen Heimrichtlinien festgeschriebenen Verbots der körperlichen Züchtigung hervor, die nur in Ausnahmen erlaubt war. Zudem übte er anscheinend Kritik an der Form der Strafen. Denn die Oberin würde doch mit ihm übereinstimmen, „daß der Stock als Züchtigungsmittel grundsätzlich verschwinden sollte. Insbesondere halte ich Stockschläge auf die Hand für eine sehr schlechte Maßnahme. Ich bitte Sie daher 174 175

Ebd. Besuchsbericht des LJA Braunschweig v. 10.12.1971, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 391.

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im Interesse des Heimes, diese Art der Züchtigung auf jeden Fall abzustellen. Wenn als letzte Möglichkeit erzieherischer Maßnahmen ‚der Hosenboden einmal stramm gezogen’ werden muß, sollte nur die Hand benutzt werden. Weit besser wäre es aus pädagogischer Sicht, den Kindern – die Schwierigkeiten bereiten, weil sie Schwierigkeiten haben – mit anderen Erziehungsmitteln zu helfen. Ich bin überzeugt, dass dieses Ziel von Ihnen und Ihrem Mitarbeiterkreis im Grunde genommen auch angestrebt wird. Wie schwer die pädagogischen Aufgaben oft sind, habe ich in den Jahren meiner Tätigkeit beim Landesjugendamt Braunschweig im vollen Umfange kennengelernt.“176 Die häufige Anwendung der hier zu Tage tretenden massiven Strafen führte jedoch zu keinen negativen Auswirkungen für die Henneckenroder Einrichtung, da die Mitarbeiterin des LJA bei ihrem Ende November erfolgten Besuch des Hauses keine Hinweise auf körperliche Züchtigungen nach Mitte September 1971 gefunden hatte. Zudem vertraute sie vollkommen auf die dort geleistete Erziehungsarbeit. So würden die Strafbucheintragungen letztlich nicht den „positiven Gesamteindruck“, den das „Heim bei der Besichtigung“ vermittelt habe, beeinträchtigen.177 Ohne die tatsächlichen Hintergründe zu kennen, dürfte doch davon auszugehen sein, dass im September die durch massive körperliche Züchtigungen aufgefalle(n) Erzieherin(nen) das Haus verlassen haben. Allerdings hatte es über zwei Jahre gedauert, bis diese Missstände hausintern beseitigt und schließlich auch von Seiten der staatlichen Aufsichtbehörde wahrgenommen wurden. In Anbetracht der vielen positiven Entwicklungen für die Erziehungsarbeit in Henneckenrode kann die Initiative der Oberin von 1971 nicht verwundern, das Haus mit Einverständnis des Hildesheimer Generalvikariats von „Blumsches Waisenhaus“ – 1950 lautete der Briefkopf sogar noch „Waisenhaus und Rittergut Henneckenrode“ – in „Kinderheim Henneckenrode“ unter der Trägerschaft der „Blum`schen Waisenhaus-Stiftung“ umzubenennen.178 Allerdings scheint es im Generalvikariat gewisse Irritationen über die nun offiziell auf 48 Kinder festgesetzte Platzzahl gegeben zu haben. Denn offenbar auf eine entsprechende Anfrage legte der Diözesancaritasverband dar, dass die „mit nicht unerheblichen Mitteln“ der kirchlichen Behörde „aus pädagogischen Gründen“ durchgeführten Umbauten und Modernisierungen 176

177 178

LJA Braunschweig an Oberin v. 28.1.1972, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 1788. Ebd. Nachricht an Henneckenroder Oberin v. 28.6.1971, in: ebd.

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„zwangsläufig […] auch eine Verringerung der Belegung zur Folge“ gehabt hätten. Dabei wären bei den in der ersten Nachkriegszeit im Waisenhaus aufgenommenen „viele[n] Notaufnahmen […] andere Maßstäbe“ angelegt worden, „so daß die Platzzahl erheblich höher war. Es ist also somit nachträglich nur eine Korrektur erfolgt, die längst fällig war.“179 1975 betreuten dann immer noch sechs Arme Schwestern gemeinsam mit drei Kindergärtnerinnen, drei Kinderpflegerinnen sowie je einer Heimerzieherin, Lehrerin und Krankenpflegerin 38 Kinder, wobei sie von mehreren Praktikanten unterstützt wurden. Zwei Jahre später waren es noch 36 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren – 20 Mädchen und 16 Jungen – in drei altersgemischten Gruppen mit 15, 12 und 9 Plätzen. Unter ihnen befanden sich vier Kleinkinder, die vormittags in einem Gruppenbereich eine intensive Betreuung erhielten, da sich Planungen zur Einrichtung eines Kindergartens in Henneckenrode wegen des geringen Bedarfs nicht verwirklichen ließen. An zwei Tagen in der Woche kam zudem eine Psychologin ins Heim. Durch die Teilnahme am Vereinsleben wie auch Verbindungen zu Familien, Gemeinden und Jugendgruppen konnten die Außenkontakte intensiviert werden. Nach der in den vergangenen Jahren erfolgten Entwicklung hieß es im Ende 1977 vom Landesjugendamt verfassten Bericht über die kurz zuvor durchgeführte Besichtigung mit einem Ausrufezeichen versehen, dass das Ergebnis „wirklich gut“ [war]. Die Atmosphäre des Hauses spricht Besucher an – und ich hoffe, dass sich die Kinder genauso wohlfühlen können. Beim Rundgang durch die Gruppenbereiche hatte man durchaus diesen Eindruck.“180 Die Henneckenroder Schule Nach den Bestimmungen der Blumschen Waisenhaus-Stiftung sollten die Kinder des Ortes Henneckenrode kostenlos am Schulunterricht der im Waisenhaus untergebrachten Jungen und Mädchen teilnehmen können. Diese Regelung hatte auch nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand und wurde von den Familien der Gemeinde noch Anfang der 1970er Jahre gerne angenommen. Wenn diese Regelung auch als Ausnahme zu betrachten ist, da es ansonsten entweder eine Heimschule nur für die Kinder der jeweiligen Einrichtung gab oder die in den Heimen le179 180

DiCV an BGV v. 21.8.1975, in: ebd. Besichtigungsbericht des LJA Hannover v. 29.12.1977, in: ebd.

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benden Kinder in die Volksschule der zuständigen Stadt bzw. Gemeinde gingen, ließen sich hier doch Aspekte aufzeigen, die zumindest auf strukturelle Fragen der Beschulung der Kinderheime im Bereich der Diözese Hildesheim wiesen. Während der 1950/60er Jahre waren es vor allem zwei Probleme, mit denen die Verantwortlichen für die Schule in Henneckenrode zu kämpfen hatten. Einmal ging es um die Frage, in welcher Form sich die Schule auf die des Öfteren bemerkte hohe Zahl an „Hilfsschüler[n]“ einstellen konnte, und zum anderen bestand fast durchgängig die Schwierigkeit, geeignete Lehrer im erforderlichen Umfang zu rekrutieren. So stellte bereits 1952 der für Henneckenrode zuständige Schularzt fest, dass sich in der dortigen Schule „ein überdurchschnittlicher Prozentsatz an Hilfsschülern (Waisenhaus)“ befände und daher die „normalen und begabten Schüler im Nachteil sind“. Für den Grundschulbereich konstatierte er 41 % „Hilfsschüler“, und im „4. Jahrgang sind von 23 Kindern 15 Hilfsschüler“. Da jedoch die Einstellung einer „Hilfsschullehrerin finanziell nicht möglich sein“ würde, dürften zunächst keine weiteren „Hilfsschüler“ ins Waisenhaus aufgenommen werden, die wegen der dort möglichen Beschulung in einer „Hilfsschule“ besser ins Johannisstift nach Hildesheim wechseln sollten.181 In der Folge gab es offenbar auf Seiten der Bistumsleitung konkrete Überlegungen, „hilfsschulreife“ Kinder aus dem Waisenhaus Henneckenrode zu verlegen, was jedoch von der Leitung des im Aufbau begriffenen Johannishofs nicht unterstützt wurde. Denn hier befürchtete man, dass durch einen solchen Schritt die privat in Pflege gegebenen Kinder wegbleiben würden und so die Schwestern überfordert wären. Außerdem kamen, wie Nachprüfungen ergeben hätten, von den 28 hilfsschulpflichtigen Kindern in Henneckenrode nur 12 aus dem Waisenhaus, aber 16 aus dem Ort. Auch aus diesem Grund gingen die Bestrebungen dahin, in Henneckenrode eine „katholische Hilfsschulklasse“ einzurichten.182 Zu wirklichen Veränderungen kam es jedoch nicht. 1955 unterrichtete weiterhin eine Lehrerin, die die Ehefrau des Gutsverwalters und zumindest in den Augen der Schwestern überfordert war, in einer Klasse 60 Schüler, unter denen sich 14 Dorfkinder befanden. In einer Auflistung bezeichnete die Lehrerin 31 181

182

Schularzt an das Gesundheitsamt des Landkreises Hildesheim-Marienburg v. 1.2.1952, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 468. Generalvikariatsrat Mansfeld vom Johannishof an Bischof Machens v. 29.5.1952; vgl. auch Regierungspräsidium an BGV nach Besprechung mit Domdechant Stuke und Schulrätin Krebs v. 17.5.1952, in: ebd.

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als „Sitzenbleiber“ – darunter 12 als hilfsschulbedürftig – und 29 als Normalschüler.183 Verschiedene erfolglose Anfragen des Hildesheimer Generalvikariats zwischen 1956 und 1958 u.a. in Bayern und sogar Österreich mit der Bitte um die Vermittlung von Lehrern zeigten die großen Schwierigkeiten, Pädagogen für die Schule in Henneckenrode zu gewinnen. Und auch in den nachfolgenden Jahren änderte sich nur insofern etwas an dieser Konstellation, als Anfang der 1960er Jahre ein engagierter Lehrer an der Henneckenroder Schule unterrichtete, der zur Verbesserung der Lage den direkten Weg über den Bischof suchte, indem er in einem Schreiben zunächst die Situation beschrieb. Demnach müsse hier eine „wirklich fruchtbare Bildungsarbeit, gestützt auf zeitgemäße, pädagogische und didaktische Erkenntnisse […] zwangsläufig an den unzulänglichen Gegebenheiten scheitern“. Mit einzubeziehen sei zudem die besondere Klientel der Schule, die zu einem großen Teil aus „in ihrer Entwicklung gestört[en], seelisch entwurzelt[en] und ihrer gesamten Leistungsfähigkeit, besonders aber in ihren Schulleistungen“ stark vernachlässigten Schülern bestand. Um zielgerichtet pädagogisch wirken zu können, müssten daher die „organisatorischen Voraussetzungen“ verbessert werden, zumal nur ein Lehrer die gesamten acht Jahrgänge unterrichtete. Wenn jedoch, wie auch von den Schwestern ausdrücklich erwünscht, eine moderne Pädagogik Einzug halten würde, könnte die Schule „von dem Übel eines chronischen Lehrermangels befreit“ und zum „Anziehungspunkt junger kath. Lehrer“ werden.184 Zur Untermauerung seines Anliegens erwähnte der Lehrer außerdem, dass vor dem Hintergrund der engen Verbundenheit des Bistums mit der Henneckenroder Schule die bestehenden Verhältnisse nicht dazu beitragen würden, im Vergleich zu den öffentlichen Schulen „das Ansehen privater katholischer Bildung zu heben“ .185 Da sich gerade die Diözese Hildesheim unter Bischof Machens im „Schulkampf “, der zwischen 1945 und 1957 in Niedersachsen erbittert geführt worden war, vehement für die Erhaltung bzw. Neueinrichtung von Bekenntnisschulen eingesetzt hatte, die niedersächsischen Schulgesetze von 1954 jedoch die öffentliche Schule zur Regelschule gemacht hatten, war hier

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185

Auflistung der Lehrerin zur Zusammensetzung der Schule v. 1.7.1955, in: ebd. Lehrer an Bischof Janssen v. 14.6.1961, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 475. Ebd.

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ein sensibler Punkt angesprochen.186 Das Bistum sah sich jedenfalls veranlasst, in den kommenden Jahren bauliche und strukturelle Verbesserungen durchzuführen, sodass Bischof Janssen Ende 1965 die nun in Unter-, Mittel- und Oberstufe gegliederte neue zweizügige, mit modernen Räumlichkeiten ausgestattete Schule in Henneckenrode einweihen konnte. Unter der Leitung eines jungen Pädagogen unterrichteten zwei weitere Fachkräfte für Werken, Hauswirtschaft und Textilarbeit die rund 60 Schüler, von denen etwa 40 aus dem Waisenhaus kamen. Diese „Sozialwaisen“ gaben der Einrichtung zwar einen „Sonderschulcharakter“. Aber trotzdem blieb die Schule für die Kinder des Ortes offen. In einem Zeitungsbericht über die Schule, der offenbar den Stellenwert der „freie[n] katholischen Volksschule Henneckenrode“ hervorheben wollte, wurde zudem gewürdigt, dass die „milieugeschädigten“ Jungen und Mädchen des Kinderheims durch die Unterstützung der Schwestern nach Schulschluss in ihren Leistungen die Dorfkinder überträfen.187 Allerdings fanden mit den deutlich verbesserten Rahmenbedingungen nicht automatisch geeignete Lehrkräfte den Weg nach Henneckenrode. Zumindest der von 1965 bis 1967 als Schulleiter fungierende Pädagoge hatte nicht nur ein angespanntes Verhältnis zu den im Kinderheim tätigen Schwestern, sondern fiel auch durch massive körperliche Züchtigungen der Schüler auf. So stellte die Fürsorgerin der Heimerziehungsberatungsstelle im Frühjahr 1967 fest, dass er „die Kinder nach wie vor erheblich schlägt“. Einem Jungen hatte er dabei eine „dicke Beule“ am Kopf zugefügt, und körperliche Strafen seien „sowieso an der Tagesordnung“. Bei einem 15-jährigen Jungen schlug er sogar „einen Stock kaputt“, einen anderen Jungen trat er, „aber auch die Mädchen werden mit dem Stock geschlagen. Alle Kinder haben irgendwelche Spitznamen wie: Rübe, Mongole usw.“ Obwohl der Lehrer nach einem Beschluss des Trägers die Schule im Sommer 1967 zum Schuljahrsende verlassen sollte, hatten die Schwestern dennoch „Angst, ihm 186

187

Vgl. Kumm, Bistum Hildesheim, S. 260-269. Caritasdirektor Schenk betonte 1965 in einem Gespräch mit Domkapitular Brüggeboes vor dem Hintergrund der weiter oben skizzierten Probleme im Kinderheim, dass die neugebaute Schule nicht wirklich notwendig sei, wenn die „sonstige schulische Versorgung gesichert“ sei, und u. U. auch anders genutzt werden könnte. Aber im Zusammenhang mit den Nachwirkungen des „Schulkampfes“ wäre eine Aufgabe der Schule zum jetzigen Zeitpunkt kaum tragbar. (Vgl. Aktenvermerk von Domkapitular Brüggeboes v. 14.6.1965, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 468). Vgl. Artikel „Katholische Volksschulen. Weltbild aus freier Entscheidung“, in: Echo der Zeit v. 13.3.1966.

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vorher etwas wegen des Schlagens zu sagen; denn sie müssen ganz erhebliche Verleumdungen im Dorf in Kauf nehmen oder sonstige Schikane.“188 Schon auf Grund der abgeschiedenen Lage des Kinderheims Henneckenrode wird die Zahl potentieller Bewerber auf eine Lehrerstelle nicht groß gewesen sein. Aber auch die Heim-Volksschulen im Kinderund Jugenddorf St. Ansgar wie im Bernwardshof, die eine Sonderschule für verhaltsgestörte Schüler besaßen, waren nur unzureichend mit Pädagogen besetzt. Als eine wesentliche Ursache wurde 1970 in einem Bericht über die Heimerziehung in der Diözese Hildesheim vermerkt, dass sich in Niedersachsen Lehrer nur unter großen Schwierigkeiten und nur für zehn Jahre aus dem staatlichen Dienst beurlauben lassen könnten, wenn sie nicht ihren Beamtenstatus verlieren wollten.189 Inwieweit darüber hinaus das abseits gelegene Kinderheim Henneckenrode Lehrer wegen der Möglichkeit anzog, die dortigen Verhältnisse zum Aufbau einer besonderen Machtposition gegenüber den Schülern nutzen zu können, ließ sich nicht nachvollziehen. Anfang 1971 zeigte sich jedoch wie schon zehn Jahre zuvor erneut, dass von Lehrkräften wichtige Initiativen ausgehen konnten. Denn die Henneckenroder Schulleiterin bat die Verantwortlichen des Generalvikariats zu überlegen, ob die Schule nicht in eine Montessori-Modellschule umgewandelt werden sollte. Die Bistumsleitung griff den Vorschlag zeitnah auf, und im März fand ein Gespräch mit dem Schulrat und einem Vertreter der Montessori-Gesellschaft statt. Da in der Schule bereits drei Klassen mit drei Jahrgängen bestanden und der Schwerpunkt auf „milieugeschädigten“ Kindern lag, fiel der Entschluss, eine Montessori-Schule anzustreben.190 Schon Ende 1971 war die neue Ausrichtung der Schule vollzogen, wobei mehrere Schwestern und Lehrkräfte vor dem Abschluss einer berufsbegleitenden Zusatzausbildung für die Montessori-Methode standen.191 Vier Jahre später hieß es in einem Besuchsbericht des LJA Braunschweig, dass den Mädchen und 188 189

190

191

Aktenvermerk v. März 1967, in: BAHI, DiCV Nr. 1788. Bericht für die Mitglieder-Versammlung des Verbandes Katholischer Einrichtungen für Heim- und Heilpädagogik am 3. Dez. 1970 in München ohne Verfasser und Datum, in: BAHI, DiCV Nr. 1836. Lehrerin an BGV v. 15.1.1971 u. Aktenvermerk d. Schulrats Grüters v. 22.3.1971 über Gespräch mit dem BGV und der Montessori-Gesellschaft v. 17./18.3.1971, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 475. Besuchsbericht des LJA Braunschweig v. 10.12.1971, in: BAHI, Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Nr. 391.

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Jungen durch die neue Ausrichtung „wirklich gute Hilfen für ihr späteres Leben gegeben“ werden, und es wünschenswert wäre, wenn sich diese Methode „auch in anderen Einrichtungen mehr durchsetzen würde“.192 Und 1977 kam auch noch ein Sonderschulzweig für Lernbehinderte hinzu, der noch 1970 in keinem der Kinderheime in der Diözese Hildesheim anzutreffen war. Drei Lehrkräfte unterrichteten insgesamt 46 Kinder, von denen 15 die Schule als Externe besuchten.193 Fazit Wenn auch das Waisenhaus/Kinderheim Henneckerode im Vergleich zu den anderen Heimen in der Diözese Hildesheim eine Reihe von Besonderheiten aufwies, lassen sich doch verschiedene Tendenzen und Entwicklungen übertragen. Zunächst lagen viele Ursachen der Rückständigkeit des Hauses an den spezifischen Stiftungsregelungen etwa hinsichtlich der engen Bindung an den Gutshof oder der Verpflichtung zur gemeinsamen Beschulung der Waisenhaus-Kinder mit denen des Ortes in der Heim-Volksschule. Hinzu kam die extrem abgeschiedene Lage der Einrichtung. Dieser spezielle Charakter des Hauses wurde zudem noch durch die des Öfteren hervortretende fehlende Akzeptanz der Armen Schwestern in der Gemeinde betont, der ihren Einfluss offenbar schmälerte. Und auch bei der Bistumsleitung als Träger des Waisenhauses genossen sie keinen uneingeschränkten Rückhalt, da der Apostolats-Schwerpunkt der Ordensgemeinschaft in der Krankenpflege lag. Dies wurde als Ursache für die zu konstatierenden pädagogischen Defizite betrachtet. Dennoch war es zumindest zweimal das Vorhaben der Ordensgemeinschaft, ihre Schwestern aus Henneckenrode abzuziehen, das auf Grund fehlender personeller Alternativen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre für strukturelle, bauliche und die Erziehungsarbeit verbessernde Veränderungen sorgte. Diese betrafen auch die bis Ende der 1960er Jahre ebenfalls durch große Defizite geprägte Heimschule, bei denen auch massive körperliche Züchtigungen eine Rolle spielten. Wenn engagierte Lehrer nach Henneckenrode gefunden hatten und klare Zielvorstellungen gegenüber dem Träger formulierten, konnten auch hier neue Wege beschritten werden.

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Besuchsbericht des LJA Braunschweig v. 24.6.1975, in: ebd. Besuchsbericht v. 29.12.1977, BAHI, DiCV Nr. 1788.

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5.4.2 Die Düsselthaler Anstalten (Rheinland) – Professionalisierung, religiöse Erziehung und Disziplin Die Entstehung der Düsselthaler Anstalten als Anstaltskomplex und der Neuaufbau nach dem Kriegsende Der Düsselthaler Anstaltskomplex stellte in den 1950er Jahren die älteste und größte evangelische Erziehungseinrichtung im Rheinland dar. Sie entstand aus einem 1819 gegründeten Rettungshaus, das Graf von der Recke-Volmarstein zunächst in Overdyck bei Bochum und seit 1822 im ehemaligen Trappistenkloster Düsselthal bei Düsseldorf betrieb.194 An ihren heutigen Standort kam die Einrichtung durch den Neubau verschiedener Erziehungsanstalten, nachdem das preußische Gesetz zur Fürsorgeerziehung 1900 in Kraft trat. In Wittlaer bei Düsseldorf baute man 1902 die landwirtschaftliche Erziehungsanstalt Lindenhof, 1905 die Handwerkerbildungsanstalt Reckestift und 1908 die Kinderanstalt Neu-Düsselthal. Dieser Verbund aus unterschiedlichen Heimen beherbergte 1931 rund 700 Kinder und Jugendliche.195 Bis Ende der 1930er Jahre konzentrierte sich dieser Anstaltskomplex auf den Bereich in Düsseldorf-Kaiserswerth (Wittlaer). Der Umzug der Hauptverwaltung von Düsselthal nach Wittlaer 1938 markierte dabei einen vorläufigen Schlusspunkt der Verlagerung. Das alte Gelände in Düs194

195

Siehe zur Geschichte der Einrichtung: Gerlinde Viertel, Anfänge der Rettungshausbewegung unter Adelbert Graf von der Recke-Volmarstein (1791-1878). Eine Untersuchung zu Erweckungsbewegung und Diakonie, Köln 1993; Erich Rundt, 50 Jahre Dienst an unserer Jugend. Festschrift zur 50 Jahrfeier unseres Reckestiftes, o.  O. [Düsseldorf] 1955; Edith Salzmann, Kinder im Abseits. Graf Recke-Stiftung Düsselthal. Vom Rettungshaus zur stationären Jugendhilfe, Düsseldorf 1985; Cornelia Benninghoven/Eckart Pankoke, Leben lernen. Hundert Jahre Berufsbildungszentrum der Graf-Recke-Stiftung, Düsseldorf 2005. Die Einrichtung besteht heute unter dem Namen Graf Recke Stiftung fort und hat dem Forschenden auf Anfrage freundlicherweise ihr Archiv zugänglich gemacht. Weitere archivische Unterlagen konnten im Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland und der Evangelischen Kirche im Rheinland hierzu benutzt werden. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte er sich aus verschiedenen Heimen zusammen: den „Kinderanstalten“ Altdüsselthal für Kinder von 3 bis 14 Jahren, den Heimen Zoppenbrück und Neudüsselthal für Hilfsschüler, dem Lindenhof für schulentlassene „Burschen“ mit einer angeschlossenen Landwirtschaft und der Handwerkerbildungsanstalt Reckestift. Zudem existierte der Benninghof in Mettmann, der für ein Drittel sogenannte „Psychopathen“ und zwei Drittel normale Jugendliche eingerichtet war. Siehe zur Statistik der Düsselthaler Anstalten das Verzeichnis der deutschen evangelischen Erziehungsheime und Waisenhäuser, hg. von Ina Hundinger für den Centralausschuß für Innere Mission, Berlin 1931, S. 16-17.

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seldorf-Düsselthal wurde angesichts der Krise in der FE, die für die Düsselthaler Anstalten auch eine Finanzkrise bedeutete, in den 1930er Jahren an das Militär für die Errichtung einer Kaserne verkauft. Das Kleinkinderheim in Zoppenbrück übernahm das Jugend- und Wohlfahrtsamt Düsseldorf. Der Benninghof ging 1937 an die Evangelische Bildungsund Pflegeanstalt Hephata über. Das Reckestift wurde im Rahmen der nationalsozialistischen „Entkonfessionalisierung“ des Erziehungswesens Mitte 1938 von Fürsorgezöglingen der Fürsorgeerziehungsbehörde geräumt und führte in der Folge ein Schattendasein mit geworbenen Privatzöglingen. Die Kinder Altdüsselthals wechselten auf Grund von Bombenschäden während der Kriegszeit nach Neudüsselthal. Der Lindenhof und das Reckestift wurden 1944 schließlich ganz an die Wehrmacht verpachtet. Die Belegung in Neudüsselthal vermehrte sich von ca. 250 Anfang der 1930er Jahre über 278 im Jahre 1938 bis 1940 auf 375 Kinder und Jugendliche.196 Die Fürsorgeerziehung während der NS-Zeit blieb in ihrer Grundstruktur – z. B. Geltung des RJWG, konfessionelle Zuordnung, Differenzierung nach Alter und Geschlecht – erhalten, doch wurde der bereits am Ende der Weimarer Jahre einsetzende Aussonderungsdiskurs durch die nationalsozialistische erbbiologische Betrachtung überformt und bis zum Oktober 1939 71 Heimbewohner/innen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sterilisiert.197 Zudem setzte 1938 eine verschärfte „Entkonfessionalisierung“ ein, der verschiedene evangelische und katholische Heime wie z. B. Wolf an der Mosel, Gemünd etc. zum Opfer fielen, indem sie formell von der Provinzialverwaltung übernommen wurden. Auch die konfessionell organisierte Vermittlung der Heimzöglinge in Pflegestellen bei Familien durch die Zentralstelle für Familienerziehung (Leiter war Robert Horning) im evangelischen Bereich wurde 1939 eingestellt und über die Heime organisiert.198 Die Düsselthaler Anstalten blieben auch während der Kriegszeit die größte evangelische Einrichtung für Kinder und Jugendliche, die auch Minderjährige im Rahmen der FE bzw. der seit 1927 in der Rheinprovinz eingerichteten FEH aufnahm. Seit dem Kriegsbeginn dünnte sich die Mitarbeiterschaft der Heime aus. Der Arbeitskräftemangel betraf 196

197 198

Uwe Kaminsky, Sittlichkeitsdenken und Zwangssterilisation. Die Hilfsschulanstalt Neudüsseltal im Nationalsozialismus, in: Welkerling/Wiesemann (Hg.), Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus, S. 177-190, hier 177f. Ebd., bes. S. 188. Vgl. Steinacker, Der Staat als Erzieher, S. 598-610, hier 605.

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besonders die Landwirtschaft und die dem Reckestift angeschlossenen Anstaltsbetriebe. Es kam zum Einsatz von 21 nachweisbaren ausländischen Zwangsarbeitenden im Wittlaerer Anstaltskomplex, darunter auch Frauen mit ihren Kindern. Der seit 1918 in der Einrichtung arbeitende Gartenmeister Wilhelm Uttke (geb. 1889) war seit 1930 Mitglied der NSDAP und nahm seit 1939 die Funktion des Ortsgruppenleiters wie auch des Bürgermeisters von Wittlaer wahr. Die Düsselthaler Anstalten galten bei Kriegsende als „Hochburg des Nationalsozialismus“.199 Die Evakuierungen angesichts des Bombenkrieges brachten am Ende des Krieges viel Unruhe in den Heimkomplex. In den Jahren 1944/45 führte dies zu zahlreichen Ausweichverlegungen. So wurden am 31. Mai 1944 73 Kinder zur Asbacher Hütte, einer Zweigeinrichtung der Diakonieanstalten Bad Kreuznach, verlegt. Für die Heimkinder hatten 98 Behinderte die Deportation in außerrheinische Anstalten, u.a. nach Meseritz-Obrawalde, zu erdulden, wo sie überwiegend Opfer der NS-Euthanasie wurden.200 Im März 1945 wurden weitere rund 180 Kinder zu Heimen im Kreis Herford und im Bezirk Hannover verlegt.201 Einige der Kinder kehrten noch im Mai 1945 zurück. Am 28. August 1945 wurde die Heimschule wieder eröffnet. Angesichts der neuen Zonengrenzen fiel die vom Landesjugendamt ansonsten vorgenommene Überweisung von Kindern in die Hilfsschulanstalt Oberbieber bei Koblenz fort und die Hilfsschulanstalt Neudüsselthal wurde das zentrale Aufnahmeheim für Kinder aus dem Bereich Nordrhein. Von fünf Hilfsschulklassen, einer Förderklasse und einer Normalschulklasse im Jahre 1937 erweiterte sich die Schule auf sieben Hilfsschulklassen und sechs Normalschulklassen im Jahre 1951.202 Die Überweisungszahlen in die Heimfürsorge waren in der direkten Nachkriegszeit besonders hoch, weil die britische Militärverwaltung alle nicht regelkonformen und vagabundierenden Jugendlichen zur Heimerziehung verurteilte.203 Da zudem die Düsselthaler Anstalten auch den Er199

200 201

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203

Uwe Kaminsky, Dienen unter Zwang. Studien zu ausländischen Arbeitskräften in Evangelischer Kirche und Diakonie im Rheinland während des Zweiten Weltkriegs, Bonn 2002, S. 69-75. Vgl. Kaminsky, Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ im Rheinland, S. 490-494. Siehe die Übersicht bei Wilhelm Kinnius, Neu-Düsselthal in der Zeit von 1936 bis 1951. Erinnerungen ernster und froher Art, o. O. [Düsseldorf], o. D. [1951] (Ms.), S. 30. Ebd., S. 39; vgl. auch Hermann Erbstösser, Das Düsselthaler Schulwesen, hg. zur Einweihung des Neubaus der Schule II (Düsselthal) vom Kuratorium der Düsselthaler Anstalten, o. O. [Düsseldorf] 1976. Vgl. allgemein Kenkmann, Wilde Jugend, S. 219; Lützke, Öffentliche Erziehung, S. 47-61.

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satz für das völlig ausgeplünderte Provinzialerziehungsheim Solingen darstellte, waren die Zahlen der zu versorgenden Kinder und Jugendlichen besonders hoch. Es traten Ernährungsschwierigkeiten auf. Eine im Dezember 1945 das Haus visitierende britische Ärztekommission stellte bei vielen Kindern eine starke Unterernährung fest.204 Die im September 1946 angedrohte Räumung und Verlegung der Einrichtung ins Schloss Kalkum, um Platz für die englische Besatzungsverwaltung zu machen, kam nicht zur Ausführung. Von 1949 bis 1952 wurden angesichts der Raumprobleme dennoch 107 „Normalschüler“ – das waren nicht hilfsschulbedürftige Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren – zur Außenstelle Schaumburg in Diez an der Lahn verlegt. Als Ersatz wurde zudem das Kinderheim Neu-Overdyk in Landscheid bei Burscheid als Kinderheim eröffnet.205 Bis 1953 stiegen die Belegungszahlen in Neu-Düsselthal auf gut 500 Kinder und sanken bis 1958 erst wieder langsam auf 370 ab.206 Im Kuratorium hatte nicht nur der Geschäftsführer der rheinischen Inneren Mission, Otto Ohl (1886-1973), einen Sitz, sondern ebenso der Generalsuperintendent der Rheinprovinz, Ernst Stoltenhoff (18791953), als höchster Repräsentant der Evangelischen Kirche für die preußische Provinz Rheinland. Nach 1952 besetzte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland diese Position. Das Landesjugendamt war dieser großen evangelischen Einrichtung durchaus zugetan. Hier traf es sich gut, dass die Leiterin der Abteilung für die Fürsorgeerziehung, Martha Beurmann (1907-1983), während des Krieges zeitweise am Ort der Einrichtung in Wittlaer wohnte.207 Sie war zusammen mit ihrem Vorgesetzten Walther Hecker im September 1945 ihrer Position enthoben und von den Alliierten verhaftet worden und arbeitete nach ihrer Freilassung bei einem Gemeindedienst für Innere Mission.208 204 205

206 207

208

Kinnius, Neu-Düsselthal, S. 38. Im April 1958 wurde dies als Heim der öffentlichen Ersatzerziehung aufgelöst. Vgl. Notizen aus den Bänden 6 bis 9 der Akte III A 15 betr. Neu-Düsselthal und der Akte III A 202 betr.: Neu-Overdyk (Hopmann v. 29.5.1958), in: ALVR 41267, Bl. 39-42. Ebd. So nach Kinnius, Neu-Düsselthal, S. 24. Am Ende des Krieges war ein Teil der Verwaltung des rheinischen Landesjugendamts zudem in einer evangelischen Einrichtung, dem Bergischen Diakonissenmutterhaus in Aprath, untergebracht. Sie übernahm 1947 die Geschäftsführung des AFET und wurde später Referentin im NRW-Sozialministerium, seit 1953 im neugegründeten Landschaftsverband Rheinland. Vgl. zu Beurmann die Angaben bei Steinacker, Der Staat als Erzieher, S. 577579.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Heimdifferenzierung in den 1950er und 1960er Jahren Die Düsselthaler Anstalten machten seit dem Beginn der 1950er Jahre einen paradigmatischen Weg zu einer differenzierteren Fürsorge durch. Dieser für die gesamte Fürsorgeerziehung im Rheinland typische Verlauf einer äußeren Modernisierung und Differenzierung begann nach der Erinnerung der leitenden Beamtin für die öffentliche Erziehung erst 1953, als der Landschaftsverband Rheinland sich wieder als eigenständige Behörde aus dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium löste. Zuvor war in den Jahren des Wiederaufbaus das Feld der Heimfürsorge gerade in finanzieller Hinsicht stiefmütterlich ausgerüstet worden, obwohl die Heime durch die „Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse ausgepowert“ gewesen waren.209 So erhielten z. B. die Häuser Neudüsselthal in den Rechnungsjahren 1952 bis 1957 Mittel in Höhe von 236.670 DM und das Reckestift von 72.399 DM zur Verfügung gestellt. Dafür wurden der „Neubau der heilpädagogischen Sonderabteilung“, die „Förderung der Gruppenarbeit“, der Umbau von Wohngruppen wie auch die „Errichtung eines Wohnheimes für landwirtschaftliche Lehrlinge“ durchgeführt.210 Diese Versuche der Überwindung der Massenunterkünfte und zur Herbeiführung einer jugendgemäßen Ausstattung waren in Neudüsselthal wie anderswo noch recht zaghaft. So gelang es bis 1956 zwar, Waschräume für die einzelnen Gruppen und eine Spülküche einzurichten. Doch der schlechte Anstrich der Räume und die unzureichende Unterteilung der alten Schlafsäle – diese geschah „durchweg provisorisch mit halbhohen Wänden“ – ließ die besichtigende Beamtin ihr Missfallen ausdrücken. Sie beklagte, dass „insbesondere für Schulmädchen eine individuellere Erfassung“ nicht möglich sei, im Gegensatz zu Jungen, für die es im sogenannten „Gartenhaus“ bzw. im heilpädagogischen Heim Spezialeinrichtungen gab.211 So hatte man im Oktober 1955 offiziell das heilpädagogische Heim Heckenwinkel für 20 Jungen in zwei Gruppen zu je 10 eröffnet. Hier sollten „gehemmte, ängstliche, aggressive, bettnässende, sprachgestörte, Kinder“, deren Leiden keine Unterbringung in 209 210

211

Siehe Memorandum Beurmann v. 16.7.1973, in: ALVR 38879. Zusammenstellung über die dem Kinder- und Jugendheim Neu-Düsselthal und dem Handwerkerbildungsheim Reckestift gewährten Investitionsbeihilfen v. 29.5.1958, in: ALVR 41267. Bericht über den Besuch Beurmanns in den Düsselthaler Anstalten v. 13.9.1956, in: ALVR 41266.

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einer Spezialanstalt rechtfertige, untergebracht werden.212 Jede Gruppe war mit einem Gruppenerzieher/in und einer Praktikant/in ausgestattet, was in dieser Zeit ein vergleichsweise gutes Betreuungsverhältnis darstellte. Zudem agierten Psychiater und Psychologen im Umfeld der Gruppen. Die so genannte „Gruppendifferenzierung“ machte in den Düsselthaler Anstalten bis 1958 durchaus Fortschritte213, wie die Aufstellung auf der folgenden Seite über die Anstalt Neudüsselthal (Stand 1. Mai 1958) ausweist214: Neben der Trennung nach Geschlecht und Alter (Schulpflicht) fand eine zunehmende Differenzierung nach Reife, intellektuellen und schließlich auch psychologischen Ursachen für die vermeintlichen Erziehungsschwierigkeiten statt. Die heilpädagogische Abteilung bzw. das heilpädagogische Heim avancierte in den 1950er Jahren zu einem wichtigen Differenzierungsmittel, um eine bis dahin wesentlich auf Gewöhnung und Drill beruhende Anstaltserziehung aufzuweichen. Dieter Schmidt (Jg. 1947), der 1955 nach Neudüsselthal kam – er war zwischenzeitlich wohl auch im Haus Heckenwinkel – erinnert noch die beengten und schlechten materiellen Bedingungen. „Da war ich erst in so einer Knabengruppe, war ich rein. Da war ich bestimmt mit 20, 30 Leuten in einer Bude. Da lagen wir auf Strohsäcken. Aber keiner wurde gequält. Das war auch so, so war das alles in Ordnung da? Also, nicht irgendwie, dass wir Schläge kriegten oder so.“215 In der Leiterin des Heims Heckenwinkel fand er eine Bezugsperson, was ihn heute eine positive Rückerinnerung an die Einrichtung haben lässt. Im August 1958 wurde eine heilpädagogische Gruppe für schulpflichtige Mädchen im Kinder- und Jugendheim Neudüsselthal eingerichtet. Sie galt als Ergänzung zu einer bereits bestehenden Abteilung für „sexuell schwergefährdete schulpflichtige Mädchen“ in der Anstalt Koxhof der Bergischen Diakonie Aprath. Sie war für 6- bis 14-Jährige „mit besonderen Auffälligkeiten, ausgenommen jedoch schwere sexuelle Schädigungen“ vorgesehen. Gedacht war bei der Klientel an „Mäd212

213

214 215

Willi Janzen, Haus Heckenwinkel, in: Evangelische Jugendhilfe 1956, S. 47-48; ders., Gedanken und Erfahrungen über die Arbeit in einem heilpädagogischen Heim, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 41-45. Vgl. auch den Beitrag des Erziehungsheimleiters: Willi Janzen, Bedeutung und Möglichkeiten einer Differenzierung in der Heimerziehung, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 122-131. Neu-Düsselthal an LVR v. 20.6.1958, in: ALVR 41267, Bl. 45. Interview Dieter Schmidt (1.9.2009), Transkript, S. 10.

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K 1 „Sieben Schaben“

K 2 „Wandervögel“

K 3 „Igelnest“ K 4 „Taubenhaus“

K 5 „Sportfreunde“

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Schuljungengruppe (9-14 Jahre) mit stärkeren Erziehungsschwierigkeiten Betreuungsgruppe, besonders schwierige Schuljungen, die im stärkeren Maße einer Einzelbetreuung bedürfen, aber nicht heilpädagogische Fälle sind Aufnahme- u. Beobachtungsgruppe für größere Schuljungen (12-14 Jahre) Aufnahme- und Beobachtungsgruppe für schul- und vorschulpflichtige Jungen (bis 11 Jahre) ältere Schuljungengruppe, vorwiegend Normalschüler der beiden letzen Schuljahre, die keine besonderen Schwierigkeiten bereiten und stärker vom Sportlichen und Musischen geleitet werden

K 6 „Wichtelmänner“

Schuljungen von 6 bis 12 Jahren

K 7 „Schwalbennest“

Jungen mit besonders starken Störungen, die vorwiegend anlagebedingt sind und darum nicht durch eine heilpädagogische Maßnahme, sondern mit langer Dauerbehandlung (Gewöhnung) beseitigt werden können

M 1 „Bienenkorb“

schulentlassene Mädchen im Haushaltungskursus

M 2 „Libellen“ M 3 „Elfenwiese“ M 4 „Zugvögel“

M 5 „Blumenfamilie“

Schulmädchen, vorwiegend der beiden letzten Schuljahre, überwiegend Volksschülerinnen Schulmädchen von 6-12 Jahren, Volks- und Hilfsschülerinnen gemischt Aufnahme- und Beobachtungsgruppe für vorschul- und schulpflichtige Mädchen Schulmädchen, vorwiegend Hilfsschülerinnen (10-14 Jahre), auch Mädchen, die wegen ihrer Schwierigkeiten besonderer Betreuung bedürfen

Lindenhof L1

schulentlassene Jungen (14-15 Jahre), Arbeitsschulungsjahr

L 2 „Tapfere Schneiderlein“

ältere Schuljungen, vorwiegend Normalschüler, bisher als geschlossene Gruppe in Neu-Overdyk

L 3 „Sperlingshöhe“

ältere Schuljungen, Volks- und Hilfsschüler gemischt

L 4 „Max und Moritz“

Kleine Schuljungen bis 12 Jahre, Volks- und Hilfsschüler gemischt, gelegentlich auch Vorschulpflichtige

L 5 „Fohlen“

kleine Schuljungen bis 12 Jahre, Volks- und Hilfsschüler

Gartenhaus G 1 „Bei Mutter Grün“ G 2 „Schau ins Land“

Heckenwinkel H 1 und H 2

Schuljungengruppe bis 12 Jahre, Volks- und Hilfsschüler, die im Allgemeinen einen längeren Heimaufenthalt brauchen und stärker vom Musischen geleitet werden Schuljungen von 10-14 Jahren, Volks- und Hilfsschüler gemischt, stärker vom Gemüt her ansprechbar schulpflichtige Jungen, reine heilpädagogische Abteilung für Jungen, die durch Umwelteinflüsse stärkere psychologische Störungen erfahren haben und einer Spezialbehandlung bedürfen

DÜSSELTHALER ANSTALTEN

249

chen mit starken Hemmungen, die Anzeichen einer neurotischen Störung sein können“, doch auch an Mädchen, die „gemeinschaftsstörende“ Verhaltensweisen zeigten. Hier sollte eine Höchstbelegung von zwölf Mädchen in drei Schlafräumen herrschen, die eine spezielle „heilpädagogische Betreuung“ erhielten. Die Diagnosen stellte eine Psychologin. Die Betreuung der Gruppe geschah durch zwei Erzieherinnen, eine einmal wöchentliche Betreuung jedes einzelnen Kindes durch die Psychologin und durch die vierteljährliche Einschaltung eines Psychiaters.216 Der Leiter der Einrichtung Neu-Düsselthal, der Diplompsychologe Wilhelm Janzen, war ein Verfechter des Prinzips der Heimdifferenzierung. Für ihn gehörte ein Aufnahmeheim, in dem eine intensive Beobachtung des neu aufgenommenen Zöglings durch ein Team von Gruppenerziehern, Lehrern, Psychiater und Psychologe stattfinden sollte, genauso dazu wie die spätere Zuordnung zu einer Gruppe nach den Kriterien Alter, Geschlecht und Erziehungsschwierigkeit. Hier sah er neben den bereits erwähnten heilpädagogischen Heimen die Notwendigkeit der Schaffung von Heimen für Minderjährige „mit charakterlichen Mängeln“. Zum Anschluss nach der Schulentlassung schlug er offene Lehrlingsheime vor.217 Dabei argumentierte er gegen so genannte „Familiengruppen“ in den Heimen218 und wollte vielmehr eine möglichst schnelle Entlassung der Kinder in eine Pflegestelle. Die Pflegefamilien sollten in engem Kontakt mit dem Heim arbeiten. Die Düsselthaler Anstalten hatten in den 1950er Jahren einen größeren Bereich der „Außenfürsorge“, in dem die Pflegefamilien instruiert und beraten wurden.219 In den „Richtlinien für unsere örtlichen Betreuer“ aus der Mitte der 1950er Jahre findet sich die ausdrückliche Betonung, dass die Kinder in Pflegestellen „nicht als Arbeitskraft angesehen werden“ sollen. So hatte z. B. keine Beschäftigung vor der Schule zu erfolgen, nach Schulschluss sollten sofort anschließend Schularbeiten gemacht werden und neben der Anleitung zur Arbeit auch Zeit 216

217 218

219

LJA an Ev. Heime Oberbieber, Wolf, Aprath, Neukirchen, Rönsahl, Hückeswagen v. 11.8.1958, in: ALVR 41267, Bl. 100. Willi Janzen, Bedeutung und Möglichkeiten, S. 122-131. Er hatte dieses Konzept bei einer Arbeitstagung im von Andreas Mehringer geleiteten Münchener Waisenhaus kennen gelernt, doch meinte er, dass die dafür geeigneten Kinder besser in einer Pflegefamilie aufgehoben seien (ebd., S. 122). In der Außenfürsorge befanden sich 1953: 351, 1956: 230 u. 1958: 149 Jugendliche (Notizen aus den Bänden 6 bis 9 der Akte III A 15 betr. Neu-Düsselthal und der Akte III A 202 betr.: Neu-Overdyk (Hopmann v. 29.5.1958), in: ALVR 41267, Bl. 39-42). Willi Janzen, Pflegeelternabende, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 66-67.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

zum Spielen gegeben werden. Denn: „Wir machen immer wieder die Beobachtung, daß unsere Kinder übermäßig zur Arbeit herangezogen werden.“ Zudem wurde erwähnt, dass bei Heimrücknahmen immer wieder festgestellt werden musste, dass „die Kleidung der Kinder unzureichend war“. Offenbar war die Lage der Pflegekinder noch weitaus prekärer als diejenige der Kinder und Jugendlichen in Dienst- oder Lehrstellen. Hier wurde auch darauf verwiesen, dass man kein Arbeitsamt sei und die Vermittlung aus erzieherischen Gründen erfolge. Ein gutes Vorbild zu geben, sei wichtig für die „Freude an der Arbeit“. Die Freizeit der Jugendlichen solle kontrolliert werden. Jedem Jugendlichen stehe pro Tag eine Freistunde, ein Nachmittag in der Woche und alle 14 Tage ein freier Sonntag zu. Der Lohn habe dem ortsüblichen Tarif zu entsprechen.220 In einer Versammlung Ende 1954 unterstrich der Heimleiter der Anstalt Neudüsselthal, Janzen, gegenüber den versammelten Pflegeeltern: „Unsere Kinder sollen genau so gehalten werden wie ihre eigenen und wie die Kinder im Dorf.“ Auf die Kleidung sei zu achten, die Pflegekinder sollten alle Schulbücher erhalten und alle Schulausflüge mitmachen können. Sonst drohe ihnen, dass sie „durch solche Kleinigkeiten zu Menschen 2. Klasse abgestempelt werden“.221 Die Betonung dieser Grundsätze verweist darauf, dass die hier eingeforderten Verhaltensweisen keineswegs als selbstverständlich und gegeben erachtet worden sind. Anfang der 1960er Jahre setzte eine neue Diskussion über eine verbesserte Heimdifferenzierung nach Erziehungsschwierigkeit ein – u.a. sollte eine Gruppe für „ältere Schuljungen“ mit sexueller Gefährdung geschaffen werden. Dies würde dann eine „Reduzierung der Gesamtbelegfähigkeit“ nach sich ziehen, was aber zu Lasten der Einweisungen anderer Stellen und nicht des rheinischen Landesjugendamtes gehen sollte.222 Das Landesjugendamt suchte insbesondere zu Beginn der 1960er Jahre nach Plätzen für lernbehinderte Kinder, welche die 1957 erweiterte Schule in den Düsselthaler Anstalten besuchen sollten. Die Einrichtung hatte dagegen Angst, dass ein steigender Anteil lernbehinderter Kinder die Lernsituation in der Schule so erschweren würde, dass ein geregelter Unterricht nicht mehr möglich sei. Insofern drängte 220 221

222

Richtlinien für unsere örtlichen Betreuer (ca. 1954), in: ALVR 41265. Bericht von Neu-Düsselthal über den 1. Pflegeelternabend in Hunzeln, Krs. St. Goarshausen am 26.11.1954, in: ALVR 41267, Bl. 272-273. Reisebericht über den Besuch des Ev. Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal v. 11.1.1961, in: ALVR 41267.

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die Einrichtung auf eine Beschränkung des Anteils der Hilfsschüler auf maximal 50 %.223 Zudem sollte noch eine besondere Gruppe als Förderklasse ausgegliedert werden. Das Landesjugendamt nahm im Verlauf der 1960er Jahre immer mehr wahr, dass die eigenen Pläne auf einen Umbau der Gruppen und des Heims nicht mit den Plänen des Heimträgers identisch waren. Es fürchtete auch bei der notwendigen Renovierung des 1908 erbauten Gebäudes um die zur Verfügung stehenden Plätze.224 In einem Situationsbericht vom Frühjahr 1967 stellte der Heimleiter von Neu-Düsselthal fest, dass die Tendenz des Landesjugendamtes, Hilfsschulkinder oder schwierigste Volksschüler einzuweisen, in den vergangenen Jahren gestiegen sei. Die Gründe dafür sah er erstens darin, dass vorbeugende Maßnahmen die Einweisung leichterer Fälle erübrigen und zweitens, dass Heimplatzerweiterungen anderer evangelischer Träger im Rheinland auf Volksschüler und tragbare Hilfsschüler zielen würden. „Die Artung der eingewiesenen und betreuten Kinder hat eine Ausweitung der zunächst auf den Heckenwinkel beschränkten heilpädagogischen Arbeit auf das ganze Heim erforderlich gemacht.“225 Die hier eingeklagte Ausweitung der Einstufung der versorgten Klientel stellte nach der Meinung des Landesjugendamtes, den Versuch dar, von der Aufnahme „verwahrloster und gefährdeter Minderjähriger“ ausgeschlossen zu werden.226 Im Hintergrund standen massive Probleme mit einer veränderten Klientel von Minderjährigen, die sich nicht mehr nur disziplinieren lassen wollte, sondern mehr Freiheiten einklagte. So plante die Einrichtung für den nächsten Bauabschnitt 1969 die Anlage der ersten 223

224

225

226

Reisebericht über den Besuch des Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal am 14.1.1965 v.15.2.1965, in: ALVR 41272. Dies war bereits ein Kompromiss, denn die Einrichtung hatte den Anteil noch 1963 auf 60 % Volksschüler zu 40 % Hilfsschüler festsetzen wollen (Reisebericht über den Besuch bei Direktor Pastor Schüler am 16.8.1963, in: ebd.). Siehe zudem den Bericht der Rektorin Tuchborn über die Schule abgedruckt in: Erbstösser, Das Düsselthaler Schulwesen, S. 71-75. Vermerk über Besprechung am 8.11.1965 im Landeshaus Köln über Angelegenheiten der Erziehungsheime Reckestift u. Neudüsseltal v. 23.11.1965 u. Vermerk betr. Aufgabenstellung, Aufbau und Ausbau der Düsselthaler Anstalten v. 28.2.1966, in: ALVR 41272. Situationsbericht für das Kinder- und Jugendheim Neu-Düsselthal zum 30.4.1967 (Heimleiter Schmidt), in: ALVR 41269. Kurzniederschrift über die Besprechung mit Vertretern der Düsselthaler Anstalten wegen Fragen betr. die Heime Neu-Düsselthal und Reckestift am 12.2.1968 (13.2.1968), in: ALVR 41279.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

„geschlossenen“ Gruppe für schulaltrige Jungen mit Verweis auf Probleme, „die sich aus der Verlängerung der Schulpflicht und der vielfach notwendigen Genehmigung eines weiteren freiwilligen Schuljahres ergeben“. Zudem sollte fortan in drei Isolierzimmern der Hausarrest für Schulpflichtige vollstreckt werden können. Bereits Anfang 1968 war es zur strafweisen Isolierung eines „sehr erziehungsschwierigen“ Schuljungen unter Zuhilfenahme eines Isolierraumes im Reckestift gekommen, die vom Heimleiter auch für 13-jährige als angemessen erachtet wurde.227 Dies alarmierte das Landesjugendamt. Denn die Frage der Isolierung Schulaltriger war angesichts mehrerer Selbstmorde, die im Gebiet des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe während Isolierungen erfolgt waren, auch beim nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministerium in intensiver Diskussion.228 Die Frage einer geschlossenen Gruppe wurde mit der Einrichtungsleitung intensiv diskutiert. Anstaltsleiter Pastor Schüler meinte, wegen „‚krimineller‘ Veranlagungen, der Neigung zum Alkohol und wegen Dauerentweichungen verschiedener schulpflichtiger Minderjähriger“ nicht auf eine geschlossene Gruppe verzichten zu können. Die in diesem Bauabschnitt zunächst realisierte Lösung einer „4 m hohen Mauer, die den Platz umschließen soll, um Entweichungen vorzubeugen“, wurde von Vertretern des Landesjugendamtes als „unbefriedigend“ bezeichnet. Nur eine niedrigere Mauer von rund 2,5 m, wie sie auch in den Landesjugendheimen Fichtenhain und Abtshof existierte, wurde toleriert.229 Die Baugeschichte der Einrichtung verweist zugleich auf eine Diziplinierungsgeschichte, die sich vor allem gegen ältere Minderjährige richtete. Insbesondere die seit der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1962 obligatorisch in FE oder FEH mit Heimplätzen zu versorgenden schulentlassenen Minderjährigen ab dem 18. Lebensjahr stellten eine Problemgruppe dar, deren Bändigung in einem Heim immer stärker mit den auf Freiheit und Individualität zielenden Normen in der Gesellschaft in Konflikt geriet.

227 228

229

Ebd. Vermerk über die Besprechung am ASM am 23.6.1969 (Beurmann, 24.6.1969), in: ebd. Vermerk über Besprechung am 12.5.1969 (Limbach, 13.5.1969), in: ebd. Siehe auch die wiedergegebene Erinnerung des damaligen Betriebsleiters Manfred Denis, in: Benninghoven/Pankoke, Leben lernen, S. 37f.

DÜSSELTHALER ANSTALTEN

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Die traditionelle Einrichtung für eine Versorgung und Berufsbildung der Schulentlassenen im Bereich der Düsselthaler Anstalten war die Handwerkerbildungsanstalt Reckestift. Hier arbeiteten 1955 84 Jugendliche in den eigenen Betrieben wie Schlosserei, Bäckerei etc., weitere 60 machten eine Ausbildung in Fremdbetrieben. Die anderen, nicht in einem Lehrverhältnis stehenden Jungen arbeiteten zumindest mit und wurden angelernt.230 Das 1905 erstellte Gebäude sollte bei einem Mitte der 1960er Jahre angestrebten Umbau nach Zielstellung des Landesjugendamtes mehr „schwierigere Minderjährige als bisher aufnehmen“. Doch bei einer Besichtigung 1965 erklärte Heimleiter Schneider, dass jetzt bereits 45 „stark minderbegabte“ Minderjährige da seien, es jedoch nur 20 Arbeitsplätze für diese gebe. Letztlich einigte man sich auf einen Anteil von 20 % der Plätze, also 24 bei 120 Minderbegabten. Es sollte eventuell ein Fertigungsbetrieb für die hier angestrebten Arbeitsplätze errichtet werden.231 Das Personal im Reckestift wechselte in diesen Jahren, doch die Neubaupläne hingen in der Luft und wurden zunächst nicht realisiert. Ähnlich war dies bei der Renovierung bzw. Ersetzung des Lindenhofes, für den seit 1961 ein Ersatzbau vorgesehen war. Doch noch 1966 hieß es, dass der Lindenhof solange belegt bleiben sollte, bis die letzten vier Gruppen abgebaut worden seien. 1969 stellte eine Beschwerde in einem Vermerk des Landesjugendamtes fest: „Die Unterbringung dort ist menschenunwürdig.“232 Bei einer Heimbesichtigung des Reckestiftes Ende 1966 kamen nicht nur bauliche Mängel, sondern auch Hygienebedenken des Gesundheitsamtes zur Sprache. Die sich verzögernde bauliche Modernisierung der Einrichtung hatte etwas mit der mangelnden Refinanzierung des Bauprogramms durch öffentliche Mittel zu tun. Die Einrichtung reagierte auf die Ankündigung des Landesjugendamtes im Februar 1967, dass keine Mittel für Umbau und Renovierung des Heimes Neu-Düsselthal erreichbar seien, mit der Ankündigung, ab September des Jahres die Platzzahl von 275 auf 200 zu reduzieren, statt wie geplant auf 300 auszuweiten. Erst als daraufhin das Landesjugendamt im Sommer 2,3 Mio. DM aus dem Arbeits- und Sozialministerium ankündigte und zudem noch einen Kredit von 840.000 DM in Aussicht stellte, wurde dies wieder rückgängig 230 231

232

Vgl. Benninghoven/Pankoke, Leben lernen, S. 31f.; Rundt, Festschrift 50 Jahre, S. 21. Vermerk über Besprechung am 8.11.1965 im Landeshaus Köln über Angelegenheiten der Erziehungsheime Reckestift u. Neudüsseltal v. 23.11.1965, in: ALVR 41272. Vermerk an Dr. Jans v. 28.11.1969 und Vermerk Neu-Düsselthal v. 2.12.1969, in: ALVR 41280.

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gemacht.233 Im Jahre 1968 begann man schließlich mit den Neubauten, welche eine offenbar unhaltbare Situation verbessern sollten. Im Mai 1969 bilanzierte der Heimleiter Neu-Düsselthals, dass 18 Gruppen in „zeitgemäßen Räumen“ und nur noch drei Gruppen mit „unzureichenden Unterkünften“ beständen. Ab 1967 sollte das Reckestift zudem fünf ausgelagerte Klassen der öffentlichen Berufsschule Ratingen erhalten.234 Das Personal und seine Ausbildung Der vom Kuratorium bestimmte theologische Anstaltsleiter war in den Düsselthaler Anstalten immer der Gesamtleiter, unter dessen Ägide die jeweiligen Heimleiter agierten. Nach dem Ausscheiden der prägenden Gestalt der Anstaltsgeschichte während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, Pastor Emil Gottfried Schlegtendahl (1866-1941), im Herbst 1933 – er war seit 1913 in dieser Funktion –, übernahm zunächst der Leiter der Zentralstelle für evangelische Familienerziehung in Oberbieber, Pfarrer Robert Horning (1880-1949), die Leitung. Aus der zunächst kommissarischen Anstaltsleitung wurde 1939 eine endgültige Leitung, die Horning bis zu seinem Tod 1949 wahrnahm. Ihm folgte im Februar 1950 Pastor Martin Vömel, der wiederum 1961 durch Pastor Friedrich Karl Schüler (bis 1981) abgelöst wurde.235 Als Leiter des größten Heims im Anstaltskosmos, der Hilfsschulanstalt Neudüsselthal, agierte seit 1934 Pastor Prüßmann. Seit 1936 wurde er von dem neuen Hausvater, Wilhelm Kinnius (geb. 1903), abgelöst. Kinnius kam aus dem Stephansstift in Hannover, wo er eine Ausbildung als Volkspfleger absol233

234

235

Siehe Düsselthaler Anstalten (Ohl) an LVR (Jans) v. 13.6.1967; LVR an Düsselthaler Anstalten v. 5.7.1967 u. Düsselthaler Anstalten an LVR v. 13.7.1967, in: ALVR 41269. Die Platzzahl sollte bei 275 gehalten werden. Niederschrift über den Heimaufsichtsbesuch in Reckestift und Neu-Düsselthal v. 16.12.1966, in: in: ALVR 41272. Martin Vömel (1912-1996) hatte in Rostock, Basel, Tübingen und Gießen Theologie studiert, in Frankfurt/Main das Predigerseminar der Bekennenden Kirche besucht und seine erste Stelle im Hilfsdienst versehen. Nach seinem Militärdienst 1940-1945 hatte er von 1945-1950 seine erste Pfarrstelle in Hirzenhain bei Herborn. Von 19501960 war er Leiter der Düsselthaler Anstalten und seit 1960 bis zu seiner Emeritierung 1978 Pfarrer an der Lukasgemeinde in Frankfurt-Sachsenhausen (Angaben nach AEKR, PA 51 V 062). Friedrich Karl Schüler (1920-2000) nahm nach seinem Abitur von 1940-1945 am Zweiten Weltkrieg teil, kehrte 1946 aus der Gefangenschaft zurück und studierte Theologie in Bonn. Von 1953-1961 versah er eine Pfarrstelle in der Gemeinde Elversberg und wurde von 1961 bis zu seiner Emeritierung 1981 Leiter der Düsselthaler Anstalten (Angaben nach AEKR, PA 51 S 441). Vgl. Salzmann, Kinder im Abseits, S. 63-89.

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viert hatte.236 Bereits nach dem Amtsantritt von Kinnius, der sich selbst als vom Stephansstift Hannover „abgeordnet“ bezeichnete, kamen drei weitere Erzieher zu den Düsselthaler Anstalten, die sowohl eine Diakonen- wie auch eine Volkspflegerausbildung an der Diakonenanstalt und Wohlfahrtspflegerschule des Stephansstiftes absolviert hatten.237 Das Stephansstift, seit 1923 geleitet von Pastor D. Johannes Wolff (18841977), war in den 1930er Jahren mit über 400 eingesegneten Diakonen die zweitgrößte Diakonenanstalt in Deutschland. Wolff, seit 1924 Vorsitzender des AFET, förderte die Professionalisierung der Diakone, in dem er seit 1927 dem Stephansstift eine Wohlfahrtspflegerschule angliederte.238 Kinnius blieb bis zum Oktober 1952 in der Funktion des Heimleiters von Neudüsselthal.239 Ihm folgte der promovierte Psychologe Wilhelm Janzen (bis 1961)240, der im Zweiten Weltkrieg als stellvertretender Leitender Heerespsychologe unter anderem mit der Aufgabe der Beurteilung von schwer lenkbaren und straffällig gewordenen Soldaten beauftragt war. Janzen, der selbst Sohn eines Diakons der Nazareth-Bruderschaft in Bethel war, hatte von 1946 bis 1952 als erster Psychologe überhaupt in Bethel gearbeitet.241 Er war auch in den Düsselthaler Anstalten der erste Psychologe in dieser heimleitenden Funktion und repräsentierte insofern zumindest in der Leitungsebene die wachsende Professionalisierung des Erziehungsbereichs. Er schrieb verschiedene Beiträge über die Heimerziehung, die auch in der seit 1950 wieder erscheinenden Zeitschrift des EREV „Evangelische Jugendhilfe“ abgedruckt wurden. So machte er sich Gedanken über die Einrichtung von Jugendwohnheimen, über die Differenzierung der Zöglinge, über das Verhältnis der Heimkinder zu den Eltern und über die soziale Einbindung von Für236

237 238 239 240

241

Zu Kinnius siehe seine Entnazifizierungsakte in: HStAD, NW 1003-00750; ferner Notizen aus den Bänden 6 bis 9 der Akte III A 15 betr. Neu-Düsselthal und der Akte III A 202 betr.: Neu-Overdyk (Hopmann, 29.5.1958), in: ALVR 41267, Bl. 39-42. Kinnius, Neu-Düsselthal, S. 2. Vgl. ausführlich Häusler, Dienst an Kirche und Volk, S. 144-171, hier 165. Vgl. Kinnius, Neu-Düsselthal. Das Ausscheiden von Janzen aus seiner Position hatte damit zu tun, dass er kein gutes inneres Verhältnis zum neuen theologischen Anstaltsleiter Karl-Wilhelm Schüler hatte aufbauen können und sich zudem im Konflikt mit dem Wirtschaftsleiter der Einrichtung befand (so nach Schreiben Ohl an Janssen v. 3.1.1962, in: ADWRh, Ohl 10.2.2.9). Für die Übermittlung dieser biographischen Angaben danke ich Diakon Rainer Nußbicker (Stand 13.11.2006).

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sorgezöglingen vor ihrer Einweisung in diese Maßnahme.242 Er veranstaltete Abende für die Pflegeeltern und richtete 1955 die erste Kirmes auf dem Gelände der Düsselthaler Anstalten aus.243 Bei dieser Veranstaltung löste er nach eigener Aussage den gruppenmäßigen Zwang, der solchen Heimfesten in der Vergangenheit immer angehaftet hatte, zu Gunsten einer vermehrten Individualisierung auf. So wurden Buden aufgebaut und Kirmesmusik ertönte. Für die Essbuden erhielten die Kinder Bons und ansonsten ein „Kindergeld“ von 25 Pfennig. Alles kostete 5 Pfennig und für die Kinder stellte sich offenbar zum ersten Mal die Frage nach einer Entscheidung über das zugeteilte Geld.244 Janzen machte sich zudem Gedanken über die Wahl der geeigneten Mittel, um „Fehlentwicklungen“, wie er in Vermeidung des Verwahrungsbegriffs schrieb, zu überwinden.245 So betonte er die Wichtigkeit der Aufnahmeprozedur in ein Heim, um den Eindruck des Unerwünschtseins beim Kind nicht aufkommen zu lassen und illustrierte dies auch ganz offen am Beispiel der missglückten Aufnahme eines Jungen in der eigenen Einrichtung. Er sprach sich gegen Strafen auch in Form des Entzugs von Vergünstigungen aus, die nur äußerliche Anpassung bewirken würden. Er betonte die Ausrichtung an der Gruppenpädagogik für die Schaffung einer „freiheitlichen Erziehung“, die von Psychiatern und Psychologen zu beraten sei. In der Praxis setzten jedoch nach seiner Erfahrung auch der Fachkräftemangel und die

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Willi Janzen, Bauen wir richtig? Gedanken über die Einrichtung unserer Jugendwohnheime, in: Evangelische Jugendhilfe, April 1952, H. 4, S. 22-24; ders., Zuviel Freiheit?, in: Evangelische Jugendhilfe, Mai 1952, H. 5, S. 13-16; ders., Bedeutung und Möglichkeiten einer Differenzierung in der Heimerziehung, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 122-131; ders., Heim und Elternhaus, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 168-173; ders., Einige Bemerkungen über die Vereinszugehörigkeit von „FE“-Jungen vor ihrer Einweisung in die Fürsorgeerziehung, in: Evangelische Jugendhilfe, November 1952, H. 6, S. 50-55. Bericht von Neu-Düsselthal über den 1. Pflegeelternabend in Hunzeln, Krs. St. Goarshausen am 26.11.1954 (Janzen), in: ALVR 41265. Willi Janzen, Pflegeelternabende, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 66-67; ders., Kirmes in Neu-Düsselthal, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 136-138. “Dieses einmal ganz frei sein, dieses einmal tun und lassen dürfen, was man möchte, dieses auch frei entscheiden müssen, sollte das Neue bei der erstmalig bei uns stattfindenden Kirmes sein.“ (Neu-Düsseltal an Beurmann v. 19.7.1955, in: ALVR 41265). Willi Janzen, Versuch einer Abgrenzung der Erziehungsmaßregeln von den Zuchtmitteln und der Jugendstrafe, in: Evangelische Jugendhilfe 1956, S. 31-38.

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Zeitnot oftmals Grenzen für eine intensive gruppenpädagogische Einwirkung.246 Unterhalb dieser beispielhaft vorgestellten Leitungspositionen arbeiteten allerdings Erzieher und Erzieherinnen, die eine keineswegs einheitliche Ausbildung oder gar pädagogische Qualifikation besaßen. Die seit den 1930er Jahren in Neudüsselthal gehaltenen „pädagogisch-psychologischen Besprechungen“, an denen seit dem Ende der 1930er Jahre auch die weiblichen Erziehungskräfte teilnehmen durften, stellten hier nur den Versuch der Kompensation eines Ausbildungsmangels dar.247 Einerseits drängte das Landesjugendamt seit den 1920er Jahren auf eine wachsende Fachausbildung der in den Erziehungsheimen Tätigen. So wurde z. B. angesichts der Betonung der gesundheitlichen Betreuung der Zöglinge eine voll ausgebildete Krankenschwester eingestellt.248 Doch andere Mitarbeiter waren seit der 1908 erfolgten Eröffnung des Hauses Neudüsselthal im Haus und gingen erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ruhestand. Der Mangel an Menschen, die bereit waren, die Erziehungsarbeit zu leisten, beherrschte die Nachkriegszeit. Die Neigung, unausgebildete oder auch ungeeignete Erzieherpersonen zu nehmen, war groß. Dies wurde nicht zuletzt in Fällen von Missbrauch und Züchtigungen deutlich, die, sofern sie dem aufsichtführenden Landesjugendamt zur Kenntnis kamen, untersucht wurden. Einige Beispiele mögen dies belegen. Bereits in der Zwischenkriegszeit waren die Düsselthaler Anstalten als Einrichtung mit einer problematischen Tradition von Bestrafung und Züchtigung aufgefallen.249 Auch in den 1950er Jahren, seit die Aufzeichnungen in den Akten des Landesjugendamtes über die konfessionellen Belegheime wieder dichter werden, finden sich zahlreiche Aufzeichnungen über Bestrafungen, die deswegen aktenkundig wurden, weil sich Eltern oder Kinder beschwert haben oder die verhängten und im Strafbuch eingetragenen Strafen den behördlich zugebilligten Strafrahmen überschritten. Nachfolgend stehen nicht in erster Linie die Strafen wie Schläge oder Isolie246

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Alle Zitate nach: Willi Janzen, Gedanken zur modernen Heimerziehung, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 123-131; ders., Freiheitliche Erziehung. Gedanken zur Heimerziehung, in: Evangelische Jugendhilfe 1958, S. 117-120. Kinnius, Neu-Düsselthal, S. 11. Ebd., S. 4. Kaminsky, Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ im Rheinland, S. 76-81; vgl. auch ausführlich zur finanziellen Seite: Peter Hammerschmidt, Finanzierung und Management von Wohlfahrtsanstalten 1920 bis 1936, Stuttgart 2003, bes. S. 100-106, 155-167, 231-239, 298-310.

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rung in ihrer entwürdigenden Wirkung auf die Heimkinder im Fokus. Vielmehr sollen diese als Indikator für eine auch von Erzieherseite erlebte pädagogische Hilflosigkeit dienen, die durch verschiedene Faktoren der Anstaltsorganisation noch verstärkt worden sind. Im Jahr 1955 beklagte sich der Vater eines Heimkindes über die Ohrfeige eines Erziehungspraktikanten – der Junge hatte aus dem Ohr geblutet – und bezeichnete den Heimleiter als „Kommandant des Kinderkonzentrationslagers“. Das Landesjugendamt rechtfertigte gegenüber dem Vater die Ohrfeige mit dem Grund des „ungehörigen Verhaltens“ und verbat sich diesen Ton, wenn es auch dem Heim die Frage stellte, ob der Erziehungspraktikant für die Erziehertätigkeit geeignet sei.250 Als sich 1956 ein Vater über die Misshandlung seines Sohnes durch drei Erzieher der Einrichtung Neudüsselthal beim Landesjugendamt beschwerte, ließ sich die Leiterin des Referats für die öffentliche Erziehung Angaben zu den Ausbildungen der Erzieher machen. Der Hintergrund für dieses Ansinnen bestand u.a. in verschiedenen Skandalen in Kinder- und Jugendheimen in der Bundesrepublik, die um die Jahreswende 1955/56 öffentliche Forderungen nach einer Verschärfung der behördlichen Heimaufsicht nach sich gezogen hatten. Der nordrheinwestfälische Sozialminister hatte daraufhin in Erlassen vom Februar und März 1956 eine regelmäßige Übersicht über die Gegebenheiten der Heimerziehung und die Anstaltsaufsicht angemahnt, welche vom Landesjugendamt dann den Heimen auferlegt wurde.251 Dabei ging es explizit um die Vorlage eines lückenlosen Lebenslaufes und die Frage der Eignung für den erziehenden Beruf. Der verantwortliche Gruppenerzieher der Knabengruppe war ein Spätheimkehrer mit Abitur. Er war erst ein Jahr zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Ursprünglich hatte er Lehrer werden wollen, war aber kriegsbedingt ohne Berufsausbildung geblieben. Über das evangelische Haus Villigst war er an das Erziehungsheim als „offener, gerader Mensch“ vermittelt worden. Der Leiter einer anderen Knabengruppe, der ebenfalls seit knapp einem Jahr im Heim arbeitete, hatte zumindest an einem der nach 1946 vom Landesjugendamt eingerichteten Lehrgänge zum Heimerzieher und Heimleiter teilgenommen. Er war zuvor in einem Jugendheim in Bochum als zweite 250

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Vermerk betr. Zögling M. (Jg. 1942) v. 1.4.1955 und LJA an Vater Fritz M. v. 1.4.1955, in: ALVR 41265, Bl. 279 u. 281. Vgl. Direktor des LVR an zur Durchführung der öffentlichen Ersatzerziehung belegte Heime v. 17.5.1956, in: ADW, EEV 259.

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Kraft eingesetzt gewesen. Bei dem dritten Erzieher handelte es sich um einen Schüler der Wohlfahrtsschule Dortmund, der in Neudüsselthal ein dreimonatiges Praktikum absolvierte. Die Erzieher gaben zu, Ohrfeigen verabreicht bzw. den Jugendlichen „übers Knie“ gelegt zu haben. Zudem hatten sie keine Einträge im Strafbuch bzw. auch keine Mitteilung an die Heimleitung über die Misshandlungen gemacht. Angesichts dieser Verstöße gegen die Bestimmungen über die körperliche Züchtigung ermahnte das Landesjugendamt die Betreffenden eindringlich mit dem Bemerken, dass auch eine eventuelle Ermächtigung der Eltern hier nicht gültig wäre.252 Im Jahre 1959 fielen sechs Ohrfeigen, die an einen Zögling verabreicht worden waren, aus dem Rahmen. „Ich halte diese Maßnahme in keinem Falle für angemessen und berechtigt“, schrieb das Landesjugendamt. Es sei nicht eine „im Einzelfall ausnahmsweise erzieherisch angemessene körperliche Strafe“.253 Weitere Misshandlungsfälle, die in einem Fall sogar zu einem Strafprozess in Düsseldorf führten, machten auch Anfang der 1960er Jahre wiederholt auf die Einrichtung aufmerksam.254 Das in der Einrichtung aufbewahrte „Strafregister 1912–1966“ weist für den gesamten Zeitraum bis zum 31. März 1966 insgesamt 1.280 Einträge auf, in denen sich Schläge, Isolierungen etc., die nach den staatlich vorgegebenen Strafvorschriften einzutragen waren, befinden. Demnach fand ein sichtbarer Anstieg der eingetragenen Strafen zwischen 1959 (14) und 1960 (29) statt, der sich 1961 noch einmal vermehrte (51) und 1963 seinen Höhepunkt mit dann 112 Einträgen erreichte.255 Doch es gibt durchaus Hinweise, dass auch zu diesem Zeitpunkt nicht alle Strafen eingetragen wurden. Anlässlich der Misshandlung eines Kindes durch einen Praktikanten, der von der Einrichtung aus dem Dienst entfernt worden war, wurde die Führung des Strafbuches Thema bei einem Heimaufsichtsbesuch im August 1963: „Ich habe mir sodann das Strafbuch für Neu-Düsselthal im Original vorlegen lassen. Es enthielt so wenige Eintragungen, daß ich Zweifel an der Vollständigkeit der Buchführung geäußert habe. Man konnte mir dies nicht widerlegen, da zugegeben wurde, daß die Bestrafungen 252

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Reisebericht über Besichtigung von Neu-Düsselthal am 9.10.1956 (Beurmann, 10.10.1956), in: ALVR 41265, Bl. 364-366. LJA an Neu-Düsselthal v. 4.5.1959, in: ALVR 41267. Henkelmann/Kaminsky, Konfessionelle Wohlfahrtspflege und moderner Wohlfahrtsstaat, S. 253-281, bes. 261 f. „Strafregister 1912-1966“, in: AGRS, 183/3.2.4.1.

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nicht sofort nach der Meldung eingetragen werden. Die Meldungen werden schriftlich zu dem Strafbuch genommen und dann von Zeit zu Zeit nachgetragen.“256 Da zudem in diesem Fall eines „außergewöhnlichen Schlagens“ auch eine Erzieherin, die den Vorfall beobachtet hatte, als Zeugin zur Meldung verpflichtet gewesen wäre, sollte dieser laxe Umgang mit den Strafbestimmungen auch Thema auf der nächsten Erzieherkonferenz werden. Zwei Erzieher wurden von der besichtigenden Landesrätin in ihrer Kompetenz angezweifelt. Bei einer erneuten Besichtigung im Januar 1964 wurde wiederum die Beschwerde eines Kindes verhandelt, das mit mehreren Ohrfeigen von einer Schwester gezüchtigt worden war. Zur Erklärung wurde auf die „besonders schwierige Personalsituation“ hingewiesen. So hatte offenbar die Gruppenerzieherin im Sommer einen Selbstmordversuch unternommen und war als „psychopathisch“ entlassen worden. Doch hing insbesondere ihre Gruppe an ihr und hatte Angst um sie. Nach ihr waren drei verschiedene Erzieherinnen dort tätig, wodurch die Mädchen sehr durcheinander geraten wären.257 Zudem besprach die Vertreterin des Landesjugendamtes mehrere Fälle der persönlichen Züchtigung durch den Anstaltsleiter Direktor Schüler allein mit diesem. So hatte ein Mädchen laut Strafbucheintrag von Pfarrer Schüler persönlich zweimal Ohrfeigen erhalten. „Ich habe auf die Bedenklichkeit des Schlagens überhaupt gegenüber einem Mädchen dieses Alters und durch den Direktor persönlich hingewiesen.“ Der Anstaltsleiter rechtfertigte sich mit der „außergewöhnlichen Jähzornsituation“ des Mädchens und sah dessen Erregbarkeit in schwierigen häuslichen Verhältnissen begründet. Das Mädchen sollte einer Psychologin vorgestellt werden.258 Dieses Abschieben des schwierigen Zöglings unterstreicht die Definitionsmacht des Anstaltsleiters, der eigenes pädagogisches Versagen auf das Mädchen projezierte. Aus einer Aufstellung vom Januar 1964 über die Anstalt Neudüsselthal geht hervor, dass für die hier 293 untergebrachten Jugendlichen 41 Erziehungskräfte zur Verfügung standen. Davon waren allerdings 14 unausgebildete Praktikanten oder Helfer im Rahmen des Diakonischen 256

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Reisebericht über den Besuch bei Herrn Direktor Pastor Schüler am 16.8.1963, in: ALVR 41272. Reisebericht über den Besuch des Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal am 10.1.1964 (Beurmann, 16.1.1964), in: ebd. Vermerk betr. Kinder- und Jugendheim Neu-Düsselthal, Anwendung körperlicher Züchtigungen v. 30.1.1964, in: ebd.

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Jahres. In den 10 bis 18 Jugendliche umfassenden Gruppen agierten überwiegend zwei Erziehungskräfte, von denen jedoch jeweils nur eine mit einer Ausbildung als Wohlfahrtspfleger, Erzieher/in (teilweise mit Kurzausbildung z. B. der Heimstatthilfe), Kindergärtnerin oder Diakon aufwarten konnte.259 Der Personalmangel bestand nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, was sich u.a. in fortdauernden Beschwerden über Misshandlungen von Zöglingen niederschlug. Diese weiter unten genauer beschriebenen Fälle waren das Ergebnis von Unterbesetzung der Gruppen, Ausbildungsmangel und Überforderung der Erziehenden. Zudem scheint eine paternalistische Anstaltskultur hierbei eine Rolle gespielt zu haben, die auch im Umgang der Einrichtungsleitung mit den Angestellten vorwiegend Disziplin, Gehorsam und Unterordnung in den Mittelpunkt gestellt und sich bis in das Verhältnis zu den Heimkindern fortgesetzt hatte. Die Professionalisierung und der Leitungskonflikt 1964 – „imitatio christi“, „agitatio diaboli“ Im Fall der Düsselthaler Anstalten kam noch die Auswirkung eines strukturellen Konfliktes zwischen der pädagogischen Leitung der Anstalten und dem theologischen Gesamtanstaltsleiter hinzu, die das Klima vergiftete. Bereits 1961 war der Heimleiter von Neu-Düsselthal, Willi Janzen, in eine Erziehungsberatungsstelle gewechselt, weil er sich mit dem neuen Anstaltsleiter, Pfarrer Friedrich Karl Schüler, den er selbst an die Einrichtung geholt hatte, nicht mehr verstanden hatte.260 Im August 1964 entließ Direktor Schüler sowohl den die pädagogische Leitung innehabenden Diplompsychologen Joachim Hardtmann wie auch den als „pädagogisch-psychologischen wissenschaftlichen Assistent“ gewonnenen K. H. Schwarz, ebenfalls ein Diplompsychologe.261 Beide legten in einem umfangreichen Memorandum die Verhältnisse dar, unter denen es hierzu gekommen war. Der eigentliche Vorfall hatte demnach am 5. August 1964 stattgefunden, als die beiden Psychologen auf offener Straße von Prügeln gehört 259 260

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Vermerk v. 30.1.1964, in: ALVR 41269. Siehe zur Entfremdung die Bemerkungen im Brief Ohl an Janssen v. 3.1.1962, in: ADWRh, Ohl 10.2.2.9. Schwarz war nach eigener Angabe nicht nur ausgebildeter Erzieher, Heimleiter (Examen 1950), Jugendpfleger (1951) und Volkspfleger (1953), sondern hatte sich noch mit einem Studium zum Diplompsychologen qualifiziert (1958-1963).

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hatten, die der Direktor verteilt hätte. 20 Fälle von Schlägen „mit Fäusten, mit der Handkante, Handrücken und mit der flachen Hand ins Gesicht“ sollen es gewesen sein. Die Fälle wurden wenige Tage später von den Psychologen an das Landesjugendamt gemeldet. Diese wurden daraufhin mit der Begründung des „Vertrauensbruchs“ vom Direktor gekündigt.262 Im Rahmen des Konfliktes rieben sich die Psychologen an der „hierarchischen Struktur der Düsselthaler Anstalten sowie den aus ihr bewirkten Prozessen“. So war der Direktor für sie die einzige „Schleuse“ zum Kuratorium wie auch zur Außenwelt. Eine Mitarbeitervertretung existierte in ihren Augen nicht. Sie sahen hier eine „kapitalistische Personalordnung“ verwirklicht. Der Direktor stellte an und entließ. Er hätte gezielt Leute gesammelt wie ältere, verheiratete Erzieher ohne Ausbildung, die ihr Unterkommen als Vergünstigung ansähen und ihm hörig wären. Diese „diktatorische Struktur“ fördere die Abwanderung von integren Fachkräften. Bibelkreise und andere Formen der Gesellung unter den Mitarbeitern hätte der Direktor verboten, da angeblich nur Sektiererei und Schwärmerei dabei herauskäme. Das von ihm suggerierte Primat der Theologie führe er selbst ad absurdum, da er nach einem Gottesdienst Kinder, die gelacht hätten, in die Sakristei befohlen und geschlagen habe. Ebenso habe er Kinder im Konfirmandenunterricht geschlagen, wie auch solche, die vorher nie Religion gehabt hatten und nicht aufsagen konnten. Hierin sahen die Psychologen ihrerseits ein unchristliches Verhalten, bei dem die „imitatio christi“ zur „agitatio diaboli“ umgemünzt würde. Der Direktor als Anstaltsgeistlicher könnte pädagogisch geschulten Mitarbeitern zudem keine Hilfen geben, sei theoriefeindlich und kenne nicht einmal die Untersuchung des AFET über die Lage der Heimerzieher. Pädagogische Bemühungen der Psychologen wären lächerlich gemacht worden und hätten den „Verlust der Erzieherautorität“ zur Folge gehabt.263 Die hier erhobenen Vorwürfe lassen sich nicht im Nachhinein beweisen oder widerlegen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt im Jahre 262

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Das überlieferte Strafbuch der Einrichtung über die Zeit 1912-1966 vermerkte: „nach Rücksprache mit Frau LOVR Beurmann am 10. Aug. 1964 in Köln werden unter den Nr. 1201-1208 folgende Bestrafungen nachgetragen“. Dabei wurden als Gründe für die Bestrafungen Angriff, Beleidigung oder „fortlaufende Störung des G[o]tt[es] dienstes“ notiert und von Pfarrer Schüler persönlich unterschrieben („Strafregister 1912-1966“, in: AGRS, 183/3.2.4.1). „Auseinandersetzung mit Vorfällen und Tatbeständen ...“ (Stellungnahme der Dipl. Psych. Joachim Hardtmann und Schwarz an Kuratorium zu ihrer Entlassung durch den Direktor, o. D. [ca. Aug. 1964], in: ALVR 41278 (siehe auch AEKR, 6 HA 034; Nr. 78 Bd. 2).

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1970 bei einem ähnlichen Konflikt, den der Direktor mit einem Psychologen hatte, liegen auch Aussagen des Direktors vor, in denen er z. B. Schläge gegen ein Kind in der Sakristei einräumt. In dem oben beschriebenen Konflikt ging es um die Dominanz im Anstaltsgefüge zwischen den psychologisch und pädagogisch geschulten Fachkräften und dem theologisch geschulten Anstaltsleiter. Außer mit dem Bezug auf ihre Fachlichkeit und der Skandalisierung von Schlägen argumentierten die Psychologen jedoch auch mit einer anderen Vorstellung von Christlichkeit und dem, was sie sich unter der Nachfolge Jesu gerade nicht vorstellten. Jenseits der in diesem Konflikt auch deutlich werdenden persönlichen Verwerfungen ging es um ein Grundproblem der zunehmenden Professionalisierung im Anstaltsbereich, welche die traditionelle Legitimation der Herrschaft der theologischen Anstaltsleitung in Frage stellte. Versucht man die Hintergründe für die Züchtigungen zusammenzufassen, so lassen sich verschiedene Ursachen zusammentragen. Einerseits handelte es sich um Misshandlungen wegen Personalmangels. Die Unterbesetzung der Gruppen führte zu einer fast permanenten Überforderungssitutation, die insbesondere die pädagogisch ungeschulten Mitarbeiter in Konflikten schnell zu Zwangsmaßnahmen greifen ließ. Trotz aller Anlassbezogenheit der Züchtigungen scheint andererseits im Hintergrund die Mitverursachung durch eine nicht überwundene pädagogische Tradition auf, die zeitgenössisch „Prügelpädagogik“ genannt wurde. Hier liegt der Kern dessen, was im Rahmen der Debatten über ehemalige Heimkinder immer wieder skandalisiert wurde und wird. Der Verweis auf eine Disziplinpädagogik, die Sekundärtugenden wie Ordnung und Sauberkeit in den Vordergrund stellte, begünstigte Strafen als zentrales Erziehungsmittel. Unterstrichen wird diese Interpretation durch einen „Praktikantenbrief “ der Düsselthaler Anstalten vom März 1969. Hierin wurde als Orientierung für Praktikanten festgestellt, dass dieser störend im Gleichgewicht der Gruppe sei, da er „Liebe“ vom Gruppenleiter abziehe. „Pädagogik fängt mit der Pflege an“, was bedeute, dass der Praktikant auch beim Putzen hilfreich sei. Zuerst käme die „Gruppenerziehung“ und erst später die „Einzelfallhilfe“. Die Distanz zu den Kindern sei wichtig und auf „Ratschläge der Vorgänger“ sei zu hören. Zu Strafen wurde eine Dienstanweisung wiedergegeben: „Körperliche Züchtigung ist auch die Ohrfeige. Die körperliche Züchtigung ist ein pädagogischer Kunstgriff, der erst bei pädagogischer

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Sicherheit zu rechtfertigen ist. Verstoß gegen das Verbot ist sofort, d. h. am gleichen Tage schriftlich unter Angabe der Art und des Ausmaßes der Strafe, des Vorfalls und des betreffenden Kindes der Heimleitung zu melden.“264 Im Herbst 1969 waren sich häufende Beschwerden über den oben beschriebenen „pädagogischen Kunstgriff “ erneut Anlass für einen Heimaufsichtsbesuch. Dabei wiesen die Gesprächsteilnehmer „mit Nachdruck aber darauf hin, daß das Erzieherpersonal überfordert“ sei. Sie erwarteten vom Landesjugendamt, dass „es Stellung zu der augenblicklichen Wirklichkeit im Heim nimmt, wo ohne Schläge erfolgreiche Erziehung nicht mehr möglich sei“. „Im Heim bestreitet niemand, daß geschlagen wird. Vor dieser Tatsache sollte niemand sich die Augen verschließen. Das Landesjugendamt müsse wissen und erfahren, daß es in manchen Situationen und bei einigen Minderjährigen nicht anders gehe, als erzieherische ‚Nachhilfe‘ durch Schläge.“265 Angesichts dieses offensiven Eingeständnisses der verpönten Züchtigungen, ging der Vertreter des Landesjugendamtes nur noch „besonders auf die Schläge mit Sandalen und Stock“ ein und unterstützte das vorhandene Bedürfnis, „im kommenden Jahr eine Arbeitstagung im Jugendhof über das Thema: ‚Strafen im Erziehungsheim‘, anzusetzen.“ Das Gespräch mit den Jungen einer Gruppe im Heim brachte verschiedene Wünsche zu Tage, die darauf hindeuteten, dass diese „Gruppe sehr autoritär/patriarchalisch geführt“ werde: „Ausgang für den einzelnen und nicht nur geschlossen mit oder für den Erzieher, die Gruppe wünscht sich ein Radio und möchte bei der Auswahl des Programms mitwirken, Privatsachen, wie z. B. Uhren, lange Hose sei beim Ausgang zu erhalten, das Taschengeld sei zu gering, das sei besonders dann spürbar, wenn der eine oder andere Geschenke für die Angehörigen kaufen möchte, das Essen sei gelegentlich zu reichlich, weil jeder soviel essen muß, wie er vom Heimerzieher auf den Teller bekommt.“ In der sogenannten „Sprechstunde“ der Kinder stellten fast alle die „Notwendigkeit der Mittagsruhe“ in Frage. „Sie gaben an, daß man als Strafe gelegentlich auch eine halbe bis eine Stunde länger schlafen müsse.“ Die Kinder der heilpädagogischen Gruppe hinterließen einen „ver264

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Praktikantenbrief der Düsselthaler Anstalten (überreicht am 15.3.1969), in: ALVR 41280. Heimaufsichtsbesuch am 17.10.1969 in Neu-Düsselthal, in: ebd.

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wahrlosten Eindruck“. Im Ergebnis sollten Heimaufsichtsbesuche häufiger werden und sich nicht nur auf äußere Dinge wie die Hygiene, die Räume etc. beschränken, sondern sich auch „mit dem allgemeinen Erziehungsablauf befassen (Freizeit, Beruf, Erziehungsstil, religöse Erziehung u.a.)“.266 Die Verabreichung von Psychopharmaka – ein medizinisch-psychologischer Versuch in der rheinischen öffentlichen Erziehung Im Jahre 1965 nahmen die Düsselthaler Anstalten Kontakt zur Rheinischen Landesklinik (RLK) Grafenberg in Düsseldorf auf, die das Heim Neu-Düsselthal seitdem jugendpsychiatrisch betreute.267 In der Psychologischen Abteilung der RLK Grafenberg untersuchte eine Arbeitsgruppe seit Jahren Fragen der „motorischen Aktivierung“. Davon ausgehend, dass diese bei Heimkindern höher als bei in der Familie aufwachsenden Kindern sei, bat die Heimleitung im Sommer 1965 das Landesjugendamt in einem Brief, einer Versuchsreihe an den Heimzöglingen zuzustimmen: „Das Anliegen der geplanten Untersuchung ist es, festzustellen, welche Veränderungen des aktivierten Verhaltens durch medikamentöse Beeinflussung zu erzielen sind, wobei der Akzent der Untersuchung in einer differentiellen Betrachtung liegen soll.“ Es sollte die Frage geklärt werden, „ob mit einer allgemeinen Dämpfung und Harmonisierung auch eine Erhöhung der Selbstkontrolle einhergehen kann“.268 Anfängliche Bedenken des Leiters des Landesjugendamtes Rheinland, Karl Wilhelm Jans, wurden durch ein Gespräch mit dem Leiter des Psychiatrischen Landeskrankenhauses, Friedrich Panse, überwunden.269 Im Früjahr 1966 fand die Versuchsreihe mit 40 Kindern bis zum Alter von 15 Jahren statt. Die Ergebnisse wurden schließlich 1968 in ei266 267

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Ebd. Vermerk betr. Neu-Düsselthal betr. Mitarbeit eines Psychiaters (Beurmann, 23.6.1965), in: ALVR 41271. Der Heimleiter Neu-Düsselthals, Schmidt, hatte den Kontakt mit dem seit 1959 an der RLK Bonn und zuvor in Grafenberg arbeitenden Landesobermedizinalrat Joachim Baucke (geb. 1913) intensiviert, nachdem der bisherige betreuende Psychiater, Prof. Ebermaier, die Arbeit krankheitsbedingt eingestellt hatte. Düsselthaler Anstalten an LJA v. 19.7.1965, in: ALVR 38865. Siehe ausführlich hierzu: Uwe Kaminsky, „Die Verbreiterung der „pädagogischen Angriffsfläche“. Eine medizinisch-psychologische Untersuchung in der rheinischen öffentlichen Erziehung aus dem Jahr 1966, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 485-494.

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ner psychiatrischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Die medikamentöse Dämpfung durch Truxal (= Chlorprothixen270, in der Dosis 3 x 15mg über 16 Tage) hatte zwar das Lernen als solches nicht beeinflusst, doch die kognitive Differenzierungsleistung verbessert. Die visuomotorische Tätigkeit – die Kopplung vorwiegend visuell aufgenommener Informationen (Input) mit der Handmotorik (Output) – verlief unter Medikamenteneinfluss signifikant langsamer und fehlerfreier, sodass es bei einfacher Schreibtätigkeit zu einer Erhöhung des Schreibtempos kam.271 Der vermehrte Einsatz von Medikamenten, durch den die Heimkinder, vermeintlich in ihrem eigenen Interesse, zu Probanden gemacht wurden, zeigte innerhalb der Einrichtung Folgen. Im Januar 1967 trat der Heimarzt nach fast zehnjähriger Tätigkeit für das Kinderheim Neu-Düsselthal von seiner Funktion zurück. Er verwies neben Momenten, in denen er sich durch die jüngeren Heimleiter und Erziehenden zurückgesetzt sah, auf einen enormen „Konsum von Psychopharmaka“ in der Einrichtung und legte eine beeindruckende Liste für das zurückliegende Dreivierteljahr vor. Dabei protestierte er gegen die Umstände der Untersuchung: „Ob es sich hier um einen Reihenversuch handelt, oder ob diese Verordnungen Dauerzustand bleiben sollen, ist mir nicht bekannt. Der Heimarzt wurde davon auch nicht in Kenntnis gesetzt. Wenn auch die Psychologen aus dieser Therapie ein günstiges Resümee ziehen werden, ich muss als Arzt eine Sedierung in dieser Form ablehnen.“272 Obwohl die Untersuchung des Teams der Rheinischen Landesklinik im Frühjahr 1966 nach acht Wochen bereits abgeschlossen war, blieb 270

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Bei Chlorprothixen handelt es sich um ein bis heute angewandtes Neuroleptikum, das zur Dämpfung von Unruhe und Erregungszuständen bei speziellen geistigseelischen Erkrankungen verabreicht wird. Als Nebenwirkungen werden extrapyramidale Störungen, Müdigkeit, Verlängerung der Reaktionszeit, Benommenheit, therapiezerebrale Krampfanfälle, Einengung der Erlebnisfähigkeit etc. beschrieben (Vgl. Gerhardt Nissen/Jürgen Fritze/Götz-Erik Trott, Psychopharmaka im Kindesund Jugendalter, Stuttgart u.a. 1998, S. 240-244; Rote Liste Service (Hg.), Rote Liste 2005. Arzneimittelverzeichnis für Deutschland (einschl. EU-Zulassungen und bestimmter Medizinprodukte), Aulendorf 2005, Sp. 249-251). Gerhard Grünewald/E. Grünewald-Zuberbier/I. Rode (RLK Düsseldorf), Beeinflussung der Handlungskontrolle durch Chlorprothixen bei unruhigen verhaltensschwierigen Kindern, in: Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift für die gesamte Neurologie 211 (1968), S. 23-37. Die Aufzählung umfasste 17.000 Tabletten Taractan 15, 250 Taractan 50, 13.000 Truxal, 1.500 Tofranil, 1.500 Valium 2, 1.500 Valium 5, 250 Librium 10, 250 Librium 25, 250 Zentropil, 300 Melleril, 500 Tegretal, 200 Neurocil, 350 Sacroten. Vgl. Dr. med. Herbert Blumberg (Lintorf) an LR Beurmann (LVR) v. 13.1.1967, in: ALVR 41271.

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der Medikamentenverbrauch hoch. In einem Telefongespräch mit Landespsychiater Gieraths gab Landesobermedizinalrat Baucke an, dass er das Heim einmal in der Woche besuche und Medikamente verordne. Rund 185 Kinder habe er selbst untersucht, von denen 40 bis 45 Psychopharmaka oder Antiepileptika erhielten. Die Dosis gehe nie über 3 x täglich 2 Tabletten Taractan oder Truxal à 15 mg hinaus. Nur in vereinzelten Fällen sei er bei 3 x 45 mg täglich angelangt. Gieraths notierte: „Auf meine Frage, ob man nicht befürchten müsse, daß sehr viele Kinder mit Erziehungsschwierigkeiten durch eine Medikation in dieser Höhe nicht mehr in der Lage seien, ihre Konflikte bewußt zu erleben und auszuagieren, antwortete Dr. Baucke, er gehe in seiner Dosierung nie so hoch, daß das zu befürchten sei. Andererseits würden ihm jetzt auch von der Schule hin und wieder Kinder vorgestellt mit der Frage, ob hier nicht eine ähnliche medikamentöse Behandlung angezeigt und sinnvoll wäre.“273 Mit dem Rücktritt des Heimarztes wurde ein Konflikt über die Vergabe von Medikamenten an die Heimkinder in Neudüsselthal offenbar. Auf der vom Landesjugendamt erbetenen Liste mit den im letzten Dreivierteljahr 1966 medikamentös behandelten Kindern standen schließlich 74 Namen.274 Im Februar 1967 kam es zu einem kontroversen Gespräch zwischen Landesrat Jans, den Ärzten Baucke und Gieraths sowie dem Heimleiter Schmidt über „unterschiedliche Auffassungen über Fragen der Medikation“. Landespsychiater Gieraths bestätigte auf Befragen, „daß die in Neu-Düsselthal festgestellte Prozentzahl Minderjähriger, die medikamentös auf Grund Verordnungen des Psychiaters behandelt würden, den Prozentsatz in anderen Häusern wesentlich überschritten.“ Im Streitgespräch reduzierte sich die Frage darauf, ob unter Medikamenten eine Förderung oder Verhinderung der Persönlichkeitsentwicklung erfolge. Man einigte sich schließlich, dass in Neu-Düsselthal „eine gewisse Zurückhaltung“ bei Medikamenten geübt werden solle und die Aushändigung der Medikamente über die

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Vermerk betr. Beendigung der Mitarbeit von Herrn Dr. med. Blumberg (Dr. Gieraths, 24.1.1967), in: ebd. „Aufstellung der Kinder, welche im Zeitraum vom 1.4.-31.12.1966 von Herrn Landesmedizinaldirektor Dr. Baucke medikamentös behandelt wurden (Schmidt)“ [handschr.: „Anlage zum Schreiben vom 23.3.67“], in: ALVR 41271. Zudem fanden sich hier z. T. Zusatzangaben wie „laut Bonn nicht zu fördern“, „Bettnässer“ (7 mal), „nicht förderbar“, „EEG pathologisch“ etc.

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Gruppenerzieher oder aber über die Krankenschwestern der Krankenstation von der Heimleitung zu prüfen sei.275 Unabhängig von der hier ventilierten Frage, ob Medikamente einem Erziehungszweck (Persönlichkeitsentwicklung) dienen oder schaden können, fällt an dem beschriebenen Beispiel eines evangelischen Heimes auf, dass man angeregt von der Psychologisierung und Psychiatrisierung der Heimerziehung die Frage der Rechte der Kinder nie zum Gegenstand erhob. Auch die Weigerung eines Kindes, Medikamente einzunehmen, führte nicht zu einer Sensibilisierung innerhalb der Einrichtung. Die Durchführung des Versuches muss daher als ethisch fragwürdig bezeichnet werden.276 Die Konstruktion des Landesjugendamtes und der Rheinischen Landesklinik, wonach es um das Wohl der Kinder ginge und es sich um eine in Kinder- und Jugendheimen übliche Medikamentengabe handele, erscheint in der Rückschau höchst problematisch und setzt ein vermeintliches Eigeninteresse der Kinder voraus. Hier dürfte es sich jedoch um eine fortdauernde Fremdbestimmung über Minderjährige in Heimerziehung, die sich nicht wehren konnten, gehandelt haben. 275

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Vermerk über die Besprechung am 10.2.1967 betr. ärztliche Betreuung von Minderjährigen in öffentlicher Erziehung in dem Ev. Kinder- und Jugendheim Neu-Düsselthal und Heimaufsicht v. 31.7.1967, in: ALVR 38865 [auch in: ALVR 41271]. Die Untersuchung ohne Einholung der Genehmigung der Personensorgeberechtigten stellte einen Verstoß gegen den Nürnberger Kodex dar, der einen „informed consent“, die freiwillige und informierte Einwilligung nach bestmöglicher Aufklärung der Beteiligten an medizinischer Forschung vorsieht. Der Nürnberger Kodex war im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses 1947 formuliert worden und bildete die Entscheidungsgrundlage für die juristische Beurteilung der medizinischen Experimente und der eugenischen Verbrechen der NS-Medizin. Er schreibt vor, dass Versuchspersonen medizinischer Experimente vor ihrer Entscheidung, das Wesen, die Dauer, der Zweck des Versuchs, Methode, Mittel, Unannehmlichkeiten und Gefahren verständlich gemacht werden müssen. Menschen, die auf Grund von Bewusstlosigkeit, geistiger Behinderung oder auf Grund ihres Krankheitszustandes dieses Verständnis nicht aufbringen können und deshalb keine informierte Einwilligung geben können, sind demnach eindeutig vor medizinischen Versuchen geschützt. Nur Standardbehandlungen und Heilversuche können durch die Ersatzeinwilligung der gesetzlichen Vertreter zum Wohl des Betroffenen legitimiert werden. Vgl. Jay Katz, The Consent Principle of Nuremberg Code: Its Significance Then and Now, in: G. J. Annas/M. A. Grodin (Ed.), The Nazi Doctors and the Nuremberg Code – Human Rights in Human Experimentation, S. 237; Pascal Arnold/Dominique Sprumont, Der Nürnberger Kodex: Regeln des Völkerrechts, in: Ulrich Tröhler/Stella Reiter-Theil (Hg.), Ethik und Medizin 1947-1997 – Was leistet die Kodifizierung von Ethik?, Göttingen 1997, S. 115 ff.; Michael Wunder, Bio-Medizin und Bio-Ethik - Der Mensch als Optimierungsprojekt (Vortrag).

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Die Mitwirkung des die Kinder- und Jugendlichen betreuenden Psychiaters Joachim Baucke selbst, der noch in einem ersten Schreiben der RLK als Leiter der Untersuchung bezeichnet wurde277, gibt einen Anhalt für die Vermischung von Heil- und Forschungsinteressen. Seine Funktion ermöglichte es zudem, die Weigerung des alten Heimarztes, Medikamente in entsprechenden Mengen zu verschreiben, zu kompensieren. Die Medikamente wurden offenbar gezielt für die Untersuchung verschrieben, worauf die ergänzende Einbeziehung von fünf Kindern hinweist. Die Forschung über die Wirkung von Medikamenten auf ‚schwererziehbare‘ Kinder hatte offenbar eine Türöffnerfunktion für die massenhafte Ausgabe von Medikamenten im Heim Neu-Düsselthal.278 Diese wurden als willkommenes Mittel zur Erleichterung der Erziehungsarbeit betrachtet. Nicht nur das Ansinnen der Heimschule an Psychiater Baucke auf Verschreibung von Medikamenten verwies darauf. Der Zusammenhang zwischen einer schwierigen Erziehungssituation und der angestrebten Beruhigung der Zöglinge gilt umso mehr, als in den Vorjahren verschiedentlich Probleme und, damit verbunden, eine Häufung von Züchtigungen im Heim Neu-Düsselthal aufgetreten waren.279 Im Herbst 1964 übernahm der bereits erwähnte Diplompsy277

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RLK Düsseldorf an LJA v. 12.10.1965, in: ALVR 38865. Baucke hatte bereits 1961 zusammen mit den Autoren des Auswertungsaufsatzes Grünewald und Zuberbier eine Studie veröffentlicht: Joachim Baucke/Gerhard Grünewald/Erika Zuberbier, Graphomotorische Untersuchungen an verhaltensschwierigen Kindern, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Vereinigt mit Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie 201 (1961), S. 549-564. Dabei waren altersmäßig übereinstimmende Gruppen von 30 verhaltensschwierigen Kindern eines heilpädagogischen Heims (meist sogenannte emotionell Verwahrloste), 30 verhaltensschwierigen Kindern einer Erziehungsberatungsstelle und 30 verhaltensunauffälligen Kindern unter kontrollierten Bedingungen bezüglich ihrer Graphomotorik untersucht worden. Das durchschnittliche Bewegungsverhalten der Heimkinder war im Vergleich zur Normalgruppe durch eine impulsive, ungezügelte Bewegungsweise gekennzeichnet. Bei den Erziehungsberatungskindern überwog ein vergleichsweise gehemmtes, unsicheres, überkontrolliertes Bewegungsverhalten. Die ermittelten Unterschiede wurden mit dem Faktor der Verhaltensschwierigkeit (oder -gestörtheit) erklärt, ohne allerdings diesen Faktor anders als mit der institutionell vorgegebenen Betreuungsform zu definieren. Vgl. auch den von Peter Wensierski beschriebenen Fall einer Anwendung von Chlorprotixen im evangelischen Kinderheim in Scherfede in den Jahren 1965 bis 1970 (ders., Schläge im Namen des Herrn, S. 83-96, bes. 92f.). So monierte das LJA zwischen Oktober 1964 und März 1965 allein 14 Fälle von Bestrafungen, in denen kein „erzieherischer Notstand“, sondern vielmehr Überforderung eines Praktikanten vorlag (LJA an Düsselthaler Anstalten v. 23.3.1965, in:

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chologe Gottfried Schmidt die Leitung des Heimes. Wie einem Besichtigungsbericht des Landesjugendamtes vom März 1965 zu entnehmen ist, hatte Schmidt eine auf 275 Plätze reduzierte Einrichtung vorgefunden, in der zu 75 % Jungen und zu 25 % Mädchen in 20 Erziehungsgruppen mit der Größe von durchschnittlich 14 Kindern untergebracht waren. Von den 41 Erziehern hatten 20 eine sozialpädagogische Ausbildung. Von 44 Planstellen waren 16 nicht voll besetzt, weswegen der Heimträger verstärkt Praktikanten der Höheren Fachschulen für Sozialarbeit und der Pädagogischen Hochschulen als „Zweiterzieher“ einsetzte. Die Schlafräume waren mit 15 Betten zu stark belegt und die Abtrennung durch niedrige Trennwände aus Holz reichte den besichtigenden Beamten nicht aus. Sie regten eine Bettenzahl von drei bis fünf an.280 Die schwierigen räumlichen Bedingungen und die Unterbesetzung der Stationen mit Erzieher/innen, die z. T. keine pädagogische Ausbildung besaßen, führten zu permanenten Überforderungssituationen. Hier wussten sich einzelne Erziehende in Konfliktsituationen nicht anders als mit körperlicher Gewalt zu helfen. Die Medikamentenvergabe, durch die im vorliegenden Beispiel eine große Anzahl Kinder sediert wurde, wurde vor diesem Hintergrund zeitgenössisch als unterstützende Modernisierung des Erzieherhandelns wahrgenommen. Körperliche Disziplinierungsmittel konnten bei erziehungsschwierigen Kindern demnach entfallen. Dies verweist auf eine Grenzüberschreitung der Psychopharmakotherapie, die ansonsten zeitgenössisch als Fortschritt begriffen wurde. Der hier beteiligte Heimleiter und Diplompsychologe Gottfried Schmidt leitete 1970 „moderne Erziehungsmethoden“ in der Einrichtung ein und geriet damit in einen schweren Konflikt mit dem konservativen theologischen Anstaltsleiter, sodass er sich 1971 gezwungen sah, das Heim zu verlassen.281 Das Zusammenwirken von forschender Institution (Rheinische Landesklinik Grafenberg), Landesjugendamt und konfessionellem Trä-

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ALVR, 41272). Siehe zusammenfassend hierzu den Reisebericht über den Besuch des Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal am 3.6.1965 (Beurmann, 4.6.1965), in: ebd. Vgl. zudem Henkelmann/Kaminsky, Konfessionelle Wohlfahrtspflege und moderner Wohlfahrtsstaat., S. 253-281, bes. 261f. Vermerk betr. Besichtigung des Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal am 24.3.1965 o. D., in: ALVR, 41272. Unterlagen hierzu sind sowohl beim LJA wie auch bei der Evangelischen Kirche im Rheinland angefallen. Vgl. ALVR 41278; AEKR, 6HA034 Nr. 78 Bd. 1 u. 2. Ferner befindet sich eine umfassende Zeitungsausschnittsammlung im Archiv der Graf Recke Stiftung.

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ger führte im vorliegenden Fall zu einer Verantwortungsteilung. Der Versuch blieb im Bereich der rheinischen öffentlichen Erziehung offenbar einmalig. Folgeprojekte sind nicht überliefert. Dennoch war damit die Tür zu einer medikamentösen Beeinflussung der ‚schwererziehbaren‘ Kinder und Jugendlichen zur Verbreiterung der „pädagogischen Angriffsfläche“ in Erziehungsheimen weit geöffnet worden.282 Die religiöse Erziehung und der Leitungskonflikt 1970/71 Nach dem RJWG und dem JWG war die Konfession noch vor Alter und Geschlecht ein formierendes Prinzip der öffentlichen Ersatzerziehung. Religiöse Erziehung oder evangelische Erziehung bedeutete in den Düsselthaler Anstalten überwiegend eine äußere Disziplinierung und Einübung religiöser Feier- und Festkultur. Im Heim wurden 1951 Advent, Weihnachten, Ostern, Pfingsten, das Reformationsfest, das Erntedankfest etc. so gefeiert, dass „ihr innerer Gehalt Kindern und Erwachsenen in schlichter und kindlich-verständiger Weise nahegebracht“ wurde.283 Als es 1953 im Kinderheim Neudüsselthal zu einer versuchten Massenflucht kam, wurden die beteiligten Kinder zu ihren Motiven befragt. Ein 14-jähriger Junge gab als Grund die Eintönigkeit im Heimleben an. Nach den Aufzeichnungen der Referatsleiterin des Landesjugendamtes betonte der dabei „mit einer gewissen Verkrampfung immer wieder das Beten, also etwa: ‚aufstehen, Andacht, beten – Beten, Morgenkaffee, danken – zur Schule, beten, beten – Mittagessen, danken, - beten, Kaffeetrinken, danken – usw.’”284 In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Reckestiftes betonte der langjährige Leiter, der Diplomsoziologe Erich Rundt, die religiöse Gebundenheit der Erzieher, die auch auf die Minderjährigen abfärben 282

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In den Düsselthaler Anstalten blieb eine Anwendung von Psychopharmaka bei ‚schwererziehbaren‘ Kindern auch nachfolgend in Gebrauch, worauf die Erwähnung im Bericht über einen Heimaufsichtsbesuch Ende 1969 hindeutet. Hierbei wurde moniert, dass die Lehrer nicht wissen, welche Kinder Medikamente erhalten, was es ihnen nicht erlaube, ihre Beobachtungen mitzuteilen. Neben dem bereits erwähnten Jugendpsychiater Baucke war auch die Kaiserswerther Kinderärztin Dr. Rochs im Heim zweimal die Woche anwesend. Ihnen wurden alle neuen Kinder vorgestellt. Baucke ging auch über die Gruppen, um sich zu orientieren. (Bericht über den Besuch des Kinderheims Neu-Düsselthal am 15.12.1969, in: ALVR 41280). Kinnius, Neu-Düsselthal, S. 7. Reisebericht über den Besuch des Erziehungsheims Neu-Düsselthal am 13.5.1953 (Beurmann, 15.5.1953), in: ALVR, 41264.

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sollte. „Für den Erzieher gilt die Erkenntnis, daß uns diese Gottgebundenheit nur im Gebet zuteil wird. So möge denn bei uns ‚mit Fleiß gebetet’ werden.“285 Der Erzieher als „Ersatzvater“ sollte zu einer „Veränderung des Ichideals“, zu einer „Charakterkorrektur“ des Zöglings beitragen. Am Ende sollten die Minderjährigen „zu sozialen Menschen und guten Christen“ erzogen werden.286 Das Ungenügen einer rein äußerlichen religiösen Ritualerziehung wurde in den 1960er Jahren verschiedentlich zum Thema. Einmal sei hier auf den oben beschriebenen Konflikt zwischen den leitenden Diplompsychologen und dem theologischen Anstaltsleiter der Düsselthaler Anstalten aus dem Jahre 1964 verwiesen. Dabei konstruierten die Diplompsychologen ein anderes Ideal von religiöser Erziehung, als sie es in der Anstalt verwirklicht sahen. Im Hintergrund stand eine die evangelische Kirche seit Ende der 1950er Jahre bewegende Kirchenreformdebatte, die nicht nur die äußere Gestalt der Kirche zum Gegenstand hatte, sondern auch das merkbare Schwinden eines traditionellen kirchlichen Milieus. Dies sollte nicht mehr nur durch die Stärkung der „Kirchentreuen“ zu verhindern versucht werden, sondern durch das gezielte Ansprechen der kirchlichen „Randsiedler“, wie die zwar formal noch zur Kirche gehörenden Menschen genannt wurden, die aber in innerer Distanz zu dieser standen.287 Ende der 1960er Jahre machte sich schließlich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Mentalitätswandels eine zunehmend marxistisch inspirierte, kirchenfeindliche Tendenz geltend, die in religiöser Erziehung die „religiöse Rechtfertigung der Klassenstruktur der Gesellschaft“ sah.288 Angesichts der auf Freiheit und Selbstbestimmung Wert legenden gesellschaftlichen Debatte um das Symboljahr „1968“ geriet die religiöse Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen nicht nur von außen in die Kritik.289 Auch bei den Jugendlichen fanden sich nun 285 286 287

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Rundt, 50 Jahre, S. 28. Ebd., S. 31f. Siehe die zeitgenössische kirchensoziologische Untersuchung: Reinhard Köster, Die Kirchentreuen, Stuttgart 1959. So nach einem im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland auftauchenden Handzettel „Laßt euch nicht länger religiös manipulieren – verlaßt massenhaft den Religionsunterricht“ (hg. v. Sozialistischen Lehrerbund, Kleine Hochstraße 5, 6 Frankfurt/Main)“ (Anlage zu: Beurmann an Jans v. 10.12.1968, in: ALVR 38668). Vgl. die unter dem Paradigma der „Randgruppen“ diskutierte Kritik der Linken: Sven Steinacker, Die radikale Linke und die sozialen Randgruppen. Facetten eines ambivalenten Verhältnisses, in: Rotaprint 25 (Hg.), Agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, Berlin 2007, S. 201-212; Erfahrungsberichte

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explizite Ablehnungen einer religiösen Erziehung formuliert. In den Düsselthaler Anstalten meldeten sich angesichts eines Heimaufsichtsbesuchs 1970 vermehrt Kinder, die den Zwang zum Gottesdienstbesuch beklagten.290 „Man möchte nicht jeden Sonntag zur Kirche gehen müssen, man möchte auch mal so richtig bis 9.30 Uhr ausschlafen. Zu Hause ginge man sicher nicht jeden Sonntag. Als ein Vorschlag kam etwa 14-tägiger Kirchgang. Die Predigt sei für sie oft so unverständlich. Es würden viele Fremdworte gebraucht. Ob man den Gottesdienst nicht unterschiedlicher gestalten könnte. Einige sprachen von Gottesdiensten, bei denen andere Musik geboten würde als die übliche Kirchenmusik. Das Gespräch hierzu war recht lebhaft.“ Diese Klagen standen im Zusammenhang mit einem erneut aufbrechenden Konflikt zwischen dem leitenden Psychologen und dem Erziehungsheimleiter auf der einen Seite und dem theologischen Anstaltsdirektor auf der anderen. Der leitende Psychologe hatte nach einer Serie von Missständen in den Düsselthaler Anstalten „moderne Erziehungsmethoden“ eingeführt. Dies hatte zu einem Nachlassen der Disziplin, mangelndem Schulbesuch etc. geführt. Er sah sich inneranstaltlich einer Phalanx aus Schulleitung und dem theologischen Anstaltsdirektor gegenüber. Dabei ging es auch um die Frage, was evangelische Anstaltserziehung ausmache, da diese offenbar als ordnendes Moment ins Feld geführt wurde. Der Konflikt eskalierte im Dezember 1970, als der Psychologe wie auch der Erziehungsheimleiter entlassen wurden. Es kam zu einem medienwirksamen Skandal, bei dem beispielhaft Fragen der Reform von Pädagogik, Heimerziehung und Heimstruktur diskutiert wurden.291 Da nicht nur der Direktor des Diakonischen Werks, Friedrich-Wilhelm von Staa, sondern auch der neue Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (seit 1971), Karl Immer, Mitglied im Kuratorium der Düs-

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von Peter Brosch, Fürsorgeerziehung. Heimterror und Gegenwehr. Frankfurt a. M. 1971; Manfred Liebel/Herbert Swoboda/Heinz Bott (Hg.), Jugendwohnkollektive. Alternative zur Fürsorgeerziehung?, München 1972. Betr. Heimaufsichtsbesuch in Neu-Düsselthal am 8.10.1970 (Beurmann, 13.10.1970) und Vermerk betr. Kindersprechstunde im Kinderheim Neu-Düsselthal am 21.10.1971 (Dr. Bönsch, 26.10.1971), in: ALVR 41280. Der mediale Durchbruch geschah in zwei Rundfunk- und in einer Fernsehsendung über die Schwierigkeiten im Kinder- und Jugendheim Neu-Düsselthal am 11. Dezember 1970. Darauf folgte eine Flut von Zeitungsberichten. Vgl. Mitarbeiter des Kinder- und Jugendheims Neu-Düsselthal an LVR (Jans) v. 14.12.1970, in: ALVR 41278 und die dort gesammelten Zeitungsberichte.

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selthaler Anstalten waren und sich nachfolgend in einen Moderationsprozess einschalteten, kann dieser Fall prototypische Bedeutung für die evangelische Heimerziehung im Rheinland beanspruchen.292 In einer Sitzung des Schulausschusses im Herbst 1970 gab Pastor Schüler an, dass bei einer Besprechung mit den Erziehern seine Forderungen auf sonntäglichen Kirchgang, das Mitbringen der Gesangbücher und das Mitsprechen des Vater-Unser und des Apostolikums damit kommentiert worden seien, „ob das noch pädagogisch vertretbar sei“.293 Im Vorfeld war allerdings ein Fall Gegenstand der Auseinandersetzungen geworden, in dem Pastor Schüler ein Mädchen nach dem Gottesdienst geschlagen hatte. Er stellte diesen Fall in einer Aussprache mit den Mitarbeitern der Einrichtung so dar, dass diese während des Gottesdienstes permanent gestört hätte. Sie habe sogar zum Abendmahl Hostie und Kelch genommen, aber schallend gelacht. Er habe dabei immer an Paulus („würdig“) gedacht und das Kind anschließend in die Sakristei gebeten. Als es ihn dort wieder angelacht und freche Antworten gegeben hätte, habe er ihr „einen Backenstreich“ verabreicht. Die anschließende Strafmeldung an den Heimleiter, die auch zum Landesjugendamt gesandt worden wäre, habe er korrekt gegeben. Zudem verwies er auch auf andere Züchtigungen durch Mitarbeiter und wollte nicht als „der Zuchtmeister“ der Anstalt hingestellt werden.294 Pfarrer Schüler, dem ja bereits 1964 von den damaligen Psychologen keine besonders ‚glückliche Hand‘ bescheinigt worden war, nahm offenbar Zuflucht zu dem einzigen ihm zur Verfügung stehenden Mittel – der Ohrfeige. Bei ihm verband sich idealtypisch eine Ordnungsund eine Religionserziehung. So hatte er den Gottesdienstbesuch und den Konfirmandenunterricht zur Richtschnur gemacht, wohingegen der Psychologe hier auch eine Begründung mittels Religionspädagogik, Religionspsychologie und Religionssoziologie einklagte. Schüler meinte, dass er dafür keine Zeit habe. Sein theologisches Credo war schlicht. 292

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Unterlagen hierzu sind sowohl beim Landesjugendamt wie auch bei der Evangelischen Kirche im Rheinland angefallen. Vgl. ALVR 41278; AEKR, 6HA034 Nr. 78 Bd. 1 u. 2. Sitzung des Schulausschusses der Düsselthaler Anstalten v. 10.11.1970, in: AEKR, 6HA034 Nr. 78 Bd. 1. Tonbandprotokoll der Aussprache auf Einladung des Kuratoriums der Düsselthaler Anstalten mit den Mitarbeitern Neu-Düsselthals und der Mitarbeitervertretung der Anstalten am 15.12.1970 im Saal des Recke-Stiftes (Gesprächsleitung: OKR Lic. Karl Immer), in: ebd. Ähnlich auch die Erinnerung von Pfarrer Schüler an „böse Jahre“, in denen er sich als „Vertreter der bisherigen Erziehung“ als „Bösewicht“ abgestempelt sah (widergegeben in: Benninghoven/Pankoke, Leben lernen, S. 39f.).

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„Ich will mich aber theologischen, religiösen, glaubensmäßigen Fragen stellen und dies bedeutet, daß wir dann an Hand der Bibel danach fragen sollen, was ist Gott für unser Leben heute.“ Eine Abstimmung in der Mitarbeiterversammlung über eine Solidarisierung mit den Entlassenen konnte von Vertretern des Kuratoriums verhindert werden. Diakoniedirektor von Staa stützte den theologischen Anstaltsleiter mit der Erwägung: „Ob nicht Annehmen als Ausdruck des Evangeliums nur dann tief und echt ist, wenn es verbunden ist mit dem Gesetz, um mit biblischer Terminologie zu sprechen. Ob nicht ganz bestimmte Erwartungen von Christus selbst im Augenblick des Annehmens gestellt worden sind.“295 Diese Argumentation mit dem Gesetz statt mit der Freiheit des Evangeliums war auch der Abwehrhaltung einer älteren Generation von in Diakonie und Kirche Tätigen gegen die moderne Gesellschaft geschuldet. Andere Formen des Christseins, die sich gerade nicht an der Ritualisierung des Glaubens festmachten, wurden kritisch beäugt. Im Konflikt kam auch schnell die Forderung auf, dass eine pädagogisch sachverständige Person in das Kuratorium aufgenommen werden sollte, wodurch erneut die Hierarchie des Anstaltskosmos zum Thema wurde. Die Konfliktlage wurde durch einen Schlichtungsausschuss, an dem Vertreter des Kuratoriums, des Diakonischen Werks und des Landesjugendamtes teilnahmen, Anfang Februar 1971 dahingehend moderiert, dass man es noch einmal miteinander versuchen wollte. Demnach sollte der Schulausschuss auf sieben Personen erweitert werden, wobei beide Schulleiter, der Heimleiter und der Erziehungsleiter alle Grundsatzfragen der Zusammenarbeit von Schule und Heim gemeinsam beraten sollten. Zudem war, „um die evangelische Erziehung zu fördern und die religionspädagogische Weiterbildung der Mitarbeiter zu vertiefen“, ein Arbeitskreis unter dem Vorsitz des Anstaltspfarrers für alle interessierten Erzieher von Neu-Düsselthal und auch die Kuratoren gebildet worden. Dieser Arbeitskreis sollte theologische und methodisch-didaktische Probleme besprechen und Träger aller geistlichen Aktivitäten in Neu-Düsselthal sein. „Dazu gehören u.a. die Mitgestaltung des Gottesdienstes (Lektorendienst, Predigtgespräch, Mitverantwortung für den Kindergottesdienst) und Fragen der Seelsorge an den Heimkindern.“296 Doch die Ansichten waren zu gegensätzlich. Der Psychologe und der Erziehungsheimleiter kündigten zur Mitte des Jahres 1971. 295 296

Ebd. Vorschlag des Schlichtungsausschusses (Eichhoz, Blum, Hasenburg, Dr. Pfeifer, von Staudt, 2.2.1971), in: ALVR 41278.

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Für das Landesjugendamt war damit aber die Frage des erzwungenen Kirchgangs in den Düsselthaler Anstalten keineswegs beendet. Martha Beurmann resümierte, dass sich früher die Kinder in Neudüsselthal nach Kirchgängern und Nichtkirchgängern sortiert hätten, doch jetzt sei „der Kirchgang eine Pflicht“, da die Kinder als Gruppe zur Kirche gehen. Die Jugendlichen würden diese hausordnungsmäßige Regelung auch als Zwang auffassen. Beurmann hatte den Eindruck, dass „man mit einem regelmäßigen sonntäglichen Kirchgang die Minderjährigen, die in Heimen der öffentlichen Erziehung sind, überfordert. Sie kämen im Allgemeinen aus einer Umgebung, in der ein so regelmäßiger Kirchgang keinesfalls üblich ist. Draußen besuchen ja evangelische Familien auch nicht jeden Sonntag die Kirche. Nach meiner Auffassung wird durch derartige Hausordnungen, denen man sich kaum entziehen kann, von den Jugendlichen ein Höchstmaß an Erfüllung kirchlicher Pflichten gefordert, obwohl man damit rechnen muss, dass sie vielfach der Kirche sehr fern stehen. Es entsteht m. E. ein großer Schaden, wenn sich bei diesen Jugendlichen der Eindruck verfestigt, sie müßten zur Kirche, weil sie in öffentlicher Erziehung sind. Dies würde sie der Kirche weiter entfremden.“297 Der veränderte Blick der Landesrätin auf die religiöse Ritualerziehung im Heim hatte seinen Hintergrund im veränderten gesellschaftlichen Klima. In der Evangelischen Kirche hatten bereits in den 1960er Jahren Bewegungen für eine Reform der Kirche, des Gottesdienstes und eine Öffnung zur Gesellschaft Platz gegriffen.298 Im Bereich der Heimerziehung gab es eine charakteristische Zeitverzögerung. Die Kritik der SSK – Probleme des Wandels In einer pointierten und gut überlieferten Form bildet sich die Zeitverzögerung auch in den Protesten verschiedener Jugendlicher gegen die im zu den Düsselthaler Anstalten gehörenden Reckestift ab, die durch die „Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln“ (SSK), einem Zusammenschluss kritischer Sozialarbeitender, gesammelt wurden.299 Die SSK verdichtete im Oktober 1972 die Vorwürfe zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde beim Arbeits- und Sozialminister gegen die Heimauf297 298

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Beurmann an OKR von Staa (Präses des Kuratoriums) v. 18.8.1971, in: ALVR 41280. Siehe am Beispiel der Evangelischen Kirche im Rheinland: Kaminsky, Kirche in der Öffentlichkeit, S. 187-239. Zu den SSK siehe oben Kap. 5.1 und Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 136-150.

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sicht des LJA.300 Dabei ging es um die eidesstattlichen Aussagen von aus dem Reckestift geflohenen Jugendlichen, die von Prügel, einem Zwang zum Besuch des Gottesdienstes, mangelnden Informationen über Berufsausbildungsmöglichkeiten, mangelnde Belehrungen über das Beschwerderecht, eine Briefzensur, diskriminierende und schikanöse Vorschriften bezüglich Kleidung und Haartracht berichteten, deren Nichteinhaltung bestraft würde. Zudem hätten sich im Sommer 1972 bei einem Brand in der „geschlosssenen Gruppe“ die Minderjährigen nur befreien können, weil es ihnen gelang, ein Fenster aufzubrechen. Ferner sei einem bei einem Fluchtversuch abgestürzten Jungen erst eine halbe Stunde später medizinische Hilfe zu Teil geworden. Der SSK habe insgesamt in drei Jahren ca. 30 Beschwerden beim Landesjugendamt Rheinland abgegeben, die alle nicht verfolgt worden wären, weshalb die „Heimaufsicht als Farce“ bezeichnet wurde. Der Verlauf dieser Beschwerde, die letztlich vom Arbeits- und Sozialministerium zurückgewiesen wurde, macht dennoch deutlich, dass die Beanstandungen keineswegs aus der Luft gegriffen waren. So wurde ein Zwang zum Gottesdienst bestritten und nur „religionspädagogische Gespräche“ erwähnt, was allerdings angesichts des im Hintergrund hierzu geführten Schriftwechsels zwischen dem Landesjugendamt und der Einrichtung getrost als Euphemismus gekennzeichnet werden kann. So wurden z. B. auch körperliche Züchtigungen abgestritten, doch räumte der Erziehungsleiter ein, es gebe Ausnahmen, wenn etwa Erzieher von Jugendlichen mit einem Schraubenschlüssel mit dem Tod bedroht würden. Er räumte eine gewisse „Dunkelziffer“ ein. Zum Gottesdienstzwang wurde darauf verwiesen, dass nur ein katholischer Junge im Heim sei. Es gebe keinen Zwang, aber man „dränge und schiebe“ die Minderjährigen zum Gottesdienst, da man der Meinung sei, das Evangelium habe diesen etwas zu sagen. Zwei Jugendliche lehnten hier kategorisch eine Teilnahme ab. Sie müssten dann in die „halbgschlossene“ Gruppe 8. Obwohl der Landesjugendamt-Vertreter hiergegen Bedenken meldete, sah das Heim organisatorisch keine andere Möglichkeit, um die Aufsicht zu gewährleisten. In dieser Gruppe hatten alle Jugendlichen immer Blue Jeans (aus Arbeitsgründen) zu tragen, wogegen Kraus ebenfalls aus pädagogischen Gründen intervenierte. In seiner Auswertung resümierte er, dass in 90 % der Anklagen Aussage gegen Aussage stehe, aber das Reckestift dasjenige Heim sei, gegen das die 300

SSK an MAGS v. 17.10.1972 (Abschr. an Bundesarbeitsminister Ahrend, Bundesgesundheitsminister Strobel, Landesdirektor Klausa, Leiter Jugendamt Köln, Ev. Kirche im Rheinland), in: ALVR 39146.

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meisten Beschwerden vorliegen. Er zweifelte insbesondere die Qualität und Arbeit des Heimleiters an.301 In einem zusammenfassenden Bericht über das Reckestift auf Grund der Reiseberichte 1961–1972, der Strafbuchauszüge 1960-1972 und der Beschwerden 1960–1972 stellte der Bearbeiter des Landesjugendamtes fest, dass bei einer Belegung von 120 Minderjährigen neben dem Heimleiter und dem Erziehungsleiter 15 Erzieher und Helfer und 2 Hausvorsteher sowie an den Arbeitsplätzen 38 Bedienstete arbeiteten. Vor 1965 lag die Zahl der Strafen laut den Strafbuchauszügen unter 100, stieg 1966 auf 161 sowie 1968 auf 248 und wies 1969 217 bzw. 1970 239 auf. Mehr als 50 % der Jugendlichen waren mehrmals eingetragen. Besonders der Arrest als Strafe stieg seit 1965 von unter 10 Fällen bis 1968 auf 78 Fälle. Die Anzahl der im Strafbuch eingetragenen Schläge war besonders in den Jahren 1964 bis 1967 sehr hoch – Höchstzahl 1966: 17 mal. Nach Entweichungen wurde am häufigsten Arrest verhängt. Andere Gründe für Strafen waren Aggression gegen Erzieher, Prügeleien unter Minderjährigen, Arbeitsverweigerung, Trunkenheit, Beleidigung und Gehorsamsverweigerung. Die Anzahl der Beschwerden stieg von jährlich zwei bis fünf in den Jahren 1960 bis 1967, 1968/69 auf je sieben und erreichte 1970 15 Vorwürfe. Beschwerdeführer waren bis 1970 meist die Eltern und ab 1971 vorwiegend die Minderjährigen selbst. Dabei gab es seit 1964 keine Beschwerden mehr über die Ernährung. Es dominierte der persönliche Bereich von Schule, Arbeit und Freizeit, das Zusammenleben mit den Erziehern und mit anderen Jugendlichen und das Heim als „Erziehungsstätte“ an sich. Dabei wurden immer wieder die Fragen Kirchgang, Haartracht, Ausgang, Arbeitszeit, Strafen wie Schläge, mangelnde Mitsprache, Briefkontrolle, Bekleidung, Prügeleien der älteren Jugendlichen mit den jüngeren, übertriebene Forderungen nach Sauberkeit und Ordnung zum Gegenstand. Als Konsequenzen schlug der Bearbeiter die Überprüfung der bisherigen Praxis der Heimbesuche vor. Es sollte regelmäßig eine Jugendsprechstunde mit anschließender Erzieherkonferenz in der Einrichtung erfolgen und die Fort- und Ausbildung der Erzieher unterstützt werden. Doch auch die Frage nach Erziehungsziel und –stil sei zu stellen.302 So hatte ein Praktikant gegenüber dem SSK einen Bericht gegeben, der nicht nur die Schläge von Erzieherseite skandalisierte, sondern auch von einer Anleitung dazu sprach. Das Rechtfertigungsmuster der 301

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Vermerk Dienstaufsichtsbeschwerde des SSK: hier Protokoll über die Besprechung in den Düsselthaler Anstalten v. 23.10.1972, in: ebd. Vermerk Bönsch v. 2.11.1972, in: ebd.

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Erzieher gegenüber von ihm erhobenen Vorwürfen sei gewesen: „Wir sitzen doch alle in einem gleichen Boot, ich kann nicht dafür, daß ihr im Heim seid, Ihr wollt euch doch nur drücken usw.“ Die mangelnde Einhaltung der Jugendarbeitsschutzbestimmungen – es war zu lange gearbeitet worden – wurde eingeräumt und abgestellt. Zum angeblich unzureichenden Beschwerderecht der Minderjährigen wurde auf einen öffentlichen Briefkasten auf dem Gelände verwiesen. Die rigiden Regelungen zum nur am Wochenende erlaubten Ausgang beantwortete man mit einem nun besseren Ausgang auch an Wochentagen. Zudem wurde der Zwang zu einer einheitlichen Kleidung in der geschlossenen „Gruppe 8“ zumindest anerkannt und mit dem Verweis auf die Auflösung dieser Gruppe reagiert. Bei den inkriminierten Züchtigungen, wobei besonders ein Erzieher von verschiedenen ehemaligen Zöglingen erwähnt worden war, wurde auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf verwiesen. Dem Landesjugendamt könne aber keine mangelhafte Aufsichtsführung vorgeworfen werden.303 Fazit Die Düsselthaler Anstalten waren früh in ihrer Erziehungsleitung durch einen Psychologen und eine in den 1950er Jahren zunehmende Heimdifferenzierung professionalisiert. Dies führte allerdings im weiteren Verlauf der Geschichte der Einrichtung zu einem strukturellen Dominanzkonflikt zwischen den psychologischen Erziehungsleitern und dem theologischen Anstaltsleiter. Dieser bezog sich zentral auf Fragen des Umgangs mit den Kindern und Jugendlichen. Religiöse Erziehung spielte dabei eine ordnende und z. T. körperlich züchtigende Rolle und wurde als Domäne der nur theologisch qualifizierten Anstaltsleitung gegen die pädagogische Leitung eingesetzt. Die Janusköpfigkeit des medizinischen und psychologischen Fortschritts wurde am Beispiel des vorgestellten Medikamentenversuchs aus dem Jahr 1966 offenbar. Die Folge war die Zufluchtnahme zu einer Sedierung erziehungsschwieriger Kinder, wodurch der Heimalltag für die Erziehenden erleichtert wurde. Die Kritik der SSK aus Köln an den auch zu Beginn der 1970er Jahre noch rigiden Heimregeln, dem geringen Lohn der Lehrlinge und der demütigenden Behandlung machte zwar die Missstände noch einmal offenbar, doch dauerte es bis in die 1980er Jahre, ehe ein grundlegender Wandel in der Einrichtung stattfand. 303

MAGS an SSK v. 13.8.1973, in: ALVR 39152.

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5.4.3 Die Johannesburg (Niedersachsen) – Ausbildungsmöglichkeiten und „Heimparlament“

In der umfangreichen Studie über die Fürsorgeerziehungseinrichtung Freistatt ist eindrucksvoll beschrieben, welche Bedeutung in den 1950/60er Jahren für die dort untergebrachten Minderjährigen die unter schweren Bedingungen betriebene Moorwirtschaft hatte.304 Auch für die Jugendlichen der im Emsland gelegenen Johannesburg, die sich ebenfalls in der FE betätigte, spielte die Arbeit im Moor bis 1970 eine wichtige Rolle. Auf eine Stufe zu stellen sind deshalb beide Einrichtungen jedoch nicht. Denn die gut 3.300 zwischen 1946 und 1975 hier aufgenommenen männlichen Minderjährigen305 befanden sich in einem FE-Heim, das zwar auf die Beibehaltung wesentlicher, sich auch durch einen engen disziplinarischen Rahmen auszeichnender Traditionen ausgerichtet war, aber nach einer durch die Bewältigung der Kriegsfolgen unter schwierigen Verhältnissen geprägten Phase bereits in den 1950er Jahren neue Wege ging. Die Einrichtung eines „Heimparlaments“ sowie die Ausweitung des Ausbildungsangebots und der Außenfürsorge sind hier als wichtige Maßnahmen zu nennen. Im nachfolgenden Jahrzehnt ging es darum, diese Ansätze etwa durch bauliche Maßnahmen zu festigen und sich den akuten Personalfragen zu stellen. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter der Johannesburg vor allem zwischen den späten 1940er und dem Ende der 1960er Jahre vorgestellt werden, die das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und reformerischen Schritten erkennen lassen. Da den jeweiligen Direktoren für die Entwicklung der Einrichtung in der Regel eine starke Führungsposition zukam, werden nach einer kurzen Skizze der wesentlichen Etappen der Geschichte des Hauses einige Spezifika ihrer Amtszeiten gekennzeichnet. Abriss einer fast 100-jährigen Heim-Geschichte Auf Initiative des Bischofs von Osnabrück wurde 1913 nahe Papenburg im nördlichen Emsland die Johannesburg als Erziehungsanstalt für schulentlassene katholische Jungen errichtet, die bislang im norddeutschen Raum fehlte. Wegen der starken Abgeschiedenheit in der 304 305

Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt. Auswertung der Aufnahmebücher der Johannesburg. Die Einrichtung hat dem Forschenden freundlicherweise ihr Archiv zugänglich gemacht.

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Moorlandschaft erhielt das Haus, das ca. 200 Jungen aufnehmen konnte, auch ohne eine Ummauerung den Charakter einer geschlossenen Einrichtung. 1914 übernahmen die Missionare vom Hl. Herzen Jesu (Hiltrup) die Erziehungsarbeit. 1920 wurde die Ordensgemeinschaft schließlich auch Träger der Einrichtung. Die patriarchalische Leitung durch den Direktor, harte Arbeit in Torf- und Landwirtschaft sowie in der großen und modernen Gärtnerei, aber auch vergleichsweise breit gefächerte Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugendlichen – 1935 gab es 14 Ausbildungsangebote – sowie die religiös-sittliche Formung der Zöglinge durch Belehrung, tägliche Teilnahme am Gottesdienst und durch Gebete prägten für Jahrzehnte den Alltag. Pater Peter Petto306, der 1914 bis 1924 als Assistent sowie 1929 bis 1941 und 1945 als Direktor der Johannesburg fungierte, bemühte sich, durchaus von Fachkreisen anerkannt, um die Schaffung von Heimgemeinschaften in familienähnlicher Form.307 Im Juli 1941 führten Ermittlungen der Gestapo zur Enteignung der Johannesburg, die fortan als Jugendgefängnis diente und während der letzten Kriegstage starke Beschädigungen an Wohn- und Wirtschaftsgebäuden erlitt. Nach Kriegsende wurde die Johannesburg noch ein Jahr zur Unterbringung polnischer Soldaten genutzt. Im Juli 1946 gelangte die Johannesburg durch Beschluss der Militärregierung wieder als Erziehungsanstalt in den Besitz der Herz-JesuMissionare. Gleichzeitig kamen bereits die ersten Zöglinge aus dem Landerziehungsheim Göttingen. Im Frühjahr 1947 lebten noch ca. 35 Jungen auf einer Gruppe auf der Johannesburg308, Ende des Jahres waren es wieder 140 Jungen, obwohl die Wiederaufbau- und Reparaturarbeiten nur sehr schleppend fortschritten. Erst Ende 1951 waren die Maßnahmen weitgehend abgeschlossen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln blieb lange Zeit schwierig, obwohl sie noch intensiver in eigener Regie vorgenommen wurde. Unter solchen Rahmenbedingungen 306

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Der 1886 geborene Peter Petto kam unmittelbar nach seiner Priesterweihe zur Johannesburg. 1924-1929 leitete er das St. Georgsheim im bayerischen Birkeneck, das sich ebenfalls im Rahmen der FE um Jungen bemühte. Seit 1945 war er in der Heimerziehung im Saarland und danach bis zu seinem Tod 1959 als Seelsorger im Luitgardstift in Bad Rippoldsau tätig. Hermann Maaß, Die Burg im Wandel – 50 Jahre Erziehungsheim Johannesburg, in: Jugendwohl 46 (1965), S. 39. Vgl. auch Peter Petto, Die Erziehung fürs Leben, in: Joseph Beeking (Hg.), Führerkursus für Katholische Caritative Anstaltserziehung, Freiburg 1925, S. 45-47; ders., Die Heimgemeinschaft, Börgermoor 1936. Interview Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript S. 9.

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gestalteten sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Jugendlichen auf der Johannesburg äußerst einfach. Aber auch in der Folgezeit blieben die finanzielle Lage und damit die Gestaltungsspielräume gering. So konnten sich die Jungen nach wie vor nur mit kaltem Wasser waschen, mussten die ca. 20 bis 25 Jungen auf einer der sieben bis acht Gruppen mit nur drei Toiletten auskommen. Erst als im Lauf der 1960er Jahre der Pflegesatz kostendeckend wurde, konnten wirkliche bauliche Verbesserungen in Angriff genommen werden, indem etwa 1962 in den Abteilungen neue Wasch- und Toilettenanlagen und im Keller neue Duschräume eingebaut wurden. Allerdings zeichnete sich nun immer deutlicher ab, dass die Johannesburg schon wenige Jahre später einer Krise entgegen ging. Denn erneute finanzielle Engpässe, Leitungsprobleme, die Folgen der angespannten personellen Situation und die immer stärker zu Tage tretenden veränderten Ansprüche der Jugendlichen wirkten sich zunehmend negativ aus. Anfang der 1970er Jahre beschloss die neue Leitung der Johannesburg, nicht nur die Abschaffung der Aufnahmegruppe, der Torfwirtschaft und des „Heimparlaments“, sondern, vor dem Hintergrund der bevorstehenden Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre und der deshalb befürchteten Reduzierung von Einweisungen, die Aufnahme von schulpflichtigen Jungen. Damit verbunden war die Errichtung einer staatlich anerkannten heimeigenen Schule, die im Sommer 1973 mit dem Unterricht begann und seit Anfang der 1980er Jahre auch externe Jugendliche aufnahm. Zudem kam es zur Einrichtung von Außenwohngruppen. In den 1990er Jahren entwickelte sich die Johannesburg zu einem wichtigen Anbieter in den Bereichen Ausbildung und Wohnen benachteiligter Jugendlicher in der Region – 2009 wurden ca. 600 Jungen und Mädchen von etwa 260 Mitarbeitern betreut.309 Pater Jakob van der Zanden (1945–1952)310 Pater van der Zandens Amtszeit stand weitgehend im Zeichen des von ihm mit Kosten von 500.000 DM bezifferten Wiederaufbaus und der 309

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Peter Raske, Von der Anstaltserziehung zur Gruppenpädagogik – 75 Jahre Jugendheim Johannesburg, in: Völler/Hügle (Hg.), 75 Jahre Johannesburg, S. 51-103; Maaß, Burg im Wandel; Mitteilung der Johannesburg GmbH. Jakob van der Zanden wurde 1900 in Essen-Rellinghausen geboren und kam 1927 nach seiner Priesterweihe zur Johannesburg, wo er neben der Erziehungsarbeit auch in der Seelsorge tätig war. 1934 ging er als Seelsorger nach Landsberg/Warthe und 1938 ins westfälische Hamm. Nach der Auflösung des dortigen Klosters durch die

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Neuausstattung der Johannesburg311, die sich wegen fehlender Baustoffe und unzureichender finanzielle Mittel auf Grund eines zu geringen Pflegesatzes – 1949 betrug dieser 2,80 DM und 1952 3,40 DM – schwierig gestalteten. Noch 1951 wurde im Bericht über eine Besichtigung des Heims von Vertretern des LJA Hannover und der Regierungsbehörde vermerkt, dass „der im Verpflegungssatz enthaltene Betrag für die Beschaffung der Kleidung bei den heutigen Textilpreisen bei weitem nicht“ ausreiche.312 Josef Dorsten, der im März 1947 wegen vermeintlicher Verwahrlosung als 14-jähriger Junge von Lingen aus zur Johannesburg überwiesen wurde und zwei Jahre dort verbrachte, ehe er bis zur Entlassung aus der FE bei verschiedenen Bauern in Dienststellen war, erinnerte sich noch gut an die sehr einfachen Verhältnisse. So bestanden die Betten aus Holzkisten, trugen die Jungen oft nur unzureichende Kleidung, gab es zum Frühstück pappiges Brot mit Kartoffelbrei und zum Mittagessen „Pamps“ – „alles durcheinander gekocht“.313 Als im Sommer 1949 Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände des Regierungsbezirks Osnabrück die Johannesburg im Rahmen einer Tagung besuchten, waren sie offenbar derart über die dort angetroffenen Verhältnisse schockiert, dass sie eine Eingabe an den Niedersächsischen Landtag machten und darüber die regionalen politischen Vertreter und Behören sowie die Ordensleitung in Hiltrup in Kenntnis setzten. Als festgestellte Missstände, die es zu überprüfen und abzustellen galt, hoben sie die äußerst zerschlissene und unzureichende Kleidung der Jugendlichen, den schlechten Zustand der LehrWerkstätten, der eine erfolgreiche Ausbildung nicht gewährleisten könne, das geringe Entgelt für die Arbeit im Moor und die im trostlosen Aufenthaltsraum der Jungen vorgefundene Unordnung hervor. Zusammenfassend erklärten sie kombiniert mit der Frage nach einer etwai-

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Gestapo fand er in einer Nachbar-Pfarrei einen neuen Wirkungskreis. Ab 1952 war er Seelsorger im Erziehungsheim St. Ansgar in Delmenhorst-Adelheide, 1955–1966 Direktor des St. Josefshauses in Wettringen, danach bis zu seinem Ruhestand 1976 im St.-Ansgar-Heim in Hildesheim (seit 1970 als Leiter). Er starb 1978 in Münster. Vgl. Tätigkeitsbericht van der Zandens zum Bewerbungsschreiben an das Generalvikariat in Münster v. 15.8.1955, in: BAM, GV NA, A 101-370; Völler/Hügle (Hg.), 75 Jahre Johannesburg, S. 136. Kurze Notizen P. van der Zandens über die Entwicklung seiner Amtszeit v. 29.7.1952, in: Archiv Johannesburg, Unterlagen Raske. Bericht über die Besichtigung v. 27./28.3.1951, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385. Interview Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript S. 4f.

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gen Vernachlässigung der Dienstaufsichtspflicht, dass „diese lieblosen Verhältnisse“, die „nach Berichten von Zöglingen und der Bestätigung des Bezirksjugendpflegers in den anderen Anstalten des Landes noch weit schlechter sein sollen – für das Gegenteil von Fürsorge stehen und nicht dazu geeignet [sind], die Jungen wieder für die menschliche Gemeinschaft zurückzugewinnen“.314 Das LJA Hannover als für das Wohl der Jungen zuständige Behörde wies in seinen Visitationsberichten dieser Jahre jedoch auf die äußerst schwierige Ausgangslage des Hauses durch die Kriegsfolgen hin, wobei es von allen FE-Heimen des Bezirks am schwersten in Mitleidenschaft gezogen worden war.315 „Mit einer fast vorbildlichen Opferbereitschaft“ hätten sich „die Ordensleute an den Aufbau gemacht, was auch von anderen Stellen schon anerkannt wurde“. Die von der Arbeitsgemeinschaft in der Eingabe beschriebenen Verhältnisse seien „kein Beweis für die Mangelhaftigkeit der Johannesburg. Die Heimleitung hat keine leichte Aufgabe, der vielen Reparaturen mit den vorhandenen Mitteln Herr zu werden. Es ist nicht zu verkennen, dass ihr dieses aber im Verlauf der Zeit noch gelingt.“316 Vermutlich trug Direktor van der Zanden diesem Vorgang in seinen kurzen Entwicklungsnotizen Rechnung, als er von einem „Angriff des Osnabrücker Jugendamts sprach, der anfangs viel Staub aufgewirbelt hat“. Im Rückblick des Jahres 1952 hatten sich diese Vorkommnisse jedoch positiv für die Beschaffung von Geldmitteln zur Beseitigung der Unzulänglichkeiten ausgewirkt, wenn auch „nur ein Zuschuß von rd. 40.000,00 DM erreicht“ wurde.317 Dennoch herrschten in dieser Phase auch nach Aussage des Nachfolgers Direktor van der Zandens auf der Johannesburg äußerst unruhige Zustände, gab es häufig Auflehnung von Jungen und Schlägereien untereinander. Entweichungen fanden häufig statt, wobei den aufgegriffenen Jungen in der Regel nach der Rückkehr die Haare geschoren wurden. Es kam offenbar sogar vor, dass Entwichene erfroren gefunden wurden.318 Da die Werkstattgebäude erst nach und nach wieder in Be314

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Eingabe v. 14.7.1949, in: StaatsA Osnabrück, Rep. 430 Dez. 400 Nr. 492; vgl. auch Kap. 5.2. Bericht über die Besichtigung v. 5.-7.2.1953, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385. Bericht über die Besichtigung v. 7.12.1949, in: ebd. Kurze Notizen P. van der Zandens über die Entwicklung seiner Amtszeit v. 29.7.1952, in: Archiv Johannesburg, Unterlagen Raske. Zusammenfassung eines Gesprächs mit P. Güldenberg v. 3.12.1987, in: ebd., Ordner Zeitzeugen.

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trieb genommen werden konnten und zudem zur Gewährleistung der Eigenversorgung großes Gewicht auf die Land- und Torfwirtschaft gelegt wurde, waren die Arbeitsbedingungen für die Jugendlichen durchweg hart und eintönig. Von Seiten der Erzieher, deren Dienst sich auf Grund der auf der Johannesburg herrschenden Bedingungen sehr schwierig gestaltete, kam es auch zu körperlicher Züchtigung, wobei einige auch mit Knüppeln und dem Rohrstock geschlagen haben. Josef Dorsten berichtete über seine eigenen Erfahrungen, dass Ohrfeigen zwar häufiger vorkamen, aber Prügel „nicht gang und gäbe“ gewesen sei.319 Er erinnerte sich an drei Situationen, in denen er selbst betroffen war. Einmal hatte ein Ordensbruder wegen des unerlaubten Besitzes von Tabakblättern seinen „Knüppel, diesen Stock, […] auf meinem Puckel kaputtgehauen. Er hatte nachher nur noch so ein Stück in der Hand. Ja, wenn ich nicht so jung gewesen wäre, ich glaube, der hätte mir als Älterer […] die Schulterblätter kaputtgehauen.“320 Ein anderes Mal schrieb er einen Brief an seine Mutter, in dem er sich über die schlechte Kleidung beschwerte, der aber in der Briefkontrolle auffiel. Daraufhin verpasste ihm Direktor van der Zanden, der ansonsten für die Probleme der Jungen durchaus ein Ohr besaß, nach einer „Standpauke […] eine Tracht Prügel“. Schließlich setzte ein Pater bei ihm und seinem Freund massiv und „ganz genüsslich“ den Rohrstock ein, weil sie sich gegenüber einem Bauern, dem sie bei der Kartoffelernte halfen, schlecht über die auf der Johannesburg herrschenden Verhältnisse geäußert hatten.321 Ein nach der Entweichung von der Polizei wieder aufgegriffener Junge gab zu Protokoll, dass die Jugendlichen der Johannesburg im Torf sehr schwer arbeiten müssten, die Erziehung „äußerst streng gehalten“ sei und es „viele Stockschläge“ geben würde.322 Isolierzimmer waren ebenfalls vorhanden. Der Bericht des LJA über die Anfang 1952 erfolgte Visitation der Johannesburg vermerkte in diesem Zusammenhang das Einsehen des Strafbuchs und die „eingehende Aussprache über die einzelnen Fälle“, die als „in Ordnung befunden“ wurden.323 Darüber hinaus mussten zumindest in der Zeit, als Josef Dorsten auf der Johannesburg untergebracht war, er und andere Jugendliche sexuel319 320 321 322 323

Interview Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript S. 11. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Protokoll v. 27.2.1950, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 440 Akz. 226A Nr. 309. Bericht über die Besichtigung v. 13./14.2.1952, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385.

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len Missbrauch durch einen Herz-Jesu-Missionar erleiden. Dieser fing die Jungen nachts ab, wenn sie von der Toilette kamen, und lockte sie unter einem Vorwand in sein Schlafzimmer. Als diese Vorgänge dann im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen der Jungen untereinander dem Direktor bekannt wurden, versetzte die Ordensleitung den Erzieher nach den Erinnerungen Josef Dorstens umgehend in eine andere Ordensniederlassung, in der ebenfalls Jugendliche lebten. Zu einer Anzeige und polizeilichen Ermittlungen kam es nicht.324 Neben diesen negativen und belastenden Ereignissen machte Josef Dorsten hinsichtlich der Patres und Brüder auch positive Erfahrungen. So sorgte ein Bruder, dem er an einem für die Jungen arbeitsfreien Samstagnachmittag bei der Feldarbeit geholfen hatte, des Öfteren dafür, dass er eine zusätzliche Mahlzeit erhielt oder eine leichtere Arbeit zugewiesen bekam. Trotz der schwierigen Zeiten wurde zudem versucht, den Jungen etwa durch eine Bücherei oder sonntägliche Ausflüge zum Börgerwald eine gewisse Freizeitgestaltung zu ermöglichen. Und auch das wöchentliche Briefeschreiben an die Angehörigen zählte schon zu dieser Zeit zu den wichtigen Anliegen des Hauses.325 Der Bericht über ein 1951 auf der Johannesburg geleistetes Praktikum, den ein am Sozialpädagogischen Institut in Hamburg zum Wohlfahrtspfleger ausgebildeter und dann bis 1963 als Leiter des Erziehungsbüros der Johannesburg fungierender Herz-Jesu-Missionar verfasst hat, vermittelt ein gutes Bild über die in diesen Jahren bestehenden Strukturen und die Innensicht des Hauses als „Fürsorgeerziehungsheim für schulentlassene, katholische Jugendliche. Es ist das einzigste katholische Heim dieser Art in Niedersachsen und darüber hinaus im nördlichen Teil Deutschlands“.326 Als eine Einrichtung der geschlossenen Fürsorge trug es dennoch „einen offenen Charakter. Geschlossene Abteilungen sind nicht vorhanden, obwohl es sich bei den hier betreuten Jugendlichen nicht nur um verwahrloste, sondern um schwer- und teilweise sogar schwersterziehbare handelt, die durch eine konsequente Heimerziehung im Rahmen des Möglichen wieder zu ordentlichen und wertvollen Gliedern der menschlichen Gesellschaft herangebildet werden sollen.“327 Als Ausgangspunkt und Basis aller pädagogischen Bemühungen der Johannesburg wurde die religiöse Erziehung betrach324 325 326

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Interview Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript S. 5 u. 12f. Ebd., S. 3, 16f. Bericht über mein Probejahr von Herbert Mayrhofer v. 1952, in: Archiv Johannesburg, Ordner Veröffentlichungen, S. 2. Ebd., S. 2f.

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tet, die den „einheitlichen Charakter“ und die „innere Geschlossenheit“ des Heims garantierte. Zudem wären es letztlich die „religiösen Kräfte, die oft am nachhaltigsten all die seelischen Schäden und Wunden zu heilen vermögen und das sittliche Wertgefühl erstarken lassen“.328 Eine genauere Betrachtung der 104 Zugänge des Jahres 1951 zeigte, dass weit mehr als die Hälfte von ihnen 17 oder 18 Jahre alt war. Nach Einschätzung des Verfassers kamen diese oftmals zu spät in ein Heim, da eine pädagogische Beeinflussung nur noch schwer möglich erschien. 61 Jungen hatten zuvor bereits mindestens ein Heim durchlaufen. Vor allem wegen der konfessionellen Ausnahmestellung der Johannesburg in der Region und der zahlreichen beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten des Heims erfolgten viele Überweisungen erziehungsschwieriger Jugendlicher auch durch verschiedene süd- und südwestdeutsche Fürsorgeerziehungsbehörden. So waren der Johannesburg 1951 alleine vom LJA Wiesbaden 14 Jugendliche wegen besonderer Erziehungsschwierigkeiten überwiesen. Insgesamt gehörten bei 170 auf 7 Gruppen verteilten Plätzen 6 Patres, 17 Laienbrüder, 11 Schwestern, 2 weltliche Erzieher und 14 Angestellte zum Personal. Zwar bliebe Heimerziehung nach Aussage des Praktikumsberichts immer eine Ersatzerziehung, aber durch die spezifischen Gruppen-Strukturen könnten vor allem „die Tugenden eines echten Familienlebens“ wie Ordnung, Sauberkeit, Vertrauen und soziale Komponenten geweckt und gefördert werden. Meist ein Pater lebte „wie ein Familienvater unter seinen Jungen“ und fungierte als Abteilungsleiter, der von einen ebenfalls auf der Gruppe wohnendem Erzieher, der in der Regel Laienbruder und Arbeitserzieher war, unterstützt wurde. Beide sollten jederzeit für die Jugendlichen ansprechbar sein. „Frei von allen persönlichen Bindungen“ könnten sich die in der Erziehung tätigen Patres und Brüder der „grossen, caritativen Aufgabe“ an einer „notleidenden Jugend“ widmen. „Durch die persönliche Begegnung von Mensch zu Mensch, durch Güte und eine verständnisvolle Bereitschaft des Helfenwollens, aber auch durch eine straffe und konsequente Führung soll den Jugendlichen der Weg in [ein] besseres Leben gezeigt und zu seinem Ziel hingeleitet werden.“329 Schließlich wies der Verfasser des Praktikumsberichts dem Direktor der Johannesburg die entscheidende Rolle für die Erziehungsarbeit des Heims zu. Er entschied alleinverantwortlich über die Gruppenzuweisung, 328 329

Ebd., S. 14. Ebd., S. 2, 5-7.

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die Beurlaubung, die Berufsausbildung der Jugendlichen sowie über eine etwaige Übergabe in eine Dienststelle außerhalb der Einrichtung und wurde so zur maßgeblichen Instanz für die wesentlichen Weichenstellungen im Erziehungsverlauf der Jungen. Dabei sollte er eine Vertrauensperson darstellen, die den Jungen in allen Lebensfragen als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Inwieweit Pater van der Zanden diesem Ideal wirklich nahe kam, ist nur noch schwer nachzuvollziehen, aber vor dem Hintergrund der bis Anfang der 1950er Jahre angespannten Verhältnisse auf der Johannesburg eher zweifelhaft. Dem Vertreter des LJA Hannover, der die Johannesburg Anfang 1952 besuchte, fiel jedoch das offene und ungezwungene Verhalten der Jugendlichen gegenüber dem Direktor auf, der wiederum deren Biografie so genau kannte, „dass bei den Besprechungen keine Heimakten hinzugezogen werden mussten“.330 Die Erziehungsarbeit Direktor van der Zandens auf der Johannesburg wurde offenbar nicht nur von dieser Seite positiv eingeschätzt. So führte er als katholischer Vertreter der Arbeitsgemeinschaft konfessioneller Erziehungsheime in Niedersachsen Verhandlungen mit den staatlichen Behörden und hielt zudem auf Tagungen Vorträge.331 Und immerhin verfasste er in der ersten Hälfte der 1950er Jahre nach Anfrage des für die Heimerziehung zuständigen Referenten beim Deutschen Caritasverband, Gustav von Mann, einen Beitrag für das Handbuch der Heimerziehung über die religiöse Erziehung in FE-Heimen für schulentlassene Jungen.332 In diesen Ausführungen legte er großen Wert auf das Moment der Freiwilligkeit bei der religiösen Erziehung. Auf der Johannesburg selbst bestand nach Auskunft eines Visitationsberichts für die Jugendlichen die Pflicht zur Teilnahme am Sonntagsgottesdienst, die Teilnahme an den zweimal wöchentlich gefeierten Werktagsmessen war freiwillig. Die Beichte der Jungen nahmen auswärtige Geistliche ab.333 Zudem vermerkte der Visitationsbericht des LJA des Jahres 1952 für die Johannesburg eine durchschnittlich zweijährige Verweildauer der Jugendlichen, bei einer Reihe von ihnen durch die Lehrausbildung aber 330

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Bericht über die Besichtigung v. 13./14.2.1952, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385. Tätigkeitsbericht van der Zandens zum Bewerbungsschreiben an das Generalvikariat in Münster v. 15.8.1955, in: BAM, GV NA, A 101-370; vgl. auch Jakob v. d. Zanden, Der Mensch in unserer Fürsorge, in: Bewährungshilfe – Arbeitstagung des Vereins Bewährungshilfe e.V. v. 3.-15.3.1952 in Bonn, Bonn 1952, S. 44-62. Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 726-739. Bericht über die Besichtigung v. 13./14.2.1952, StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385.

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auch von drei Jahren. Neben einer Aufnahmestation, die alle Neulinge zwei bis drei Monate zu durchlaufen hatten, und einer Gruppe der 14bis 16-jährigen waren die anderen Gruppen nach dem Entwicklungsstand und den Bindungen der Jugendlichen, die meist einen „aufgeschlossenen, frischen Eindruck“ machten, zusammengesetzt. Zweimal im Jahr stattfindende psychiatrische Untersuchungen dienten einer differenzierteren Beurteilung der Jungen. Wenn auch die im Sommer veranstalteten Zeltlager an der Ems für diejenigen Jugendlichen gedacht waren, die ihren Urlaub nicht bei Angehörigen verbringen konnten, und auch andere Bemühungen einen gewissen „Kontakt mit der Aussenwelt“ herstellten, war „die Abgeschiedenheit des Klosters“ groß, wobei Entweichungen nach Aussage des Berichts relativ selten und meist nur in der ersten Zeit des Aufenthalts vorkämen. Ob sich dies „als ‚Weltfremdheit’“ auswirken würde, musste die Zukunft zeigen.334 Pater Carl Güldenberg (1952–1960)335 Als Pater Güldenberg 1952 die Leitung der Johannesburg übernahm, dürfte er innerhalb der Heimerziehung in diesem Amt mit seinem jungen Alter von 37 Jahren eine Ausnahme dargestellt haben. Seine Amtszeit kennzeichneten moderne reformerische Ansätze, sodass er 1957 von einem Mitarbeiter der Hamburger Jugendbehörde als „Initiator der zum Teil revolutionären Umstellungen“ bezeichnet wurde.336 Besonders die Einführung eines „Heimparlaments“ für die Jungen der Johannesburg stach hier hervor. Ausgangspunkt war für Pater Güldenberg die Beobachtung, dass durch das Dritte Reich das Ordnungsgefüge letztlich zerbrochen sowie die Nachkriegsordnung Anfang der 1950er Jahre immer noch fragwürdig und nicht endgültig war. Daher könnten die Jugendlichen nicht mehr einfach in ein an 334 335

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Ebd. Carl Güldenberg wurde 1915 in Hamburg geboren und nach seiner Priesterweihe 1941 zum Kriegsdienst eingezogen, den er als Sanitäter an der Ostfront ableistete. Bis 1948 war er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr betätigte er sich als Redakteur der Hiltruper Monatshefte und als Volksmissionar. Letzteres zählte dann 1960-1964 erneut zu seinen Aufgaben, ehe er 1964 Spiritual am Bischöflichen Knabenkonvikt und am Priesterseminar in Speyer sowie seit 1969 Krankenhaus-Geistlicher und Pfarr-Seelsorger an wechselnden Orten wurde. Seit 1988 im Ruhestand, lebte er zunächst als Seelsorger im Schwesternheim St. Elisabeth in Balve und dann bis zu seinem Tod 2002 im Ordenshaus in Oeventrop. (Vgl. Völler/Hügle (Hg.), 75 Jahre, S. 137; Hiltruper Monatshefte, Heft 4, Juni 2002, S. 82). Aktenvermerk v. 21.11.1957, in: Archiv Johannesburg, Ordner LJA Hamburg.

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Abb. 8: Direktor Pater Kaperschmidt mit Mitgliedern des „Heimparlaments“ der Johannesburg 1969

sich notwendiges Ordnungssystem hineingezwungen werden, sondern müssten Entscheidungen mit tragen. Daher solle jeder Jugendliche „befähigt werden, die Ordnung, an der er zerbrach, sich selber in freier Entscheidung zu erarbeiten und diese auch in der Übernahme von Pflichten und echten Freiheiten selber darzustellen, zu hüten und öffentlich zu vertreten.“337 Zudem seien die Jugendlichen nur zu erreichen, wenn man sie sich zu wirklichen Partnern mache. „Von echter Partnerschaft ist hier die Rede, nicht von fader Gleichmacherei, in der der Erwachsene sich seiner Autorität begibt und seines größeren Wissens um die Zusammenhänge.“338 Die Umsetzung dieser Bestrebungen fand auf der Johannesburg derart statt, dass jede Wohngruppe Vertrauensleute bestimmte, die wiederum alle zwei Monate in der Aula vor der ganzen Heimgemeinschaft einen „Ministerpräsidenten“ wählten. Dieser benannte „Minister“ für die verschiedenen Belange der Jugendlichen, die von der Gemeinschaft mit absoluter Mehrheit bestätigt werden mussten. Dieses „Heimparlament“ tagte jeden Sonntag. Bei allen Beschlüssen besaß der Heimleiter ein 337

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Probleme des Übergangs ins freie Leben aus der Sicht der Heime, Referat P. Güldenbergs auf einer Arbeitstagung in Clausthal-Zellerfeld am 24.10.1956, S. 2-7. Carl Güldenberg, Neue Wege der Heimerziehung aus der Sicht der Krisen unserer Zeit. Vortrag auf der Arbeitstagung d. Arbeitsgemeinschaft der Jugendämter d. Länder Niedersachsen und Bremen am 24./25.6.1957 in Oldenburg/Oldb, S. 38.

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Vetorecht, das jedoch möglichst selten angewandt werden sollte. Pater Güldenberg beschrieb das „Heimparlament“, das bis 1970 bestand, als Form gelenkter Selbstverwaltung.339 Für Walter Bertelt, der 1940 wenige Monate nach seiner Geburt zu Pflegeltern kam und 1956 wegen häufiger Auseinandersetzung mit seinem Pflegevater zur Johannesburg überwiesen wurde, konnte das Parlament zwar das Heim nicht verändern, aber doch „mit viel Geduld“ wie im heutigen Bundestag „gewisse Erleichterungen“ schaffen. Als „Wirtschaftsminister“ war er hier ebenfalls beteiligt.340 Die Einführung des „Heimparlaments“ bedeutete jedoch nicht, dass sich die Johannesburg völlig von ihren traditionellen Grundsätzen der Erziehungspraxis löste. Dies zeigte sich auch in der 1953 von Pater Güldenberg verfassten Heimordnung, die auf der Grundlage der pädagogischen Linie Pater Pettos neuere pädagogische Erkenntnisse berücksichtigte. Sie machte strikte Vorgaben hinsichtlich einer gerechten und mitfühlenden Verhaltensweise der Erzieher gegenüber den Zöglingen im Gruppendienst und bei der Arbeit, aber auch des disziplinarischen Rahmens für die Jugendlichen. Vermutlich wollte der Direktor mit diesen Ausführungen sowohl seinen Vorstellungen über die Erziehungsarbeit auf der Johannesburg Ausdruck verleihen als auch den Forderungen der vom niedersächsischen Kultusministerium hinsichtlich des Züchtigungsrechts in Fürsorgeerziehungsheimen 1951/52 erlassenen Bestimmungen Rechnung tragen, die u.a. körperliche Züchtigungen nur noch in Ausnahmefällen erlaubten. Dies war den Erziehern in regelmäßigen Abständen vor Augen zu führen und wenn möglich in den Heimordnungen zu beachten.341 Gemäß der Spiritualität der Herz-Jesu-Missionare sollte das Handeln der Erzieher gegenüber den hilfsbedürftigen Jugendlichen Ehrfurcht und Hilfsbereitschaft bestimmen, da in ihnen Brüder Jesu zu sehen seien, die er „um den Kaufpreis seines kostbaren Blutes erlöste und zu ewiger Seligkeit bestimmte“. Damit unvereinbar war ein Agieren „aus Selbstsucht und Bequemlichkeit, aus Herrschsucht und Unbeherrschtheit (Rachsucht), gekränktem Ehrgefühl und Zorn“. Durchdrungen von der Überzeugung, dass „die Gnade alles vermag und kein Jugendlicher aufgegeben zu werden braucht, solange nicht alles ver339

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Ebd., S. 6-9; Zusammenfassung eines Gesprächs mit P. Güldenberg v. 3.12.1987, in: Archiv Johannesburg, Ordner Zeitzeugen. Interview Walter Bertelt (14.6.2010), Transkript S. 13. Erlass v. 25.7.1951 und Ergänzungen v. 9.4.1952, in: HauptstaatsA Hannover, Nds. 120 Hannover Acc. 34/93 Nr. 5; vgl. auch Kap. 3.5.

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sucht wurde“, wären Misserfolge als zusätzlicher Ansporn zu verstehen.342 Auf der anderen Seite hatten die Erzieher zu verinnerlichen, dass „ein großer Teil der Erziehungsarbeit im Heim darin besteht, das Böse durch Aufsicht und straffe Ordnung zu verhindern. […] Ja gerade die aufreibende Kleinarbeit, die die tägliche Gewöhnung der Jugendlichen an Ordnung und Pünktlichkeit, an Sauberkeit und Disziplin mit sich bringt, ist für die Erziehung verwahrloster Jungen die Grundlage und der Ansatzpunkt zu einer individuellen, charakterlichen Erziehung.“343 Tägliche Aufsicht und ständige Kontrolle waren somit weiterhin Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit auf der Johannesburg. Hierzu sollten Belohnung und Bestrafung überwiegend in Form von Anerkennung oder Zurückweisung eingesetzt werden, die klar umrissen und in der Regel dem Heimleiter, seinem Stellvertreter oder den Gruppenleitern vorbehalten waren. Ausdrücklich verbot die Hausordnung den Erziehern die körperliche Züchtigung, wobei auch „Backpfeifen“ dem Erziehungsleiter gemeldet werden sollten. „Wer seine Autorität nur durch Unbeherrschtheit, durch Schreien und Schlagen zu retten sucht, ist als Erzieher nicht am rechten Platz.“344 Der von Pater Güldenberg konstatierten Auflösung jeglicher Ordnung mit einer festzustellenden großen Bindungslosigkeit setzte er die Gewissheit entgegen, dass „in unserer Jugend […] die besten Kräfte [schlummern], sie ist zum Großteil echter Besinnung, echter Umkehr, echter Reue fähig.“345 Als einen wesentlichen Ansatzpunkt sah er die sexuelle Erziehung, da die vorherrschende „Nivellierung des Sexus“ eine zerstörerische Wirkung „für das Jugendleben, für die spätere Ehe, für echte Liebe und für das ganze Volk“ habe. Immerhin seien „an einem Stichtag“ auf der Johannesburg von 170 Jugendlichen „85, das sind 50 %, von homosexuellen Elementen verseucht“. Zudem hätten „35 von 80 Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren – auch fast die Hälfte – schon mit 14 oder 15 Jahren regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt, oft mit bis zu 25 und mehr Personen. Sie gehörten zum Großteil auch zu denen, die wahllos sich homosexuell und auch normalgeschlechtlich betätigen.“ Mittlerweile lägen die Verhältnisse noch ungünstiger. Im Zuge einer „sauberen Aufklärung“ müssten „die Fragen des Geschlechtsle342

343 344 345

Heimordnung für die Mitarbeiter des Jugendheimes Kloster Johannesburg v. 20.3.1953, in: Archiv Johannesburg, Ordner Dokumente aus dem Heimalltag, S. 6f. Ebd., S. 8f. Ebd., S.14-16. Güldenberg, Neue Wege der Heimerziehung, S. 42.

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bens, der Liebe und Ehe diskret behandelt werden. Der soziale Charakter und die Folgen des Missbrauchs für die kommende Generation müssen erklärt werden. Gerade die Erkenntnisse der Erbbiologie bieten uns wertvolle Mittel, die Bereitschaft zu persönlicher Reinheit und zur Enthaltsamkeit vom Geschlechtsverkehr vor der Ehe zu wecken.“346 Auch hier war also das Erziehungspersonal besonders gefordert, zu dem 1956 bei ca. 190 zu betreuenden Jugendlichen 37 Kräfte zählten – 5 Patres, 16 Laienbrüder, 12 verheiratete Arbeitserzieher und 4 Schneidergesellinnen. Bei den Patres galt die akademische Bildung als Theologe mit einigen Zusatzsemestern etwa in systematischer oder experimenteller Psychologie, Ethik, Katechetik oder in einem Fall in Pädagogik als wesentliche Befähigung. Pater Güldenberg sah die Johannesburg auf dieser Basis in einer traditionell führenden Position im Bereich der Heimerziehung sowie zudem in der Lage, die eigenen Erziehungskräfte selbst auszubilden und damit eine einheitliche Ausrichtung zu gewährleisten. Bei Patres und Brüdern würden nur interessierte und geeignete Personen herangezogen, die eine längere Probezeit zu durchlaufen hatten und bei auftretenden Mängeln umgehend in ein anderes Arbeitsfeld kämen. Der Direktor betonte darüber hinaus, dass von den Brüdern immerhin elf noch durch Pater Petto geschult worden seien.347 Inwieweit die Erzieher in der Lage waren, die in der Heimordnung beschriebenen Grundsätze in der Praxis umzusetzen, lässt sich nur schwer fassen und dürfte neben den jeweiligen Fähigkeiten zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch von der jeweiligen Zusammensetzung der Jugendlichen in den Wohngruppen wie in den Arbeits- und Lehrbereichen abhängig gewesen sein. Vereinzelte Hinweise in den Fall-Akten legen den Schluss nahe, dass, durchaus offen und von Pater Güldenberg mit getragen, Ohrfeigen als Erziehungsmittel eingesetzt wurden. So berichtete der Direktor in einem Schreiben an die Mutter eines Jungen, dessen Erziehung Schwierigkeiten bereitete, dass der an sich erfahrene Gruppenerzieher trotz Ermahnungen und „Backpfeifen“ diesem nicht die elementarsten Grundlagen an Sauberkeit und Ordnung nahe bringen konnte.348 Walter Bertelt erinnerte sich zudem an Schläge, die er von Pater Güldenberg, den er als strengen, aber gerechten Direktor bezeichnete, erhielt, weil er sich in einem vom Direktor kontrollier346 347

348

Ebd., S. 44f. P. Güldenberg an das LJA Hannover v. 3.4.1956, in: Archiv Johannesburg, Ordner Pflegesatz 1947-1960. Schreiben v. 18.8.1957, in: ebd., Fall-Akte 40/59.

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ten Brief über körperliche Züchtigungen beschwert hatte. Hier tat sich besonders der Arbeitserzieher im Torfbetrieb hervor. Er trat so auf, als sei er gleich aus dem ehemals direkt an die Ländereien der Johannesburg grenzendem KZ Börgermoor versetzt worden. „Er war auch so gekleidet, mit Hosen, Stiefel, Schirmmütze erschien er jeden Tag, Knüppel in der Hand.“349 Die „Besinnungsstube“ war dagegen zu Beginn der 1950er Jahre abgeschafft worden.350 Unter Pater Güldenberg wuchs die Zahl der Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugendlichen nochmals um zwei auf 17 eigene Lehrwerkstätten an, wobei keine offiziellen Lehrverträge abgeschlossen wurden. Man ging davon aus, dass ein ähnliches Arbeitsverhältnis wie bei einem im väterlichen Betrieb lernenden Sohn bestehen würde. Per Sonderregelung wurde das Lehrverhältnis lediglich in der Lehrlingsstammrolle bei der Handwerkskammer und der Innung angemeldet und als ordnungsgemäße Lehre legitimiert. So war diese nach Meinung Pater Güldenbergs wie auch der beteiligten Institutionen auf die besondere Ausbildungssituation im Heim zugeschnitten, die auf die spezifischen pädagogischen Erfordernisse bei den einzelnen Jugendlichen einschließlich des häufigen Wechselns der Lehrstelle ausgerichtet werden musste. Sozialbeiträge wurden nicht gezahlt, da wegen des von öffentlicher Seite gezahlten Pflegegeldes keine Versicherungspflicht bestand. Pater Güldenberg betonte, dass er eine andere Regelung der Landesjugendämter oder des Bundes bevorzugen würde. Denn des Öfteren gab es offenbar mit Arbeitsämtern Probleme, die den ehemaligen Jugendlichen der Johannesburg wegen fehlender Beitragszahlungen kein Arbeitslosengeld zugestehen konnten.351 Pater Güldenbergs Erziehungskonzept umfasste auch die Intensivierung der Außenfürsorge. Anfang 1952 befanden sich neben den fast 170 Jugendlichen im Heim 30 Jungen der Johannesburg in einer Dienststelle. Im Lauf der nachfolgenden Jahre wuchs diese Zahl nach Aussage von Pater Güldenberg auf ca. 300 Minderjährige an.352 Die Jugendlichen kamen in der Regel in kleine Handwerksbetriebe – teilweise auch als Lehrlinge – und zunächst nur zu einem geringen Teil zu Landwirten, 349 350

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Interview Walter Bertelt (14.6.2010), Transkript S. 11. Bericht über die Besichtigung des LJA v. 5.-7.2.1953, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385. P. Güldenberg an den Vater eines auf der Johannesburg untergebrachten Jungen v. 2.6.1958, in: Archiv Johannesburg, Fall-Akte 40/57. Zusammenfassung eines Gesprächs mit P. Güldenberg v. 3.12.1987, in: ebd., Ordner Zeitzeugen.

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wo sie weiterhin durch die Johannesburg betreut wurden. Da jedoch potentielle Dienststellen im direkten Umfeld rar waren, erweiterte sich der räumliche Radius dieser Arbeitsstellen verstärkt bis ins Münsterland, wo auch das Hiltruper Provinzhaus der Herz-Jesu-Missionare lag. Um auch hier eine regelmäßige Betreuung der Jugendlichen zu gewährleisten, wurde Ende der 1950er Jahre ein aus der Region stammender Fürsorger mit dieser Aufgabe betraut, der sich zeitweise fast 140 Jungen und deren Pflegeeltern bzw. Dienstgebern annahm. Dabei gab es Bauern, die mehrere Jungen gleichzeitig beschäftigten.353 Vom vereinbarten Lohn – bei freier Kost und Logis – erhielten die Jugendlichen nur einen Teil ausbezahlt, das übrige Entgelt wurde gespart.354 Besondere fachliche Fähigkeiten und große Arbeitsbereitschaft wurden offenbar weiter auf der Johannesburg gefördert und konnten zu Privilegien führen. So erkannte ein Arbeitszieher, dass Walter Bertelt, der während der ersten Monate im Heim ebenfalls die harte Zeit im Torf zu durchlaufen hatte, großes Geschick als Autoschlosser besaß und auch in der arbeitsfreien Zeit zur Verfügung stand. Bei diesen Einsätzen erhielt er oftmals anstatt des „Pamps“ das bessere Essen der Patres, die seiner Wahrnehmung nach innerhalb der Heimstrukturen über den Brüdern standen. Außerdem bekam er die Gelegenheit, mit 19 Jahren den Führerschein zu machen, dann als Fahrer des Außenfürsorgers das Haus zu verlassen und im Münsterland in einer Pension zu wohnen.355 Die Fall-Akten dokumentieren den Umfang des Schriftverkehrs, den Pater Güldenberg mit Behörden, kirchlichen Institutionen und Angehörigen der auf der Johannesburg untergebrachten Jugendlichen führte – 1957 sprach er von jährlich 9.000 bis 10.000 Postsachen, die zu beantworten waren.356 Dabei kam zum Ausdruck, welches Gewicht er der Aufrechterhaltung des Kontakts der Jungen zu ihren Angehörigen beimaß und dass er trotz immer wieder feststellbarer negativer Erfahrungen vielen Jugendlichen bereits nach relativ kurzem Heimaufenthalt Urlaub gewährte. 353

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Empfehlungsschreiben des Katholischen Männerfürsorgevereins Münster v. 12.12.1960, in: ebd., Ordner Dokumente aus dem Heimalltag. Nach zwei Jahren wurde die Außenfürsorge im Raum Münster wegen offenbar auftretender Unregelmäßigkeiten des Fürsorgers aufgegeben. (Vgl. Pater Maaß an LJA Hannover v. 13.2.1961, in: StaatsA Oldenburg, Rep. 440 Akz. 226 Nr. 309) Vgl. Dienstverträge in den Fall-Akten, hier Dienstvertrag v. 19.3.1960, in: Archiv Johannesburg, Fall-Akte 40/60. Interview Walter Bertelt (14.6.2010), Transkript S.3, 6f. Schreiben P. Güldenbergs an einen Vater v. 21.10.1957, in: Archiv Johannesburg, Fall-Akte 40/61.

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Wie in der Heimordnung gefordert, fanden wöchentlich Konferenzen mit den leitenden Gruppenerziehern und einmal im Monat mit den anderen Gruppen- und den Arbeitserziehern statt, um die Erziehungsziele im Allgemeinen wie auch bei den einzelnen Jugendlichen abzustimmen.357 Dennoch bezog Pater Güldenberg anscheinend die Erzieher nicht wirklich in die grundlegenden pädagogischen Entscheidungen ein, die er dann auch gegen Vorbehalte durchzusetzen pflegte. Denn nach Auffassung der Mitarbeiter brachte er den Jungen oftmals zuviel Vertrauen entgegen, was immer wieder zu Problemen führte. Und auch manche Entlassung in die Außenfürsorge kam zu früh. Pater Güldenberg betrieb sein Amt mit sehr großem Einsatz. So führte er zahlreiche Einzelgespräche mit den Jungen und Entweichungen schienen ihn fast persönlich als eigenes Versagen zu treffen, was sich auch in seiner oftmals eigenständigen Suche nach den Entwichenen zeigte.358 Die enormen Arbeitsbelastungen wirkten sich zunehmend negativ auf die durch die Kriegsgefangenschaft bereits angeschlagene Gesundheit des Direktors aus, sodass er sich Mitte 1960 nicht mehr in der Lage sah, sein Amt fortzuführen. Er selbst gab für seinen Schritt unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten sowohl in der Heimleitung als auch unter den Mitarbeitern an, die ihn zu einem stillen Weggang veranlasst hätten. Inwieweit hier sein autoritärer und eigenmächtiger Führungsstil ausschlaggebend war, ist nur zu vermuten.359 Pater Hermann Maaß (1960–1967)360 Offenbar wollten die Provinzoberen der Herz-Jesu-Missionare bei der Nachfolge Pater Güldenbergs die Belastungen für den Direktor verringern und die Leitungsstrukturen auf der Johannesburg klarer gestalten, indem sie die Führung des klösterlichen und des erzieherischen Be357 358

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Heimordnung v. 20.3.1953, in: ebd., Ordner Dokumente aus dem Heimalltag, S. 7. Aktenvermerk der Hamburger Jugendbehörde v. 17.8.1961, in: ebd., Ordner LJA Hamburg. Zusammenfassung eines Gesprächs mit P. Güldenberg v. 3.12.1987 und mit Bruder Mayrhofer v. 14.1.1988, in: ebd., Ordner Zeitzeugen. Der 1903 geborene Hermann Maaß trat 1924 in die Ordensgemeinschaft der HerzJesu-Missionare ein und wurde 1930 zum Priester geweiht. 1931-1936 auf der Johannesburg tätig, übernahm er dann vom Kloster Hamm aus Aufgaben in der Volksmission. Nach dem Ausscheiden als Direktor der Johannesburg war er bis 1971 Superior des dortigen Konvents. Zudem wirkte er in der Pfarr-Seelsorge und leitete seit 1970 eine Beratungsstelle in Papenburg. Er verstarb 1976. (Vgl. Völler/Hügle (Hg.), 75 Jahre Johannesburg, S. 137)

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reichs verschiedenen Personen zuwiesen. Superior des Konvents und gleichzeitig Verwalter wurde Pater Johannes Beninda, als Direktor fungierte Pater Maaß.361 Letzterer bemühte sich nun anscheinend, die Erzieher der Johannesburg stärker und in offenerer Weise in die Beantwortung der drängenden Erziehungsfragen einzubeziehen und ihnen mehr Verantwortung zu überlassen, was nach den Beobachtungen eines Mitarbeiters der Hamburger Jugendbehörde ihre „Freude an der Arbeit“ stärkte. Auch ließ er ihnen in der Erziehungsarbeit „Raum für Experimente“.362 Die bereits zuvor in einer Aktennotiz erwähnte Stärkung des „frauliche[n] Element[s]“363 durch die angestrebte Einstellung weiblicher Erziehungskräfte wurde auf einer Wohngruppe verwirklicht und stellte in der damaligen Heimlandschaft eine Besonderheit dar.364 Zudem waren 1964 nach wie vor Arbeitserzieherinnen im Waschhaus und in der Schneiderei vermerkt.365 Der steigende Pflegesatz gewährte nun auch Spielräume, um die Gruppenräume zu renovieren und aufzulockern – Mitte 1964 hob die Haushaltsabteilung der Hamburger Jugendbehörde hervor, dass die Erhöhung von 13,46 DM auf 18,58 DM im Vergleich zu einem Heim in eigener Trägerschaft „recht beträchtlich“ wäre.366 Und der 1962 bis 1964 erfolgte Neubau eines modern eingerichteten Werkstattgebäudes, der durch ein Darlehn der Bundesanstalt für Arbeit möglich wurde, stellte eine wesentliche Verbesserung für den Erziehungsschwerpunkt des Hauses dar. Dabei fand die Berufswahl der Jungen nun in enger Zusammenarbeit mit der Berufsberatung und einem Psychologen des Arbeitsamts statt, sodass Jugendliche nicht mehr ohne Eignungstest in die Lehre genommen wurden. Zudem erhielten in Absprache mit der Handwerkskammer Osnabrück auch externe Lehrlinge in den Werkstätten der Johannesburg ihre Ausbildung.367 Seit der Ausweitung des Aufnahmealters für Jugendliche in FE durch das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 nahm auch die Johannes361 362 363 364

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Maaß, Burg im Wandel, S. 295. Aktenvermerk v. 17.8.1961, in: Archiv Johannesburg, Ordner LJA Hamburg. Aktenvermerk v. 30.9.1960, in: ebd. Interview P. Josef Danne (13.7.2010), Transkript, S. 8. Pater Danne war 1967 für die Gruppenerzieherin zur Johannesburg gekommen. Erst 1973/74 kamen dann mit Praktikantinnen wieder Frauen in die Erziehungsarbeit. Auflistung des Erzieherpersonals v. 1.10.1964, in: Archiv Johannesburg, Ordner Erziehungsangelegenheiten. Aktenvermerk v. 24.7.1964, in: ebd., Ordner LJA Hamburg. Maaß, Burg im Wandel, S. 296.

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burg vermehrt Minderjährige im Alter von 18 bis 21 Jahren auf. Obwohl sich die Erzieher deshalb noch stärker der Frage gegenüber sahen, ob diese Gruppe hinsichtlich einer erzieherischen Beeinflussung nicht zu spät in ein Heim kam, wurden doch positive Erfahrungen gemacht. Allerdings ergaben sich besonders in der Aufnahmegruppe der über 16-jährigen, die auch für die jungen Erwachsenen nach ihrer Einweisung die erste Station war, Schwierigkeiten. Da sie hier bald die Mehrheit bildeten, fühlten sich die Jüngeren unterlegen. Nach der Aufnahmephase wurden die Älteren dann in einer für sie neu eingerichteten Wohngruppe zusammengefasst. Vielfach gelang es, sie zu einem Berufsabschluss zu führen.368 Auch unter Pater Maaß blieben die Aufnahmegruppen – Mitte der 1960er Jahre eine für die 14- bis 16-jährigen und eine für die über 16-jährigen – ein zentrales Element der Erziehungsarbeit auf der Johannesburg. Die „Gemeinschaftsordnung“ der „Abteilung Wiking“ als Aufnahmegruppe der älteren Jungen von 1962 lässt erkennen, in welchem Maß der traditionell enge disziplinarische Rahmen in vielen Punkten weiterhin seine Bedeutung für das Erziehungskonzept der Johannesburg behielt. Genaue zeitliche Vorgaben, große Reinlichkeit bezüglich der Gruppenräumlichkeiten mit häufigem Putzen und Aufräumen wie auch des eigenen Körpers und der Kleidung sowie genau verteilte Dienste prägten den Alltag. „Hat jeder seinen Dienst sorgfältig verrichtet, gehen wir geschlossen in guter Haltung in den Binnenhof, wo alle Jungen abteilungsweise antreten. Bis nach der Stärkemeldung der Abteilungen verhalten wir uns lautlos. Das Rauchen ist nicht gestattet.“369 Und nach wie vor arbeitete die gesamte Gruppe im Moor. „Nur wer beweist, daß er die richtige Einstellung zur Arbeit gefunden“ hatte, erhielt nach der in der Regel dreimonatigen Probezeit in der Aufnahmegruppe die Möglichkeit, „einen Beruf [zu] erlernen bzw. seine begonnene Lehre fort[zu]setzen. Nicht die Art der Arbeit ist entscheidend, sondern der Arbeitswille.“370 Es wurde betont, dass die eintönige Arbeit im Moor auf keinen Fall dazu dienen sollte, die Jugendlichen „‚klein‘ zu machen“, sondern sie zur notwendigen Auseinandersetzung über ihre Zukunftsperspektiven zu führen. Eine ähn368

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Josef Bröer, Sind Heranwachsende noch erziehbar?, in: Jugendwohl 46 (1965), S. 5764; Aktenvermerk der Hamburger Jugendbehörde v. 26.10.1964, in: Archiv Johannesburg, Ordner LJA Hamburg. Geimeinschafts-Ordnung der Abt. Wiking v. Sept. 1962, in: ebd., Ordner Dokumente aus dem Hausalltag, S. 3. Ebd., S. 6f.

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liche Wirkung sollte von „der Einsamkeit unserer Landschaft“ ausgehen.371 Gerade auch die Arbeit im Torf trug dazu bei, dass die Johannesburg etwa unter Dozenten und Studenten der Höheren Fachschule in Freiburg einen eher schlechten Ruf besaß. Daneben sorgte die vorhandene „handfeste Pädagogik“ für ein negatives Image. Alois Hügle, der 1963/64 als Student der Freiburger Schule sein Sozialpädagogisches Praktikum im Emsland ableistete – seit 1973 war er dann erneut in verschiedenen Funktionen u.a als Erziehungsleiter und von 1984 bis 2000 als Direktor auf der Johannesburg tätig –, war jedoch angenehm über die vorgefundenen Verhältnisse überrascht. Denn die durch Pater Maaß geprägte Atmosphäre des Hauses war wesentlich offener als zuvor von ihm vermutet. Dennoch gab es einige wenige Patres und Brüder, die die Jungen teilweise auch „mit den Fäusten“ schlugen. Zudem nahm die Verwaltung des Hauses eine dominante Rolle ein, die dem Direktor bei der Umsetzung seiner pädagogischen Vorstellungen immer wieder Grenzen setzte.372 Letztlich wirkte es sich hier negativ aus, dass sich die Provinzleitung der Herz-Jesu-Missionare in dieser Phase nur wenig um die Belange der Einrichtung kümmerte.373 Mit dem Leiter der Oldenburger Nervenklinik Kloster Blankenburg kam seit 1962 an einem Tag in der Woche ein Jugendpsychiater zur Johannesburg, um die psychiatrische Betreuung des Hauses zu intensivieren. Jetzt konnten alle dem Heim neu zugewiesenen Jungen zeitnah psychiatrisch untersucht werden und die Gutachten von Beginn an in den jeweiligen Erziehungsplan mit eingehen. „Der Erzieher muß wissen, ob er einen neurotischen, einen minderbegabten oder gar schwachsinnigen, einen hirngeschädigten, einen schizophrenen oder einen psychopathischen Jugendlichen vor sich hat. Nur dann kann er die richtige Methode finden. […] Nur wenn der Pädagoge sich die Erkenntnisse der Psychiatrie und der Psychologie zu eigen macht, kann er seiner Erziehungsaufgabe gerecht werden. Hier erhebt sich also der Ruf nach einer breiteren Ausbildung der Erzieher. Den Heimerziehern sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich durch die Teilnahme an Kursen und Lehrgängen weiterzubilden.“374 371 372 373 374

Bröer, Heranwachsende, S. 62. Interview Alois Hügle (13.7.2010), Transkript, S. 4 u. 6. Interview P. Josef Danne (13.7.2010), Transkript, S. 17. Bröer, Heranwachsende, S. 60. Vgl. auch Hermann Maaß, Schwersterziehbare männliche Jugendliche, in: Paul Schmidle (Hg.), Wachsen, Lernen, Reifen. Beiträge zur Heimerziehung, Freiburg i. Br. 1969, S. 210-234.

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Dies dürfte auch den Vorstellungen der zum Teil jungen Brüder unter den Erziehern entsprochen haben, die sich Anfang der 1960er Jahre auf der Johannesburg befanden, wobei sie offenbar bereitwillig Anregungen von außen aufnahmen.375 Sie verpflichteten sich zunächst zu drei Jahren Erziehungstätigkeit, und nach sechs Jahren sollten sie in der Regel nicht mehr ausscheiden. Allerdings war die „Personalnot“ groß, und gerade die Brüder hatten sehr lange Arbeitszeiten zu bewältigen. Erschöpfungszustände, aber auch längere Erkrankungen verschärften die Situation und steigerten die Belastungen für die Erzieher noch.376 So erkrankte auch Pater Maaß schwer und musste 1967 schließlich das Direktorenamt auf der Johannesburg aufgeben. Unter seinem Nachfolger Pater Johannes Beninda, der zuvor sechs Jahre als Verwaltungsleiter der Johannesburg tätig war, entwickelte sich das Haus wieder stärker zu einer Einrichtung, die den Jugendlichen weniger Freiräume zugestand. Dies bedeutete für die weiterhin maßgeblich als Gruppenerzieher tätigen Patres und Brüder, eine verstärkt überwachende Funktion einzunehmen, wie sich Pater Josef Danne anschaulich erinnerte. Denn er kam ebenfalls 1967 zur Johannesburg, wo er bis 1981 meist in der Gruppenerziehung tätig war. Auch sonst gab Pater Beninda einen sehr engen erzieherischen Rahmen vor, was Ende der 1960er Jahre mit den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen kollidieren musste. Zudem kritisierte auch das LJA diese Verhältnisse, sodass 1970 letztlich auch die Provinzleitung reagierte und einen neuen Direktor einsetzte.377 Direktor Pater Josef Kaperschmidt begann nun, die Johannesburg neu auszurichten. Das Haus wurde offener, indem die Jugendlichen etwa Ausgang bis nach Papenburg erhielten – allerdings wuchs dadurch der Drogenkonsum, der zur Einrichtung einer „Drogengruppe“ führte. Auch im personellen Bereich setzte durch die vermehrte Anstellung qualifizierten weltlichen Personals ein Umschwung ein, wobei jedoch innerhalb der alten Belegschaft durchaus auch Widerstände bestanden, die nach und nach abzubauen waren. So konnten langsam die Weichen für einen grundsätzlichen Aufbruch gestellt werden.378

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Aktenvermerk der Hamburger Jugendbehörde v. 2.8.1961, in: Archiv Johannesburg, Ordner LJA Hamburg. Aktenvermerk der Hamburger Jugendbehörde v. 5.11.1963, in: ebd. Interview P. Josef Danne (13.7.2010), Transkript, S. 3f. Vgl. Interviews mit Alois Hügle und P. Josef Danne (13.7.2010).

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Fazit Die vorgestellten Schlaglichter zur Johannesburg vom Ende der 1940er bis Ende der 1960er Jahre zeichnen ein Bild der dortigen Erziehungsarbeit, das deutlich die Spannung zwischen einem für erforderlich erachteten engen disziplinarischen Rahmen und reformerischen Ansätzen unter lange Zeit schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufzeigt. Als 1946 die Herz-Jesu-Missionare nach fünfjähriger Enteignung und Fremdnutzung auf der Johannesburg wieder mit der Heimerziehung begannen, galt es zunächst, die materiellen Kriegsfolgen zu beseitigen, wobei es offenbar unter den Jugendlichen zu häufigen Konflikten und von den Erziehern einschließlich des Direktors zum Einsatz strenger körperlicher Züchtigung kam. Auch nach dem Wiederaufbau blieben die Lebensverhältnisse einfach bis spartanisch. Hinsichtlich des pädagogischen Konzepts knüpfte man an das vom langjährigen Direktor Pater Petto schon während der Weimarer Republik geprägte Familienprinzip unter weitgehender personeller Kontinuität an. Ebenso setzte man weiterhin auf ein umfassendes Ausbildungsangebot für die Jugendlichen. Mit dem vergleichsweise jungen Direktor Pater Güldenberg vollzog sich auf dieser traditionellen Grundlage ein dynamischer Aufbruch. Die Errichtung eines „Heimparlaments“ und der konsequente Ausbau der Außenfürsorge standen für seine Vorstellungen, die Jungen nach einer gewissen Eingewöhnungsphase zunächst dahin zu bringen, in freier Entscheidung ihre Heimerziehung zu bejahen und aktiv zu unterstützen. Gleichzeitig sollte möglichst früh der Weg zurück ins richtige Leben gewagt werden. Durch den weiteren Ausbau der Lehr- und Anlernmöglichkeiten konnten hier wichtige Voraussetzungen in einer Art geschaffen werden, die die Johannesburg offenbar von vielen anderen Heimen abhoben und das weite Einzugsgebiet auch für „Schwersterziehbare“ begründeten. Um dieses Konzept wirklich erfolgreich zu gestalten, bedurfte es jedoch auch nach Meinung Pater Güldenbergs nach wie vor eines straff strukturierten Ordnungsrahmens innerhalb des Heims, der zudem für die Jungen der Aufnahmegruppe mit harter Arbeit im Moor verbunden war. Auch die Anwendung körperlicher Züchtigung zählte weiterhin zu den Erziehungsmethoden. Gerade in dieser Phase wurde großer Druck mit dem Ziel auf sie ausgeübt, sie quasi für die weiteren Erziehungsbemühungen aufnahmefähig zu machen. Der engagierte Direktor band jedoch die anderen pädagogischen Mitarbeiter – in der Mehrzahl Brü-

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der oder Handwerksmeister ohne wirkliche pädagogische Ausbildung – zu wenig in die hinsichtlich der Erziehung der Jungen zu treffenden Entscheidungen ein, zumal seine Beurteilungen des Erziehungsverlaufs aus Sicht der Gruppen- und Arbeitserzieher anscheinend nicht selten zu positiv waren. Unter Pater Maaß konnten seit Anfang der 1960er Jahre auf Grund eines mittlerweile kostendeckenden Pflegsatzes Verbesserungen an Wohn- und Ausbildungsgebäuden einschließlich einer Auflockerung der Gruppen vorgenommen werden. Verstärkt suchte er zudem die Kooperation mit dem Arbeitsamt. Die Erziehungskräfte führte er offenbar behutsamer und mit mehr Freiräumen ausgestattet an offenere Erziehungsstrukturen heran, ohne gerade die Bedeutung der Aufnahmegruppen für die Erziehungsbemühungen auf der Johannesburg in Frage zu stellen. Allerdings fiel es den Herz-Jesu-Missionaren zunehmend schwerer, in ausreichender Zahl Erzieherpersonal zu stellen, wodurch die pädagogischen Aufgaben immer schwieriger zu erfüllen waren. In der Außenwahrnehmung stand weniger die insgesamt im Haus bestehende offene Atmosphäre, sondern eher die abgeschiedene Lage, die Torfarbeit und eine „handfeste Pädagogik“ im Vordergrund. Die sich Ende der 1960er Jahre ergebende Übergangsphase schien zumindest hinsichtlich der Abgeschlossenheit der Johannesburg dieses Bild erneut zu bestätigen, ehe Anfang der 1970er Jahre ein langsamer und schwieriger, aber nachhaltiger Kurswechsel begann. Inwieweit von den Jugendlichen der Johannesburg die Auswirkungen der reformerischen Schritte seit den 1950er Jahren überhaupt beachtet wurden oder eher der nach wie vor enge Ordnungsrahmen in der Wahrnehmung dominierte, dürfte sehr unterschiedlich empfunden worden sein. Faktoren wie die Ausprägung der eigenen Persönlichkeit und die familiären Verhältnisse, aber auch die Zusammensetzung der Jungen in den Wohngruppen und am Arbeitsplatz sowie die pädagogischen Bemühungen der jeweils dort tätigen Erzieher werden die Beurteilung der auf der Johannesburg verbrachten Zeit entscheidend beeinflusst haben.

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5.4.4 Die Jugendheimstätte Fassoldshof (Bayern) – Mitarbeiterproblem und Strafen Entwicklung und Heimdifferenzierung Die Einrichtung Fassoldshof wurde 1856 als klassische „Rettungsanstalt“ gegründet. Sie nahm einen beispielhaften Entwicklungsweg von einer kleinen Rettungsanstalt zu einer auf mehrere Häuser verteilten Erziehungsanstalt – 1919 wurde der Name von „Rettungsanstalt“ zu „Erziehungsanstalt“ geändert. Bis 1933 hatte die Einrichtung 225 Plätze, die sich außer auf das Anstaltsgebäude Fassoldshof (45), die Landwirtschaft (12) und das Westendheim (20), das Kinderheim Schloß Buchau (40), das Mädchenheim Schmeilsdorf (35) und die Landwirtschaft Weihermühle (8) verteilten. Während der Zeit des Nationalsozialismus gab sich die Anstalt sehr NS-freundlich, was sogar im bayerischen evangelischen Erziehungsverband Widerspruch auslöste.379 Letztlich wurde die dominierende Familie Fischer – seit 1910 hatte Hans Fischer die Anstaltsleitung, sein Sohn Otto Heinrich war als Lehrer eingestellt und seit 1935 auch Anstaltsleiter – von der die Anstalt übernehmenden Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) aus der Leitung herausgedrängt. Die hochverschuldete Anstalt wurde 1935 von der NSV faktisch und 1942 offiziell übernommen, ihr Verwaltungsausschuss gleichgeschaltet. Die Anstalt war bis 1941 mit 513 Minderjährigen stark überbelegt und die inneren Verhältnisse waren schlecht. Im April 1945 plünderte die Bevölkerung die Einrichtung, die Zöglinge flohen.380 Als die Einrichtung in der Nachkriegszeit 1948 wegen übermäßigen Züchtigungen ins Visier der Aufsichtsbehörden geriet, rechtfertigte sich der seit dem August 1945 neue Leiter Gottfried Werner damit, dass die Anstalt zehn Jahre in der Hand der NSV gewesen sei und „als Strafmaßnahme im großen und ganzen nur die körperliche Züchtigung und die des Einsperrens“ gekannt habe. Er habe keine erzieherisch ausgebildeten Mitarbeiter übernommen und

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380

Siehe Chronik 125 Jahre Faßoldshof, bes. S. 31-45; ferner Protokoll über die Sitzung des Verbands bayerischer evangelischer Erziehungsanstalten am 24.5.1933, in: ELKAN, DW Bayern 1608. „Tatsachen und Wahrheiten aus der Jugendheimstätte Faßoldshof “ (Gottfried Werner, Eingangsstempel v. 16.6.1950), in: ELKAN, V 860 (Faßholdshof) Bd. I (2569).

304

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

es müsste erst „einmal dieser nationalsozialistische Dämon ausgetrieben werden“.381 Trotz der hier erfolgten recht eindeutigen Hinweise, die im Einzelfall sicher auch eine zusätzliche Erklärung für Misshandlungen abgegeben haben, scheint darin doch ein Rechtfertigungsmuster auf, das von einer „Kultur der Gewalt“382 ablenkt, wie sie in vielen konfessionellen Heimen geherrscht hat, auch ohne dass man dies eindeutig auf den Nationalsozialismus beziehen könnte. Hier wirkte die nationalsozialistische Herrschaft sicher verstärkend, war aber nicht ursächlich für eine besonders rüde Behandlung der Kinder und Jugendlichen. Am Kriegsende flohen viele Zöglinge aus der Einrichtung. Der neue Anstaltsleiter berichtete rückblickend: „Bei Kriegsende war nur eine zahlenmäßig unzureichende Mitarbeiterschaft angestellt. Ausgebildete Erzieher und Erzieherinnen gab es überhaupt nicht in Fassoldshof. Unausgebildete jugendliche Kräfte führten die Aufsicht. Von eigentlicher Erziehungsarbeit konnte darum nicht die Rede sein.“ Die Zahl der Gefolgschaftsmitglieder fiel von 95 auf 76.383 Die Einrichtung Fassoldshof beherbergte Anfang 1946 viele Flüchtlinge, die neben den betreuten Minderjährigen in den Gebäuden untergebracht waren. So waren 230 Minderjährige im Fassoldshof selbst, im Schloß Buchau 30 Kinder und 12 Erwachsene, in der Weihersmühle 50 Kinder und 13 Erwachsene, in Schmeilsdorf 48 Zöglinge und 10 Erwachsene, in Danndorf (Landwirtschaft) 7 Kinder und 22 Erwachsene und zudem noch weitere 37 Personen (Flüchtlinge und Anstaltspersonal).384 Der Fassoldshof nahm Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Jugendämter und „obdachlose Kinder“ auf.385 Ende 1946 beschrieb der Fassoldshof sich mit einer Belegung von insgesamt 222 Personen, darunter 54 Erwachsene (36 Flüchtlinge) und 168 Kinder (67 Flüchtlinge).386 Die Anstalt mühte sich, nach und nach von den z. T. einquartierten Flüchtlingen befreit zu werden und eine innere Heimdifferenzierung nach den verschiedenen Häusern wie381

382

383

384 385 386

Fassoldshof (Werner) an Kreisjugendämter Kulmbach u. Lichtenfels v. 9.4.1948, in: StAN, Abg. 1978 Nr. 6798. So die Kennzeichnung für das Heim Freistatt, das in der Trägerschaft der Inneren Mission stand. Fassoldshof an Landrat Preisbehörde Lichtenfels v. 6.12.1947, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“. Fassoldshof an Landrat Kulmbach v. 15.1.1946, in: ebd. Fassoldshof an Landrat Röder v. 29.10.1945, in: ebd. Fassoldshof an Flüchtlingskommissar des Kreises Lichtenfels v. 28.11.1946, in: ebd.

FASSOLDSHOF

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der herzustellen. Noch 1950 waren zusätzlich zu den 35 Mädchen in der Zweigeinrichtung Schmeilsdorf noch 34 Mädchen im so genannten Haupthaus in Fassoldshof untergebracht.387 Die heiminterne Differenzierung, wonach die Mädchen geschlossen in Schmeilsdorf unterzubringen waren, setzte sich erst nachfolgend wieder durch. Nach den Statuten von 1951 diente die Einrichtung „armen, verwahrlosten oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzten sowie verwaisten Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die in der Regel dem evangelischen Bekenntnis angehören, eine auf evangelischer Grundlage beruhende Erziehung und Berufsausbildung zu vermitteln und sie zu lebenstüchtigen und gemeinschaftsfähigen Menschen zu erziehen“.388 Für die noch in den 1950er Jahren bevorzugte landwirtschaftliche Ausbildung der männlichen Minderjährigen wurde neben den Landwirtschaften des Fassoldshofs, der Weihersmühle und in Danndorf das zuvor gepachtete Gut Eben 1950 gekauft.389 Die Einrichtung betrieb zudem eine Fachschule für landwirtschaftliche, gärtnerische und gewerbliche Berufsausbildung. Anstaltsleiter Werner merkte 1950 an: „Immer wieder stellt es sich heraus, daß vor allem ein großer Teil der männlichen Zöglinge sich für eine ordnungsgemäße Lehrlingsausbildung nicht eignet. Diese Jugendlichen stellen oft gerade die schwierigsten Elemente dar und bedürfen einer geregelten Arbeit und Anleitung zu derselben. Nach Lage der Dinge kann das dann nur in der Landwirtschaft geschehen.“390 Neben der Landwirtschaft existierte seit 1928 eine Fachschule mit Werkstätten wie Schreinerei, Schlosserei, Schneiderei, Schuhmacherei, Bäckerei, Weißnäherei, Damenschneiderei, seit 1938 einer Weberei und seit 1947 einer Anstreicherei.391 In den verschiedenen Ausbildungsstätten wurden 1958 folgende Ausbildungen durchgeführt. 387

388

389

390

391

Revisionsbericht des Landesverbandes für Innere Mission über Faßoldshof v. 30.3.1950, in: ELKAN, DW Bayern 1959. Statuten der Jugendheimstätte der Inneren Mission Faßoldshof v. 11.9.1952, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“. Siehe Bericht über die Landwirtschaft Fassoldshof, Danndorf, Eben und Weihersmühle der letzten 15 Jahre v. 6.3.1957, in: ebd., Ordner „Faßoldshof 1895-1933, 1945-1960“. Vermerk zur Angelegenheit des Ankaufes des Pachtgutes Eben v. 15.3.1950, in: ebd., Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“. Fassoldshof an Regierung Oberfranken v. 7.12.1954, in: ebd.

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

306

Ausbildungsstätten

Lehrlinge

Anlernlinge

Schreinerei

8

2

Schlosserei

12

7

Schneiderei

3

1

Schuhmacherei

6

2

Malerei

6

2

Bäckerei

4

2

Weberei

6

3

Gärtnerei

3

1

Damenschneiderei

5

2

Weißnäherei

4

1

57

23

Gesamt

Damit waren von den 170 Jungen und 80 Mädchen, die in den sieben Häusern lebten rund ein Drittel in irgendeiner Form des Lern- oder Anlernverhältnisses. Bei insgesamt 52 handelte es sich um Schüler und die anderen wurden im Haus bzw. in der Landwirtschaft beschäftigt.392 Insgesamt fand eine nur schleppende Modernisierung der Gebäude und eine Verbesserung der sanitären Anlagen statt, die bis in die 1960er Jahre dauerte. Dies hatte wesentlich finanzielle Gründe, die auf einen unzureichenden Pflegesatz zurück gingen. So hatte der Fassoldshof bereits Ende 1947 eine Erhöhung der Pflegesätze um ein Drittel gegenüber dem Stand von 1945 gefordert, denn die für Fürsorgeerziehungszöglinge gezahlten Sätze entsprachen noch denen von 1935. Im Jahr 1946/47 wurden 2,77 RM gezahlt, doch nach anstaltsinterner Berechnung entstanden Kosten von 2,82 RM. So war es „aus finanziellen Gründen das Bestreben der Anstalt, die Zahl der schlechtbezahlten Fürsorgezöglinge zu verringern“. Andere FE-Behörden wie Hessen, Hannover, Rheinland-Westfalen zahlten 2,50 bis 3,50 RM pro Tag.393 Auch bei den Erhöhungen der Pflegesätze in den nachfolgenden Jahren bis 1960 blieben diese und die gewährten Zusatzleistungen 392

393

Fassoldshof an Diakon Krimm v. 3.1.1958 und LKR an Regierung Oberfranken v. 19.6.1958, in: ELKAN, DW Bayern 1960. Fassoldshof an Landrat Preisbehörde Lichtenfels v. 6.12.1947, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Regierung von Oberfranken, Landratsämter Lichtenfels, Kulmbach“. Bis 1958 waren von 228 Zöglingen 127 Fürsorgeerziehungszöglinge, 98 im Rahmen der Erziehungsfürsorge und 3 privat untergebracht (Fassoldshof an Diakon Krimm v. 3.1.1958, in: ELKAN, DW Bayern 1960).

FASSOLDSHOF

307

wie Arztpauschale, Schuhreparaturen, Kleidung, Sondereinrichtungszuschlag etc. hinter den Selbstkosten zurück.394 Bis 1960 wurden die Pflegesätze zwar auf 5,55 DM für Kinder bis 6 Jahre, 6,00 DM für Kinder von 6 bis 14 Jahren und 6,68 DM für über 14-jährige erhöht, doch erreichten sie die Selbstkosten nicht. Eine vermehrte Erhöhung, die z. B. die Treuhandstelle der Inneren Mission Anfang 1961 anmahnte, begegnete der Anstaltsleiter mit dem Argument der Konkurrenzfähigkeit, die ansonsten in Gefahr stünde. Im Treuhandbericht wurde wiederholt auf die „billigen“ Arbeitskräfte des Heimes, nämlich die Jugendlichen hingewiesen. Doch sah Anstaltsleiter Böttinger hierin eine Verkennung der Lage: „Bei der Inneren Mission sollte dieses Wort endlich aus dem Sprachschatz verschwinden. Das sind in der Mehrzahl keine billigen, sondern sogar recht teure Arbeitskräfte. Es sind zumeist Jugendliche, die an den Arbeitsplätzen draußen nicht nur charakterlich, sondern auch arbeitsmäßig versagt haben und vielfach von einer Arbeitsstelle zur andern gewandert sind, weil man sie nirgends brauchen konnte. Es sind Arbeitsunwillige und Arbeitsscheue und solche, die das Arbeiten und den Umgang mit Material, Werkzeugen und Maschinen erst lernen müssen.“ So habe man viel Verlust zu beklagen u.a. auch bei der Kleidung, was mehr Kosten als die Fürsorgebehörden ersetzten, verursache.395 Auch wenn eine Nachprüfung hier mangels Unterlagen schwer fällt, so beschreibt der anstaltsleitende Pfarrer Böttinger die Sicht der Einrichtungen, in denen die Zöglinge zur Mitarbeit und einer Ausbildung herangezogen wurden. Nach außen erschien dies als finanzieller Vorteil, in der Eigensicht dagegen als Nachteil. Nachfolgend soll zur Aufhellung des Erziehungsalltags ein Skandal über die körperliche Züchtigung von 1949 etwas näher beschrieben 394

395

Siehe beispielhaft ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Berechnungsgrundlagen im Detail ausgeführt: Erhöhung der Pflegesätze in den Anstalten und Heimen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern ab 1. April 1955 (Sonderdruck aus Bayerischer Wohlfahrtsdienst Nr. 7/1955); Fassoldshof an Landesverband der IM v. 27.6.1957 und 10.12.1958, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „betr. Abrechnung der FE-Kosten 1928-1960 u. sonstige Unterlagen“. Eine besondere Schwierigkeit lag für den Fassoldshof auch darin, dass die Landkreisgrenze zwischen Kulmbach und Lichtenfels mitten durch die Einrichtung verlief, was nicht nur hinsichtlich der Heimaufsicht doppelte Arbeit bedeutete, sondern auch z. T. unterschiedliche Pflegesätze im Rahmen der Erziehungsfürsorge nach sich zog. Stellungnahme des Anstaltsleiters Friedrich Böttinger zum Bericht der Treuhandstelle der IM zum 31.3.1959 v. 20.3.1961), in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof) Bd. II (2570).

308

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Abb. 9: Erziehungsheimstätte Fassoldshof 1959

werden. Dies leitet in einem zweiten Schritt zu einer Beschreibung der schwierigen räumlichen wie materiellen und personellen Situation über, der sich die Einrichtung bis in die 1960er Jahre gegenüber sah. Der Skandal von 1949 Anfang 1949 kam es zu einem vom Stadtjugendamt Nürnberg verhandelten Fall der Züchtigung eines Jugendlichen im Heim Fassoldshof. Hintergrund des Falles und der anschließenden öffentlichen Behandlung der Erziehungsmethoden im Stadtrat von Nürnberg und in der Presse war nach Ansicht des Evangelischen Erziehungsverbandes das gescheiterte Ansinnen der Stadt Nürnberg, einen Sitz im Aufsichtsrat der Einrichtung Fassoldshof zu erlangen.396 Hinzu kam in einer zwei396

So nach Fassoldshof an Landesverband IM v. 23.3.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952. Die Stadt Nürnberg hatte noch vor der NS-Zeit dem Heim Fassoldshof ein Darlehen von 75.000 Mk mit der Auflage der Beorderung von zwei Stadtratsmitgliedern in den Verwaltungsrat gegeben, was dann durch die Übernahme durch die NSV unwirksam wurde (vgl. Stadtrat Nürnberg an Verwaltungsausschuss des Erziehungsvereins des Erziehungsheims Fassoldshof v. 25.11.1947 u. 21.6.1948, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“; Protokoll der Landesausschusssitzung am 13.5.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1959). Zudem sah die Stadträtin und Referentin der IM in Bayern, Elisabeth Nägelsbach, ein Motiv in dem Versuch der Stadt, die Einrichtung der städtischen Erziehungseinrichtung Charlottenhof kon-

FASSOLDSHOF

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ten Phase 1950 dann die Eigendynamik eines anstaltsinternen Konfliktes mit einem Lehrer, der sich intern gegen den Anstaltsleiter stellte. Der 14-jährige, um den es ging, war bereits mehrfach aus Heimen entwichen und versuchte, auch andere zur Flucht zu verleiten, obwohl der Anstaltsleiter Gottfried Werner ihm eine „Tracht Prügel“ androhte. Als der Betreffende aber bei „Verhören“ wegen des Verschwindens eines Schlüsselbundes erneut log und Kameraden ungerechtfertigterweise beschuldigte, war für Werner nach eigener Darstellung „das Maß voll“ und er verabfolgte eine Züchtigung, die er als „Ausnahmefall“ darstellte. Der Zögling kam danach in eine Arrestzelle. Kurz darauf am 16. März floh er dann erneut und versuchte laut Werner, sein „Ausreissen mit der Behauptung zu bemänteln“, er sei unschuldig gezüchtigt worden. „Aus Gründen der Disziplin wie aus pädagogischer Notwendigkeit muß ich daher auf sofortiger Wiedereinlieferung des Ausreißers bestehen. Andernfalls würde die Vertrauensgrundlage, die zu gedeihlicher Zusammenarbeit von Erziehungsbehörde und Erziehungsanstalt nötig ist, ernstlich gefährdet sein. Ich halte es für untragbar, daß die Rückverbringung eines früher 5-mal und jetzt nach Neu-Aufnahme wieder 2-mal entwichenen diebischen Zöglings von einem vorherigen Bericht des Anstaltsleiters abhängig gemacht wird.“397 Klar wurde bereits bei dieser offensiven Selbstrechtfertigung des Heimleiters, dass die Androhung von Gewalt und ihre Anwendung zum normalen Drohrepertoire des Heimes gehörten.398 Doch auch die Darstellung der Züchtigung selbst war verharmlosend. Bei der Besichtigung durch eine Stadträtin von Nürnberg am 20. März hatte der Heimleiter bestätigt, dass er die Züchtigungen durch eine Lederpeitsche durchgeführt habe und meinte, „auf die Knute, die in seiner Heimat Schlesien ein übliches Züchtigungsmittel sei, nicht verzichten zu können“. Zudem wurde im Gespräch mit Anstaltsarzt Dr. Wiesenhütter ermittelt, dass Mädchen die Haare geschoren und sie so genannte „Packungen“ erhalten hatten. Daraufhin entspann sich eine Debatte im Nürnberger Stadtrat und der Fürsorgereferent Dr. Theodor Marx konn-

397

398

kurrierend aufzubauen (Elisabeth Nägelsbach (Stadträtin) an Stadtrat Hoersch v. 9.6.1949, in: ebd.). Fassoldshof an Stadtjugendamt Nürnberg v. 19.3.1949, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“ (auch in: ELKAN, DW Bayern 1952). Protokoll über die Vernehmung v. 16.3.1949, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“. Dieser Eindruck wird auch durch weitere Berichte bestätigt, die das Stadtjugendamt Nürnberg vorlegte. Z. B. Bericht v. 5.8.1946 und 6.8.1946, in: ebd. Demnach waren 15-30 Stockhiebe und Ohrfeigen durch Werner üblich.

310

KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

te seinen Antrag auf Rückzug der 42 Kinder der Stadt aus dem Fassoldshof durchsetzen.399 Zuvor hatte er ein Gutachten der Psychiatrischen- und Nervenklinik des Allgemeinen Städtischen Krankenhauses Nürnberg eingeholt, das zu den Erziehungsmethoden äußerte: „Von der Wirkung auf den betroffenen Jugendlichen aus gesehen, haben diese Strafen keinerlei positiven, die günstigen Kräfte weckenden und die Entwicklung fördernden Effekte, sie könnten höchstens eine Abschreckung anstreben, die sie aber auch nur zu einem kleinen Teil erzielen werden, denn gerade bei den meisten der in Frage kommenden Jugendlichen verfängt dies nicht oder sie werden nur dazu gebracht, sich solchen Situationen durch die Flucht zu entziehen.“ Es entstehe ein Circulus vitiosus. „Die einen werden oft für ihr ganzes Leben dadurch unheilbar verbittert, den anderen wird der letzte Rest von Ehrempfinden genommen.“ Für die Erzieher heiße das, er hat aufgegeben, an den Kern des Minderjährigen zu kommen. Die „Grenze zum Sadismus“ sei nicht genau bestimmbar.400 Zwar versuchte noch die Anstalt, durch eine öffentliche Anstaltsbesichtigung Ende April 1949 die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen, doch die dabei in aller empfundenen Unschuld präsentierten Schlaginstrumente, wie die „ominöse Knute“ – an einen 30 cm langen Holzstab war ein Lederstreifen angenagelt, der durch Längsschnitte in etwa 10 Einzelstreifen geteilt war –, die angeblich nur in Ausnahmefällen benutzt würde, machte wohl eher einen gegenteiligen Eindruck. Da konnten auch die allgemeinen Ausführungen von Ernst Nägelsbach über die Schwierigkeiten, „die aus dem Charakter des Zwangsmäßigen entstehen müssen, der einer Fürsorgeerziehung naturgemäß anhaftet“ und die Beteuerung einer nachhaltigen Besserung bei 80 % der Zöglinge genauso wenig einen Umschwung bewirken wie die Beteuerung von Werner, ein Gegner der Prügelstrafe zu sein. Denn in Fällen von Frechheit oder Grausamkeit (besonders Tierquälerei) sei nach seiner Ansicht das „elterliche Züchtigungsrecht“ zu gebrauchen. 399

400

„Stadtrat gegen mitalterliche ‚Erziehungs‘-Methoden“ (Nürnberger Nachrichten Nr. 44 v. 16.4.1949), in: ELKAN, DW Bayern 1959. Siehe auch Protokoll über die Aussprache mit Dr. G. Werner am 29.3.1949 v. 30.3.1949 und Protokoll der Besprechung über die Angriffe des Stadtrates Nürnberg gegen die Erziehungsanstalt Fassoldshof am 20.4.1949, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“. Werner besaß zum Gebrauch des „Ausklopfers“ für Kleidungsstücke als Züchtigungsinstrument kein Unrechtsbewußtsein: „Er selbst wurde von seiner Mutter mit solch einem Ausklopfer in seiner Jugendzeit bestraft.“ (ebd.). Vorstand der Psychiatrischen und Nervenklinik des Allg. Städtischen Krankenhauses Nürnberg (Dr. phil. u. med. Gerstacker, 1.4.1949), in: ELKAN, DW Bayern 1959.

FASSOLDSHOF

311

Der Anstaltsarzt, Dr. Eckart Wiesenhütter, der der einzige hauptamtliche Anstaltsarzt in einer bayerischen Erziehungsanstalt war, beteuerte, dass die Haare nur bis zum Nacken gekürzt würden und die „Packungen“ nicht Erziehungsmittel seien, sondern ärztlich verordnet wären.401 In Nürnberg bemerkte die KPD-Abgeordnete und ehemalige Mitarbeiterin bei der Gauamtsleitung der NSV, Anni Finger, dass ihre Partei bereits vor einem Jahr Gewalt in Erziehungsheimen zum Thema gemacht habe. „Bayern ist schon bekannt für seine Haltung in Schul- und Erziehungsfragen. Diese gesetzlich sanktionierte Einstellung ist neben anderen ‚alten Traditionen‘ die Grundlage und Voraussetzung für die auf Angst und Einschüchterung abgestellte Methode, die beispielsweise vom Heimleiter in Fassoldshof praktiziert wurde.“ Alle fühlten sich sogar gedeckt. Das Problem sei ein alter Erziehertyp, wogegen sie allerdings Erzieher von „echtem pädagogischen Idealismus“ mit Verständnis für die benachteiligte Jugend einforderte, die neue Wege gehen.402 Diese simplifizierende Einstellung fand Gegnerschaft in der CSU-Stadträtin Elisabeth Nägelsbach, die beim Landesverband für Innere Mission in Nürnberg arbeitete. Finger wurde im Rahmen der Debatte u.a. ihre alte NSV-Mitgliedschaft vorgehalten, wogegen diese auf eine Verpflichtung zur NSV, ihr späteres Ausscheiden 1937 und ihre nachfolgende Verfolgung verwies. Elisabeth Nägelsbach schrieb ihr im Sommer 1949 ironisch: „Seit Sie sich aber, liebe Frau Finger, wie man so schön sagt, stärker in das Rampenlicht der Öffentlichkeit begeben haben, kann es nicht ausbleiben, dass ihre früheren Mitarbeiter bei der NSV einmal von Ihrer Tätigkeit dort erzählen, übrigens mir gegenüber immer in durchaus positivem Sinn. [...] Deswegen brauchen wir beide uns aber wirklich nicht noch Schwierigkeiten zu machen; jedenfalls habe ich nicht die Absicht“.403 So holte die IM-Vertreterin und CSU-Abgeordnete die KPD-Abgeordnete in den bundesdeutschen Nachkriegskonsens einer Vergangenheitspolitik zurück, in der das Beschweigen dieser Vergangenheit die Richtschnur bildete.404 Da der Fall Fassoldshof weit über die Grenzen Nürnbergs Aufmerksamkeit erregte, und zu zahlreichen Leserbriefen etc. aus der Bevöl401

402

403 404

„Die Presse besichtigte das Erziehungsheim Fassoldshof “ (Nürnberger Nachrichten Nr. 47 v. 23.4.1949), in: ebd. „Zum Problem der Fürsorgeerziehung“ (Nürnberger Nachrichten Nr. 51 v. 2.5.1949), in: ebd. Elisabeth Nägelsbach an Anni Finger v. 19.7.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952. Siehe hierzu insgesamt Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

kerung führte, kamen am 9. Mai 1949 auch die beiden Vertreter des Landesjugendamtes, Oberregierungsrat Franz-Josef Strauß – der spätere Bundesminister und Ministerpräsident Bayerns arbeitete seit dem Juni 1948 als Jugendreferent im Bayerischen Kultusministerium – und Ministerialrat Ritter, aus München zu einer Sitzung des Wohlfahrtsausschusses des Stadtrates Nürnberg extra angereist.405 Sie griffen angesichts der berichteten Umstände die „Tierhaltermethoden“ in der Anstalt Fassoldshof an und setzten einen Untersuchungsausschuss ein. Franz-Josef Strauß schrieb: „Ich habe dort selbst zum Ausdruck gebracht, dass die Angelegenheit durch die Art der Berichterstattung in Presse und Rundfunk ein starkes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt und zu Anfragen von Seiten anderer Jugendämter geführt hat, die ihrerseits wiederum durch die dort eingegangenen Anfragen der Eltern von in Fassoldshof untergebrachten Jugendlichen veranlasst waren.“ Die Presse bewirke mehr als die Sachverhalte. „Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die von Herrn Dr. Werner angewandten Erziehungsmethoden und Erziehungsmittel, ohne damit einer objektiven Untersuchung vorgreifen zu wollen, als bedenklich angesehen werden müssen. Insbesondere ist die Züchtigung eines Jugendlichen auf das nackte Gesäss mit einer Lederpeitsche eine in Bayern nicht bekannte und allgemein abgelehnte Erziehungs- und Züchtigungsmethode.“ Um aber insgesamt die Erziehungsarbeit der Inneren Mission nicht im Wert zu mindern, habe er in Nürnberg erklärt, „dass dem Direktor der Fürsorgeerziehungsanstalt das elterliche Züchtigungsrecht zusteht. Es muss aber innerhalb der Grenzen gehandhabt werden, die von liebenden Eltern gegenüber ihren Kindern eingehalten werden, wobei weniger der Gedanke der Strafe, als der Gedanke der Erziehung und Besserung im Vordergrund zu stehen hat“406 Ministerialrat Ritter forderte sogar eine Erklärung der Inneren Mission gegen die Prügelstrafe ein. In einer Sitzung des Landesausschusses für Innere Mission wollte auch der Rektor der Rummelsberger Anstalten, Karl Nicol, „dass in Evangelischen Erziehungsanstalten die körperliche Züchtigung verboten wird“, da sie der „Bankrott der Fürsorgeerziehung“ sei. Allerdings verwies dagegen das Verwaltungsratsmitglied Pfarrer Grimm auf die Erlaubtheit der Züchtigung in der Volksschu-

405 406

Protokoll der Landesausschusssitzung am 13.5.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1959. LJA an Landesverband IM v. 16.5.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952.

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le.407 Dennoch übersandte der Landesverband der Inneren Mission die erbetene Erklärung.408 Im Rahmen der nachfolgenden Untersuchungen des eingesetzten Ausschusses, gab der Anstaltsarzt Eckart Wiesenhütter eine „Ärztliche Stellungnahme“ zu den von ihm angewandten sog. „Kaltwasserpackungen“ bei den in der Zweiganstalt Schmeilsdorf des Fassoldshof untergebrachten Mädchen. Dabei wurde ein Betttuch in warmes Wasser getaucht, dann um den Körper gelegt, wobei Kopf und Hals frei blieben. Erst wurde den Betroffenen warm, dann kalt und schließlich erfolgte eine Hitzewelle wie bei einer Schwitzpackung. „Bei den Schmeilsdorfer Mädchen erfolgte die Prozedur im ‚Besinnungszimmer‘, in dem die Mädchen dann 24 Stunden schliefen bzw. ruhten, bevor sie wieder in den Arbeitsbetrieb eingereiht wurden. Schwester Martha Wahler, die Hausmutter der Mädchen, hat die Technik in jahrelanger Tätigkeit unter Professor Lange an der psychiatrischen Universitätsklinik Breslau erlernt und angewendet und beherrscht sie wie kaum ein Arzt.“ Diese ‚Behandlung‘ sei harmlos im Vergleich zu anderen hydrotherapeutischen Maßnahmen wie „Schrothkuren“, wobei die „Patienten in immer erneuerten kalten und nassen Tüchern buchstäblich 14 Tage – dabei fastend – gehalten werden“. Die Berechtigung zu den ‚Packungen‘ leitete Wiesenhütter bei den als sexuell verwahrlost geltenden Mädchen von dem her, was die Erzieherinnen die „Zustände“ der Mädchen nannten, die bei der Umstellung eines vermeintlich ausschweifenden Lebens auf ein ‚gesundes‘ auftreten würden. Er selbst habe diese „Ganzwickel“, die schonender als Medikamente seien, seit seinem Amtsantritt 1948 nur einmal verordnet. Schwester Martha Wahler habe diese bei Mädchen, die sich vom Arbeitsplatz entfernt hatten und mit vermeintlich lesbischen Absichten im Kohlenkeller ergriffen wurden, dreimal angewandt.409 Die hier ins Visier geratenen Personen, gegen die die Stadt Nürnberg sogar eine Strafanzeige stellte, warfen ein Schlaglicht auf die pro407 408 409

Protokoll der Landesausschusssitzung am 13.5.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1959. Landesverband IM an Abgeordneten Euerl v. 16.5.1949, in: ebd. Sogar die Mädchen hätten in einem Brief v. 5.5.1945 an die „Fränkische Presse“ zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht das Gefühl hätten, misshandelt worden zu sein. Erziehungsheim Faßoldshof: Ärztliche Stellungnahme v. 30.5.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952. Wiesenhütter hatte zur Rechtfertigung auch einen Austausch mit Prof. Luxenburger in München in Stellung gebracht (Protokoll der Besprechung über die Angriffe des Stadtrates Nürnberg gegen die Erziehungsanstalt Fassoldshof am 20.4.1949, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“).

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

blematischen Erziehungsvorstellungen in der Einrichtung. In einer Anfang Juni 1949 erstellten Liste des Erziehungspersonals des Fassoldshofs standen 27 Namen – davon waren 8 aus der Zeit von vor 1945 übernommen. Zusätzlich arbeiteten hier mehrere Diakonen-Anwärter aus Rummelsberg für ein bis eineinhalb Jahre. So wurde das Erziehungspersonal auf 30 Personen geschätzt, zu dem noch ca. 40 Personen als Wirtschafts- und Verwaltungspersonal, meist in der Landwirtschaft tätig, addiert wurden. Der Anstaltsleiter Pfarrer Gottfried Werner (Jg. 1900) war nach eigenen Angaben seit 25 Jahren in der Jugendarbeit tätig. Er hatte bereits 1923 zum Dr. phil. in Philosophie und Pädagogik promoviert und fünf Semester Jura studiert. Von 1931 bis 1942 hatte er als Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes gearbeitet und die studentische Jugend in Erlangen betreut. Seit der Rückgabe der Anstalt Fassoldshof an den kirchlichen Träger im August 1945 war er ihr Leiter. Der Anstaltsarzt Dr. Eckart Wiesenhütter (Jg. 1919) wurde als praktischer Arzt mit einer Spezialausbildung in Psychoanalyse, Psychotherapie und Geschlechtskrankheiten vorgestellt. Er war zuvor in verschiedenen Krankenhäusern und Lazaretten aktiv.410 Wiesenhütter bezeichnete sich selbst bei seiner Anstellung als schlesischen Pfarrerssohn und Schüler des Psychiaters Victor von Weizsäcker, der an der psychologischen Seite sehr interessiert sei.411 Der am 1. Juni 1949 vom Staatsministerium des Innern eingesetzte Gutachterausschuss bestehend aus Direktor Gierster (Städt. Kinderasyl Gräfelfing), Direktor Goller (Herzogsägmühle, Schongau) und Pater Moser (Heilig Kreuz, Donauwörth) hatte einen städtischen und zwei konfessionelle Vertreter. Obwohl die Einrichtung Fassoldshof aus mehreren Häusern bestand, sahen sie keine Vermassung. Allerdings kritisierten sie, dass bei Züchtigungen die „Nudität“ zu vermeiden sei, da das „Schamgefühl“ der Kinder verletzt werde. Die ‚Packungen‘ stellten nach ihrem Dafürhalten keine „Körperverletzungen“ dar, doch würden sie auch bei medizinischer Deutung die „fundamentalsten Persönlichkeitsrechte“ tangieren. Auch die Zellen für Ausreißer seien wegen der Selbstmordgefährdung abzulehnen. Die Kommissionsmitglieder schlugen vor, „entwichene Zöglinge bei ihrer Wiederkehr in die Gemeinschaft zurückzuführen, damit sie in dieser Gemeinschaft möglichst bald die innere Verbitterung und Sperrung überwinden lernen“. 410

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Erziehungsheim Fassoldshof: Liste des Erziehungspersonals v. 7.6.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952 [auch in: DW Bayern 1959]. So Wiesenhütter an Direktor Fassodshof v. 18.2.1948, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Amtsärzte und Anstaltsärzte“.

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Zur Verhinderung von Entweichungen regte man die Erweiterung von Sportmöglichkeiten, die Weiterführung des Schul- und Ausbildungswesens „und vor allem die günstige Besetzung durch geeignete Erzieher“ an. Die körperliche Züchtigung sollte auf ein Mindestmaß reduziert werden.412 Dieser Bericht der Heimpraktiker, der nur die schlimmsten Auswüchse kritisierte, aber nicht wie z. B. das oben zitierte Gutachten der Psychiatrischen und Nervenklinik des Allgemeinen Städtischen Krankenhauses Nürnberg die Züchtigung an sich, machte dem Erziehungsverband keine Freude. Man überlegte, ob man diesen zur Rechtfertigung der Einrichtung selbst veröffentlichen sollte, doch entschied man sich angesichts dessen Uneindeutigkeit dagegen.413 Dem Bayerischen Innenministerium berichtete man über die getroffenen Maßnahmen. Die Anstaltsleitung sei mit genauen Anweisungen „über die Grenzen des Züchtigungsrechtes versehen“ worden. Der Leiter sei beurlaubt und ein Rummelsberger Diakon nun zum Leiter ernannt. Insgesamt wären alle Leiter und Leiterinnen von Erziehungsheimen mit Anweisungen „über die Grenzen des Züchtigungsrechtes versehen“ worden.414 Dies wurde mit einem ausnehmend positiven Beispiel einer Handreichung unterstützt, die an die Erzieherinnen in den Kinderheimaten versandt worden war, dem „Merkblatt der Miechowitzer Schwestern“. Darin hieß es:

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Gutachterausschuss an LJA v. 30.6.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952 [auch als Anlage zu Rundschreiben Nr. 44 der IM Bayern v. 2.9.1949, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof) Bd. I (2569) und in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“]. Aktennotiz betr. Gutachten des Bayerischen Staatsministeriums des Innern v. 1.7.1949 (3.8.1949), in: ELKAN, DW Bayern 1959. Landesverband IM an Bayerisches Staatsministerium des Innern v. 25.8.1949, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569). So waren die Heime in einem Rundschreiben des Ev. Erziehungsverband in Bayern vom 19.5.1949 aufgefordert worden, „hinsichtlich von Körperstrafen die grösste Zurückhaltung walten zu lassen und gemäss der durch das Landesjugendamt erlassenen Bestimmung Körperstrafen jedenfalls nur durch den Anstaltsleiter oder seinen Stellvertreter, nicht aber durch andere Erzieherkräfte vollziehen zu lassen.“ Am 4.6. klärte der Erziehungsverband in einem vertraulichen Rundschreiben die Heime über die wichtigsten Bestimmungen zur Züchtigung auf, u.a. über den Artikel 35 des Bayerischen Jugendamtsgesetzes vom 20.7.1935 aus dem zitiert wurde: „Dem Familienvorstand (bei Familienerziehung) und dem Vorstande der Anstalt (bei Anstaltserziehung) stehen gegen den Minderjährigen die den Eltern zukommenden Zuchtmittel zu.“ (alle Belege in: EKLAN, DW Bayern 1604).

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„Wir müssen uns bei unserer Arbeit an den Kindern immer wieder daran erinnern, daß wir bei dieser Erziehungsarbeit zwar die Eltern, also Vater und Mutter, vertreten, aber nicht deren Rechte im Blick auf die uns anvertrauten Kinder haben. Wir gelten rechtlich nur als ‚Erzieher‘, die auch den Behörden und sonstigen Stellen nur so und nicht anders gegenüberstehen.“ Man solle nur „nach reiflichem Überlegen vor Menschen und vor Gott“ Strafen aussprechen, die oft nur auf „Mängel unserer Erziehertätigkeit und Schranken unserer Persönlichkeit“ hinweisen. „Strafen dürfen aber nur so sein, daß man sie vor Gott und natürlich auch vor Menschen verantworten kann. Es soll keine Strafe gegeben werden, die die Persönlichkeit des Kindes – denn auch das Kind hat schon eine solche – niederdrücken, es vor allen anderen beschämt, zurücksetzt oder schlecht macht. Dazu gehört z. B., wenn ich ein Kind in die Ecke stelle, wenn ich ihm mit irgend etwas den Mund verbinde, wenn ich ihm Hörner zum Zeichen seines Eigensinns aufsetze und ähnliches.“ „Manche Unarten“ der Kinder entspringen „körperlichen Nöten“ und bedürfen der gesundheitlichen Beeinflussung. Zwar erlaubten Geschichten der Bibel (Spr. 13, 24; 22, 15; 23, 13-14; Hebr. 12, 5-11) solche Maßnahmen, aber staatliche Anordnungen verböten körperliche Strafen. „Der Einwand, daß Eltern dies bei ihren Kindern auch tun, kommt hier nicht in Frage, da wir eben nicht die Rechte haben, sondern nur Erzieher sind. Und wenn heutzutage Lehrer in der Schule da und dort noch durch Schläge strafen, so ist dies für uns nicht maßgebend, sondern widerspricht nun einmal den heutigen bei den Behörden geltenden Erziehungsgrundsätzen. Wir wissen, daß es manchmal schwierig sein kann, ohne solche körperliche Strafen auszukommen; aber sie müssen sich damit abfinden, daß dies nicht geschehen darf. Wir verpflichten Sie ausdrücklich darauf.“ Auch dürfe kein Entzug von Mahlzeiten stattfinden, denn diese sei man den Kindern aus „gesundheitlichen Gründen“ schuldig. „Es hat sich auch manchmal als bewährtes Mittel ergeben, solche Kinder einige Zeit im Bett liegen und nicht aufstehen zu lassen. Ich weiß wohl, daß hier auch Gefahren sind, aber jedenfalls ist dies eine Möglichkeit der Strafe, die einem gesunden Kinde bald schwer wird.“ Man solle „mit solchen Kindern einzeln und seelsorgerlich sprechen“ und „sie mehr als die anderen Kinder in unserem Kämmerlein auf betendem Herzen tragen“. Besonders schwierige Kinder hingegen gelte es, „den Behörden oder den sonstigen Stellen, die uns die Kinder gebracht haben, wieder zurückgeben“, denn sie „gehören in besonders

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dafür geeignete Anstalten und nicht in die freie und offene Art unserer Kinderheimaten.“415 Zwar klingt selbst in diesen Handreichungen der Miechowitzer Schwestern durch, dass es biblische Rechtfertigungen für körperliche Strafen gebe, doch werden diese wie auch die Parallelsetzung zu Strafen in der Schule oder Familie im Hinblick auf die Rechtsordnung und den eigenen pädagogischen Anspruch als unwirksam betrachtet. Dennoch deutet die Tatsache des Merkblatts an sich auf eine andere Praxis hin, die auch in den Häusern herrschte, in denen die Miechowitzer Schwestern Dienst taten. Nachfolgend beruhigte sich die Situation um die Einrichtung Fassoldshof scheinbar. Das offenbar vor der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Coburg eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Gottried Werner und Eckart Wiesenhütter wurde eingestellt.416 Auch die Stadt Nürnberg wollte im November 1949 zwar keine neuen Minderjährigen der Anstalt zuweisen, doch verblieben die 26 noch dort befindlichen Zöglinge in der Einrichtung. Elisabeth Nägelsbach meinte, die „Sache“ habe sich „wohl totgelaufen“.417 Die Einrichtung benannte sich im Januar 1950 demonstrativ von „Erziehungsheim“ in „Jugendheimstätte Fassoldshof “ um. „Der wesentliche Grund für diese Namensänderung liegt darin, daß die Bezeichnung Erziehungsheim vielfach mißverstanden und von den bei uns untergebrachten Kindern und Jugendlichen innerlich abgelehnt wird, weil sie spüren müssen, daß ihnen aus der Unterbringung in einer ‚Erziehungsanstalt‘ ein Nachteil für die Zukunft entstehen kann.“ Man wolle die Kinder und Jugendlichen „nicht mit dem Makel der sogenannten Zwangserziehung überlebter Zeiten belasten“, „das Wort Zögling“ in Zukunft vermeiden und „unsere Kinder und Jugendlichen Schüler, Berufsschüler, Fachschüler oder Lehrlinge nennen“.418 Doch mit dieser kosmetischen Operation konnte die Einrichtung ihre Kritiker keineswegs besänftigen, wie sich wenig später in einem 415

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417 418

„Merkblatt der Miechowitzer Schwestern“, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof) Bd. I (2569). Vgl. Rundschreiben Nr. 44 der IM Bayern v. 2.9.1949, in: ebd. Anstaltsleiter Werner war vom 11. Mai bis Ende August beurlaubt gewesen und nahm dann wieder seine Geschäfte wahr (vgl. auch Werner an Grimm 5.8.1949, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Stadtjugendamt Nürnberg“). Elisabeth Nägelsbach an Nicol v. 12.11.1949, in: ELKAN, DW Bayern 1952. Jugendheimstätte der Inneren Mission Faßoldshof an Landesverband für IM v. 24.1.1950, in: ELKAN, DW Bayern 1959.

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anonymen Schreiben an die Landeskirche zeigte.419 Darin wurden die Vorwürfe der übermäßigen Züchtigung und des Missbrauchs ärztlicher Macht gegen den Anstaltsleiter Werner, die Erziehungsleiterin im Mädchenheim Schmeilsdorf und den Anstaltsarzt wiederholt. „Wir haben gewartet und geschwiegen. Wenn aber die Kirche kein Herz für die Jungen hat, dann werden wir reden und bringen zum 1.4. alles vor eine Stelle, wo man schön hören wird.“420 Dieses anonyme Schreiben, das zuständigkeitshalber an den Landesverband der Inneren Mission weitergeleitet wurde, wurde als erneute Gefahr gesehen, zumal der Senior des Verwaltungsrates, Grimm, zugab, dass die beschriebenen Umstände wirklich derart seien. Am 23. März 1950 kamen nun der Rektor der Rummelsberger Anstalten, Nicol, und der Geschäftsführer des Landesverbandes zu einer Besichtigung in den Fassoldshof. Sie erlebten einen erregten Tag, da sie einen massiven inneren Konflikt zwischen dem Anstaltsleiter Gottfried Werner und einem Lehrer feststellten, der drohte, schwerwiegende Fälle gegen Werner in der Öffentlichkeit vorzubringen.421 Die Entsandten stellten ebenfalls fest, dass keine Dienstanweisungen für die Heimleiterin, das Erziehungspersonal und die Meisterinnen vorliegen; auch keine Pflicht zur Tagebuchführung: „Ein Strafbuch wird nicht geführt, ein Erziehungsplan für den einzelnen Zögling wird nicht aufgestellt.“ Der Arzt Dr. Wiesenhütter begründete dies mit dem Handeln nach „alter Schule“ und „freien und vollkommen ungebundenen Methoden“, die er bei Kapazitäten wie dem Leiter des Stadtjugendam419

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„An die evangelische Landeskirche München“ (anonymes Schreiben abgestempelt in Nürnberg, Eingangsstempel 27.2.1950) „Wann wird die Kirche endlich saubermachen in Fassoldshof “ (anonym), in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569) (auch in: ELKAN, DW Bayern 1959). „An einem Ende der fromme Pfarrer, am andern, wenns über ihn kommt, mit der Karbatsche auf den kahlen Hintern, nicht nur einmal, ob der Junge schuldig oder nicht. Und dann `rin in die Fresse, mitten beim christlichen Frühstück. Und wenn nicht er selbst, dann seine Helfershelfer – Erzieher schimpfen sie sich. Der Dzowas und der Dreikorn geprügelt haben sie, geschüttelt, und rumgebrüllt, dass das Haus wackelt wo war da der gütige Pfarrer?“ [Orthographie angepasst] Die Jungen in der Landwirtschaft mussten demnach nur mit einem Paar Stiefel auskommen, wohingegen der Anstaltsleiter mit dem Auto ins Kino nach Bischofgrün fahre. Zum Arzt hieß es: „Immer hinter unsere Träume her und hinter Frau Doktor, wo es was zu erben gibt. Wir sind keine Versuchsviecher, für ihn, mit Spritzen hinter den Jungen her, die Moorrüben gestaucht haben, bloß weil sie hungrig sind.“ Ebd. Rummelsberger Anstalten an OKR Riedel v. 28.3.1950, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569).

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tes München, Dr. Hans Luxenburger422 oder dem AFET-Vorsitzenden, Pastor Johannes Wolff, gelernt habe. Nicol stellte im Gespräch mit elf Meistern fest, dass diese nicht zu Erzieherkonferenzen beigezogen wurden.423 Eine reguläre Revision eine Woche später brachte noch mehr Missstände ans Licht. Die eingesetzten Diakonenanwärter waren durchweg sehr jung, hielten keine Ordnung und einer war sogar von einem Zögling angegriffen worden. Die in der Landwirtschaft tätigen Minderjährigen ständen in der „Gefahr der Verwahrlosung“. Sie besaßen nur ein Hemd und keine Handschuhe. Da das Feld mit Kunstdünger bestreut wurde, hatten sie Ekzeme an den Händen. In dem Mädchenheim Schmeilsdorf wurden zwei Ausreißerinnen zurückgebracht, die angaben, „dass ihre Meisterin, wenn sie während der Arbeitszeit schwätzen, sie entweder ohrfeigt oder mit dem Lineal schlägt“. Das Essen war nicht ausreichend und die Suppe angebrannt. Die empfundene Gegensätzlichkeit der Erzieher – hier hatten sich Anhänger und Gegner des Anstaltsleiters formiert – wirke „sich derzeit stark auf die Jugend“ aus.424 Der Anstaltsleiter raffte sich noch einmal zu einer umfangreichen Rechtfertigung auf, die allerdings eher auf nicht überwundene schwierige Zustände hinwies. Er erinnerte an die schwierige Nachkriegszeit und den „Kampf gegen die unsagbare sittliche Verwahrlosung, ja Verrohung der arbeitsscheuen vagabundierenden Jugend“, um „die Rettung ungezählter obdachloser, heimat- und elternloser Flüchtlingskinder“. Er rühmte sich der Umstellung der Einrichtung auf ein Heimleben „im Rhythmus des Kirchenjahres und seiner Feste“ mit geistlichem Gesang, Religionsunterweisung auch für Schulentlassene wie einem „Glaubensund Gebetsleben ohne Nötigung“. Zudem habe er auch nach turbulenten Anfangsjahren 1945 bis 1947, in denen „scharfes Durchgreifen“ gefordert war, die „geschlossene Abteilung“ abgeschafft, die Gitter beseitigt und Urlaub wie Freiheiten eingeführt. Inneranstaltlich habe er die Befriedung unterschiedlicher Gruppen durch eine „entsprechen422

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Der Psychiater Hans Luxenburger (1894-1976) war seit 1924 Mitarbeiter des Rassenforschers Ernst Rüdin an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, trat mit Zwillingsuntersuchungen zur erblichen Bedingtheit der Schizophrenie hervor und unterstützte die Rassenhygiene. Vgl. Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 333f. IM an LKR v. 29.3.1950, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569) (auch in: ELKAN, DW 1959). Revisionsbericht des Landesverbandes für IM v. 30.3.1950, in: ELKAN, DW Bayern 1959.

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de Umorganisation und zeitweilige Beschäftigung“ von „früheren Parteigenossen“ als ‚einfache Arbeiter‘ durchgeführt, was jedem Betroffenen wenigstens den Arbeitsplatz in der Anstalt erhalten habe. In der Einrichtung arbeiteten besonders viele Flüchtlinge, gerade als Arbeiter und auch die Erziehungsgehilfen von Rummelsberg bestünden aus Heimatvertriebenen.425 So richtig der Verweis auf die schwierigen äußeren Umstände auch war, so wenig konnte Anstaltsleiter Werner damit die aktuellen Missstände entkräften. Im September 1950 wurde er abgelöst und auch die erziehungsleitende Schwester in Schmeilsdorf und der Anstaltsarzt quittierten ihren Dienst.426 Die Vorgänge im Fassoldshof in den Jahren 1949/50 markieren einerseits eine Skandalisierung der Verhältnisse, wie sie jederzeit die Anstaltserziehung nicht nur in Bayern treffen konnte, denn Schläge und rigide Verhaltensnormen gehörten zum Alltag wohl fast aller Einrichtungen in diesen Jahren. Die Ermittlungen beleuchteten die offenbar nur im Rahmen eines Konfliktes mit der Stadt Nürnberg in dieser Form in die Öffentlichkeit getretenen Verhältnisse in einer der größten evangelischen Erziehungseinrichtungen in Bayern sehr scharf. Sie machten zugleich auf die im Allgemeinen eine Rolle spielenden schwierigen Personalverhältnisse und Professionalisierungsversuche wie auf die theologischen Rechtfertigungsversuche aufmerksam, welche die evangelische Heimerziehung mitbestimmten. Das Personalproblem Seit 1950 wurde die Einrichtung von einem Pfarrer geleitet, der im Februar 1955 in ein Gemeindepfarramt überging. Als Nachfolger wurde auch an einen Nichttheologen wie z. B. einen Psychologen gedacht, doch wäre nach den zeitgenössischen Überlegungen bei der Besetzung mit einem Nichttheologen kein Anstaltspfarrer eingespart worden.427 So wurde mit Pfarrer Friedrich Böttinger erneut ein Theologe Anstaltsleiter. Nach einem Jahr übergab er der Kirchenleitung eine Denkschrift, in der er ein klares Bild der Mängel geben wollte, welche sich wesentlich aus der Zeit vor 1945 herleiteten und nach 1945 nicht abgestellt werden 425

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„Tatsachen und Wahrheiten aus der Jugendheimstätte Faßoldshof “ v. 16.6.1950, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569). Bericht über Besuch des Landerziehungsheims Fassoldshof durch die vom Stadtrat bestellte Stadtratskommission v. 24.2.1951, in: ELKAN, DW Bayern 1952. Landesverband IM an LKR v. 28.12.1954, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569).

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konnten. Neben dem Fehlen öffentlicher Gelder für den Neu- und Umbau der Häuser war es auch die personelle Zusammensetzung des alten Personals, welche hier benannt wurde.428 So beschrieb Böttinger die innere Situation der Einrichtung, die nur äußerlich einen christlichen Tagesablauf besitze, „doch es fehlen – mit Ausnahmen – die Menschen, die glaubhaft das christliche Leben bezeugen und dadurch jene Atmosphäre schaffen, die ein solches Heim wirklich als evangelisch ausweist“. In den Heimen arbeiteten u.a. drei katholische Meister, eine katholische Küchenleiterin, eine baptistische Hausmutter und drei Erzieherinnen, die der Pfingstbewegung angehörten, von der eine zum Berichtszeitpunkt wegen Propaganda für ihre Sekte bereits entlassen war. Neben dieser großen Divergenz in Glaubensfragen stellte die Mitarbeitergewinnung insgesamt ein Problem dar. Die Schwierigkeit, Erzieherinnen zu finden, bestand bereits in den Jahren zuvor.429 „Wer geht schon nach Faßoldshof?“, hieß ein hier zitierter Satz. So gewinne man nur „mittelmäßige Erzieher“. Die männliche Erzieherschaft würde von Rummelsberg gestellt, worunter zwei ältere Diakone, sonst nur jüngere Brüder im Vor- oder Zwischenpraktikum im Alter von 19 bis 22 Jahren seien, die keine Gruppen führen könnten. Zudem seien die Lehrerstellen wegen des Mangels an Kindern von vier auf drei gekürzt, was zu organisatorischen Schwierigkeiten führe, den Unterricht in den verschiedenen Häusern zu halten. In den Heimen selbst wurden die Raumeinteilungen und der bauliche Zustand teilweise als „katastrophal“ empfunden. Über das Lehrlingsheim im Fassoldshof hieß es: „Schlafräume mit mehr als 20 Betten, kleine Toiletten und Waschräume erregen mit Recht das Mißfallen der Jugendämter.“ Auch die Werkstätten wurden bemängelt, das Inventar als alt und erneuerungsbedürftig beschrieben. Böttinger hielt einen Zehnjahresplan für notwendig, um rund 1 Mio. DM Investitionen durchzuführen.430 Bis zum Ende der 1950er Jahre konnte zwar eine äußere Renovierung der Einrichtung mit Zuschüssen der Evangelisch-Lu428

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Landesverband IM an LKR v. 3.3.1956, in: ebd. Im Jahr 1954 war es zudem zu dem Selbstmord des Berufsschullehrers Esenbeck gekommen, der laut der Bad Wörishofener Zeitung „Die Anklage“ (3. Jg., Nr. 4 v. 15.2.1955) „In den Tod getrieben“ worden wäre, da er als Parteimitglied 1945 entlassen worden war, doch keinen Bescheid seiner kirchlichen Dienststelle erhalten hatte, gegen den er hätte klagen können (ebd.). Siehe z. B. Pfr. Düll an Nägelsbach v. 22.4.1954, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Landesverband der IM“. Jugendheimstätte der IM Faßoldshof (Pfr. Friedrich Böttinger) an LKR 22.2.1956, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. I (2569) (auch in: ELKAN, DW Bayern 1960).

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therischen Kirche in Bayern durchgeführt werden431, doch blieb offenbar das Personalproblem in der Einrichtung bestehen. Besonders die Rummelsberger Diakone und Vorpraktikanten stellten in mehrfacher Hinsicht ein Problem dar – nicht nur im Fassoldshof. Auf einer Präsidiumssitzung des Landesverbandes für Innere Mission wurde 1956 festgestellt: „Die Erzieherstellen in den Erziehungseinrichtungen der Inneren Mission sind weithin nur mit Diakonenanwärtern oder Hilfsdiakonen besetzt. In all den Erziehungsheimen, in denen ein Rummelsberger Diakon Hausvater ist, sind nur 5 ausgebildete Erzieher, aber 41 junge Brüder neben den Hausvätern tätig.“ Es galt als dringend, dass für die Gruppenerziehung ausgebildete Erzieher angestellt werden können. Insbesondere angesichts der Einführung der Wehrpflicht sah sich Rummelsberg nicht mehr in der Lage, die Einrichtungen auch nur mit unausgebildeten Kräften zu versorgen. In den Erziehungseinrichtungen sollte neben dem Hausvater für je 60 Kinder und Jugendliche eine ausgebildete Erzieherkraft tätig sein. Die anderen sollten mindestens in erzieherischer Ausbildung stehen.432 Ende 1957 beklagte sich allerdings der Fassoldshofer Anstaltsleiter Böttinger beim Rektor der Rummelsberger Anstalten über die in seiner Einrichtung arbeitenden Diakone. Von einem Diakon meinte er, er gehe „Schwierigkeiten in der Begegnung mit Jugendlichen“ aus dem Weg. Die Diakonenanwärter seien überfordert. Doch einen Abzug der Kräfte könne die Einrichtung mangels Ersatz ebenfalls nicht verkraften. Böttinger wollte „durch Zuweisung einiger qualifizierter Erzieher für die vielbesprochene und durch unser derzeitiges Hausvaterproblem noch aktueller gewordene Überforderung dieser jungen Menschen Abhilfe geschaffen wissen“. Er meinte feststellen zu müssen: „Es ist bedauerlich, daß der Erzieherberuf auch bei den meisten Diakonen nicht in sehr hohem Kurs steht. Sehr viele zieht es auch dann zur Gemeindearbeit, wenn sie sich für den Erzieherberuf eignen. Sowohl in der Würdigung als auch in der Bezahlung müsste dieser Beruf mindestens auf die gleiche Stufe gestellt werden wie der des Gemeindediakons.“ Gerade für den Fassoldshof mit der nach seiner Ansicht noch nicht ausrei-

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IM Bayern an LKR v. 21.3.1959, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. II (2570). Auszug aus Präsidiumssitzung v. 27.2.1956 in Nürnberg, in: ELKAN, DW Bayern 1960.

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chend christlich geprägten Mitarbeiterschaft wollte Böttinger durch die Diakone ein christliches Klima schaffen.433 Böttingers Brief stieß in Rummelsberg wie in der Inneren Mission in Bayern eine Diskussion über den Einsatz der Diakone als Erzieher in Heimen an.434 Aus einer eigens beim Evangelischen Erziehungsverband gefertigten Aufstellung über die Rummelsberger diakonischen Erzieher in Anstalten (ohne Hausväter) vom Januar 1958 ging hervor, dass von 28 nur vier ausgebildete Erzieher, 12 Zwischenpraktikanten und 12 noch nicht Ausgebildete waren. Neun von ihnen arbeiteten in den Rummelsberger Heimen, sechs im Fassoldshof und die anderen verteilt über andere Heime.435 Der sich hierin ausdrückende geringe Grad von Professionalisierung in der Erziehungsarbeit wurde im Rahmen eines Misshandlungsfalles besonders deutlich. Im Februar 1960 entwichen drei Jungen (darunter zwei Schuljungen) vom Fassoldshof und wurden von der Landpolizei in Burgkunstadt festgesetzt. Als der Erziehungsleiter für die männliche Jugend, ein Diakon der Rummelsberger Anstalten, die drei holte, „schlug Scheffler die Buben vor den Augen der Polizeibeamten so sinnlos und brutal, dass die Beamten darin den Tatbestand der körperlichen Mißhandlung erfüllt sahen und Anzeige erstatteten“.436 Laut dem Protokoll, das die Polizisten über diesen Fall aufsetzten, waren die Schläge so brutal, dass die Gesichter sofort anschwollen. Zwar entschuldigte sich der Hausvater bei den Beamten, doch brachte er „eine Freude zum Audruck, daß ihm vor kurzer Zeit erst das Recht eingeräumt worden ist, an Zöglingen Arreststrafen bis zu sieben Tagen selbst verhängen zu dürfen“. Er habe Arrestzellen in Fassoldshof einrichten lassen. Die Zöglinge hatten zuvor angegeben, dass bei geringsten Anlässen Kollektivstrafen verhängt würden. Zudem würde das Taschengeld nicht ausbezahlt, sondern auf einem Konto gesammelt, um für beschädigtes Material eine Gegenleistung zu haben. Aus der gemeinsamen Getränkekasse würden sich die Erzieher Getränke kaufen und nur ein kleiner Teil komme den Minderjährigen zugute. Das inneranstaltliche Beurteilungssystem führe zur weiteren Verwahrung der schlecht Beurteilten. Ein Junge gab an, er habe nur ein Jahr im Heim 433 434 435

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Fassoldshof an Rektor Bürckstümmer v. 1.1.1958, in: ebd. Besprechung mit Rektor Bürckstümmer am 3.1.1957, in: ebd. Aktennotiz betr. erzieherischer Nachwuchs in den Kinder- und Erziehungsheimen v. 30.1.1958, in: ELKAN, DW Bayern 1951. Fassoldshof an LKR v. 24.3.1960, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. II (2570).

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bleiben sollen, doch sei er darüber längst hinaus. Er wolle eigentlich Plakatzeichner werden, doch könne er das nicht im Fassoldshof und würde mit Gartenarbeiten beschäftigt. Er fühle sich festgehalten im Heim, damit „stets genügend billige Arbeitskräfte im Heim“ seien. Es würden zwar gelegentliche Heimbesichtigungen erfolgen, doch werfen die Besichtigenden „nur von der Tür aus in die Unterkunftsräume einen Blick“. Niemand würde nach Beschwerden gefragt, es würde sich aber auch niemand trauen Beanstandungen vorzubringen, weil er Nachteile befürchte.437 Der 42-jährige Diakon Willi Scheffler war seit dem Oktober 1958 für die männliche Jugend im Fassoldshof zuständig. Allerdings befand ihn Anstaltsleiter Böttinger charakterlich nicht für geeignet und hatte bereits im Sommer 1959 um seine Abberufung gebeten, da er „in einer unfaßlich sturen Unbelehrbarkeit heute allgemein und im Raum der Kirche erst recht nicht mehr vertretbaren Erziehungsgrundsätzen und -praktiken huldigte und die Erzieherschaft damit infizierte“. Nachdem Böttinger vertraulich durch Mitteilung der Mainrother Polizei Kenntnis von der brutalen Misshandlung auf der Polizeistation erhielt, hatte er Rücksprache mit dem Polizeiinspektor von Lichtenfels, dem Landrat und dem Jugendamtsleiter gehalten. Alle sagten zu, dass alle „rechtlich möglichen Schritte unternommen würden, um Weiterungen zu vermeiden und die Einschaltung der Presse zu verhindern“. Es wurde dann ohne großes Aufsehen abgewickelt, da der Richter die Form eines Strafbefehls wählte statt einer öffentlichen Verhandlung.438 Auch die Diakonenanstalt Rummelsberg riet ihrem Diakon, den Strafbefehl wegen Misshandlung Abhängiger nach den §§ 223b, 74, 27 b StGB anzunehmen, um Aufsehen zu vermeiden. Das gesamterzieherische Problem des Fassoldshofs wurde nachfolgend durch eine Kommission der Rummelsberger Anstalten erörtert.439 Bei einem Gespräch, das im Auftrag des Diakonischen Rates in Bayern im Herbst 1960 stattfand, brachte Böttinger, der seine Position als Anstaltsleiter aufgeben wollte, erneut Klagen über die Rummelsburger Diakone vor. So erfahre er aus einer Zeitungsnotiz, wenn er neue Di437

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Landpolizei Burgkunstadt an Kreisjugendamt v. 4.2.1960, in: ELKAN, DW Bayern 1961. Fassoldshof an LKR v. 24.3.1960, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. II (2570). Diakonenanstalt Rummelsberg an LKR v. 25.3.1960, in: ebd. Die Kommission bestand aus Dr. Schubert, Pfr. Kolb, Pfr. Jakob, Diakon Goller, Diakon Schlötterer, Diakon Joachim.

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akone erhalte. Viele seien zur Erziehungsarbeit ungeeignet und haben keinen Kontakt zur Jugend. Die guten Erzieher aus Rummelsberg seien alle in andere Stellen versetzt worden. Durch das Verhalten des Bruder Schefflers, der „offenbar ganz bedenkenlos zur Pädagogik des Zuschlagens aufgefordert habe“, hätte die Anstalt jetzt Schwierigkeiten. „Jetzt würde der Faßoldshof die Früchte dieser Pädagogik ernten dadurch, daß immer wieder ein Erzieher geschlagen werde.“ Böttinger hatte nach eigener Angabe bereits resigniert und sagte schon gar nichts mehr nach Rummelsburg, da er froh sein müsse, angesichts des Mangels an Erziehern überhaupt noch jemanden zu haben. Er selbst wohne im Erziehungshaus und müsse häufig als „Feuerwehrmann“ eingreifen. Umgekehrt wurde ihm ein schlechtes Verhältnis zu den Diakonen vorgeworfen. „Bedrückend sei für ihn, daß er bei den Erzieherbesprechungen noch niemals ein einziges Bekenntnis eines Bruders gehört habe, daß sie, die Brüder, in der Erziehungsarbeit Fehler machen würden. Ganz besonders habe ihn erschüttert, daß ein Erzieher für seine Erziehungsarbeit Schreckpistolen bei sich trägt und auf Pfarrer Böttingers Aufforderung hin auch nicht gleich ihm die Schreckpistole überbrachte.“440 Böttinger hatte bis 1961 in seiner sechsjährigen Zeit als Anstaltsleiter rund 60 Erzieher mit dem Durchschnittsalter von 20 bis 21 Jahren erlebt, die im Durchschnitt 10 Monate in der Einrichtung blieben.441 Die Fluktuation beim Erziehungspersonal war also besonders hoch und die Angst vor den Jugendlichen besonders ausgeprägt.442 Böttinger war trotz aller Kritik an den sich überfordert fühlenden Diakonen und -anwärtern keineswegs ein absoluter Gegner der körperlichen Züchtigung, sondern nur deren brutaler Auswüchse. Auf eine Nachfrage des Nürnberger Kinderschutzbundes von 1962, wonach das Heim in mehreren Fällen als rabiat geschildert und auch Klagen über das Essen vorgebracht worden seien, antwortete Böttinger: „Die körperliche Züchtigung ist in unserem Heim verboten, auch wenn sie den Berufserzieher von Rechts wegen in den Grenzen des Gesetzes und 440

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Niederschrift des Gesprächs Böttinger, Henninger, Senior Grimm und Dyroff v. 20.10.1960, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof.) Bd. II (2570). Stellungnahme des Anstaltsleiters Friedrich Böttinger zum Bericht der Treuhandstelle der Inneren Mission über die bei der Jugendheimstätte der Inneren Mission Faßoldshof vorgenommene Prüfung der Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung zum 31.3.1959 v. 20.3.1961, in: ebd. Vgl. auch Archiv Fassoldshof, Personalverzeichnis und Statistik (1.6.195031.12.1969).

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der Humanität zugestanden wird. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit werden die Erzieher auch auf den erzieherischen Unwert der Körperstrafe hingewiesen. Wer möchte es ihnen aber verdenken, wenn sie in äußersten Fällen von Aggressivität und Renitenz glauben zu dem Mittel der Backpfeife greifen zu müssen.“ Nur ein Praktiker hätte hier Verständnis. „Backpfeifen“ seien dem Anstaltsleiter zu melden, Schläge mit der Faust oder einem Gegenstand, auch bei Notwehr, seien verboten. Die Klagen seien Standardklagen und damit Sympton der Verwahrlosung, denn die jungen Menschen seien „nicht freiwillig“ im Heim und selbst nach Aichhorns Standardwerk443 über die verwahrloste Jugend sei die „abgründige Lügenhaftigkeit“ deren Kennzeichen. Die Eltern wären oft ebenfalls nicht einverstanden, weil weder Verwöhnung noch Strenge im Heim ihren Vorstellungen entspreche.444 Böttinger verließ schließlich im Januar 1964 die Einrichtung und hinterließ eine Dienstanweisung445, wonach die dort seit 1951 tätige Psychologin Mayrhofer446 „Erziehungsleiterin“ sei. Die Rummelsberger Brüder lehnten allerdings jede Verantwortung ab und wollten auch nicht unter einer Frau arbeiten, so gut angesehen deren bisherige Arbeit im Fassoldshof auch immer gewesen war.447 Die Brüder beschwerten sich, „dass ihr derzeitiger Erziehungsdienst mehr in dem äusserlich Funktionalen, also dem Ordnung halten, bestehe und nicht in einem eigentlich aufbauenden Erziehen“.448 Die Frage der engeren Anlehnung der Einrichtung an die Rummelsberger Anstalten stand im Raum.449 Ein neuer Pfarrer als Leiter 443

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August Aichhorn, Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung, 11. Aufl., Bern 2005 (Original 1925). Deutscher Kinderschutzbund, Ortsgruppe Nürnberg an Kinderschutzbund Hamburg v. 24.1.1962 und Faßoldshof an Deutscher Kinderschutzbund, Ortsgruppe Nürnberg v. 14.2.1962, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof) Bd. II (2570). Siehe „Dienstanweisung“ (o. D. 1964), in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Konzept (bis 1977)“. Vgl. die Wiedergabe ihres Vortrags in der Niederschrift der Sitzung des Ausschusses für geschlossene Jugendfürsorge auf der Karlshöhe am 9./10.12.1955, o. D., in: ADW, EEV 167. Interview Arnold Schubert (23.08.2010), Transkript Teil 2, S. 11f. Ev. Erziehungsverband Bayern an IM v. 10.1.1964, in: ELKAN, LKR Nr. V 860 (Faßholdshof) Bd. II (2570). Insgesamt traten Mitte der 1960er Jahre viele kleine Träger an die Rummelsberger Anstalten wegen einer Übernahme heran, da sie sich nicht mehr halten könnten. So nach Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Rummelsberger Anstalten e.V. am 13.1.1965, in: Archiv Rummelsberg, Ordner „Verwaltungsrat Chronik 1940-1970“.

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wurde nicht gefunden. Rummelsberg kündigte sämtliche Brüder zum 30. Juni 1964 und erzwang eine Reduzierung der Belegung. Neuer Leiter wurde im September 1964 der Diakon Konrad Meisinger, der bereits Anfang der 1950er Jahre im Fassoldshof als Heimleiter tätig gewesen war. Durch eine Satzungsänderung am 31. Mai 1965 bekamen drei ,,Rummelsberger“ als Rektor, Verwaltungsdirektor und Erziehungsreferent Sitz und Stimme im Verwaltungsausschuss, der alte langjährige Vorsitzende Pfarrer Grimm legte den Vorsitz zu Gunsten des Rummelsberger Rektors Hermann Bürckstümmer nieder.450 Der Heimalltag Über den Alltag im Heim Fassoldshof sind bereits oben hinsichtlich der Züchtigungen einige Bemerkungen gefallen. Aus dem Interview mit dem Diakon Arnold Schubert lassen sich weitere Informationen gewinnen.451 Arnold Schubert wurde 1938 in Schlesien als jüngstes Kind geboren. Sein Bruder war drei Jahre, seine Schwester fünf Jahre älter. Der Vater arbeitete als Hilfsarbeiter, die Mutter war Hausfrau. Die Familie flüchtete aus Niederschlesien nach Bayern. Oft zogen sie um. Er fühlte sich nicht nur als Flüchtling, sondern auch als Evangelischer in Bayern diskriminiert. Hatte er anfänglich noch frei, wenn seine Mitschüler katholischen Religionsunterricht erhielten, so wurde er später von einem evangelischen Religionslehrer einzeln unterrichtet. Er erhielt nach Schulabschluss keine Lehrstelle – nach eigener Deutung weil er evangelisch war. Sein Religionslehrer schlug ihm dann vor, sich in den Rummelsberger Anstalten als Diakonenanwärter zu bewerben. Nach einem Vorsprechen wurde er im Alter von 14 Jahren als Anwärter genommen und in Rummelsberg ausgebildet. Die Rummelsberger Diakonenanstalt hatte nach langen Diskussionen angesichts des Nachwuchsmangels 1939 die Möglichkeit eingeräumt, dass sich auch 14-jährige Jungen nach Abschluss der Volksschule in diesem Zweig auf die Diakonenausbildung vorbereiten durften.452 Er durchlief zunächst im Rahmen einer vordiakonischen Ausbildung verschiedene Stationen, wurde dann Hilfsdiakon und nach weiteren Stationen schließlich im Alter von 22 Jahren Diakon, wobei er den Titel aber erst ab dem 25. 450 451 452

Siehe Chronik 125 Jahre Faßoldshof, bes. S. 47. Interview Arnold Schubert (23.08.2010). Vgl. Häusler, „Dienst an Kirche und Volk“, S. 382; Werner Guth, Die Ausbildung der Diakone, in: Bürckstümmer (Hg.), 75 Jahre Diakonenanstalt Rummelsberg, hier S. 34. Bis 1945 kamen 34 Jungen auf diesem Weg zur Brüderschaft.

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Lebensjahr führen durfte. Er hatte u.a. in Heimen in der Erziehungsfürsorge gearbeitet. Seine eigene Ausbildung sieht er nicht als pädagogische Fachausbildung, eher als eine in der Praxis geronnene Erfahrung. Am 1. April 1961 wurde er in den Fassoldshof versetzt, wo er zunächst Gruppenerzieher und später Leiter des Lehrlingsheims wurde. Er blieb bis 1988 im Fassoldshof und leitete dann noch fünf Jahre ein Altenund Pflegeheim in Landshut und arbeitete als Gemeindediakon in Hof. Die Jugendlichen des Heimes charakterisiert er als auf der „letzten Stufe“ vor dem Jugendgefängnis stehend. Der Fassoldshof war auch ein Abschiebeort für andere Einrichtungen in Bayern mit der Folge, dass hier die „geballte Ladung“ der schwierigeren Jugendlichen hinkam.453 Der Fassoldshof hatte nach seiner Erinnerung ein weites Einzugsgebiet und er erinnert sich an Minderjährige u.a. aus Berlin, München, Nürnberg, Frankfurt etc.454 Unter den Jugendlichen habe es sich regional verstehende Gruppierungen und Rivalitäten gegeben. Aus einer Beschreibung der Psychologin Mayrhofer von 1954 geht hervor, dass ein besonderes Aufgabengebiet im Fassoldshof „die Stotterer und Bettnässer“ darstellten. Diese litten besonders, da ihre „starken Minderwertigkeitsgefühle“ durch das „Gruppenleben immer wieder aufgerührt“ wurden. Ein weiteres Feld war die Berufsberatung als Erziehungsberatung. „Die seelischen Nöte der jungen Menschen hatten manchmal ihre Ursache in einer falschen Berufswahl.“455 Auch aus anderen Berichten, die scheinbar von Minderjährigen in den Heimen verfasst waren und als Hintergrund für ein Sonderheft für die „Blätter für Innere Mission in Bayern“ dienen sollten, wurde das Lob auf die Berufsausbildung im Heim gesungen. Der hier z. B. zum Bauschlosser ausgebildete Dietmar Fuchs zog allerdings am Ende seiner Heimzeit eine Auswanderung nach Kanada einem Verbleib in Deutschland vor.456 Der Tagesablauf habe nach der Erinnerung von Arnold Schubert mit dem Wecken um 7:00 Uhr und der Körperpflege, dem „fertig“ machen zum Frühstück begonnen. Nach dem Frühstück gingen die Ju453 454

455 456

Interview Arnold Schubert (23.08.2010), Transkript Teil 1, S. 10. Vgl. auch den biografischen Bericht des 1956 von Berlin zum Fassoldshof verlegten Herrn W., in: Heimerziehung in Berlin. West 1945-1975 Ost 1945-1989. Annäherungen an ein verdrängtes Kapitel Berliner Geschichte als Grundlage weiterer Aufarbeitung (Autorengruppe i. A. der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Berlin), Berlin 2011, S. 21-24. Bericht v. ca. 1954, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Landesverband der IM“. Vgl. Landesverband IM an Fassoldshof v. 27.9.1954 und Bericht von Dietmar Fuchs v. 15.10.1954, in: ebd.

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gendlichen gegen 8.00 Uhr in die Arbeitsgruppen, trafen sich um 12.00 Uhr zum Mittagessen in den Speisesälen und hatten dann in den Gruppenräumen eine kurze Pause. Von 13.00 Uhr ging es bis ca. 17.00 oder 18.00 Uhr erneut zur Arbeit. Auch am Samstag wurde noch von 8.00 bis 12.00 Uhr gearbeitet. Am Samstagnachmittag fand ein großes Duschen im Brauseraum im Keller mit einem gemeinschaftlichen Wäschewechsel statt. Ansonsten durfte in der Woche von Einzelnen nicht geduscht werden. Ab 18.00 Uhr gab es Abendessen und bis 22 Uhr schloss sich die Betreuung in der Freizeit durch die Gruppenerzieher an. Die Abendbeschäftigung lag im Ermessen der Erzieher, z. B. wurde Karten gespielt. Dies war für die Minderjährigen freiwillig, doch hat es auch einen „Pflichtabend“ gegeben. Arnold Schubert hat diesen z. B. gerne als Fortbildungsabend mit Tageszeitungen gestaltet. Es gab nur ein Radio in seinem Zimmer und Lautsprecher in den anderen Räumen. Ab 1964 existierte nach seiner Erinnerung ein Gemeinschaftsfernseher im Gruppenraum.457 Nach einer überlieferten „Allgemeinen Ordnung für die Heime Faßoldshof und Eben“, die auf ca. 1961 datiert werden kann, war den Jugendlichen nicht nur „die Anknüpfung und Pflege von Mädchenbekanntschaften“ untersagt, sondern auch „die Unterhaltung von Beziehungen zu Außenstehenden gleich welchen Geschlechts“.458 Als Arnold Schubert 1961 anfing, im Fassoldshof zu arbeiten, gab es keinen Ausgang, und nur mit der ganzen Gruppe konnten gemeinsame Aktivitäten wie z. B. Sport auf dem Fußballplatz oder Tischtennis spielen geschehen. Es wurden auch Sportwettkämpfe mit anderen Gruppen in Kulmbach, Mainleus und anderen Heimen durchgeführt. Jeden Sonntagmorgen war Andacht mit der Pflicht zur Teilnahme. Anfang der 1960er Jahre herrschte eine strenge Postein- und Postausgangskontrolle. „Briefe geben oft Aufschluß über Absender und Empfänger, der für die erzieherische Arbeit von Bedeutung sein kann.“ Deswegen seien die Briefe vom Erzieher aufmerksam zu lesen. Bestimmte Briefe seien dem Anstaltsleiter vorzulegen: „a) alle die an Jugendämter und andere Behörden gerichtet sind, b) alle die irgendwelche Komplikationen 457

458

Die erste „Ordnung für das Fernsehen in Faßoldshof “ datiert allerdings vom 10.02.1961. Siehe Archiv Fassoldshof, Ordner „Konzept (bis 1977)“. „Jeden Samstag wird in der Erzieherkonferenz das Fernsehen in den Wochenplan der kommenden Woche mit eingebaut. [...] Der aufgestellte Plan ist für alle Gruppen bindend. Ausnahmen schaffen unnötige Unruhe und Zwistigkeiten.“ Allgemeine Ordnung für die Heime Faßoldshof und Eben [ca. 1961], in: ebd.

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erwarten lassen, insbes. c) alle die unsere Erziehungsarbeit gefährden könnten.“459 Briefe mit unbedenklichem Inhalt waren vom Erzieher gegenzuzeichnen und in den Postkasten des Betreffenden zu legen. Bei ausgehenden Briefen war darauf zu achten, dass keine „verletzenden Äußerungen“ enthalten waren oder „Bettelbriefe“ herausgingen. Als er seine Gruppe im April 1961 übernahm, hat er sich einer geschlossenen Ablehnung gegenüber gesehen. Das eisige Schweigen der Jugendlichen, die alle auf den heimlichen „Gruppenboß“ sahen – er war nur gut eineinhalb Jahre älter – konnte er erst durch gute eigene Leistungen im Sport brechen, wo er dem „Gruppenboß“ beim Fußball den Ball abluchsen konnte. Das brachte ihm Respekt ein, denn er hatte den „Gruppenboß“ dadurch „gebrochen“. Als Arnold Schubert im Fassoldshof seine Tätigkeit begann, war nach Entweichungen die Wegnahme der eigenen Kleidung und die Zuteilung von blau-weißer Strafkleidung genauso üblich, wie eine Glatze zu scheren. Zudem gab es einen Karzer oder auch „Besinnungszimmer“ im Landwirtschaftsgebäude, das vergittert und mit Bett und Tisch wie eine „Gefängniszelle“ ausgerüstet war. Hier mussten die Jugendlichen bis zu einer Woche verbringen. Doch ca. 1964 wurde diese abgeschafft. Es war nach seiner Erinnerung schwer, die alten Erzieher von einer Liberalisierung der Erziehungsmittel zu überzeugen. Auf die Frage, ob auch Schläge in der Einrichtung verabreicht worden sind, antwortet Arnold Schubert mit „jein“. Das war untersagt, doch in Situationen, in denen es keine andere Möglichkeit gab, den Jugendlichen von etwas abzubringen, wurde eine Ohrfeige verabreicht. Er präzisiert an anderer Stelle, dass dies in Überforderungssituationen, „um Schlimmeres zu verhindern“, geschehen sei. Es selbst habe es nach seiner Erinnerung nicht mehr als zehnmal gemacht, doch dies immer persönlich als Bankrotterklärung erlebt. Die Psychologin wurde dann informiert. Eine Rechtfertigung stellte für ihn die Geschichte dar, wonach ein Jugendlicher ihm mal gesagt habe, dass er nicht die Gesellenprüfung gemacht hätte, wenn er keine Ohrfeige erhalten hätte. Ein Strafbuch war für jedes Haus zu führen. Auch der so genannte Einheitshaarschnitt mit Hilfe eines „Nachttopfs“ wurde ca. 1963/64 abgeschafft. Die Jugendlichen durften dann Wünsche äußern. Manche haben sich lange Haare wachsen 459

Behandlung der Post-Ein-und Ausgänge von Heiminsassen v. 25.5.1961, in: ebd.

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lassen, doch wurde dies wieder durch Arbeitsschutzvorschriften an Maschinen eingeschränkt.460 Auch nach der Liberalisierung des Ausgangs hin zu einem Einzelausgang herrschte als Kleidungsvorschrift, dass die Jugendlichen ‚ordentlich‘ aussehen müssten. Dies umfasste dann auch eine Fingernägelkontrolle und die Mitnahme von Kamm und Taschentuch. Die Kleidung der Jugendlichen war mit Namen oder Nummer bezeichnet. Laut Kostenträger wurde zweimal im Jahr ein Kleiderantrag bewilligt. Die Jugendlichen durften allerdings nur in Geschäften auswählen, mit denen der Fassoldshof Rabatte ausgemacht hatte, denn es sollten dadurch mehr Kleidungsstücke herausspringen. Gearbeitet wurde im Wesentlichen in den Werkstätten. Die Landwirtschaft461 wurde unter der Leitung von Diakon Meisinger nach 1964 aufgelöst und z. B. eine neue Schreinerei und Schlosserei errichtet, um die Jugendlichen mehr auf Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt vorzubereiten. In den Jahren 1966/67 wurden die Werkstätten nach der Erinnerung von Arnold Schubert für Arbeitskolonnen, die Handarbeit für Industriebetriebe wie Schuhsohlen kleben etc. durchführten, genutzt. Für die Minderjährigen gab es zunächst nur ein Taschengeld, das vom Kostenträger kam und nach Alter gestaffelt war. Es durfte allerdings nicht ausgehändigt werden, denn die Erzieher hatten die Verpflichtung zur ordnungsgemäßen, sinnvollen Verwendung. Es wurden Tabakwaren, Süßigkeiten und Pomade etc. eingekauft. Dies geschah im Rahmen einer „Verkaufsstunde“ am Samstag. Die eingekauften Dinge wurden dann auf der Karteikarte des Betreffenden von seinem ‚Konto‘ abgezogen. Meisinger führte auch die so genannten „Arbeitsprämien“ ein, deren Höhe vom Verhalten und der Arbeitsleistung abhingen. Die Arbeitserzieher und Arnold Schubert als Leiter des Lehrlingsheimes entschieden darüber. Erst ab Mitte der 1970er Jahre wurden Taschengeld und Arbeitsprämien auch an die Minderjährigen wochenweise ausbezahlt. In den ersten Jahren gab es nur zwei Schulräume über den alten Werkstätten, was sehr laut war. Arnold Schubert erteilte dort u.a. Religionsunterricht für verschiedene Religionen bzw. Konfessionen (Katholisch, Zeugen Jehovas, Neuapostolisch etc.), wobei er aber den eigenen Standpunkt immer etwas „stärker“ vertreten habe. 460 461

Interview Arnold Schubert (23.08.2010), Transkript Teil 1, S. 26f. Diese war in den 1950er Jahren bei Jugendlichen beliebt, weil hier mehr Freiheiten herrschten als in anderen Betrieben. Vgl. den biografischen Bericht von Herrn W. in: Heimerziehung in Berlin, S. 21-24.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

In den 1960er Jahren sind die großen Säle mit 20 Betten abgeschafft, im Lehrlingsheim die Schlafsäle gedrittelt worden. Es bestand dann eine 16er-Einheit mit 4 Viererzimmern. Eine zweite Erzieherkraft wurde eingefordert und dann Ende der 1960er Jahre auch eingeführt. Lange war kein zweiter Praktikant von Rummelsberg zu erhalten. Man suchte dann Mitarbeiter, die im Rahmen einer kurzpädagogischen Ausbildung in Rummelsberg als zweite Erzieher eingesetzt werden könnten. Anfangs waren die Minderjährigen nach der Erinnerung von Arnold Schubert noch belastbar, doch seit den 1970er Jahren kamen immer mehr Lernschwierige in die Einrichtung, was dann bei Lehrbetrieben außerhalb problematisch wurde. Schubert selbst engagierte sich im Evangelischen Erziehungsverband in Nürnberg im Fortbildungsausschuss und veranlasste auch erste Fortbildungen für Arbeitserzieher. In der Dokumentation des ASTA aus Erlangen, die 1969 die evangelischen Heime in Aufruhr versetzte, kamen die Jungenhäuser des Fassoldshofs relativ gut weg. Neben den beschränkten Ausgangsregelungen (nur im Ort) war z. B. auch angegeben, dass keine Prügelstrafe mehr herrsche. Allerdings wurde negativ auf die Isolation der in der Weihersmühle untergebrachten Mädchen verwiesen, die im Gegensatz zu den Jungen nur in geschlossenen Gruppen aus dem Heim heraus kamen.462 Fazit Der Fassoldshof war die größte evangelische Erziehungsanstalt im Norden Bayerns. Sie wurde während der NS-Zeit von der NSV übernommen und hatte eine problematische Erziehungstradition, die auch in der Nachkriegszeit nicht gebrochen werden konnte. Der Skandal über Schläge mit einer Knute im Jahre 1949 machte sichtbar, wie schnell die Grenze zwischen einem zugegebenen elterlichen Züchtigungsrecht und schweren Misshandlungen und Demütigungen überschritten werden konnte – ein Problem, das auch nachfolgend immer wieder in der Anstaltsgeschichte eine Rolle spielte. Auch der Versuch, durch den Personaleinsatz der Diakone der Rummelsberger Brüderschaft eine Verbesserung der Erziehungssituation und ein mehr christliches Klima zu erreichen, war angesichts der Unerfahrenheit und Überforderung der 462

ASTA-Sozialreferat der Universität Erlangen, Basisgruppe Theologie, Arbeitskreis Emanzipation der Frau (Hg.): ASTA-Dokumente: Erziehungsheime der Inneren Mission – nach Voccawind [Bild mit Gerippe] [ca. 1969].

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jungen Diakone nicht erfolgreich. Hier wirkte sich der Ausbildungsmangel für männliche Heimerzieher in Bayern besonders aus. Der auch in den 1960er Jahren reglementierte Heimalltag liberalisierte sich bis zur Zeit der Heimkampagnen 1969, worüber noch berichtet werden wird.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

5.4.5 Die Kaiserswerther Mädchenheime (Rheinland) – Mitarbeitermangel als Modernisierungshemmnis Einführung Die Diakonissenanstalt Kaiserswerth besitzt eine lange Geschichte in der Mädchenerziehung. Seit der Aufnahme der ersten strafentlassenen Gefangenen im Jahre 1833 betrachtete man anstaltsintern die eigene Erziehungs-Fürsorgearbeit für Mädchen als wesentliches Arbeitsfeld von Diakonissen.463 An der Ausweitung der Jugendfürsorge im Rahmen der staatlichen Fürsorgeerziehung seit der Jahrhundertwende hatte man teilgenommen. Die Einrichtungen „Friederikenstift“ und „Eben Ezer“ (seit 1902) bildeten die Häuser zur Erziehung von schulentlassenen Mädchen auf dem Anstaltsgelände. Daneben betrieb die Diakonissenanstalt noch Kinderheime wie das „Barbarossaheim“ und das Kinderheim am Markt.464 Während der NS-Zeit hatte man sich sowohl auf das Zwangssterilisationsgesetz wie auch auf die „Bewahrung“ Schwersterziehbarer eingestellt, die in der ehemaligen Hauswirtschaftsschule unter dem Namen „Katharine Göbel Stift“ seit 1938 betrieben wurde. Die „Bewahrung“ bedeutete im Rheinland seit 1934 eine bestrafende Sonderfürsorge für besonders widerspenstige junge Frauen, die zu einem erniedrigten Pflegesatz durchgeführt wurde. Die letzte Steigerung der Disziplinierungsdrohung war die Überweisung in das Arbeitshaus Brauweiler bzw. die dort eingerichteten Sonderabteilungen. Von dort konnten Mädchen und junge Frauen, die sich nicht anpassten, nur noch in das seit 1942 existierende sogenannte „Jugendschutzlager“

463

464

Vgl. allgemein Ruth Felgentreff, Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836-1998. Von der Diakonissenanstalt zum Diakoniewerk – ein Überblick, Düsseldorf 1998, S. 41f. Siehe z. B. Verzeichnis Evangelischer Erziehungsheime (Evangelische Jugendhilfe Sonderheft, September 1953), S. 22. Leider sind zum „Barbarossaheim“ kaum Akten überliefert. Durch die Meldung einer Zeitzeugin, die im Alter von drei bis sechs Jahren in der Zeit 1969-1972 im Barbarossaheim untergebracht war, gibt es hier allerdings Hinweise auf Demütigungen und Misshandlungen der dort untergebrachten Kinder durch Erzieherinnen: „. Schläge (bevorzugt war ein Holzlineal, das Fritzchen hieß, das die Erzieherin benutzte, da sie sich zu schwach fühlte, die entsprechende Bestrafung ‚nur‘ mit der Hand auszuführen), Einsperren, in Waschräumen ohne Decke auf den kalten Fliesen oder Holzbänken übernachten etc.“ (E-mail von Hortense S. an den Verfasser v. 27.11.2008).

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

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Uckermark in unmittelbarer Nachbarschaft zum Frauen-KZ Ravensbrück verlegt werden, um sie in scharfer Form zu disziplinieren.465 Die Kaiserswerther Einrichtungen waren am Kriegsende durch den Artilleriebeschuss in ihrer Funktion eingeschränkt und evakuiert worden und im Mai 1945 nur noch zu 25 % belegt.466 Doch bereits 1946 richtete die Anstaltsleitung sie wieder her. 1952 bestanden erneut gut 200 Plätze in den Mädchenheimen. Als 1951 das Sozialministerium in NRW die eigene Heimdifferenzierung durch die Schaffung von Sonderabteilungen für die „Aufnahme von sexuell gefährdeten bezw. geschädigten älteren evangelischen Schulmädchen“ ausbauen wollte, fragte man in Kaiserswerth an. Laut einem Schreiben der Leiterin Diakonisse Luise Harz an ihren Vorsteher hatte diese selbst bei der Behörde die Anregung zu dieser Anfrage gegeben, denn sie meinte, dass die ‚Verwahrlosung‘ bereits auf die 11- bis 14-jährigen Mädchen übergegangen sei. Die vorgesehene Einrichtung mit 20 Plätzen sollte „im schlichten Rahmen gehalten werden, damit die Kinder nicht zu ihrem eigenen Schaden über ihren Stand erzogen werden“.467 Eine Lehrerin für die angeschlossene Heimschule und den Einsatz in der Wäscherei sollte genügen. Damit unterstützte die Kaiserswerther Einrichtung das Differenzierungsbemühen des Sozialministeriums, das sich angesichts der Not von geflüchteten oder vertriebenen Menschen in der direkten Nachkriegszeit mit einem wachsenden Anteil gerade evangelischer Kinder konfrontiert sah, für die es Plätze zu schaffen galt. Nachfolgend entstand hier eine Aufnahmeabteilung für evangelische Mädchen. Die in der oben zitierten Formulierung erwähnte Schlichtheit, die sich gegen jede Form des Verwöhnens verwahrte, entsprach nicht nur dem in Diakonissenkreisen populären protestantischen Askese-Ideal, sondern folgte auch einem ständisch-statischen Gesellschaftsmodell. Dies war zu Beginn der 1950er Jahre weit verbreitet, bot es doch Orientierung und Schutz angesichts der noch nicht ausgestandenen Nachkriegsnöte. Im Jahre 1955 gesellte sich eine so genannte heilpädagogische Abteilung als Anbau zum Haus Disselhoff zur Sonderabteilung dazu, wie sie im Differenzierungskonzept der Heimerziehung des Landesjugendamtes Rheinland auch für andere Heime vorgesehen war. Die Heimfürsorge war insgesamt im Rheinland nach Konfession (bis 1972), Geschlecht, Alter und Erziehungsschwierigkeit differenziert. Insbe465

466 467

Vgl. zur Jugendpflege im Rheinland in der NS-Zeit die Beiträge in: Welkerling/Wiesemann (Hg.), Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. So nach Brief Adolf Nell an Otto Ohl v. 2.5.1945, in: ADWRh Ohl, OD 9.3. Mädchenheime an Frick v. 18.12.1951, in: FKSK, 2-1, Nr. 905.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

sondere die Differenzierung nach Konfession war der Entstehung der Erziehungsfürsorge in der Rheinprovinz geschuldet, in der sich die Provinz selbst erst relativ spät mit eigenen Heimen engagierte. Die weibliche Fürsorgeerziehung blieb bis zur ersten Entkonfessionalisierungswelle 1938 ausschließlich eine Domäne der konfessionellen Träger. Die klassische Form der Ausdifferenzierung der Heimfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich auch bei den Mädchenheimen der Diakonissenanstalt Kaiserswerth erkennen. Zum einen erfolgte eine Ausdifferenzierung hinsichtlich der Schwererziehbaren, die in Sondergruppen in besonders abgeschlossener Form untergebracht waren. Die seit 1955 bestehende heilpädagogische Abteilung besaß mehr Fachpersonal und einen besseren Betreuungsschlüssel. Hier waren weniger Mädchen untergebracht. Die Häuser in Kaiserswerth umfassten im Juni 1958: Juni-Meldung über Belegung der Mädchenheime Kaiserswerth 1958468 Abteilung

Plätze

1. Heilpädagogische Abteilung Haus Disselhoff

12

2. Friederikenstift

34

a) hauswirtschaftliche Ausbildung

15

b) Unterkurs Hauswirtschaft

19

3. Eben-Ezer (Aufnahmeheim)

40

a) normale Erziehungsfälle

22

b) schwierige Erziehungsfälle

18

4. Katharine-Goebelstift

79

a) normale Erziehungsfälle (I. Etage)

19

b) jüngere Erziehungsfälle

12

c) Lehrlinge der großen Schneiderlehre (abgeschlossene Etage)

12

d) schwierige Erziehungsfälle (II. abgeschlossene Etage)

13

e) III. Etage (abgeschlossene Etage)

23

Insgesamt

165

Hierbei ist die Differenzierung nach Erziehungsschwierigkeit in „normale“ und „schwierige“ Erziehungsfälle sowie nach Alter und Berufsbildung auffällig. Neben den Einrichtungen des Bergischen Diako468

Mädchenheime an LVR v. 4.8.1958, in: ebd. [auch in ALVR 39648].

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

337

nissenmutterhauses in Aprath, dem Haus Elim des Erziehungsvereins Neukirchen, dem Dorotheenheim in Düsseldorf, dem Fürsorgeheim in Ratingen und den im Süden der Rheinprovinz befindlichen Heimen Boppard und Wolf an der Mosel waren die Heime der Diakonissenanstalt ein wichtiger Teil des konfessionell bestimmten Unterbringungssystems für weibliche Fürsorgeerziehungszöglinge. Daneben existierte in Kaiserswerth mit dem „Barbarossaheim“, einem Waisen- und Kinderheim, auch eine Einrichtung für Kinder bis zum Schulalter, in welcher ebenfalls vornehmlich Diakonissen arbeiteten. Gleiches galt für den „Probsthof “ in Niederdollendorf bei Godesberg. Nachfolgend soll sich aber auf die Mädchenheime in Kaiserswerth konzentriert werden, zu denen Quellen über den Alltag vorliegen. Alle Gebäude in Kaiserswerth, in denen die Erziehung der Mädchen durchgeführt wurde, waren in der Bausubstanz sehr alt und renovierungsbedürftig. Zudem entsprach die dortige Raumaufteilung kaum den immer mehr als Standard betrachteten Differenzierungen, die z. B. eine Mindestraumgröße von Schlafzimmern vorsahen. So sollten die im Katherine-Göbel-Heim befindlichen Zweibettzimmer als Einzelzimmer belegt werden, doch die Heimleiterin folgte hier über Jahre einfach nicht den Forderungen des Landesjugendamtes.469 Auch die sanitäre Ausstattung oder das Nichtvorhandensein von Gruppen- oder Unterrichtsräumen schränkten die mögliche Nutzung der Gebäude immer mehr ein. Die gewohnheitsmäßige Überbelegung auf Grund der Platznot in der direkten Nachkriegszeit tat ein Übriges. Dies hatte insofern mit der Kostenfrage zu tun, da eine geringere Belegung geringere Einnahmen bedeutet hätte.470 Seit 1956 reichten zudem die vom Landesjugendamt gewährten Pflegesätze nicht mehr aus, da die Steigerungen der Löhne und Gehälter wie auch der Preise vorauseilten und die von den Spitzenverbänden mit dem Landschaftsverband vereinbarten Pflegesätze nicht mehr Schritt hielten.471 In den Folgejahren stiegen die Defizi469

470

471

Vgl. Vermerk v. 18.6.1957, in: ALVR 39647; ferner Bericht über die Besprechung am 19.1.1959 über Grundsatzfragen der baulichen Gestaltung der Mädchenheime v. 14.2.1959, in: ALVR 39650. „Ich habe ferner darauf hingewiesen, daß m. E. die Kaiserswerther Anstalten in ihrer baulichen Gestaltung unter so schwierigen Verhältnissen stehen, daß viele erzieherische Anliegen nicht erfüllt werden können. Die Gruppen sind zahlenmäßig zu groß und räumlich zu beengt. Es fehlen die notwendigen Nebenräume, um eine individuelle Erfassung der Jugendlichen, so wie sie erwünscht wäre, durchzuführen.“ (Vermerk v. 25.9.1957, in: ALVR 39647). Der Wirtschaftsleiter der Diakonissenanstalt regte deswegen an, dass die Pflegesätze an die Unkostensteigerungen angepasst werden und kurzfristiger als für ein ganzes

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

te von 2.000 DM (1957) über 49.000 DM (1959) auf 55.000 DM (1965) an.472 Die in Kaiserswerth untergebrachten Mädchen und jungen Frauen erhielten offenbar nur in einem geringen Umfang eine Ausbildung. Selbst im Vergleich zu anderen Einrichtungen für evangelische Mädchen wie z. B. in Neukirchen war der Anteil derjenigen, die Ende der 1950er Jahre mit einer abgeschlossenen hauswirtschaftlichen Ausbildung entlassen wurden, relativ gering. Diese galt heimintern offenbar als „Sonderausbildung, als Förderung der Begabtesten“.473 Ansonsten wurden die Mädchen zur Mithilfe im Anstaltskosmos eingesetzt. Ein Reisebericht des Landesjugendamtes hielt 1953 fest: „Der Durchgang durch die Arbeitsbetriebe zeigte, daß die neuaufgenommenen und die fluchtverdächtigen Mädchen auf den Nähabteilungen und bei der Hausarbeit beschäftigt waren. Ein großer Teil der Jugendlichen war jetzt zur Entezeit im Garten eingesetzt.“474 Die Mitarbeit in der Anstaltswäscherei, dem „Waschhaus“, war der Normalfall. Die hier geleistete unbezahlte Arbeit führte mit dazu, die Kosten des Heimaufenthalts gering zu halten. Zudem verteidigte die hier arbeitende Schwester die Arbeit im Waschhaus, da „die Gewöhnung an Ordnung und Sauberkeit sowie die Anpassung an den Arbeitsrhythmus“ wichtige „Miterzieher“ seien.475 Seit dem Anfang der 1960er Jahre wurden auch Arbeitsaufträge für Firmen wie z. B. für einen Schirmhersteller in Solingen oder Autoschlösserzusammenbau für VW ins Heim geholt, die in der Rückschau der hierzu interviewten Diakonisse Agnes Bröcker den Zweck hatten, die Mädchen zu beschäftigen. Es soll weniger um den Gegenwert der Arbeit gegangen sein, da diese dafür zu ineffektiv durchgeführt worden sei.476 Während ihres Aufenthaltes im Heim erhielten die Mädchen generell nur ein Taschengeld, dessen Höhe bis Juni 1961 bei 5 DM lag. Dann wurde eine neue Prämienordnung eingeführt, die differenziert nach Al-

472

473

474

475 476

Jahr bewilligt werden sollten. Kaiserswerth an Rechtsanwalt Eichholz u. Berron v. 12.2.1957, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Aktennotiz über Besprechung mit LJA am 4.4.1960 u. Direktor Berron an Mädchenheime v. 23.1.1965, in: ebd. Von 178 Entlassenen in der Zeit vom 1.10.59 bis 30.9.60 hatten nur 20 einen Hauswirtschaftlichen Kursus absolviert, 37 waren in andere Heime entlassen worden (Vermerk v. 2.8.1961, in: ALVR 39647). Reisebericht über den Besuch in den Mädchenheimen Düsseldorf-Kaiserswerth am 13.8.1953, in: ebd. Ilse Hölters an Berron v. 28.7.1961, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Interview Agnes Bröcker (25.2.2010), Transkript, S. 34-36.

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

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ter bis 16 Jahren 6 DM, bis 18 Jahren 8 DM und bis 21 Jahren 12 DM vorsahen. „Diese Grundprämie wurde nur gezahlt bei einer Führung der Mädchen, die ohne Lob und Tadel [war], und zwar in der Arbeit, den Erzieherinnen gegenüber und im allgemeinen Verhalten in der Gruppe.“477 Ansonsten konnte sie auch bis auf die Hälfte gekürzt werden. Alltag in der Einrichtung Über den Alltag in der Einrichtung gibt zudem ein Praktikumsbericht aus dem Jahr 1961 Auskunft, aus dem nachfolgend zitiert sein soll.478 Organisatorisch hatten alle vier Kaiserswerther Heime 1961 mit Schwester Else Seuthe eine Gesamtleiterin, unter der wiederum die sogenannte „Hausmutter“ in der Leitung des jeweiligen Hauses stand. In Eben-Ezer bestanden eine Aufnahme- und eine „Rückkehrerstation“ für vorher entwichene Mädchen. Auf der Aufnahmestation, auf der das Praktikum absolviert wurde, gab es vier Einzel- und vier Dreibettzimmer. Zwischen diesen wohnten die Erzieherinnen. Auf demselben Flur hatte auch die Diplompsychologin der Heime ihr Dienstzimmer. Diese führte die „Erstbegutachtung“ der Mädchen im Heim durch.479 Im Haus wurden die Mädchen im Rahmen der „Ämter“ vormittags mit Reinigungsarbeiten beschäftigt, zu denen die Materialien von den Erzieherinnen ausgegeben und wieder eingesammelt wurden. Zudem existierte ein Nähraum, in dem die Mädchen Kleidung ausbesserten. Nach dem Mittagessen gingen die Erzieherinnen mit den Mädchen auf den Hof, manchmal auch ins anstaltsinterne Schwimmbad oder in Ausnahmefällen auch in die umliegenden Obstgärten, um Obst zu pflücken. „Auf der Westseite hatte das Heim einen schönen großen Hof, der mit hohem Maschendraht eingezäunt war.“480 Die Mahlzeiten teilten zusammen mit Andachten und Gebeten den Tagesablauf ein – 6.00 477

478 479

480

Bericht über das von Schwester Gertraud Wenzel v. 19.7.-8.8.1962 gemachte Praktikum in Eben-Ezer Kaiserswerth (1.9.1962), in: FKSK 2-1, Nr. 1111, S. 11. Siehe allgemein zu Arbeitsprämien in rheinischen Erziehungsheimen Judith Pierlings, Arbeit in der Heimerziehung und die Frage nach Entlohnung und Sozialversicherung, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, bes. S. 357-363. Ebd. Vgl. H. Stiebritz (Düsseldorf-Kaiserswerth): Die Mithilfe des Psychologen bei der Erstbegutachtung im Heim, in: Fortbildungsbrief 4/1963 (zitiert nach: ADW, EEV 123). Bericht über das von Schwester Gertraud Wenzel v. 19.7.-8.8.1962 gemachte Praktikum in Eben-Ezer Kaiserswerth (1.9.1962), in: FKSK 2-1, Nr. 1111, S. 3.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Uhr Wecken, 7.00 Uhr Kaffee, 9.30 Uhr Frühstück, 12.15 Uhr Mittagessen etc., 21.00 Uhr Licht aus. Eine Erzieherin hatte Tischdienst und aß dann zusammen mit den Mädchen, die anderen Erzieherinnen aßen getrennt im „Wohnzimmer“ des Hauses. „Während meiner Praktikumszeit habe ich gelernt, daß es in dieser Erziehungsarbeit nicht auf die von mir geleistete Arbeit ankam, sondern darauf, daß ich mich in der Nähe der Mädchen aufhielt.“481 Das Trachten der hier untergebrachten Mädchen war wesentlich darauf gerichtet herauszukommen. Die Praktikantin berichtet in ihren Beschreibungen vom Fluchtversuch von zwei Mädchen, die sich über das Eingeengtsein auf der Station, die Ermahnungen zur Ordnung und zur Sauberkeit sowie die Strafen – meist Isolierung im Einzelzimmer oder im Arrestraum – erregt hatten und mit einem Fluchtplan aus dem Heim entkommen waren. Sie kamen aber nur bis zur Straße, als eine Schwester auf dem Fahrrad die flüchtigen Mädchen einholte, die dann freiwillig zurückkamen. Zur Strafe wurden diese eingesperrt. Es gab auch besondere Tage im Heim, an denen Spiele, ein Tanzabend, gemeinsames Fernsehen etc. stattfanden oder sonntags besondere Kleidung ausgegeben wurde. „Am Gottesdienst mußten alle Mädchen teilnehmen. Wir hörten im großen Saal die Übertragung des Gottesdienstes aus der Mutterhauskirche. Wir beteten die Liturgie mit und sangen auch alle Lieder mit. Nicht alle Mädchen hörten hin, doch sie waren leise.“482 Der Sonntag als besonderer Tag mit besonderer Kleidung war laut Praktikantin auch bei den Mädchen beliebt. Dennoch dominiert im Bericht die Beschreibung von Arbeit und Disziplin, die man hoffte, in die Mädchen verpflanzen zu können. „Den Mädchen konnte im Heim wenig Freiheit gelassen werden. Sie mußten sehr straff an die Zügel genommen werden, wenn man erzieherisch etwas erreichen wollte.“483 Auch die Erinnerungen der Diakonisse Agnes Bröcker betonen den engen disziplinarischen Rahmen, dem die Mädchen unterlagen. So wurden z. B. jeden Tag bei Verlassen des Esssaales die Messer und Gabeln gezählt, da damit zum Teil die ansonsten verschlossenen bzw. nur beschränkt zu öffnenden Fenster für eine Flucht geöffnet werden konnten.484 Das Rauchen war verboten und sollte den Mädchen möglichst abgewöhnt werden. Es fanden Zimmerkontrollen auf Zigaretten statt. 481 482 483 484

Ebd., S. 6. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Interview Agnes Bröcker (25.2.2010), Transkript, S. 18.

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

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„Die hatten einen Nachttisch, eine Schublade und in dem Nachttisch unten stand der Nachttopf, den gab es noch. Na, dann kommen wir zu einem Kapitel, was nicht so schön ist. Die Mädchen wurden nachts eingeschlossen. Beziehungsweise nicht bei uns fest eingeschlossen, die Türen waren auf. Aber das waren Patenttüren, wenn die Tür aufging, ging bei den Erzieherinnen die Klingel im Zimmer.“485 Die Aufnahmeprozedur mit Baden, einer Kontrolle auf Läuse und der Einkleidung sind ihr sehr präsent: „Ja, da wurde dann geguckt, Haare gewaschen und dann kriegten sie Kleidung vom Haus. Während der ganzen Zeit mussten wir die Mädchen kleiden. Und dann hatten wir drei verschiedene Kleidergrößen. Das ging wie beim Militär: passt, wackelt und hat Luft. Das waren dann aus so Schürzenstoff genähte Kleider, auch Nachthemden, dazu waren wir verpflichtet. Die haben wir zum Teil auch in dem Nähsaal hinterher selber genäht, um Arbeit auch zu haben. Und in der Freizeit durften sie ihre eigenen Sachen anziehen. Also sonntags und auch abends. Dafür kriegten sie einen Teil, also einmal zum Bekleiden ausgehändigt. Da wurde zwar erst geguckt, was passt, was ist die Jahreszeit. Sie mussten das dann immer tragen. Sie hatten keine Auswahl im Kleiderschrank und das war aus Sicherheitsgründen. Wenn sie flüchteten, damit die nicht zu viel Zivilkleidung hatten. Die fielen dann ja auch schneller auf, wenn man die wieder eingefangen hat, die haben ja ständig Entweichungen gehabt.“486 Als sich die Versorgungslage wieder gebessert hatte, hatte die Leiterin in den 1950er Jahren auf Vorrat große Mengen eines karierten Schürzenstoffes gekauft, aus dem auch noch in den 1960er Jahren Kleidung genäht wurde. „Fürchterlich. Die Mädchen hatten sich dran satt gesehen, ich konnte die auch nicht mehr sehen. Aber ich habe gesagt, es tut uns leid, wir haben aber keine anderen. Jetzt wird das wieder genäht. Das waren so Schürzenstoffe, wo so Kittel draus gemacht wurden, die dann damals so üblich waren. Habe ich die gehasst hinterher. Jahrelang immer die gleichen Muster da. Aber […] das musste vernäht werden, das war das Lager. Die hatte nicht damit gerechnet, dass es mal wieder alles zu kaufen gab. Ja, diese Vorratswirtschaft.“487 Die dadurch produzierte uniforme Kleidung wurde mit Nummern gekennzeichnet, damit jede auch ihre Wäsche aus der Wäscherei wieder 485 486 487

Ebd., S. 23. Ebd., S. 13. Ebd., S. 49.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Abb. 10: Mädchenheime der Diakonissenanstalt Kaiserswerth, Haubennähen

erhielt. Zudem wurde mangels Geld zum Kaufen auch aus Strängen ungebleichter Baumwolle Unterwäsche von den Mädchen genäht. Dabei, wie auch beim Sammeln von Knöpfen und Wiederannähen an die Bettwäsche – beim Mangeln der Wäsche gingen häufig Knöpfe verloren – galt es, die aufgetürmten Vorräte zu verbrauchen. Die eingelieferten Mädchen hatten sich zum Teil vorher prostituiert. Die Schwestern achteten darauf, dass über die Vorgeschichten möglichst wenig unter den Mädchen gesprochen wurde, da man Angst hatte, dies würde die Erziehungsbemühungen unterlaufen. Eingelieferte Mädchen mussten in der ersten Woche eine gynäkologische Untersuchung mit sechs Abstrichen über sich ergehen lassen, um sicher-

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zustellen, dass sie nicht an einer meldepflichtigen Geschlechtskrankheit litten. Hierfür wurde eigens ein Untersuchungszimmer mit einem gynäkologischen Stuhl im Heim eingerichtet, in dem jeden Morgen von einem eigens erschienenen Arzt und einer Schwester Untersuchung und Behandlung durchgeführt wurden. „Dann kam der Arzt, dann gingen die runter und dann kamen sie rauf und haben weiter gestrickt. Oder was gemacht. [...] Was sollten die da sagen, es gab – mehr oder weniger hatten die ja alle sexuelle Erfahrungen. Das sahen die als normal an. Erst haben die sich geniert, also geniert haben die sich sowieso. Das ist so. Alle Frauen genieren sich. Aber, ja das war die Regel. Es gibt einfach so Sachen, da weiß man, wenn man im Krankenhaus ist, da wird einem Blut abgenommen. Das ist so. So war das da auch. Die kriegten auch Blut abgenommen. Also, eine ganz normale medizinische Untersuchung. Die waren dann froh, wenn sie da nicht mehr hin mussten.“488 Hinsichtlich des Ausgangs gab es in der Einrichtung ein auch andernorts anzutreffendes „Progressivsystem“. Eine erste Vertrauensprobe war der Gang über den Hof zum Katharine-Göbel-Stift, später dann Botengänge bzw. Postgänge. Bei gemeinsamem Einkauf mit einer Diakonisse ging diese in „Zivil“, also ohne Tracht, um eine Stigmatisierung der Mädchen zu vermeiden. Häufiger versuchten Jungen, z. T. auch Zuhälter der Mädchen, über den Zaun, an dessen Ende Stacheldraht eingeflochten war, ins Heim zu den Mädchen zu gelangen und Zigaretten zu schmuggeln, was durch die Aufmerksamkeit der Diakonissen und Erzieherinnen verhindert wurde. Die pädagogische Problemlage – Schwererziehbarkeit und Personalmangel Im Jahr 1955 schloss sich den Kaiserswerther Mädchenheimen eine Schwererziehbarenabteilung an.489 Die Aufnahmeabteilung, die als Entlastung der Mädchenheime von den ganz schweren Fällen gedacht war, entpuppte sich jedoch auf lange Sicht als ein Bumerang. Die Abteilung wurde nachfolgend mit besonders widersetzlichen Mädchen und jungen Frauen belegt, mit denen die Diakonissen und Praktikantinnen immer schlechter zurecht kamen.490 Nicht nur die dokumentier488 489 490

Ebd., S. 15. Leitung der Mädchenheime an LVR v. 15.10.1954, in: ALVR 39648. So klagte die leitende Schwester Luise Harz gegenüber dem LJA über von der Stadt Düsseldorf zugewiesene geschlechtskranke Mädchen, welche schwer verwahrlost seien (eine Sonderabteilung bei den Krankenanstalten in Düsseldorf hatte die Stadt

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ten Ausrutscher einer Praktikantin, die einen weiblichen Zögling als „Du verkommenes Stück“ bezeichnet hatte, weisen darauf hin.491 Es ist zudem ein Strafbuch über die Jahre 1912 bis 1969 überliefert, in dem rund 600 Bestrafungen vermerkt sind, das jedoch zwischen 1949 und 1965 eine große Lücke aufweist.492 Von 1965 bis 1969 sind 166 Strafen eingetragen, meist Isolierungen, die bis 1967 stark anstiegen: So wurden 1965 nur 19 Mädchen bestraft, 1966 bereits 25 und 1967 allein 62. Danach sinkt die Zahl der eingetragenen Strafen 1968 auf 48 und läuft mit dem Ende des Jahres 1969 mit nur 12 Strafen aus. Am Ende des Jahres 1969 wurden die Mädchenheime in Kaiserswerth geschlossen. Auch wenn hier, wie aus anderen Überlieferungen zu vergleichbaren Heimen deutlich wird, nicht alle verhängten Strafen eingetragen worden sind, so markiert der Verlauf der eingetragenen Strafen – es handelt sich durchweg um Arreststrafen, nicht um die bei Mädchen verbotene körperliche Züchtigung493 – die Zuspitzung einer problematischen pädagogischen Situation, die letztlich wesentlich zur Schließung der Heime Ende 1969 beitrug. Diakonisse Agnes Bröcker erinnert sich: „Also wenn sie weggelaufen waren, mussten sie einen Tag ohne Arbeit, ohne Buch, ohne alles. Kriegten sie die Zimmerstrafe. Und später war ja dann die Beruhigungszelle da.“ In diesem eigens in ein Zimmer eingebauten Arrestraum mit einer Eisentür befand sich nur ein Stuhl, und abends wurde eine Liege dazugestellt. „Der erste Tag der Härte war Strafe durch Isolation. Dass sie darüber nachdenken. Der zweite Tag, da war Essensentzug, da bekamen die trockenes Brot und Kaffee. Muckefuck war das. Bohnenkaffee gab es ja sowieso nicht. Drei Mahlzeiten. Und der dritte Tag, wieder norma-

491

492

493

zuvor aufgelöst): „Sie bilden vielmehr eine Gefahr für die Jugendlichengruppe, die auch schon offen Stellung genommen haben und diese Mädchen, die direkt von der Straße kommen und von ihrem Leben erzählen, ablehnen.“ (Vermerk v. 18.8.1958, in: ebd.) Jugendamt Essen an Sozialminister NRW v. 10.11.1952 und Leitung der Mädchenheime Kaiserswerth an Sozialminister v. 6.12.1952, in: ALVR 39647. Eigene Auswertung des Strafbuches der Mädchenheime 1912-1969, in: FKSK 2-1, Nr. 994. Einzelne Ausnahmen sind hier offensichtlich aber nicht dokumentiert worden: „Ich habe mal Einer eine gehauen, Hannelore. Habe ich eine geknallt auf der Treppe, ich weiß auch nicht. Ich war selber erschrocken, dann musste ich hinterher einen Bericht machen und da habe ich dann einen ganzen Nachmittag daran gesessen und das war heilsam. Das ist dann nicht mehr vorgekommen.“ (Interview Agnes Bröcker (25.2.2010), Transkript, S. 38).

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le Mahlzeiten und Arbeit. Manchmal schon am zweiten Tag auch Arbeit. Kam drauf an wie verstockt oder verbiestert die waren. Wenn die sehr ... dann hätten die nur etwas kaputt gemacht oder so. Und dann durften wir denen schon gar kein Werkzeug ausliefern. Also sprich ne Schere.“494 Die Gefahr von Selbstmorden war nach der Erinnerung von Agnes Bröcker immer gegeben. Die bauliche Rückständigkeit der Mädchenheime förderte in der Perspektive des Landesjugendamtes ein deviantes Verhalten der Mädchen, das insbesondere dem von den Diakonissen vertretenen Moralkodex zuwider lief – sei es die gemeinsame Masturbation der Mädchen oder der vermeintliche „Nackttanz“ eines Mädchens vor einer Zimmergenossin etc.495 Dies alles wurde nach Meinung der Aufsichtsbehörde begünstigt durch die Belegung der kleinen Zimmer als Zweibettzimmer, die erfolgte, um die vielen Zuweisungen überhaupt unterbringen zu können. Die räumliche Lage war zudem dadurch erschwert, dass man das im April 1958 eröffnete Soziale Seminar der Diakonissen-Anstalt im oberen Stockwerk des Hauses Eben-Ezer auf Kosten von Heimplätzen unterbrachte.496 Ironischerweise sollte die hier angebotene Ausbildung für Heimerzieherinnen gerade dazu dienen, den Personalmangel in diesem Fürsorgefeld zu bekämpfen. Die Lage in den Heimen wurde immer schwieriger. Personalmangel und Diakonissen, die sich zunehmend überfordert sahen, begrenzten den Willen, weiterhin in der Fürsorgeerziehung tätig zu bleiben. Die Zahl der aktiven Schwestern der Diakonissenanstalt Düsseldorf Kaiserswerth auf allen Einsatzgebieten – ohne kranke, im Ruhestand oder in Ausbildung befindliche – sank von seinem Höchststand 1936 mit 1.556 Schwestern bis 1955 auf 978 und halbierte sich bis 1967 noch einmal auf 482.497 Nicht nur die Besetzung von Außenstationen, Krankenhäusern und Gemeindepflegestationen fiel der Diakonissenanstalt damit immer schwerer, auch die eigenen Mädchenheime waren davon betroffen. Als die Leitende Schwester der Mädchenheime, Luise Harz, nach langen Krankheitsphasen 1961 in den Ruhestand ging, war der Mangel an Fachpersonal so hoch, dass die Aufnahmeabteilung vorübergehend geschlossen war. Zahlreiche Meutereien, Zerstörungen und Bedrohun494 495 496

497

Ebd., S. 27. Siehe Vermerk v. 18.6.1957, in: ALVR 39648. Vermerk betr. Heimerzieherschulen, hier: Soziales Seminar der Diakonissen-Anstalt Düsseldorf-Kaiserswerth v. 23.4.1958, in: ebd. Zahlen nach Jahresberichte der Diakonissenanstalt Kaiserswerth, in: FKSK, Bibliothek.

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gen hatten das Personal mürbe gemacht.498 Neue, weltliche Kräfte waren nicht zu gewinnen. Dabei hatten die Heime bereits seit dem Kriegsende eine Verminderung der Platzzahlen von 220 im Jahre 1952 auf 155 im Jahre 1961 durchgeführt. Doch der Mangel an Personal und zudem eine Vielzahl von Kündigungen im Frühjahr 1961 machten die Krise offenbar.499 Besonders die Kündigung der Leiterin des Aufnahmeheims führte 1961 zu einem vorläufigen Aufnahmestopp. Es war das Bestreben Kaiserswerths, zumindest von den schwierigen Fällen, die einen hohen Betreuungsaufwand erforderten, entlastet zu werden. So reduzierte die Diakonissenanstalt 1961 die Platzzahl zunächst vorläufig angesichts des Personalmangels.500 Der Landschaftsverband als Kostenträger der Unterbringung der meisten hier in FE oder FEH befindlichen Mädchen wollte diesen Abbau an Plätzen vermeiden und führte einen umfangreichen Schriftwechsel mit der Einrichtung, der auch deren Geschichte zum Gegenstand hatte. Hieran ist zu sehen, wie besonders die Leiterin der Jugendfürsorgeabteilung im Landesjugendamt, Martha Beurmann, gerade mit einer langen Tradition der Jugendfürsorge in Kaiserswerth argumentierte, die nicht aufgegeben werden dürfte. Es wurden zwischenzeitlich vom Landschaftsverband, der ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der Zahl der Plätze in den Mädchenheimen hatte, Mittel angeboten, um einen Umbau oder auch Neubau der Einrichtungen durchzuführen. Überhaupt ging das Bestreben des Landschaftsverbandes dahin, erstens die Platzzahl für rheinische FE-Zöglinge und Zöglinge in der FEH zu halten – bei Platzreduktionen sollten immer andere Kostenträger Plätze einbüßen – und zweitens das Spektrum vom Aufnahmeheim für gefährdete evangelische Mädchen bis zum Heilpädagogischen Heim aufrecht zu erhalten. Die Versuche Kaiserswerths, gerade von den schwierigen Mädchen entlastet zu werden, wurden mit Kritik begleitet, die darauf zielte nachzuweisen, dass die Kaiserswerther Mädchenheime diese Funktion schon immer ausgeführt hätten und sich nicht davon befreien dürften. Die Kaiserswerther Heime richteten ab dem Oktober 1962 eine Förderungsgruppe für berufsschwache schulentlassene evangelische 498 499 500

Vermerk v. 24.5.1961, in: ALVR 39647. Siehe zur Belegung: Vermerk v. 8.1.1962, in: ALVR 39648. Vgl. Vermerk v. 2.8.1961 und Reisebericht über den Besuch in den Mädchenheimen Düsseldorf-Kaiserswerth am 30.10.1961 in: ALVR 39647.

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Mädchen von 14 bis 21 Jahren und in Ausnahmefällen auch für Ältere ein, „die nicht die Voraussetzung einer normalen Berufsausbildung haben, aber den Nachweis der Bildungsfähigkeit beibringen“. Damit hoffte man, „bildungsunfähige und sittlich verwahrloste Jugendliche“ ausschließen zu können. Die Mädchen, deren Fähigkeiten man „durch praktische Anleitung in Haus und Garten“ zu fördern und die man „möglichst selbständig zu machen“ suchte, sollten in „das geistig und geistlich rege Leben einer Anstalts-Gemeinde hineingenommen“ werden, wodurch sie „durch die Kräfte des Glaubens Stärkung und Halt finden“ sollten.501 Dies war ein allzu traditionales Konzept, als dass es für Eltern hätte reizvoll oder erfolgversprechend sein können. Anfang 1963 verweigerte die Diakonissenanstalt die Annahme von in Aussicht gestellten finanziellen Mitteln des Landes zum Umbau der Häuser wegen der damit verbundenen Auflagen und reduzierte in der Folge erneut die Platzzahl in den Mädchenheimen auf 75.502 Die Kaiserswerther Leitung argumentierte nicht nur mit dem „wachsenden Maß an Verwahrlosung bei den eingewiesenen Mädchen“, deren Höchstalter in der öffentlichen Erziehung seit der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes zu Beginn des Jahres 1962 auf 21 Jahre heraufgesetzt sei. „Es liegt auch daran, daß die Forderungen des Landesjugendamtes an die Erziehungsmethoden und somit an die personelle Besetzung und an die baulichen Voraussetzungen immer höher geschraubt wurden. Personalnot einerseits und steigende Forderungen andererseits haben uns schließlich zu den Maßnahmen, die auf eine Reduzierung der Platzzahl hinausliefen, gezwungen.“503 Der rheinische Direktor der Inneren Mission, Otto Ohl, hielt fest, dass nach den Angaben Kaiserswerths „drei Gruppen nur noch durch Praktikantinnen geleitet worden“ seien.504 Das wollte man nicht weiter verantworten. Dahinter stand ein Grundsatzkonflikt zwischen freier Wohlfahrtspflege und der durch den Landschaftsverband zu garantieren501

502

503 504

Mädchenheime der Diakonissen-Anstalt Düsseldorf-Kaiserswerth – Förderungsgruppe für berufsschwache schulentlassene evangelische Mädchen [ca. 1962], in: ADW, EEV 324. Der tägliche Pflegesatz betrug 14 DM plus Nebenkosten für Kleidung, Taschengeld, Urlaub etc. und sollte von den Eltern gezahlt werden. Mitzubringen waren neben Bibel und Gesangbuch auch Schreibmaterial. Siehe hierzu den Brief Ohl an Berron v. 31.1.1963 und Diakonissenanstalt Kaiserswerth an LVR v. 21.2.1963, in: FKSK, 2-1, Nr. 905 (auch in: ADWRh Ohl 15.3.1). Diakonissenanstalt Kaiserswerth an LVR v. 25.3.1963, in: ebd. Aktennotiz über eine Besprechung am 8.8.1963 zwischen LR Jans (LVR) und Direktor Berron (Kaiserswerth) v. 12.8.1963, in: ADWRh Ohl 15.3.1.

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den Versorgung mit Heimplätzen. So hatte der Landschaftsverband versucht, im Bewilligungsbescheid die Auflage zu verankern, dass die Mädchenheime dem Landschaftsverband für mindestens zehn Jahre mit einem Belegungsvorrang zur Verfügung stehen müssten.505 Otto Ohl freute sich im Januar 1963 über die „herzerfrischende Absage“ der Diakonissenanstalt, einen Landeszuschuss zur Beschaffung von Einrichtungsgegenständen anzunehmen. „Behaltet Eure paar Groschen, wenn Ihr damit unsere Freiheit einschränken wollt“, lautete der von Ohl hierin gelesene Klartext. Er sah die Innere Mission seit dem Kriegsende angesichts ihrer Finanznot in eine immer größere Abhängigkeit geraten, da mit den gewährten Geldern Auflagen verbunden waren, die ein eigenständiges Agieren hemmen würden. Dabei stand Ohl ein vergangenes Ideal vor Augen, das durch die Selbstbehauptung geschützt werden sollte: „Wir lassen uns auf keinen Fall hineinreden in die internen Erziehungsaufgaben und unsere evangelisch geprägten Erziehungsmethoden.“506 Otto Ohl, der von 1912 bis 1963 Leiter des Provinzialausschusses für Innere Mission und noch bis 1965 das dienstälteste Mitglied im rheinischen Landesjugendwohlfahrtsausschuss war, vertrat vehement die Position einer auf ihre Unabhängigkeit Bedacht nehmenden freien Wohlfahrtspflege. Er moderierte nachfolgend ein Gespräch zwischen den ihm vertrauenden Vertretern sowohl des Landschaftsverbandes wie der Diakonissenanstalt Kaiserswerth. Man wollte sich künftig besser gegenseitig informieren.507 Dennoch war der Niedergang angesichts des Auseinanderlaufens von unveränderlich wahrgenommenen eigenen evangelischen Erziehungsvorstellungen, die nur mit Diakonissen durchzusetzen waren, einerseits und den sich im Verlauf der 1960er Jahre durchsetzenden Wandel in den Werten und Ansprüchen der Mädchen andererseits, nicht aufzuhalten, worauf nachfolgende Belegungsstatistik verweist.

505

506 507

Diakonissenanstalt Kaiserswerth (Berron) an Innere Mission Rheinland (Ohl) v. 3.1.1963, in: ebd. Ohl an Berron v. 31.1.1963, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Aktennotiz über eine Besprechung am 8.8.1963 zwischen LR Jans (LVR) und Direktor Berron (Kaiserswerth) v. 12.8.1963, in: ADWRh Ohl 15.3.1.

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KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

Platzzahl und Belegung der Mädchenheime Kaiserswerth 1952 bis 1968508 Stichtag bzw. Jahr

Platzzahl

tatsächliche Belegung.

davon LJA

1.1.1952

220

1.7.1956

210

1.2.1958

170

1.9.1958

165

1.2.1959

160

1960

160

158

130

1961

105

99

82

1962

75

74

71

1963

75

59

55

1964

55

43

37

1965

56

55

51

1966

57

36

34

1967

57

43

37

1968

57

41

37

Seit 1963 lag die Frage, ob die Mädchenheime überhaupt noch weitergeführt werden können, offen auf dem Tisch.509 Die Einrichtung entschied sich, die Heime mit erneut reduzierter Platzzahl weiterzuführen. Hintergrund für das Vorgehen war der Mitarbeitermangel, der nicht nur spezifisch für die Heimerziehung war. Es ging vielmehr um einen Umbau der Mitarbeiterschaft in kirchlichen Einrichtungen allgemein angesichts der sinkenden Zahl von Diakonissen insgesamt, die bislang zumindest Stationsleitungen ausgeübt oder auch Häuser geführt hatten. Das Friederikenstift z. B. schloss 1963 ganz, da drei verantwortliche Diakonissen gleichzeitig in den „Feierabend“ genannten Ruhestand eintraten.510 Stattdessen wurde versucht, zumindest im Pflegebereich eine gewisse Infrastruktur für auszubildenden Nachwuchs zu schaffen. So war der Bedarf in einer Ausarbeitung vom Sommer 1963 zum Thema „Wie soll es in den Mädchenheimen weitergehen?“ angegeben mit: erstens Mäd508

509 510

Vermerk v. 8.1.1962, in: ALVR 39648 u. Vermerk an LR Jans v. 27.1.1969, in: ALVR, 39645. Berron an Ohl v. 18.7.1963, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Diakonissenanstalt Kaiserswerth an LR Jans v. 10.8.1963, in: ebd. [auch in: ADWRh Ohl 15.3.2].

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

chenwohnheime für Hausangestellte des Krankenhauses und der Feierabendhäuser, zweitens einer Pflegevorschule und drittens einem Wohnheim für Pflegevorschülerinnen und Helferinnen.511 Der Vorstand der Diakonissenanstalt beschloss am 17. Juli 1963, nicht nur die Platzzahlen in den Fürsorgeerziehungsheimen auf 56 herabzusetzen, sondern auch die Schließung des Kinderheims Probsthof in Niederdollendorf wie auch des Kinder- und Säuglingsheims Berta-Lungstras-Heim in Bad Godesberg.512 Doch weder die neue Leiterin Schwester Else Seuthe – sie wurde jedoch bereits im Herbst 1965 aus „Gesundheitsgründen“ wieder durch Schwester Renate Fritsch ersetzt513 – änderte etwas an der Gesamtsituation, noch ließ sich die Beschäftigung von „zivilen Erzieherinnen“ in ausreichendem Maße herstellen. Der Konflikt zog sich noch etliche Jahre hin, doch eine grundsätzliche Änderung der Verhältnisse trat nicht ein. Der radikale Abbau der traditionsreichen Kaiserswerther Erziehungsarbeit ließ auch den EREV 1965 vor einer zunehmenden „Kommunalisierung der Fürsorgeerziehung“ warnen. Dieser Abbau wirke sich angesichts des 1964 von der Freien Wohlfahrtspflege angemeldeten Nachholbedarfs im Ausbau der Heime ungünstig aus.514 Ein weiteres Beispiel mag die Schwierigkeiten der Kaiserswerther Mädchenheime auch in der Perspektive der dort tätigen Schwestern beleuchten. Die Journalistin Ulrike Meinhof hatte in den 1960er Jahren einige Bekanntheit für ihre kritischen und gut geschriebenen Reportagen und Kolumnen erlangt. Im Vorfeld ihrer Radikalisierung, in deren Verlauf sie 1970 zur Gründung der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), von den Medien auch als „Baader-Meinhof-Gruppe“ bezeichnet, beitrug, recherchierte sie über die Verhältnisse in deutschen Erziehungsheimen.515 Sie nahm 1968 für eine geplante Under-cover-Reportage in den 511

512

513 514

515

„Wie soll es in den Mädchenheimen weitergehen?“ [ca. Juli 1963], in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Niederschrift der Vorstandssitzung der Diakonissenanstalt Kaiserswerth am 17.7.1963, in: FKSK, 2-1, Nr. 83. In Niederdollendorf fand sich im Folgejahr ein neuer Träger, der die Arbeit fortführte. Frick an Mädchenheime v. 11.9.1965, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Niederschrift der Vorstandssitzung des EREV am 4.3.1965, in: ADW, EEV 123; Notizen über die Sondersitzung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge des EREV am 18.1.1965, in: ADW, EEV 169; siehe auch Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege, hg. v. d. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Freiburg i. Br. 1965. Vgl. z. B. Die Flucht der Maria M. (Ulrike Meinhof), in: Für Sie, Heft 10 v. 7.5.1968, S. 90-101 (zitiert nach: ALVR 40943).

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

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Erziehungsheimen der Kaiserswerther Diakonie Kontakt zu der Leiterin der Heime auf. Diese beschied das Anliegen abschlägig, war aber bereit, einen Besuch der Journalistin im Heim zu dulden. Ihre Bedenken formulierte sie folgendermaßen: „Allerdings ist es unseres Erachtens nicht möglich, in einigen Tagen so viel Einblick in die Gegebenheiten des Heimes und das Gefüge des Heimlebens zu bekommen, daß danach ein Bericht ersteht, der sowohl der Problematik der Heimarbeit als auch der unserer verwahrlosten Jugendlichen gerecht wird. Es ist mir auch nicht erklärlich, wie eine Reporterin über mehrere Tage ganz im Heimalltag eintauchen könnte, ohne von den Mädchen als solche erkannt zu werden. – Andererseits würden bei Bekanntwerden der Absicht üblicherweise gerade nur die Jugendlichen ihre Meinung kundtun, die Sensation wittern, nicht aber solche, die sich mit ihren Nöten und Problemen ernstlich herum schlagen. Es ist richtig, daß die ‚Schreiber‘ Leute auf jedem Fachgebiet brauchen, die sie offen informieren. – Dazu wären wir auch bereit, nur wären zum Sammeln verwertbarer eigener Erfahrungen einige Tage ja Wochen viel zu kurz.“516 Nach bisherigen Erkenntnissen verzichtete Meinhof auf den Besuch in der Kaiserswerther Diakonie. Sie fand später ein anderes Heim, über deren Bewohnerinnen sie das dokumentarische Stück „Bambule“ fertigte.517 Im November 1968 entschied eine inneranstaltliche Kommission das Ende der Mädchenheime in Kaiserswerth.518 Es sollte eine stufenweise Schließung erfolgen. Der einzige Bereich, der auch nach einer Diskussion mit den Erzieherinnen zukunftsträchtig erschien, war das Wohnheim. Es stellte die Zwischenstufe zwischen dem Elternhaus und einem öffentlichem Wohnheim dar. Die vermeintlich hohe Gefährdung der Mädchen in einem öffentlichen Wohnheim hoffte man durch eine „individuellere Betreuung“ im eigenen, 14 Plätze umfassenden Wohnheim vermeiden zu können.519 In einer Besprechung mit Vertretern des Landschaftsverbandes Rheinland betonte die Einrichtung den Personalmangel als Hauptgrund für die Preisgabe der Heimfürsorge, denn „diese schwierige Arbeit könne nur von Fachkräften geleistet werden. Sie hätten aber nicht genügend Fachkräfte und könnten diese 516 517 518

519

Mädchenheime an Meinhof v. 10.7.1968, in: ebd. Ulrike Marie Meinhof, Bambule – Fürsorge – Sorge – für wen?, Berlin 1971. Situation der Mädchenheime im November 1968 und daraus folgende Zukunftsplanung v. 26.11.1968, in: FKSK, 2-1, Nr. 905. Ebd.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Abb. 11: Strafbuch der Kaiserswerther Mädchenheime (letzte Seite) 1969

Fachkräfte auch nicht aus ihrer Heimerzieherinnenschule (Fachschule für Sozialpädagogik) entnehmen. Da sie es aber grundsätzlich ablehnen müssten, mit nicht ausgebildeten Kräften zu arbeiten – auch nicht als Zweitkraft in einer Gruppe – und die Methoden, wie sie in anderen Heimen wie etwa in Neukirchen durchgeführt würden nicht gutheißen würden, könnten sie also die Aufgabe der FEH und FE in dieser heute nur noch mit 24 Mädchen besetzten Gruppe nicht durchführen.“520 Das Argument des Personalmangels war zeitgenössisch ein gewichtiges, denn die Debatte über eine Verbesserung der Ausbildungssituation tobte bundesweit.521 Die Kaiserswerther Mädchenheime entgingen mit dieser stufenweisen Schließung wohl auch den kurz darauf einsetzenden Debatten über die Heimerziehung und symbolisierten zugleich auch die wesentlichen Umstände, die zu der Skandalisierung der Heimerziehung Ende der 1960er Jahre geführt hatten: schlechte materielle Bedingungen, alte pädagogische Konzepte und Mitarbeitermangel.

520

521

Protokoll der Besprechung des LVR mit dem Diakoniewerk Kaiserswerth v. 15.8.1969, in: ALVR 41681. Vgl. als Beispiel Offener Brief der ÖTV an Mitglieder des Bundestages, Landesparlamente, Gemeindeparlamente, Bundesministerien, Landesministerien, Oberbürgermeister, Landesjugendämter, Sozial- und Jugendämter v. 10.11.1969, in: ebd.

KAISERSWERTHER MÄDCHENHEIME

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Fazit Am Beispiel der Kaiserswerther Mädchenheime wird deutlich, wie eine Heimdifferenzierung einerseits und eine bauliche Modernisierung andererseits in den 1950er Jahren nur langsam vorankamen. Im Heimalltag blieben der enge Regelrahmen für Mädchen, die Verhinderung von Sexualität, Beschäftigung statt Ausbildung und die Betonung der Sekundärtugenden bestimmend. Die pädagogische Situation veränderte sich allerdings nicht in dem Maß, wie das Landesjugendamt es für wünschenswert gehalten hätte. So führte die Ballung weiblicher Problemfälle zu pädagogischen Schwierigkeiten, denen man in den 1960er Jahren angesichts des Mangels an traditionellem Personal durch den Rückgang der Diakonissen wie auch an Fachpersonal nicht mehr begegnen konnte. Die offensiv von der Diakonissenanstalt angestrebte Schließung macht zudem umgekehrt die Abhängigkeit der öffentlichen Jugendfürsorge von den konfessionellen Heimträgern exemplarisch deutlich.

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5.4.6 Die Heime der Schwestern vom Guten Hirten (NordrheinWestfalen, Bayern) – Erziehungskonzept und Umsetzung Im Folgenden sollen vor allem auf Grundlage von Unterlagen aus dem Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten522, von Interviews mit einer Schwester und einem ehemaligen „Zögling“ sowie einer Reihe von Hinweisen in der Studie über die öffentliche Erziehung im Rheinland523 einige Schlaglichter zum in den 1950/60er Jahren maßgeblichen Erziehungskonzept der Schwestern und dessen Umsetzung auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er Jahren und der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgezeigt werden.524 Dabei liegt der Schwerpunkt auf den westfälischen Häusern525, um dann noch kurz und eher partiell auf Entwicklungen in den bayerischen Klöstern einzugehen. Zur Einordnung dieser Aspekte ist jedoch zuvor eine Skizze der strukturellen Gegebenheiten des Guten Hirten in Deutschland notwendig. Einführung in Geschichte und Struktur der Klöster in Deutschland Im Geiste des Johannes Eudes (1601–1680) gründete Schwester Maria Euphrasia Pelletier 1829 im französischen Angers das erste Haus vom Guten Hirten, das sich erziehungsschwieriger bzw. auffälliger Mädchen und junger Frauen annahm. Sie rief damit eine eigenständige Ordensgemeinschaft ins Leben. Aus diesen Anfängen entwickelte sich die Ordensgemeinschaft der Schwestern vom Guten Hirten, die 1835 die päpstliche Approbation erhielt.526 Vom Generalmutterhaus in Angers aus erlebte die Gemeinschaft eine rasche Ausbreitung und 1840 kam es in München zur ersten Kloster-Gründung in Deutschland. 1848 und 1850 konnte in Aachen und Münster jeweils ein Haus errichtet werden. 522

523 524

525 526

Die Ordensgemeinschaft hat dem Forschenden freundlicherweise ihr Provinzarchiv zugänglich gemacht. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung. Zu den Transformationsprozessen innerhalb der Gemeinschaft arbeitet Kirsten Oboth am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit der Ruhr-Universität Bochum an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel „Wandlungsprozesse weiblicher katholischer Ordensgemeinschaften in Deutschland am Beispiel der Schwestern vom Guten Hirten (1945 bis 1985)“. Vgl. Die caritativen Anstalten im Bistum Münster, Bd. I, , S. 18ff. u. Bd. II, S. 96-100. Zur Entwicklung der Ordensgemeinschaft in Frankreich vgl. Françoise Tétard/Claire Dumas, Filles des justice. Du bon-pasteur à l éducation surveillée (XIXe-XXw siècle), Paris 2009.

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Aus diesen Anfängen entwickelten sich schließlich die deutschen Ordensprovinzen München, Münster und Köln mit insgesamt 23 Häusern am Ende der 1920er Jahre.527 Als große spirituelle Klammer diente den Schwestern vom Guten Hirten das vierte Gelübde, das den Eifer auf das gesamte Wirken der Schwestern mit dem Ziel betonte, sich uneingeschränkt für die hilfsbedürftigen Seelen der ihnen anvertrauten Mädchen und Frauen einzusetzen. Zunächst wurden freiwillig kommende bzw. von den Erziehungsberechtigten in die Klöster gegebene Mädchen, dann auch auf andere Wege eingewiesene vermeintlich Verwahrloste als „Büßerinnen“ betreut. In den Klöstern prägten starke monastische Strukturen mit strengen Klausurbestimmungen den Alltag. So gab es etwa bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Chor-, Laien- und Pfortenschwestern. Dabei übernahmen die Chorschwestern nicht nur kontemplative Pflichten, sondern auch hinsichtlich des Apostolats die verantwortungsvolleren Aufgaben. Die Laienschwestern waren für die konkrete Erziehungsarbeit und die Hauswirtschaft zuständig. Daneben besorgten Türschwestern den Verkehr mit der Außenwelt, indem sie etwa mit Mädchen Arztbesuche wahrnahmen. „Büßerinnen“, die sich zum Leben in der Ordensgemeinschaft berufen fühlten, konnten als „Magdalenenschwestern“ aufgenommen werden. Diese befanden sich auch noch Anfang der 1950er Jahre in den Provinzhäusern des Guten Hirten, wo sie nach der „gemilderte[n] Regel der Karmelitinnen“ in „größtmöglicher Weltferne“ den „von der Kirche anerkannten Sühnezweig der Ordensgemeinschaft bildeten.528 Wenn in den Klöstern vom Guten Hirten aufgenommene Jugendliche das Haus nicht mehr verlassen wollten und sich zu einem klösterlichen Leben berufen fühlten, dieses aber nicht als „Magdalenenschwester“ (in 527

528

Vgl. Hundert Jahre Fürsorge an der Katholischen weiblichen Jugend. Zur Jahrhundert-Feier der Kongregation Unserer Frau von der Liebe des Guten Hirten 18291929, hg. v. d. deutschen Provinzen, München 1929. Zur Provinz München zählten damals die Häuser in München (1840), Mainz (1854), Ettmannsdorf (1861), Altstätten (1868) und Zinneberg (1927); zur Provinz Münster die Häuser in Münster (1850), Berlin-Charlottenburg/Marienfelde (1858), Breslau (1859), Ameloe/Niederlande (1876), Berlin-Reinickendorf (1887), Marxstein/Taunus (1891), Beuthen/ Oberschlesien (1893), Bocholt (1902), Kattern/Schlesien (1907), Conradshammer/ Danzig (1925) und Ibbenbüren (1925); zur Provinz Köln die Häuser in Aachen (1848), Köln-Melaten (1862, Provinzhaus), Trier (1857), Koblenz (1888), Köln-Junkersdorf (1892), Honnef (1917), Rastatt/Baden (1922). Das offene Tor. Hundert Jahre Caritas im Geist des Guten Hirten, hg. v. d. Schwestern des Provinzial-Mutterhauses Münster (Westf.), Münster 1950, S. 94.

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Bayern „Kreuzschwestern“) oder „Gute Hirtin“ führen wollten bzw. durften, gab es unter der Voraussetzung pädagogischer Fähigkeiten die Möglichkeit, die Schwestern als „Helferinnen“ in der konkreten Erziehungsarbeit zu unterstützen. Alljährlich legten sie neu das Gelübde ab, im Haus zu bleiben und sich an der Verwirklichung der Apostolatsaufgabe der Gemeinschaft zu beteiligen. Dabei hielten sie gemeinschaftliche Gebetszeiten und waren mit einer eigenen Tracht samt Schleier bekleidet. Seit 1949 waren in den Provinzhäusern „Helferinnen-Bildungsschulen“ eingerichtet, um die jungen Frauen in eineinhalbjährigen Kursen in einem einheitlichen Standard sowohl geistlich als auch beruflich auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Unter Anleitung der zuständigen Schwester widmeten sie sich dann in einer Gruppe der Erziehungsarbeit, in der sie 24 Stunden verbrachten.529 Schließlich blieben vor allem in den Provinzen Köln und Münster ehemalige „Zöglinge“ nach dem Ende der FE als „Hauskinder“ oder „Haustöchter“ in Klöstern vom Guten Hirten. Nicht selten dürften sie sich selbst – oder in der Perspektive der Schwestern – nicht in der Lage gesehen haben, im Alltag außerhalb des Klosters bestehen zu können. Innerhalb der Häuser arbeiteten sie entsprechend ihrer Möglichkeiten in der Hauswirtschaft oder im handwerklichen Bereich wie in der Näherei oder Wäscherei, um so für die Kosten ihrer Unterbringung aufzukommen und darüber hinaus zum Unterhalt der Klöster beizutragen. Insgesamt wurde in den Klöstern vom Guten Hirten eine strenge Hierarchie betont, die auch in der Erziehung Anwendung fand. Hier bildete die „Klasse“ mit einer Schwester, der „Meisterin“, als Leiterin die oberste Kategorie, die in Gruppen oder Abteilungen gegliedert war und der wiederum jeweils eine Schwester vorstand. Ende der 1920er Jahre wurde der stark ausgeprägte verwahrende Charakter der Klöster vom Guten Hirten zumindest im Bereich der Provinzen Köln und Münster sowohl staatlicher- als auch kirchlicherseits kritisiert und eine Öffnung der Häuser gefordert. Zudem sollten mehr Schwestern eine qualifizierte Ausbildung erhalten und mehr weltliche Kräfte eingesetzt werden, wobei allerdings in allen drei Provinzen bereits sozialpädagogische Seminare entstanden waren, in denen zahlreiche Schwestern eine staatlich anerkannte Ausbildung absolvierten – in München waren es bis zur Auflösung des Seminars 1939 44 Schwestern.530 Der Erfolg dieses Aufrufs scheint gering gewesen zu sein, wie 1930 in den Annalen des Hauses in Münster zum Ausdruck kam: 529 530

Ebd., S. 96ff. Angaben zum Seminar in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern v. Guten Hirten, M 7.

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„Man wollte keine Klausur mehr, keine großen Abteilungen, sondern verlangte eine direkte Umstellung. Damit das Absinken der Zahl nicht zur Katastrophe werde, stellten wir uns mehr auf Privatzöglinge ein.“531 Obwohl die vielen vermeintlich schwererziehbaren, stark verwahrlosten Zöglinge der Klöster vom Guten Hirten während des Dritten Reichs im Zuge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von Zwangssterilisierungen bedroht und teilweise auch betroffen waren, scheinen die Häuser in unterschiedlicher Weise darauf reagiert zu haben. So bemühte sich das Haus in Berlin-Marienfelde erfolgreich um den Status einer geschlossenen Anstalt, der den Mädchen einen besseren Schutz vor den Maßnahmen gewähren sollte. Dagegen kam es in Münster zu einer gewissen Lockerung, indem etwa die Möglichkeit zum Ausgang erst mit, dann ohne Begleitung eingeräumt wurde.532 Während des Krieges wurde zudem eine Reihe der Häuser wie das bayerische Kloster Schloss Zinneberg oder das Kloster in Bocholt als Lazarett oder Wohnstätte für Zwangsarbeiter fremd genutzt und hatte wie etwa das Kloster in Münster schwere Kriegszerstörungen hinzunehmen. Dennoch setzten die Schwestern in ihren Häusern je nach dem Grad der Beschädigung nach Kriegsende umgehend ihre Arbeit fort. Nach einem Berichtsbogen der Norddeutschen Ordensprovinz an den Deutschen Caritasverband von 1950 waren dabei von 453 Vollschwestern 346 im caritativen Bereich – davon 173 in der Jugenderziehung, 4 an Schulen, 18 in der Krankenpflege, 123 in der Hauswirtschaft und 28 in der Verwaltung – tätig. Von den im erzieherischen Bereich eingesetzten Schwestern waren 1 Kindergärtnerin, 14 Volksschullehrerinnen, 5 Lehrerinnen für höhere Schulen, 48 besaßen ein sonstiges pädagogisches Examen sowie 64 eine Gesellen- bzw. Meisterprüfung. Zudem konnten zwölf Schwestern das Wohlfahrtspflege-Examen vorweisen. Alle diese Schwestern waren in sechs FE-Heimen mit 1.658 Zöglingen eingesetzt. 1960 zählte die Provinz noch 391 Vollschwestern, von denen 327 im caritativen Bereich und davon wiederum 104 in der Jugenderziehung tätig waren. Die Zahl der Novizinnen – 1950 waren es 12 und 1955 17 Frauen – betrug nur noch sieben, sodass sich der Nachwuchsmangel hier immer deutlicher bemerkbar machte.533 Gleiches 531

532 533

Annalen-Münster I, S. 241, zit n. Marian Toldy, Im Dienst an den Verlorenen. Die Geschichte der pädagogischen Tätigkeit der Schwestern vom Guten Hirten in der Provinz Münster von 1850 bis 1990, MS., Münster 2000, S. 221. Ebd., S. 253 u. 260. Berichtsbogen für den DCV von 1950, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 1012.

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zeigte sich in den nachfolgenden Jahren auch in der süddeutschen Provinz, obwohl dort zwischen 1960 und 1972 immerhin noch 42 Schwestern die Erste Profess ablegten. So sank die Zahl der Profess-Schwestern in diesem Zeitraum von 233 auf 213 Schwestern.534 Gleichzeitig stieg der Anteil der älteren Schwestern an. So waren 1970 bei insgesamt 19 Schwestern in Schloss Zinneberg unter den Erzieherinnen im Gruppendienst acht älter als 60 Jahre.535 Unter diesen personellen Voraussetzungen hatten sich die Schwestern in den 1950/60er Jahren – gegebenenfalls nach dem Wiederaufbau ihrer Heime – den Herausforderungen der Erziehungsarbeit zu stellen, die gemäß den Grundsätzen ihrer Stifterin zu leisten war. Erziehungsmethode in Theorie und Praxis am Beispiel des Klosters in Münster Die konkreten Erziehungsbemühungen der Schwestern vom Guten Hirten waren auch in den 1950/60er Jahren stark an der Richtschnur ihrer Gründerin Mutter Euphrasia Pelletier ausgerichtet, wie eine 1959 in Münster erschienene Handreichung für die Schwestern der Provinz deutlich machte, die in ihren grundsätzlichen Aussagen auch darüber hinaus gegolten haben dürfte.536 Entscheidende Grundlage aller Erziehung sollte demnach eine Pädagogik der Liebe sein, die keine Bevorzugung und Vertraulichkeit kennt. Jede Schwester müsse bei ihrer schweren Aufgabe Demut und Selbstentäußerung sowie nüchterne Liebe walten lassen, da sie weiß, dass die meisten Mädchen „nur mit Widerstreben in das Haus vom Guten Hirten kommen“. „Wie oft drängen sich vor die Pflichterfüllung und die Forderung auf Selbstzucht die lockenden Erinnerungen an das ungebundene Vorleben. Nur allmählich wird die vorübergehende Trennung von der Außenwelt und die Einfügung in die neue Ordnung innerlich bejaht. Zur Unterstützung des schwachen Willens ist eine pünktliche Regelung des äußeren Tagesablaufes nicht zu entbehren. Mit Konsequenz ist Gehorsam zu fordern. Das junge Mädchen erhält den tiefsten Anstoß dazu nicht durch schöne Worte, gute Ratschläge und dauernde Ermahnungen, sondern durch das gute 534 535

536

Bericht über die süddeutsche Provinz 1972, in: ebd., M 162. Fragebogen des bayerischen Landesverbands zum Schloss Zinneberg v. 1.8.1970, in: ebd., Zin 7. Die Pädagogik der Gründerin des Werkes vom Guten Hirten Mutter Maria Euphrasia Pelletier, Münster/Westfalen 1959.

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Beispiel, dadurch, daß die Erzieherin den Gehorsam, die Ordnung, die Gewissenhaftigkeit vorlebt, die sie fordert.“ (S. 7) Dabei müsse die Schwester den ganzen Menschen als Ebenbild Gottes im Blick haben, Optimismus ausstrahlen und auf das Gute in den von ihr betreuten Mädchen vertrauen. Gleichzeitig ist sie zu großer Wachsamkeit aufgerufen, um dem Übel zuvorzukommen und Strafen möglichst unnötig zu machen. Durch eine kluge Gesprächsführung gegenüber einzelnen wie in Gemeinschaft, die eher empfiehlt und bittet, als befiehlt und kommandiert, kann das Erziehungsziel umso eher erreicht werden. Daher ist auch die Zimmertür der „Meisterin“ immer für die Jugendlichen geöffnet, wobei Verschwiegenheit eine wesentliche Voraussetzung darstellt und ebenfalls unter den Mädchen herrschen müsse. (S. 8-11) Durch die Vermittlung von Freude an der Arbeit und in der Freizeit könne erfolgreiche Erziehungsarbeit geleistet werden, die bei den Mädchen zur Bejahung der Heimerziehung führe. Unterstützend wirke hier zudem das traditionelle System der Familiengruppen, das allerdings in den Heimen unter unterschiedlichen baulichen Voraussetzungen umgesetzt würde.537 In der Kombination von Liebe, Festigkeit und Konsequenz sei in Rückbesinnung auf die Stifterin das Erziehungsziel am besten zu erreichen. Hierzu müsse die Schwester versuchen, durch ein „pädagogisches Liebesverhältnis Macht und Einfluß auf den Jugendlichen“ anstelle einer „ungeliebten Vorgesetztenautorität […] die auf Ehrfurcht, Liebe und Verehrung beruhende Autorität einer guten, verständnisvollen Mutter“ aufzubauen. (S. 20) So wären harte Strafen und Drohungen überflüssig, ständen nicht Zwang und Furcht im Mittelpunkt. „Wenn […] auch nicht alle Strafen zu vermeiden sind, so dürfen nach der vorbeugenden Erziehungsmethode körperliche Strafen jedoch niemals angewandt werden. […] Außer der körperlichen Züchtigung verbannte Mutter Euphrasia noch andere Strafen aus ihren Heimen: die Entziehung der körperlichen Freiheit, den Abbruch an Speise und Trank, demütigende und kränkende Ausdrücke bei Vorwurf und Tadel. Sie wollte immer heilen, bessern und bilden, aber nie abstoßen, verbittern oder zwingen.“ (S. 21) Belohnungen sollten in der Regel nur für Gruppen und weniger für den einzelnen ausgesprochen werden. Davon ausgehend, dass die oftmals schwierigen Mädchen in den Klöstern vom Guten Hirten resozialisiert werden sollten, müssten „vor 537

Vgl. hierzu: Gabriele Linnert, Das Kloster als Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts in Deutschland am Beispiel des „Guten Hirten“, Diss., Aachen 1988.

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allem Mittel und Wege“ gesucht werden, die „Jugendlichen von den Folgen der Verwöhnung, von ihrer Maßlosigkeit und Hemmungslosigkeit zu heilen, sie gegen die Gefährdung verführerischer Reizüberflutung zu wappnen und letztere aus dem Bereich unserer Heime fernzuhalten. […] Darum findet man die Häuser des Guten Hirten oft am Stadtrand gelegen. Es herrscht drinnen eine Atmosphäre der Ruhe, der taktvollen Begegnung von Mensch zu Mensch. Jede Art von Selbstüberwindung, jede Beherrschung der Sinne, der Triebe und Leidenschaften, jeder Widerstand gegen Laune und üble Gewohnheit bieten sich dem Jugendlichen zum freiwilligen Opfer an, das oft in frohem Eifer gebracht wird. Auch hier beschwingt die Liebe. […] Eine weise, strenge Ordnung, die sich auf alles erstreckt, stählt den Willen der Mädchen und gewöhnt ihn an Zucht und Festigkeit. Willenskräftigung durch Willensschulung ist aber ein nicht zu unterschätzendes Erziehungsmittel, das Erfolg verspricht.“ (S. 24f.) Die Bemühungen der Guten Hirtinnen seien immer auch eine Erziehung zu Gott, die in Güte und Geduld, aber ohne Druck durchgeführt werden solle. So sei der Empfang des Bußsakraments freigestellt. Da viele Jugendliche bislang nur selten mit Religion in Berührung gekommen seien, ergibt sich für die Schwestern hier ein weites Betätigungsfeld, das den Mädchen „neue Weiten“ öffne. „Viele nahen sich, nachdem sie ihre Vergangenheit gründlich in Ordnung brachten, nun öfter dem Tische des Herrn und verspüren den tiefen Herzensfrieden der Kinder Gottes.“ (S. 27) Hier gäben auch die „Helferinnen“ und die Magdalenenschwestern ein wichtiges Beispiel. Letztlich könnten die Klöster vom Guten Hirten auf dieser Grundlage einen guten Erfolg ihrer Erziehung vorweisen. Die hier in der Theorie skizzierte traditionelle Erziehungsmethode der Klöster vom Guten Hirten blieb von ihrer Ausrichtung her zumindest bis Ende der 1960er Jahre maßgeblich, wobei sich die Ausprägung in den einzelnen Provinzen wie auch Heimen unterschiedlich entwickelte. Dabei dürfte auch die grundsätzliche Auslegung der Konstitutionen eine wichtige Rolle gespielt haben, da, wie oben beschrieben, bei den Guten Hirtinnen das monastische Leben stark den Erziehungsalltag beeinflusste. So erinnerte sich die 1934 geborene und 1955 in Münster in die Ordensgemeinschaft eingetretene Schwester Gudula (Elisabeth) Busch, die seit den 1960er Jahren als Erziehungsleiterin und in verschiedenen Leitungsfunktionen in der Provinz Münster tätig war, dass „die Bayern so etwas liberaler waren als wir Westfalen und die Rheinländer sowieso. Die auch die rheinische Lebensart anders hat-

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ten. Münster war immer sehr genau, sehr So gewissenhaft“.538 hatte sie ihr zweijähriges Noviziat als ausgesprochen einengend empfunden, was nach ihrer Einschätzung darauf zurückzuführen war, dass die Provinzleitung nach Kriegsende an die StruktuAbb. 12: Schwestern, „Helferinnen“ und Mädchen vor ren anknüpfte, „wo einer Baracke des Klosters Köln-Melaten sie 1933 aufgehört haben, in der Hoffnung, es wird wieder alles so wie früher. Restauration, das habe ich dort erlebt.“ Gleichzeitig waren die Häuser aus ihrer Sicht während des Dritten Reichs für die Jugendlichen immer abgeschlossener geworden, was ebenfalls zumindest bis Ende der 1950er Jahre fortbestand.539 Und da etwa von den „Haustöchtern“, die von ihren Familien oder von Pfarrämtern in der NS-Zeit wegen ihrer Schwierigkeiten, ein eigenständiges Leben zu führen, „freiwillig“ in die Klöster gekommen sowie über das 21. Lebensjahr hinaus in separaten Gruppen dort geblieben und auch beschützt worden waren, kaum jemand das Haus verließ, beurteilte man die Verhältnisse als angemessen. Auch wenn die Generaloberin Schwester Ursula Jung, die selbst aus der Provinz Münster stammte, Mitte 1951 die Oberinnen der Provinz zu einem Treffen nach Angers rief, „um sie zur Überprüfung der Erziehungsmethoden in ihren Häusern und ihrer Anpassung an die neuen Kenntnisse der Psychologie und Pädagogik anzuregen“, kam es kaum zu Änderungen.540 So galten auch die bestehenden Bedingungen hinsichtlich aller im Heim befindlichen Jugendlichen weiterhin als bester Rahmen, gemäß der 1950 geltenden Hausordnung die zentrale Aufgabe des Hauses zu erfüllen, „den uns anvertrauten Kindern eine religiöse Erziehung, feste Grundsätze, eine gute hauswirtschaftliche und berufliche Ausbildung sowie ein genügendes Maß an Kenntnissen zu vermit538 539 540

Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 10. Ebd., S. 5. Toldy, Schwestern vom Guten Hirten in der Provinz Münster, S. 282.

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teln, damit sie später, wenn sie das Kloster verlassen, als tüchtige Menschen das Leben meistern können“.541 Neben den Gruppen der Haustöchter und „Zöglinge“ existierte im münsterischen Kloster zudem eine völlig eigenständige Klasse, die einem Internat oder Pensionat glich. „Das waren ganz unbescholtene Kinder. Die kamen meistens aus dem Ruhrgebiet, aus ganz einfachen oder armen Bergarbeiterfamilien, die bei uns eine Ausbildung machten, die ganz überwiegend privat untergebracht wurden auf Fürsprache der Pfarrämter. […] Da bekamen wir damals 30 Mark Pflegegeld im Monat für. Und dann wurde immer wieder angefragt für einen freien Platz. Ja das war eine Sondereinrichtung, das hätte genauso gut mit dem ganzen Haus auf einem anderen Grundstück irgendwo stehen können, das hatte mit der öffentlichen Erziehung überhaupt nichts zu tun.“ Die „Zöglinge“ befanden sich mehrheitlich in den „großen Klassen, große Klasse insofern, als dass sie auch schon etwas älter waren im Schnitt, wir hatten ja kaum 14-, 15-jährige, die meisten waren so 16-21 oder 17-21.“ In diese Klassen kamen in der Regel die Mädchen, bei denen alle Erziehungsversuche in anderen Kinder- und Jugendheimen „nicht mehr half[en]“ Denn „dann kam der Gute Hirte dran. Das war ja damals auch ein Abschreckmittel, auch wenn das alles nicht klappt, dann kommst du in den Guten Hirten.“542 Auch das Landesjugendamt überwies daher dem Guten Hirten oftmals die schwierigsten Fälle. So kam etwa auch Gerda Franz 1948 zum Kloster vom Guten Hirten nach Münster, nachdem sie seit ihrer Geburt im Jahr 1933 bereits im Säuglingsheim und Waisenhaus St. Joseph in Dortmund-Eving bei Vinzentinerinnen sowie in den FE-Heimen Marienburg in Coesfeld und Haus Widey bei Paderborn gewesen war. In allen Heimen gehörte körperliche Züchtigung zum Alltag, zumal sie als „Bettnässerin“ vermehrt Strafen auf sich zog. Ihrer Erinnerung nach sollte sie dann „etwas lernen, richtig etwas lernen, der Gute Hirte, hieß ja früher für schwer erziehbare Mädchen, wir wollen es nicht verschönern, es waren schwer erziehbare Kinder, so wurde uns das gesagt.“ Allerdings ging sie im Vorfeld der Verlegung zunächst von einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse aus. Denn ihr wurde „in Haus Widey gesagt, wenn du nach dem Guten Hirten kommst, sie sprachen ja nur vom Guten Hirten ganz schlecht. […] Ich hatte ja wunderbare schöne dicke Zöpfe, zwei solche Flechten bis zum Hintern, die bekommst du dann abgeschnitten. Das wurde mir 541

542

Hausordnung des Klosters vom Guten Hirten in Münster, zit. nach: Das offene Tor, S. 69. Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 7.

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als erstes gesagt und da wirst du dich wundern und dann wirst du eingesperrt […]. Kam ich von dem Regen in die Traufe, habe ich gedacht.“543 Obwohl die Unterbringungsverhältnisse wegen der großen Kriegszerstörungen so unzureichend waren, dass zunächst 80 Mädchen in einem Saal schlafen mussten und die einzigen Waschmöglichkeiten aus Schüsseln bestanden, folgte jedoch für Gerda Franz eine Reihe positiver Erfahrungen. Von der für sie zuständigen leitenden Schwester der Herz-Jesu-Klasse wie auch der Gruppenschwester – sie kam nach eigener Einschätzung in eine Gruppe etwas schwieriger Mädchen – herzlich in Empfang genommen, erhielt sie wenige Tage nach ihrer Ankunft nach einer Untersuchung durch einen Arzt ein Medikament gegen dass Bettnässen, das schnell wirkte. Auch die Stick-Ausbildung, die sie durchlief, bereitete ihr wegen ihres Talents zu Handarbeiten trotz der damit verbundenen wenigen Bewegung große Freude. „Und dann ging das so von Jahr zu Jahr weiter. Ich habe mich da wohl gefühlt, es gab auch Schwierigkeiten, ich habe ein bisschen immer aufgemuckt, weil ich das nicht anders kannte, ich hatte immer sofort die Igelstellung eingenommen, weil ich dachte, hier will man mir auch etwas tun. Aber es war nicht der Fall, es gab kein Stöckchen, es gab keine Schläge, es gab kein Handhochheben, es wurde gescheit mit einem geredet. […] Auch da gab es natürlich große Schwierigkeiten, nicht mit Schlagen […], aber wenn irgendetwas war, dann hatte ich einen Ansprechpartner und das war Schwester Luzia. Schwester Luzia hat mich total aufgebaut. Die hat aus mir das gemacht, ich sage immer das, was ich heute bin.“544 Als entscheidend für diese offenbar gute Integration von Gerda Franz erwiesen sich also vor dem Hintergrund ihrer bisherigen massiven Heimerfahrungen vor allem die Gesprächsbereitschaft der Erziehenden anstatt körperlicher Züchtigung oder Isolierung – in Schwester Luzia fand sie anscheinend sogar die bislang fehlende Bezugsperson – sowie die Arbeitsstelle, die ihr offenbar grundsätzlich Freude bereitete und zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl führte. Da sie zudem keinerlei Bindungen nach Außen besaß, empfand sie die große Abgeschlossenheit des Hauses nicht wirklich belastend. Und auch die religiöse Erziehung im Guten Hirten unterschied sich ihrer Erinnerung nach von ihren bisherigen Erfahrungen in den anderen Heimen. Der Glaube „an den lieben Gott“ war ihr „ganz abhanden gekommen, wir wurden ja gezwungen, in die Kirche zu gehen. Wir wurden ja gezwungen zu 543 544

Interview Gerda Franz [Aliasname] (6.10.2010), Transkript, S. 11. Ebd., S. 12.

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beten und alles, aber da war nie mein Herz dabei, nie. Von Anfang an nicht, und dann merkte ich, hier ist etwas richtig, das ist gut, weil auch da im Guten Hirten war eine große Schwierigkeit, aber da wurde nicht geschlagen, da wurde nicht herumgebrüllt, da wurde nicht eingesperrt, das gab es da nicht, das kannte ich nicht und deswegen habe ich immer auf den Tag gewartet, wo ich wieder etwas angestellt hatte, dass ich dann wieder eingesperrt werde, ich wartete förmlich darauf, aber das kam nicht.“545 Letztlich blieb Gerda Franz noch über das 21. Lebensjahr hinaus als „Hauskind“ bis Ende der 1950er Jahre einige Jahre im Kloster vom Guten Hirten, das ihr die für sie notwendige Geborgenheit bot. Auf der anderen Seite erkannte sie durchaus, dass viele der mit ihr im Guten Hirten untergebrachten Jugendlichen vor allem unter der großen Abgeschlossenheit wie auch den monastisch geprägten, Gehorsam, Ordnung und Demut betonenden Strukturen des Hauses litten, wenn sie etwa vor der Einweisung ins Heim einen Freund oder sogar schon ein Kind hatten. Es wird zudem davon auszugehen sein, dass sie in der Regel den Sinn ihres Aufenthalts im Guten Hirten nicht einsahen und sich daher renitent verhielten. Auch wurden sie auf Grund ihres Alters als sexuell gefährdet und deshalb als besonders zu schützen betrachtet – so fanden nach der Rückführung nach einer Entweichung durch einen Gynäkologen Untersuchungen etwa auf Geschlechtkrankheiten statt546 –, was wiederum zu Gegenreaktionen von Seiten der Jugendlichen führen musste. Jedenfalls verstand Gerda Franz auch die vielen Entweichungen von Mädchen, zumal sie selbst im Alter von 18 oder 19 Jahren eine „bockige Zeit“ mit dem entsprechenden Konfliktpotential durchmachte. In dieser Phase herrschte dann die Einstellung vor, sich „nicht mehr unterdrücken“ zu lassen, obwohl dies ihrer Meinung nach im Guten Hirten nicht der Fall war. Aber „es wurde schon stramm gehalten, was gemacht werden musste, das wurde gemacht, da gab es kein aber und nix, das wurde gemacht.“547 Dazu zählte der morgendliche Kirchgang genauso wie die weitgehende Begrenztheit aufs Heim – sonntägliche Spaziergänge gingen mit der Gruppenschwester durch den weitläufigen Garten des Klosters – oder die Nachtruhe um 21.00 Uhr. Für sie selbst kam jedenfalls ein Entweichen nicht in Frage. 545 546

547

Ebd., S. 13. Vgl. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 477f. Hier berichtete ein ehemaliger Zögling des Kölner Guten Hirten von der Angst vor diesen Untersuchungen, durch die auch die Jungfräulichkeit oder eine etwaige Schwangerschaft festgestellt werden sollte. Interview Gerda Franz [Aliasname] (6.10.2010), Transkript S. 21.

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Auch das Bemühen der Schwestern, denen selbst Partikularfreundschaften verboten waren, Freundschaften unter den Jugendlichen möglichst zu verhindern, warf einen Schatten auf den Alltag. „Nein, das durfte man ja nicht, da wurde ja drauf aufgepasst wie die Luchse. Ich habe mir immer gedacht warum, weshalb, weswegen, aber jetzt im Nachhinein war ich natürlich schlauer. Wir hatten natürlich auch Lesben da, was ich natürlich nicht wusste, was das war, und dann wurde ganz besonders drauf aufgepasst.“548 Hier könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass den Mädchen das Keuschheitsgelübde auferlegt wurde, das sie jedoch in der Praxis nie abgelegt hatten.549 Zudem sollten die Jugendlichen möglichst wenig von einander wissen. So hielt ein Besuchsbericht der staatlichen Aufsichtsbehörden 1963 über das Kloster in Münster fest, dass „Gespräche der Mädchen untereinander über die Gründe, die zur Heimeinweisung geführt haben, […] als verpönt [gelten] und […] grundsätzlich unterbunden [werden]. Es wird Wert darauf gelegt, dass die Mädchen ihre Namen nicht kennen; sie werden deshalb auch nur mit ihrem Vornamen angesprochen.“ Letztlich erschien hinsichtlich der inneren pädagogischen Situation „das Klima ein wenig zu unpersönlich und distanziert. Die Gruppengemeinschaft als wesentlicher Erziehungsfaktor scheint überbetont und den Mädchen nur wenig Spielraum zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu lassen. Die Vorbereitung der Mädchen auf das freie Leben müsste noch etwas lebensnäher ausgerichtet werden.“550 Auch die „24-Stunden-Überwachung“551 durch die „Helferinnen“, die ohne eine Abtrennung etwa durch eine spanische Wand in den glei548

549

550 551

Ebd., S. 21f. Über ihre sexuelle Aufklärung erklärte Gerda Franz: „Das ist ganz interessant, ich hatte ja noch nie in meinem Leben einen nackten Mann gesehen, das kann ich ihnen ruhig erzählen, und nun wurde ich ja natürlich auch älter und ich war sehr schlecht entwickelt. Und Schwester Luzia meinte nun, dass sie mich dann aufklären müsste. Ja, gut, ok. Dann war ich 21 glaube ich schon, dann hat sie mich in ihr Zimmer geholt. Und dann sagte sie, Gerda, du weißt ja, ich wusste wirklich noch nicht wo die Kinder herkommen, so traurig sich das jetzt anhört, ich wusste es wirklich nicht. Weil ich mich auch davon irgendwie, das war ja kein Thema für mich. Ja, und dann hat sie mich aufgeklärt. Aber so etwas von niedlich und dann habe ich gedacht, ja, wenn das dann so einfach ist, dann, aber sie meinte nur wunders, was sie mir Gutes angetan hatten, aber so das Richtige, das hat man ja erst im richtigen Leben kennen gelernt.“ (S. 19) Vgl. in Anlehnung an die Praxis bei den Dienstmägden Jesu Christi: Gertrud Hüwelmeier, Närrinnen Gottes. Lebenswelten von Ordensfrauen, Münster/New York/ München/Berlin 2004, S. 85ff. Besuchsbericht v. 16. Mai 1963, in: HStAD, NW 648 Nr. 99. Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 17.

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chen Zimmern wie die Mädchen schliefen und auch sonst das Leben mit den Jugendlichen teilten, verhinderte zu enge Bindungen untereinander – dieses System sorgte nach den Erinnerungen Schwester Gudulas jedoch auch dafür, dass rigide Strafen überflüssig waren. Allerdings werden viele „Zöglinge“ die permanente Anwesenheit der „Helferinnen“ eher mit Skepsis oder Ablehnung betrachtet haben, da diesen, vermutlich oftmals kaum älter als ein Teil der Jugendlichen, aber innerhalb der Hierarchie deutlich über ihnen angeordnet und mit „Macht“ ausgestattet, eine Art Spitzelfunktion zugerechnet worden sein dürfte. Daher bestand auf Grund dieser Kontroll-Mechanismen vermutlich ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial. Trotz der großen Betonung des Klausurbereichs im münsterschen Guten Hirten schwärmten offenbar nicht wenige Mädchen für die eine oder andere Schwester. Auch Gerda Franz fühlte sich im Alter von 18 Jahren zu einer fünf Jahre älteren Schwester hingezogen, zu der sie ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen konnte. Da dies innerhalb der Ordensgemeinschaft streng verboten war, gab es kaum Möglichkeiten, sich unbefangen mit dieser wirklichen Vertrauensperson auszutauschen. Letztlich reagierten die Hausoberen auf die Freundschaft mit der Versetzung der Schwester, wodurch für die Jugendliche eine Welt zusammenbrach.552 Im Zeichen gesellschaftlicher Umbrüche – Beispiele aus westfälischen und rheinischen Klöstern Die in den Klöstern vom Guten Hirten praktizierte „monastische Erziehung“ kollidierte im Lauf der 1960er Jahre gerade bei der jungen Generation mit den immer stärker spürbar werdenden gesellschaftlichen Veränderungen, die sich deutlich auf den Lebensstil der Jugendlichen niederschlugen. Bereits 1960 hatte das Landesjugendamt Rheinland gegenüber der Kölner Provinzoberin der Schwestern vom Guten Hirten darauf hingewirkt, dass sich die Schwestern in den Heimen nicht mehr als „Liebe Mutter“ oder „Ehrwürdige Mutter“ ansprechen lassen sollten, worauf allerdings nur eine Prüfung in Aussicht gestellt wurde.553 Zwei Jahre später kam dann in einem Be552 553

Interview Gerda Franz [Aliasname] (6.10.2010), Transkript, S. 13. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 101. Die Diskussion, ob die Oberinnen nach wie vor auch von den Schwestern mit „Mutter“ anzusprechen waren, wurde in Münster erst auf dem Provinzkapitel von 1970 geführt, ohne dass bereits eine Entscheidung getroffen wurde, da sich die älteren Schwestern gegen eine Verän-

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Abb. 13: Bügelzimmer im Kloster vom Guten Hirten (Münster)

richt des Landesjugendsamts über einen Besuch des Aachener Klosters zum Ausdruck, dass sich die Schwestern mit den Wünschen der Mädchen hinsichtlich des Gebrauchs von Kosmetika und des Zigarettenkonsums sehr schwer taten. Wenn sie sich im Austausch mit der Aufsichtsbehörde in der Kosmetikfrage noch zu einem offeneren Umgang durchringen konnten, sollte das Rauchen weiterhin nur in Ausnahmen erlaubt sein.554 Keine grundsätzliche Kritik übte 1963 das Landesjugendamt am vorhandenen Isolierzimmer des Guten Hirten in Köln-Lindenthal. Allerdings fehlten noch eine „Einblickvorrichtung, eine Klingel und eine ausreichende Sicherung der Lampe zum Schutz vor Selbstschädigungen“. Wenn auch kurz zuvor ein Strafbuch eingeführt worden war – schon 1959 war das Fehlen von Straflisten im Aachener Guten Hirten moniert und die Zusage des Heims

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derung aussprachen. Es ist nicht auszuschließen, dass die hier zum Ausdruck kommende Auseinandersetzung zwischen den Generationen auch für das Verhältnis zwischen Schwestern und Mädchen eine Rolle spielte. Vgl. Protokoll Provinzkapitel Münster v. 18.-24.7.1970, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Vgl. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 135.

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zur Abstellung dieses Mangels erlangt worden555 –, beschränkten sich die Strafen offenbar auf das Streichen von Vergünstigungen oder des Sonntagsausgangs. Zudem sollte bei den anstehenden Umbaumaßnahmen „noch ein Besinnungszimmer eingerichtet werden“.556 Jedoch berichtete die um 1970 in das Kloster vom Guten Hirten in Köln-Lindenthal gelangte Hilde Hohmann auch von körperlichen Auseinandersetzungen mit einer Schwester.557 Die Ende der 1960er Jahre verfassten Revisionsberichte des westfälischen Landesjugendamts zu den Klöstern vom Guten Hirten in Münster und Ibbenbüren vermerkten dagegen kritiklos, dass von den Heimen keine Strafbücher geführt wurden, da „weder geschlagen noch […] Mädchen isoliert“, also auch keine Isolierräume vorhanden sein würden. Dabei hätten die Erzieherinnen auf die immer noch ausreichenden Strafmöglichkeiten wie „Ausgangssperre, Post wird nicht sofort ausgehändigt, Ausschluß von einem Fernsehstück, von Theaterbesuch oder sonstigen Veranstaltungen“ hingewiesen.558 Die alle drei Wochen am „Schreibesonntag“ erlaubten drei Briefe wurden von der Gruppenschwester kontrolliert, und im Abstand von acht Wochen war sonntags Besuch von Angehörigen erlaubt. Den geltenden Taschenund Prämiengeldregelungen stand die Mitarbeiterin des Landesjugendamtes skeptisch gegenüber, da sie letztlich kontraproduktiv seien. Beim Ausbildungsangebot war die Lehre zur Stenotypistin und zur Friseurin frisch hinzu gekommen, wobei der Friseursalon als erster in einem westfälischen Heim galt. Außerdem wurde noch erwähnt, dass eine Psychologin in zweiwöchigem Turnus ins Haus kam, um die anstehenden Fragen zu besprechen – bereits 1963 wurde mit einer Psychologin des Landschaftsverbands im Haus für jedes Mädchen ein auf zwei Jahre angelegter Erziehungsplan erstellt.559 555 556

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Ebd., S. 102, Fußnote 337. Besuchsbericht eines Vertreters des NRW-Sozialministeriums v. 26.9.1963, in: HStAD, NW 648 Nr. 98. Noch in der Walraff-Reportage „Flucht aus den Heimen“ berichtete 1971 eine junge Frau hinsichtlich ihres 18-monatigen Aufenthalts im Aachener Guten Hirten nicht nur kritisch über den stark reglementierten Hausalltag, sondern dass Schwestern die Mädchen wegen ihres Schminken als „Schweine und Huren“ bezeichnet hätten. (ZDF-Reportage „Flucht aus den Heimen v. 14.2.1971) Interview Hilde Hohmann (31.08.2009), in: ALVR 49425. Besuchsbericht über das Kloster vom Guten Hirten in Münster v. 10.3.1969, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Besuchsbericht über das Kloster vom Guten Hirten in Münster v. 16.5.1963, in: HStAD, NW 648 Nr. 99.

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Zwar lebten und arbeiteten die Mädchen durch die „Aufgeschlossenheit der Schwestern und der jeweiligen Oberinnen in Fragen moderner Mädchenerziehung“ mittlerweile „in einer gelockerten, freien und ungezwungenen Atmosphäre“, aber auf diesem Gebiet bliebe weiterhin „noch einiges zu tun. Die Mädchen für das Leben draußen vorzubereiten, ist ein echtes Anliegen aller Schwestern, muß aber immer wieder seinen Ausdruck darin finden, dass alte Regelungen und Methoden neu überdacht werden.“ Neben der weiteren Schulung und verstärkter gemeinsamer Bemühungen der Schwestern müsse die „Demokratisierung des Heimlebens“ vorangetrieben werden. „Der Schwesternmangel wirkt hier hemmend. Leider haben alle Schwesternhäuser zu spät erkannt, dass sie eines Tages ohne Laien ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Hier sind Chancen verpasst worden, die h e u t e kaum noch aufzuholen sind.“560 Im Jahr zuvor hatten die sieben Gruppenräume im Kloster in Ibbenbüren mit 12 bis 18 Plätzen bei insgesamt 85 Plätzen, von denen sich zwei im Umbau befanden, einen „freundlichen und gepflegten Eindruck“ bei der Aufsichtsbehörde hinterlassen, wobei die „Helferinnen“ nach wie vor ebenfalls in Räumlichkeiten der Mädchen schliefen. Zudem waren eine gut eingerichtete Turnhalle und ein Lehrschwimmbecken vorhanden. Besonders hervorgehoben wurde das Führungs- und Prämiensystem, über das festgehalten wurde: „Für die Mädchen werden Führungsnoten festgesetzt, die Noten werden am letzten Sonntag des Monats verlesen. Die Festsetzung der Noten erfolgt in einer Besprechung zwischen der Gruppenschwester, der Erziehungsleiterin und der Arbeitserzieherin. Bei der Prämie werden auch die Arbeitspunkte berücksichtigt. Ein- und Ausgaben des Taschen- und Prämiengeldes werden auf einer Kontokarte des Mädchens ausgewiesen. Über das Taschengeld können die Mädchen frei verfügen. Sie bekommen aber kein bares Geld in die Hand. Am verkaufsfreien Samstag gehen einige Mädchen in die Stadt und kaufen für ihre Gruppe ein. Hierzu werden solche Mädchen bestimmt, die zuverlässig sind und sich bereits bewährt haben. Das Prämiengeld wird zunächst einmal angespart. Hiervon können die Mädchen nur mit Zustimmung der Heimleitung größere persönliche Einkäufe machen. Ein bestimmter Betrag bleibt auf dem Konto stehen. Er wird dem Mädchen bei einer Beurlaubung ausgezahlt.“561 560

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Besuchsbericht über das Kloster vom Guten Hirten in Münster v. 10.3.1969, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Besuchsbericht über das Kloster vom Guten Hirten Haus Waldfrieden in Ibbenbüren v. 1.4.1968, in: ebd, NDP 957.

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Trotz der in Ibbenbüren ebenfalls erkennbaren Bemühungen der Heimleitung hinsichtlich einer modernen Mädchenerziehung wurde vom Landesjugendamt weiterer Handlungsbedarf angemahnt. „Vor allem sollte das Bestreben dahin gehen, mehr Ausbildungs- u. Fortbildungsmöglichkeiten für die Mädchen zu schaffen. Die Einstellung von weiteren hauptamtlichen und nebenamtlichen Fachkräften wäre wünschenswert, damit auch die Verbindung der Mädchen zur Außenwelt noch mehr gefördert werden kann.“562 In diesem Zusammenhang kam der Sexualerziehung immer größere Bedeutung zu, um den Mädchen, die zwar oftmals mit sexuellen Erfahrungen, aber ohne ausreichendes Wissen über die körperlichen Vorgänge und ethische Fragen in die Heime kamen, gerade im Vorfeld der Entlassung Rüstzeug an die Hand zu geben. Bis zum Ende der 1960er Jahre wurden solche Aspekte meist in den Erziehungsgesprächen oder später dann in Gesprächskreisen mit Ehepaaren, Geistlichen oder Lehrkräften thematisiert. Inwieweit hier die für die Mädchen wichtigen Fragen umfassend und kompetent aufgegriffen wurden, dürfte lange Zeit entscheidend von der jeweiligen Erziehungsleiterin bzw. der anderen Gesprächspartner abhängig gewesen sein. Jedenfalls forderte das Landesjugendamt auf diesem Feld eine deutliche Intensivierung, zumal in Gesprächen der Mitarbeiterin der Behörde mit den Mädchen nicht selten der Eindruck entstand, „daß sie aufgrund von sexuellen Erlebnissen mehr wissen als die Erzieherinnen“, was „im Einzelfall und auf die Praxis bezogen zutreffen“ mochte.563 Hinsichtlich der religiösen Erziehung war der Wandel in der Praxis insofern spürbar, als die Mädchen nach Feststellung der Heimaufsicht werktags kaum noch die Gottesdienste besuchten. Sonntags nahmen sie nun vermehrt an den Messfeiern in der jeweiligen Pfarrkirche teil, zu denen sie angehalten, aber nicht gezwungen wurden. Die in der Umbruchphase in den Besuchsberichten des Landesjugendamts Westfalen immer wieder zum Ausdruck kommenden Modernisierungsdefizite in den Klöstern vom Guten Hirten hingen häufig mit der traditionellen Übertragung der monastischen Lebensform in die Erziehungsarbeit der Heime zusammen, die im Zuge der sich massiv verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse immer weniger zeitgemäß war. Vor diesem Hintergrund kam eine 1976 vom Kapitel der Norddeutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten angeregte 562 563

Ebd. Besuchsbericht über das Kloster vom Guten Hirten in Münster v. 21.9.1971, in: ebd., NDP 956.

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Auseinandersetzung mit der Pädagogik der Gemeinschaft, auch in Anbetracht der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Ordensleben, zu einem reflektierten Ergebnis, das ebenfalls auf eine schon länger überkommene Erziehungspraxis verwies: „Beiträge von Schwestern aus den verschiedenen Häusern machten deutlich, daß viele jüngere Schwestern verunsichert und zum Teil auch entmutigt sind, weil die verschiedensten Probleme die Erziehungsarbeit belasten. Einige dieser Schwierigkeiten seien hier aufgeführt. • Die Auflösung alter bewährter Ordensstrukturen in unseren zum Teil jahrhundertealten Erziehungshäusern. • Das überkommene Erbe eines sogenannten klösterlichen Erfolgzwanges in der Erziehung, nämlich: einen verantwortungsbewussten Christen erziehen zu müssen. • Neue Erkenntnisse in der Pädagogik, Psychologie und Medizin, die scheinbar mit den christlichen Erziehungsprinzipien der Schwestern vom Guten Hirten nicht zu vereinbaren sind, weil wir unsere Prinzipien aus zeitgebundenen Praktiken nicht lösten. • Veränderungen in der Kirche, die den lebendigen Glauben befreien wollen aus der Eingebundenheit in sich verändernde gesellschaftliche Formen des menschlichen Zusammenlebens, der Erforschung innerweltlicher Zusammenhänge und der technischen Verwirklichung erforschter Möglichkeiten. • Der zeitliche lange Abstand zwischen den Alt- und Jungerzieherinnen. Ein fließender Anlernungsprozeß war nicht möglich. • Aus dem vielleicht nicht genügenden Bemühen in unserer Kongregation, zu den eigentlichen Anfangsquellen zurückzufinden, um darin den zeitüberdauernden Gründungsgeist wieder zu entdecken. • Aus der neuen Situation Laienerzieher wirksam in den Geist unserer christlichen Erziehung einzuführen. […] In der Kongregation der Schwestern vom Guten Hirten ging man seit der Gründung von Erziehungsprinzipien aus, die sich ausschließlich am Evangelium orientierten und darum urchristlich sind. Die mündliche Überlieferung und vor allem das Beispiel von Erzieherinnengenerationen sowie die Behütung durch die Klausur retteten diese Prinzipien bis in unsere Zeit. Das Prinzipienverständnis bedarf jedoch gelegentlich eines Reinigungs- und Anpassungsverfahrens, da immer die Gefahr besteht, bestimmte Verhaltensmuster mit Prinzipien zu verwechseln und diese deshalb festzuschreiben.

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In der Anwendung der Grundprinzipien müssen wir flexibel sein, ohne ihre Substanz zu verlieren. Sie müssen anwendbar sein in sich verändernden Gesellschaftsformen, bei verschiedenen Altersgruppen und unterschiedlichem Bildungsgefälle. Sie sind nicht an Situationen gebunden, sondern helfen, die Situation auszuleuchten und bieten Hilfen zu einem guten erfolgreichen pädagogischen Handeln. Erziehungsprinzipien unserer Kongregation stützen sich auf Christus und seine Heilsbotschaft. Sie sind darum anwendbar auch bei Begegnungen mit anderen Religionen, mit Nichtgläubigen oder anderen christlichen Kirchen. Grundprinzipien schließen neue pädagogische Erkenntnisse nicht aus und entbinden die Schwesternerzieher nicht von einem gründlichen Studium neuer Erkenntnisse und Methoden.“564 In der norddeutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten erwuchs nach den Erinnerungen Schwester Gudulas zur gleichen Zeit der Wunsch, sich, anders als im Süden, nach und nach aus der „sogenannten öffentlichen Erziehung“ zurückzuziehen. „Und wir haben dann gesagt, dann gehen wir zu einem Zeitpunkt, wo das noch bedauert wird, als das wir dann hinterher so langsam ausgehungert werden, entweder keine Jugendlichen mehr angewiesen werden […]. In Ibbenbüren war das letzte und wir haben uns dann auch anderen Aufgaben zugewandt.“565 So gingen die Beschlüsse der Provinzkapitel jener Jahre auch in die Richtung, vermehrt neue Apostolatsaufgaben abseits der Heime zu suchen.566 Von den drei westfälischen Klöstern vom Guten Hirten gab bereits 1969 das Haus in Bocholt seine erzieherische Tätigkeit auf. In Münster führte der kontinuierliche Bedarfsrückgang an Heimplätzen zwar dazu, dass 1972 als Alternative eine Heilpädagogische Kinderabteilung anstelle von Jugendabteilungen aufgebaut wurde, die auch aus Sicht des Landesjugendamts erfolgreich arbeitete und gut angenommen wurde.567 Aber auch hier war Anfang der 1980er Jahre eine Unterbelegung spürbar und 1982 gab die Provinzleitung auch in Münster die stationäre Heimerziehung auf. Drei Jahre später vollzog schließlich das Ibbenbürener Haus ebenfalls diesen Schritt.568 564

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Die Pädagogik der Schwestern vom Guten Hirten (erarbeitet auf Anregung des Provinzkapitels von 1976), in: ebd., NDP 898. Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 3 u, 11f. Toldy, Schwestern vom Guten Hirten in der Provinz Münster, S. 336ff. Vgl. etwa Besuchsberichte des LJA v. 11.9.1973 u. 27.1.1976, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern v. Guten Hirten, NDP 965. Toldy, Schwestern vom Guten Hirten in der Provinz Münster, S. 342-354 u. 362-369.

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Entwicklungen in den bayerischen Klöstern Wenn Schwester Gudula im Rückblick erklärte, dass in den 1950/60er Jahren München den Häusern der Norddeutschen Provinz eindeutig in der Pädagogik voraus war und dies nicht zuletzt am Wirken der langjährigen Oberin Schwester Angelika Kronenberger festmachte, meinte sie damit vor allem das 1965 bezogene Haus in München-Solln.569 1921 in der Pfalz geboren, besaß Schwester Angelika bereits eine Ausbildung als Kinderkrankenpflegerin und Wohlfahrtspflegerin, ehe sie nach dem Zweiten Weltkrieg in München in die Gemeinschaft der Schwestern vom Guten Hirten eintrat und bereits im Alter von 26 Jahren Erziehungsleiterin wurde. Bei ihrer Erziehungsarbeit legte sie großen Wert auf das persönliche Gespräch mit den Mädchen, um so ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen.570 Das Heim in München-Haidhausen, das 1953 250 Plätze zur „Erziehung und Ausbildung verwahrloster und gefährdeter Mädchen“ im Alter von 14 bis 21 Jahren besaß, entsprach Anfang der 1960er Jahre allein schon unter baulichen Gesichtspunkten nicht mehr den Anforderungen einer modernen Erziehungseinrichtung – das Hauptgebäude war 1909 errichtet worden. Wichtige Unterstützung erhielt das Neubauprojekt durch die Münchener Bistumsleitung, die dem Orden 1962 das alte Provinzhaus für fast 19,5 Mio. DM abkaufte und so die finanzielle Grundlage für den Ankauf des Baugrundstückes in Solln und den Neubau schuf.571 Die Errichtung der neuen Gebäude wurde auch mit neuen pädagogischen Konzepten verbunden, sodass eine Einrichtung für 160 Mädchen in FE und FEH entstand, die durchaus Modellcharakter besaß. In sechs im Pavillonstil gestalteten Häusern befanden sich nun jeweils zwei Wohngruppen für 11 bis 13 Mädchen mit sieben Einzel- und drei Dreibett-Zimmern. Ein weiteres Haus nahm in zwei Gruppen je zehn bis elf junge Mütter mit ihren Säuglingen oder Kleinkindern in Einzelzimmern auf. Allen Gruppen standen zudem verschiedene Freizeitmöglichkeiten zur Verfügung. Das Erziehungspersonal setzte sich in jeder Gruppe aus einer als Sozialarbeiterin bzw. Heim- oder Heilpädagogin ausgebildeten Kraft sowie einer Gruppenhelferin, die Kindergärtnerin oder Fürsorgepraktikantin im Anerkennungsjahr war, und teilweise weiteren Praktikantinnen zusammen. Für die Schule standen 569 570 571

Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 10f. Mitteilung von Schwester Angelika Kronenberger v. 26.4.2010. Bericht über die süddeutsche Provinz 1973, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, M 162.

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zwölf Lehrkräfte und für jede der 16 Ausbildungsstätten eine sozialpädagogisch geschulte Handwerksmeisterin zur Verfügung. Weitere nebenamtliche Mitarbeiter ermöglichten außer der ärztlichen Versorgung zudem ein therapeutisches Angebot etwa im musikalischen oder rhythmischen Bereich. Als Erziehungsleiterin fungierte eine Psychologin.572 Neben einer hauswirtschaftlichen Ausbildung mit dem Abschluss einer Hauswirtschaftlichen Gehilfin, der auch als Voraussetzung für eine nachfolgende Weiterbildung in einem sozialpflegerischen Beruf genutzt werden konnte, bot die „Heimstätte Sankt Gabriel“ genannte Einrichtung weitere Lehrberufe an, die nicht nur das traditionelle Spektrum, sondern auch moderne Berufsfelder abdeckte. Neben Ausbildungen zur Damenschneiderin, Wäscheschneiderin und Büglerin, gab es auch die Möglichkeit, eine Lehre als Modistin, Friseurin und Gärtnerin zu beginnen. Und auch die Heimschulen waren differenziert ausgeprägt. Die Berufsschule deckte die gewerblichen, hauswirtschaftlichen und kaufmännischen Felder ab und wurde durch eine Friseur- und eine Textilfachschule ergänzt. Zudem ermöglichte eine dreijährige Handelsschule die Erlangung der nicht fachgebundenen Mittleren Reife und damit auch die Voraussetzung für eine sich anschließende Ausbildung in gehobenen Berufen, womit das Münchener Heim in Deutschland eine Sonderrolle einnahm.573 Nach den Worten von Schwester Angelika, die ihre Einrichtung 1972 anlässlich des 75. Jubiläums des DCV vorstellte, wollte die Erziehungsarbeit in St. Gabriel vor allem heilen. Dabei ging man hier nicht davon aus, dass die Mädchen, „die als in irgendeinem Sinne ‚nicht angepasst’ in unsere Obhut gegeben werden, etwas angerichtet haben, sondern daß etwas an ihnen angerichtet worden ist, das gutzumachen man sich an diesem Ort bemüht“. In diesem Sinn sollten gerade auch die Bemühungen auf die im Heim mit ihren Kindern untergebrachten, zum Teil sehr jungen Mütter zugeschnitten sein, um sie vor Überforderungen zu bewahren und sie altersgerecht an ihre Rolle als Mutter heranzuführen. Gleichzeitig galt es, ihre Kinder vor den Schädigungen eines mutterlosen Aufwachsens zu bewahren.574 Schließlich zeigte sich, dass im Münchener Kloster vom Guten Hirten zumindest vom Anspruch her ein Wandel der Erziehungswerte stattgefunden hatte. Inwieweit dieser bereits von allen an der Erziehung 572

573 574

Angelika Kronenberger, Die Heimstätte Sankt Gabriel in München-Solln, in: Fischer (Red.), 75 Jahre Deutscher Caritasverband, S. 232. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 223.

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beteiligten Kräften verinnerlicht war, steht auf einem anderen Blatt, wie auch aus der Darstellung Schwester Angelikas ersichtlich ist: „Wir sind uns darüber klar, daß der Freiheitsentzug, der die Bedingung der in unserem Haus gebotenen Chance ist, ein schweres Problem darstellt und unsere Bemühungen ebenso sehr gefährdet, wie er sie in manchen Fällen erst ermöglicht. Daß auch unter unseren Erziehern in einer Phase des Umbruchs und der Umwertung bisher gültiger, heute aber psychologisch und anthropologisch nicht mehr zu stützender Werte und Erziehungsziele (etwa hinsichtlich des Maßes an Freiheit, das der menschlichen Sexualität zuzugestehen ist), vielfach tiefe Unsicherheit herrscht, ist weder verwunderlich, noch muß es ein Übel sein. Vielmehr leiten wir daraus die Verpflichtung ab, neuen Erkenntnissen gegenüber so offen wie möglich zu sein und sie an dem einzigen Gebot zu messen, das unsere Arbeit bestimmt: die Liebe, die aufgetragen ist, nicht zu verurteilen, auch nicht, den Menschen zu überfordern, sondern ihm immer und unter allen Umständen, in die er geraten kann, zu helfen.“575 Eng mit dem Heim St. Gabriel verknüpft ist die Geschichte des Klosters vom Guten Hirten Schloss Zinneberg in Glonn. 1927 als Dependance des Münchener Kloster gegründet, um den Mädchen die Möglichkeit zum Erlernen eines landwirtschaftlichen Berufs zu geben und gleichzeitig ein Erholungshaus zu schaffen, gelangte das Haus 1958 in die rechtliche Unabhängigkeit.576 Im Gegensatz zu den anderen Klöstern vom Guten Hirten wurden in Schloss Zinneberg nicht nur schulentlassene, sondern auch schulpflichtige Mädchen betreut. So hielt das Haus 1953 180 Plätze für Mädchen im Alter von 6 bis 21 Jahren vor577, 1963 betrug das Aufnahmealter für die Mädchen 10 bis 17 Jahre mit dem Ziel der „Erziehung, Schul- und Berufsausbildung gefährdeter, sittlich geschädigter geistig normaler Mädchen“. Bei 170 Plätzen waren neben 134 Jugendlichen noch 27 schulpflichtige Kinder im Heim. In vier baulich getrennten Abteilungen befanden sich mit ca. 18 Minderjährigen belegte Gruppen. Zwei Gruppen für jeweils 15 Mädchen waren im Bau. Unter den hauptamtlichen Gruppen- und Arbeitserziehern 575 576

577

Ebd., S. 234. Wolfgang Schaffer, Die Schwestern vom Guten Hirten und die Anfänge der Jugendhilfe auf Schloss Zinneberg, in: Die Geschichte von Schloss Zinneberg, Homepage Schloss Zinneberg [http://www.schloss-zinneberg.de/seit-1927-schwestern-vomguten-hirten.html] Becker, Handbuch, S. 38.

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gab es neben 29 Schwestern nur zwei weltliche Kräfte.578 Seit 1968 war zudem eine Psychologin nebenamtlich tätig. Bis 1970 wurde die Platzzahl u.a. wegen der vorgenommenen Auflockerungen der Abteilungen, aber offenbar auch auf Grund weniger werdender Schwestern auf 120 reduziert, wobei sich der Anteil der volksschulpflichtigen Mädchen wieder erhöhte. 1975 waren bei 95 Plätzen 78 Mädchen im Haus – „wegen Mangel an Gruppenerzieherinnen [war] 1 Gruppe nicht belegt“ – und unter den 15 hauptamtlichen Erzieherkräften noch zehn Schwestern.579 Die Schriftwechsel der Hausleitung mit den zuständigen Schulbehörden seit Mitte der 1950er Jahre zeigen die große Bedeutung, die der Schulsektor in Schloss Zinneberg einnahm. Im Mittelpunkt stand hier meist das Bemühen, die staatliche Genehmigung zur Einstellung von Lehrkräften zu erhalten. Dabei spielte es offenbar eine Rolle, dass der Freistaat Bayern bis 1967 die Vergütung für die Lehrkräfte an klösterlichen Schulen an die entsprechenden Ordensgemeinschaften gezahlt hatte. Danach erfolgten die Zahlungen nur noch an den Schulträger.580 Zudem gab es etwa hinsichtlich der Berufsschulklassen staatliche Vorgaben, die voll ausgebildete Lehrkräfte vorschrieben.581 Für den Schulbetrieb in Schloss Zinneberg galt das Verhältnis der Klassengrößen zu den Lehrkräften als wichtiges Kriterium. Indem man gegenüber den staatlichen Stellen darauf aufmerksam machte, dass die spezifische Ausprägung der Schülerinnen einzubeziehen sei, sollte etwa 1957 nach Einrichtung einer neuen Abteilung für volksschulpflichtige Mädchen eine dritte Planstelle für eine Lehrkraft geschaffen werden. In der Begründung an die Regierungsbehörde hieß es daher, dass sich „die Schülerzahl erheblich vermehrt“ habe und „in ständigem Wachsen begriffen“ sei, was besonders den 7. und 8. Schülerjahrgang betreffe. Dabei handele es sich „bei unseren Zöglingen fast ausnahmslos um schwererziehbare Jugendliche, die wegen sittlicher Verwahrlosung und Gefährdung der Mitschülerinnen in das Heim eingewiesen wurden. Die meisten der Mädchen weisen große schulische Lücken auf – ca. 50  % 578

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Mitteilung Schloss Zinnebergs an das bayerische Innenministerium v. 28.7.1963, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, Zin 81. Meldungen Schloss Zinnebergs an das Kreisjugendamt Ebersberg v. 15.1.1965, 17.1.1967, 15.1.1970 u. 4.1.1975, in: ebd. Mitteilung der Regierung Oberbayern an die Ordensgemeinschaften v. 17.7.1967, in: ebd., Zin 8. Regierung Oberbayern an das Bezirksschulamt Ebersberg v. 27.3.1956, in: ebd., Zin 5.

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derselben sind Rependentinnen. Daher bietet die Schularbeit erhebliche Schwierigkeiten, viel Versäumtes ist nachzuholen, jede Schülerin muß individuell erfasst und gefördert werden, um das Lehrziel zu erreichen. Aus den dargelegten Gründen bittet die Heimleitung, bei unserer Heimschule den Maßstab der ‚Sonderschule’ anlegen zu wollen, deren Schülerzahl pro Klasse 20-25 Schülerinnen nicht überschreiten soll.“582 Die hier beschriebenen Lernverhältnisse kamen Mitte der 1960er Jahre zunächst in der Bezeichnung „Heimvolksschule für erziehungsschwierige Mädchen“ zum Ausdruck, wobei die Heimleitung dies gerne, aber erfolglos, durch „milieugeschädigt“ ersetzt gehabt hätte.583 Gleichzeitig fand der Terminus Sonderschule Eingang in die Diskussion, sodass sich bald darauf der Titel „Private Heimsonderschule für erziehungsschwierige Mädchen Zinneberg“ durchsetzte.584 Wenn also die Schwestern vom Guten Hirten Schloss Zinnebergs auf Grund der Alterskonstellation der dort untergebrachten Mädchen stärker den Schulbereich im Blick haben mussten, stand im Kloster vom Guten Hirten im oberpfälzischen Ettmannsdorf traditionsgemäß die Berufausbildung im Vordergrund. Bereits 1960, als das Haus bei 170 bis 180 Plätzen eine Unterbelegung von einem Viertel aufwies – von 44 Schwestern standen 28 im Erziehungsdienst, die immerhin von 16 weltlichen Kräften unterstützt wurden585 – versuchte man hier, neue Wege zu gehen. So wandte sich die Oberin Schwester Gabriele Graf an Luise Jörissen von der Landesstelle Bayern des KFV mit der Bitte, sie beim Vorhaben zur Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Friseurinnen zu unterstützen: „Erfahrungsgemäß stößt die Heimerziehung bei den Jugendlichen und deren Angehörigen oft deshalb auf so großen Widerstand, weil eine begonnene Berufsausbildung abgebrochen werden muß. Die Schaffung neuer Berufsmöglichkeiten für unsere gefährdeten und schwererziehbaren Mädchen ist uns daher ein besonderes Anliegen. Wir möchten nun daran gehen, Friseusen auszubilden. Zunächst soll es in kleinem Rahmen geschehen. Wir haben an Mädchen gedacht, die bereits vor ihrer Heimeinweisung in einer Friseurlehre standen. Diesen soll nun die Möglichkeit geboten werden, ihre Lehre zum Abschluß zu bringen. Von den Jugendämtern wurde dieser Plan sehr begrüßt. Wir 582

583 584 585

Schwestern vom Guten Hirten München an die Regierung Oberbayern v. 13.6.1957, in: ebd. Schloss Zinneberg an Regierung Oberbayern v. 30.12.1966, in: ebd., Zin 8. Vgl. z. B Änderungsbescheid v. 30.4.1970, ebd. Auflistung o. Adressat für das Jahr 1960, in: ebd., Ett 93.

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haben z. Zt. schon mehrere Mädchen hier, die dafür in Frage kämen und darauf warten, weiterlernen zu dürfen. Auf unser Ansuchen bei der Handwerkskammer Regensburg erhielten wir vor kurzem die Berechtigung, Friseurinnen auszubilden. Es kommt nun darauf an, möglichst bald eine Meisterin zu finden und die notwendige Einrichtung zu beschaffen. Den Raum haben wir bereits in einen Umbau, der derzeit fertiggestellt wird, eingeplant.“586 Nach der erfolgreichen Umsetzung dieses Planes, der bis Ende der 1950er Jahre in keinem bayerischen Heim verwirklicht worden war587, konnte im Sommer 1965 auch noch die staatlich Anerkennung eines Gärtner-Lehrbetriebs erlangt werden.588 Anfang der 1980er Jahre sahen sich die Schwestern vom Guten Hirten jedoch gezwungen, das Ettmannsdorfer Haus wegen des Nachwuchsmangels und fehlender Auslastung aufzugeben, in dem nun die KJF der Diözese Regensburg ein Internat für eine Berufsschule einrichtete – von den 14 bayerischen FEHeimen in kirchlicher Trägerschaft war keines voll belegt, sodass auch in St. Gabriel in München drei Häuser geschlossen werden sollten.589 Fazit Obwohl die hier skizzierten Schlaglichter nur beispielhaft auf eine Reihe von Entwicklungen innerhalb der Klöster vom Guten Hirten hinweisen konnten, dürften doch einige Schlüsse zu ziehen sein. Zunächst wird man in den 1950/60er Jahren von einer großen Bedeutung der Heime für die FE schulentlassener Mädchen in NRW und Bayern ausgehen können, zumal offenbar gerade als besonders erziehungsschwierig eingeschätzte Mädchen in die Häuser gelangten – daneben befanden sich noch Gruppen anderer Jugendlicher wie etwa die „Haustöchter“ auf anderer Basis in den Klöstern. Das eng auf die Grundsätze der Stifterin ausgerichtete, stark monastisch geprägte Erziehungskonzept, das für die „Zöglinge“ ein Leben in großer Abgeschlossenheit in einer Art Gegenwelt zu „draußen“ und wenig Austausch untereinander mit der strikten Forderung von Gehorsam, Ordnung und Demut bedeutete, sollte ohne rigide Strafen und herabwürdigende, verletzende Worte und Taten auskommen. 586 587 588 589

S. Gabriele an Luise Jörissen v. 22.1.1960, in: ebd. Stadtjugendamt München an Schwester Gabriele v. 30.9.1959, in: ebd. Eignungserklärung der Regierung Oberpfalz v. 25.8.1965, in: ebd. Vgl. Schriftwechsel 1980/81, in: ebd., Ett 86.

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Diese deutliche Absage reichte jedenfalls aus, dass die staatliche Heimaufsicht den westfälischen Häusern noch Ende der 1960er Jahre zugestand, auf die Führung von Strafbüchern zu verzichten. Dennoch gab es in den Heimen des Guten Hirten auch Schwestern die schlugen. Und auch eine Defizitorientierung hinsichtlich der Mädchen, die bis in die 1960er Jahre sowohl in der Gesellschaft als auch bei vielen Ordensschwestern üblich war, war anzutreffen. Zudem beinhalteten die herrschenden Verhältnisse gerade für diejenigen Mädchen erhebliches Konfliktpotential, die vor ihrem Aufenthalt im Guten Hirten ein freies Leben genossen und noch festere Bindungen nach „draußen“ hatten, von den Schwestern wegen ihrer vermeintlichen sexuellen Gefährdung jedoch stark abgeschottet wurden. Diese Gemengelage musste in allen Klöstern zu Spannungen führen. Dieser Erziehungsrahmen erwies sich dann durch die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er Jahren, die gerade die junge Generation erfassten, trotz mancher Bemühungen etwa bezüglich weniger auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten zugeschnittene Ausbildungsmöglichkeiten, zusehends weniger zeitgemäß, was auch in den Besuchsberichten der westfälischen Aufsichtsbehörde zum Ausdruck kam. Denn es war hier offenbar nicht möglich, die vom Konzil geforderte und auch von der Norddeutschen Provinz zeitnah aufgegriffene Öffnung zur Welt so umfassend in die Erziehungsarbeit einzubringen, wie es mittlerweile in der Heimerziehung als notwendig erachtet wurde. Beide Entwicklungen führten hier bis Mitte der 1980er Jahre zu einem etappenweisen, dann auch gewollten Rückzug aus diesem Tätigkeitsfeld. Für die bayerischen Klöster vom Guten Hirten scheint dies keine Option gewesen zu sein, zumal die Neuerrichtung des Münchener Heims St. Gabriel schon Mitte der 1960er Jahre mit einer moderner ausgerichteten pädagogischen Konzeption verbunden gewesen war. Dies zeigte sich auf dem Feld der Berufsausbildung etwa auch im Kloster in Ettmannsdorf, wo bereits 1960 die Friseurinnen-Lehre angeboten wurde. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass das Haus wegen fehlender Schwestern und einer unzureichenden Belegung Anfang der 1980er Jahre einem anderen Träger zur Nutzung als Internat übergeben werden musste. Gerade diese zum Teil unterschiedlichen Auswirkungen der Transformationsprozesse innerhalb der Ordensgemeinschaft auf die konkrete Erziehungsarbeit der Schwestern vom Guten Hirten, die hier nur angedeutet werden konnten, müssen weiter erforscht werden, wobei die eingangs erwähnte in Bearbeitung stehende Dissertation weitergehende Ergebnisse zu bringen verspricht.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

5.4.7 Der Birkenhof in Hannover (Niedersachsen) – Heimerzieherinnenschule und psychiatrische Professionalisierung Über die Einrichtung Birkenhof in Hannover existiert bereits eine Schrift zur „Aufarbeitung“ der 1950er/60er Jahre, die u.a. Archivmaterial und Zeitzeuginnenberichte benutzt hat.590 Nachfolgend sollen ergänzende Informationen gegeben und etwas andere Schwerpunkte gelegt werden, die die Funktion des Heims in dem Gesamtverbund evangelischer Heime in Niedersachsen verdeutlichen und auf Probleme der Heime insgesamt hinweisen. Zu denken ist dabei einmal an die interne Heimdifferenzierung, die Gewinnung neuer Mitarbeiter mit der Entstehung der Heimerzieherinnenschule und die Psychiatrisierung der Heimerziehung, die sich im Einsatz von Medikamenten abbildete, was im Heimskandal um den Birkenhof 1978 mündete. Heimdifferenzierung Ende November 1949 schrieb der Landesrat a. D. und ehemalige Fürsorgeerziehungsdezernent Ernst Koepchen an den Leiter des Birkenhofes, Pastor Friedrich Wasmuth, um ihn angesichts einer „offensichtlich systematischen Kampagne gegen die konfessionelle Heimerziehung“ durch die Illustriertenreportage „Mädchen hinter Gittern“ seiner Solidarität zu versichern.591 Er verwies auf den Wandel der Zwischenkriegszeit, als „aus der früheren Anstaltserziehung eine wahrhafte Heimerziehung“ geworden sei, in der „anstelle einer vorwiegend auf starrer Disziplin, Ordnung und Gehorsam aufgebauten Führung eine den pädagogischen Besonderheiten und Bedürfnissen des einzelnen Jugendlichen angepasste individuelle Erziehung“ gesetzt wurde. Symbolhaft sei dieser Wandel in der Umbenennung des früheren „Magdaleniums“ in „Birkenhof “ zum Ausdruck gekommen. Dadurch werde nicht mehr der „Begriff der büßenden Magdalene“, sondern die Vorstellung des „jungen Bäumchen[s], das in ungünstigem Erdreich aufgewachsen 590

591

Siehe Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof. Ich danke Herrn Scholz (Birkenhof), Frau Goerke (Birkenhof) und Frau Stockhecke (Hauptarchiv Bethel) für ihre Hilfe bei der Dokumentenbeschaffung und der Suche nach Zeitzeuginnen. Ernst Koepchen an Wasmuth v. 30.11.1949, in: HAB, Birkenhof 130. Koepchen war dem Birkenhof sehr zugetan, was sich u.a. auch darin zeigte, dass er zu Heimabenden in Häuser des Birkenhofs kam oder auch zur Konfirmation auf der Zither aufspielte (vgl. Jahresbericht Helenenstift, Bad Harzburg für die Zeit vom 1.4.1952-31.3.1953 (Schw. Elisabeth Pietschmann, 1.4.1953), in: ADW, EEV 325).

BIRKENHOF

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zur Beseitigung schlechter Triebe der sachkundigen Hand und Pflege des Gärtners bedarf “, in den Vordergrund gerückt. Konkret lobte er das Eingehen des Birkenhofes auf Bestrebungen zur Abschaffung der Schlafsäle und Einrichtung von Sechsbettzimmern bzw. Einzelzimmern, die Schaffung von behaglichen Tagesräumen durch Licht und Farbe, die „hausfrauliche Ausbildung“, die Fortbildung des Erziehungspersonals und die innere Differenzierung im Heim mit Hilfe des „Progressivsystems“, welche durch das Vorhandensein der drei „Vorwerke“ genannten Heime in Gleidingen, Hämelschenburg und Harzburg betont werde. Die „aufopferungs- und verantwortungsvolle Arbeit“ des Birkenhofes wurde im Dezember 1949 dann auch bei einer Besichtigung des Wohlfahrtsausschusses des Niedersächsischen Landtags betont, die als direkte Reaktion auf den oben genannten Illustriertenartikel begriffen werden kann.592 Die in diesem Schreiben umrissene Spannung zwischen alter Anstaltserziehung und Modernität prägte nicht nur das Wirken des Birkenhofs. An seinem Beispiel lässt sich gut die Einführung und Praktizierung des oben erwähnten „Progressivsystems“ verfolgen, das darauf abzielte, die Zöglinge selbst zu aufmerksamen Wächtern über ihresgleichen zu machen und damit sowohl die Erzieher zu entlasten als auch das Selbstbewusstsein und die persönliche Stärke Einzelner zu fördern.593 Es war im Rahmen der Heimkampagnen seit 1968 einer der Punkte, auf den die Kritik zielte, weil es unter den Minderjährigen entsolidarisierend wirkte. Innerhalb des Heimkosmos des Birkenhofs als größtem Heim für schulentlassene Mädchen in Niedersachsen herrschte dieses System seit 1948.594 Es sah vor, dass nach der Begutachtung durch den Psychiater ein neu aufgenommenes Mädchen in eine geeignete, „Familie“ genannte Gruppe eingewiesen wurde. Hier zählte es zu den „Neuen“ und gehörte der so genannten „Anfängergruppe“ an. Es sollte sich dort zunächst in kleinen Arbeiten „in einer geschlossenen Etage“ bewähren. Nach in der Regel einem Vierteljahr wurde es auf Empfehlung der „Familienmutter“ in die „Aufstiegsgruppe“ versetzt, wo die „eigentliche Arbeits- und Be592

593

594

Besichtigungsbericht des Wohlfahrtsausschusses des Niedersächsischen Landtags im Birkenhof am 6.12.1949, in: HAB, Birkenhof 31. Siehe den Hinweis auf ein „progressives Erziehungssystem“ auch in den Heimen Schweicheln bei Theobald/Mangold, Die Heime des Diakonieverbundes Schweicheln, S. 290. Vgl. 70. Jahresbericht 1948/49 über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern, S. 8-9.

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rufserziehung“ stattfinden sollte. Mit diesem Statuswechsel war auch ein erhöhtes Taschengeld bzw. eine Arbeitsprämie verbunden, deren Höhe nicht nur von der objektiven Leistung als vielmehr vom eigenen Vermögen abhängen sollte. Das erwirtschaftete Geld erhielten die Mädchen allerdings nicht in die Hand. Es konnte in einem „Lädchen“ auf dem Anstaltsgelände ausgegeben werden, wobei planvolles Wirtschaften gelernt werden sollte. Die „tüchtigsten Mädchen“ konnten aus der „Aufstiegsgruppe“ in die „Vertrauensgruppe“ kommen, doch pro „Familie“ galt dies maximal für fünf. Diese Mädchen durften in die Stadt zu Einkäufen und Besorgungen gehen. Die Betonung, dass die Mädchen in ihren Familien „auf keine Schwierigkeiten“ stoßen und sich dort „mitverantwortlich“ fühlten, war im Jahresbericht 1954 verräterisch hinsichtlich der entsolidarisierenden Wirkung dieser Art der Differenzierung nach individuellem und sozialem Wohlverhalten.595 In einem Besichtigungsbericht aus dem Jahr 1949 wurde von den Berichterstattern beschrieben, wie der Leiter einen Überblick über die gesamte Arbeit im Birkenhof und seiner drei Außenheime Gleidingen, Hämelschenburg (beide als halboffene Heime im Übergang zur Indienstgabe) und Helenenstift in Bad Harzburg (für schwach begabte Mädchen) gab. Demnach existierte keine Aufnahmeabteilung und die Mädchen wurden gleich „nach dem sittlichen Erscheinungsbild, daneben nach der intellektuellen Begabung und dem Alter“ einer Gruppe zugeteilt. Die vorhandenen zehn Familien umfassten je 20 bis 25 Mädchen, die von einer Erzieherin betreut wurden. Die Erzieherinnen erhielten keine Akteneinsicht und wurden von der Erziehungsleiterin Schwester Anna oder dem Psychiater über das Vorleben der Mädchen nur aufgeklärt, soweit es der Leitung wichtig erschien. Einmal in der Woche fanden regelmäßige Besprechungen des Personals statt. Im Jahr 1949 waren im Birkenhof 220 bis 250 Mädchen untergebracht, die durch 40 Erzieherinnen betreut wurden. Großen Wert legte die Heimleitung auf „eine gründliche Ausbildung in allen häuslichen Arbeiten“, die in der Wäscherei, Plätterei, Schneider- und Nähstube, Maschinenstrickerei, Weberei, Teppichweberei oder Gärtnerei ausgeführt wurden. Eine hauswirtschaftliche Berufsschule des Heims besuchten demnach alle Mädchen bis zum 18. Lebensjahr. Bei einer Eignung bot man auch eine „Anstellung“ in der Wäscherei bzw. Plätterei als „Anlernling“ an, wobei ein Ausbildungsvertrag bei der Industrieund Handelskammer geschlossen wurde und ein „Diplom“ mit einer 595

Fünfundsiebzig Jahre Birkenhof 1954, S. 72-73.

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Prüfung nach eineinhalb Jahren erreicht werden konnte. Eine mögliche Ausbildung und ein Erziehungsplan wurden nach einem Gespräch mit dem Leiter und der Oberin abgestimmt. Die Dauer der Heimerziehung war nicht festgelegt und umfasste nach Einschätzung der Einrichtung meist nicht mehr als eindreiviertel Jahre. Entwichene Mädchen kamen nicht mehr wie zuvor in eine „Rückkehrergruppe“, sondern in ihre alte „Familie“ zurück, erforderlichenfalls in Einzelzimmer bei einer Beschäftigung mit Arbeit. „Im übrigen wird bestraft durch Entziehung besonderer Vergünstigungen wie Ausgang, Teilnahme an Veranstaltungen im Heim usw.“ Die Mädchen schliefen überwiegend in Einzelzimmern mit Bett, Waschtisch, Hocker und verschließbarem Kleiderschrank. Pro Familie existierte ein Aufenthaltsraum bzw. Essraum, eine so genannte Nissenhütte diente als Turnhalle.596 In einer ebenfalls auf das Jahr 1949 zu datierenden „Übersicht“ wurden die als „Familien“ bezeichneten neun Gruppen im Birkenhof Haus I, die nach Alter, „sittlichem“ Verhalten und Erziehungsschwierigkeit eingeteilt waren, näher beschrieben:597 „Familien“-Nr

Alter Plätze Beschreibung

3

14-20

1.

14-16

22 „gesunde, sittlich einwandfreie, aber charakt. schwierige Mädchen“ 24 „Mädchen mit Bindung an 1-2 Männer“

2.

16-20

30 „Mädchen mit Bindung an 1-2 Männer“

8.

17-20

33 „triebhafte, sittlich tiefstehende, aktiv veranlagte Mädchen“

4.

14-16

20 „Erziehungsfälle“

9.

16-20

20 „Erziehungsfälle“

5.

14-20

6.

14-20

16 „sittlich tiefstehende, rückfällige, zur Erregungszuständen neigende, renitente, fluchtverdächtige Mädchen“ 14 „geschlechtskranke Mädchen (Gonorrhoebehandlung)“

7.

14-20

19 „geschlechtskranke Mädchen (Luesbehandlung)“

Die weitere Ausdifferenzierung der Heimfürsorge geschah mittels der Außenheime des Birkenhofs. Im Helenenstift in Bad Harzburg befand 596

597

Bericht über die Besichtigung des Erziehungsheims Mädchenheim Birkenhof am 6.7.1949, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 190/91 Nr. 7; vgl. auch eine ähnliche Beschreibung im Besichtigungsbericht des Wohlfahrtsausschusses des Niedersächsischen Landtags im Birkenhof am 6.12.1949, in: HAB, Birkenhof 31. Übersicht Birkenhof [ca. 1949], in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7.

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sich die Mehrzahl der Mädchen, die über eineinhalb Jahre in Heimerziehung waren. Sie galten als kaum zu fördern, als „Bewahrungsfälle“, als ein Problem, „solange ein Bewahrungsgesetz noch nicht vorliegt“. Da eine in der Nähe gelegene Fabrik ihren Betrieb eingestellt hatte, war der Arbeitseinsatz der Mädchen 1949 nicht mehr möglich. Leiter Wasmuth wollte mit dem Landesfürsorgeverband in Verhandlung treten, ob er noch kurze Zeit nach Beendigung der FE die Pflegekosten übernähme, bis die Mädchen „durch Gewöhnung an einfache Arbeiten soweit gefördert sind, daß sie in Altersheimen oder anderen Anstalten gegen geringen Lohn für bestimmte Arbeiten eingesetzt werden können“.598 Dem Landesjugendamt erschien allerdings der Aufenthalt der „bewahrten“ Mädchen besonders langdauernd zu sein, weswegen 1953 Amtsleiter Söhlmann auf eine Verkürzung drängte.599 Im Schloss Hämelschenburg waren 1951 zwischen 24 und 27 Mädchen untergebracht. Zwei bis drei arbeiteten in der Hausarbeit im Heim, sechs bis acht Mädchen mit einer Erzieherin auf dem Gut des Barons, drei im Altersheim, zwei im Schlossgarten, zwei im Haushalt des Barons, zwei in der Stuhlfabrik und einige Mädchen in Haushalten der Umgebung von Hämelschenburg. Die dort tätige Schwester Hanni betonte das gute Verhältnis zur Nachbarschaft. Oft konnte deren Nachfrage nach Mädchen nicht befriedigt werden. Das Heim Gleidingen beherbergte 44 Mädchen, welche auf eine Tätigkeit in der Landwirtschaft vorbereitet wurden. Neben den in der 4 Morgen großen eigenen Landwirtschaft beschäftigten Mädchen wurden weitere zu Bauern in Stellen gegeben. Sie erhielten Arbeitsprämien von 4 bis 10 DM im Monat.600 Als Abschluss der inneren Heimdifferenzierung existierte noch das Lydiahaus in Hannover als Wohnheim für rund 40 Mädchen, die in Lehrstellen in der Stadt beschäftigt waren. Von den 1955 hier befindlichen 39 Mädchen waren 9 Vollwaisen und 21 Halbwaisen. 27 stammten aus der DDR.601 598

599

600

601

Bericht über die Besichtigung des Erziehungsheims Mädchenheim Birkenhof am 6.7.1949, in: ebd. Bericht über den Besuch des Helenenstiftes in Bad Harzburg am 22.7.1952 (Söhlmann, 27.7.1952), in: ebd. Bericht über die Besichtigung des Mädchenheims Birkenhof am 23.5.1951 und die beiden Außenheime Hämelschenburg und Gleidingen am 24.5.1951, in: ebd. Das Heim Hämelschenburg zog 1952 in die Bleekstraße 18 B und 1955 in die Jöhrensstraße 16 (beides Hannover) um (vgl. Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 1954-1957, S. 13). Ebd., S. 15.

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Insgesamt umfassten die Arbeitsgebiete des Birkenhofs 1949 neben den Erziehungsheimen Birkenhof in Hannover mit 235 Plätzen, in Hämelschenburg im Kreis Hameln mit 32, in Gleidingen im Kreis Hildesheim mit 50, dem Helenenstift in Bad Harzburg mit 50 Plätzen und dem Lydiahaus in Hannover mit 40 Plätzen noch Altersheime mit 262 Betten und das Evangelische Hospital Neuenkirchen in Bremen-Vegesack mit einem kleinen angegliederten Kinderheim für Flüchtlingskinder mit rund 800 Betten, insgesamt 1.469 Plätze. Dazu trat noch eine nachgehende Fürsorge für in Dienst- oder Pflegestellen entlassene Minderjährige.602 Diese umfasste 1949 ca. 200 bis 300 Mädchen.603 Insgesamt sind für den Beginn der 1950er Jahre zum Birkenhof mehrere Listen überliefert, die Mädchen aufführen, die länger als eineinhalb Jahre in Heimerziehung untergebracht waren.604 Auch in Einzelbesprechungen im Rahmen von Revisionsbesuchen Anfang der 1950er Jahre war das Interesse des Landesjugendamtes sichtbar, die Heimaufenthaltszeiten aus Kostengründen zu reduzieren. Umgekehrt klagte das Heim 1953, dass es zu niedrige Pflegesätze vom Landesjugendamt zugebilligt erhalte, was insbesondere im Vergleich zu anderen Landesjugendämtern, die ihre Minderjährigen in niedersächsische Anstalten sandten, auffiel. Der Birkenhof war in jenem Jahr nur rund zur Hälfte von Mädchen belegt, deren Aufenthalt über das Landesjugendamt Hannover finanziert wurde.605 Auch wenn dieses Argument mit dem Ansinnen der Erhöhung der Pflegesätze verbunden war, könnte man in dem Umstand eine Entwertung der pädagogischen Leistungen in niedersächsischen Heimen erblicken, die zur Folge hatte, dass die unter ihrem Wert bezahlten niedersächsischen Heimplätze die Preise drückten und zu einer Entwertung der Heimerziehung insgesamt beitrugen. Bis 1953 waren die Kriegsschäden durch Renovierungen fast durchweg behoben und das Heim Birkenhof voll belegt. Die mittlerweile elf „Familien“ wurden von einer älteren und einer jüngeren Mitarbei602

603

604

605

Arbeitsgebiete des „Birkenhof, Evang. Fürsorge- und Krankenanstalten e.V.“, Hannover-Kirchrode [o. D.] ca. 1949, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 190/91 Nr. 7. Besichtigungsbericht des Wohlfahrtsausschusses des Niedersächsischen Landtags im Birkenhof am 6.12.1949, in: HAB, Birkenhof 31. Handschriftliche Liste der Mädchen, die länger als 1,5 Jahre in Heimerziehung untergebracht sind, zum Revisionsbesuch im Birkenhof u. Außenheimen am 23./24.5.1951, in: HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7. Hier waren 27 Mädchen verzeichnet. Bericht über die Besichtigung des Mädchenheims Birkenhof am 4.3.1953, in: ebd.

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terin geführt. „Das Haus steht im Zeichen einer langgepflegten Tradition, das ein Fluidum der Geborgenheit und Besinnlichkeit, trotz der großen Vielseitigkeit ausströmt. Es herrscht eine straffe, gut funktionierende Organisation, größte Wirtschaftlichkeit und eine bis ins kleinste ausgewogene Rationalisierung, die beispielsweise zufällig durch eine Knopfsortiererei zweier Mädchen beobachtet werden konnte, die von alten Kleidern Knöpfe abschnitten, sortierten und schachtelten. Das pädagogisch Wertvolle daran ist, daß bei den Mädchen der Sparsamkeitssinn geweckt wird.“606 Die Heimerzieherinnenschule und der Personalmangel Ein wesentliches Problem der Heimerziehung in der Nachkriegszeit war der Personalmangel. Die Mitarbeiterschaft des Birkenhofes bestand traditionell für eine Mädchenerziehungsanstalt aus Frauen. Männer waren nur im Wirtschaftsdienst des Hauses als Hausmeister, Wäschefahrer, Nachtwächter, Heizer etc. und in der Leitung beschäftigt. Seit 1929 war Pastor Friedrich Wasmuth der Vorsteher der Einrichtung und wurde 1954 von Pastor Eduard Hesse abgelöst.607 Insbesondere das Schwinden des klassischen Personals, hier der Diakonissen aus dem Henriettenstift, das bereits in den 1950er Jahren nur noch verschiedene leitende Positionen im Birkenhof und seinen Außenstellen einnahm, ließ Ausschau nach Alternativen halten.608 Allerdings erwiesen 606 607

608

Ebd. Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 1954-1957, S. 2-3. Der 1908 in Südrussland geborene Hesse verbrachte seine Gymnasialzeit in Halle und Lübeck und studierte in Königsberg, Erlangen, Tübingen und Göttingen evangelische Theologie. Seit seiner Hilfsgeistlichenzeit 1938 war er in der Neustädter Kirche und der Marktkirche in Hannover tätig. Sie 1940 bekleidete er ein Pfarramt in Hannover-Stöcken und Marienwerder-Garbsen. Im Krieg wurde er zum Militär eingezogen und geriet in eine vierjährige russische Kriegsgefangenschaft. Seit dem Beginn des Jahres 1952 war er der zweite Pastor des Birkenhofs, dem die seelsorgerliche Betreuung der Außenheime oblag. So trat 1952 die leitende Schwester Anna Meyberg nach 27-jähriger Tätigkeit in den Ruhestand (Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 1954-1957, S. 7) und wurde von Caroline v. Consbruch ersetzt, die erst 1960 durch Berta Volkert als Erziehungsleiterin abgelöst wurde (Vgl. Birkenhof an LJA v. Juli 1960, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 100/79 Nr. 35). Siehe auch die Abfolge der „Oberinnen“, in: Der Birkenhof. Evangelische Jugendheime, Altenheime und Schulen 1879-2004, S. 26. Bertha Volkert hatte 1949 das Wohlfahrtspflegerinnen-Examen in Neuendettelsau abgelegt, arbeitete sieben Jahre in der praktischen Erziehungsarbeit an schwererziebaren weiblichen Jugendlichen und anschließend drei Jahre in

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sich nach Meinung der Anstaltsleitung mehrere neueingestellte Erzieherinnen als „unbrauchbar“, da ihnen „jede Einsicht in das Wesen und die Notwendigkeit einer christlichen Erziehung, die sie auch innerlich nicht bejahten“, fehlte. Im Mai 1947 wurde deswegen im Birkenhof ein Seminar für Heimerzieherinnen eröffnet, welches eine „bewußt christliche Erzieherinnenschaft“ ausbilden und für viele Arbeitsbereiche nachfolgend Personal bereitstellen sollte.609 Nach den auf das Jahr 1950 zu datierenden „Aufnahmebedingungen“ für die „auf christlicher Grundlage“ auszubildenden Heimerzieherinnen hatten diese eine zweijährige Ausbildung zu absolvieren, die in den ersten beiden Halbjahren Praxis und Theorie verband. Das bedeutete praktisch, dass die Auszubildenden in den Erziehungsgruppen im Heim eingesetzt wurden.610 Erst zum Abschluss war ein halbes Jahr theoretische Ausbildung vorgesehen, an deren Ende eine Prüfung stand, welche die Berechtigung „als Heimerzieherin angestellt zu werden“ aussprach. Eine staatliche Anerkennung erhielt die Schule 1951611, staatlich anerkannte Prüfungen wurden seit 1960 abgenommen612 und seit 1970 firmierte sie als „Fachschule für Sozialpädagogik“. Die Aufnahme „junger Mädchen“ oder „kinderlose[r] Witwen im Alter von 20-30 Jahren“, die bereits eine mittlere Reife besitzen und schon selbstständig im „Lebenskampf “ gestanden haben, war angestrebt. Dies umfasste vor allem hauswirtschaftliche Kenntnisse. Die Kandidatinnen hatten sich in die internatsartige Unterbringung in der Schule zu fügen und sollten „am kirchlichen Leben des Hauses teilnehmen.“613 Die Heimerzieherinnenausbildung wollte die Absolventinnen gezielt an das Feld der Heim-

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einer Erziehungsberatungsstelle und Kindertagesstätte der Inneren Mission in München (Niederschrift über die ordentliche Mitgliederversammlung des Birkenhof am 2.9.1960, in: HAB, Birkenhof 9). Vgl. Sicher durch die Wellen. Bericht über die Arbeit im Birkenhof und seinen Außenhäusern 1946/47, S. 2; Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 19541957, S. 18-19. Bis 1951 waren 14 von insgesamt 57 Erzieherinnen Kandidatinnen der Heimerziehungsschule. Von ihrer Ausbildung her waren von den restlichen 42 Erzieherinnen 2 Kindergärtnerinnen, 8 Volkspflegerinnen und 2 Jugendleiterinnen, die anderen ohne eine pädagogische Ausbildung. Vgl. Bericht über die Besichtigung des Mädchenheims Birkenhof am 23.5.1951 und die beiden Außenheime Hämelschenburg, Kreis Hameln und Gleidingen am 24.5.1951, in: StA Hannover, Nds. 120 Hannover., Acc. 190/91 Nr. 7. Kultusministerium an Birkenhof v. 26.1.1951, in: HAB, Birkenhof 35. Siehe Bericht über 15 Jahre Heimerzieherinnenschule (1962), in: HAB, Birkenhof 51. Birkenhof: Aufnahmebedingungen für das Seminar für Heimerzieherinnen o. D. [ca. 1950], in: HAB, Birkenhof 35.

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erziehung binden. Angesichts bereits existierender Ausbildungen zur Wohlfahrtspflegerin, die es ermöglichten, auch im öffentlichen Dienst angestellt zu werden, war auch das Bedürfnis der Heimerzieherinnen sehr groß, „so schnell wie möglich leitende Stellen an Heimen für Normalkinder und Normaljugendliche zu erhalten“.614 Leiterin der Ausbildung wurde die 1908 geborene Vikarin Dr. phil. Elisabeth Treute, die zugleich auch das Kandidatinnenseminar der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, das im Herbst 1951 im Birkenhof aufgenommen wurde, leitete. Sie unterrichtete Bibelkunde, Katechetik, Erziehungslehre und Psychologie in der Ausbildung. Treute setzte sich 1951 innerhalb des Birkenhofes dafür ein, dass eine Vertreterin der Angestellten in den Verwaltungsrat der Stiftung aufgenommen werde. Sie wollte sogar selbst von ihrem Sitz zurücktreten. Andernfalls drohte sie mit der Bildung eines Betriebsrates, denn „unter der Erzieherschaft herrsche Unruhe, sie würden ausgenutzt, die Familienmütter hätten 14 Stunden Dienst, der Einfluß der Diakonissen sei zu groß u.a.“615 In diesen Bemerkungen spiegelte sich die inneranstaltliche Verschiebung der Gewichte – bis 1963 wurden nur noch zwei Diakonissen im Birkenhof gezählt616 – und deutete langfristig auch auf die Mentalitätsveränderungen hin, die im folgenden Jahrzehnt geschahen. Als Elisabeth Treute nach zehn Jahren einen ersten Rückblick auf die Entwicklung der Heimerzieherinnenschule hielt, betonte sie, dass „auf ausgebildete Fachkräfte an verantwortlichen Stellen überhaupt nicht mehr verzichtet werden“ könne. Sie unterstrich, dass man außer „Liebe und eine natürliche Begabung“ auch das „Rüstzeug“ brauche, damit die Arbeit gelingen könne. Sie schätzte, dass 10 % bis 12 % der Absolventinnen als Heimleiterinnen arbeiteten.617 Bis 1955 hatten insgesamt 137 junge Frauen mit Examen die Schule verlassen, davon hatte sich ein kleinerer Teil verheiratet und stand noch in der Erziehungsarbeit, nur 10 % waren in andere Berufe gegangen.618 In einer Bilanz der Ausbildung im Jahre 1965 stellte Treute fest, dass von 265 Absolven614

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Rede von Pf. Wasmuth zur Einweihung des Neubaus des Heimerzieherinnen- und Kandidatinnenseminars am 29.10.1951, in: ADW, EEV 325. Anlage zum Protokoll der Mitgliederversammlung v. 24.4.1951, in: HAB, Birkenhof 44. Siehe Birkenhof an LJA v. 5.4.1963, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 29. Bericht über die Arbeit des Birkenhofes für die Jahre 1954-1957, S. 18-19. Niederschrift der Mitgliederversammlung am 25.11.1955, in: HAB, Birkenhof 44 [auch in: HAB, Birkenhof 32].

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tinnen seit 1947 rund die Hälfte noch im Beruf arbeitete, 87 hatten geheiratet und 50 einen Berufswechsel vollzogen, 66 arbeiteten in Erziehungsheimen und nur zwei in der öffentlichen Jugendhilfe.619 In der Folge galt es, den schulischen Standard zu erhöhen, um die Anforderungen für die seit 1959 gewährte staatliche Prüfung einzulösen. So arbeitete das Dozentenkollegium an neuen Lehr- und Stoffplänen. Zudem wurden die Eingangsanforderungen erhöht, wonach neben der mittleren Reife eine zweijährige Berufsausbildung oder dreijährige erfolgreiche Tätigkeit in einem Beruf nachgewiesen werden mussten. Hierzu richtete man ein Vorseminar ein, das ähnlich wie in Wohlfahrtsschulen und Seminaren für Kindergärtnerinnen auf die Prüfung vorbereiten sollte.620 Dennoch blieb der Nachwuchsmangel auch in den 1960er Jahren ein großes Problem. Treute meinte, die Angst junger Menschen vor einem „schweren Lebensberuf “ zu spüren. Sie hatte allerdings auch „merkwürdige“ Vorstellungen junger Menschen über den Beruf der Heimerzieherin ausgemacht: „Man stellt sich darunter einen Menschen vor, der nichts anderes zu tun hat, als aufzupassen, daß nichts passiert, und der ständig in schwierigen Situationen sich durchsetzen muß. Man meint, in einem solchen Beruf könne es keine Freude geben.“ Sie setzte dagegen auf den Wandel des Arbeitsbereiches hin zu leichteren Arbeitsbedingungen, einer guten Bezahlung bei einem billigen Leben im Heim.621 Allerdings gelang es den Absolventinnen der Heimerzieherinnenschule erst mit der im Juli 1964 erlassenen staatlichen Ausbildungsund Prüfungsordnung und den dann fixierten Übergangsregelungen, dass auch die seit 1959 Ausgebildeten nach einjähriger Tätigkeit in der Erziehungsarbeit die staatliche Anerkennung erhalten und auch im öffentlichen Dienst in die gehobenen Gehaltsgruppen kommen konnten.622 Im Jahr 1965 bezog die in „Staatlich anerkannte Fachschule für Erzieher“ umbenannte Einrichtung ein neuerrichtetes Gebäude. Als ein Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums 1970 neue Aufnahme- und Ausbildungsbedingungen, die u.a. eine Verkürzung des Praktikums auf zwölf Monate vorsahen, festschrieb, erfolgte die Öffnung der Ausbildung in der nunmehr „Fachschule für Sozialpädago619

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Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 26.11.1965, in: HAB, Birkenhof 9. Siehe Bericht über 15 Jahre Heimerzieherinnenschule (1962), in: HAB, Birkenhof 51. Bericht v. 15.6.1963, in: HAB, Birkenhof 51. Bericht v. 1965, in: ebd.

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gik“ genannten Schule zu allen sozialpädagogischen Berufsfeldern für die „Heimerzieherinnen“.623 Diese Professionalisierung der Ausbildung mit den damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten in andere Arbeitsfelder war zwar im Sinne der Attraktivitätssteigerung der Ausbildung durchaus erwünscht, doch bedeutete dies zugleich auch eine mögliche Abwanderung der Arbeitskräfte, wenn die Arbeitsbedingungen hinsichtlich Gehalt und Freizeit in den Heimen nicht attraktiv genug gestaltet wurden. Genau hier lag ein Mangel des Berufsfeldes, das sich ähnlich wie die Verhältnisse in den Heimen als ‚enggeführt‘ wahrnahm. Dieser Eindruck verstärkte sich im Verlauf der 1960er Jahre, als der Generationen- und Mentalitätswandel auch die bisherigen kirchlichen Milieus veränderte. So musste z. B. 1968 eine Mädchengruppe geschlossen werden, „da die Gruppenerzieherin noch eine anderweitige Ausbildung durchmachen will und uns deshalb verlassen hat“624 Die Familienerzieherinnen lebten mit in den einzelnen Gruppen, was bedeutete, dass sie ihr gesamtes Leben mit den Mädchen im Birkenhof teilten und es zwischen Arbeitszeit und Freizeit keinen ganz trennscharfen Unterschied gab. Alle 14 Tage hatten sie einen Tag frei und einmal im Jahr konnten sie zwei Wochen Urlaub nehmen. Für diese Zeiten mussten Vertretungen in den Gruppen eingesetzt werden. Auch ihre Freizeit verbrachten sie zum Teil in der Einrichtung.625 Neben dem pädagogisch ausgebildeten Personal arbeiteten im Birkenhof in Ausbildung befindliche Praktikantinnen und Arbeitserzieherinnen. Eine Aufstellung des Personals aus dem Jahr 1963 vermerkte neben der Leitung – Pastor Eduard Hesse (Jg. 1908), Hausmutter Berta Volkert (Jg. 1924), Zweiter Pastor Robert Walter, Heimärztin Dr. Ingeborg Westphal (Jg. 1916) und die Leiterin der Berufsschule Elsa Gerlach – die 16 Gruppenerzieherinnen, welche sich von den Jahrgängen von 1896 bis 1942 erstreckten. Neun von ihnen waren vor 1916 geboren, also relativ alt. Der Rest gehörte den Jahrgängen ab 1932 an, was einen gewissen Generationenbruch markierte. Zusätzlich gab es noch 27 Erzieherinnen am Arbeitsplatz und zehn Praktikantin-

623 624 625

Siehe Zeitleiste (1970), in: ebd. Birkenhof an Wolff v. 12.1.1968, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 28. Vgl. Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof, S. 14-16.

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nen.626 Die Fluktuation war relativ hoch.627 Auf der Mitgliederversammlung 1965 wurde nicht nur offen über den Mitarbeitermangel geklagt, sondern vor allem das Fehlen der mittleren Jahrgänge angemerkt. Der Einsatz von 37 Praktikantinnen im letzten Jahr hatte viel Mühe gemacht. Zwei vermeintliche Problemgruppen wurden unter den Praktikantinnen ausgemacht. Diejenigen, die sich entmutigen ließen und diejenigen, die „kritisch gegen das Heim, die Heimerziehung und die Erzieherinnen“ eingestellt seien. Da die von diesen geschriebenen Praktikumberichte nicht dem Heim vorgelegt wurden, meinte man darauf drängen zu müssen, dass dies geschehe, damit man dazu Stellung nehmen könne.628 Deutlich wird darin, dass die empfundene Kontrolle des eigenen pädagogischen Wirkens in den Heimen bis Mitte der 1960er Jahre entgegen den eigenen Intentionen zugenommen hatte. Bis 1980 schob sich im Birkenhof mit der Gründung der Berufsfachschule für Kinderpflege 1977, der Fachschule für Heilpädagogik 1979 und der Fachschule für Altenpflege 1980 die Umstellung auf eine Ausbildungsfunktion immer mehr in den Vordergrund, was an nachfolgender Aufstellung verfolgt werden kann.629 Jahr

Anzahl der Mädchen

Anzahl der Schülerinnen

1950

350

23

1960

338

29

1970

274

55

1974

257

132

1978

190

226

1979

76

249

1980

80

277

Mädchenerziehung – Heimalltag Nachfolgend soll der Alltag in der Einrichtung beleuchtet werden, wobei sowohl Berichte aus der Perspektive der Heimleitung, der Heimauf626 627

628 629

Birkenhof an LJA v. 5.4.1963, in: Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 29. Laut der Erziehungsleiterin Volkert wechselten 1962/63 allein 15 Mitarbeiterinnen (Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 26.11.1963, in: HAB, Birkenhof 9). Ebd. Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 16.12.1980, in: ebd.

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sicht, der Gruppenerzieherinnen, von Praktikantinnen und von ehemaligen Heimkindern als Grundlage dienen sollen. Die Regeln im Birkenhof, soweit sie sich aus einer überlieferten Hausordnung rekonstruieren lassen, die wahrscheinlich auf die NS-Zeit zu datieren ist und auf eine Ordnung aus dem Jahr 1929 zurückgeht630, waren streng. Da den aufgenommenen Mädchen überwiegend eine sexuelle Verwahrlosung zugeschrieben wurde, meinte man diesen vor allem Moral, Anstand und Sitten lehren zu müssen. Eine enge Tageseinteilung sollte äußere Ordnung vermitteln. Insbesondere der Kontakt zu dem Herkunftsmilieu – und dies schloss auch die sorgeberechtigten Eltern, Großeltern, Pflegeeltern etc. ein – galt es auf ein Mindestmaß zu beschränken. Im ersten halben Jahr war es nicht möglich, einen Urlaub nach Hause zu erhalten, damit man sich an das Heim und dessen Ordnung gewöhne. Es waren nur zwei Briefe im Monat an die Sorgeberechtigten erlaubt. Der Aufenthalt in dem Zimmer eines anderen Mädchens war verboten. Die Aufenthaltsräume durften nur nach Erlaubnis der Erzieherin verlassen werden. „Ein Mädchen, das entweicht, wird nach seiner Rückführung zunächst allein gelegt und dem Arzt vorgestellt.“ Die Vorstellung beim Arzt geschah offenbar in einer entwürdigenden Form und umfasste vor allem eine erzwungene gynäkologische Untersuchung. Was dies bedeutete, beschrieb die Interviewpartnerin Hannelore Abraham (Jg. 1945), die 1960 in den Birkenhof kam: „Im Birkenhof angekommen, da waren wir erst in so einem Verwaltungsgebäude drin, da wurden Personalien aufgenommen, und dann kam eine ältere Frau und holte mich dann in diesem Verwaltungsgebäude ab und brachte mich in ein großes Haus. Ein riesengroßes Treppenhaus, so jedenfalls habe ich es in Erinnerung, inzwischen ist das Treppenhaus anders, weil ich es ja inzwischen wiedergesehen habe. Und da bin ich in die siebte Familie gekommen. (Pause) ‚Familie‘, welch ein Hohn. (Pause) Als ich da angekommen war, da oben dann in dieser ‚Familie‘, da musste ich mich erst ausziehen, ganz ausziehen und duschen. Das war für mich schon mal schlimm, mich vor einer fremden Person ganz nackt auszuziehen und mich waschen zu müssen. Und dann wurden mir meine Kleider weggenommen, d. h. das Kleid, was ich anhatte, wur630

Vgl. Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof, S. 10-12. In der Ordnung ist im Punkt II.1. „Allgemeiner Unterricht“ auf die „Gedanken der Bewegung und ihrer Gliederungen“ Bezug genommen (Vgl. HAB, Birkenhof 40). Auch in den 1972 dem LJA übergebenen Bestimmungen war wenig hierzu verändert (Vgl. Birkenhof: Allgemeine Bestimmungen der Hausordnung (1972), in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 28).

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de mir weggenommen und ich kriegte ein Anstaltskleid, blau-weiß kariert. Kleinkariert, so ganz kleinkariert, dunkelblau mit weiß. Und dann wurde ich in ein Zimmer geführt. Da war ein Bett drin, ein Schrank, ein leerer Schrank und ein Stuhl. Und in diesem Zimmer musste ich sechs Tage bleiben, alleine, ohne dass mir gesagt wurde, warum. Ich sollte mich besinnen. Am zweiten Tag wurde ich aber aus diesem Zimmer rausgeholt, wurde durch einen Flur geführt, das Treppenhaus runter in einen anderen Raum gebracht. Und dieser Raum ist für mich ein Horror. Darin stand ein gynäkologischer Stuhl, was ich damals noch nicht kannte. Ich musste mich unterwärts entkleiden, ganz entkleiden. Ich musste mich auf diesen Stuhl setzen und die Beine hoch machen. Und dagegen habe ich mich gewehrt. Ich habe gesagt, das mache ich nicht. Ich habe geschrien wie am Spieß. Dann hat man meine Beine, meine Unterschenkel, auf diese beiden Schalen, die ja so ein Gyno-Stuhl hat, festgeschnallt. Mein Oberkörper wurde festgeschnallt und die Erzieherin, die mich runtergebracht hat, die hat sich über meinen Unterkörper gelegt, weil, ich habe mich gewehrt. Und dann ist da ein Mann gewesen, er hat kein Wort gesprochen. Alt, schüttere, graue Haare, und er stank nach Schnaps. (Pause) Und dieser Mann hat mich mit seinen Geräten entjungfert. Ich nehme an auf Grund meiner starken Abwehr, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat man ziemlich wüst, sage ich mal, in mir rumgewühlt. Als das vorbei war, es hat kein Mensch mit mir gesprochen, da durfte ich mich wieder anziehen. Ich kriegte einen Wattebausch in die Hand gedrückt, ‚den kannst du dir unten vorlegen‘, und dann wurde ich wieder nach oben gebracht in die siebte Familie und wurde wieder in dem Zimmer eingesperrt. Da blieb ich sechs Tage, bis die Blutungen vorbei waren. (Pause) Das Essen und Trinken hat man nur rein gereicht. Man hatte keinen Kontakt mit den anderen. Jedenfalls ich hatte keinen Kontakt mit den anderen. Nach diesen sechs Tagen, als ich dann raus durfte, da wurde ich dann mit in den Gemeinschaftsraum genommen, wurde hinten ans äußerste Ende hingesetzt bzw. hingestellt, ‚so da ist dein Platz‘, ‚so, und das ist die Neue‘.“631 Die Interviewpartnerin berichtete nicht nur aus dem Birkenhof Anfang der 1960er Jahre über Postkontrolle, Leibesvisitationen, Einbehalten mitgesandter Süßigkeiten oder von Unterwäsche (als „Nut631

Interview Hannelore Abraham (25.1.2010), Trankript, S. 2-3. Ähnlich berichtet auch Corinna Fast über ihre „Entjungferung“ durch eine ältere Ärztin bei ihrer Aufnahme im Birkenhof 1977 (Vgl. Interview Corinna Fast [Aliasname] (15.12.2010), Transkript, S. 10). Sie habe daraufhin ein Trauma gegenüber Frauenärzten entwickelt und war während ihrer beiden späteren Schwangerschaften nicht beim Arzt.

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tenwäsche“ bezeichnet) durch die Erzieherinnen. Der Tenor des Ausgeliefertseins an deren Launen durchzieht ihre Beschreibung. Sie erwähnt auch die empfundene Degradierung, die darin lag, dass die Erzieherinnen besseres Essen erhielten als die Mädchen oder diese zu Strafarbeiten wegen Widerworten einteilten („auf Knien den Flur polieren“ oder auf der Toilette „mit einer Zahnbürste die Fliesenrillen saubermachen“).632 Entweichung und Sexualität standen für die Verantwortlichen im Birkenhof in einem engen Zusammenhang. Hiergegen galt es im Selbstverständnis vorzugehen. Gerade für die Sexualerziehung ist gähnende Leere in den Heimen zu konstatieren gewesen. In einem Vortrag zu diesem Thema beschrieb Elisabeth Treute 1951 das „Problem der Sexualität und seine Überwindung in unseren Mädchenheimen“. Sie konstatierte, dass die Mädchen, die oft wegen Verstößen gegen die gesellschaftlichen Sittlichkeitsvorstellungen ins Heim gekommen waren, das Problem der Sexualität ins Heim mitbrächten. Da dem „Geschlechtstrieb“ im Heim seine Betätigung entzogen sei, gelte: „Dumpf wartend lebt das Mädchen nun wieder und sehnt sich nach dem Augenblick, wo dies ein Ende hat.“ In der Heimsituation mit der Massenansammlung seien dann insbesondere die „Haltlosen und Triebhaften“ besonders gefährdet und ließen sich „mit einer Gefährtin“ ein. „Homo-Sexualismus ist fast immer Ausdruck eines geschwächten Willens, des Mutlosen.“ Dagegen empfahl sie die „Schaffung einer reinen, sauberen Atmosphäre in einer Gruppe“. Zudem helfe Sport im Heim, der weniger als Wettspiel, sondern vielmehr als Rhythmus wichtig sei. „Den ganzen Heimaufenthalt muß er durchklingen.“ Auch die Arbeit in Feld und Garten, die aber auch eine geistige Seite haben sollte, sei zur Ablenkung geeignet. Sie regte an, über die „Zeitschriften“ und die dort gezeichneten Bilder von Liebe zu reden, diese nicht einfach nur zu verbieten. Auch in der Freizeitgestaltung sollte die „Pflege der Mütterlichkeit“ erfolgen. „Was soll das Mädchen später mit seiner Freizeit anfangen? Wenn die Erzieherin immer nur sagt ‚jetzt spielen wir Ball“ u.ä. – später sagt dann jemand ‚jetzt gehen wir auf den Ball“ oder ‚jetzt verkaufen wir uns‘!“633 Damit betonte sie ein zwar sittlich enggeführtes, aber aktives Verhalten gegenüber der Sexualität, das allein schon wegen seiner expliziten Erwähnung einen Startpunkt für ein pädagogisches Einwirken hätte geben 632 633

Interview Hannelore Abraham (25.1.2010), Trankript S. 4-6. Vikarin Treute, Das Problem der Sexualität und seine Überwindung in unseren Mädchenheimen, in: Evangelische Jugendhilfe Nr. 16 (Oktober 1951), S. 1-4.

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können. Allerdings standen der Entwicklung einer Sexualpädagogik große in der Institution des Heims und der engen christlichen Moral liegende Widerstände entgegen. Die harten Aufnahmerituale im Birkenhof mit der im Hintergrund stehenden Beschränkung der Freiheit der Minderjährigen wurden 1960 in einem öffentlichkeitswirksamen Skandal thematisiert.634 Es handelte sich um die 18 Jahre junge Friedburg Walter, die 1960 ihrem Verlobten nach Hildesheim nachreiste. Beide kamen aus der DDR. Da Friedburg Walter nach dem DDR-Recht mit 18 Jahren volljährig war, ließ sie sich im Aufnahmeheim für volljährig erklären, was auch in Westdeutschland normalerweise anerkannt wurde.635 Allerdings war ihr Weglaufen aus dem heimatlichen Elternhaus und die geplante Heirat dem Vater ein Dorn im Auge. Er stellte den Antrag an das Jugendamt in Hildesheim, die geplante Hochzeit zu verhindern, da seine Tochter nicht volljährig sei. Das Jugendamt bestellte auf Grund des Alters der vermeintlich Minderjährigen einen vorläufigen Pfleger und beantragte über das Amtsgericht die Unterbringung im Birkenhof. Friedburg Walter wurde an ihrer Arbeitsstelle von Mitarbeitern des Jugendamtes unter Vorwänden in ein Auto gelockt und ihr erst im Fahrzeug eröffnet, dass sie in ein Heim käme. Die Familie des Verlobten schaltete u.a. einen Rechtsanwalt ein, dem allerdings der Zugang zu seiner Mandantin nicht sofort gewährt wurde. So saß die vermeintlich Minderjährige vom 25. bis zum 31. August 1960 im Birkenhof fest, durfte auch keinen Brief schreiben oder gar einen Kontakt nach draußen aufnehmen.636 In der Zwischenzeit setzte ein großer Presseansturm auf die als „Zonenbraut“ titulierte junge Frau ein, der die rigiden Heimregeln grundsätzliche Rechte vorenthielten. Zudem wurden das Vertriebenenministerium und das Kultusministerium mit dem Fall befasst. Die Presse ließ sich nach der Entlassung von dem Mädchen umfänglich aus der „Sittenhaft“ in der „Zwangsanstalt“ bzw. dem „Sünderinnenheim“ berichten. So war ihr jeglicher Schmuck 634

635

636

Siehe die Zeitungsberichte „Arrest statt Hochzeit“, in: Bild v. 1.9.1960 oder „So entrann ich der der Sittenhaft“ in der Wochenzeitung „Heim und Welt“ 13 (22.9.1960), Nr. 38 (beide in: HAB, Birkenhof 50). So wurde zum Beispiel ein 1953 aus dem Birkenhof geflüchtetes Mädchen, das durch einen Beschluss des Amtsgerichts Leipzig im Rahmen der FE eingewiesen war, nicht weiterverfolgt, weil sie nach „ostzonalen Bestimmungen“ als volljährig galt (Vgl. Birkenhof an das Mädchenlager Westertimke v. 16.12.1953, in: HAB, Birkenhof 113). Erst im September 1960 hob das Landgericht Hildesheim den Beschluss zur zwangsweisen Unterbringung auf (Vgl. Beschluss des Landgerichts Hildesheim v. 13.9.1960, in: HAB, Birkenhof 50).

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abgenommen und die Hausordnung bekannt gegeben worden. Sie musste sich baden und erhielt Kleidung von der Anstalt. Sie berichtete der Presse von einem „schweigenden Dahintrotten“ der Mädchen, die, wie dann auch die Anstalt in einem rechtfertigenden Rundschreiben zugab, „formiert“ durch den Garten gehen würden, doch könnten sich die Mädchen „zwanglos dabei unterhalten“. Friedburg Walter bekam Pickel, was die Anstalt auf die Ernährungsumstellung und nicht etwa auf eine schlechte Ernährung im Heim zurückführte.637 Der Fall führte nicht nur zu einem breiten Presseecho in ganz Deutschland, sondern auch zu zahlreichen Briefen an die Heimleitung im Birkenhof. Hatte ein Mädchen im Oktober 1960 noch in der Zeitschrift „Heim und Welt“ in einem Leserbrief ihre „guten Erfahrungen“ mit dem Heim geschildert638, so beschimpften zahlreiche anonyme und nicht anonyme Briefe Ehemaliger die Heimleitung.639 Der Fall machte nicht nur auf die Zustände im Birkenhof schlaglichtartig aufmerksam, sondern beleuchtete auch die routinisierte, ungeprüfte Einweisungspraxis, der Minderjährige unterlagen. So hatte der Richter dem Antrag des Jugendamtes bzw. des Pflegers ohne Ansehen der Person zugestimmt und nur der Beharrlichkeit des Anwalts war es zu danken, dass er trotz der Heimregel des Besuchs- und Schreibverbots mit seiner Mandantin hatte sprechen können.640 Zwar wurde ein Verfahren gegen den Vormundschaftsrichter und den Mitarbeiter des Jugendamtes im Dezember 1960 eingestellt, doch hatte die zivilrechtliche Klage auf Schmerzensgeld 1963 schließlich Erfolg.641 Die Skandalisierung des Aufnahmerituals und der Zustände im Mädchenheim ging schnell vorüber, und es handelte sich bei den nachfolgenden juristischen Auseinandersetzungen darum, die Unrechtmäßigkeit der Einweisung an sich zu beschreiben. 637

638 639

640 641

Stellungnahme des Birkenhofes zum Bericht in „Heim und Welt“ v. 22.9.1960, in: ebd.; siehe auch Birkenhof an EREV v. 20.9.1960, in: ADW, EEV 325. Leserbrief aus Heim und Welt v. 20.10.1960, in: HAB, Birkenhof 50. Vgl. Irmgard Panzer an Hesse v. 3.10.1960, in: ebd. Der Heimleiter sei „der größte Verbrecher und Schuft“. „Denn im Birkenhof ist es schlimmer wie im Gefängniß“. Ihn solle der „Teufel holen“, der ohnehin mit ihm unter einer Decke stecke. „Denn in Ihrem Kuhstall sind wir erst verdorben geworden. Wir haben uns allein erzogen auch ohne ihre Hilfe. Jetzt können wir stolz sein. Die Kirche bekommt keinen Groschen mehr von uns lieber der Hundeverein. Denn sie haben uns genug dummes Zeug eingepredigt, und Gott hat uns nie geholfen.“ „Lex Friedburg in Sicht?“, in: Hannoversche Presse v. 18.10.1960, in: ebd. „Schmerzensgeld für Friedburg Walter“, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 14.5.1963, in: ebd.

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Insbesondere die von den Minderjährigen erlebte Freiheitsbeschränkung führte immer wieder zu kleinen Heimrevolten, denen sich die Erzieherinnen und Anstaltsverantwortlichen im Heim gegenüber sahen. Ein Beispiel: Am 24. November 1957 entstand Unruhe in der „10. Familie“. 13 Mädchen in den beiden Mehrbettzimmern johlten, die Tür wurde mit einem Schrank verbarrikadiert. Erst der Heimleiter Pastor Hesse konnte durch energisches Auftreten das Öffnen der Tür erwirken. Doch war die Opposition am nächsten Morgen nicht gebrochen. Die Mädchen sagten laut einem Aktenvermerk, „sie seien eine Clique, hielten fest zueinander und wollten auf diese Weise durchsetzen, daß sie endlich einmal wieder tanzen und ausgehen dürften“. Der Aufstand gegen die Anstaltsdisziplin wurde dadurch gebrochen, dass man die vier Rädelsführerinnen einzeln zum Heimleiter brachte, der veranlasste, dass eine nach Hamburg und zwei in andere Gruppen verlegt wurden. „Alle Mädchen müssen auf unbestimmte Zeit Strafkleidung tragen und werden vom Volkstanz und Kleinem Chor ausgeschlossen.“642 Neben dem Tragen einer demütigenden speziellen „Strafkleidung“, die auch noch 1972 von einem Mädchen gefürchtet wurde643, waren es die eigens als „Besinnungsstuben“ kärglich eingerichteten Arresträume, mit denen man renitenten Minderjährigen begegnete.644 Körperliche Züchtigungen kamen vor, standen allerdings nicht im Mittelpunkt einer strafenden Erziehungspraxis. In den Familienmütterkonferenzen war die Behandlung von „sehr aufsässigen Mädchen“ immer wieder Thema, so z. B. im Sommer 1961: „Es wird darauf hingewiesen, daß wir durch den ‚Prügel-Paragraphen‘ verpflichtet sind, körperliche Strafen nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzuwenden. Zweckmäßiger erscheint es, die Mädchen allein zu nehmen und so im Gespräch zu zeigen, daß der Erzieher die geistige Überlegenheit und den längeren Atem hat.“645 Es sollte darauf geachtet werden, dass durch renitente Mädchen keine Arbeitsplatzwechsel erzwungen werden, da dies einen schlechten Lerneffekt haben würde. Besser sei es, im Vorfeld oder im zeitlichen Abstand zu einer Auseinandersetzung einen Wechsel durchzuführen. Die hier recht eigenwillige Interpretation des Züchtigungsverbotes gegenüber Mädchen – dieses 642 643

644

645

Aktenvermerk betr. Waltraud D. v. 26.11.1957, in: HAB, Birkenhof 110. Kreisjugendamt Bersenbrück an LJA v. 6.3.1972, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 28. Vgl. Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof , S. 21-23. Familienmütterkonferenz v. 28.4.1961, in: Archiv Birkenhof (unverz.).

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umfasste, wie oben gezeigt wurde, in Niedersachsen Mädchen jeden Alters – verweist auf eine beim Erziehungspersonal bestehende ultima ratio-Theorie, wonach in den benannten „Ausnahmefällen“ doch Züchtigungen erlaubt wären. Dass diese aber nicht angewandt werden sollten, verbiete das eigene Streben nach pädagogischem Erfolg, nicht etwa die Beachtung der Rechte der Minderjährigen. Die Freiheitsbeschränkung im Heim blieb allerdings trotz aller moderat liberalisierenden Entwicklungen die harte und aufrecht zu erhaltende Grenze. Als im September 1968 zwei Mädchen nach einer Entweichung rückgeführt und eine handgreiflich und „ausfallend frech“ wurde, zwangen sie herbeigerufene männliche Mitarbeiter „in die Knie“. Das Mädchen wurde „kampfunfähig“ gemacht und ihre Hände für eineinhalb Stunden mit einer Kordel gefesselt.646 Eine weitere Aufsässigkeit der Mädchen ist aus dem Oktober 1969 belegt, der Zeit der Heimbefreiungen in Berlin, Frankfurt und anderswo. In der 9. Familie scharten sich ca. 14 Mädchen zusammen, „rauchten“, „diskutierten“, wählten eine Gruppensprecherin und steigerten sich in Opposition gegen eine Erzieherin, die sie „nicht mehr behalten“ wollten. Zunächst beruhigte die Hausmutter die Situation und versprach ein Gespräch mit dem Heimleiter für den nächsten Tag. Am nächsten Morgen wurden allerdings zwei „Wortführerinnen“ in Außenheime verlegt. Fünf Mädchen nahmen anschließend ihre Arbeit auf, doch 12 weigerten sich. Der Heimleiter machte im Gespräch klar, dass eine Ablösung der Erzieherin „nicht diskutabel“ sei. Der Konflikt steigerte sich, obwohl die betreffende Erzieherin zunächst krank geschrieben worden war. „Die Mädchen spielten Karten, tanzten, liefen umher, wechselten wiederholt ihre Kleider und begannen sich zu streiten. Gegen Abend versammelten sie sich im Tagesraum und wollten keinen Erwachsenen dabei haben. Sie gründeten die EVP (Erzieher-Vernichtungspartei).“ Laut Bericht der Anstaltsleitung an das Landesjugendamt stritten sich zwei Mädchen, wobei die eine die andere „erbarmungslos“ verprügelte. Das Abendessen wurde mit der Begründung, im Hungerstreik zu sein, abgelehnt. „Schließlich schleppten sie Matratzen, Kissen und Decken in den Saal und kündeten an, nun Gruppensex betreiben zu wollen. Sie verdunkelten den Raum und tanzten im Nachthemd herum.“ Erst auf die Drohung mit „Maßnahmen“ wurde die Tür geöffnet, woraufhin Mitarbeiter die Mädchen nach einem vorher aufgestellten Plan einzeln herausholten und sie in andere Gruppen oder Verwal646

Aktenvermerk betr. Christine D. v. 5.9.1968, in: HAB, Birkenhof 110.

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tungsgebäude zum Schlafen brachten. Ein Mädchen wehrte sich und musste von bis zu vier Erwachsenen gehalten werden. Letztlich wurden zwei Mädchen zum Frauenheim Himmelsthür bzw. nach Göttingen verlegt. Die zurückgebliebenen Mädchen bedauerten ihre „Entgleisung“ nach Auskunft des Heimleiters später sehr. Nach 14 Tagen übernahm die Erzieherin wieder die Gruppe.647 Das Prinzip der Anstalt als „totaler Institution“ setzte auf die Verhinderung von Solidarität der Mädchen, der eine ansonsten die Anstaltsdisziplin sprengende Wirkung zugeschrieben wurde. So sollte es weder auf dem Sportplatz noch beim Gottesdienst oder in der Wochenschlussandacht, bei der sich alle in der Festhalle versammelten, zu Gruppenbildungen oder „Unruhe“ kommen.648 Es war darauf zu achten, dass „der Tagesverlauf ganz regelmäßig eingehalten“ werde, um „Möglichkeiten zu unbeobachtetem Weglaufen“ zu minimieren.649 Hierin hatte dann auch das Streben nach der Pünktlichkeit der Arbeitsaufnahme um 8 Uhr bzw. 13 Uhr ihren Hintergrund.650 Die disziplinarischen Erfordernisse der Institution geschlossenes Heim waren anderen Aspekten immer vorgeordnet, was z. B. auch die Verrichtung der Notdurft in der Nacht betraf. Dies führte beim Heraustreten aus dem Zimmer immer zu einem Klingelalarm, dem Aufwecken der anderen und, wie von Dagmar Kerste für die 1950er Jahre berichtet wird, zu einem ‚Strafstehen‘ vor einem Stuhl auf dem Flur.651 Ferner war den Mädchen kein Schreibzeug zugebilligt, damit sie nicht unkontrollierten Briefverkehr mit möglichen Zuhältern etc. hatten. Dies führte dazu, dass z. B. kurz vor einer Prüfung der heiminternen Berufsschule den Betreffenden bei Bedarf erst Schreibzeug wieder ausgehändigt wurde.652 Die Einübung schriftlicher Ausdrucksformen wurde wegen der Gefahr ihres Missbrauchs verhindert. 647

648 649 650

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Birkenhof an LJA v. 8.12.1969, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 28. Verschiedene von den Mädchen geschriebene Zettel sind überliefert: „Für unbefugte Personen kein Zutritt – Bei Nichtbeachtung Augen blau – Nur für Mitglieder der EVP erlaubt“; „Achtung: wählt die E V P (die Erzieher-Vernichtungs-Partei schafft die alten Erzieher ab) – Freiheit“. Familienmütterkonferenz v. 16.6.1961, in: Archiv Birkenhof (unverz.). Familienmütterkonferenz v. 18.7.1961, in: ebd. Ab August 1961 sollte zur zeitlichen Taktung die kleine Glocke in der Heizung um 8 und um 13 Uhr geläutet werden (Vgl. Familienmütterkonferenz v. 3.8.1961, in: ebd.). Die Alternative bestand in der Benutzung der Waschschüssel. So berichtet von der anwesenden Dagmar Kerste im Interview mit Corinna Fast [Aliasname] (15.12.2010), Transkript, S. 25. Familienmütterkonferenz v. 3.8.1961, in: Archiv Birkenhof (unverz.).

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Insgesamt waren die Regeln des Heims auf Einschränkung und Verbot eingestellt. So sollte kein Schmuck getragen, bei der Hausarbeit keine Radiomusik eingestellt oder keine Schuhe mit Stahlabsätzen getragen werden. Das Interesse an Schmuck und Mode galt es zu unterdrücken und damit auch individuelle Ausdrucksmöglichkeiten der Mädchen zu beschränken. Die Arbeitserzieher regten an, dass die Mädchen „in der Mittagspause nicht so wild spielen und toben sollen“, damit sie „ausgeruht u. pünktlich“ wieder in die Arbeitsbetriebe kämen.653 Aus den Berichten zu den Mitgliederversammlungen des Vereins Birkenhof und den z. T. erhaltenen Protokollen der so genannten „Familienmütterkonferenzen“ lässt sich zumindest ein leichter Wandel in den Formen der Erziehung im Birkenhof am Ende der 1960er Jahre ersehen. Noch 1970 waren in der Hausordnung in den ersten zehn Wochen „Besuche aus erzieherischen Gründen nicht möglich“. So waren die „Hausmütter“ auch noch 1969 gegen das Rauchen, auch wenn damit das heimliche Rauchen, das als Problem angesehen wurde, nicht abzustellen war.654 Ende 1970 wurde dann versucht, das Rauchen durch einen „Raucherplan“ in den Familien zu kanalisieren, wobei weiter die Zigaretten in Verwahrung genommen wurden.655 Im Januar 1971 konstatierten die Familienmütter, dass es in den Pausen beim Rauchen zu positiven Gesprächen zwischen den Mädchen komme, allerdings wurde wenig später festgestellt, dass im Außenheim Jöhrensstraße das Rauchen generell verboten sei und die Standpunkte der Familienmütter zum Teil unversöhnlich gegeneinander standen.656 Im August 1969 bat eine Familienmutter darum, den festen Schreibtag abzuschaffen und den Mädchen die Schreibutensilien zu lassen. Die Gefahr des Schreibens „heimlicher Briefe“ würde dadurch auch nicht zunehmen. Im September 1969 waren die Familienmütter bereit, das Schminken „in dezenter Form“ zu erlauben. Ein Kosmetikkurs wurde eingerichtet.657 Schließlich wurde in einer Besprechung 1974 mit den Erziehern am Arbeitsplatz deutlich, dass „Strafe nur eines unter vielen Erziehungsmitteln“ sein könne. Es wurde stattdessen auf Lob und Anerkennung verwiesen. Zeige der Jugendliche „ein negatives Verhalten“, 653 654

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Familienmütterkonferenz v. 10.5.1961, in: ebd. Familienmütterkonferenz v. 14.7.1969, in: ebd., Ordner „Protokolle Familienmütterbesprechungen v. 1.10.1968-26.10.1971 (unverz.). Familienmütterkonferenz v. 2.12.1970, in: ebd. Familienmütterkonferenz v. 15.1.1971 und v. 12.2.1971, in: ebd. Familienmütterkonferenz v. 15.8.1969 und v. 3.9.1969, in: ebd.

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müssen sich die Erziehenden „ganz besonders um ihn kümmern“. Abschließend hieß es: „Wie allgemein bekannt, ist die körperliche Züchtigung Jugendlicher im Heim verboten.“658 Dennoch blieb der Birkenhof ein Heim mit rigiden Regeln, die sich nicht im gleichen Tempo wie die umgebende Gesellschaft veränderten und seit der Mitte der 1960er Jahre immer altertümlicher erschienen. Ende 1970 wandte sich eine Praktikantin wegen ihrer Eindrücke während einer zweimonatigen Praktikumszeit an das Landesjugendamt. Sie führte 14 beklagenswerte Punkte über den Alltag im Heim aus. Sie benannte die zu enge Hausordnung, die zu straffe Führung des Außenheimes Jöhrensstraße, den zu harten Umgangston, die geringe Verbindung mit der Außenwelt („Zuchthaus Birkenhof “), den verbotenen Briefverkehr mit Freunden, die Postzensur, das Rauchverbot, die mangelnde sexuelle Aufklärung, die fehlenden Kosmetikkurse, eine auffallende Gewichtszunahme der Mädchen durch unvernünftiges Essen, die ungenügende Beratung bei unvorteilhafter Bekleidung, die mangelnde Möglichkeit der Nachholung des Schulabschlusses, die unzureichende individuelle Berufsförderung und die allgemein fehlenden Angebote für die Erweiterung des Allgemeinwissens und der Weiterbildung.659 Zudem wollte sie zwei Mädchen entlassen sehen und selbst zu sich nehmen. Das Heim bestritt die meisten der vorgebrachten Einwände, verwies auf die sexuelle Aufklärung durch die Heimärztin und wollte zumindest das Nachholen des Schulabschlusses im Heim ermöglichen.660 Von der vorzeitigen Entlassung der angesprochenen Mädchen riet man allerdings ab. Die Mädchen überwanden den rigiden Regelrahmen immer häufiger durch Flucht. So berichtete Heimleiter Pastor Hesse der Familienmütterkonferenz im Juni 1971 vertraulich von einer „Entweichungswelle“ im Mai, bei der 31 Mädchen wegliefen, von denen 8 noch auf dem Grundstück gefasst werden konnten. Die Entweichung wurde bis Mitte der 1970er Jahre die häufigste Art des Abgangs aus dem Birkenhof.

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Besprechung der Erzieher am Arbeitsplatz am 10.12.1974 (27.1.1975), in: HAB, Birkenhof 65. Vermerk v. 31.1.1971, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc. 106/85 Nr. 28. Vermerk v. 3.2.1971, in: ebd.

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Die medizinische Behandlung und die pädagogischen Konsequenzen In keinem anderen Umstand ist die Medizinisierung der Pädagogik nach dem Kriegsende sichtbarer gewesen als in der Zwangsbehandlung geschlechtskranker Mädchen. Im Birkenhof existierte eine Krankenstation zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Hier wurden 1946/47 insgesamt 459 geschlechtskranke Mädchen behandelt. Bis zum Jahr 1953 ging diese Zahl allerdings auf 29 Fälle zurück. Waren im Sommer 1947 noch 100 Mädchen auf dieser Station, waren es im Februar 1951 noch 50 und 1954 schließlich noch 20 Betten, die durch einen Facharzt und eine Assistenzärztin versorgt wurden.661 Im Birkenhof stellte die Einweisung aus vermeintlicher sexueller Auffälligkeit das häufigste Kriterium dar, nach welchem Mädchen in das Heim kamen. Noch 1966 wurden 80 % der Mädchen mit dieser Begründung eingewiesen.662 In internen Statistiken über die Jahre 1960 bis 1975 wurde der „Grad der Verwahrlosung“ festgehalten, wobei es „mit sexuellen Ausschweifungen“, „sexuell (stark) aufgefallen“ oder ohne Umschweife in direkter moralischer Etikettierung: „Dirnentyp“ hieß.663 Bei den ins Heim gekommenen Mädchen handelte es sich in vielen Fällen um Opfer sexueller Gewalt. Doch nach den Ursachen des der damaligen Sexualnorm widersprechenden Verhaltens der Minderjährigen wurde nicht gefragt, vielmehr das abweichende Verhalten als Charakterschwäche den Mädchen zugeschrieben. Die medizinische Fürsorge sah neben der erzwungenen Feststellung von Geschlechtskrankheiten, Jungfernschaft bzw. Schwangerschaft auch die Impfung und Behandlung von Erkrankungen vor. Bei größeren chirurgischen Behandlungen wurde in das Krankenhaus des Henriettenstifts verlegt. Seit 1946 arbeitete im Heim dauerhaft die Heimärztin 661

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Siehe hierzu die namentlichen Aufstellungen zum 31.7.1946, den Bericht über die Besichtigung der Krankenanstalt v. 27.2.1951 und Schreiben des Birkenhof-Vorstandes an die Bezirksverwaltung des Debeka Krankenversicherungsvereins a.G. v. 29.09.1954 (alle in: HAB, Birkenhof 106; siehe auch Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof, S. 18-21). Brackmeyer, Über die Behandlung der Geschlechtskrankheiten, in: Fünfundsiebzig Jahre Birkenhof 1954, S. 87-89. Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 25.11.1966, in: HAB, Birkenhof 9. Noch 1975 tauchte hier die Kategorie „Dirnen“ auf (Vgl. die Statistiken zum Jahresbericht, in: HAB, Birkenhof 52).

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Ingeborg Westphal mit, die durch ihre Präsenz eine „engere Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen“ etablierte.664 In einem ärztlichen Bericht aus dem Jahre 1969 beschrieb die Heimärztin, dass in den letzten zehn Jahren hirnorganische Schädigungen und Haltungsschäden unter den Mädchen sehr zugenommen hätten. Zur Beeinflussung der „psychovegetativen Syndrome“ bei Hirnschäden wie „Anpassungsstörungen“, „Stimmungslabilität“ und „depressive Angstzustände“ wurden von ihr zur Schaffung einer „besseren Erziehungsgrundlage“ Medikamente verschrieben.665 Der Düsseldorfer Landesobermedizinalrat Heinz Krebs betonte im ersten Heft der wissenschaftlichen Informationsschriften des AFET 1967 zwar die Grenzen einer „Psychopharmako-Therapie“, welche die Heilpädagogik nicht ersetzen könne und die „Gefahr von Scheinlösungen“ berge, doch zugleich meinte er, dass sie „aus unserem therapeutischen Repertoire nicht mehr wegzudenken“ sei, da sie es vermöge, „die pädagogische Angriffsfläche zu verbreitern“.666 Der Einsatz der seit den 1950er Jahren in der Psychiatrie gebräuchlichen Psychopharmaka667 im 664

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Ingeborg Westphal, Die Aufgabe der Heimärztin, in: Fünfundsiebzig Jahre Birkenhof 1954, S. 89-90. Bericht v. 1969, in: HAB, Birkenhof 54. H. Krebs, Psychopharmako-therapeutische Hilfen bei der Behandlung schwererziehbarer und verhaltensgestörter Jugendlicher, in: Hermann Stutte (Hg.), Jugendpsychiatrische Probleme und Aufgaben in der öffentlichen Erziehungshilfe, Hannover 1967, S. 41-61, hier S. 41f. u. 51. Der Herausgeber der Schrift, der Marburger Ordinarius Hermann Stutte (1909–1982), der seit 1954 erster Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiter des Instituts für Ärztlich-Pädagogische Jugendhilfe in Marburg a. d. Lahn war, hatte 1944 in Tübingen mit einer Arbeit über „Schicksal, Persönlichkeit u. Sippe ehemaliger F.[ürsorge]Z.[öglinge] (Beitrag zum Problem der sozialen Prognose)“ habilitiert und auch in der Nachkriegszeit intensiv über die „Grenzen der Sozialpädagogik“ gearbeitet (vgl. Hermann Stutte, Grenzen Sozialpädagogik.). Zu Stuttes z. T. skandalisierter Vergangenheit in der NS-Zeit siehe die Beiträge von Wolfram Schäfer, „Bewahrung“ und „erbbiologische Aussiebung“ von Fürsorgezöglingen: Anmerkungen zum Doppelcharakter der öffentlichen Erziehung im NS-Staat, in: Konvent der Philipps-Universität (Hg.): Die Philipps-Universität im Nationalsozialismus. Veranstaltungen der Philipps-Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 8. Mai 1995, Marburg 1996, S. 223-250; ferner Christian Rexroth/Dagmar Bussiek/Rolf Castell, Hermann Stutte, Die Bibliographie. Biographie – Abstracts – Kommentare, Göttingen 2003; Rolf Castell u.a., Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937-1961, Göttingen 2003, S. 488-494. Zur Einführung von Psychopharmaka in die psychiatrische Praxis der Landeskrankenhäuser bereits Mitte der 1950er Jahre siehe die beispielhafte historische Studie von Sabine Hanrath, Zwischen ‚Euthanasie‘ und Psychiatriereform. Anstaltspsychi-

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Bereich der öffentlichen Erziehung diente auch nach Meinung ihrer Verfechter nicht der „Ursachentherapie“, sondern sollte durch die Beeinflussung einzelner Symptome den „Prozeß der pathologischen Eigengesetzlichkeit des abnormen Geschehens“ durchbrechen und „Bedingungen für einen therapeutischen Neubeginn“ schaffen.668 Insbesondere Mitte der 1960er Jahre vermehrte sich die Diagnostizierung von hirnorganischen Schädigungen, was einen Zusammenhang mit der verbesserten medizinischen Versorgung der Klientel in den Heimen hatte und die Psychiatrisierung von Schwererziehbarkeit bedeutete. Auf einer Arbeitstagung für Heimleiter niedersächsischer Einrichtungen im November 1968 berieten die Anwesenden über die Frage: „Welche Voraussetzungen müssen in einem Erziehungsheim vorliegen damit minderbegabte und verhaltensgestörte Minderjährige erfolgreich medikamentös behandelt werden können?“ Hier ging es um die Größe der Gruppen, die Qualität des Personals und ob überhaupt ein medikamentös behandeltes Kind in normalen Gruppen verkraftet werden könne. In der Aussprache wurde deutlich, das in den Erziehungsheimen „keine Sonderheime (oder Sonderhäuser) für besonders schwierige, verhaltensgestörte und medikamentös zu behandelnde Minderjährige“ bestanden. In den größeren Erziehungsheimen waren Sondergruppen eingerichtet worden, in den kleineren wurden die Minderjährigen in Normalgruppen untergebracht. Doch wurde auch deutlich, dass nur „ein Teil dieser schwierigen Minderjährigen“ Aufnahme in den Erziehungsheimen fand, ein anderer Teil hingegen von den Landesjugendämtern gar nicht unterzubringen war. Insofern hielten es die Teilnehmer für dringend erforderlich, ein psychiatrisch geleitetes Sonderheim in Trägerschaft des Landes Niedersachsen nur für die Aufnahme dieser besonders schwierigen Minderjährigen neu zu schaffen.669 Praktisch lässt sich der Umgang mit Psychopharmaka in der Jugendhilfe am Beispiel des Birkenhofs gut illustrieren. So verwies die

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atrie in Westfalen und Brandenburg: Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945-1964), Paderborn u.a. 2002, S. 302-307. Vgl. den Hinweis auf die Verordnung von Clorpromazin in der Rheinischen Landesklinik Düsseldorf-Grafenberg seit 1953 in: http:// www.rk-duesseldorf.lvr.de/behandlungsangebote/geschichte/1955-1967.htm [Zugriff: 20.3.2009]. Aktuelle medizingeschichtliche Forschung über den Einsatz von Medikamenten (u.a. auch Psychopharmaka) bündelt sich auf europäischer Ebene im Netzwerk DRUGS (http://drughistory,eu/ [Zugriff 16.11.2009]). Vgl. eine erste historische Annäherung bei Kaminsky, Die Verbreiterung der „pädagogischen Angriffsfläche“, S. 485-494 und Kap. 5.4.2. Ergebnisniederschrift über die vom LJA Hannover veranstaltete Arbeitstagung für Heimleiter am 4./5.11.1968, in: HHSA, Nds. 120 Hannover, Acc 103/76 Nr. 13/2.

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Erziehungsleiterin Berta Volkert 1966 auf die zunehmende Zahl hirnorganisch geschädigter Jugendlicher, deren psychiatrische und psychologische Begutachtung durch die Chefärztin der Jugendpsychiatrischen Klinik in Wunsdorf, Dr. Dames, erfolge. „Hirnorganische Störungen, oft als postencephalitischer Schaden treten unter unseren Mädchen oft als Teilausfälle der Intelligenz (etwa Rechenschwäche, Legasthenie, fehlendes Orientierungsvermögen u.a.) oder als charakterliche Störungen auf; hier besonders als große Reizbarkeit, fehlende Kritikfähigkeit und Stimmungslabilität. Das wiederum verursacht viele Gemeinschaftsschwierigkeiten. Das mangelnde Anpassungsvermögen hat die Mädchen häufig ursprünglich in die Verwahrlosung getrieben, oftmals auch einen geordneten Abschluß der Volksschule vereitelt.“ Es seien 23 % der Mädchen deswegen vom Besuch der Volksschule beurlaubt. In Erzieherbesprechungen berieten die Erzieherinnen zusammen mit der Fachärztin über die Betreuung und Behandlung der einzelnen Mädchen. Demnach sollten „Begabungsreste“ gezielt gefördert werden. „In einigen Fällen ist eine länger dauernde medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka dringend angezeigt.“670 In einem undatierten Vortrag der Psychiaterin Dames über „Verhaltensstörungen – Darstellung und therapeutische Hilfen“ betonte diese besonders die vermeintlichen „organischen Hirnschäden“, worunter sie von unruhiger Motorik („kritzelige Schrift, Ungeschick beim Handarbeiten“), dem „Zappelphilipp“ bis zu Teilleistungsschwächen und Intelligenzdefekten ein breites Erscheinungsbild rechnete. „Durch Medikamente kann Linderung geschaffen werden.“ Die Erzieher am Arbeitsplatz sollten dann beobachten, „welche Wirkung sie erzielen“. Als Anzeichen für ein „Anfallsleiden“ zählte sie nicht nur „Absencen“, sondern auch „Dämmerattacken“ auf, die dann ein konsistentes Handeln der Mädchen nicht mehr zuließen und auch dazu führen könnten, dass sie „unmotiviert weglaufen“.671 Mit dieser medizinischen Erklärung von Verhaltensschwierigkeit wollte sie auf der Erzieher/innenseite Verständnis für das Verhalten der Minderjährigen wecken und verschob damit das Instrumentarium der Verhaltensbeeinflussung in den medikamentösen Bereich. In den auf der Mitgliederversammlung des Vereins Birkenhof 1971 niedergelegten Grundsätzen der sozialen Festigung und Förderung hieß es: 670

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Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 25.11.1966, in: HAB, Birkenhof 9. Verhaltensstörungen – Darstellung und therapeutische Hilfen (Referat von Dr. Dames) o. D., in: HAB, Birkenhof 65.

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„1. Abbau der Verhaltensstörungen, gegebenenfalls mit psychiatrisch gelenkter medikamentöser Behandlung“; 2. „Einüben eines angepaßten Verhaltens“ (werde von der Kritik oft als „Anstaltsdrill“ kritisiert), 3. „Pflege der Gemütskräfte“.672 Der hierin sichtbar werdende Wandel der Erziehungsarbeit wurde 1973 am Beispiel sprachlicher Umcodierungen als Indikator explizit formuliert. So hätte man bereits Ende des 19. Jahrhundert statt von „gefallenen Töchter[n] unseres Volkes“ von Zwangserziehung, Fürsorgezöglingen, Verwahrlosung und Gefährdung gesprochen. „‘Schwererziehbar‘ wurde in ‚erziehungsschwierig‘ umgeändert, - heute spricht man von ‚Verhaltensgestörten‘ und richtet damit das Augenmerk vom Erscheinungsbild weg mehr auf die Ursachen der Störung hin.“ So gebe es heute einen „Erziehungsplan“ für einzelne Jugendliche. Allerdings seien von im Jahre 1972 insgesamt 115 untersuchten Mädchen nur 47 als psychisch gesund anzusprechen, 45 seien hirnorganisch geschädigt, bei 22 wurde ein Krampfleiden nachgewiesen und eine sei vermutlich geisteskrank. „Bei einigen Mädchen werden nach fachärztlicher Anweisung Psychopharmaka verabreicht. Eine heilpädagogische Betreuung, die vor allem die große Labilität der verhaltensgestörten Jugendlichen berücksichtigt, ist unerläßlich. Diese individuelle Betreuung steht häufig mit den Bedürfnissen der gesamten Gruppe und mit heimdisziplinarischen Gesichtspunkten im Widerspruch. Daraus kann erhebliche Verunsicherung der Erzieher erwachsen.“673 Einige ehemalige Heimkinder berichteten in Gesprächen, dass Beruhigungsmittel an aktive und widerständige Mädchen verteilt wurden. Eine soll Valium erhalten haben, ohne dass sie dafür einem Arzt vorgestellt oder dass sie über die Wirkung informiert wurde. Da sie in der Wäschemangel arbeiten musste, hätte sich beinahe ein Unfall ereignet, da sie beim Mangeln eingeschlafen sei. Laut ihrer Aussage wäre sie beinahe mit dem Arm in die Wäschemangel gekommen, wurde allerdings vorher von einem anderen Mädchen geweckt. Andere ehemalige Mädchen aus dem Birkenhof vermuteten, dass dem Kaffee oder der Milchsuppe Beruhigungsmittel beigemischt wurden.674 672

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Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 24.11.1971, in: HAB, Birkenhof 9. Protokoll der Mitgliederversammlung des Birkenhofs am 23.11.1973, in: ebd. Goerke, Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50-/60er Jahren im Birkenhof, S. 20; siehe auch Interview Corinna Fast [Aliasname] (15.12.2010), Transkript, S. 6f. u. 10.

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Aus einer Unfallverhütungsvorschrift aus dem Jahre 1969 geht hervor, dass die von der Psychiaterin Dames verordneten Medikamente, die über einen längeren Zeitabschnitt eingenommen werden mussten, sorgfältig ausgeteilt und die „Veränderungen im Verhalten des Mädchens“ im Erziehungsbüro zu melden waren.675 Die Belege für die Austeilung von Medikamenten sind zahlreich. Der Heimskandal 1978 Im Sommer 1978 kam es im Birkenhof, der bis dahin eines der insgesamt zwei in Niedersachsen existierenden geschlossenen Heime für „extrem verhaltensgestörte“ Jugendliche mit insgesamt 150 Plätzen darstellte, zu einem Skandal.676 Hintergrund dafür war, dass offenbar einige der Entwicklungen, die seit den Heimbefreiungen 1969 in vielen Heimen eine Liberalisierung der Anstaltsregime und eine größere Öffnung der Abgeschlossenheit der Heime bewirkt hatten, am Birkenhof relativ spurlos vorübergegangen waren. So erhielten die Mädchen nur wenig Ausgang, kein Geld und unterlagen einem gefängnisartigen Anstaltsregime, das sich u.a. nicht nur in einer das Gelände des Heimes umschließenden Mauer, sondern auch in einem 2,5 m hohen Stacheldrahtzaun, vor dem nachts ein Wachmann mit Schäferhund patrouillierte, sichtbar manifestierte.677 Zudem hatte sich eine Gruppe kritischer Sozialarbeiter für das dritte bundesweite Heimerzieher-Treffen unter Beteiligung von Alternativgruppen zur Heimerziehung vom 29. Juni bis 2. Juli 1978 in Bremen (Arbeitskreis Heimerziehung, Bremen) verschiedene Einrichtungen, die als „Heimknäste“ bezeichnet wurden, als Agitationsobjekte vorgenommen, u.a. auch den Birkenhof.678 Der bereits als betroffener Jugendlicher in den Heimbefreiungen in Hessen beteiligte Peter Brosch, mittlerweile selbst Sozialarbeiter, machte zusammen mit entlaufenen Mädchen und ehemaligen Mitarbeiterinnen die Dokumentation „Hin675

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„An alle Familienmütter im Birkenhof und in den Außenheimen sowie an alle Erzieher am Arbeitsplatz“ (13.12.1969), in: Archiv Birkenhof, Protokolle Familienmütterbesprechungen (1.10.1968-26.10.1971). Presseinformation Nr. 53/78 der Bezirksregierung Hannover v. 21.6.1978, in: HAB, Birkenhof 3. Siehe hierzu auch die Bilder in den Artikeln in der Pressesammlung zur Heimkampagne 1978/79, in: Archiv Birkenhof (unverzeichnet). EREV an Mitglieder des Vorstands u. Hauptausschusses v. 27.6.1978 mit Anlage des Aufrufs zum 3. bundesweiten Heimerzieher-Treffen v. 29.6.-2.7.1978 in Bremen, in: HAB, Birkenhof 3.

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ter den grauen Mauern“, die hektographiert im Juni 1978 an die Presse und auf den Straßen Hannovers verteilt wurde.679 Unter der Federführung von Brosch fanden sich im Juni 1978 zehn verschiedene Gruppen, die sich „Heiminitiative u.ä.“ nannten, zusammen. Die Dokumentation stützte sich auf Aussagen von vier ehemaligen Praktikantinnen (von Oktober 1977 bis März 1978 im Birkenhof tätig), einer Erzieherin (von Oktober 1976 bis Dezember 1977 im Birkenhof) und einer Erziehungshelferin (von September 1977 bis November 1977 im Birkenhof), die der „Heiminitiative Hannover“ angehörten. Die Vorwürfe, die gegen die „geschlossene Unterbringung“ im Birkenhof, die Postkontrolle, die religiöse Indoktrination etc. Front machten, hatten noch einen weiteren gewichtigen Inhalt: „Den Jugendlichen sind ohne ärztliche Verordnung heimlich Beruhigungsmittel verabreicht worden.“680 Seit Mitte Juni 1978 erschienen fast täglich in den Hannoverschen Tageszeitungen und in großen überregionalen Blättern Artikel über den Birkenhof.681 Am 23. Juni 1978 fand eine große Aktion mit anschließender Demonstration bis vor die Tore des Heims statt.682 Das Heim sah sich zu unrecht angegriffen. Es machte Gegendarstellungen, die jedoch von der Presse wenig aufgegriffen wurden. Ein Ausschuss des Landesjugendwohlfahrtsausschusses und des niedersächsischen Landtags nahm sich in der Folge den Verhältnissen im Birkenhof an.683 Insbesondere der Vorwurf des Medikamentenmissbrauchs führte zu einer Strafanzeige von Peter Brosch gegen die Heimleitung und umgekehrt gegen ein Mitglied der Heiminitiative wegen Verleumdung. In diesem Zusammenhang fand Ende des Jahres eine Beweissicherung von Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft statt. U.a. wurden das Dienstbuch einer Gruppe beschlagnahmt, das wohl deswegen als Ko679

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„Hinter den grauen Mauern. Dokumentation über den Birkenhof “, in: HAB, Birkenhof 8. Brosch hatte 1977 einen ähnlichen Skandal über das Isenbergheim in Bremen initiiert, der dann auch Mitte 1978 zur Aufgabe des Heimes und Gründung von Jugendwohngemeinschaften führte. Siehe zur biographischen Vorgeschichte Brosch, Fürsorgeerziehung. „Heimkampagne 1978 gegen den Birkenhof “ (25.9.1978), in: HAB, Birkenhof 3. Siehe umfangreiche Pressesammlungen im Birkenhof: Pressesammlung zu Heimkampagne 1978/79, in: Archiv Birkenhof (unverzeichnet). Weitere zitierte Artikel sind, wenn keine andere Angabe erfolgt, hieraus. Dabei skandierten die Aktivisten über Megaphon „Ihr seid nicht allein, wir wollen Euch befrei’n“; „Ihr seid nicht allein, wir kommen bald herein“ (Birkenhof an Bezirksregierung Hannover v. 28.6.1978, in: HAB, Birkenhof 3). Der „Birkenhof “ ist kein Skandalfall (Hans-Jürgen Schroeder), in: Helfende Hände 1978, H. 4, S. 28-29.

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pie bis heute erhalten ist.684 In den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ging es nur um die Frage, ob die Medikamente unzulässigerweise bzw. selbsttätig von den Erzieherinnen verabreicht worden waren. Dass überhaupt Medikamente gegeben worden waren, ergab sich recht eindeutig. So hatte eine Praktikantin in der Dokumentation und im Juli auch in einer Fernsehsendung angegeben, dass sie den Mädchen teilweise ohne ihr Wissen Medikamente unter die Nahrung zu mischen gehabt habe. Diese Art der Medikamentengabe wurde sogar noch in einem heiminternen Rundschreiben im Juli 1978 festgehalten.685 Aus dem überlieferten Dienstbuch der Gruppe geht hervor, dass Hepatofalke Dragees und Haldoltropfen verabreicht worden sind. „Bitte nie den Mädchen die Tabletten-Beschreibung geben!!“686 Zudem hielt der Heimleiter in einem internen Vermerk fest, dass am 13. und 15. Oktober 1977 die „Verabreichung von Haldol“ auf Verordnung der Psychiaterin Dames erfolgt sei. In einem dem Landesjugendamt gemeldeten Konfliktfall wurde zwei Mädchen im Januar 1978 einige Tropfen Haldol verabreicht, „worauf sie nach einiger Zeit einschliefen“. Zuvor hatten diese schwer randaliert und 25 Scheiben zerschlagen.687 Die Ermittlungen gegen das Heim wurden im April 1979 eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für Rechtsverstöße erkannte. „Nach allem ist davon auszugehen, daß den Zöglingen im Birkenhof allenfalls vereinzelt und in Ausnahmefällen heimlich und ohne ärztliche Verordnung maximal 10 Tropfen Haldol oder 2 Tabletten Valium 5 verabreicht worden sind, um außergewöhnliche Erregungszustände, die eine Gefahr für die Mädchen selbst und Dritte darstellten, zu dämpfen.“ Dies stelle keine Körperverletzung dar.688 Damit war zwar der schwerste und damit strafrechtlich möglicherweise relevante Vorwurf abgewehrt, doch führte die damit verbunde684 685

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„Dienstbuch 1 F vom 7.3. bis 15.11.1977“, in: Archiv Birkenhof (unverzeichnet). An alle in den Mädchengruppen tätigen Mitarbeiterinnen (Volkert, 18.7.1978), in: HAB, Birkenhof 65. Demnach sollten Tabletten und Dragees zerstoßen und aufgelöst verabreicht werden, um zu vermeiden, dass Tabletten insbesondere von suizidgefährdeten Mädchen gesammelt werden konnten. „Agnes war sehr erregt, als ich um 16.30 Uhr kam, sie zerschlug einen Papierkorb und drohte mir an, mir einen Spiegel aufzusetzen, falls ich noch etwas sagen würde.“ Sie war dann im Hof, kam um 18.00 Uhr hoch. „Ich gab ihr mit Erlaubnis von Frau Groth 6 Tropfen Haldol.“ zitiert nach: „Dienstbuch 1 F vom 7.3. bis 15.11.1977“, in: Archiv Birkenhof (unverzeichnet), Bl. 144 und 148. Vermerk v. 24.7.1978, in: HAB, Birkenhof 3. Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hannover an Bertram Börner v. 23.4.1979, in: HAB, Birkenhof 8.

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ne Skandalisierung zu einer tiefgreifenden Wandlung der Heimerziehung im Birkenhof wie in Niedersachsen insgesamt. Die eingesetzte Kommission des Landesjugendwohlfahrtsausschusses legte im Oktober 1978 ihren Bericht vor.689 Darin wurde eine größere Flexibilisierung der Ausgangs- und Besuchsregelungen gefordert, eine Veränderung der Sicherheitssysteme wie Abschaffung der „Schellen“ bei Öffnen der Türen in der Nacht, eine großzügigere Taschengeldregelung, ein Wegfall der Postkontrolle und jeglichem religiösem Zwang etc. Zudem sollte die jugendpsychiatrische Versorgung optimiert und das Arbeitsangebot vielfältiger werden. Insgesamt wurden eine Reduzierung der Zahl der Plätze in den Gruppen und die Anstellung eines männlichen Sozialpädagogen gefordert. Insbesondere die Reduzierung der Platzzahl hatte als eine direkte Folge der Heimkampagne gegen den Birkenhof bereits eingesetzt. So lag die Entweichungsquote zwischen dem 15. Juni und 20. September 1978 bei 60,2 % – im gleichen Zeitraum 1977 bei 53,7 % und 1976 bei 53,0 %.690 Die Entwichenen, die z. T. von der Heiminitiative Hannover, den Roten Panthern etc. so „gegen jede Art öffentlicher Erziehung“ beeinflusst waren, weigerte sich die Einrichtung wieder aufzunehmen. Die Behörden zögerten in dieser Zeit, Mädchen in den Birkenhof zu überweisen. So führte die Heimkampagne zu einer starken Unterbelegung, weswegen die Mitarbeiterzahl von 77 (1. April 1978) auf 57 (1. Oktober 1978) reduziert wurde, davon allein 14 Stellen für Erzieherinnen im Anerkennungsjahr, die nicht mehr besetzt wurden.691 Das heimaufsichtführende Kultusministerium hatte Anfang Oktober zwar betont, dass auf den Birkenhof nicht verzichtet werden könnte, doch sei „eine stärkere Auflockerung und mithin Verkleinerung“ notwendig. Die Belegkapazität, die Anfang 1978 noch 168 Plätze betragen hatte, wurde so ab Oktober auf insgesamt 76 reduziert, was auch eine Fortentwicklung der Erziehungskonzeption möglich machte.692

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Protokoll der 2. Sitzung des Landesjugendwohlfahrtsausschusses des LJA Hannover am 18.10.1978; Anlage 3: Ergebnisbericht der Kommission (Ehrhardt, DPWV, Gerull (Landesjugendring Niedersachsen/Bund der kath. Jugend), Gloger (Jugendamt Hannover), Meier-Wiedebach (DW), Dr. Hackbarth (Bezreg. Hannover), in: ebd. Zahlen zur Belegung des geschlossenen Bereichs des Birkenhofes v. 15.6.-20.9.1978, in: ebd. Überlegungen über die Mitarbeiterschaft im geschlossenen Erziehungsbereich des Birkenhofes v. 20.9.1978, in: ebd. Birkenhof an LJA Hannover u. an Bezirksregierung v. 24.10.1978, in: ebd.

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Die von den entlaufenden Mädchen und der Heiminitiative geforderten Jugendwohngemeinschaften wurden vom Heim als für die „erziehungsschwierigen, z. T. verhaltensgestörten Mädchen“ nicht geeignet angesehen.693 Die Heiminitiative und die Mädchen besetzten allerdings am 4. Juli 1978 das leerstehende „Schwedenheim“ in Hannover – es wurde nach einer Minderjährigen, die Suizid begangen hatte, weil sie in den Birkenhof eingewiesen worden war, „Iris-Trapp-Haus“ benannt – und machten von dort aus weiter auf sich aufmerksam. So verschwanden z. B. am 6. Juli Akten über den Birkenhof aus dem Landesjugendamt und wurden, nachdem diese der Öffentlichkeit als Beweis für die schlimmen Zustände präsentiert worden waren, wieder zurück gegeben. Zwar wurde das besetzte Heim acht Tage später von der Polizei geräumt, doch blieb das Problem der Unterbringung der Mädchen, die einerseits kein Heim aufnehmen wollte und die andererseits für eine selbstverwaltete Alternative stritten, bestehen. Im Rahmen der Geschehnisse kam es auch zu einem Zerwürfnis der beteiligten Unterstützergruppen, die entweder die entlaufenen Mädchen als Beispiel für eine zu skandalisierende gesellschaftliche Situation nahmen oder aber ihnen in Absprache mit den Jugendämtern und dem Landesjugendamt konkret helfen wollten. Die Heiminitiative sah die letztgenannte sozialarbeiterische Position, die von Peter Brosch vertreten wurde, als Anbiederung an die Unterdrücker an und lehnte sie radikal ab.694 Auch zwischen den Mädchen und den kritischen Sozialarbeitern war das Verhältnis nicht spannungsfrei, worauf im Interview Corinna Fast hinwies: „Die versuchten eine Zeit lang, ist ja klar, versuchten sie dieselbe Schiene zu fahren wie, wie halt die Erwachsenen, die wir ja gar nicht, die Bonzen, die wir ja gar nicht so haben wollten. Und zwar ging das darum, dass auf einmal feste Zeiten da sein sollten, wann wir wieder da anzutanzen haben, dass wir alleine das Grundstück nicht verlassen, dass kein Alkohol im Iris-Trapp-Haus getrunken wird und da kam dann eine Auflage nach der anderen. Aber ich meine, man kann das längst nicht mit dem Birkenhof auf eine Stufe stellen. Absolut nicht. Es waren trotzdem noch die Tollen, weil man konnte mit denen disku693 694

Heimkampagne 1978 gegen den Birkenhof v. 25.9.1978, in: ebd. Siehe zu diesen Zusammenhängen: Weder Heimknast noch Gosse ... wir wollen unsere Jugendwohngemeinschaft, hg. v. Agnes Fitzke/Manuela Haack/ Sonja Schmidt/ Corinna Schrell, S. 21 (in: HAB, Birkenhof 8); „Rote Panther“/“Iris-Trapp-Haus-Initiative“ und „Verein für Erziehungshilfe Hannover e.V.“ betreiben jugendfeindliche Politik. Offener Brief an die Jugendlichen aus niedersächsischen Heimen, die dem „Verein für Erziehungshilfe Hannover e.V.“ vertrauen (Peter Brosch, 16.2.1979), in: Archiv Birkenhof, Ordner „Schriftwechsel zu Heimkampagne II“ (unverzeichnet).

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tieren. Es war also nicht, dass das dann mit ‚ja‘ und ‚nein‘, ‚du machst‘ oder ‚du machst nicht‘, sondern man konnte stundenlang mit denen diskutieren, wenn einem irgendwas gegen den Strich ging. Und die haben einem das dann auch wirklich so rüber gebracht, dass man es am Ende verstanden hat oder auch nicht. Aber es war halt eine ganz andere Form, miteinander umzugehen.“695 Die durch die kritischen Sozialarbeiter erfahrene Behandlung bedeutete ein Ernstnehmen der Jugendlichen und zog eine erstaunliche Aktivität für die eigenen Belange nach sich, welche Corinna Fast mit der Bemerkung beschrieb, man sei geschult worden, bei der Sammlung von Unterschriften in den Kneipen „nett und freundlich“ zu sein. Klar blieb allerdings auch für die vom niedersächsischen Kultusministerium eingesetzte „Kommission Erziehungsheime“, dass es einer Reform der Heimerziehung bedürfe. Insbesondere die Handhabung der Heimaufsicht über das Mädchenheim Birkenhof wurde als Konfliktmodell bezeichnet, denn das „veraltete Erziehungskonzept und die angreifbare Erziehungspraxis des Birkenhofs“ war durch Heimaufsichtsbesuche bekannt. So waren bereits Mitte 1974 Beanstandungen vorhanden gewesen, die zu Gesprächen mit der Heimleitung geführt und eine Erneuerung der Erziehungskonzeption mit sich gebracht hatten. Allerdings hatten die begrenzten Eingriffsmöglichkeiten der Heimaufsicht und die Angst des Landesjugendamts, der Birkenhof würde „bei rigoroser Handhabung der Heimaufsicht“ keine Mädchen mehr aufnehmen, zu einer entsprechenden Zurückhaltung geführt. Zudem stellten auch die Landesverbände der freien Wohlfahrtspflege zu jener Zeit die Kompetenzen der Heimaufsichtsbehörden grundsätzlich in Frage.696 Der Birkenhof fühlte sich von diesem Bericht diffamiert – wurden doch die Missstände fast selbstverständlich als zutreffend vorausgesetzt –, sodass er noch eine Gegenpresseerklärung machte. „Wir können darin nur den Versuch der Rehabilitierung der Landesbehörden auf Kosten einer Einrichtung eines Freien Wohlfahrtsverbandes sehen.“697 Allerdings war deutlich geworden, dass an einer Veränderung des Birken695 696

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Interview Corinna Fast [Aliasname] (15.12.2010), Transkript, S. 14. Bericht der vom niedersächsischen Kultusminister eingesetzten Kommission Erziehungsheime (unveränderte Fassung v. 23.2.1979 in: HAB, Birkenhof 8 [auch in: HAB, Birkenhof 18]. Birkenhof Presseinformation: Von „Mißständen“ im Birkenhof war nie die Rede. Kommissionsbericht einseitig und zum Teil inkonsequent [ca. März 1979], in: HAB, Birkenhof 8.

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hofs kein Weg vorbei führte. Die Arbeit wurde seit 1980 mit 32 Plätzen in vier geschlossenen Gruppen fortgesetzt. Doch dauerte die sukzessive Umstrukturierung der Arbeit in offene Mädchengruppen noch bis 1989.698 Fazit Der Birkenhof in Hannover war ein umfassender Anstaltskomplex, der bereits eine große Differenzierung in verschiedene Häuser auswies und sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiter differenzierte. Er gliederte sich eine Heimerzieherinnenschule an, um den Personalmangel an bewusst „christlichem“ Personal auszugleichen. Auch wenn die Diakonissen des Henriettenstifts mit der Zeit von weltlichem Personal ersetzt werden konnten, arbeitete die Einrichtung doch mit einem hohen Anteil an Praktikantinnen. Die rigiden Heimregeln, die hier von der Aufnahme bis zur Flucht, die in den 1970er Jahren die häufigere Form des Verlassens des Heims als eine Entlassung war, galten, änderten sich jedoch nicht wesentlich. Die Psychiatrisierung bei der Behandlung der Erziehungsschwierigkeiten in Form von Medikamentengaben an die Mädchen verwob sich mit dem wenig Freiheiten gewährenden Heimreglement und steigerte sich bis zum beschriebenen Heimskandal 1978, der eine wesentliche Neuorientierung des Birkenhofs erst einleitete.

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Vgl. Der Birkenhof. Evangelische Jugendheime, Altenheime und Schulen 1879-2004, S. 33.

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5.4.8 Die Herzogsägmühler Heime (Bayern)699 – Bewahrung und Arbeit Die Geschichte der Einrichtung Im Jahr 1894 entstand aus fünf Bauernhöfen eine „Arbeiterkolonie“ für heimat- und wohnungslose Männer in Peiting. Die Einrichtung besaß, ähnlich wie andere Arbeiterkolonien, eine strenge Hausordnung, welche die dort unterkommenden obdachlosen Wanderer zu Sauberkeit, Disziplin und Arbeitsamkeit anhalten sollte.700 Als im Zuge der Umorientierung der Fürsorgepolitik in der Zeit des Nationalsozialismus die finanziellen Schwierigkeiten der Arbeiterkolonie Herzogsägmühle immer größer wurden, gliederte sich der Trägerverein in den 1934 neugeschaffenen „Landesverband für Wanderdienst“ (LVW), ab 1939 Wanderdienst und Heimatdienst, unter SA-Obersturmbannführer Alarich Seidler ein. Insbesondere das bayerische Fürsorgerecht war durch die seit 1934 geltende bayerische Wanderordnung äußerst autoritär ausgerichtet und diente der rassistischen Verfolgung der so genannten „Asozialen“ in der NS-Zeit. So sahen die Ausführungsbestimmungen des Bayerischen Fürsorgegesetzes in ihrer Fassung vom April 1935 vor, dass eine „Arbeitsunterbringung auch in Fällen angeordnet werden [kann], in denen nur die Notwendigkeit öffentlicher Unterstützung naheliegend droht“.701 Die so genannten „Bettleraktionen“ 1936 und 1938 verbrachten viele als „Asoziale“ geltende Wanderer in die Konzentrationslager und auch in die nunmehr als „Zentralwanderhof “ firmierende Herzogsägmühle.702 In der Einrichtung herrschte eine Atmosphäre, die durch „militärischen Kommandoton und rabiates Befehlsgehabe, das sich vor allem gegen die Schwachen richtete“, bestimmt war.703 Der von früh bis spät 699

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Der Name der Einrichtung lautet seit 1984 nur noch „Herzogsägmühle“, weil das Ortsverständnis in den Mittelpunkt rückte. Vgl. Annette Eberle, Die Arbeiterkolonie Herzogsägmühle. Beiträge zur Geschichte der bayerischen Obdachlosenhilfe, Peiting, 1994. Zitert nach Annette Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der bayerischen Obdachlosenhilfe, Peiting 1994, S. 50. Siehe allgemein zur Verfolgung der „Asozialen“ in der NS-Zeit Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 279-298; Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 138165; Matthias Willing, Das Bewahrungsgesetz (1918-1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge, Tübingen 2003. Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 98.

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reglementierte Alltag unterstrich den Straf- und Zwangscharakter des Aufenthalts. Prügel und Einweisungen ins Konzentrationslager sind nachweisbar. Es kam zu einer hierarchisierten Ernährung, bei der die Leistungsfähigen mehr erhielten und die anderen um ihr Überleben fürchten mussten. Der „Ort zum Leben“, wie die heutige Kennzeichnung der Herzogsägmühle das Ziel bestimmt, wurde zum „Ort des Leidens“.704 Seit dem Beginn der 1940er Jahre häuften sich die Einweisungen Jugendlicher im Rahmen der politisch gewollten Eindämmung der Jugendkriminalität.705 Der Ausbau bis auf eine 750 Plätze umfassende Jugendabteilung war geplant, doch wurde er nicht erreicht.706 Zwischen Juni und August 1944 waren hier rund 180 Jugendliche untergebracht und zwar Strafentlassene, überstellte Jugendliche aus dem Jugendkonzentrationslager Moringen, direkt vom Jugendamt eingewiesene, u.a. auch Jugendliche aus Wien und Lehrlinge in einer entsprechenden Abteilung. Im Jahre 1941 wurde die Einrichtung, die zu dieser Zeit dem Bayerischen Landesverband für Wander- und Heimatdienst gehörte, als eine konfessionsunspezifische Jugendhilfeeinrichtung charakterisiert. Sie nahm jugendliche Fürsorgezöglinge und Gefährdete im Alter von 15 bis 23 Jahren auf. Es existierte ein Grundbesitz von 450 ha, worunter u.a. 120 ha zum so genannten Torfwerk gehörten, 120 ha Äcker, 120 ha Wald und 90 ha Weiden umfassten.707 Ab 1942 bestand hier zudem ein so genanntes Arbeitserziehungslager für Jugendliche, das die rassistische Volksgemeinschaftskonzeption, die hier verwirklicht wurde, besonders unterstreicht. Im Februar 1945 wurde die Schließung der Jugendabteilung verkündet, da die meisten Jugendlichen zum Reichsarbeitsdienst oder der Wehrmacht eingezogen worden waren.708 In der Einrichtung Herzogsägmühle lag die Erziehungsleitung seit dem September 1942 bei Friedrich Goller, einem Diakon der Karlshö704

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So Erwin Dürr in der Einleitung der Herausgeber zu Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus. Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 53, 127, 147-165. Seit 1942 hatte die Einrichtung die Genehmigung des Regierungspräsidenten als Fürsorgeerziehungsanstalt. Genehmigung v. 24.2.1942, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge 1945-1957“. Antrag des Heimathofes Herzogsägmühle auf Überweisung von Minderjährigen zum Zwecke der FE v. 12.5.1941, in: STAM, LR Schongau 195120. Siehe auch Jugenderziehungs- und Lehrlingsheim Herzogsägmühle am Lech: Merblatt für neu aufgenommene Jugendliche, hg. von A. Seidler (1943), in: ebd. Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 147.

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her Diakonenschaft, der zuvor seit 1940 die Einrichtung Indersdorf geleitet hatte. Goller stand in der Herzogsägmühle bis 1964 an der Spitze.709 Nicht nur die Kontinuität in der Leitungsverantwortung, sondern auch beim Personal, reichte über das Kriegsende hinweg. Die Traditionen der autoritären Bewahrung bestimmten praktisch und mental auch den weiteren Weg der Einrichtung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der „Fürsorgehof Herzogsägmühle“ seit der Auflösung des LVW 1946 vom Verein für Innere Mission München weitergeführt.710 Hier nahm man zunächst nicht FE-Zöglinge, sondern Jugendliche auf, die nach der Verordnung Nr. 73 des bayerischen Ministerpräsidenten vom 15. April 1946 „als jugendliche Wanderer und Streuner eingewiesen werden“. Bis zum November 1947 waren 85 % der betreuten Jugendlichen nach dieser „Verordnung Nr. 73 zum Schutze der heimatlosen Jugend“ eingewiesen.711 Demnach konnten Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne festen Aufenthaltsort waren und nicht unter Aufsicht eines erwachsenen Angehörigen standen, in ein Heim eingewiesen werden.712 Im Februar 1947 handelte es sich um 18 volksschulpflichtige Kinder und 70 berufsschulpflichtige Jugendliche. Es war allerdings eine größere Jugendabteilung für 150 Jungen geplant. Die Jugendlichen waren, z. T. bedingt durch die Wirren der Kriegszeit, nur zwei bis drei Jahre zur Schule gegangen, und man hoffte, ihnen „Elementarunterricht“ zu erteilen und durch „Nachhilfestunden durch die Erzieher ihr mangelndes Allgemeinwissen“ zu verbessern.713 Statt einer Integration in die örtlichen Schulen sprach sich das Bezirksschulamt Schongau dafür aus, „die

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Archiv Herzogsägmühle, Personalakte Friedrich Goller. Eberle, Herzogsägmühle in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 183f. Vgl. HSM Brief : 90 Jahre Antwort auf Nöte der Zeit, in: HSM Brief o. Jg., 1984, S.140, hier S. 19. Eine eigene VO Nr. 74 erweiterte am 16.4.1946 den Kreis der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiblichen Geschlechts auf bis 25 Jahre und zielte auf Gegenden mit starker Truppenkonzentration wie München, Fürstenfeldbruck und Grafenwöhr. Die VO Nr. 75 v. 20.8.1946 sah zudem die Möglichkeit der Arbeitserziehung für Jugendliche und junge Erwachsene bis zum 25. Lebensjahr vor, wenn sie bettelten, als arbeitsscheu galten etc. (Vgl.Zahner, Jugendfürsorge, S. 110-123, bes. 111ff. und 118ff.). Herzogsägmühle an Landratsamt Schongau v. 28.2.1947, in: STAM, LR Schongau 195120. Die Herzogsägmühle galt 1947 u.a. als Spezialeinrichtung für die so genannten „Interzonenbummler“ (vgl. Erziehungsanstalt Puckenhof an Regierung Ansbach v. 17.7.1947 (als Anlage: Jahresbericht), in: STAN, Abg. 1978 Nr. 6949).

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dort eingewiesenen Jugendlichen aus erziehlichen Gründen nicht in die benachbarten Berufsschulen“ zu senden.714 Insbesondere Bayern war der Anlaufpunkt vieler obdachloser Jugendlicher aus der SBZ und späteren DDR und reagierte mit der VO Nr. 73 auch sehr selektiv auf genau diese Klientel.715 Allein in der Herzogsägmühle wurden zwischen Sommer 1946 und Sommer 1947 insgesamt 428 jugendliche Neuzugänge gezählt. Von diesen entliefen in den ersten drei Wochen allein 204, also fast die Hälfte, womit der Teufelskreis sich wiederholender Entweichungen und schließlich von Delikten, um das Überleben zu sichern, anhob.716 Der Fürsorgehof Herzogsägmühle unterhielt zudem noch eine Abteilung für Jugendliche und junge Erwachsene, die nach der VO Nr. 75 vom August 1946 zur Arbeitserziehung verurteilt waren. Im Oktober 1947 hob die amerikanische Militärregierung die beiden Verordnungen Nr. 74 und 75 auf, da sie angesichts der Beschränkung der Freizügigkeit Volljähriger wegen ihres Geltungsrahmens bis zum 25. Lebensjahr als nicht verfassungskonform angesehen wurden. Die Diskussion über eine Arbeitsdienstpflicht und später über ein Bewahrungsgesetz ging allerdings in Bayern weiter, wenn auch die VO Nr. 73 bis Mitte der 1950er Jahre zunehmend an Bedeutung verlor.717 Im Jahre 1950 begann man mit dem Aufbau einer als notwendig erkannten „Sonderabteilung für kranke und besonders hilfsbedürftige Jungen“.718 Die Zahlen der in Herzogsägmühle betreuten Jugendlichen erreichten Ende 1955 rund 300 und sanken in den nachfolgenden zehn Jahren wieder auf 220 ab.719 Leiter Friedrich Goller resümierte 1956 das Existieren einer diakonischen Komplexeinrichtung. Neben der weitergeführten traditionellen Arbeiterkolonie wurde eine Strafentlassenenabteilung und die „Betreuung psychisch abwegiger Menschen, die in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht behalten werden können, die aber 714

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Bezirksschulamt Schongau an Landratsamt v. 5.3.1947, in: STAM, LR Schongau 195120. Vgl. Kap. 5.3. Zahner, Jugendfürsorge, S. 115 In der Herzogsägmühle wurden 1955 noch 52 Zugänge und 96 Abgänge von „jugendliche[n] Flüchtlinge[n] aus dem russisch und polnisch besetztem Gebiet“ gezählt. Siehe Vermerk v. 30.8.1955, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge; Abt. Direktion 25, 1954-1962“. Jahresbericht 1950, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. HSM Brief : 90 Jahre Antwort auf Nöte der Zeit, in: HSM Brief o. Jg. [1984], S.1-40, hier S. 19f. Vgl. auch die Statistikblätter in: ADW, EEV 030.

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wegen ihrer Gemeinschaftsunfähigkeit im Familienverband oder in sonstigen Gemeinschaften nicht sein können“ genannt. Hier handelte es sich um klassische Bewahrungsfürsorge, ein Feld, für das nicht nur in Teilen der damaligen Inneren Mission bzw. Diakonie seit der Zwischenkriegszeit eine entsprechende gesetzliche Regelung ersehnt worden war. Die nach dem Krieg noch in größerer Zahl hier versorgten Schwerversehrten waren dagegen bis Mitte der 1950er Jahre fast völlig verschwunden. Als letzter und großer Bereich war allerdings die seit dem Winter 1955/56 ausgeübte Arbeit an „der erziehungsgeschädigten Jugend“ benannt. Hier unterschied Goller drei Gruppen: 1. die durch Behörden oder Eltern eingewiesenen, um in „einer christlichen Lebensgemeinschaft erzogen“ zu werden, 2. meist schon ältere körperbehinderte Jugendliche, die als „unterbegabt“ galten und nicht mehr in normalen Ausbildungsverhältnissen für Körperbehinderte unterkommen konnten und 3. die „Gruppe der geistig Gehemmten, Spätentwickler, vereinzelt auch Epileptiker“ im Haus Oberobland, die durch „besondere Therapie“ und Spezialausbildung in der Industrie zu einfachen Tätigkeiten angelernt werden sollten. Neben der Arbeit in Landwirtschaft und Garten gab es eine Volksschule, eine Berufsschule und eine „Sonderschule für die geistig Gehemmten“. Als Erfolgsgaranten sah Goller die „christliche Gemeinschaft“ an, welche er in der Herzogsägmühle zu schaffen hoffte.720 Das pädagogische Personal in der Ende 1956 rund 275 Jugendliche in 8 Häusern umfassenden Einrichtung umfasste 3 Hausväter (2 Diakone), 4 Hausmüttter (1 Diakonisse), 1 ausgebildeter Erzieher, 2 nicht ausgebildete Erzieher, 1 Krankenpfleger, 1 Krankenschwester, 5 Diakoniepraktikanten, 2 Wohlfahrtspflegepraktikanten, 1 juristischer Praktikant. Der Anteil der Praktikanten am 20-köpfigen pädagogischen Personal betrug damit 40 %. Der schnelle Wechsel wurde als besonderes Hindernis für die Aufrechterhaltung einer „Tradition“ und „guten Ordnung“ gesehen.721 Bis Ende 1960 verbesserte sich die Betreuungssituation auf 29 Mitarbeiter, worunter sich allerdings vier Erziehungspraktikanten, ein Krankenpflegerpraktiktant, zwei Wohlfahrtspfleger-Jahrespraktikanten, vier Diakonenschüler und fünf Mitarbeiter im Diakonischen Jahr befanden.722 Damit waren mehr als die Hälfte der 720

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Friedrich Goller, Herzogsägmühle. Von der Arbeiterkolonie zum modernen Fürsorgehof, in: Blätter für Innere Mission in Bayern 9 (1956), H. 7/8, S. 47-48. Bericht der Jugendabteilung IV. Quartal 1956, in: Achiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. Statistisches aus der Jugendabteilung v. Jahre 1960, in: ebd.

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pädagogischen Mitarbeiter im Praktikantenstatus. Daneben existierten in den Werkstätten Meister und Gesellen als Arbeitserzieher, die meist keine pädagogische Ausbildung hatten. Die Struktur der Belegung, der Heimalltag und die Überlastung des Personals Den Einblick eines Externen in den Heimalltag vermittelt der Praktikumsbericht eines jungen Studenten aus dem Jahr 1960. Er war im Haus Obland, wo 60 überwiegend psychisch kranke und geistig behinderte Jugendliche im Alter von 14 bis 22 Jahren untergebracht waren, die z. T. auch in FE standen. Er wurde nicht direkt in die Betreuung eingespannt und hatte Zeit, Kontakt mit den Jugendlichen zu knüpfen. Dies stand nach seiner Beobachtung im Gegensatz zu der ansonsten herrschenden „starke[n] Anspannung der Erzieher, die praktisch die ganze Hausarbeit und Gartenarbeit usw. mit erledigen müssen“. Er nahm wahr, dass gerade anspruchsvolle Jugendliche zu wenig Ansprache hatten und dies durch Cliquenbildung mit „halbstarkem Gebaren“ kompensierten. Auch das Klima unter den Erziehern war keineswegs gut, was nach seiner Beobachtung seinen Hintergrund darin hatte, dass der Hausvater nicht formell in seine Position eingesetzt war. Viele der Jugendlichen waren nicht für ein Anlernverhältnis geeignet und mussten beschäftigt werden. So nahm sich jeder Erzieher recht wahllos bestimmte Jungen zu verschiedenen Arbeiten. Dadurch fand keine geplante Anlernung oder gar eine manuelle Beübung der Ungeschickten statt. „Ich habe übrigens Jungens in der Küche angetroffen, die seit einem halben Jahr dort alle Arbeiten verrichten, obwohl sie absolut normal begabt sind, lediglich vielleicht Spätentwickler usw., die man jedenfalls schon längst an einen ordentlichen Arbeitsplatz hätte bringen müssen. Die Ursache dieser für die Jungen nachteiligen Beschäftigungsart: sie sind die wenigen zuverlässigen, so dass man gerade sie hindert, in die HSMWerkstätten zu gehen und einen Beruf zu lernen, jedenfalls zeitweise.“ Auch die Schule in Obland empfand er als ungünstig. Der in drei Gruppen zu je sieben Schülern erfolgende Unterricht durch einen Lehrer (Theologe) überzeugte ihn nicht. Er meinte, dass mehr Anschauungsmaterial notwendig wäre, die Schule allerdings eine Art „Stiefkind“ der Einrichtung sei. Der Lehrer, der von anderen gemieden wurde, hatte einen guten Draht zu den Jungen, doch kam er von Ausflügen nach Schongau mit einer „Fahne“ zurück.

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Vom Arbeitsamt München komme regelmäßig ein Berufsberater („Testologe“), der 20 Jungen nach einheitlichem Schema durchteste, worauf viel Wert gelegt werde. Doch man müsste nach seiner Meinung, um zuverlässige Aussagen zu treffen, die Jugendlichen mehrere Wochen an verschiedenen Arbeiten prüfen. Die unglückliche Improvisation der einzelnen Hausväter im Rahmen einer „Routinepsychologie“ führe dazu, dass die Jungen sich bei leichten Arbeiten gut anstellen und die schwierigen vermeiden. Die Einrichtung war nach dem Eindruck des Praktikanten „zu umfänglich geworden“. Er kritisierte, dass keine Erzieherbesprechungen stattfänden und nur die Hausväter an die Leitung berichten. So genannte „Erzieherabende“ dienten mehr der Freizeit als der Fachsimpelei. Die Erzieher sprechen die Praktikanten von oben herab an. In der Einrichtung fand eher „Jugendbetreuung“ mit Äußerlichkeiten wie „saubere Hände und ordentliche Arbeit“ als „Jugenderziehung“ statt. Der Einzelne stehe hier nicht im Mittelpunkt. Dagegen habe er es auf Grund der Möglichkeit, sich einlassen zu können, geschafft, vielen Jugendlichen das Schachspiel beizubringen oder auch einen Jungen, der nicht stillsitzen konnte, mit einer Laubsägearbeit zu beschäftigen. Auch in der Schule bestehe ein Bedürfnis nach Privatunterricht. Trotz der Mängel wären die Herzogsägmühler Heime für eine „neuzeitlichere Pädagogik“ im Gegensatz zu anderen Erziehungsanstalten, die von Mauern und Stacheldraht umgeben seien, gut geeignet. Auch die Jungen fühlten sich allgemein recht wohl, die Verpflegung sei gut, und die Erzieher „prächtige junge Leute“ aus der Diakonenanstalt Karlshöhe.723 Eine „Sozial-Analyse 1961“ über die Minderjährigen in Herzogsägmühle wies aus, dass die 265 Jugendlichen zu 31 % der FE, zu 45 % der FEH unterlagen und zu 24% auf Grund der „Geistesgebrechlichenund Körpergebrechlichenfürsorge“ finanziert wurden.724 Insgesamt kamen 86 % der FE/FEH-Zöglinge im Alter von 14 bis 18 Jahren zu den Herzogsägmühler Heimen.725 Der Anteil der Einweisungen aus Bayern war gegenüber dem letzten Bezugsjahr (1959) von 71 % auf 57 % zurück723

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Siegfried Fick (Herzogsägmühler Heime) an Pfarrer Kolb (Landesverband Innere Mission) v. 1.4.1960, in: ELKAN, DW Bayern 1618. Herzogsägmühler Heime – Jugendabteilung: Soziale Analyse 1961, in: Archiv Herzogsägmühle, Personalakte Wilhelm Decker. Obwohl keine besonderen Plätze für die 18-21-jährigen bestanden, stellten diese doch 1962 rund 23 % der in FE und FEH befindlichen Minderjährigen in der Herzogsägmühle, die meist in längerer Berufsausbildung begriffen waren. (Herzogsägmühler Heime an EREV v. 5.7.1962, in; ADW, EEV 045.)

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gegangen, was auf die verstärkte Anwendung der FEH in anderen Bundesländern und die vielseitigen Berufsbildungsmöglichkeiten des Heims zurückgeführt wurde.726 Die Einrichtung hatte mit 81 verschiedenen Kostenträgern und 40 Selbstzahlern abzurechnen. Der Anteil der Flüchtlinge unter den Minderjährigen lag mit 29 % um rund 5 % höher als in der Gesamtbevölkerung. Bedingt durch einen fast halben Anteil (45 %) katholischer Minderjähriger an den auf Grund der „Geistesgebrechlichen- und Körpergebrechlichenfürsorge“ finanzierten Jugendlichen lag der Anteil der katholischen Minderjährigen insgesamt bei 22,5 %. Bei den Berufen der Väter – soweit sie überhaupt feststellbar waren – fiel neben der Herkunft aus der breiten Mittelschicht vor allem ein hoher Anteil von Rentnern auf, was auf deren Kriegsversehrung hindeuten könnte. Den überdurchschnittlichen Anteil berufstätiger Mütter von 48 % statt 30 % in der Gesamtbevölkerung interpretierte die „Sozial Analyse“ als Hinweis auf eine „Doppelbelastung“ der Mütter. Zudem sah man eine vermutete Überforderung der Mütter in kinderreichen Familien mit vier und mehr Kindern, deren Anteile sehr hoch waren – insgesamt 34 % statt nur 8 % im Bundesdurchschnitt. Ein Drittel der Jungen waren auf Grund des Todes von Vater oder Mutter Waisen. „Ein Viertel der erziehungsschwierigen Jungen sind also Scheidungswaisen, haben wenig oder gar keinen Kontakt mehr zu einem Elternteil, erlebten z. T. schon in früher Kindheit die vorausgehenden, oft lange sich hinziehenden Zerwürfnisse mit oder wurden gar im Scheidungsprozeß selbst zu Zeugenaussagen herangezogen.“ Über die Hälfte der Betreuten war zuvor für kürzere oder längere Zeit in Heimen untergebracht gewesen, davon waren die FE/FEH-Zöglinge zu 26 % einmal, zu 24 % zwei- und dreimal und zu 16 % vier- bis achtmal zuvor in Heim- oder Pflegestellen untergebracht gewesen. Die „Sozial Analyse“ warnte allerdings davor, hier einen Kurzschluss von den Belastungen auf „Ursachen“ des Fehlverhaltens vorzunehmen und sprach davon, dass es den Betroffenen nicht gelungen sei, „sich mit der Beeinträchtigung fruchtbar auseinanderzusetzen“. Bei den Auffälligkeiten dominierten mit 67 % Diebstähle (13 % schwere Diebstähle), 46 % Streunen mit Schwänzen von Schule oder 726

So waren z. B. die im Jahr 1957 einweisenden Länder: Bayern 179, Baden-Württemberg 17, Hessen 12, Rheinland-Pfalz 2, Berlin 3, NRW 1, privat 83. Durch die Erhöhung der Pflegesätze in diesem Jahr um fast 40 % ging die Zahl der privaten Selbstzahler seitdem sehr zurück. (Vgl. Anhang zum IV. Quartalsbericht 1957 – Jugendabteilung v. Febr. 1958, in: Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (19501969)“)

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Arbeit, 20 % unbefugtes Benutzen fremder Kraftfahrzeuge und 13  % sittliche Auffälligkeit. Nur bei 4 % war die Zugehörigkeit zu einer „Bande“ feststellbar, und nur zu 60 % der erziehungsschwierigen Jungen gingen Berichte von Ämtern oder Heimen ein, doch dies oft erst nach Wochen oder auf dringende Nachfrage. Die Zahl der Entweichungen war mit 102 (51 %) relativ hoch, wobei die Zahl der missglückten Versuche und der Fälle, in denen die Betreffenden am selben Tag zurückgebracht wurden, nicht gezählt wurden. Ein Problem stellten für die Erzieher die 11 % der Jungen dar, die mehrfach entwichen und unterwegs straffällig wurden.727 Die erhobenen Gründe – jeder Zurückkehrende hatte einen Bericht zu schreiben – für das Weglaufen lagen außer in allgemeiner Unzufriedenheit und Heimweh insbesondere im zu geringen Taschengeld und in der z. T. langen Wartezeit auf eine endgültige Ausbildung. Die Versetzung von der Aufnahme-Abteilung in eines der Heime galt als kritischer Zeitpunkt.728 Ein Jahr vor dem plötzlichen Tod von Direktor Friedrich Goller entstand im April 1963 eine streng vertrauliche Ausarbeitung über „Die Erziehungssituation in Herzogsägmühle und daraus abzuleitende zwingende Forderungen“, in welcher leitende Mitarbeiter der Herzogsägmühler Heime den zu jenem Zeitpunkt empfundenen Reformbedarf der Einrichtung aus einer Innenperspektive beschrieben.729 Die Ausarbeitung ist vom Erziehungsleiter der Einrichtung, Wilhelm Decker, mitverfasst worden, der Friedrich Goller dann nach dessen Tod ein Jahr später nachfolgen sollte. Mit Bezug auf die in den „Sozial Analysen“ festgestellten schwierigen Herkünfte und den intensiven Betreuungsaufwand der Jugendlichen, monierte man, dass der Hausvater für 60 bis 70 Burschen nur die „Karikatur des Vaterbildes“ sein könne, zumal die ihm beigeordneten Gruppenerzieher „unerfahrene Praktikanten“ wären. Ein Drittel der Jugendlichen seien über 18 Jahre alt, zwei Drittel der Erzieherpraktikanten unter 22 Jahre. Diese könnten sich nicht durchsetzen bzw. nur „in autoritärer Weise und mit fraglichen Mitteln der Disziplin“ kämpfen. Ein Drittel der Jugendlichen bringe zudem „schwere seelische Störungen und Fehlhaltungen“ mit, denen nur durch fachlich 727

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Siehe auch das zeitgenössische Rundschreiben betr. Entweichungen aus Herzogsägmühle v. 27.9.1960, in: ebd. Herzogsägmühler Heime - Jugendabteilung: Soziale Analyse 1961, in: Archiv Herzogsägmühle, Personalakte Wilhelm Decker. Die Erziehungssituation in Herzogsägmühle und daraus abzuleitende zwingende Forderungen v. April 1963), in: Archiv Herzogsägmühle, Personalakte Wilhelm Decker.

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vorgebildete Erzieher begegnet werden könne. Der häufige Wechsel der Erziehungspraktikanten erschwere die Lage zusätzlich, nicht nur für die Erziehenden, sondern auch für die bindungsgestörten Jugendlichen. Die Gruppen seien mit 20 bis 28 Jugendlichen zudem zu groß für die Betreuung durch einen Praktikanten – im Ellener Hof in Bremen habe eine Gruppe nur 15 Jugendliche mit Hausvater und Praktikanten. Bei Urlaub oder Krankheit verschärfe sich die Personallage zusätzlich. Abends habe ein Erzieher meist in zwei oder gar drei Gruppen „für Ordnung zu sorgen“. Die Bastel- und Sportmöglichkeiten seien unzureichend, eine Sporthalle nicht vorhanden. „Die Langeweile leistet Zubringerdienste für den Staatsanwalt.“ So würde „Raubbau“ mit den Mitarbeitern betrieben. Nicht nur die Erzieherpraktikanten würden dadurch vom Beruf abgeschreckt, auch der Hausvater habe zu oft den „Schwarzen Mann“ zu spielen und „als ‚Inhaber der Gewalt‘ Notwehrmaßnahmen“ zu treffen, um die Disziplin wieder herzustellen. Wesentliche Aufgaben, wie z. B. eine Sexualpädagogik, blieben auf der Strecke. Selbst der Anstaltspfarrer, der sich an der Abfassung der Denkschrift beteiligt hatte, meinte, dass „die christliche Nächstenliebe bei uns durch die geschilderten Mißstände unglaubhaft wird“, das „Christliche droht zum Anstrich zu werden“ und führe bei den Jugendlichen zur Ablehnung („Meidet christliche Heime“). Insgesamt sei der pädagogische Sektor gegenüber den materiellen Grundlagen in den Werkstätten zurück geblieben. Deswegen forderte man für die Heime, das Lehrlingsheim und den Weiherhof ebenso wie für die landwirtschaftliche Gruppe neben dem Hausvater einen voll ausgebildeten und voll einsatzfähigen Erzieher, dem die Praktikanten zugeteilt wären. Auch dem Erziehungsleiter sei ein zweiter Mann zur Entlastung beizustellen. Zur Anwerbung von Personal sei zudem der Wohnungsbau für Erzieher zu intensivieren und die erst in zwei bis drei Jahren geplante Beobachtungsabteilung im Bau vorzuziehen. Ein hier bereits angesprochenes Problem in der Einrichtung stellte die Gewalt dar. Wie bereits oben erwähnt, galt die körperliche Züchtigung als ultima ratio in der Heimerziehung in Bayern. Auch aus den Erzieherkonferenzen der Herzogsägmühle sind positive Äußerungen zur körperlichen Züchtigung überliefert.730 Auch in einem Konfliktfall mit dem Stadtjugendamt München 1951, bei dem Jugendliche sich über zu wenig Essen und Schläge beklagt hatten, wurde im Konzept einer 730

Siehe die Auswertung bei Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, S. 46-48. Sie hatte im Wesentlichen Material aus dem Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“ zur Verfügung.

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Antwort von einem Hausvater zugegeben, dass er „in einem Fall mehrere Jugendliche körperlich gezüchtigt“ habe, weil sie ihren Ausgang überzogen hatten.731 Als das oben erwähnte Rundschreiben des Evangelischen Erziehungsverbandes in Bayern über die Frage der Züchtigung 1955 im Entwurf an Friedrich Goller gesandt wurde, machte dieser in seiner Stellungnahme deutlich, dass er einer Verpflichtungserklärung der Erzieher, wonach diese nicht schlagen sollten, beipflichten würde. „Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir ganz ohne eine Körperstrafe nicht auskommen, dass ein derartiges Strafmittel aber nur dem Anstaltsleiter bzw. seinem Vertreter zusteht.“732 Eine entsprechende Erklärung galt es nachfolgend auch in Herzogsägmühle durch die Erzieher und Arbeitserzieher zu unterschreiben. Allerdings ist hier überliefert, dass die Schreinergehilfen Angst hatten, juristisch zur Rechenschaft gezogen zu werden, weshalb sie eine Unterschrift bis in den Herbst 1956 verzögerten. Zudem wurde deutlich, dass sie befürchteten, bei Beschädigungen ihrer Motorräder und Fahrräder durch Jugendliche keine wirksamen Sanktionsmittel mehr zu besitzen.733 Ein anstaltsinternes Rundschreiben erinnerte aus „Veranlassung“ 1961 daran, dass das Züchtigungsrecht nur dem „jeweiligen Hausvater und Heimleiter“ zustehe und die Benutzung irgendwelcher „Hilfsmittel“ keine „Deckung“ durch die Heimleitung erfahre.734 Trotz des hierin sichtbaren Versuches der Leitung, die Gewalt in der Einrichtung einzugrenzen, blieb für die Jugendlichen die Gefahr, selbst Opfer der körperlichen Gewalt von Erziehenden oder auch anderer Jugend-

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Herzogsägmühle an Kreisjugendamt Schongau v. 10.1.1951 betr. Klagen von Jugendlichen beim Stadtjugendamt München (Schreiben v. 5.12.1950) [Konzept], in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge 1945-1957“. Im schließlich abgesandten Schreiben fehlte dieser Passus. Fürsorgehof Herzogsägmühle an Kirchenrat Nägelsbach v. 11.7.1955, in: ELKAN, DW Bayern 1629. Betreff: Züchtigungsrecht – Gespräch mit Schreinergehilfen v. 11.10.1956, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. Rundschreiben betr. Körperliche Züchtigung v. 4.8.1961, in: ebd. Im November berichtete ein in Schongau Religionsunterricht erteilender Vikar, dass die Burschen über die Einrichtung sehr schimpfen würden und es „Hausväter gibt, die mit dem Schlüsselbund zuschlagen, wenn man blaue Flecken bekomme, werde man so lange eingesperrt, bis sie verschwunden sind“ (Erzieherbesprechung am 13.11.1961, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge; Abt. Direktion 25, 1954-1962“).

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licher zu werden.735 Im November 1961 wurde in der Erzieherbesprechung unter dem Stichwort „Volksjustiz“ von einer Gruppenkeile für Ausreißer berichtet, die mit Wissen der Erzieher stattfand. Die betroffenen Jugendlichen mussten auf die Krankenstation.736 Nicht nur dieser Umstand, sondern auch die oben erwähnte hohe Entweichungsquote737, verwies auf den erwähnten Personalmangel. In den folgenden Jahren lässt sich eine Zunahme der Klagen der Bevölkerung über die in den Herzogsägmühler Heimen lebenden Jugendlichen feststellen. Im Jahre 1962 hatte dies seinen Hintergrund noch in dem Mord, den ein als Obdachloser eingewiesener 21-jähriger Zögling an der Witwe des früheren Inspektors der Heime beging. „Telefonanrufe erreichten uns, in denen erklärt wurde, daß die Betreuten der Herzogsägmühle am besten vergast werden sollten.“ Der erste Bürgermeister von Schongau regte an, ob die Zöglinge nicht „kaserniert“ werden sollten.738 Zwar beruhigte sich das Aufsehen, das dieser Fall erregte, wieder, doch stieß die Gewährung von Ausgang und Freiheiten für die Heimbewohner seit Mitte der 1960er Jahre auf Ablehnung in der Bevölkerung, die sich z. T. mit dem Gebaren von pubertierenden und delinquenten Jugendlichen konfrontiert sah.739 Teilweise spiegelten sich darin aber wohl auch die Ängste und Unsicherheiten der Menschen, die manchmal ohne Anhalt für Vorkommnisse und Delikte in der Umgebung das Heim und die dort lebenden Jugendlichen verantwortlich machten.740 735

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Siehe hierzu auch: Vermerk betr. Erziehungssituation (Ilg, 25.5.1962), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“; Bericht Schreiner Xaver Meichelböck v. 2.10.1964 oder Bericht Franz Eichinger (Schreinerlehrling) an Jugendabteilung v. 1.3.1965, in: Archiv Herzogsägmühle, Hefter (hellbraun) „Personelle Unterlagen Schreinerei“. Erzieherbesprechung am 13.11.1961, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge; Abt. Direktion 25, 1954-1962“. In jeder Abteilung lag diese 1960 monatlich bei mehr als 10 %. Vgl. Rundschreiben betr. Entweichungen aus Herzogsägmühle v.27.9.1960, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. Siehe Mord aus der Herzogsägmühle, in: Blätter für Innere Mission in Bayern 15 (1962), H. 2/3, S. 24-25 u. 26-28. So betrug im Jahre 1965 der Anteil der Heimbewohner an einfachen Diebstählen nach polizeilichen Ermittlungen im Bereich der Landpolizeidirektion 15,5 %, an Sittlichkeitsdelikten 20 % und an der Ingewahrsamnahme von Betrunkenen 80 %. (Bayerische Landpolizei, Insp. Schongau an Decker v. 5.3.1965, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“). Siehe Vermerk betr. Schlägerei zwischen dem Sohn von Fam. Mehner und einem jungen Mann am 6.7.1968 (8.7.1968), in: ebd. Hier konnte kein Jugendlicher aus der Herzogsägmühle ermittelt werden.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Seit 1965 fanden regelmäßige Besprechungen zwischen den Beamten der Landpolizei-Großraumstation und Mitarbeitern der Herzogsägmühler Heime statt.741 Die vermeintlich gestiegene Straffälligkeit der Herzogsägmühler Bewohner beruhte demnach wesentlich auf den hier weiterhin befürsorgten Alkoholikern und darauf, dass gerade in Herzogsägmühle eine verhältnismäßig hohe Aufklärungsquote bestand, da die von den Jugendlichen begangenen Delikte oft gemeinsam begangen wurden.742 Auch innerhalb Herzogsägmühle stieg in jenen Jahren offenbar die Zahl der Vorkommnisse, bei denen die Jugendlichen ein gestärktes Selbstbewusstsein und wenig Angst vor Bestrafung zeigten. Dies lässt sich als Vorbote der Veränderungen deuten, die seit 1969 auch im süddeutschen Raum zu Aktivitäten von Studenten und kritischen Sozialarbeitern zur ‚Befreiung‘ der Heimjugendlichen führten. Die Arbeit und die Sozialversicherungspflicht der Heimzöglinge – der Musterprozess Die Herzogsägmühler Heime waren eine Einrichtung, die besonders auf die Berufsausbildung der hier untergebrachten Jugendlichen setzte. Die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt galt als Kernbereich für eine gesellschaftliche Eingliederung. Arbeit war, wie bereits oben erwähnt, auch in der NS-Zeit als wesentliches Element zur Bewertung der Zöglinge herangezogen worden. Auch nach 1945 galt die Verweigerung von Arbeit, die Arbeitsunlust und das Vagabundieren ohne Arbeit wie auch der häufige Arbeitsplatzwechsel als eines der Kriterien, das eine Zuweisung in die FE nach sich ziehen konnte. Entsprechend galt die Erziehung zur Arbeit, zu Pünktlichkeit, Fleiß etc. als eines der Erziehungsziele der öffentlichen Erziehung. Im Heim selbst besaß Arbeit zudem die Funktion der Beschäftigung der Betreffenden und war damit nicht nur Erziehungsmittel sondern auch Erziehungszweck.743 741

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Protokoll über die Besprechung zischen den Beamten der Landpolizei-Großraumstation und Mitarbeitern der Herzogsägmühler Heime am 12.5.1965, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Landpolizei Schongau, Weilheim“. Protokoll über die Besprechung zwischen den Beamten der Landpolizei-Großraumstation und Mitarbeitern der Herzogsägmühler Heime am 16.2.1967, in: ebd. Siehe ausführlich hierzu: Judith Pierlings, Arbeit in der Heimerziehung und die Frage nach Entlohnung und Sozialversicherung, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 327-379; Pfordten/Wapler, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, S. 71-79; zeitgenössisch Bernhard Kraak, Arbeitserziehung im Heim (aus: Das Bruderhaus Nr. 36, März 1958), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“.

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Abb. 14: Fürsorgehof Herzogsägmühle, Holzlehrwerkstatt ca. 1957

Die bis 1957 noch unter dem Namen „Fürsorgehof Herzogsägmühle“ firmierende Einrichtung – danach „Herzogsägmühler Heime“ genannt – besaß 1954 neben einer Anstaltsberufsschule mit 100 Schülern – andere berufsschulpflichtige Jugendliche besuchten ab Lehrbeginn die Verbandsberufsschule – auch Werkstätten mit Ausbildungsmöglichkeiten in der Gärtnerei, Landwirtschaft etc., Anlernung in der Sägerei, in der Forstwirtschaft und einen Grundausbildungslehrgang Metall mit acht bis zehn Plätzen. Zudem existierte ein Handelskurs für „gebrechliche“ Jugendliche, die aber ausreichende geistige Fähigkeiten für Büroarbeiten, Pförtner- und Telefondienst besaßen.744 Die noch bis 1957 bestehende Mädchenabteilung wurde auslaufen gelassen und eine Aufnahmeabteilung mit 16 Plätzen fertig gestellt. Zudem wurden 1957 neue Werkstattgebäude errichtet. Für das Folgejahr war eine „geschlossene Abteilung“ mit 16 Plätzen geplant, die als „dringend erforderlich“ bezeichnet wurde.745 Die Notwendigkeit einer Berufsbildung wurde vom Heim nachfolgend immer stärker verfolgt.746

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Übersichtsbogen Herzogsägmühle v. 1954, in: ELKAN, DW Bayern 1629. Übersichtsbogen Herzogsägmühle v. 30.11.1957, in: ebd. Vgl. Zum Jahresbericht 1960 (Friedrich Goller, 9.6.1960), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

In den Herzogsägmühler Heimen, die nach eigenen Angaben zu 65  % von „Umwelt- und Erziehungsgeschädigten“ belegt waren, bestanden 1960 in 18 Werkstätten insgesamt 19 Beschäftigungsgruppen, die handwerkliche Lehr- und Anlerntätigkeiten verrichteten.747 Angesichts des Wandels der Berufsfelder löste man die Schuhmacherei auf und fasste die Bürstenbinderei mit einer Mattenflechterei zu einem reinen „Beschäftigungsbetrieb für Berufsschwache, Lebensschwache und meist ältere Betreute“ zusammen. Die Schneiderei wurde in Verbindung mit der Textilindustrie umgestellt und die Jugendlichen fertigten „Hosen im Akkord“. Neben der Ausbildungsmöglichkeit für „Herrenmaßschneider“ wurde noch die Anlerntätigkeit des „Herrenkleidernähers“ angeboten. Eine Firma der Kunststoffindustrie verlagerte Maschinen und Materialien in die Einrichtung, in denen die Jugendlichen in Gruppen, auch geistig und körperlich Behinderte, „industriereif “ gemacht werden sollten. „Die gemeinsame Zielsetzung der industriell gefärbten Beschäftigungsgruppen ist Training auf Schnelligkeit im Gruppenakkord (Beteiligung am Gewinn), Übung zur Geduld in andauernder gleichartiger und gleichförmiger Tätigkeit und die Steigerung kontrollfähiger Beobachtungsgabe zur Erkennung von Fertigungsfehlern.“ Als Anreiz für die Beschäftigten wurde der Aufstieg zum „Maschinisten“ geboten wie auch die Gewährung einer „Leistungsprämie“. Nach der Heimzeit sollte eine Vermittlung der so Geschulten als Hilfskräfte in die Hallen der metallverarbeitenden Industrie erfolgen. Die monotone Industriearbeit, die den Jugendlichen in euphemistischer Sprache ein „Leistungserlebnis“ vermitteln sollte, führte allerdings innerhalb der Herzogsägmühler Heime zu Spannungen bei den Lehrlingen, die gerade nicht an den Produkten ihrer Arbeit verdienen konnten. Dies hoffte man durch eine Lenkung der rechten Verwendung des „Verdienstes“ zum Sparen und der „Steuerung der Wünsche und Bedürfnisse“ in den Griff zu kriegen.748 747

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Bereits 1956 wurde im „Willkommen in Herzogsägmühle“ (ca. 1956) den Neuaufgenommenen von 28 Arbeits- und Lehrmöglichkeiten berichtet (in: ebd.). Wilhelm Decker, Arbeitserziehung und berufliche Förderung in den Herzogsägmühler Heimen, in: Sozialpädagogik 2 (1960), S. 226-229 (siehe auch Manuskript: ders., „Arbeitserziehung beim Volksschulentlassenen, Erziehungs- und Milieugeschädigten Jugendlichen“, in: ADW, EEV 219). Die Gestaltung der Heimerziehung angesichts des Strukturwandels in der gegenwärtigen Arbeitswelt. Bericht über die Tagung des AFET in Hamburg vom 5.- 8.5.1958 (neue Schriftenreihe des AFET, H. 13/1958), S. 92. Hier hatte Goller über die Erfahrungen mit „der Aufstellung von Halbautomaten für eine Zubringerfertigung in den Heimwerkstätten“ berichtet, welche die Jugendlichen selbst bedienten, aber stundenweise abgewechselt werden

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Bereits 1958 hatte man im Jahresbericht festgestellt, dass „die industrielle Weiterentwicklung der Kunststoffabteilung, der Schneiderei und der Siemens-Abteilung“ als „Reingewinn keine allzu hohen Summen abwerfen“, doch nahmen sie „einen großen Teil unserer allgemeinen Unkosten auf, und sind uns dadurch, schon rein wirtschaftlich, eine wesentliche Hilfe“.749 Die Arbeit und Beschäftigung im Heim warfen generell die Frage nach der Versicherungspflicht der hier beschäftigten Minderjährigen auf. Seit 1954 häuften sich die Anfragen verschiedener evangelischer Heime wie den Rummelsberger Anstalten oder Herzogsägmühle an das Landesjugendamt über die aktuellen Bedingungen der Sozialversicherungspflicht, da vereinzelt Probleme mit den Krankenkassen auftauchten. Nach Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 9. Dezember 1952750 war festgelegt worden, dass die Versicherungsfreiheit für Lehrlinge zwölf Monate vor dem Tage erlischt, an dem die Lehrzeit durch Zeitablauf endet. Demnach waren Lehrlinge im letzten Lehrjahr sozialund arbeitslosenversicherungspflichtig. Ministerialdirigent Ritter vom Bayerischen Staatsministerium des Innern bat deshalb die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Ende Dezember 1954 um eine Stellungnahme zur Versicherungspflicht von Lehrlingen in Erziehungsheimen. So hatte z. B. die AOK Stuttgart eine Versicherung der Lehrlinge in Erziehungsheimen nach § 165 der Reichsversicherungsordnung verlangt, andere Krankenkassen sogar Jugendliche freiwillig zu versichern. „Die Heimträger vertreten den Standpunkt, dass für alle Lehrlinge in Erziehungsheimen Versicherungsfreiheit bestehe, da Erziehungsheime keine Erwerbsunternehmungen seien und die Lehrausbildung der Erziehung als eigentlicher Aufgabe der Heime diene. Ausserdem verbiete sich die verschiedene Behandlung der einzelnen Gruppen von Jugendlichen in einem Heim aus erzieherischen Gründen.“ Zudem vertraten die Heime die Ansicht, dass die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht auch die Befreiung von der Arbeitslosenversicherungspflicht selbstver-

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mußten, da sie auf Grund der erforderlichen starken Konzentration sehr schnell ermüdeten. Jahresbericht 1958 (Friedrich Goller, 21.3.1959), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. BGBl. I, 1952, S. 790.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

ständlich nach sich ziehe.751 Die Leitung des Fürsorgehofs Herzogsägmühle erhielt z. B. im Januar 1955 ein Schreiben der AOK Schongau, das die Einrichtung zur Entrichtung von Beiträgen rückwirkend zum ersten Januar 1953 verpflichten wollte.“752 In der Stellungnahme des Bundesamtes für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zur Versicherungspflicht bzw. –freiheit von Lehrlingen in Erziehungsheimen vom August 1955 wurde die Versicherungspflicht noch differenziert beurteilt, je nachdem, ob es sich um 1. auf Grund eines vormundschaftsgerichtlichen Beschlusses untergebrachte Minderjährige, 2. auf gerichtlicher Auflage einer Bewährungsaufsicht oder 3. einer im freiwilligen Einverständnis mit dem Erziehungsberechtigten oder auf dessen Wunsch vollzogene Einweisung eines Minderjährigen handelte. Nur im ersten Fall wurde von einer Versicherungsfreiheit ausgegangen, da die Jugendlichen ja einer „Freiheitsentziehung“ unterliegen würden. In den anderen Fällen wurde die Versicherungspflicht bejaht. „Selbst wenn eine Beschäftigung aus Mitleid, Nächstenliebe oder zum Zwecke der Lebensertüchtigung vergeben wird, schließt dies nicht ohne weiteres die Versicherungspflicht aus, da der Beweggrund für die Beschäftigung versicherungsrechtlich nicht entscheidend ist.“753 Der Fürsorgehof Herzogsägmühle legte im Lauf des Jahres 1955 bei der AOK Widerspruch gegen den Bescheid der Versicherungspflicht verschiedener Zöglinge ein und reichte nach dessen Ablehnung Klage beim Sozialgericht München ein. Dieses urteilte am 3. August 1956, dass von den infrage stehenden Zöglingen, die in öffentlicher Erziehung stehenden 69 Heimlehrlinge versicherungs- und beitragsfrei sind, während die restlichen 22 nicht in öffentlicher Erziehung stehenden Lehrlinge der Sozial- und Beitragspflicht unterliegen“. Gegen die damit getroffene Feststellung einer Beitragpflicht für selbstzahlende Zöglinge und der Versicherungsfreiheit für FE- und FEH-Zöglinge klagte das Heim erneut, denn es sah hier eine Ungleichbehandlung der Zöglinge gegeben.754 751

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Ministerialdirigent Ritter an Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung v. 28.12.1954, in: BHStA, MInn Nr. 89493. Herzogsägmühle an LJA v. 10. Febr. 1955, in: ebd. Bundesamt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Günther) an Staatsministerium des Inneren (LJA) v. 8.8. 1955 betr. Versicherungspflicht bzw. – freiheit von Lehrlingen in Erziehungsheimen, in: ebd. Wie aus einem Schriftwechsel des LJA Rheinland-Pfalz mit einem Landeserziehungsheim hervorgeht, meinte man dort, dass die bundesweiten Bestimmungen

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So zog der Fall immer größere Kreise. Es wurde klar, dass die Einrichtung nunmehr einen Musterprozess für alle Heime in Westdeutschland führte, die sich durch eine Versicherungspflicht vor mögliche Nachzahlungsforderungen der Sozialkassen und damit Finanzierungsschwierigkeiten gestellt sahen. Die nächste Instanz, das Bayerische Landessozialgericht, bestätigte das Urteil des Sozialgerichts am 3. Dezember 1958 nicht nur, sondern sprach von einer Versicherungspflicht „auch für die Lehrverhältnisse der durch vormundschaftsgerichtlichen Beschluß der Fürsorgeerziehung überwiesenen Lehrlinge“.755 Mit Unterstützung des AFET, der im Oktober 1960 ein die Heime unterstützendes Gutachten beisteuerte756, und auch der Arbeitsgemeinschaft der nordwestdeutschen Landesjugendämter, die ebenfalls eine Sozialversicherungspflicht verneinten757, ging die Einrichtung in die Revision vor dem Bundessozialgericht als höchster Instanz. Doch auch das Bundessozialgericht sprach sich schließlich 1963 für die Sozialversicherungspflicht von Lehrlingen in Anstaltserziehung in vollem Umfang aus.758 Damit wurden die Heime zu einer Versicherung der Lehrlinge mit einem Lehrvertrag verpflichtet. Bei den anderen im Heim als Anlernlinge oder in anderen Arbeiten aktiven Minderjährigen bestand jedoch keine Versicherungspflicht.759 Dieser Zustand markiert die Ungleichbehandlung von z. T. in denselben Werkstätten arbeitenden Zöglingen, je nachdem, ob sie einen Lehrvertrag besaßen oder nicht. Dies führt bis in die Gegenwart bei vielen ehemaligen Heimkindern zu der Ansicht, sie seien ungerechterweise nicht sozialversichert worden, denn nur eine Minderheit der in den Heimen arbeitenden Jugendlichen war mit einem Lehrvertrag ausgestattet. In der Herzogsägmühle bestand seit dem Beginn der 1950er Jahre ein differenziertes Punktsystem, das über die Höhe des den Jugendli-

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auch die Versicherungspflicht von FEH-Zöglingen einschließen würden. (Vgl. LJA Rheinland-Pfalz an das Landeserziehungsheim St. Josef in Landau-Queichheim v. 24.2.1956, in: ebd.) Siehe die auszugsweise Abschrift des Urteils, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „AFET; Sozialversicherungsaussschuss“. Gutachten des AFET v. 24.10.1960, in: BHStA, MInn Nr. 89493. LVR an Verein für Innere Mission München v. 12.8.1960, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „AFET; Sozialversicherungsaussschuss“. Landesverband IM Bayern an Herzogsägmühler Heime v. 7.3.1963, in: ebd; Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern an das LJA v. 2.5.1963, in: BHStA, MInn Nr. 89493. Vgl. Pierlings, Arbeit in der Heimerziehung, bes. S. 373-378.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

chen ausbezahlten Taschengeldes bestimmte. In eigens erstellten Beurteilungsbögen wurden die Leistung und das Sozialverhalten der Minderjährigen mit Punkten bewertet und damit verrechenbar gemacht.760 Der mit der Zeit eingeführte „Grundbetrag“ des Taschengeldes, der nicht mehr gekürzt werden durfte, wurde 1960 in seiner pädagogischen Qualität angefragt, da viele Minderjährige damit zufrieden waren und die zusätzlichen, nur auf ihr Festkonto eingehenden Beträge gar nicht schätzen konnten.761 Laut einer Erzieherbesprechung im November 1961 gab es allerdings gerade über das geringe Taschengeld die lautesten Klagen.762 Nach der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961 wurde den Minderjährigen in Herzogsägmühle ein so genanntes „Behördentaschengeld“, abgestuft nach Altersklassen gewährt.763 Das HSM-Taschengeld gemäß dem Punktsystem nach „Ordnung, Betragen, Pünktlichkeit, Leistung“ gab es daneben weiter. Eine Änderung hin zu einer Ausbildungsvergütung auch für nicht in Lehrverhältnissen befindliche Minderjährige brachte erst das Berufsbildungsgesetz vom August 1969 mit sich. „Nach § 10 Abs. 1 Berufsbildungsgesetz vom 14.8.1969 (BGBl. I S. 1112) hat der Ausbildende (Lehrherr) dem Auszubildenden (Lehrling) eine angemessene, mindestens jährlich ansteigende und nach dem Lebensalter zu bemessende Vergütung zu gewähren. Von dieser Regelung sind auch Einrichtungen nicht ausgenommen, in denen Minderjährigen Hilfen nach dem BSHG oder JWG gewährt werden.“764 Anstelle des Taschengeldes der Behörden wurde nunmehr eine monatliche Barleistung als Ausbildungsvergütung, gestaffelt nach Lehrjahren gewährt 760

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Vgl. Erzieherbesprechung am 16.4.1951, in: Ordner „JUG Jugendfürsorge; Abt. Direktion 25, 1954-1962“; Jugendabteilung Herzogsägmühle: betr. Richtlinien der Neuregelung unserer Taschengeld-Ordnung ab 1.9.1963 v. 1.10.1963, in: Ordner „Jugendabteilung, Direktion“. Rundschreiben betr. Taschengeldordnung für die Jugendlichen (W. Decker, 20.1.1960), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Kopiensammlung ‚Historisches‘ (1950-1969)“. Erzieherbesprechung am 13.11.1961, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „JUG Jugendfürsorge; Abt. Direktion 25, 1954-1962“. Jugendabteilung Herzogsägmühle: betr. Richtlinien der Neuregelung unserer Taschengeld-Ordnung ab 1.9.1963 (1.10.1963), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Jugendabteilung, Direktion“. Ab 1963 betrug dieses für „Pfleglinge“ 4 DM, für Jugendliche unter 18 Jahren 9 DM und über 18 Jahren 11 DM. 1966 wurde es auf 6, 10 DM und 12 DM erhöht (handschriftlicher Nachtrag, in: ebd.). Bayerisches Staatsministerium des Innern an die Regierungen v. 22.12.1969, in: ebd.

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– 16 DM im ersten, 19 DM im zweiten, 22 DM im dritten und 24 DM im vierten Lehrjahr. Zu dieser zahlten die Herzogsägmühler Heime ab 1970 noch ihr eigenes Taschengeld.765 Auch die nicht in Ausbildung befindlichen Jugendlichen erhielten jetzt Vergütungen, die sich jedoch entsprechend dem bewährten Punktsystem nach Jahren des Aufenthalts staffelten und durch Prämien für „außergewöhnliche Leistungen“ aufgestockt wurden.766 Was in den Herzogsägmühler Heimen allerdings nur teilweise gelang, war die Verkoppelung der Entlohnung der von den Jugendlichen geleisteten Arbeit mit der eigenen Leistung, galten doch Taschengeld und Prämien immer in erster Linie als Erziehungsmittel, das gerade auch Wohlverhalten verstärken sollte. Zumindest die sozialversicherungsmäßige Absicherung der im Heim auch ohne Lehrvertrag arbeitenden Jugendlichen fand erst im Gefolge des Berufsbildungsgesetzes statt, womit die seit den 1950er Jahren laufende Debatte beendet wurde. Fazit Die Herzogsägmühler Heime starteten in der Tradition des „Fürsorgehofs“ nach dem Zweiten Weltkrieg eine stark auf eine Bewahrung orientierte Fürsorge, die alle Elemente einer klassischen ‚Elendskolonie‘ besaß. Verschiedene Gruppen von fürsorgebedürftigen Erwachsenen und Jugendlichen sammelten sich hier. Die schwierige Personalsituation, die zur Überlastung der Erziehenden führte und in verschiedenen Fällen nachweislich Gewalt begünstigte, war zudem mit einem engen Regelsystem verbunden. Die Erziehung durch und zur Arbeit bestimmte den Rahmen des Heimaufenthalts in den Werkstätten und in der Landwirtschaft. Zugleich bot die Einrichtung zahlreiche Ausbildungsmöglichkeiten für männliche Jugendliche. Von ihr wurde seit Mitte der 1950er Jahre der Konflikt über die Sozialversicherungspflicht stellvertretend für die westdeutschen Heime ausgefochten. Entgegen den Zielen der Heime stellte das Bundessozialgericht 1963 die Sozialversicherungspflicht für Lehrlinge mit einem Lehrvertrag fest. Die Entwicklung zu sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen der Heimbewohner erstreckte sich allerdings bis in die 1970er Jahre. In den 1960er 765

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Jugendabteilung betr. Berufsbildungsgesetz – Berufsbildungsverträge – Vergütung (Wurth, 29.1.1970), in: Archiv ebd. Damit ergaben sich Gesamtvergütungen von 32 bis 44 DM. Herzogsägmühler Heime, FAB Technik-Werkstätten-Betriebe: Vergütungen WUB für Jugendliche (31.12.1972), in: ebd.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Jahren machte sich verstärkt der Außenbezug der Herzogsägmühler Heime etwa durch vermehrten Ausgang bemerkbar, was in diesem Beispiel auch zu Problemen mit der umliegenden Bevölkerung führte, die Angst und mangelnde Toleranz gegenüber den Heimjugendlichen zeigte.

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5.4.9 Das Josefshaus, die Marienburg, das Martinistift (Westfalen) – Trägerverantwortung und Modernisierung Vorbemerkungen Seit der Mitte der 19. Jahrhunderts fungierte der Bischöfliche Stuhl in Münster als Träger bzw. maßgebliche Trägerinstitution von Einrichtungen der Heimerziehung. Denn 1857 errichtete Bischof Johann Georg Müller mit Haus Hall im münsterländischen Gescher eine Anstalt für „verwahrloste Knaben katholischer Konfession“, in der Mitglieder der kurz zuvor in Kevelaer gegründeten „Genossenschaft der Brüder der christlichen Liebe“ – 1951 in „Brüdergenossenschaft des hl. Petrus Canisius vom christlichen Apostolat“ und 1965 in „Brüdergemeinschaft der Canisianer“ umbenannt – die Erziehungstätigkeit und Ökonomie übernahmen.767 1877 begann zudem das Engagement der Diözese auf dem Feld der Erziehung von „gefährdeten“ Mädchen, indem das 15 Jahre zuvor von den Schwestern Unserer Lieben Frau gegründete Erziehungsheim Marienburg in Coesfeld in den Besitz des Bischöflichen Stuhls überging.768 Die Bistumsleitung sah sich zu diesem Schritt veranlasst, da die Gemeinschaft in Folge des Kulturkampfes das Heim aufgeben musste. Vorsehungsschwestern aus dem Mutterhaus in Münster konnten dann in der Erziehung der Mädchen tätig werden, wobei sie gemäß ihrer Ausrichtung einen starken Akzent auf die Heimschule legten.769 Bis 1899 wurde die Marienburg als Annexheim von Haus Hall geführt. Wegen des starken Anstiegs der dort untergebrachten Jungen wurden durch Stiftungen 1899 das St. Martinistift in Nottuln-Appelhülsen und 1902 das St. Josefshaus in Wettringen als weitere Erziehungsheime ins Leben gerufen. Die jeweiligen Stiftungssatzungen stellten sicher, dass die Bistumsleitung maßgeblichen Einfluss auf die Häuser ausübte, in dem sich Clemensschwestern aus dem Mutterhaus in Münster in 767

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Vgl. Brüdergemeinschaft der Canisianer 1979: 1854 Priesterhaus, Kevelaer; 1929 Haus Früchting, Vreden; 1954 Canisiushaus, Münster, Festschrift, 1979; Sebald Stark, Die Brüdergemeinschaft der Canisianer, gegründet am Wallfahrtsort Kevelaer, in: Josef Heckens/Richard Schulte Staade (Hg.), Consolatrix afflictorum. Das Marienbild zu Kevelaer. Botschaft, Geschichte, Gegenwart, Kevelaer 1992, S. 625-633. Vgl. Geschichte der Kongregation der Schwestern Unserer Lieben Frau von Coesfeld, Deutschland, Erster Teil, 1. u. 2. Folge, Geldern 1993. Vgl. Angelika Welzenberg, Die Westfälische Provinz der Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung, Bd. 1: 1842 bis 1970, o. O. 1992.

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der Hauswirtschaft betätigten. Haus Hall wiederum vollzog Ende der 1920er Jahre auf Grund einer verstärkten Unterbelegung mit FE-Zöglingen den Wechsel zum Bereich der Behindertenhilfe.770 Das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg überstanden die drei verbliebenen „bischöflichen“ Erziehungsheime in unterschiedlicher Weise, zumal die Gemeinschaft der Canisianer 1936/37 von den nationalsozialistischen Sittlichkeitsprozessen betroffen waren.771 So kam es in diesen Jahren etwa im Martinistift ebenfalls zu Untersuchungen der Gestapo, bei denen auch Jungen vernommen wurden. Offenbar führte dies zur Verurteilung eines Krankenpflegers. Als 1939 die Gestapo ihre Bemühungen wieder aufnahm, belasteten zumindest im Martinistift einige Jungen mehrere Erzieher. Dies diente vermutlich dazu, dem Stift keine Jungen mehr vom staatlichen Aufnahmeheim Dorsten zuzuweisen.772 Das Josefshaus wurde sogar dem Provinzialverband unterstellt, wobei der Direktor seines Amtes enthoben wurde. Der Ausbruch des Krieges verhinderte jedoch die faktische Übernahme des Hauses durch die staatliche Behörde, brachte aber durch die Einrichtung eines Reserve-Lazaretts vor allem große Raumnot und die Einziehung von Brüdern und anderen Mitarbeitern zur Wehrmacht. Auch die Marienburg wurde durch die Kriegsverhältnisse zusehends belastet, blieb aber trotz großer Gefährdung durch Bombenangriffe in unmittelbarer Nähe von Zerstörungen verschont.773 Nach Kriegsende begann die langsame Rückkehr zur Normalität. Alle drei Häuser wurden zudem weiterhin von einem vom Bischof eingesetzten geistlichen Direktor geleitet. Prälat Florenz Dierkes war seit 1934 im Martinistift, Pfarrer Gerhard Geesink seit 1931 im Josefshaus und Pfarrer Heinrich Röer seit 1937 auf der Marienburg – zudem verbrachte sein langjähriger Vorgänger (1894-1937) den Lebensabend auf der Marienburg, wo er 1951 85-jährig verstarb. Während die Canisia-

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Bernhard Frings, Zu melden sind sämtliche Patienten … NS-‚Euthanasie’ und Heilund Pflegeanstalten im Bistum Münster, Münster 1994, S. 97. Ebd., S. 19-23. Vgl. Chronik des Martinistifts für das Jahr 1939, in: Lehrwerkstätten Martinistift (Hg.), Festschrift `79, Appelhülsen 1979, S 112. Vgl. Die caritativen Anstalten im Bistum Münster, hg. v. Diözesancaritasverband Münster, Münster o. D. [1955], Bd. II, S. 97.

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ner-Brüder 1959 das Wettringer774 und 1968 das Appelhülsener Heim775 verließen, bestimmten die Vorsehungsschwestern der Marienburg weiterhin maßgeblich den dortigen Erziehungsalltag. Die 1950er Jahre: Armut, Strafen, Missbrauch und Veränderungsansätze Nach dem Protokoll einer Vorstandstagung des Verbands der katholischen caritativen Erziehungsheime Deutschlands von 1956 sollten in allen deutschen Diözesen „vor und während des Krieges“ von den Bistumsleitungen ein „Diözesanrat für das Anstaltswesen“ installiert worden sein, der „beratend, fördernd und aufsichtsführend“ wirkte und „den Heimen in schweren Nottagen ein guter Beschützer, Helfer und Förderer“ gewesen war.776 Ob dieser Rat auch im Bistum Münster gebildet worden und in welcher Weise aktiv war, ließ sich nicht nachvollziehen. Und auch für die Nachkriegszeit gibt es keine konkreten Hinweise auf eine bischöfliche Kontrollinstanz, die z. B. regelmäßig die erzieherischen Verhältnisse in den Häusern begutachtete. Das Generalvikariat in Münster als maßgebliche Trägerinstitution der Marienburg, des Martinistifts und des Josefhauses sah, wie es etwa auch bei der bischöflichen Heil- und Pflegeanstalt Stift Tilbeck der Fall war, offenbar auf Grund der Leitung der Häuser in Händen der geistlichen Direktoren keine Notwendigkeit zu einem solchen Schritt. Inwieweit die bischöfliche Behörde auch wegen ihrer dünnen personellen Ausstattung allerdings überhaupt in der Lage dazu gewesen wäre, steht zudem auf einem anderen Blatt. Solange die wirtschaftliche Situation der Heime keine diözesanen Mittel erforderte und kein negatives Aufsehen erregt wurde, scheint das Interesse an der konkreten Erziehungsarbeit und den strukturellen Gegebenheiten jedenfalls eher gering gewesen zu sein.777 Als wichtig wurden dagegen seelsorgliche Fragen wie 774

775 776

777

Andreas Benölken, Daheim und doch nicht zu Haus! Die Geschichte der Heimerziehung – dargestellt an der Entwicklung des St. Josefshauses Wettringen, Wettringen 1997, S. 59. Festschrift `79, S. 91. Protokoll des erweiterten Vorstandes des Verbandes der katholischen caritativen Erziehungsheime Deutschlands in Königstein/Taunus am 21. – 23.2.1956, in: ADCV 319.040 Fasz. 1. Bernhard Frings, Stift Tilbeck 1881-2006, Münster 2006, bes. S. 167f u. 192f.; vgl. auch ders., Das Stift Tillbeck auf dem Weg zum grundlegenden Wandel, in: Jähnichen u.a. (Hg.), Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“ des bundesdeutschen Sozialstaats, S. 225-241

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die Besetzung der Präses-Stellen in den Häusern erachtet.778 Auch zur Firmung der Zöglinge kamen die Bischöfe in die Heime, wobei sich bei den Besichtigungen zu diesen Anlässen nicht annähernd die Alltagsverhältnisse gezeigt haben dürften. Zumindest für das erste Nachkriegsjahrzehnt scheint das Generalvikariat hinsichtlich der drei Heime nicht in Fragen gefordert gewesen zu sein, die den oben skizzierten Rahmen verlassen hätten. Die Häuser, die ihre durch die Kriegsfolgen beschädigten oder verloren gegangenen Räume und Ausstattungen renovieren bzw. neu anschaffen mussten, wurden in dieser Zeit des allgemein zu beobachtenden starken Anstiegs der Heimeinweisungen von den Jugendbehörden in großem Maß in Anspruch genommen. So wuchs etwa im Josefshaus, das zuvor in der Regel ca. 280 schulpflichtige wie schulentlassene Jungen betreute, die Belegung bis 1949 auf 340 Jungen. 1952 wurde mit 400 Minderjährigen der höchste Stand erreicht.779 Das Martinistift, das zwischen 1935 und 1937 mit 180 bis 230 Jungen belegt war, stellte 1948 immerhin über 300 Plätze zur Verfügung – 1952 lag die Belegung immer noch bei 270 Jungen, wobei in diesem Jahr die seit 1944 bestehende Abteilung der Schulpflichtigen wieder aufgelöst wurde.780 Und auf der Marienburg waren 1951 220 bis 230 Mädchen im Alter von 6 bis 21 Jahren im Heim, die von 46 Mitarbeitern - darunter 33 Ordensschwestern, 3 weltliche Lehrerinnen, 1 Wohlfahrtspflegerin, 1 Hausangestellte sowie 7 landwirtschaftliche Kräfte – betreut wurden.781 Die im gleichen Jahr in Gladbecker Tageszeitungen zu findenden Artikel über einen Besuch des Jugendamtsausschusses der Ruhrgebietsstadt, der zwölf Kinder auf der Marienburg untergebracht hatte, spiegelten die positive Einschätzung wider, die die dort geleisteten Erziehungsarbeit an den Mädchen in den Augen der Ausschussmitglieder anscheinend besaß. Denn obwohl keine Mauern und hohen Hecken vorhanden waren, käme es kaum zu Entweichungen, und auch Prügelstrafen seien unbekannt – Bestrafung geschähe durch Entzug von Prämienpunkten. Insgesamt wurde der Erziehungserfolg mit 80 % beziffert, wobei in den Gruppen jeweils 30 Mädchen mit zwei, teilweise länger als 25 Jahre im Haus tätigen Schwestern lebten. „Diese Schwes778

779 780 781

Kaplan A. an Generalvikar Böggering v. 16.11.1951 u. Antwort v. 20.11.1951, in: BAM, GV NA A 101-370. Benölken, Josefshaus, S. 53. Festschrift `79, S. 81. Bericht der Bischöflichen Finanzkammer für das Jahr 1951, in: BAM, Marienburg A 25.

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Abb. 15: Bettenmachen im Schlafsaal der Marienburg/Coesfeld

tern schlafen mit den Mädchen gemeinsam in großen Schlafsälen und sind immer um die Mädchen bemüht. Das Erziehungsprinzip der Marienburg ist ständige Aufsicht, Freudevermittlung, Liebe als Geist des Hauses.“782 Die Mädchen, die zivile Kleidung trugen und vierteljährlich Besuch empfangen durften, wurden wie in „einem Erholungsheim“ verpflegt. Zudem hoben die Zeitungsberichte die Möglichkeiten und die Ausprägung ihrer Beschulung durch „gute Erzieher“ hervor. Neben der Volksschule war ein „Hilfsschulsystem“ vorhanden, und für die in einem Handwerk tätigen Mädchen hielt die Marienburg „eine regelrechte Berufsausbildung auf theoretischer Art in einem Berufsschulunterricht“ vor. Ansonsten wechselten die „Schultentlassenen-Gruppen […] 782

Gladbecker Volkszeitung, Nr. 117 v. 23. Mai 1951.

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alle zwei Monate ihre Beschäftigung: Küche, Wasch- und Bügeldienst, Haus- und Gartenwirtschaft. So lernen die Mädchen alles, was sie auch später zu guten Hausfrauen befähigt.“783 Da der Landwirtschaft eine große Bedeutung zugemessen wurde, werden die Kinder und Jugendlichen auch hier gefordert gewesen sein. In ihrer Freizeit beschäftigten sie sich vor allem mit „Basteln und Schnitzeln, Pappen und Plastilin und allerlei Fröbelspielzeugen. Auf dem Spielplatz draußen tummeln sich die Mädchen an verschiedenen Turn- und Sportgeräten.“ Letztlich ging es um die „Vermittlung einer Einordnung in die Gemeinschaft, die Mitteilung von Freude, die die Kinderseelen bisher vermissten, und einen guten Geist der Anstalt, der auf Liebe basiert und Hoffnung auf Erfolg gestattet. Zu alledem kommt die religiöse Unterbauung der Aneiferung zu religiösen Übungen. Eine schmuckvolle Kapelle vereinigt die Kleinen zu täglichen, gemeinsamen Gebetsübungen.“784 Dagegen ist Gerda Franz die Marienburg, in der sie von 1943 bis 1945 untergebracht war, als „Hölle“ in Erinnerung geblieben. Denn die Erziehung der Schwestern war offenbar u.a durch Arreststrafen und starke körperliche Züchtigung geprägt, unter der gerade Bettnässerinnen wie sie besonders zu leiden hatten. Und auch Direktor Röer legte die Mädchen „über das Knie und haute [ihnen] den Hintern“. Des Öfteren wurden die Mädchen auch in einer Abstellkammer auf dem Dachboden eingesperrt.785 Man wird davon ausgehen können, dass sich der Erziehungsstil in Anbetracht der personellen Kontinuität in den folgenden Jahren der Nachkriegszeit kaum verändert hat. Bereits 1948 begann im Josefshaus trotz eines offenbar deutlich unzureichenden Pflegesatzes ein konzeptionelles Umdenken, indem neben einem Mehrfamilienhaus für Angestellte, durch das die Fluktuation der Mitarbeiter eingedämmt werden sollte, ein eigenständiges Gruppenhaus für 17 Jungen errichtet wurde – die übliche Gruppengröße betrug 30 bis 40 Minderjährige. Zum herkömmlichen Erzieherpersonal kam eine eigene Köchin, die unabhängig von der Großküche und wirtschaftlich selbstständig die familienorientierte Ausrichtung der Gruppe unterstützte. Allerdings fehlte zunächst das erforderliche Personal, um die anderen Großgruppen entsprechend zu verkleinern – 1950 betreuten, unterstützt durch einen vom Haus angestellten Heilpädagogen und einen nebenamtlich tätigen Psychiater 27 Erziehungskräfte 320 Kin783 784 785

Gladbecker Stadtanzeiger, Nr. 117 v. 23. Mai 1951. Ebd. Interview Gerda Franz [Aliasname] (6.10.2010), Transkript S. 7f.

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der und Jugendliche. Für einen Psychologen sah Direktor Geesink, der 1955 plötzlich verstarb, keinen Platz. Bis dahin konnten 7 der 16 Gruppen für ca. 20 Jungen in einzelne Häuser verlagert und so der Prozess der Umstrukturierung fortgesetzt werden. Das Heim besaß mit der Beobachtungsabteilung, der Abteilung der Schulpflichtigen, der Abteilung der normal begabten Schulentlassenen, der Abteilung der begabten Schulentlassenen und der Abteilung der besonders erziehungsschwierigen Schulentlassenen nun fünf Bereiche, denen die verschiedenen Gruppen zugeordnet waren. Außerdem wurde mit dem Bau einer Turnhalle begonnen.786 Allerdings darf bezweifelt werden, dass sich unter Direktor Geesink die traditionellen Erziehungsmethoden änderten. Denn die 1936 von ihm verfasste Hausordnung, die immerhin den Erziehern körperliche Züchtigung untersagte und eine positive Beeinflussung durch das gute Vorbild des Erziehers propagierte, hielt in der Praxis nicht stand. So zählte „Prügel“ weiterhin zum Strafen-Katalog, wobei „selbst der Direktor ständig einen kleinen Stock im Ärmel trug, mit dem Zweck, jederzeit Strafen erteilen zu können“.787 Und das Entweichen aus dem Heim hatte drei Tage Arrest – die Arrestzellen lagen zunächst im Keller und später im Obergeschoss über dem Treppenhaus –, das vollständige Abschneiden der Haare sowie das Tragen der Werktagskleidung an den drei folgenden Sonntagen zur Folge. Das Generalvikariat wird die wirtschaftliche Seite der Veränderungen wie auch die angespannte personelle Situation im Auge gehabt haben. Aber im Zusammenhang mit der 1954 erfolgten Bestellung des für die Seelsorge im Josefshaus zuständigen Präses ist zu erkennen, dass für die Bistumsleitung die Eignung für diese spezifische Aufgabe offenbar weniger eine Rolle spielte. Jedenfalls betätigte sich der als Präses vorgesehene Kaplan zuvor seit 1951 als Aushilfe im Martinistift, nachdem er vermutlich wegen Alkoholproblemen im Gemeindedienst nicht mehr tragbar war. Im Stift wiederum, wo er in den ersten Monaten seines Dienstes nach eigenem Bekunden trotz häufiger Gelegenheiten keinen Alkohol anrührte, litt er stark unter dem Gerede der Brüder, Schwestern und anderen Mitarbeiter. Seiner Bitte, hier durch die offizielle Einsetzung als Präses seine Position stärken zu können, entsprach die bischöfliche Behörde jedoch nicht.788 Die Situation bzw. der 786 787 788

Benölken, Josefshaus, S. 53-56. Ebd., S. 45. Kaplan A. an Generalvikar Böggering v. 16.11.1951 u. Antwort v. 20.11.1951, in: BAM, GV NA A 101-370.

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Ruf des Kaplans scheint sich im Lauf der folgenden Jahre kaum verändert zu haben. Denn als er 1954 zum Präses des Josefshauses ernannt werden sollte, sprach sich Direktor Geesink gegen die Ernennung aus. Seine Begründung der Ablehnung zeichnete ein interessantes Bild der für ihn maßgeblichen spezifischen personellen Verhältnisse: „Der Unterbringung des Herrn Kaplans […] in unserem Hause steht in erster Linie die Tatsache entgegen, daß das Personal sich hier fast ausschließlich aus Laienangestellten zusammensetzt: 32 männliche Angestellte im Alter von 25-50 Jahren, 8 Praktikanten im Alter von 20-24 Jahren, 12 Fürsorgerinnen bezw. Kindergärtnerinnen im Alter von 23-30 Jahren, 14 Praktikantinnen im Alter von 18-25 Jahren 22 Hausmädchen bis zu 26 Jahren, 3 Canisianer, welche für die Steuerung des Personals ebenso wenig in Frage kommen wie für die Erziehung der Jugendlichen, 8 Barmherzige Schwestern, denen nur die Hausmädchen unterstellt werden können. Und auch hier – es muß das einmal ausgesprochen werden – bleibt die Führung der Hausmädchen durch die wenigen schon älteren Schwestern unzulänglich. Aus dieser Personalzusammensetzung erhellt, dass hier ein Präses hergehört, der für die größtenteils jungen Leute Persönlichkeit ist. Durch die Anwesenheit eines Herrn, der dieses nicht sein kann, wird das Personalniveau unweigerlich in kurzer Zeit absinken zum großen Schaden für die Arbeit an den Kindern und Jugendlichen – ihre Zahl ist 380 –, aber auch für das Ansehen des Hauses.“789 Dennoch erfolgte Anfang Februar 1954 die Ernennung. Warum der Präses im nachfolgenden Jahr aus seinem Amt schied, ließ sich nicht mehr nachvollziehen. Aber als der Generalvikar die Stelle wegen des spürbarer werdenden Priestermangels nicht wieder besetzte, legte ihm Direktor Geesink die Bedeutung eines Seelsorgers neben dem Direktor dar. Denn in seinen Augen stammten die im Josefshaus untergebrachten, schulisch zurückstehenden Kinder und Jugendlichen „durchweg aus abgesackten, religiös abständigen Familien, vielfach geradezu kirchenfeindlichem Milieu“. Zudem verließ innerhalb eines Jahres rund ein Drittel wieder das Heim, seien die meisten Schüler, die „geistig ein recht niedriges Niveau“ besäßen, „unterrichtsschwierig“ sowie alle „als schwererziehbar anzusprechen“. Wenn also „unser Haus als Bischöfli789

Direktor Geesink an BGV v. 11.1.1954, in: ebd.

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che Anstalt diesen armen kath. Menschen gerecht werden“ wollte, bedürfte es „eines ganzen Seelsorgers, der hier sicherlich genügend ausgelastet ist. Wenn auch ein Teil des schulplanmäßigen Unterrichts von den Lehrpersonen – wie schwer es ist, Befähigte für eine Anstaltsschule zu gewinnen, ist dort bekannt – übernommen wird, so bleibt der Unterricht der oberen Volksschulklassen doch für den Präses. Dazu kommt neben dem Gottesdienst in der Anstaltskapelle der Unterricht und die religiöse Betreuung von Jungen, die durchweg neu überwiesen werden, sowie besonders auch die Arbeit an den vielen Schülern und Jugendlichen, welche in langem geduldigem Nachgehen aus ihrer Gemütsarmut und oft aktiven Opposition herausgeführt werden müssen.“790 Zu einer Wiederbesetzung der Stelle konnte sich der Generalvikar jedoch nicht durchringen. Durch den Tod Prälat Geesinks musste sich die Bistumsleitung schon bald mit einer wesentlich gewichtigeren Personalfrage befassen. Dabei gestaltete sich die Suche nach einem Nachfolger des Direktors anscheinend schwierig. Jedenfalls erwähnte Pater Jakob van der Zanden, Hiltruper Herz-Jesu-Missionar, in einem Schreiben an das Generalvikariat, dass ihm vom Leiter des Jugendwerks St. Ansgar in Delmenhorst-Adelheide, wo er als Seelsorger tätig war, und von anderen Personen über die Probleme berichtet worden war. Daher wolle er helfen, indem er sich für den Posten zur Verfügung stellte.791 Vermutlich hatte sich zuvor unter den Geistlichen in der Diözese kein Kandidat finden lassen. Ob in Anbetracht der Probleme durch den Priestermangel eine Besetzung des Direktorenamtes mit einer weltlichen Kraft diskutiert wurde, ist nicht dokumentiert. Mit der Einführung Pater van der Zandens als Direktor im Oktober 1955 konnte diese, nicht zuletzt auch für den Träger wichtige Personalfrage geklärt werden. Wie in seiner Zeit als Direktor der Johannesburg sah sich Pater van der Zanden im Josefshaus ebenfalls äußerst ärmlichen Verhältnissen gegenüber. Inwieweit diese Bedingungen dem Träger wirklich bekannt waren, ist nicht belegt. Allerdings lässt die Reaktion des Generalvikars auf eine 1959 eingegangene Klage vermuten, dass dies nicht der Fall war oder aber die geschilderten Verhältnisse kritiklos hingenommen wurden. Jedenfalls beschwerte sich der Großvater eines im Josefshaus untergebrachten Jungen, dass dieser bei einem unangemeldeten Besuch an Körper und Kleidung stark verschmutzt gewesen sei. Auch das Zim790 791

Direktor Geesink an BGV v. 27.4.1955, in: ebd. P. van der Zanden an BGV v. 15.8.1955, in: ebd.; Vgl. zu P. van der Zanden Kap. 5.4.3 zur Johannesburg, auf der er 1946 bis 1952 Direktor war.

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mer hätte einen verdreckten und unordentlichen Eindruck gemacht. Als der Junge bei einem Heimatbesuch wegen einer Erkrankung einen Arzt aufsuchen musste, wäre festgestellt worden, dass „der Kleine körperlich und seelisch ganz herunter war“, was angeblich auch eine Unterernährung einschloss.792 Direktor van der Zanden verwies nach Anfrage des Generalvikariats darauf, dass die Großeltern schon zuvor mit ungerechtfertigter Kritik gegenüber dem zuständigen Landesjugendamt Wiesbaden und dem hessischen Landeserziehungsheim Idstein, wo der Junge zuvor untergebracht gewesen war, aufgefallen seien, woraufhin das Generalvikariat in einem Schreiben die Beschwerden der Großeltern als haltlos zurückwies.793 Ansonsten führte Direktor van der Zanden die von seinem Vorgänger begonnene Neugliederung des Josefshauses durch eine Verkleinerung weiterer Gruppen durch einen Neubau auf 15 bis 20 Jungen sowie den Ausbau und die Differenzierung des Schulbereichs fort. Zudem begannen jetzt vermehrt weibliche Erziehungskräfte im Wettringer Heim, und 1960 fand das Heilpädagogische Voltigieren Eingang in das pädagogische Konzept. Eine aktive Beteiligung des Trägers an der Entwicklung des Hauses lässt sich für diese Phase nicht erkennen. Ebenfalls 1959 besaß eine Beschwerde, die das Martinistift betraf, eine erheblich größere Dimension. Zum damaligen Zeitpunkt war das Haus bei 240 Plätzen überbelegt, wobei gut 40 Erzieher die Jungen betreuten – darunter eine staatlich anerkannte Fürsorgerin, ein geistlicher Religionslehrer, ein Akademiker, ein Lehrer, neun Brüder mit Ausbildung im Mutterhaus und vier mit Meisterprüfung, zehn Erzieher mit Meisterprüfung, 13 Erzieher-Helfer, eine ständige Nachtwache und drei Praktikanten im Erziehungsdienst. Zudem beschäftigten sich im hauswirtschaftlichen Bereich 14 Schwestern, drei Wirtschafterinnen, drei Lernköchinnen und eine Hausangestellte. Bewirtschaftet wurden 80 ha Landwirtschaft und 1 ½ ha Gärtnerei. Die Gruppengrößen lagen bei ca. 25 Jungen, die in 25 Einzelzimmern, 12 Schlafräumen mit 4 bis 10 Betten sowie in 6 größeren Sälen mit 16 bis 24 Betten schliefen – auch hier schliefen Erzieher in unmittelbarer Nähe zu den Jungen –, wobei ein Neubau mit 60 Einzelzimmern und einer Gruppengröße von 12 Jungen geplant wurde, um die Belegung aufzulockern. Ein Großteil der Jungen betätigte sich in der Landwirtschaft, jeweils ca. fünf Jungen befanden sich in der Bäckerei, der Schusterei, der Schneiderei, der Schlosserei 792 793

Anton N. an BGV v. 30.12.1959, in: BAM, GV NA A 101-370. Direktor van der Zanden an BGV v. 20.1.1960 u. BGV an Anton N. v. 22.1.1960, in: ebd.

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und der Tischlerei in einer Lehrausbildung. Durchschnittlich 17 Entweichungen im Monat verzeichnete das Haus.794 Zwischen Mai 1958 und April 1959 wurden nun zwei im Martinistift tätige Erzieher aus der Ordensgemeinschaft der Canisianer und ein Erzieher-Praktikant, dessen Eintritt in die Gemeinschaft kurz bevor gestanden hatte, wegen Sittlichkeitsdelikten mit Jugendlichen zu Haftstrafen verurteilt. Dabei kam für einen Bruder strafverschärfend hinzu, dass gegen ihn bereits 1955 ein Ermittlungsverfahren wegen ähnlicher Vorwürfe eingeleitet, dann aber eingestellt worden war. Außerdem unterlag er „als Mitglied einer Ordensgemeinschaft strengeren ethischen Anforderungen“, schlug „seine Ordensregel jedoch einfach in den Wind“.795 Das Arbeits- und Sozialministerium, das in NRW als oberste staatliche Aufsichtsinstanz über die FE fungierte, blieb längere Zeit über diese Fälle ohne Informationen, obwohl etwa einen Monat nach der Verhaftung des Bruders vom Ministerium eine Besichtigung des Martinistiftes durchgeführt wurde. Allerdings erwähnten weder der ebenfalls anwesende Vertreter des Landesjugendamts noch der Heimleiter den Vorfall.796 Daher sah sich das Ministerium veranlasst, sowohl das Landesjugendamt als auch den Träger des Martinistifts scharf zu kritisieren, was Anfang August 1959 vor allem in einem Schreiben an das Generalvikariat in Münster zum Ausdruck kam. Nach der Feststellung, dass die „Häufigkeit und Schwere der Fälle“ auf eine fehlende, aber eigentlich besonders notwendige strikte Aufsicht der Heimleitung schließen lasse, folgte die Aufforderung, zusammen mit dem Landesjugendamt Maßnahmen zu ergreifen, die solche Vorfälle verhinderten. An erster Stelle stände hier die genaue Überprüfung der Erzieherkräfte. Denn eine „weitere Gefährdung der Minderjährigen, die dem Heim auf Grund einer vormundschaftlichen Anordnung zur Erziehung anvertraut worden sind“, könne „im Interesse der betroffenen Minderjährigen“ wie auch „im Hinblick auf die Wahrung des Ansehens der Einrichtungen der Fürsorgeerziehung nicht hingenommen werden. Ich muß mir deshalb auch eigene Maßnahmen zum Schutze der Minderjährigen vorbehalten.“797 Das münsterische Generalvikariat wusste zwar von den Verurteilungen wegen Sittlichkeitsvergehen im Martinistift, ohne jedoch Einzel794

795 796 797

Fragebogen im Vorfeld einer Besichtigung des Martinistifts durch LJA Westfalen v. Anfang 1958, in: HStAD, NW 648 Nr. 97. Urteil des Landgerichts Münster gegen Josef W. v. 27.2.1959, in: ebd., Nr. 103. Arbeits- und Sozialministerium an LJA Westfalen v. 6.4.1959, in: ebd. Ministerium an BGV Münster v. 6. Aug. 1959, in: ebd.

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heiten zu kennen. Daher bat Generalvikar Laurenz Böggering798 Direktor Dierkes um eine Stellungnahme.799 Dieser hob hervor, dass er stets bemüht war, bei der Einstellung neuer Erzieher umfangreiche Erkundigungen über deren Vorleben einzuholen, und auf den wöchentlichen Erzieher-Konferenzen darauf hinzuweisen, Jungen nicht mit auf Einzelzimmer mitzunehmen. Zudem sollten die Jugendlichen jegliche Unsittlichkeiten melden, die offenbar unter ihnen nicht selten waren. Deshalb hatte er bereits auf dem „Flur, auf dem hauptsächlich die Unsittlichkeiten vorkamen“, „eine ständige Nachtwache […] durch einen verheirateten Mann“ eingerichtet, „der abends ins Haus kam“.800 Als erstmals einem der Brüder unsittliche Verfehlungen nachgesagt wurden, veranlasste er diesen zur Selbstanzeige, ohne dass sich der Verdacht bei der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung erhärtet hätte. Schließlich wies Direktor Dierkes noch darauf hin, dass „seit 1937 Verbrechen dieser Art im hiesigen Heim nicht bekannt wurden, nachdem damals ein Krankenpfleger verurteilt wurde.“ Offenbar hatten also die im Zuge des NS-Kirchenkampfs ausgeweiteten und propagandistisch aufbereiteten Sittlichkeitsprozesse der Jahre 1936/37, die auch einige Canisianer-Brüder verschiedener Einrichtungen im Bistum Münster betroffen hatten, für eine gesteigerte Sensibilität auf diesem Feld geführt.801 In seiner Antwort an das Ministerium beklagte sich Generalvikar Böggering zunächst über die bislang fehlende Zusendung der Urteilsabschriften und die „summarische Weise“ der Vorwürfe gegen Direktor Dierkes, der das Vertrauen sowohl der Bistumsleitung als auch des Landesjugendamts besäße und bei der Einstellung von Erziehungspersonal stets „alle Vorsicht hat walten lassen“.802 Allerdings sei es auch wegen der Vorbelastung vieler Jungen, die dann „mehr oder weniger eine ständige Gefährdung auch für die Erzieher bedeuten“, schwierig, Vergehen innerhalb des Heimes aufzuklären. Hinsichtlich der Aufforderung des Ministeriums, gemeinsam mit dem Landsjugendamt geeignete Maßnahmen auf den Weg zu bringen, wünschte er sich mit Direktor Dierkes konkrete 798

799 800 801

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Laurenz Böggering (1904-1996) wurde 1929 zum Priester geweiht und 1954 zum Generalvikar berufen. 1967-1979 war er Weihbischof in Münster. (Vgl. BAM, Klerus-Kartei) BGV an Direktor Dierkes v. 12.8.1959, in: BAM, GV NA A 101-370. Direktor Dierkes an BGV v. 20.8.1959, in: ebd. Vgl. Hans Günter Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37, Mainz 1971; Frings, Zu melden sind sämtliche Patienten, S. 19f. Generavikar Böggering an Ministerium v. 3.9.1959, in: HStAD, NW 648 Nr. 103.

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Hinweise, „welche Maßnahmen es gibt, derartiges kurzerhand zu verhindern. Eine Vernehmung selbst des ganzen Hauses führt zu nichts. Eine Aufsichtsbehörde kann selten mehr tun, als die nötige Sorgfalt bei der Auswahl der Leitung walten zu lassen. Eine bessere Kraft als Herr Prälat Dierkes steht uns jedoch nicht zur Verfügung.“ Am Ende seines Schreibens brachte der Generalvikar noch seinen Unmut über das Vorgehen des Ministeriums dadurch zum Ausdruck, dass er um die Unterrichtung des Ministers und des Staatssekretärs über den Sachverhalt bat und ein persönliches Gespräch in Aussicht stellte. Das Ministerium reagierte nach Vorlage des Schriftwechsels beim zuständigen Minister vermutlich anders, als vom Generalvikar erwartet, indem es nochmals die schwerwiegenden Punkte wie die Häufung der Fälle mit einem Vergehen auch nach Verurteilung des ersten Bruders oder die ausgebliebene Unterrichtung der Ministeriumsbeamten hervorhob. Letztlich bedürfe die FE „des Vertrauens der Öffentlichkeit. Nachdem mein Ministerium durch andere Stellen von diesen Straftaten Kenntnis erhalten hat, war es meine unabdingbare Pflicht, Sie als Träger des Heims auf diese Zustände aufmerksam zu machen und zu fordern, dass in engem Zusammenwirken mit der zuständigen Fürsorgeerziehungsbehörde, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Maßnahmen getroffen werden, die derartige Vorfälle verhindern helfen. In der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen sind Sie als Kirchliche Oberbehörde, an die in Strafsachen gegen Geistliche und Kirchliche Beamte die Mitteilungen zu richten sind, angegeben. Ob in Strafsachen gegen Ordensangehörige und Erzieher, die in einem Ihnen unterstellten Heim tätig waren, Ihnen gegenüber eine Mitteilungspflicht von Amtswegen besteht, vermag ich nicht zu beurteilen. Es ist Ihnen jedoch unbenommen, sich an das Landgericht in Münster mit dem Ersuchen um Mitteilung zu wenden. Im übrigen waren der Heimleiter und Bruder Leo (Schöning), die als Zeugen ausgesagt haben, in der Lage, Sie zu unterrichten. Zu dieser scharf umrissenen Darstellung sehe ich mich durch den Inhalt Ihres Schreibens vom 3.9.1959 veranlaßt. Ich bitte zu verstehen, dass bei der Häufigkeit und Schwere der Fälle ein strenger Maßstab an die sittlichen Qualitäten der Erzieher angelegt werden muß.“803 Dass der Konflikt nicht eskalierte, dürfte vor allem an einer weiteren Stellungnahme der Leiterin des Landesjugendamts, Landesrätin Scheuner, gelegen haben. Diese bestätigte die Bemühungen Direktor Dierkes, 803

Ministerium an Generalvikar Böggering v. 13.10.1959, in: ebd.

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Sittlichkeitsvergehen durch Erzieher vorzubeugen bzw. in Verdachtsfällen sofort zu handeln. Dabei betonte sie zudem die „besonders enge und gute Zusammenarbeit“ des Direktors mit dem Landesjugendamt, der bei „den Heimrevisionen durch das Landesjugendamt und auch bei seinen häufigen Besuchen“ in der Behörde „stets mit großer Offenheit alle Probleme des Heims erörtert und sich für Ratschläge empfänglich gezeigt“ hatte. „Trotz des Mangels an guten Erziehern hat Direktor Dierkes nie gezögert, sich von Mitarbeitern wieder zu trennen, wenn sie sich als nicht hinreichend geeignet erwiesen hatten.“ Die verurteilten Erzieher verfügten jedoch neben guten Zeugnissen und einem „untadeligen Leumund“ über einen guten Zugang zu den Jugendlichen, ohne sie deshalb bereits verdächtigen zu müssen. „Die Erfahrung lehrt, daß gerade Verfehlungen auf dem hier in Frage stehenden Gebiet von den Schuldigen sorgsam geheimgehalten werden. Nach meinen Feststellungen haben die beteiligten Jungen schon allein deshalb geschwiegen, weil sie befürchteten, bei Bekanntwerden der Verfehlungen länger im Heim bleiben zu müssen.“804 Mittlerweile hätte es Gespräche mit dem Generalvikariat zur zukünftigen Unterbindung solcher Vorkommnisse gegeben, es sei eine erneute Überprüfung aller Erzieher des Stifts erfolgt und auch weiterhin werde auf den wöchentlichen Erzieherkonferenzen auf die Problematik aufmerksam gemacht. Daher hatte die Landesrätin keine Bedenken, das Martinistift „weiterhin zu belegen, zumal die Erziehungsergebnisse dieses Heimes – trotz der verwerflichen Vorkommnisse – als gut bezeichnet werden müssen. Gerade das St. Martinistift verfügt über mannigfache Möglichkeiten zur Lehrausbildung der Jungen. Kürzlich haben noch 9 Jungen im Heim mit Erfolg ihre Gesellenprüfung abgelegt. Die geplanten neuen Werkstattbauten werden die berufliche Förderung der Jungen noch wesentlich verbessern. Zugleich werden die neuen Gruppenräume eine fühlbare Auflockerung des Heims und damit auch die erstrebte bessere Beaufsichtigungsmöglichkeit mitsichbringen.“805 Vermutlich wird den Verantwortlichen im Generalvikariat trotz etwaiger Vorbehalte in Anbetracht der Diskussionen um die Verschärfung der staatlichen Heimaufsicht klar gewesen sein, dass aus Sicht des Ministeriums zumindest ein Teil der Vorwürfe gerechtfertigt war. Nun boten die auch in der bischöflichen Behörde bekannten Ausführungen Landesrätin Scheuners die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren, 804 805

Stellungnahme Landesrätin Scheuners an das Ministerium v. 14.10.1959, ebd. Ebd.

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sodass dem Ministerium Ende Oktober mitgeteilt wurde, die Auseinandersetzung „als erledigt“ anzusehen. „Nachdem dieses Anliegen erfüllt ist, will ich gerne bestätigen, obschon es sich von selbst versteht, dass ich mit Ihnen einig gehe – und Herr Prälat Dierkes teilt diese Auffassung völlig -, dass ein strenger Maßstab an die sittlichen Qualitäten der Erzieher angelegt werden muß und dass im Rahmen des menschlich Möglichen versucht werden wird, Vorkommnisse der geschehenen Art zu vermeiden.“806 Der Konflikt hatte also das Generalvikariat in Münster aufgerüttelt – auch dort dürfte die Erinnerung an die rund 20 Jahre zurückliegenden, auch im Bistum Münster spürbaren Ereignisse der Sittlichkeitsprozesse noch präsent gewesen sein – und eindringlich auf seine Aufsichtspflicht aufmerksam gemacht. Vermutlich wurde auch das Bewusstsein geschärft, dieser gerade auch als Träger mehrerer Erziehungsheime nicht in ausreichender Weise nachgekommen zu sein. Darauf ließ zumindest das dringende Ersuchen an die Einrichtungen schließen, bei Verdachtsmomenten gegen Erzieher sofort Bericht zu erstatten. „Auf jeden Fall ist so rechtzeitig von Gerichtsverhandlungen unter Angabe des Termins zu berichten, dass ein Beobachter entsandt werden kann. Ich darf voraussetzen, dass diese Maßnahme richtig verstanden wird. Sie ist zum Schutze aller Beteiligten notwendig. Ich möchte wünschen, dass sie nicht praktisch zu werden braucht.“807 Ein ähnliches Schreiben ging am gleichen Tag außer dem St. Josefshaus auch allen anderen „in Betracht kommenden Häusern“ zu.808 Über weiter gehende Anweisungen hinsichtlich prophylaktischer Maßnahmen gegen Sittlichkeitsvergehen von Ordensangehörigen, die an die Erzieher stellenden Gemeinschaften ergangen wären, ist nichts bekannt. Man wird davon ausgehen können, dass diese Fragen nicht weiter thematisiert wurden. 1960 bis 1967: Agieren mit oder ohne Träger? Als sich 1962 eine junge Frau, die im Josefshaus ihr „Jahr im Dienst für die Kirche“ leistete, an Generalvikar Böggering wandte und hinsichtlich der Betreuung der Kinder und Jugendlichen eine Reihe negativer Punkte auflistete, dürfte dies größere Beachtung gefunden haben als die bereits erwähnten Beschwerden der Großeltern einige Jahre zu806 807

808

Generalvikar Böggering an Ministerium v. 27.10.1959, ebd. Generalvikar Böggering an Direktor Dierkes v. 27.10.1959, in: BAM, GV NA A 101370. Generalvikar Böggering an Josefhaus v. 27.10.1959, in: ebd.

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vor. Denn die so genannten „Jakis“ übernahmen aus einer christlichen Grundhaltung sehr bewusst, aber auch mit einem kritischen Blick auf die Zustände, Aufgaben im caritativen Bereich, was den Ausführungen der Wettringer Mitarbeiterin Gewicht verlieh.809 So habe sie „reichlich Gelegenheit gehabt, die Verhältnisse in diesem Heim kennenzulernen. Ich habe hier eine Armut getroffen, wie ich sie doch bei Institutionen kirchlichen, staatlichen oder sonstigen, in der heutigen Zeit nicht fürwahr gehalten hätte. Natürlich ist in diesem Heim ein großer Personalmangel. Die primitiven Einrichtungen der einzelnen Abteilungen und der große Mangel an jeglicher Kleidung für die Jungen erschweren in hohem Maße die Arbeit. Sehr erstaunt bin ich, wie leicht man sich die Seelsorge in diesem Heim macht. Es ist Hohn und Spott, dass sich dies ein Bischöfliches Haus nennt. Zu einer Aussprache bin ich gern bereit.“810 Generalvikar Böggering sah sich durch diese kritischen Zeilen zumindest veranlasst, der jungen Frau einen konkreten Gesprächstermin anzubieten, ohne dass der weitere Verlauf dokumentiert ist. So ließ sich auch nicht nachvollziehen, inwieweit ihre Kritik zu Konsequenzen durch den Träger geführt hat. Dabei unterstand das Josefshaus auch nach der 1963 erlangten rechtlichen Abtrennung von Haus Hall und der Errichtung einer eigenständigen Stiftung der Aufsicht des Bischöflichen Stuhls – der jeweilige Direktor hatte den Vorsitz des Vorstands inne. Als im Sommer 1965 Bischof Joseph Höffner das Wettringer Heim besuchte, berichtete Direktor van der Zanden dem Oberhirten von finanziellen Schwierigkeiten, die offenbar den Spielraum für dringend erforderliche Anschaffungen an Einrichtungsgegenständen stark einschränkten. „Um die ärgsten Sorgen etwas zu mildern“, ließ das Bistum dem Haus „eine Spende von 50.000 (fünfzigtausend) DM“ zukommen, um so „u.a. auch die Waschanlage in Ordnung bringen können“. Zudem hatte der Bischof die Notwendigkeit einer „Neufestsetzung der Pflegesätze“ erkannt, um dann anzukündigen, dass sich seine Mitarbeiter „dieser Angelegenheit mit Entschiedenheit zuwenden“ werden.811 809

810

811

Vgl. Christel Belz u.a. (Red.), Das Freiwillige Soziale Jahr. Ein dokumentarischer Bericht, hg. v. Arbeitskreis „Freiwilliger Sozialer Dienst/Freiwilliges Soziales Jahr“, Bonn-Bad Godesberg 1973; Das verdoppelte Jahr, hg. v. d. ev.-kath. Arbeitsgemeinschaft Soziale Dienste in Nordrhein-Westfalen „Diakonisches Jahr“/“Jahr für den Nächsten“ Düsseldorf, Geldern o. J. (1968); siehe auch Frings, Stift Tilbeck, S. 191f., 285-288. Hannelies Dreyer an Generalvikar Böggering v. 28.2.1962, in: BAM, GV NA A 101370. Bischof Höffner an Direktor van der Zanden v. 30.8.1965, in: ebd.

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Da der Direktor ein Jahr später zum Erziehungsheim St. Ansgar nach Hildesheim wechselte, musste sich ein neuer Leiter, nun offenbar in ausgeprägterem Zusammenspiel mit dem Träger, um die Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Josefshauses kümmern. Im Martinistift traten im Anschluss an die Ereignisse um die Sittlichkeitsvergehen oder vielleicht durch diese ausgelöst große Spannungen innerhalb der Mitarbeiterschaft zu Tage, die offenbar zur Spaltung in zwei Lager führten und die Bistumsleitung erneut mit den dort bestehenden strukturellen Probleme konfrontierte. Auf der einen Seite gab es anscheinend eine Gruppe, in der die Canisianer-Brüder im Mittelpunkt standen – zumindest zwischen den Zeilen war von einem „Prioritätsanspruch einzelner Brüder“ die Rede812 – und die die traditionellen Strukturen beibehalten wollte. Auf der anderen Seite hatten sich Angestellte zusammengefunden, die als Angehörige der Christlichen Gewerkschaft bestrebt waren, sich gemäß der „Sozialordnung des Bischofs“ in einer Mitarbeitervertretung zu organisieren, was wiederum mit der Anschuldigung fehlender Treue zum katholischen Glauben von der Hausleitung kritisiert wurde. Zudem strebten diese Mitarbeiter die Qualifikation zum Heimerzieher an. Generalvikar Böggering sprach schließlich gegenüber dem Sprecher der gewerkschaftlich orientierten Mitarbeiter die Hoffnung aus, „daß all das, was im Martini-Stift einer Überprüfung bedarf, mit Geduld und Zielsicherheit einer glücklichen Lösung entgegengeführt werden“ könne.813 Als Resultat dieser Überlegungen setzte das Generalvikariat Anfang 1961 im Martinistift mit dem Geistlichen Bernhard Wiggenhorn einen neuen Direktor ein und ernannte gleichzeitig Prälat Dierkes, der offenbar bereits im Zusammenhang mit den Vorfällen der Sittlichkeitsvergehen seinen Rücktritt angeboten hatte, zum Direktor der Marienburg, wo er Prälat Röer ablöste. Zudem sollte auch ein Canisianer-Bruder das Stift verlassen. Obwohl immerhin 44 Mitarbeiter des Stifts dies in einem Aufruf an den Generalvikar rückgängig machen wollten und damit der Konflikt zunächst offenbar nicht einvernehmlich gelöst wurde, erschien Bernhard Wiggenhorn814, zuvor Leiter des diözesanen Land812

813 814

Anton Krämer (Vorstand der Christlichen Gewerkschaft Appelhülsen) an Br. Leo (Superior der Canisianer) o. D. [zweite Jahreshälfte 1960), in: ebd. Böggering an Krämer v. 19.11.1960, ebd. Bernhard Wiggenhorn, 1912 geboren, wurde 1918 in Münster zum Priester geweiht, war danach bis 1945 Diaspora-Pfarrer im Bistum Hildesheim, wo er auch viele Ausländer seelsorglich betreute, und bis 1950 Kanonikus an der Borkener RemigiusPfarrei. (Festschrift ´79, S. 6f.)

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seelsorge-Referats und des Exerzitienwerks, insofern für die Aufgabe geeignet, als er 1936 im Martinistift ein Praktikum gemacht hatte und seitdem dem Heim und Direktor Dierkes verbunden geblieben war – seit 1950 diente ihm das Haus als Rückzugsmöglichkeit. Daher betraute ihn Bischof Keller damit, „eine von den Wandlungen der Zeit geforderte Konzeption durchzuführen“.815 Bereits im nachfolgenden Jahr attestierte der Bericht über eine vom Düsseldorfer Sozialministerium durchgeführte Besichtigung der Einrichtung, dass sie „unter dem neuen Direktor eine erstaunliche Aufwärtsentwicklung hinsichtlich der inneren pädagogischen Situation genommen“ habe. Auch sei „die Zahl der Entweichungen nach den Aufzeichnungen des Direktors innerhalb eines Jahres um 1/3 zurückgegangen“, was dieser auf die differenzierteren Ausbildungsmöglichkeiten zurückführte. Auch die Kontrolle des Strafbuches war nicht zu beanstanden. Durch die Errichtung des neuen Gebäudes mit 65 Einzelzimmern und der dadurch vorgenommenen Auflockerungen konnte zudem „die pädagogische Ausgangsstellung verbessert werden“. Auch besaßen von den 13 Gruppenerziehern acht eine sozialpädagogische Ausbildung, wobei von den insgesamt 48 Erziehern 16 CanisianerBrüder waren. Beanstandet wurde allerdings die Tatsache, dass immer „noch 100 Minderjährige in Schlafsälen mit mehr als 5 Betten schlafen müssen“, was umgehend verbessert werden sollte.816 Dennoch sah sich Direktor Wiggenhorn nach wie vor sowohl im Bereich der Ausbildungs- und der Unterbringungsmöglichkeiten der Jungen als auch hinsichtlich der Qualifikation des Erzieherpersonals einer großen Rückständigkeit des Hauses gegenüber. Der Vorstand entschloss sich nach Abwägung der Gesamtsituation dafür, zunächst den beruflichen Sektor in Angriff zu nehmen, um in einem zweiten Schritt die Wohn- und Freizeitstruktur zu verbessern. Vor allem die Schaffung ausreichender Arbeitsplätze für die Jugendlichen außerhalb der Landwirtschaft, „denen die Möglichkeit zu einer Existenzsicherung mit einer erlernten Arbeit oder mit einem erlernten Beruf in der industriellen Welt unserer Tage“ zu schaffen war, stand im Mittelpunkt der Bemühungen. Daneben mussten die zur Unterbringung der Jungen genutzten Teile des Altbaus saniert, Arbeitserleichterungen für die immer älter werdenden Schwestern sowie sonstige hochwertige Instandsetzungsarbeiten umgesetzt werden. Bis zum Sommer 1963 konnte 815

816

Ebd.; vgl. verschiedene Schreiben zwischen dem 12.12.1960 und 2.1.1961, in: BAM, GV NA A 101-370. Besuchsbericht v. 13.7.1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98.

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Abb. 16: Werkstatt im Martinistift/Appelhülsen (vermutlich 1960er Jahre)

Direktor Wiggenhorn eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Weg bringen, wobei er bei immerhin ca. 1,3 Mio. DM Investitionen rund 400.000 DM Schulden anhäufte.817 Diese Entwicklung bereitete dem fünf Personen zählenden Kuratorium des Martinistifts, in dem der Generalvikar als geborenes Mitglied den Vorsitz einnahm und zu dem außerdem der jeweilige Pfarrdechant von Nottuln und der Direktor der Clemensschwestern gehörten, Sorgen, da Direktor Wiggenhorn viele Entscheidungen eigenmächtig getroffen hatte. Für den Direktor erwies es sich jetzt vermutlich als Problem, dass Bischof Keller bereits im November 1961 gestorben und die mit ihm abgestimmte Konzeption nicht schriftlich fixiert worden war. 817

Kostenaufstellung und Erklärung Direktor Wiggenhorns für Bischof Höffner v. 30.8.1963, in: BAM, GV NA A 101-370.

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Nun fehlte ihm für seine Maßnahmen der uneingeschränkte Rückhalt in der Bistumsleitung. Immerhin sprach er zehn Jahre später im Rückblick von einem „Randsiedler“-Dasein des Martinistifts innerhalb der Diözese, weshalb er seinen „ganzen Ehrgeiz“ daran setzte, „auch ohne die ideelle und materielle Mithilfe des Bistums“ seine Vorstellungen zu verwirklichen.818 Jedenfalls sah sich der Direktor Anfang 1964 genötigt, sein Vorgehen in einer ausführlichen Darlegung zu rechtfertigen. In der ersten Zeit nach der Amtsübernahme hätte er viel mit dem Generalvikar und dem Juristen der bischöflichen Behörde gesprochen, zumal das erste Jahr „nicht leicht“ gewesen war, weil es eine „Fülle von äußeren und inneren Schwierigkeiten“ gab. Dabei sei das Kuratorium „sowohl was die Häufigkeit der Tagungen anging wie auch bezüglich der praktischen Hilfe“ den Anforderungen nicht gewachsen gewesen. „Als die aus pädagogischen Gründen (oft schon nur um einer Beschäftigung willen) vorgetragenen Bitten um Genehmigung verschiedener Anlagen nicht bewilligt wurden, hat er durch manche eigenmächtige Handlungen den H.H. Generalvikar wie Herrn Dr. Freitag vor den Kopf gestoßen.“ Obwohl ihn dieses Vorgehen bedrücke, sei es in Anbetracht der großen Herausforderungen vertretbar. Denn zu den zunächst erkannten Mängeln kamen kontinuierlich weitere hinzu. Es vergehe „kaum ein Monat, wo nicht von einem Jugendamt eine Anfrage kommt, ob dieser oder jener Mißstand wirklich vorhanden ist. Wenn wir es wagen wollen, katholische Einrichtungen neben staatliche Einrichtungen zu stellen, müssen wir uns schon sehr anstrengen.“ So war auch für ausgeschiedene Gruppenerzieher, von denen vier wegen besserer Wohn- und Einkommensverhältnisse in einer anderen Anstellung das Stift verlassen hatten, Ersatz zu beschaffen. Des Weiteren legte er dar, dass der „wirtschaftliche Aufstieg und der pädagogische Ruf des Martinistiftes […] neben dem unermüdlichen Einsatz der Brüder und einiger Angestellter dem freien, aber von Verantwortung getragenen Schaffen der beiden Direktoren Ibing [1906-1934] und Dierkes [1934-1961] zu danken“ seien, die eigenständig ohne vorherige Kuratoriumsbeschlüsse agiert hätten. „Sechs Jahrzehnte lang war ihre Unterschrift aus einer consuetudo contra legem819 rechtsverbindlich nach allen Richtungen hin.“ Wenn das Kuratorium nun stärker in die Entscheidungen einbezogen werden solle, müsste es häufiger tagen 818

819

Anschreiben Wiggenhorns an Bischof Heinrich Tenhumberg v. 20.8.1974 für eine Denkschrift über das Martinistift, in: BAM, GV NA A 0-483. Gewohnheitsrecht.

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und qualifizierter zusammengesetzt werden. Als Vorsitzenden sah er eine „entsprechend geschulte Persönlichkeit der Diözesanverwaltung“ für angebracht. Denn der geborene Vorsitz für den Generalvikar müsse kritisch hinterfragt werden, da „er als solcher sowohl in der Exekutive wie in der Legislative tätig wird, was man allgemein im öffentlichen Leben als nicht zulässig ansieht. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass er leicht in die Gefahr geraten kann, vor einem öffentlichen Gericht angeklagt zu werden, wenn beispielsweise böswillige Angestellte auf unzulässige Mißstände aufmerksam machen, die nicht abgestellt worden sind. Auf der anderen Seite ist eine nähere Zuordnung des Hauses zum Bischöfl. Stuhl in schwierigen Zeiten ohne Rücksicht auf Finanzen immer vorteilhaft gewesen.“ Maßgeblich müssten „die pädagogische Ausrichtung, die Besetzung der Mitarbeiterstellen und die verantwortliche Führung der gesamten Anstalt“ jedoch beim Direktor liegen.820 Ausführlich ging Direktor Wiggenhorn zudem auf die wirtschaftliche Situation ein. Demnach bestand seit 1950 die Regelung, dass das Land NRW über das Landesjugendamt über die per Selbstkostenblatt zu ermittelnden Pflegesätze für die Unterbringungskosten der Jungen aufkam. Darin enthalten war zudem eine Bettenpauschale, um die „stark anfallenden Reparaturen leisten zu können“. Durch einen „verlorenen Zuschuß“ käme das Land außerdem für die Hälfte der für die „bauliche Verbesserung der Heime, die Einrichtung von Werkstätten usw.“ entstehenden Kosten auf. Fortan sollten jedoch nur langfristige staatliche Darlehen vergeben und bei einer Zuwendung über 40.000 DM mit einer Sicherungshypothek im Grundbuch versehen werden, wodurch er langfristig die freie Trägerschaft gefährdet sah. Letztlich stellte Direktor Wiggenhorn die Frage, ob das Bistum wirklich Interesse an einer katholischen Erziehung „der abgeglittenen Jugendlichen“ hätte. Wenn dies so wäre, müsse auch ein deutliches, für die staatlichen Instanzen erkennbares finanzielles Engagement zum Tragen kommen. „Das Maß des Einsatzes in institutioneller, personeller und finanzieller Hinsicht müsste wenigstens prozentual dem Aufwand für die gesunde kath. Jugend entsprechen. Rund 1 % der kath. Mannes- und Frauenjugend kann als abgeglitten angesehen werden. Soll das Martinistift ein bischöfliches Haus werden, scheint der gleiche Einsatz angemessen.“821 820

821

Direktor Wiggenhorn an Bischof Höffner v. 10. Jan. 1964 mit Anhang zur Entwicklung zu zur Lage, in: BAM, GV NA A 101-370. Ebd.

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Offenbar nach einem weiteren Bericht des Direktors über dessen konkrete weitere Planungen stellte Bischof Höffner im Mai 1964 für das Martinistift „eine einmalige Beihilfe in Höhe von 100.000 DM“ durch das Bistum bereit. Zudem sollte der Direktor die „dringend notwendigen Maßnahmen“ angehen, wobei das Kuratorium einzubeziehen sei. Schließlich verlieh er der Hoffnung Ausdruck, durch „diese Entscheidung gezeigt zu haben, dass das Bistum Münster an dem Wohl und Wehe des Martini-Stiftes interessiert ist“. Er wünsche dem Direktor für die „wahrlich nicht leichte Aufgabe Gottes Segen“.822 Die nachfolgend von Direktor Wiggenhorn eingeleiteten Modernisierungen betrafen vor allem die beruflichen und arbeitsmäßigen Fördermöglichkeiten für die Jugendlichen und waren Mitte 1967 bis auf den bevorstehenden Neubau der Betonwerkerei abgeschlossen.823 Allerdings ließ diese Prioritätensetzung – auf dem Briefkopf des Heims hieß es nun „Lehrwerkstätten Martinistift Appelhülsen“ – keine entsprechenden Aktivitäten zur deutlichen Verbesserung der Wohnsituation der Jungen zu. Zwar konnte seit 1961 die Zahl der Gruppen von neun auf 13 erhöht, also die Gruppenstärke reduziert werden. Aber nach wie vor waren die meisten Jungen im Altbau untergebracht, dessen Ersetzung durch ein neues Gebäude erst bei entsprechender Finanzlage umgesetzt werden sollte. Und wenn der Direktor gegenüber Bischof Höffner erklärte, jetzt „nach den vielen Aufbaukursen der letzten Jahre endlich zu einer ruhigeren, aber klareren pädagogischen Arbeit nach innen vorstoßen [zu] können“824, signalisierte er damit doch auch eine gewisse Vernachlässigung dieses für die Erziehungsbemühungen wichtigen Bereichs. Modernisierung zwischen Wandel und Beharren Mit Reinhard Lettmann (Jg. 1933) übernahm 1967 ein vergleichsweise junger Priester das Amt des Generalvikars in Münster, der auch die Notwendigkeit neuer konzeptioneller Wege in den „bischöflichen“ Heimen sah. Jedenfalls fand der ein Jahr zuvor zum Direktor des Josefshauses ernannte Alfons Rühberg (Jg. 1929) bei ihm anscheinend offene Ohren, als er die Reformbedürftigkeit des Wettringer Heimes aufzeigte. Dieser ebenfalls noch junge Geistliche war bereits 1951/52 im Josefshaus als Erziehungshelfer und seit 1963 als Präses tätig. Zu den 822 823 824

Bischof Höffner an Direktor Wiggenhorn v. 27.5.1964, in: ebd. Direktor Wiggenhorn an Bischof Höffner v. 22.2.1967, in: ebd. Direktor Wiggenhorn an Bischof Höffner v. 8.8.1967, in: ebd.

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notwendigen konzeptionellen Änderungen, die er dem Generalvikar vorschlug, zählte der Schritt, die Leitung des Hauses in weltliche Hände zu legen. Nachdem auch der Bischof damit einverstanden war, sollte vor einer öffentlichen Ausschreibung der Stelle zunächst eine interne Suche durchgeführt werden. Ob sich dabei kein Kandidat herauskristallisierte oder ob die Bistumsleitung dann doch wieder Abstand von dieser vermutlich als einschneidend empfundenen Neuerung nahm – für die Leitung des Stiftes Tilbeck waren zwei Jahre zuvor ähnliche Überlegungen ebenfalls nicht zum Ziel gelangt825 –, letztlich blieb Direktor Rüberg auf seinem Posten. Und 1969 begann er in Hannover eine über sechs Semester gehende berufsbegleitende Zusatzausbildung zum Psychagogen, um sich die fachliche Qualifikation zur Leitung eines Erziehungsheims anzueignen.826 Mit einer Reihe von Forderungen der Heimkampagnen auf einer Linie strebte Direktor Rüberg zudem etwa die Reduzierung der Gruppengrößen auf neun Plätze, die Vermehrung und Qualifizierung des Personals sowie der therapeutischen Einflussnahmen an. Dabei bemühte er sich seit 1970 um eine Neuorganisation aller bischöflichen Erziehungsheime in der Diözese, denen er auf Grund fehlender Konzepte und Mittel ein „ständiges Hinterherhinken“ attestierte. So mangelte es nicht nur den Leitern an einer spezifischen pädagogischen Ausbildung, sondern den Häusern fehlten neben Psychologen oder Psychiatern insgesamt geschulte Mitarbeiter. Allein für das Josefshaus stellte er einschließlich der Lehrer einen Fehlbedarf von 64 Mitarbeitern fest.827 U.a. zur Erarbeitung und Koordination von Reformkonzepten, aber auch als Verbindungsglied zu Behörden und Ausbildungsstätten für die drei Heime schlug er eine am Generalvikariat anzusiedelnde zentrale Institution vor. In den Häusern selbst sollten qualifizierte Leitungsteams, bestehend aus dem Erziehungsleiter, dem Seelsorger und dem Verwaltungsleiter, eingesetzt werden.828 Allerdings zeigte sich ein halbes Jahr später, dass durch die wichtige Frage der finanziellen Unterstützung der erforderlichen Baumaßnahmen aus Bistumsmitteln eine Kooperation der Heime nur schwer825 826

827

828

Vgl. Frings, Stift Tilbeck, S. 187f. Direktor Rüberg an Generalvikarsrat Homeyer v. 29.1.1969, in: BAM GV NA A 101370. Direktor Rüberg zur Situation der Bischöflichen Erziehungsheime im Bistum Münster v. 24.9.1970, in: ebd. Vorschlag Direktor Rübergs zur Neuorganisation der Bischöflichen Erziehungsheime im Bistum Münster v. 8.6.1971, in: ebd.

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lich zu verwirklichen war. Denn nachdem Direktor Rüberg bereits 1970 mit dem Generalvikariat aus seiner Sicht verbindliche Absprachen hinsichtlich der finanziellen Rahmenbedingungen getroffen hatte, waren im Herbst 1971 ebenfalls Bitten zur Förderung geplanter Bauvorhaben auf der Marienburg an Bischof Tenhumberg herangetragen worden. Nun musste erst die Erstellung einer Prioritätenliste abgewartet werden, da sich das Bistum nicht in der Lage sah, beide Projekte gleichzeitig zu unterstützen. In Wettringen wurde die Gefahr eines Scheiterns der Pläne als so groß eingeschätzt, dass Direktor Rüberg beim Generalvikar anfragte, ob die „Schließung des St. Josefshauses Wettringen als Erziehungsheim zur Debatte steht“. Und weil „die derzeitigen Zustände unseres Hauses fachlich nicht länger zu verantworten sind, kann m. E. nur noch entschieden werden, entweder diese Zustände umgehend positiv im Sinne des vorgelegten Konzeptes und der anstehenden Neubauplanungen zu ändern oder aber die traditionelle Aufgabe unseres Hauses aufzugeben.“829 Letztlich konnte hier im Frühjahr 1973 mit der Errichtung sechs neuer Gruppenhäuser begonnen werden, die 1976 mit jeweils zehn Kindern belegt wurden. Dennoch blieb auch unter Direktor Rüberg der Tagesablauf im Josefshaus eng reglementiert, indem etwa die Jungen weiterhin ihre Gruppendienste wie Spülen, WC-Putzen oder Fegen zu verrichten und sich an die auf 21.00 Uhr festgeschriebene Nachtruhe zu halten hatten. Bei Regelverstößen griffen Strafen wie „Rauchverbot, Ausgangssperre, Fernsehverbot, eher ins Bett, Arbeit (z. B. im Garten), ab und an mal eine Backpfeife (z. B. für Lügen)“. Belohnt wurde mit einer zusätzlichen Zigarette, längerem Ausgang oder Süßem.830 Direktor Rüberg empfand also zumindest noch Ende der 1960er Jahre keinen Widerspruch zwischen den von ihm forcierten weitreichenden Modernisierungen in Richtung deutlicher räumlicher Verbesserungen sowie einer Personalaufstockung durch qualifizierte Pädagogen und einem offenbar nach wie vor für notwendig erachteten engen Ordnungsrahmen einschließlich körperlicher Züchtigung. Die Planungen der Verantwortlichen der Marienburg ließen sich dagegen nicht erfolgreich umsetzen. Hier hatte Direktor Dierkes noch den Neubau der Berufsschule und eines Gruppenhauses begonnen, ehe er 1966 verstarb. Sein im gleichen Jahr eingesetzter Nachfolger Kaplan Karl Niepagenkämper plante dann zwischen 1970 und 1973 den Ab829 830

Direktor Rüberg an Generalvikar Lettman v. 23.31972, in: ebd. Benölken, Josefshaus, S. 85ff., Zitat S. 86.

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bruch fast der gesamten alten Bausubstanz zu Gunsten neuer Gebäude, die auch eine Schwimm- und eine Sporthalle einschließen sollten. Vermutlich wegen zu hoher Kosten kam es nicht zur Ausführung. Allerdings litt das Haus besonders an einem starken Personalmangel und unzureichenden pädagogischen Konzepten. So betätigten sich noch Ende 1968 neben 27 Schwestern – davon elf in der Erziehung – nur eine weltliche Sozialarbeiterin sowie vier männliche und 15 weibliche Angestellte im Haus. Von den als Gruppenleiterinnen fungierenden Schwestern waren zwei Heimerzieherinnen, vier Kindergärtnerinnen, eine Wirtschafterin, eine Jugendleiterin und eine ohne pädagogische Ausbildung. Und 1970 hatten innerhalb kurzer Zeit drei Lehrerinnen die Marienburg verlassen, für die trotz intensiver Bemühungen kein adäquater Ersatz zu beschaffen war, sodass die Schülerinnen der neunten Klasse die öffentliche Schule in Coesfeld besuchen mussten. Als Folge dieser schwierigen Gesamtsituation kämpfte das Heim seit Anfang der 1960er Jahre mit einer permanenten Unterbelegung, obwohl die Zahl der Soll-Plätze bis 1970 von 200 auf 165 abnahm.831 In den nachfolgenden Jahren monierte das Landesjugendamt in seinen Heimaufsichtsberichten zudem immer wieder, dass das Personal nur selten Fortbildungsveranstaltungen besuche, nicht wie gefordert ein Erziehungsleiter eingestellt würde und sich die Zusammenarbeit zwischen den Vorsehungsschwestern und den weltlichen Erzieherinnen schwierig gestalte. Auch unter dem neuen, 1975 ernannten geistlichen Direktor Wilhelm Eismann kam es dann zu keinen durchgreifenden Verbesserungen, als das Landesjugendamt in Folge von vier Suizidversuchen im Heim innerhalb weniger Wochen mit der zukünftigen Nichtbelegung der Marienburg drohte. Letztlich zog sich der Träger 1979 aus der Erziehungsarbeit zurück und schloss die Marienburg.832 Bereits 1968, im ersten Jahr nach seiner Amtsübernahme, sah sich Generalvikar Lettmann mit einem Konflikt im Martinistift konfrontiert, der erneut dort herrschende strukturelle Probleme innerhalb der Mitarbeiterschaft, aber auch des pädagogischen Konzepts aufzeigte. Verschiedene Schreiben deuten darauf hin, dass zum einen größere Differenzen zwischen Direktor Wiggenhorn und den im Haus tätigen Canisianer-Brüdern bestanden und zum anderen auch von Seiten des Präses sowie Erziehern und Jungen den Brüdern immer stärker mit Ablehnung begegnetet wurde. Diese großen Spannungen kamen in ei831

832

Angaben für die Heimaufsicht mit Stichtag 15. Nov. 1968, in: BAM, Marienburg A 26; Chronik Marienburg 1966-1971, in: ebd. A 2 u. A 6. Frölich, Das Landesjugendamt in Westfalen, S. 186-188.

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nem Schreiben eines Bruders an den Direktor vom Sommer 1968 zum Ausdruck, in dem er sein Unverständnis und seinen Unmut über die „Aversion“ des Leiters ihm und seinen Mitbrüdern gegenüber zum Ausdruck brachte, von denen schon vier „doch buchstäblich hier rausgeekelt worden“ seien. Dabei könne er nicht erkennen, dass „für diese bessere und qualifiziertere Leute eingestellt“ worden wären.833 Der zu dieser Zeit als Seelsorger des Martinistifts fungierende BenediktinerPater Desiderius Fischer legte wenig später in einer Mitteilung an den Generalvikar seine Sicht zur Stellung der Brüder dar, denen er zunächst kein Ordensmännern gebührendes Verhalten, sondern Arroganz sowie das Fehlen des „Gehorsams und der Demut gegenüber der Kirche wie der Oberen“ attestierte. Daher hätten nicht wenige Mitarbeiter, aber auch Jugendliche des Stifts grundsätzlich ihre Hochachtung vor Ordensleuten verloren. Gerade auch die Jungen, die die Brüder durchschauten, hielten nun „alles, was in der Kirche gesagt und verkündet wird […] für Lüge und Verführung, weil die Brüder durch ihr Verhalten all diese Worte Lügen strafen. Sie sind abgestossen von dem Streben nach Macht, das sie da sehen und erleben, und wie sie diese Macht andere – Angestellte und Jungen – fühlen lassen. Sie erregen sich darüber, dass diese Ordensmänner nur erwarten, dass andere vor ihnen kriechen. Und erst recht stossen sich die Jungen daran, wie die Brüder ein geruhsames Leben führen und sich alles leisten können an materiellen Gütern wie an Anmassung. Dabei sagen die Jungen, dass junge Brüder, die hierher kommen, von den anderen in den herrschenden Sog hineingezogen und damit verdorben werden. Das Vorbild, das unsere Jungen in den Brüdern hier vor Augen haben, macht ihnen die Botschaft Christi, die wir zu verkünden bestrebt sind, unglaubwürdig.“834 Am gleichen Tag bat Direktor Wiggenhorn den Generalvikar dafür zu sorgen, dass ein aus dem Stift abberufener Bruder auf keinen Fall zurückkehre. Denn die ansonsten drohenden Auseinandersetzungen zwischen Mitarbeitern und den Brüdern müssten wegen der Auswirkungen auf die Jungen vermieden werden. Zudem drängte er auf die möglichst geräuschlose Ablösung aller Brüder des Martinistifts. „Es muß weiterhin klar sein, dass für die erste Zeit jeder Besuch zu vermeiden ist, jeder Verkehr mit unseren Jungen abgebrochen, jeder Schlüssel abgegeben und jedes private Eigentum der Brüder oder der Brüderge833 834

Br. W. an Direktor Wiggenhorn v. 27.6.1968, in: BAM, GV NA A 101-370. P. Desiderius Fischer an Generalvikar Lettmann v. 15.7.1968, in: ebd.

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meinschaft mitgenommen werden muß.“835 In dieser Situation schloss sich die Bistumsleitung anscheinend der Sicht des Direktors an, der bei einer weiteren Eskalation zudem befürchtete, dass der Konflikt an die Öffentlichkeit käme. Bis Ende 1968 hatten die Brüder das Martinistift verlassen. Der vermutlich auch für die Bistumsleitung schmerzvolle, in seiner Schärfe besonders ausgeprägte Gegensatz machte nicht nur die anscheinend abgehobene Selbsteinschätzung einiger Brüder deutlich, sondern offenbarte auf der anderen Seite zumindest zwischen den Zeilen eine im Martinistift nach wie vor starke Orientierung an den traditionellen Modellen pädagogischen Arbeit. Wenn etwa Bruder W. offen davon sprach, dass die Isolierung eines Jungen nicht unbegründet gewesen sei, wies dies auf einen althergebrachten Strafen-Katalog hin. Gerade in Anbetracht „der heutigen Kompliziertheit der Erziehung“ werde rein gar nichts für die Schulung der Mitarbeiter getan, sodass von einer breiten Unterqualifizierung auszugehen war. Schließlich ständen nur sechs Konferenzen für die Gruppenerzieher innerhalb eines halben Jahres für keinen wirklichen, eigentlich erforderlichen Austausch unter den Erziehungskräften. Nach den Worten des Bruders wollte Direktor Wiggenhorn letztlich ausschließlich Erzieher, die „ausgelastet sind, wenn sie morgens und abends die Türe auf- bzw. abschließen und sich damit begnügen, aufzupassen, daß keiner fortläuft. […] Bevor ich das Stift, in etwa vier Wochen, verlasse, wollte ich Ihnen dieses doch einmal gesagt haben, nicht aus Verärgerung oder Kritiksucht, sondern aus ehrlicher Sorge für die Zukunft der Jungen, denn sie allein sind die Leidtragenden, für die in Richtung Erziehung und Bildung – außerhalb des Berufes – nichts getan wird. Und schließlich sollten diese Zeilen dazu beitragen, daß Sie ein wenig nachdenken und sich besinnen zum Thema: ‚Martinistift wohin?’“836 Wenn Direktor Wiggenhorn noch in einer im Sommer 1974 verfassten Denkschrift für Bischof Tenhumberg davon sprach, „daß die Heime auch im kirchlichen Raum am Rande angesiedelt sind“, dürften dieser Formulierung eigene, als schmerzhaft empfundene Erfahrungen zu Grunde gelegen haben. Obwohl von ihm zumindest mittelbar als Diözesaneinrichtung bezeichnet, hatte das Bistum das Martinistift bei seinen Baumaßnahmen bislang außer der Beihilfe von 1964 nur mit einem Betrag von 15.000 DM für die Reparatur der Kapelle unterstützt, 835 836

Direktor Wiggenhorn an Generalvikar Lettmann v. 15.7.1968, in: ebd. Br. W. an Direktor Wiggenhorn v. 27.6.1968, in: ebd.

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wobei die Finanzlage des Hauses seit 1962 äußerst angespannt war. Vor diesem Hintergrund skizzierte er dann ein Szenario, das die Heime in freier Trägerschaft, darunter gerade die kirchlichen Einrichtungen, in der akuten Gefahr sah, ihre Eigenständigkeit vor allem durch die Anspruchnahme staatlicher Mittel zu verlieren. Daher bat er hinsichtlich der anstehenden Errichtung einer Sporthalle und einer „Rektoratsschule“ um die Bewilligung zweier langfristiger Darlehen der Diözese in Höhe von insgesamt einer Mio. DM, zumal seit 1963 zur Vermeidung von Abhängigkeiten beim Landesjugendamt keine Anträge auf Baudarlehen mehr gestellt worden waren.837 Eng damit verbunden sah Direktor Wiggenhorn die Frage, inwieweit die „Heime noch frei sind in Erziehungsstil und Methode“. So wäre das Martinistift „manchen ideologisch stark verfestigten Heimatjugendämtern“ zwar als Ausbildungsstätte willkommen, aber sie betrachteten den „Erziehungs- und Lebensstil […] als rückständig und bigott“. Jedoch müsse gerade den jetzt im Stift befindlichen „Kindern der Wohlstandsgesellschaft, die häufig ohne Gebet, Gebot und Gott und Kirche aufgewachsen“ seien und zudem unter einer allgemeinen Orientierungslosigkeit litten, ein konkretes religiös geprägtes Erziehungsmodell angeboten werden. Daher sollte auch gegen Widerstände die religiöse Erziehung in bewährter Form beibehalten werden. Dazu zählte auch, für die Jugendlichen den Besuch der Messfeier nicht „der Beliebigkeit anheim[zu]stellen“.838 Dabei war gerade der offenbar hinsichtlich des Sakramenten-Empfangs im Stift ausgeübte Druck wenige Monate vor der Übersendung der Denkschrift Grund für einen Berufsschullehrer, der auch Jugendliche des Stifts unterrichtete, den Bischof auf diese kritikwürdige Praxis hinzuweisen. Er bemängelte etwa, dass der sonntägliche Gottesdienstbesuch zwar nicht erzwungen werde, aber bei einer Nichteilnahme mit der Versetzung in ein anderes Heim gedroht würde. Wegen der guten Ausbildungsmöglichkeiten im Stift würde ein solcher Schritt gefürchtet und daher die Religiosität von den Jungen oftmals vorgetäuscht. Für die Glaubwürdigkeit des Hauses sei dies verhängnisvoll.839 Direktor Wiggenhorn, dem die Beschwerde bekannt war, sah als Garanten für den Erfolg seines Erziehungsmodells die Mitarbeiterschaft des Martinistifts – zwei Priester, zehn Ordensschwestern so837

838 839

Denkschrift über das Martinistift v. 20.8.1974 mit Anschreiben an Bischof Tenhumberg, in: BAM GV NA A 0-483. Ebd., S. 27. Oberstudienrat Hubert Huppertz an Bischof Tenhumberg v. 20.3.1974, ebd.

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wie 125 bis auf zwei katholische und praktizierende Katholiken –, die „zum überwiegenden Teil kein Stundendenken“ kenne und wie er in einer Zeit „eines gegenüber heute strafferen Erziehungsstils“ groß geworden wäre. Ihr ginge es um die Verbindung des Bewährten mit dem Positiven neuer Einsichten. „Eine Totalumstellung von heute auf morgen scheint nicht möglich, ohne Schaden anzurichten. Noch weniger ist diese Mannschaft bereit, sich den z. Zt. häufig wechselnden neuen Erkenntnissen unbesehen hinzugeben. Sie weiß, dass es heute wie morgen nicht ohne Autorität gehen wird, wie ohne ein Abwartenkönnen in bestimmten Situationen.“ Der für den Großteil der im Stift tätigen Erzieher zu konstatierenden fehlenden fachlichen Ausbildung stellte der Direktor entgegen, dass viele von diesen „von Herkunft und Haltung“ den Jugendlichen näher seien „als manche akademisch ausgebildeten Pädagogen und daher oftmals besser in der Lage, die bei den Jungen vorhandenen Ansätze zu finden. Leider fühlt sich die Gesamtheit der Mitarbeiter vom Bistum wenig beachtet und ungeschützt gegenüber möglicherweise bei einem Teil der Mitarbeiter aufkommenden Schwierigkeiten, da das neue Ju.Hi.Gesetz, soweit es jetzt erkennbar ist, an die Fachlichkeit der Erzieher im Heim hohe Anforderungen stellt.“840 Eine Reaktion des Bischofs sowohl auf die Beschwerde des Lehrers als auch auf die Denkschrift Direktor Wiggenhorns ist nicht dokumentiert. Das Landesjugendamt in Münster bewertete zwar die Bemühungen des Martinistifts zur Berufsausbildung der Jugendlichen durchaus positiv, kritisierte aber scharf die inneren Verhältnisse, den Erziehungsstil wie auch die mangelnde Kooperation mit der Aufsichtsbehörde, was sich an mehreren Konflikten zeigte. So verwahrte sich 1973 Direktor Wiggenhorn im Namen der Erzieher des Stifts dagegen, dass Mitarbeiter des Landesjugendamts bei einem Besuch alleine mit Jugendlichen der Drogengruppe gesprochen und deren Beschwerden entgegen genommen hatten. Die Auseinandersetzung blieb ohne wirkliche Klärung und wurde im nachfolgenden Jahr durch einen weiteren Vorfall noch verschärft. Ein Jugendlicher, der aus einer Werkstatt des Martinistifts ein Sägeblatt entwendet hatte, um damit aus der geschlossenen Gruppe zu entweichen, wurde bei seinem Fluchtversuch von zwei Erziehern entdeckt. Dabei kam es zu einer heftigen gewaltsamen Auseinandersetzung, in deren Verlauf ein Erzieher mit dem Sägeblatt in Richtung des Jungen schlug und ihn am Arm verletzte. Dieser Vorfall wurde weder dem 840

Denkschrift über das Martinistift v. 20.8.1974, ebd., S. 14, 18, 22.

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Landesjugendamt gemeldet noch ins Protokollbuch eingetragen. Als die Ereignisse dann doch der Aufsichtsbehörde bekannt geworden waren, kam es erneut zu einem sich bis Anfang 1975 hinziehenden Konflikt bezüglich der Ausprägung der Heimaufsicht.841 Schließlich gelangte bald danach eine Beschwerde des Landesjugendamts Rheinland an die westfälische Behörde. Demnach waren zwei im Martinistift untergebrachte Jugendliche aus dem rheinischen Amtsbereich nach einer Entweichung vom seit 1972 eingerichteten Heimgericht des Stifts zur Verlegung in die geschlossene Gruppe verurteilt worden. Das Heimgericht setzte sich aus dem Leiter der Schule als Vorsitzenden, den jeweiligen Gruppenerziehern als Beisitzern sowie zwei Jugendlichen aus anderen Gruppen zusammen und wurde bei Verstößen gegen die Heimordnung einberufen. Die Angeklagten hatten keinen Verteidiger, wobei der Direktor die Urteile bestätigen musste. Beide Landesjugendämter kritisierten die Verurteilung der beiden Entwichenen als „unrechtmäßigen Freiheitsentzug“.842 Sämtliche Konflikte zwischen dem Landesjugendamt und dem Martinistift scheinen ohne Beteiligung der Bistumsleitung abgelaufen zu sein. Inwieweit damit eine Zustimmung zur Haltung Direktor Wiggenhorns, der 1978 aus seinem Amt schied, oder eher dessen Isolierung signalisiert wurde, ist nicht dokumentiert. Fazit Wenn auch die Entwicklungen der Marienburg, des Martinistifts und des Josefshauses als „bischöfliche“ Heime während der drei Nachkriegsjahrzehnte schon auf Grund der spezifischen Ausprägungen und Voraussetzungen unterschiedlich verliefen, ließen sich doch auch einige Gemeinsamkeiten erkennen. Zunächst scheinen die Lebensbedingungen in den Häusern lange Zeit sehr einfach gewesen zu sein. Vor allem für das Josefshaus lassen sich bis Anfang der 1960er Jahre sogar ärmliche Verhältnisse konstatieren, die nicht nur die Ausstattung der Räume, sondern auch die mangelhafte Kleidung der dort untergebrachten Jugendlichen betraf. Außerdem wurden alle Einrichtungen über den gesamten Zeitraum von geistlichen Direktoren in großer Eigenständigkeit geleitet. Von ihnen hing es daher in großem Maß ab, inwieweit sich die Heime auf zukunftsweisende Veränderungen einließen. 841 842

Frölich, Das Landesjugendamt in Westfalen, S. 182-186. Kaindl, Heimkinder und Heimerziehung in Westfalen-Lippe 1945-1980, S. 24f.

JOSEFSHAUS, MARIENBURG, MARTINISTIFT

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Gleichzeitig sah die Bistumsleitung in Münster durch die geistlichen Direktoren die kirchliche Ausrichtung als ein wesentliches Anliegen ihrer Trägerschaft gewährleistet. Eine regelmäßige und umfassende Kontrolle scheint daher nur in pastoralen Fragen als notwendig erachtet worden zu sein. Hierzu zählte auch die Aufsicht über die in den Häusern tätigen Ordensgemeinschaften bischöflichen Rechts. So musste in der Auseinandersetzung Direktor Wiggenhorns mit den CanisianerBrüdern letztlich der Bischof dem Abzug der Brüder aus dem Martinistift zustimmen. Ansonsten sah sich der Träger nur in Krisensituationen, wie sie etwa 1959 im Zusammenhang mit der Verurteilung von drei Erziehern des Martinistifts wegen sexueller Verfehlungen gegeben waren, zum Eingreifen genötigt. Gerade der hier ausgetragene Konflikt mit der staatlichen Oberaufsicht machte deutlich, dass es dem Träger offenbar weniger um das Wohl der Jungen oder die Beseitigung struktureller Defizite als um den Erhalt der eigenständigen Position ging. Auch die anscheinende Normalität körperlicher Züchtigung und anderer massiver Strafen wie auch die ärmlichen Verhältnisse in den Heimen wurden entweder nicht wahrgenommen oder als nicht so bedeutend betrachtet, um einzugreifen. Außerdem waren eigene konzeptionelle Vorstellungen und Modernisierungsbestrebungen des Trägers kaum zu erkennen. Erst der neue, vergleichsweise junge Generalvikar Lettmann scheint hier seit dem Ende der 1960er Jahre stärker initiativ geworden zu sein. Dies schloss nun auch eine stärkere Bereitstellung von Bistumsmitteln ein, die zuvor trotz des sichtbaren Bedarfs äußerst begrenzt geflossen waren. Schließlich zeigte das Agieren Direktor Wiggenhorns seit Mitte der 1960er Jahre – vermutlich auch vor dem Hintergrund der Ausweitung der Heimaufsicht durch das Landesjugendamt Westfalen –, dass die Frage nach der Bedeutung und Ausprägung der freien Trägerschaft die Planungen stark beeinflusste. Er befürchtete eine schleichende „Verstaatlichung“ der kirchlichen Erziehungsarbeit, der er sich durch eine möglichst von staatlichen Krediten unabhängige Finanzierung der eingeleiteten Baumaßnahmen und durch die Ablehnung von Interventionen der Heimaufsicht zu Gunsten der im Haus betreuten Minderjährigen zu entziehen suchte. Im Zuge der daraus erwachsenden Auseinandersetzungen wurde nicht nur die mangelnde Qualifizierung der Mitarbeiterschaft, die auch noch in den 1970er Jahren traditionellen Erziehungsmethoden anhing, sondern auch die offenbar fehlende Unterstützung durch den Träger deutlich. Allerdings wurde an den

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KONKRETIONEN – REGIONEN UND HEIME

Konflikten des Landesjugendamts mit der Marienburg deutlich, dass anderseits die Bistumsleitung die dringend erforderlichen Modernisierungen nur bedingt auf den Weg zu bringen bereit war.

TAGESABLAUF

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6. Heimalltag 6.1 Tagesablauf

E

ines der oftmals traumatischen Erlebnisse ehemaliger Heimkinder war bereits die Aufnahme in ein Heim. Das zwangsweise Herausreißen aus der gewohnten Umgebung – so materiell dürftig, gefährdend, missbrauchend oder verwahrlost diese auch immer war – bedeutete nicht selten einen Schock. Der in den beschriebenen Aufnahmeritualen der konfessionellen Heime angestrebte Identitätswechsel durch Säuberung und Neueinkleidung sollte das alte Leben beenden und ein neues Leben in Zucht und Ordnung einläuten, wie es am Beispiel des Falles von Friedburg Walter im Birkenhof illustriert wurde.1 Daher war in den konfessionellen Heimen der Tagesablauf wie in den Einrichtungen in anderer Trägerschaft in der Regel eng strukturiert, wobei zunächst für die jeweilige Ausgestaltung sowohl der Heimtyp als auch das Alter der in ihnen untergebrachten Minderjährigen eine wesentliche Rolle für die Ausprägung spielte. So unterschieden sich etwa in einem Kinderheim bei gleichen Essenszeiten die Tätigkeiten bzw. Beschäftigungen eines Kindes in der Kleinkindergruppe von denjenigen der Schulkinder. Zudem hatten hier die Kinder und Jugendlichen je nach Alter und u. U. auch Geschlecht zumindest auf den Gruppen verschiedene Ämter zu übernehmen. Wera Rüth, 1944 unehelich geboren und nach dem Tod der Mutter von 1948 bis 1959 im Kinderheim Haus Hoheneck in EssenHeidhausen, wo sich Elisabeth-Schwestern in der Erziehung betätigten2, untergebracht, beschrieb den Verlauf eines normalen Tages während der 1950er Jahre im Essener Kinderheim kurz aber anschaulich: „Da war es so, wir standen dann morgens auf, wurden morgens um halb sieben geweckt, mussten dann sozusagen uns schnell waschen, Zähne putzen, Betten machen, Frühstücken. Und wurden dann in die Schule geschickt. Kamen dann mittags nach Hause, nach der Schule, aßen dann zu Mittag, machten Schularbeiten, und dann hatten wir ein paar Stunden für uns zur freien Verfügung.“3 In den Erziehungsheimen nahm der Ordnungsrahmen einen noch größeren Raum ein, sodass die zeitlichen Vorgaben penibel sein konnten. Die Anfang der 1960er Jahre verfasste Hausordnung des Martinis1 2

3

Vgl. Kap. 5.4.7. Vgl. Die Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern der hl. Elisabeth zu Essen, zusammengestellt v. Schwestern d. Genossenschaft, Siegburg 1957, hier S. 333ff. Interview Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 12.

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HEIMALLTAG

tifts, einem FE-Heim für Jungen4, legte z. B. für den allgemeinen Tagesablauf fest: „6,30 Uhr Wecken. Es wird erwartet, daß jeder Junge sofort aufsteht, sein Bett lüftet, den Oberkörper freimacht und so zum Waschen geht. Jeder Junge steckt sein Handtuch in den Hosenbund, damit es nicht vertauscht wird. Danach Betten machen, anziehen, Zimmer säubern. 7,00 Uhr bis 7,40 Uhr Unterricht oder Sport an 4 Tagen in der Woche, an den übrigen Tagen hl. Messe. Anschließend Frühstück, Spülen und dann Raucherlaubnis, wenn der Erzieher aus einem stichhaltigen Grund gar nichts anderes anordnet. 8,20 Uhr Auf dem Hof Antreten zur Arbeitseinteilung. Dabei trägt jeder Junge seine Arbeitskleidung, soweit er sich nicht in der Werkstatt umzieht. Auf dem Wege zur Arbeitsverteilung wird nicht mehr geraucht. 11,55 Uhr Mittagspause. Die Jungen gehen, zwar nicht in Marschkolonne, aber geschlossen zum Haus zurück. Vor dem Essen machen sich die Jungen sauber. Beim Essen herrscht Ruhe, auch das Radio wird nicht angestellt. Das Spülen wird vom Erzieher eingeteilt und überwacht. Beim Spülen kann gesprochen werden. Geraucht wird erst nach dem Beten, wenn der Erzieher nicht anderes anordnet. Der Stubenordner bringt nach dem Spülen das Eßgeschirr zur Küche. 13,30 Uhr Wird die Gruppe sauber verlassen. Jeder ist wieder zur Arbeit angezogen. 15,45 Uhr bis 16,00 Uhr Kaffeepause und Austreten. In dieser Zeit – aber erst wenn das Butterbrot gegessen ist – kann Raucherlaubnis gegeben werden. 17,55 Uhr Werden die saubergemachten Arbeitsgeräte zur Geschirrkammer gebracht und die Jungen zum Hof begleitet. Hier Appell. Daran schließt sich die Putz- und Flickstunde an. Der grobe Schmutz wird vor dem Betreten des Hauses von den Schuhen abgestreift; die Stiefel werden gewaschen. Vor dem Haus werden dann die Schuhe richtig geputzt, die Arbeitskleidung soweit wie möglich gereinigt. Jeder Junge wäscht sich mit freiem Oberkörper, ebenfalls werden die Füße gewaschen. Dann 4

Vgl. zum Martinistift Kap. 5.4.9.

TAGESABLAUF

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werden die Wohnräume der Gruppe sauber gemacht. Dem Erzieher bleibt überlassen, wann an den einzelnen Abenden besondere Räume oder Einrichtungen gesäubert werden. (Schränke, Gruppenfächer, Fenster, Zahngläser usw.) 18,45 Uhr Abendessen. Ordnung wie beim Mittagessen. Der nachfolgende Abend gehört der Gruppe! 20,45 Uhr Bettruhe. Nach dem gemeinsam gesprochenen Abendgebet geht es mit größter Ruhe in die Schlafräume. Vom Abendbrot bis nach dem Frühstück am anderen Morgen ist Rauchen nicht erlaubt. Rauchen im Schlafraum wird immer mit einer 5 in Führung bestraft. 21,30 Uhr Wird das Licht gelöscht, bis dahin kann gelesen werden.“5 Am Freitag war bereits um 16.30 Uhr Arbeitsende, und ab 17 Uhr ging es zur Freizeit in den Saal oder zum Sportplatz. Samstags endete die Arbeit um 12 Uhr, der Nachmittag war mit unterschiedlichen Freizeitbetätigungen angefüllt. Nach dem Abendessen bestand Beichtgelegenheit sowie eine Lesestunde in der Gruppe. Am Sonntag wurden die Jungen um 7.45 Uhr geweckt, um dann um 8.20 Uhr geschlossen zum Gottesdienst zu gehen. Nachmittags standen Spaziergänge oder Sportveranstaltung sowie eine Andacht auf dem Plan. Außerdem konnte jeder Junge einmal im Monat Besuch empfangen und u. U. eine Ausgehgenehmigung erhalten. „Kommt ein Junge nicht zur angesetzten Zeit zurück, darf er drei Monate nicht mit seinem Besuch ausgehen. Das gleiche gilt, wenn er betrunken zurückkommt. In diesem Fall kann er auch noch härter bestraft werden, u. U. wird Besuchsverbot erteilt.“6 Vergleichbare Hausordnungen hat es von der Grundtendenz her in den meisten katholischen Erziehungsheimen für Jungen gegeben. Der vermutlich ebenfalls Anfang der 1960er Jahre verfasste Entwurf einer Heimordnung für das bei Paderborn gelegene Salvator-Kolleg Klausheide, ein FE-Heim für Jungen im Alter von 14 bis 21 Jahren in Trägerschaft des Salvatorianer-Ordens mit 1953 100 Plätzen mit verschiedenen Werkstätten und einer Heimberufsschule machte bei der Tagesordnung Unterschiede zwischen der Aufnahmegruppe sowie den Gruppen der schulpflichtigen und der schulentlassenen Jugendlichen. Auch gab es im Winter und im Sommer verschiedene Weck- und 5 6

Hausordnung des Martinistifts um 1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98. Ebd.

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HEIMALLTAG

Abb. 17: Essenverteilung am Kessel

Nachtruhezeiten. Schließlich waren auch die Zeiten für den Wechsel zerrissener oder nasser Kleidung bzw. Schuhe genau vorgegeben.7 Ähnliche Tagesabläufe wie hier geschildert, bestanden auch in evangelischen Einrichtungen, wie z. B. Diakon Arnold Schubert aus dem Fassoldshof berichtete.8 Die Mahlzeiten – 6.00 Uhr Wecken, 7.00 Uhr Kaffee, 9.30 Uhr Frühstück, 12.15 Uhr Mittagessen etc., 21.00 Uhr Licht aus – teilten auch in Kaiserswerth zusammen mit Andachten und Gebeten vor und nach jeder Mahlzeit den Tagesablauf ein.9 Dazwischen wurde gearbeitet, Hausdienste versehen etc. Der zum Teil auch zeitlich enge Rahmen ließ die Kinder und Jugendlichen in Neudüsselthal bereits zeitgenössisch klagen, dass sie keine Zeit für sich hätten. Ein 14-jähriger Junge gab 1953 als Grund für seine Flucht an: „Ich will raus“. „Es ist so eintönig, jeden Tag dasselbe. Wir haben so wenig Zeit für uns, etwa nur eine halbe Stunde am Tag und sonst so 10 Minuten oder so beim Antreten oder zwischendurch.“ Er „betonte dabei mit einer gewissen Verkrampfung immer wieder das Beten, also etwa: ‚aufstehen, Andacht, beten – Beten, Morgenkaffee, 7

8 9

Entwurf einer Heimordnung des Salvator-Kollegs Klausheide o. D. [vermutlich Anfang der 1960er Jahre], freundlicherweise von Pater Alfons Minas, Direktor von 1971-2003, als Kopie zur Verfügung gestellt. Siehe zum Fassoldshof Kap. 5.4.4. Vgl. Kap. 5.5.5.

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danken – zur Schule, beten, beten – Mittagessen, danken, - beten, Kaffeetrinken, danken – usw.‘“10 Die 1955 im Renthe-Fink-Haus untergebrachte Dagmar Kerste berichtete: „Ganz schön bescheiden, ganz schön bescheiden. Keine Schule, Arbeit, also ich musste putzen von morgens bis abends, Parkett spänen und schrubben und bohnern und trallala. Kinder, die Kleinen, auf die Pötte setzen und das war so mein Tagesablauf. Keine Schule, Sprechverbot, durfte also nur gesprochen werden zu bestimmten Zeiten, ich weiß aber die Zeiten jetzt nicht mehr. Wir durften nicht miteinander reden. Freundschaften durften nicht geschlossen werden [...] Man durfte also mit anderen Kindern keinen näheren Kontakt pflegen. Dann wurde einem an den Kopf geknallt: ‚Du bist wohl eine lesbische Kuh.‘ Das vergesse ich auch nie. Ich wusste auch überhaupt nicht, was das ist. Kuh wusste ich, aber lesbisch nicht. Ja, und dann gab es da einen prügelnden Hausmeister, also bei Verstößen gab es zehn Peitschenhiebe plus eine Woche Kellerhaft, 20 Peitschenhiebe plus zwei Wochen Kellerhaft, so setzte sich das zusammen. Essensentzug war die Bestrafung. Tja, das sind alles Sachen, die Kindern irgendwie nicht zuträglich sind, glaube ich.“11 Zu ihrem Geburtstag sei ihr zudem ein Paket ihrer Pflegeeltern mit einem selbstgebackenen Kuchen nicht ausgehändigt und an die anderen Kinder verteilt worden. Als sie sich beschwerte, sei sie mit Arrest in einem Zimmer bestraft worden. Statt einer Morgenandacht habe es morgens eine „Art Appell“ gegeben. „Wir mussten da so antreten und jeder, wir hatten so Nummern, ja, und jeder musste seine Nummer sagen, dass wir auch anwesend sind und dann konnten wir frühstücken gehen.“12 Der streng geregelte, eng normierte Tagesablauf in den Heimen hatte auch insofern Hintergründe in der Institution Heim bzw. Anstalt, als Großküchen und Werkstätten ihren Rhythmus in die Heimerziehung trugen. Darunter litten zum Teil nicht nur die Heimkinder, sondern ebenso die Mitarbeiter, die darauf zu achten hatten, dass den Belangen im Heimkosmos genüge getan wurde. Horst Fiedler berichtete aus Rummelsberg: „Denn der Tagesdienst der ging ja um halbvier in der Frühe los, Bäcker wecken, halbfünf Landwirtschaft wecken und um halbsechs Metz10

11 12

Reisebericht über den Besuch des Erziehungsheims Neu-Düsselthal am 13.5.1953 v. 15.5.1953, in: ALVR 41264; vgl. auch Kap. 5.4.2. Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 10. Ebd., S. 11.

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HEIMALLTAG

Abb. 18: Kinder beim Duschen im Martinistift/Appelhülsen

ger wecken und um halbsieben hat man dann das restliche Volk heraus geholt und dann hat man halt Dienst gemacht, dass die Zeiten eingehalten worden sind. Zum Beispiel gescheit zum Essen oder so, und dann abends um acht wieder. Und dann ging aber der Abend noch weiter bis um 10 Uhr und bis um 12 Uhr.“13 Die zum Teil unmodernen Sanitärräume bedingten in vielen Heimen besonders in den 1950er Jahren noch gruppenmäßiges Duschen – oft samstags – mit zentraler Regelung von kaltem und warmem Wasser. Vor allem der morgendliche und abendliche Appell, aber auch eine Reihe der anderen Tagesordnungspunkte besaßen durchaus militärische Züge und hatten einen stark überwachenden Charakter. Großer Wert wurde auf Ordnung und Sauberkeit gelegt. Wirkliche Freiräume 13

Interview Horst Fiedler (24.9.2010), Transkript, S. 39.

RELIGIÖSE ERZIEHUNG

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Abb. 19: Jungen an Waschbecken

für individuell gestaltete Zeiten wurden den Jugendlichen kaum zugestanden.

6.2 Religiöse Erziehung Zur Differenzierung und Prägung des Heimlebens durch Religion ist bereits verschiedentlich im Kapitel über die Debatten in den konfessionellen Heimen und in den Mikrostudien Auskunft gegeben worden. Im Handbuch der Heimerziehung, das die in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren maßgeblichen pädagogischen Leitlinien vorgab, befassten sich auf jeweils immerhin ca. 200 Seiten verschiedene Autoren aus evangelischer und aus katholischer Sicht mit der religiösen Erziehung.14 In seinem grundsätzlichen Beitrag zum katholischen Blickwinkel hob Gustav von Mann ihre große Bedeutung für die Erziehungsbemühungen in den katholischen Heimen hervor und erklärte, dass die religiöse Formung durch eine katholische Lebensordnung geschehen solle. Ausdrücklich wies er in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass in einem von einer Ordensgemeinschaft getragenen 14

Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 577-768.

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HEIMALLTAG

Heim „nicht die klösterliche Lebensordnung für das Heim maßgebend und prägend sein solle, sondern immer die katholische Lebensordnung. Es kann deshalb nicht ein junger Mensch deshalb, weil er genötigt ist, in einem Erziehungsheim zu leben, gehalten werden, etwa am heiligen Opfer an Werktagen teilzunehmen oder das ‚religiöse Stillschweigen’ einzuhalten.“15 In den zentralen evangelischen Beiträgen unterstrich Kurt Frör die Rolle des Erziehers als „Amtmann Gottes“16, Johannes Klevinghaus beschrieb den „christlichen Tages- und Jahreskreis in der Heimerziehung“, der eine Ritualerziehung fördern sollte17 und Ernst Nägelsbach die entsprechende Funktion von Gottesdienst, Sakrament und Andachten.18 Der oben ausführlich vorgestellte Gerhard Fangmeier befasste sich mit der Seelsorge am Praxisbeispiel seines eigenen Heimes.19 Der in den Beiträgen zum Ausdruck kommende Stellenwert der religiösen Erziehung wurde zumindest in der Theorie auch in den Heimen als entscheidendes Kriterium für ein erfolgreiches Ergebnis der gesamten Erziehungsbemühungen gesehen. So hieß es etwa 1951 in einem Praktikumsbericht eines Herz-Jesu-Missionars der Johannesburg, dass es letztlich die „religiösen Kräfte“ wären, die „oft am nachhaltigsten all die seelischen Schäden und Wunden zu heilen vermögen und das sittliche Wertgefühl erstarken lassen“.20 Da das Erziehungspersonal in den meisten Einrichtungen aus Ordensangehörigen bestand, verband sich diese Sicht zudem mit dem in den Ordenssatzungen festgeschriebenen Auftrag, neben dem eigenen auch für das Seelenheil der ihnen anvertrauten Minderjährigen Sorge zu tragen. Mit welcher Intensität und Ausprägung diese Anliegen verfolgt wurden, hing jedoch von mehreren Faktoren ab. Zunächst ist hier die spezifische Spiritualität der jeweiligen Ordensgemeinschaft in Betracht zu ziehen. Es scheint, dass die Gemein15

16

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20

Gustav von Mann, Grundsätze für die religiöse Erziehung, in: Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 674f. Kurt Frör, Grundfragen der evangelischen Heimerziehung, in: ebd., S. 577-596, hier 579. Johannes Klevinghaus, Der christliche Tages- und Jahreskreis in der Heimerziehung, in: ebd., 1952-1966, S. 597-607. Ernst Nägelsbach, Gottesdienst, Sakrament, Andachten, in: ebd., S. 608-623 Gerhard Fangmeier, Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, insbesondere für die männliche Heimjugend, in: ebd., S. 638-657. Vgl. auch Kap. 3.1. Bericht über mein Probejahr von Herbert Mayrhofer, 1952, in: Archiv Johannesburg, Ordner Veröffentlichungen, S. 14. Vgl. auch Kap. 5.4.3.

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schaften, die sich auf Grund ihrer Apostolatsaufgaben schwerpunktmäßig erziehungsschwieriger Kinder und Jugendlicher annahmen, besonderes Gewicht auf die Vermittlung religiöser Dimensionen legten. Dies galt z. B. für die Dominikanerinnen von Bethanien, die über die Teilnahme an der Eucharistie und die Vorbereitung der Kinder auf die Erstkommunion einen „Heiligungsprozess“ in Gang bringen wollten. Andreas Henkelmann weist für die Praxis im Kinder- und Jugenddorf „Maria im Klee“ darauf hin, dass die Kinder im Religionsunterricht etwa Merksätze aus dem Einheitskatechismus auswendig lernen mussten. Zum Sakrament der Eucharistie hieß es dort in der Fassung von 1956: „In der heiligen Kommunion vereinigt sich Christus […] schon jetzt auf innigste mit uns. […] Durch die heilige Kommunion vermehrt Christus in uns das Gnadenleben und gibt uns neue Kraft, als Kinder Gottes zu leben und ihm, unserem Meister, nachzufolgen. […] Er reinigt uns von lässlichen Sünden, von Fehlern und Nachlässigkeiten. Unsere bösen Neigungen werden geschwächt, und wir werden vor vielen Sünden bewahrt.“21 Auch die Schwestern vom Guten Hirten legten großen Wert auf die religiöse Erziehung. Aus „dem Glauben heraus“ wollten sie den Mädchen „ein Fundament“ mitgeben, das trotz aller Schwierigkeiten im Leben die uneingeschränkte Liebe Gottes zu den Menschen hervorhob.22 Diese religiöse Basis sollte vor allem in persönlichen Gesprächen geschaffen werden. Insgesamt gehörten in den Heimen regelmäßige Tischgebete, Morgen- und Abendgebete, die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst wie auch zumindest teilweise an den Werktagsgottesdiensten und die Beichte zum vorgegebenen religiösen Rahmen. Gerade in den Einrichtungen für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen waren die Katechese und dabei besonders die Vorbereitung auf die Erstkommunion wichtige Elemente der religiösen Erziehung. Hier wirkten auch Pfarrer oder Kapläne aus den Kirchengemeinden, in deren Bereich sich die Häuser befanden, an den Bemühungen mit. Wenn nach Gustav von Mann bei der religiösen Formung Gott nicht „zum Drohmittel erniedrigt werden“, sondern das Kind zuerst „den gütigen Vater in Gott erkennen lernen“ sollte23, sah dies in der Praxis offenbar anders aus. Denn 21 22 23

Henkelmann, Maria im Klee, S. 268. Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010), Transkript, S. 8. Vgl. auch Kap. 4.3. Von Mann, Grundsätze für die religiöse Erziehung, S. 674.

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Abb. 20: Abendgebet im Kinderheim

gerade in den 1950er Jahren beinhaltete die religiöse Erziehung „eine gewisse Drohkulisse“, durch die den Kindern und Jugendlichen ihre Sündigkeit vor Augen geführt und auch auf einen strafenden Gott hingewiesen wurde.24 24

Henkelmann, Maria im Klee, S. 272.

RELIGIÖSE ERZIEHUNG

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Im evangelischen Kontext spielte die „Bewährung des Gehorsams in der alltäglichen Lebensführung eine zentrale Rolle“.25 Eine regelmäßige und verpflichtende Teilnahme aller Heiminsassen, aber auch des Personals und ihrer Familien an den Gottesdiensten und Andachten wurde dabei selbstverständlich vorausgesetzt. Formal galt es dabei zwar, der gesetzlichen Religionsfreiheit zu folgen, doch wurde im Heimalltag vielfach ein faktischer Gottesdienstzwang durch die institutionellen Zwänge des Heims wie etwa die fehlende Aufsicht für Nicht-Kirchgänger den Heimkindern auferlegt. Ernst Nägelsbach thematisierte zwar den möglichen „Gewissenszwang“, doch hoffte er auf eine durch Gruppendruck zustande kommende christliche Heimgemeinschaft. In evangelischen Heimen galten deshalb vor allem christliche Erzieher als Garanten für die Prägung eines Hauses.26 Nicht selten wurde die Teilnahme an den Gottesdiensten als Zwang empfunden. Wera Rüth musste im katholischen Kinderheim Haus Hoheneck „jeden Tag zum Gottesdienst. Entweder abends oder morgens auf jeden Fall, die Kirche ist wohl wunderschön. Ich hab die auch mal meinem Mann gezeigt, aber wenn sie als Kind da ständig hin müssen, das ist ja praktisch Freizeitverplemperei gewesen. Das ist unmöglich gewesen.“ Dabei gingen die Kinder des Essener Heims in eine benachbarte Kirche, wohingegen die Schwestern die Haus-Kapelle benutzten. In der Kirche fand auch die Beichte der Kinder statt. „Jeden Samstag, den Gott geschaffen hat, und unsere Strafen dann einsammeln. Rosenkranz beten oder sonst was. Dann haben wir uns einmal den Scherz erlaubt, und haben gesagt, wir sagen jetzt alle dasselbe. Wir waren im Schulgarten Äpfel klauen. Und dann haben wir alle dieselbe Strafe gekriegt. Einen Rosenkranz beten.“27 Die damit gegebene Ironisierung des Beichtzwangs durch unwahre und schematische Beichten ist sowohl Zeichen der Ohnmacht wie auch der Persiflierung der sozialen Erwartung, der sich die Heimkinder in der totalen Institution Heim nicht entziehen konnten.28 Inwieweit die religiöse Praxis in den Heimen als Zwang erlebt wurden, hing bei den Kindern und Jugendlichen, die aus ihren Familien in die Heime kamen, auch von der dortigen religiösen Prägung ab. So waren regelmäßiger Kirchgang und die Beichte Josef Dorsten von zu 25 26

27 28

Siehe Jähnichen, Von der Zucht zur Selbstverwirklichung. Siehe hierzu die Bemerkungen in den Mikrostudien zum Fassoldshof (Kap. 5.4.4) oder Birkenhof (Kap. 5.4.7). Interview Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 13f. Vgl. hierzu Goffman, Asyle.

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Hause aus weitgehend fremd, als er damit auf der Johannesburg konfrontiert wurde.29 Für Walter Bertelt war die regelmäßige Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst dagegen nichts Ungewöhnliches, da er dies von seinem Elternhaus gewohnt war.30 Hier wirkte sich die in den 1950er Jahren beginnende und sich im nachfolgenden Jahrzehnt verschärfende religiöse Tradierungskrise vor allem unter der jungen Generation aus Sicht der Heimleitungen und Erzieher immer negativer aus.31 So beklagte sich bereits 1955 der Direktor des Josefshauses, dass die im Heim untergebrachten Jungen durchweg aus „religiös abständigen Familien, vielfach geradezu kirchenfeindlichem Milieu stammen“.32 Somit gestaltete sich die religiöse Erziehung immer schwieriger und war nach Meinung mancher Erzieher immer häufiger erfolglos, wie es auch dem Jahresbericht des Kinder- und Jugenddorfes „Maria im Klee“ in Waldniel zu entnehmen war: „Unsere Kinder und Jugendliche sind im allgemeinen für spontane Hilfeleistungen im Rahmen der Nächstenliebe sehr bereit. Für eine direkte religiöse Schulung, z. B. wöchentliche Schriftlesung usw. sind sie kaum ansprechbar. Die religiöse Bildung kann sich nur auf indirektem Wege abspielen, durch unauffälliges, andauerndes Beispiel. Persönliche seelische Erschütterungen können einen jungen Menschen auch wachrütteln und bereit für Gottes Gnade machen. Leider liegt die kath. Jugendarbeit in der Pfarrgemeinde Waldniel beinahe brach. Gerade von dieser Seite wäre für uns eine Hilfe erfreulich. Die Gottesdienstgestaltung spricht die Kinder als auch die Jugendlichen nicht an. Zuviele kirchliche Vorschriften hemmen die Initiativen des einzelnen Interessierten. Eine lebensnahe Eucharistiefeier könnte den jungen Menschen zum Lebensziel, Sinn und Zweck führen, ihn für Gottes Sache begeistern. Auch die Gottesdienste der Pfarrkirche sprechen unsere Jugend nicht an.“33 Auch mangelte es offenbar teilweise am nötigen Engagement der in den Häusern für die Seelsorge Verantwortlichen, wie es Anfang 1960 anscheinend im Josefshaus in Wettringen der Fall war, wo sich eine Mitarbeiterin beim Bischof über die Verhältnisse beschwerte.34 Die religiöse Erziehung in evangelischen Heimen wurde so erfolgreich dargestellt, dass in einer frühen kirchensoziologischen Studie von 29 30 31 32 33 34

Interview Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript S. 14f. Interview Walter Bertelt (17.6.2010), Transkript S. 15. Vgl. Henkelmann, Maria im Klee, S. 274ff. Direktor Geesink an BGV v. 27.4.1955, in: BAM, GV NA A 101-370. Jahresbericht 1968, zit. n. Henkelmann, Maria im Klee, S. 276. Vgl. Kap. 5.4.9.

RELIGIÖSE ERZIEHUNG

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Heinz Hunger – sie beruhte auf der Befragung von rund 10.000 Jugendlichen in Westfalen, Rheinland, Hessen-Nassau und der Pfalz im Oktober und November 1953, darunter rund 300 FE-Zöglinge – letztere als besonders religiös mit höheren Bindungen als die Gruppe der Jugendlichen insgesamt dargestellt wurden. Gerade der Kirchgang wurde als „Lieblingsbeschäftigung“ (mit 42,1 % statt 23,6 % in der Gesamtbefragtengruppe) angegeben. Der Autor buchte dies als Erfolg der Heimerziehung, die eine „nachgeholte religiös-kirchliche Erziehung“ leiste und einen großen Anteil am Ausgleich der Milieuschäden und dem späteren Lebenserfolg der Zöglinge habe. So gehörte für ihn die Heimerziehung neben der Höheren Schule und einer dörflich-kleinstädtischen Umgebung zu den „bremsenden Momenten mit positiv-bindenden Gehalten“ bei einem insgesamt zu beobachtenden Absetzungsvorgang der Jugend von Religion und Kirche.35 Hunger meinte damit, einer Untersuchung über „Formen des religiösen Erlebnisses bei Fürsorgezöglingen und sozial unbelasteten Kindern“ widersprechen zu können, die ergeben hatte, dass 10-14-jährige „asoziale“ Kinder der „Welt des Numinosen“ mit „Gefühlen der Furcht, der Abneigung und nicht gerade frommer Scheu“ begegnen. So würden sie Kirche „in Verbindung mit anderen das Gemeinschaftsleben ordnenden Kräften wie Schule, Polizei, Ämtern usw.“ bringen.36 Ob allerdings die von Hunger festgestellte Hochschätzung des Kirchgangs bei FE-Zöglingen möglicherweise nicht auch darauf beruhte, dass andere soziale Kontaktmöglichkeiten im Heim sehr eingeschränkt waren, und dieser als Abwechselung in einem eintönigen Alltag erlebt war, wurde vom Autor nicht diskutiert. Zudem machten sich im Lauf der 1960er Jahre immer stärker die gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungen bemerkbar. Der gemeinsame Besuch des Sonntagsgottesdienstes blieb zwar meist eine „Pflichtveranstaltung“, aber manche vorher im Tagesverlauf fest verankerte religiösen Handlungen verloren ihre Bedeutung. Darüber hinaus versuchte man z.B. im Kloster vom Guten Hirten in Münster, die Gottesdienste zeitgemäßer und jugendgerechter zu gestalten, indem etwa Ende der 1960er Jahre Jazz-Musik Eingang fand und sich Mädchen an

35

36

Heinz Hunger, Evangelische Jugend und evangelische Kirche. Eine empirische Studie, Gütersloh 1960, bes. S. 27f. u. 143-148; ders., Welche Auswirkung hat die Fürsorge-Erziehung in religiös-kirchlicher Hinsicht?, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 38-43. Ebd.

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HEIMALLTAG

deren Vorbereitung beteiligten.37 Im Guten Hirten in Ibbenbüren gingen die Minderjährigen 1970 teilweise in die Pfarrkirche, da sie vom Gottesdienst im Heim nicht angesprochen wurden. Obwohl offiziell kein Zwang bestand, wurden sie doch zur Teilnahme „angehalten“. Die Alltagsmessen blieben weitgehend unbesucht.38 Für Gerda Franz führte die religiöse Erziehung im Guten Hirten dazu, dass sie zu einem tieferen Glauben fand, der ihr auch im späteren Leben Halt gegeben hat.39 Andere ehemalige Heimkinder begründeten jedoch ihre spätere große Distanz zur Kirche mit der religiösen Praxis in den Heimen. Dabei kam auch zum Ausdruck, dass die erlebte Diskrepanz zwischen der geforderten Nächstenliebe und dem durch Strafen und Demütigungen erfahrenen Verhalten der meist aus Ordensgemeinschaften stammenden Erziehungskräfte ein wesentliches Motiv darstellte. Außerdem wurde bei manchen Ordensleuten das eigene religiöse Leben von den Jugendlichen nicht mehr als vorbildlich wahrgenommen, wie es offenbar Ende der 1960er Jahre im Martinistift beobachtet wurde.40 Auch im evangelischen Feld war der Gottesdienstzwang für die Heimkinder spürbar. Dagmar Kerste, die nach eigenen Angaben als zwölfjährige von einer Diakonisse zum Vorlesen sexuell erregender Geschichten missbraucht worden ist, fühlte sich dann später im Birkenhof „zwangskonfirmiert“.41 Die Drastik, mit der das christliche Liebesgebot und die Behandlung der Minderjährigen in den Heimen auseinandertraten, war hier wie auch in den Misshandlungsfällen besonders sichtbar. Verschiedene berichtete Akte des Widerstandes der Kinder und Jugendlichen gegen die erzwungene weihevolle Atmosphäre der Gottesdienste, Andachten und Gebete durch Unruhe, Schabernack etc.42 verweisen zurück auf die autoritätsstärkende Funktion der religiösen Rituale, die es aus Selbstbehauptungsgründen zu unterlaufen galt. Seit den 1960er Jahren beeinflusste allerdings die Entwicklung „von der Zucht zur Selbstverwirklichung“ gerade auch die religiöse Praxis in den evangelischen Kirchen.43 Das Ungenügen einer rein äußerlichen 37

38 39 40 41 42 43

Besuchsbericht des LJA Westfalen v. 10.3.1969, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Besuchsbericht des LJA Westfalen v. 3.8.1970, in: ebd., NDP 957. Vgl. Zum Guten Hirten Kap. 5.4.6. Vgl. zum Martinistift Kap. 5.4.9. Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 16 u. 20. Siehe z. B. Sucker, Schrei zum Himmel, S. 71. Jähnichen, Von der Zucht zur Selbstverwirklichung.

RELIGIÖSE ERZIEHUNG

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religiösen Ritualerziehung wurde nun in Anbetracht der in der evangelischen Kirche seit Ende der 1950er Jahre stattfindenden Kirchenreformdebatte verschiedentlich thematisiert, wie es am Beispiel der Düsselthaler Anstalten dargestellt wurde. Letztlich ging es darum, verstärkt die eher Kirchenfernen zu erreichen.44 Auf einer Arbeitstagung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge des EREV im März 1966 hielt Pfarrer Gerhard Schmücker ein Referat über „Der evangelische Charakter der Heimerziehung in der säkularistischen Gegenwart“.45 Unter den Anwesenden entstand eine Diskussion über den „evangelischen Charakter“ der eigenen Arbeit, der nach Schmücker von den dort tätigen Menschen bestimmt würde, nicht durch eine äußere „Prägung“. Die Mitarbeiter ihrerseits seien heute vielfach „auf dem Wege“. Man sollte aber nicht von „säkularistischen Menschen sprechen, auch wenn sie keine ausgesprochenen Kirchenchristen sind“. In der Diskussion sah z. B. Manfred Priepke die kirchlichen Veranstaltungen im Heim als fragwürdig an. Jugendliche würden dabei überfordert. Priepke meinte: „Fachlich gute und pädagogische Erziehung ist auch am stärksten evangelisch.“ Pfarrer Heerschlag aus Baden formulierte das neue Verständnis von Verkündigung, wonach es nicht das Ziel sei, „die Leute zwangsweise zu berieseln, wo immer wir nur können.“ Die Gegenposition nahmen eher traditionell geprägte Heimleiter wie Kleem (Rengshausen) oder Schüler (Neudüsselthal) ein, die auf den Einfluss religiöser Erziehung für den Einzelnen verwiesen und von Gottes Anspruch auf den Menschen argumentierten. Pastor Kindler (Schweicheln) meinte in diesem Zusammenhang: „Auf ein ‚Gerippe‘ äußerer Ordnung könnten wir nicht verzichten.“ Eine vermittelnde Position nahm der EREV-Geschäftsführer Karl Janssen ein, der betonte, dass man nicht „zum Glauben erziehen“, sondern nur Hilfen zur Teilnahme am Leben geben könne. Die religiöse Betreuung sei auf Freiwilligkeit abzustellen, meinte der Hamburger Propst Prehn, der auf freie Jugendkreise setzte, bei denen Jugendliche freiwillig an Taufe, Konfirmation, Andacht und Gottesdienst teilnehmen könnten.46 44 45

46

Vgl. Kap. 5.4.2. Niederschrift über die Arbeitstagung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge am 8./9.3.1966 in Celle, in: ADW, EEV 170. Siehe zur Einordnung der Person des Referenten: Gerhard Schmücker, Nach zwanzig Jahren. Über die Fürsorgeerziehung von 1945 bis 1965, in: Sozialpädagogik 7 (1965), S. 155-162. Alle Zitate: Niederschrift über die Arbeitstagung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge am 8./9.3.1966 in Celle, in: ADW, EEV 170.

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HEIMALLTAG

Als Ende der 1960er Jahre die Kirchenkritik zunahm geriet, wie am Beispiel der Düsselthaler Anstalten ausführlich gezeigt wurde, die religiöse Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen nicht nur von außen in die Kritik. Die expliziten Ablehnungen einer religiösen Erziehung im Rahmen des Kulturbruchs „1968“ motivierte auch Heimkinder, den Zwang zum wöchentlichen Gottesdienstbesuch und seine Unverständlichkeit zu beklagen. Der unverständliche Gottesdienst war zu jener Zeit nicht nur Thema im Feld der Heimerziehung, sondern insgesamt in der evangelischen Kirche. Verschiedene Reformversuche des Gottesdienstes fanden nachfolgend in den Landeskirchen statt, wobei es um eine stärkere Beteiligung der Gottesdienstbesucher ging. Auch in den Heimen wurde dies eingeklagt. Stieß dieser Prozess bei vielen Kirchengemeinden auf Widerspruch, so war dies ebenfalls in manchen Heimen der Fall. Hier dauerte der Wandel zu einer Vermeidung des Missbrauchs von Religion zur Autoritätsverstärkung zum Teil sehr viel länger.47

6.3 Freizeit Innerhalb des eng strukturierten und reglementierten Alltags in den Heimen blieb zumindest in den Einrichtungen für die Schulentlassenen wenig Platz für Freizeitaktivitäten, die zudem als „ein gestalteter zeitlicher Raum neben der Arbeit“ galten und sich daher in der Regel auf die Abendstunden und die Wochenenden beschränkten.48 In den Kinderheimen, in denen hinsichtlich der Beschäftigung der Kleinkinder weniger von Freizeit gesprochen werden kann, waren für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen nach der Bewältigung der Hausaufgaben auch die Nachmittage zu gestalten. Wenn vorhanden, wurden die Spielplätze genutzt oder etwa Spaziergänge in der Natur durchgeführt. Während der Wintermonate waren die Aktivitäten stärker auf die Gruppenräumlichkeiten begrenzt. Allerdings gab es auch dann die Tendenz, die Kinder außerhalb des Hauses spielen zu lassen. So erinnerte sich Wera Rüth, dass sie mit den anderen Kindern „mehr draußen spielen [musste] als drinnen, sonst wäre ja drinnen zu viel schmutzig geworden. Also, wenn so ein Wetter war, ob wir wollten [oder nicht], auch im Winter, dann mussten wir raus.“ Allerdings brachte die Jahreszeit u. U. auch ein besonderes Vergnügen. „Und dann hatten wir auch die Möglichkeit im Winter, 47 48

Siehe ausführlich Kap. 5.4.2. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 170.

FREIZEIT

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Abb. 21: Kinder beim Spiel (Kinderheim Altmannshofen/Württemberg) 1950

da war damals ja noch sehr viel Schnee da oben in Heidhausen, auch [auf der Klosterwiese] Schlitten zu fahren. […] Wenn man dann verunglückt ist, ich bin dann einmal in den Stacheldraht rein gesaust hier und hab hier noch Narben und hier noch eine Narbe und hier noch. Durch den, wir hatten ja noch keine Hosen, wir hatten ja nur dünne Strümpfe an. Mit solchen Strapsen. Das war kalt und sie mussten draußen bleiben. Sie durften nur wieder reinkommen, wenn es 6 Uhr war, wenn es zum Abendessen ging. Und wenn sie sich vorher waschen mussten. Vorher durften sie nicht das Haus betreten. Obwohl sie sich kaputt gefroren haben. Ich bin dann wohl nachmittags in den Keller gegangen, einfach still und heimlich. Still und leise in den Keller. Und hab mich dann unten im Keller aufgehalten, weil ich so gefroren habe.“ Andererseits begrenzte im Kinderheim Hoheneck die abendliche Andacht die Dauer des Spielens.49 Die Möglichkeiten der Freizeitaktivitäten im Haus hingen in den Kinderheimen zudem stark vom Angebot des Spielzeugs und vom Engagement der Erziehungskräfte ab, ein abwechslungsreiches Programm zu erstellen. Das Personal beschäftigte ältere Jungen meist mit Bastelarbeiten und die Mädchen mit Handarbeiten.50 49 50

Interview mit Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 12. Interview Gerda Franz [Aliasname] (12.10.2010), Transkript, S. 8 u. 10.

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Die Gestaltung der Freizeit in den FE-Heimen war Bestandteil des Erziehungskonzepts und hatte sich auch nach dem Geschlecht der in den Einrichtungen untergebrachten Minderjährigen zu richten. Für die Jungen zählten gerade im Sommer sportliche Aktivitäten wie Fußball-Spielen oder Schwimmen zum zentralen Freizeitangebot, wie schon die Tagesordnung des Martinistifts zeigte. Auf der Johannesburg nahmen Fußball- und andere Mannschaften an Meisterschaftsrunden sowie Sport- und Schwimmfesten des Kreises teil, womit auch wichtige, allerdings begrenzte Außenkontakte verbunden waren. Den Höhepunkt des Sportjahres bildete hier das Sportfest am Johannestag und das Schwimmfest. Auch Walter Bertelt sah in den vielen Sportmöglichkeiten eine positve Seite des Heimaufenthalts, zumal er „ein guter Fußballspieler [war], und da ging viel, viel Zeit drauf. Und wir hatten dann eine eigene Mannschaft, die dann auch nachher [...] weiß ich nicht mehr in welcher Liga spielte, auf jeden Fall gegen was weiß ich Sögel und [...] die kleinen Dörfer, die da rund rum lagen. Man hatte da gar keine Zeit zu eigentlich. Sich da so zu beschäftigen und jede Mittagspause oder so ging man auf den Sportplatz und hat Fußball gespielt.“51 Geschwommen wurde meist im nahe gelegenen Küstenkanal. Die intensive sportliche Betätigung brachte es zudem mit sich, dass die Jungen Aggressionen abbauen konnten und am Abend müde waren. Allerdings werden die unsportlichen Jungen im Sommer eher begrenzte Freizeitmöglichkeiten gehabt haben. Außerdem konnte dies auch die Stellung innerhalb der Hackordnung der Jugendlichen negativ beeinflussen.52 Selbst für die Erzieher konnte die Anerkennung der eigenen Autorität, wie Arnold Schubert über den Fassoldshof beschrieb, über gute Leistungen im Fußball erreicht werden.53 Im Winter prägten auf der Johannesburg Gesellschaftsspiele, Lesen und Theaterspielen die freien Stunden. Durch Radio und später auch Fernsehen sollte das Weltgeschehen im Blick bleiben, und Kinodarbietungen fanden ebenfalls im Heim statt. Schließlich wurden sonntags gemeinsame Wanderungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie alle sechs Wochen Gruppen-Fahrradtouren unternommen. 1959 fuhren erstmals ein Pater und ein weltlicher Erzieher mit 20 Jungen in eine Jugendherberge am in der Nähe Osnabrücks gelegenen Dümmer See, um dort eine Woche Urlaub zu verleben.54 51 52 53 54

Interview Walter Bertelt (17.6.2010), Transkript, S. 8. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 381-386. Siehe Kap. 5.4.4 Chronik der Johannesburg für den 25.10.1959; Zöglingsbuch der Johannesburg für die 1950er Jahre, in: Archiv Johannesburg.

FREIZEIT

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Abb. 22: Jungen vor einem Fernseher

Offenbar war es der Heimleitung der Johannesburg bereits in den ersten, durch große Armut geprägten Nachkriegsjahren ein großes Anliegen, den Jungen ein größeres Bücher-Repertoire zur Verfügung stellen zu können. Jedenfalls erinnerte sich Josef Dorsten, der sich selbst als „Leseratte“ bezeichnete, dass er während seiner dortigen Zeit „jedes Buch, was ein bisschen interessant [war], nicht Romane, Romane habe ich, sicher, wohl so diese Groschenhefte und so, die habe ich wohl gelesen, […] aber sonst habe ich immer in die Bücherei geguckt, also dann habe ich so in diese ’Kon Tiki’ und diese Abenteuerromane habe ich viel gelesen.“55 In den Mädchenheimen spielten Sportangebote offenbar kaum eine Rolle. Noch 1974 vermerkte ein Besuchsbericht des Landesjugendamts Westfalen, dass im Kloster vom Guten Hirten in Münster „wie in allen anderen Mädchenheimen […] über das mangelnde Interesse der Mädchen am Sport geklagt“ wurde. So beantworteten die Erzieherinnen die Frage der Behörden-Mitarbeiterin, „ob man es wagen könne, auch mal ein Sportfest für Mädchen zu arrangieren, […] sehr vorsichtig und zögernd […]. Es seien nur wenige Mädchen bereit, sich für eine solche Sache einzusetzen und auch zu trainieren. 55

Interview mit Josef Dorsten (25.5.2010), Transkript, S. 16f.

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HEIMALLTAG

[…] Alle 14 Tage ist ein Schwimmabend im Südbad. Die Erzieherinnen gehen in Zivil mit.“56 Zur Freizeitgestaltung der Mädchen zählten eher musische Aktivitäten wie Theaterspielen oder Musizieren, das Agnes Bröcker z. B. für die Kaiserswerther Mädchenheime nicht nur berichtet, sondern dies auch mit zahlreichen Bildern dokumentiert.57 Gerda Franz, die sehr musikalisch war, spielte während vereinzelter Ausflüge auf der Marienburg auch Gitarre, wobei sie als Strafe des Öfteren nicht daran teilnehmen durfte. In Haus Widey und danach im Guten Hirten in Münster sang sie im (Kirchen)Chor, was ihr Freude bereitete.58 Bis Ende der 1960er Jahre wurde auch im Guten Hirten das Angebot durch die Anschaffung von Fernsehern und Plattenspielern für die Gruppen erweitert. Da man sich jedoch noch nicht zur Teilnahme von Tanzkursen oder Kinobesuchen außerhalb des Heims durchringen konnte, fanden diese im Haus statt bzw. wurden Filme ausgeliehen.59 In allen katholischen Heimen wurden die kirchlichen Hochfeste nicht nur mit besonders feierlichen Gottesdiensten begangen, sondern zu diesen Anlässen fanden etwa auch musikalische Darbietungen statt. Auch die Namenstage des Direktors oder der Oberin wie auch des Patrons des Heims boten Gelegenheit, den normalen Alltag zu durchbrechen. Allerdings blieb dies in der Regel auf den häuslichen Rahmen beschränkt. Gerade aus den Patronatsfesten erwuchsen jedoch nicht selten im Lauf der Zeit kirmesähnliche Veranstaltungen, die teilweise auch Außenwirkung erzielten. Je nach Region nahmen Häuser auch am karnevalistischen Treiben teil. Auf die bereits zu Beginn der 1950er Jahre in den Düsselthaler Anstalten veranstaltete Kirmes, bei der die Jugendlichen durch die Ausgabe eines Heimgeldes auch in die Lage versetzt wurden, sich überhaupt einmal frei zu entscheiden, wurde bereits hingewiesen.60 In den Heimen richteten sich gerade die offeneren Angebote von Wanderungen oder auch des individuellen Ausgangs am Wochenende überwiegend an Jungen, wohingegen schulentlassene Mädchen sehr viel seltener die Möglichkeit zu selbstgestalteter, individueller Freizeit erhielten. Ursula 56

57 58 59

60

Besuchsbericht des LJA Westfalen v. 22.5.1974, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Siehe Kap. 5.4.5. Interview Gerda Franz [Aliasname] (12.10. 2010), Transkript, S. 7, 10 u. 12. Besuchsbericht des LJA Westfalen v. 10.3.1969, in: Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern vom Guten Hirten, NDP 956. Vgl. Kap. 5.4.2

BINDUNG UND BEZUGSPERSONEN

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Steingräber musste z. B. mit ihren Geschlechtsgenossinnen häufiger im Heim bleiben, wenn die Jungen in Oberbieber zu Wanderungen aufbrachen. „Ich weiß nur, dass wir Mädchen in Oberbieber echt benachteiligt waren. Ich habe das immer als Benachteiligung empfunden. Die Jungs, die sind wandern gegangen als Schulstunde. Wir Mädchen durften das nicht. Wir Mädchen mussten dann Handarbeit machen. Nähen, Stopfen, ich meine, dass muss ich sagen, das haben sie mir beigebracht, Stopfen. Aber die Jungs durften dann wandern und da habe ich mich als Mädchen immer diskriminiert gefühlt, weil wir das nicht durften. Ich wäre auch gerne in die Natur gegangen.“61 Dies stand im Gegensatz zu den vielen Wanderungen, die sie zuvor mit den Erzieherinnen im Heim Wolf an der Mosel gemacht hatte. Im Heimgelände von Mädchenheimen gab es oft kleine Gärten, in denen z. T. etwas angebaut wurde und sich die Mädchen auch in ihrer Freizeit beschäftigen sollten. Wie für die landeseigenen Heime des Rheinlands konstatiert, ging es vermutlich auch in vielen konfessionellen Häusern einerseits „um die prinzipielle Wahrung eines kirchlichen Feiertags und einer kulturellen Tradition, zum anderen um ein freizeitliches Angebot für die Jugendlichen, dass – ganz nebenbei – immer auch generelle Aspekte und Zielsetzungen der Heimerziehung wie die Förderung der Gemeinsamkeit, der Ordnung, des Wettbewerbes, der Konfessionalität, des Gruppengefühls und der Sportlichkeit mit integrierte.“62

6.4 Bindung und Bezugspersonen In den Interviews mit ehemaligen Heimkindern ist deutlich geworden, dass das Finden einer Bezugsperson in den Heimen oft die Färbung einer Erinnerung entscheidend beeinflusste. In vielen Fällen fanden sich neben Geschichten von Misshandlung und Missbrauch durch Erzieherinnen und Erzieher doch auch Personen, die eine Art Vater- oder Mutterersatz für die Minderjährigen darstellten. In seiner Dissertation zur retrospektiven Bewertung der stationären Erziehungshilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche, in der 355 Rückmeldungen von insgesamt 1.550 angefragten ehemaligen Heim61 62

Interview Ursula Steingräber (20.8.2010), Transkript, S. 48. Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 394.

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kindern, die sich zwischen 1945 und 2008 in sechs Einrichtungen in katholischer Trägerschaft befanden, ausgewertet wurden, hebt Klaus Esser hervor, dass das Vorhandensein bzw. das Fehlen einer Bindungsperson der wichtigste Aspekt für den Erfolg der Heimunterbringung war. Dabei war es entscheidend, unter den Erziehern, aber auch unter den sonstigen in den Einrichtungen tätigen Erwachsenen eine Bezugsperson gefunden zu haben. Unter den Befragten, die zwischen 1949 und 1970 in einem der Heime waren, gaben 79 % an, eine solche Person gefunden zu haben.63 Ohne diesen positiven Befund verallgemeinern zu wollen, zeigt er von seiner grundsätzlichen Aussage her vor allem die Bedeutung, die eine Bezugsperson für die Minderjährigen in Heimerziehung in der Regel hatte. So resümierte Gerda Franz über ihre Zeit im Waisenhaus der Vinzentinerinnen, dass es Zärtlichkeiten und ein Gefühl des Angenommenseins nicht gab. Einzig zu einigen weltlichen Mitarbeiterinnen entwickelten sie und auch andere Kinder soviel Vertrauen, um sich bei ihnen „auszuweinen“ und von den „Ungerechtigkeiten“ zu erzählen, ohne dass sich dadurch etwas änderte. Mehrmals kam es jedoch unter diesen Frauen zu Entlassungen. Als sie dann im Kloster vom Guten Hirten in Person der Erziehungsleiterin ihrer Klasse zumindest eine Bezugsperson gefunden hatte, die sie kontinuierlich begleitete, war dies ein entscheidender Meilenstein in ihrem Leben.64 Auch gewann sie eine nur wenig ältere Schwester als Freundin, der sie sich anvertrauen konnte. Da solche Beziehungen jedoch strikt verboten waren, wurde diese Schwester durch die Provinzleitung in ein anderes Kloster versetzt. Freundschaften zu Mitzöglingen waren auf Grund der im Heim herrschenden Regeln ebenfalls kaum zu schließen.65 Insgesamt scheinen wirkliche Freundschaften unter den Minderjährigen in den Heimen eher selten gewesen zu sein, wie etwa Dagmar Kerste berichtete. Hannelore Abraham kann sich sogar nicht mal mehr an Namen von anderen Jugendlichen oder Erziehern im Heim erinnern.66 Neben den Vorbehalten, die offenbar auf Seiten der Erziehenden bestanden, konnte es auch zu einem Problem werden, noch eine feste Bezugsperson außerhalb des Heims gehabt zu haben. Bis zum Tod ihres Großvaters, der sie regelmäßig besuchte und sich auch beim Jugendamt 63 64 65 66

Esser, Retroperspektive Bewertung, S. 517f. Interview Gerda Franz [Aliasname] (12.10.2010), Transkript, S. 2 u. 6. Vgl. Kap. 5.4.6. Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 10; Interview Hannelore Abraham (15.1.2010), Transkript, S. 20.

BINDUNG UND BEZUGSPERSONEN

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für sie einsetzte, war beispielsweise Wera Rüth relativ isoliert, wie sie berichtete: „Also, es war so, dass ich anfangs ja sehr an meinem Opa gehangen habe. Und wenn ich dann beschimpft wurde oder so, habe ich gesagt, ich erzähle alles meinem Opa. Damit habe ich mir natürlich keine Freunde gemacht. Ist klar. Und heute im Nachhinein weiß ich das. Dann […] sind die Nonnen hingegangen und haben die anderen Kinder mit dem Spielzeug, was ich von meinem Opa geschenkt bekommen habe, spielen lassen und ich musste mir das angucken. Dann war das Spielzeug plötzlich weg.“67 Zudem mussten bereits in den Kinderheimen zumindest die älteren Minderjährigen ihren Platz innerhalb der Gruppenhierarchie finden und verteidigen. Gerda Franz lernte schon im Waisenhaus, ihre „Ellenbogen“ zu gebrauchen, um sich durchzusetzen. Zudem gab es immer auch Kinder, die für die Schwestern eine Art Spitzeldienst verrichteten, sodass stets auch ein gewisser Argwohn gegenüber den übrigen Gruppenangehörigen herrschte. Auf der anderen Seite verfestigte sich auch ein Gemeinschaftsgefühl, wenn etwa die Kinder und Jugendlichen des Waisenhauses in der öffentlichen Volksschule des Ortes „nicht gerne gesehen“ waren.68 Gerade diejenigen Heimkinder, die praktisch von Geburt an in einem Kinderheim lebten, kannten nur diese Gemeinschaft, die daher auch einen hohen Stellenwert haben konnte, wie sich Gerda Franz erinnerte: „Also das sind so Erinnerungen und wenn du immer nur, du warst immer so ein kleines geschlagenes ängstliches Geschöpf, aber wie ich dann älter wurde, da hörte das bei mir auf, da habe ich mich gewehrt und dann hatte man auch versucht, mich dann in Familien unter zu bringen und das ist jetzt eine schöne Sache, dann hat man immer wieder versucht, mich aus dem Haus vom Waisenhaus in eine Familie zu vermitteln. Aber dann war ich, glaube ich mal, eine Woche weg, das weiß ich noch. Und dann bin ich wieder abgehauen, dann hat man mich wieder gesucht. Ich wollte immer, komischerweise, immer wieder ins Waisenhaus zurück, und das ist, glaube ich, vier oder fünf mal passiert. Was war das denn? Die Gemeinschaft glaube ich, ich wollte nicht einzeln irgendwo, ich bin immer wieder weggelaufen. Da hat doch überhaupt keiner angerufen, was macht denn der jetzt. Und das sind so Sachen, die Gemeinschaft, das ist ja bei mir heute auch noch. Diese 67 68

Interview Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 11. Interview Gerda Franz [Aliasname] (12.10.2010), Transkript, S. 4.

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HEIMALLTAG

Gemeinschaft, ich brauch einfach etwas um mich, und das war dieses. Immer wenn die Schwester Oberin schon sagte, Gerda, wir vermitteln jetzt wieder, du sollst wieder in eine Familie, ich wollte das nie. Komischerweise wollte ich immer im Waisenhaus bleiben.“69 In den FE-Heimen waren die „Hackordnungen“ auf den Gruppen noch stärker ausgeprägt, hatten die Schwächeren teilweise massiv unter dem Vormachtstreben der Stärkeren zu leiden, waren Denunziationen an der Tagesordnung. Dabei wurden diese Strukturen des Öfteren auch als Erziehungsmittel eingesetzt, wie es für Freistatt anschaulich dargestellt ist. So blieben auch hier echte Freundschaften eher die Ausnahme, gestaltete sich auch das Verhältnis zu den meist autoritären Erziehern häufig distanziert.70 Andererseits erklärten sowohl Josef Dorsten als auch Walter Bertelt, dass sie auf der Johannesburg jeweils einen Ordensbruder als Bezugsperson gefunden hatten, der ihnen zumindest in Fragen der Arbeit und der Mahlzeiten Vorteile verschaffte. Allerdings zeigten beide eine vergleichsweise große Arbeitsbereitschaft, die quasi den Weg zu dieser Beziehung ebnete.71 Ähnlich erlebte Richard Sucker in den Rummelsberger Heimen die Beziehung zu einem Lehrer, der ihm „sozusagen das Leben gerettet“ hatte, als schönste Stunden, weil dieser den Wissensdurst seines Schülers erkannte und ihm in Form von Privatunterricht am Nachmittag die Kompensation seiner Lücken ermöglichte.72 Die Beispiele weisen darauf hin, dass es in den Heimen unter den Erzieherkräften neben denjenigen, die sich durch liebloses, nicht selten brutales und demütigendes Verhalten gegenüber den ihnen anvertrauten Minderjährigen auszeichneten, genauso auch Frauen und Männer gab, die in der Lage waren, zu den Kindern und Jugendlichen ein engeres Verhältnis aufzubauen. Inwieweit dies jedoch vorbehaltlos geschah oder vom Wohlverhalten der Mädchen und Jungen abhing, dürfte von Fall zu Fall verschieden gewesen sein.

69 70 71 72

Ebd. Benad/Schmuhl/Stochhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 183-195. Vgl. Kap. 5.4.3. Interview Richard Sucker (25.8.2010), Transkript Teil 2, S. 12.

ARBEIT UND BILDUNG

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6.5 Arbeit und Bildung Sowohl die Waisenhäuser/Kinderheime als auch die FE-Heime standen unabhängig von ihrer Trägerschaft in der Verantwortung, für eine altersgemäße bzw. an die Ausbildung angepasste Beschulung der ihnen anvertrauten Minderjährigen Sorge zu tragen. Als entscheidendes Kriterium galt hier die durch die Bundesländer gesetzlich verankerte Schulpflicht, die in den 1960er Jahren von acht auf neun Jahre angehoben wurde. Zudem sollten die Jugendlichen, die sich in einer Berufsausbildung befanden, eine Berufsschule besuchen.73 Die Schulpflicht war allerdings in der Nachkriegszeit in manchen Heimen nach der Erinnerung von Richard Sucker eine eher theoretische Pflicht. Wie er über das Heim Naila berichtete, wurde Anfang der 1950er Jahre die Schule nur im Winter besucht, wohingegen er im Sommer in der Landwirtschaft zu helfen hatte.74 Dagmar Kerste berichtet, dass sie auf Grund ihres Entweichungsdrangs eigentlich gar nicht zur Schule gegangen ist bzw. auch bewusst von der Schule ferngehalten worden ist.75 Je nach Größe der Einrichtung und der schulischen Situation in ihrem Umfeld richteten die Kinderheime und die FE-Heime, die wie etwa die münsterländische Marienburg oder Schloß Zinneberg in Oberbayern auch schulpflichtige Minderjährige betreuten, entweder eine eigene Volks-/Hauptschule ein oder sie schickten die Kinder und Jugendlichen in kommunale Schulen. Nach den Angaben des Handbuchs der caritativen Jugendhilfe für 1953 besaßen in Bayern und Niedersachsen ca. 23 % sowie in NRW knapp 10 % der Kinderheime eine Heimschule bzw. vereinzelt eine „Hilfsschule“. Für das Antoniusstift im niedersächsischen Damme war sogar eine Mädchenmittelschule angegeben. Ansonsten gab es in einer Reihe von Einrichtungen noch Haushaltungsoder Nähschulen.76 73

74 75

76

Wie in den Mikrostudien angedeutet war die reale Schulsituation („Heimschule“ oder Volks-/Haupschule bzw. Berufsschule im Ort) jeweils unterschiedlich. Siehe allgemein den Zwischenbericht des Runden Tisches [http://vg05.met.vgwort.de/na /1bde3c5857444876947ef78f5703c9e3?l=http://www.rundertisch-heimerziehung. de/documents/RTH_Expertise_Trauma_000.pdf] (10.11.2010); Thomas Swiderek, Heimschule oder Schule im Heim? Erziehung und Bildung in der Heimerziehung, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 309-325. Interview Richard Sucker (25.8.2010). Interview Dagmar Kerste (15.12.2009), Transkript, S. 23; auch Corinna Fast berichtet, dass sie wegen „Fluchtgefahr“ nicht zur Schule geschickt worden war. Siehe Corinna Fast (15.12.2009), Transkript, S. 6. Becker, Handbuch, S. 28-35, 88f. u. 96-104.

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Eigene Heimschulen dürften in der Regel vor allem dann eingerichtet worden sein, wenn die Größe des Heims die notwendigen Schülerzahlen garantierte und der Besuch der kommunalen Schulen z. B. wegen der Entfernung vom nächsten Ort nicht oder nur mit großem Aufwand möglich war. Auch begegnete die Bevölkerung den Heimkindern des Öfteren mit Vorhalten, was einer gemeinsamen Beschulung mit den Kindern der Orte entgegenstehen konnte. Wie an den Beispielen des Kinderheims Henneckenrode oder des Erziehungsheims Schloß Zinneberg ersichtlich, war es zudem offenbar nicht leicht, in ausreichender Zahl geeignete Lehrkräfte für die Heimschulen zu rekrutieren. In den 1960er Jahren bemühte sich dann eine Reihe von Heimen, ihre Schulen auf Grund der besonderen, durch die Lernschwierigkeiten vieler Schüler bestehenden Anforderungen als Sonderschulen anerkennen zu lassen. Auf diesem Weg sollten kleinere Klassen sowie eine Zunahme der Lehrkräfte und damit eine individuellere Förderung der Schüler erreicht werden.77 Ob und in welchem Umfang die Jugendlichen in den Erziehungsheimen für schulentlassene Minderjährige Berufsschul-Unterricht erhielten, hing ebenfalls zuerst von der Anzahl der berufsschulpflichtigen Mädchen und Jungen ab. Als weiterer wichtiger Aspekt spielte zudem das vorhandene Angebot an tatsächlichen Lehrberufen eine wichtige Rolle. Bei Heimen, die hauptsächlich weniger qualifizierte Anlern-Tätigkeiten anboten, fehlte der Bedarf für eine eigene Berufsschule. Folgt man dem Handbuch der caritativen Jugendhilfe, besaßen 1953 in Bayern 19 von 33, in Niedersachsen mit der Johannesburg eines von vier und in NRW 19 von 37 Erziehungsheimen in katholischer Trägerschaft eine eigene Berufsschule – in einigen bayerischen Heimen waren es Landwirtschaftliche Schulen.78 Offenbar legten gerade die Einrichtungen mit einem traditionell breiten Repertoire an Ausbildungsmöglichkeiten auch größeres Gewicht auf die schulische Seite. Zumindest vermerkte 1953 der Besuchsbericht des Landesjugendamtes Hannover, dass die Johannesburg „jetzt eine vollausgebaute Berufsschule [hat], welche offiziell der gewerblichen Berufsschule in Papenburg angeschlossen ist und alle für die 17 handwerklichen Berufsausbildungsmöglichkeiten der Johannesburg notwendigen Fächer lehrt. Es wird äußerstes Gewicht darauf gelegt, dass dieser Berufsschulunterricht besonders gut ist, damit möglichst viele Jungen nach 1 ½ jähriger Heim77 78

Vgl. Kap. 5.4.1 u. 5.4.6. Becker, Handbuch, S. 35-38, 89f. u. 105-108.

ARBEIT UND BILDUNG

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lehre nach draußen gegeben werden können und dann dort allen Anforderungen wirklich besonders gewachsen sind, damit sie nicht als Fürsorge-Zöglinge auffallen. Wo es nötig ist, wird der Berufsschulunterricht durch Förderungskurse individuell ergänzt (Nachhol-Volksschulunterricht in lebendiger volkshochschulartiger Gestaltung).“79 Neben einem Pater, der weitgehend allein für den Berufsschulunterricht zuständig war, erteilten auch Lehrer aus Papenburg „Sonderfachstunden“, wodurch das volle Unterrichtsprogramm erreicht werden konnte, aber hohe Kosten für das Heim entstanden. Letztlich lohnte sich der Aufwand für die Berufsschule, der sich „nach Meinung der Innungen und des zuständigen Schulrates bei den Zwischen- und Gesellenprüfungen sehr positiv“ bemerkbar machte. „Auch das Landesjugendamt konnte seinerseits in Einzelfällen solche Ergebnisse sehr positiv feststellen, selbst wenn es sich um Hilfsschultypen handelte. […] Die Unterrichtsmethoden der Johannesburg tragen sehr dazu bei, die Jungen wirklich innerlich sicher zu machen. Sie haben daher auch große erzieherische Bedeutung und vervollständigen und verkürzen die Heimerziehung sehr fruchtbar.“80 Man wird davon ausgehen können, dass ein vergleichbares Engagement in den Heimen eher selten gewesen sein dürfte. Denn grundsätzlich war die Einrichtung einer eigenen Heimberufsschule auch durch den pädagogischen Ansatz motiviert, die Mädchen und Jungen in Heimerziehung zunächst und nicht selten für einen längeren Zeitraum aus ihren bisherigen Lebensbezügen zu isolieren und auf die Heimwelt zu beschränken.81 Dies könnte ebenfalls für das Martinistift Anfang der 1960er Jahre auch noch im Zuge der neuen Schwerpunktsetzung in Richtung vermehrter Ausbildungsangebote, auf die weiter unten noch ausführlicher eingegangen wird, eine Rolle gespielt haben. Denn obwohl der hierzu erforderliche Berufsschul-Unterricht gewährleistet wurde, indem die Handwerkslehrlinge des zweiten und dritten Lehrjahres die öffentliche Berufsschule in Münster besuchten – zusätzlich fand im Heim von 7 Uhr bis 7.45 Uhr „allgemein bildender Unterricht“ statt –, beabsichtigte die Heimleitung, „mit geeigneten Lehrkräften eine Heimberufschule als Außenstelle der Kreisberufsschule einzurichten“. Schwierigkeiten bereitete hier noch der Mangel an Lehr-

79 80 81

Bericht über den Besuch v. 15.-17.11.1953, in: StA Oldenburg, Rep. 400 Nr. 6385. Ebd. Swiderek, Schule, S. 309f.

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HEIMALLTAG

kräften.82 Anscheinend besuchten die Jungen, wie im AFET-Verzeichnis für das Jahr 1968 aufgeführt, jedoch auch einige Jahre später weiterhin die öffentliche Berufsschule.83 Neben der berufsfachlichen Schulung ging es den Heimen bei der Einrichtung eigener Schulen auch darum, den Jugendlichen, die entweder ausgeschult oder als nicht mehr beschulbar eingestuft worden waren, Unterricht und Bildung nachzureichen, um ihnen u. U. einen Schulabschluss zu ermöglichen. Allerdings standen nicht wenige der Mädchen und Jungen auf Grund ihrer bisherigen Schulerfahrungen diesen Bestrebungen eher ablehnend gegenüber, zumal sie in ihren Berufen oftmals auch ein anstrengendes Arbeitspensum bei geringem Lohn zu verrichten hatten. Auch auf diesem schulischen Feld wurde in den 1960er Jahren offenbar vermehrt die staatliche Anerkennung als Sonderschule angestrebt.84 Wenn das Kloster vom Guten Hirten in München durch das Angebot einer dreijährigen Handelsschule mit dem Abschluss einer nicht fachgebundenen Mittleren Reife, das nach der 1965 erfolgten Neuerrichtung des Hauses zum Tragen kam und damit auch Gelegenheit zu einem beruflichen Aufstieg gab, eine Besonderheit darstellte85, lässt sich daran der mangelnde Stellenwert einer höheren Schulbildung auch in der Heimerziehung erkennen.86 Inwieweit jedoch eine größere Anzahl der in den Häusern untergebrachten Jugendlichen tatsächlich einen solchen Weg hätte einschlagen können oder wollen, ist nur schwer zu beantworten. Aber da die Teilhabe an weitergehender schulischer Bildung nahezu ausgeschlossen wurde, blieben berufliche Chancen in jedem Einzelfall grundsätzlich erschwert oder verbaut. Die Mitarbeit der Heimbewohner in der Haus- und Landwirtschaft wie in der Wäscherei oder Küche bei Mädchen und in Werkstätten und der Landwirtschaft der Einrichtungen bei Jungen war weit verbreitet und juristisch als nicht sozialversicherungspflichtige Mitarbeit eingestuft. Neben der großen Bedeutung für die Eigenversorgung der Heime galt sie auch als wertvolles erzieherisches Mittel, die Kinder 82

83

84 85 86

Besuchsbericht des Düsseldorfer Sozialministeriums v. 13.7.1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98. Irmgard Fricke, Verzeichnis der Erziehungsheime und Sonderheime für Minderjährige in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), 8. Aufl., Hannover 1968, S. 585. Swiderek, Schule, S. 309-326. Vgl. Kap. 5.4.6. Swiderek, Schule, S. 323.

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Abb. 23: Jungen bei der Gartenarbeit im Salvator-Kolleg Klausheide

und Jugendlichen zu Ordnung, Pünktlichkeit, Rücksichtnahme, Verantwortungsbereitschaft und Selbstständigkeit zu erziehen. Gleichzeitig „stellte sie aber auch ein zentrales Erziehungsziel – Erziehung zur Arbeit(sfähigkeit) – dar“.87 In diesem Kontext war etwa auch auf der Johannesburg die Arbeit im Torf für die Jugendlichen der Aufnahmegruppen zu sehen, da hier u.a. zunächst die Bereitschaft und Ausdauer zu kontinuierlichem Arbeiten grundgelegt werden sollte.88 Seit Ende der 1950er Jahre versuchte man dann in manchen Heimen, von einer bloßen Ertüchtigung in der Haus- oder Landwirtschaft weg zu kommen und die Minderjährigen mit einfachen manuellen Tätigkeiten im Rahmen einer gewerblichen Fertigung für Industrie87 88

Pierlings, Arbeit in der Heimerziehung, S. 328. Vgl. Kap. 5.4.3.

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betriebe zu betrauen und zu schulen. Dahinter stand die Vorstellung, dass die Minderjährigen nach ihrem Aufenthalt im Heim immer stärker an den Fließbändern der Industrie ihr Auskommen finden würden. In den Herzogsägmühler Heimen wurden die Jungen zu Industriefertigungen und Akkordarbeiten mit „Leistungslohn“ angeleitet.89 In manchen Heimen kam es außerdem zur gewerblichen Arbeit für Firmen. So wurden z. B. in den Kaiserswerther Mädchenheimen Schirme produziert oder Fahrradnetze geknüpft.90 Im Eduardstift in Helenenberg bei Trier oder dem Salvator-Kolleg Klausheide bei Paderborn wurden für auswärtige Firmen Matratzen gefertigt und Autoleuchten montiert. Die dort tätigen Jugendlichen erhielten nur einen sehr geringen Teil ihres Lohnes ausgezahlt, wobei etwa beim Eduardstift 60 % des Verdienstes in die Finanzierung des Heimplatzes einfloss.91 Im Kloster vom Guten Hirten in Münster bediente die Wäscherei auch Außenaufträge. Darüber hinaus wurden auch für im landwirtschaftlichen Bereich tätige Jugendliche Fremdarbeiten übernommen. So arbeiteten etwa Anfang der 1960er Jahre acht Jugendliche des Martinistifts, die meist kurz vor der Entlassung aus dem Heim standen, bei fremden Landwirten der Umgebung, wobei sie täglich mit dem Fahrrad zwischen dem Heim und der Arbeitstätte pendelten.92 Viele Betroffene sahen sich dabei z. T. gegen ihren Willen zu einer unbezahlten Arbeit gezwungen. Außerdem galten auch solche Beschäftigungen lange nicht als sozialversicherungspflichtige Lohnarbeit. In den Heimen bestanden in unterschiedlichem Umfang Möglichkeiten, eine Berufsausbildung zu machen. Insbesondere in Mädchenheimen fand auch noch in den 1960er Jahren eine Verengung auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten statt, die auf die den Mädchen zugedachte Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. Dies bedeutete in dieser Phase, dass die Minderjährigen in ihrer Heimzeit mehr als zuvor in diesen Feldern arbeiten mussten. Manche Einrichtungen wie die Klöster vom Guten Hirten – für das Haus in Münster wurde noch 1963 konstatiert, dass kaum Lehrverhältnisse beständen93 – begannen lang89 90 91

92

93

Siehe Kap. 5.4.8. Vgl. Kap. 5.4.5. Vermerk über des Besichtigung des Eduardstifts Helenberg durch Düsseldorfer Sozialministerium und LJA Rheinland v. 17./18.10.1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98. Fragebogen des Martinistift im Vorfeld einer Besichtigung durch das LJA Westfalen v. April 1962, in: ebd. Besuchsbericht des Düsseldorfer Sozialministeriums v. 16.5.1963, in: HStAD, NW 648 Nr. 99.

ARBEIT UND BILDUNG

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Abb. 24: Unterricht in der Nähstube in den Mädchenheimen der Diakonissenanstalt Kaiserswerth

sam, auch zeitgemäßere Ausbildungsberufe wie Friseurin, Modistin oder Stenotypistin in ihr Angebot aufzunehmen, wobei die Heime in Bayern diesen Schritt einige Jahre eher vollzogen.94 94

Vgl. Kap. 5.4.6.

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HEIMALLTAG

Auch in den Erziehungsheimen für Jungen blieben die Ausbildungsmöglichkeiten oftmals auf die eher traditionellen Bereiche der Landwirtschaft, Gärtnerei oder Korbmacherei begrenzt, wobei einige Heime wie etwa die Johannesburg oder das Jugendheim Schloss Birkeneck, die beide in Trägerschaft der Herz-Jesu-Missionare standen, über eine breite Palette auch moderner Lehrberufe verfügten. So listet das AFET-Verzeichnis 1968 für das bayerische Schloß Birkeneck 13 Lehrwerkstätten auf, die etwa auch die Berufe Bau- und Kunstschlosser, Wasser- und Heizungsinstallateur, Elektroinstallateur und Maschinenbauer umfassten. Das Salesianische Jugendhilfswerk Waldwinkel in Aschau am Inn bildete auch zum Technischen Zeichner und IndustrieKaufmann aus.95 Die Vielfalt von Ausbildungsmöglichkeiten in Heimen bedeutete aber keineswegs, dass auch eine große Zahl der Minderjährigen diese Ausbildungen wirklich absolvierten, wie sich an der Studie über Heime im Rheinland belegen ließ.96 Das Martinistift, das bei seinen Anfang der 1960er Jahre eingeleiteten Modernisierungsmaßnahmen eindeutig den Ausbildungssektor als Schwerpunkt gesetzt hatte – so trug das Haus nun den Namen „Lehrwerkstätten Martinistift“ –, galt wegen dieser Bemühungen schon bald in den Augen der staatlichen Aufsichtsbehörden als Mustereinrichtung, wie im Sommer 1962 in einem Besuchsbericht zum Ausdruck kam: „Das vom Direktor des Heims entwickelte Berufsausbildungsprogramm dürfte in seiner Vielseitigkeit einmalig sein. Das vom Arbeits- und Sozialministerium im Jahre 1958 aufgestellte Schwerpunktprogramm ist hier auch im Hinblick auf die Einbeziehung moderner zukunftssicherer Berufe in das Ausbildungsprogramm beispielhaft verwirklicht worden. Die Abkehr von der Landwirtschaft als Schwerpunkt der Beschäftigung Jugendlicher hat der Direktor trotz erheblicher Schwierigkeiten aus Kreisen der benachbarten Landwirte durchgesetzt.“97 Nur noch acht Jungen arbeiteten im landwirtschaftlichen Sektor des eigenen Hauses. Allerdings wurde wie allgemein üblich auch im Martinistift kein tariflicher oder tarifähnlicher Lohn, sondern Führungsprämien von 2,50 DM und Arbeitsprämien von 0,50 bis 3,50 DM wöchentlich gezahlt. Während die Jugendlichen selbst über die Führungsprämien verfügen konnten, war dies bei den Arbeitsprämien „nur im Einvernehmen 95 96 97

Fricke, AFET-Verzeichnis 1968, S. 44f. Zur Johannesburg vgl. Kap. 5.4.3. Pierlings, Arbeit in der Heimerziehung, S. 373-378. Besuchsbericht des Düsseldorfer Sozialministeriums v. 13.7.1962, in: HStAD, NW 648 Nr. 98. Vgl. auch Kap. 5.4.9.

ARBEIT UND BILDUNG

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mit dem Gruppenerzieher“ möglich. „Anwartschaften in der Sozialversicherung werden grundsätzlich nicht aufrechterhalten. Nach Ansicht der Heimleitung haben etwa 90 % der Jugendlichen im Beruf versagt. Durch qualifizierte berufliche Förderung im Heim werden die Jugendlichen in die Lage versetzt, nach der Heimentlassung wesentlich höheres Arbeitseinkommen zu erzielen, worin ein hinreichendes Äquivalent für fehlende Versicherungszeiten zu sehen sei.“98 Die Johannesburg argumentierte in dieser Frage, dass die dortigen Ausbildungen durch die besondere Ausprägung – so brechen Jugendliche immer wieder die begonnene Lehre ab, wie auch die Arbeitsleistung des Öfteren unzureichend sei – weitaus aufwendiger als in einem normalen Lehrverhältnis sei und daher keine Sozialabgaben gezahlt werden sollten. Als sich 1958 der Vater eines hier untergebrachten Kölner Jugendlichen, der nach der Gesellenprüfung nach Hause zurückkehrte, aber nach kurzer Zeit seinen Arbeitsplatz verlor, beschwerte, da der Junge nun wegen fehlender Sozialversicherungsnachweise keine Arbeitslosenunterstützung erhielt, kam eine weitere Begründung ins Spiel. Denn der Direktor antwortete, „dass unser Heim eine Einrichtung der öffentlichen Erziehung ist. Alle, die sich in öffentlicher Erziehung befinden, sind während dieser Zeit nicht versicherungspflichtig, da für sie ein Pflegegeld bezahlt wird. Ich musste Ihren Sohn, obwohl Sie die Unterhaltskosten selber bezahlt haben, gleich behandeln wie alle anderen. Falls Sie ihn versichert haben wollten, so müssten Sie selber die Zeiten nachkleben. Wir sind nicht daran gehalten, Jungen, die sich in öffentlicher Erziehung befinden, zu versichern. Es wäre uns selber lieber, wenn die Landesjugendämter bzw. der Bund eine andere Regelung treffen würden, da wir öfters solche Rückfragen haben.“99 Am Beispiel der Herzogsägmühler Heime wurde der Verlauf der Versicherungspflicht beispielhaft dargestellt, führte diese Einrichtung doch den Musterprozess für die westdeutschen Heime.100 Im Resultat entstand durch ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel seit 1963 eine rückwirkend ab 1958 geltende Versicherungspflicht für Lehrlinge, die im Rahmen eines Lehrvertrags beschäftigt waren. Diese waren aber in den meisten Einrichtungen nur eine Minderheit.

98 99 100

Ebd. P. Güldenberg an Vater v. 2.6.1958, Archiv Johannesburg, Fall-Akte 40/57. Vgl. Kap. 5.4.8.

500

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Da bis zum Beginn der 1970er Jahre nach Auffassung der Sozialversicherungsträger wenn überhaupt nur für Heimkinder in einem Berufsausbildungsverhältnis Sozialbeiträge zu entrichten waren – auf der Johannesburg ging man zudem davon aus, dass ein ähnliches Arbeitsverhältnis wie bei einem im väterlichen Betrieb lernenden Sohn bestehen würde und daher keine offiziellen Lehrverträge abzuschließen seien101 –, mussten sich für diejenigen Jugendlichen, die in den Heimen ohne Vereinbarung eines Arbeitsverhältnisses Tätigkeiten verrichteten oder sich in Arbeitserprobungen befanden, Versicherungsfehlzeiten ergeben. Dass für diesen Personenkreis, wie in den Mikrostudien ausführlich gezeigt, zudem ein Belohnungssystem in Form von Taschengeld und Arbeitsprämien anstelle von Ausbildungs- und Arbeitsvergütungen Geltung hatte, dürfte auch die wirtschaftliche Lage der Heime positiv beeinflusst haben. Dabei spielten sowohl die durch die niedrigen Pflegesätze bedingten Notwendigkeiten wie auch die mangelnde Anerkennung der Arbeitsleistung der Jugendlichen eine Rolle. Die damit ausgesprochene Entwertung der Leistungen der Heimkinder begleitet diese bis heute.

6.6 Strafen und Demütigungen Es hat in vielen Heimen eine durch landesgesetzliche Regelungen bzw. Verordnungen legitimierte Strafpädagogik gegeben.102 Dabei betraf diese Erziehungspraxis nach den Feststellungen ehemaliger Heimkinder nicht nur die FE-Heime, sondern ebenso die Waisenhäuser/Kinderheime. So berichtete etwa Gerda Franz, dass körperliche Züchtigungen im Waisenhaus der Vinzentinerinnen in Dortmund-Eving gerade für sie als Bettnässerin zum „alltäglichen Leben“ gehörten, „ohne Prügel ging kein Tag vorbei“. Unter den „weiten Ärmel[n]“ des Ordenskleides der Schwestern „saß immer ein Rohrstöckchen drin, ein Rohrstock so ein ganz kleiner und dann ließen sie den immer drin und dann zack zack“.103 Auch Wera Rüth erlebte im Essener Kinderheim Haus Hoheneck häufig Schläge, die Elisabeth-Schwestern wie auch in den Gruppen tätige weltliche Helferinnen verabreichten. „Für jeden Kleinkram, für jeden Mist schlugen die Nonnen zu. Und auch vor allen Dingen, 101 102 103

Vgl. Kap. 5.4.3. Vgl. Kap. 5.1., 5.2. u. 5.3. Interview Gerda Franz [Aliasname](12.10.2010), Transkript, S. 2 u. 5.

STRAFEN UND DEMÜTIGUNGEN

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diese Helferinnen, […] die die Räumlichkeiten putzen mussten, die waren noch sadistischer. Die Nonnen gingen ja morgens nach dem Frühstück, wir waren ja zur Schule, da gingen die frühstücken und beten. Dann gingen die von 1 bis 4 wieder Mittagspause machen, die Nonnen, und dann gingen die abends um 7 Uhr wieder zur Abendandacht. Und in der Zeit, haben diese Helferinnen, die da putzen mussten eigentlich, ihr Unwesen am meisten mit uns getrieben. Die haben uns dann auch richtig geschlagen. Mit Feudeln, mit Putzstielen geschlagen, mit Handfegern geschlagen. Dann mussten wir uns vor das Bett knien. Mussten dann drei Vaterunser beten und durften dann erst wieder ins Bett.“ 104 Neben offiziellen, meist in Strafbüchern zu vermerkenden Interventionen – dies sollte die Gefahr von willkürlichen Strafen eindämmen – ist eine in ihrem Ausmaß nur schwer feststellbare Menge von Bestrafungen, Demütigungen und physisch wie psychisch verletzenden Strafen zu konstatieren, welche unterhalb einer in Aktenüberlieferungen festgehaltenen Ebene lagen und Traumatisierungen bei den einzelnen Betroffenen hervorgerufen haben. Strafen fanden in so unterschiedlichen Formen wie Entzug von Vergünstigungen, Essensentzug, Isolierung/Arrest in so genannten „Besinnungszimmern“, körperliche Züchtigung und Misshandlungen – von Schlägen „auf die Erziehungsfläche“ und Ohrfeigen bis zu Prügel mit dem Rohrstock und den Fäusten statt. Weitere Sanktionen umfassten das Abschneiden aller Haare eines Zöglings, der nach einem Fluchtversuch in ein Heim zurückgebracht wurde, bei Bettnässern das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwäsche vor den anderen Kindern und Jugendlichen der Gruppe oder das zu tiefe Abschneiden der Fingernägel.105 Solche Strafen gab es keineswegs nur in Heimen konfessioneller Trägerschaft, sondern ebenso in staatlichen Einrichtungen. Die bisherigen Erkenntnisse machen die Bedingungen, die zu Übergriffen geführt haben, mehr an der Organisationskultur einer Einrichtung fest als an dem Faktum der konfessionellen Ausrichtung an sich.106 So wollte bereits 1949 der spätere Leiter des Stephansstiftes und des EREV, Karl Janssen, die „Moral- und Strafpädagogik“ als „totalitä104 105

106

Interview mit Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 5. Die Aufzählung könnte noch beliebig verlängert werden. Vgl. die Hinweise in den Mikrostudien Kap. 5.4. Vgl. z. B. die Hinweise in den Beiträgen von Rainer Nußbicker, Freistadt, Heimerziehung und die Westfäliche Diakonenanstalt Nazareth, in: Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 238ff.; Jähnichen, Von der Zucht zur Selbstverwirklichung, 131f.

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re Pädagogik“, wie sie die Erzieher im Dritten Reich geprägt habe, abgeschafft sehen, fand allerdings den Widerspruch altgedienter Anstaltsleiter, die insbesondere auf die geschlossenen Abteilungen in den Einrichtungen als „notwendiges Übel“ nicht verzichten wollten.107 Insbesondere Überforderungssituationen eines meist jungen Personals, das sich z. T. selbst bedroht fühlte – hier sei an das Tragen von Schreckschusspistolen im Heim Fassoldshof erinnert108 – verstärkte die Zufluchtnahme zu Gewalt als letztem Mittel. Dies verknüpfte sich mit einem Ausbildungsmangel, dessen Folge es war, dass kaum andere Erziehungsmittel eingeübt oder gar bekannt waren, um mit schwierigen Jugendlichen umzugehen. Allerdings spricht manches dafür, dass die von den Ordensangehörigen in die Erziehung einbrachten ordensspezifischen Wertvorstellungen, also etwa die im eigenen Ordensleben einer Schwester geforderte Demut, das Vollziehen demütigender Strafen beeinflusst hat. So wurde den angehenden Schwestern nicht selten im Noviziat vermittelt, Ermahnungen, Zurechtweisungen und Bußen demütig anzunehmen und Empfindlichkeiten zu überwinden. Zudem sollten sie sich dazu erziehen, sich für ihre Fehler zu tadeln und zu bestrafen und um Buße zu bitten. Auch ist nicht auszuschließen, dass die besondere Wertschätzung des Leidens in der jeweiligen Ordensspiritualität Einfluss auf die Bestrafung der zu Erziehenden hatte.109

6.7 Sexuelle Gewalt Wie bei den Strafen lassen sich auch hinsichtlich des Ausmaßes der sexuellen Gewalt, die die Minderjährigen in den Heimen erfahren mussten, wegen fehlender Überblicksdaten keine quantitativen Angaben machen. Allerdings haben Betroffene immer wieder von sexuellen Übergriffen durch ordensgebundenes wie auch weltliches, meist männliches – auch hier gab es Ausnahmen – Erziehungspersonal berichtet.110 Nur wenige Vorgänge, die entweder zu einem Gerichtsverfahren führten oder von den Aufsichtbehörden aufgegriffen wurden, haben sich auch in der Aktenlieferung niedergeschlagen, wie es etwa Ende der 107 108 109 110

So wiedergegeben im Informationsblatt Nr. 1 v. 14.5.1949, in: ADW, EEV 1. Siehe Kap. 5.4.4. Vgl. Heijst, Models of Charitable Care, S. 213-264. So Josef Dorsten während seiner Unterbringung auf der Johannesburg; vgl. Kap. 5.4.3.

SEXUELLE GEWALT

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Abb. 25: Rheinische Post, 14.12.1955: Urteil gegen einen Erzieher

1950er Jahre im Zusammenhang mit der Verurteilung von drei Erziehern wegen Sittlichkeitsvergehen innerhalb kurzer Zeit im Martinistift der Fall war.111 Die allgemein verbreitete Praxis, dass Erzieher nicht selten in unmittelbarer Nähe zu den Schlafräumen der Kinder und Jugendlichen schliefen, bot jedenfalls vielfältige Gelegenheiten zu entsprechendem Handeln. Ende 1955 wurde ein ehemaliger Erzieher der Düsselthaler Anstalten, der von 1949 bis 1953 in Neudüsseltahl und nachfolgend in einer Einrichtung in Hannover gearbeitet hatte, wegen Missbrauchs von Kindern zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Befremdend hatte es dabei gewirkt, dass – wie die Zeitung „Rheinische Post“ schrieb – „beide Anstalten, obwohl ihnen die gefährlichen Neigungen dieses Erziehers zumindest verdachtsweise bekannt waren, die Angelegenheit ‚intern‘ 111

Vgl. Kap. 5.4.9.

504

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regelten, indem sie den Verdächtigen entließen, ohne die Sache weiter zu verfolgen oder zumindest vor diesem Jugendverderber zu warnen“.112 In einem anderen Fall hatte 1956 ein Mädchen behauptet, es sei zu einem Übergriff durch einen Erzieher gekommen. Dieser Fall wurde zeitgenössisch dahingehend aufgeklärt, dass das Mädchen durch die Behauptung Rache für eine erlebte Zurücksetzung nehmen wollte. Dennoch gab das Landesjugendamt zu bedenken, ob die langjährige Praxis, „Familienmädchen“ für Ordnungsarbeiten männlichen Erziehern zur Verfügung zu stellen, aufrecht erhalten werden könne.113 In den Düsselthaler Anstalten war 1961 auf Intervention des Geschäftsführers des rheinischen Landesverbandes der Inneren Mission und Kuratoriumsmitglied, Otto Ohl, ein Erzieher entlassen worden, der in Verdacht des Missbrauchs von Zöglingen stand. Auf Nachfrage des Landesjugendamtes hatte Ohl diesen eine Öffentlichkeit ausschließenden Weg gewählt, da „bei der ungeklärten Situation seines Erachtens Gruppenvernehmungen verheerende pädagogische Folgen hätten und dann derartige Gesprächsthemen sich lange bei den Jugendlichen hielten“.114 Ohl hätte zudem von einem Verwandten des Betreffenden, der in einem öffentlichen Amt stehe und eine „geachtete Persönlichkeit“ sei, die Garantie, dass eine weitere pädagogische Tätigkeit für diesen nicht in Frage komme. Der ehemalige Erzieher sei mittlerweile Saatzüchter und solle doch auch mit Rücksicht auf seine Ehe und seinen neuen Beruf nur schonend befragt werden. Auch wenn Landesrat Jans gegenüber Ohl ein gewisses Verständnis für dessen Verhalten zeigte, konnte er sich doch dessen Ansicht eines öffentlichkeitsvermeidenden Täterschutzes nicht anschließen und bat in solchen Fällen um eine Meldung an das Landesjugendamt, das schließlich die „Verantwortung“ habe.115 Eine Sanktion der Aufsichtsbehörde erfolgte nicht. 112

113

114

115

„Gefährlicher Jugendverderber erhielt drei Jahre Gefängnis“ (Zeitungsauschnitt aus Rheinische Post v. 15.12.1955) und „Vergehen an anvertrauter Jugend“ v. 14.12.1955 (Zeitung unbekannt), in: Archiv der Graf Recke Stiftung, Ordner „Zeitungsberichte“ [unverz.]. Handschr. Vermerk: „Dr. Mack“. LJA an Neu-Düsseltal v. 1.6.1956, in: ALVR 41265. Um ein klares Verhältnis der Erzieher zu den schulentlassenen Mädchen festzulegen, verlangte die Heimleitung daraufhin, dass alle männlichen Erzieher die Mädchen mit dem distanzschaffenden „Sie“ anreden müßten (Neu-Düsseltal an LJA v. 8.6.1956, in: ebd.). LJA an Oberstaatsanwaltschaft Düsseldorf v. 9.1.1962, in: ALVR 41267. Ohl hoffte, für die Jugendlichen genüge der Schock, „daß der, der hier verdächtigt wurde, einfach verschwunden sei“. Jans an Ohl v. 19.2.1962, in: ebd.

SEXUELLE GEWALT

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In einem anderen Fall berührte im Jahre 1960 ein 32-jähriger Diakon der Betheler Nazareth-Bruderschaft in einer westfälischen Einrichtung einen 14-jährigen Zögling, der zu Hausdiensten bei ihm beordert war, unsittlich, was der nach einer Entweichung festgenommene Junge vor der Ortspolizei offenbarte. Der geständige Diakon wurde von seinem Brüderhaus zurückgerufen und nicht, wie es sonst bei Verstößen gegen den § 175 üblich war, aus der Brüderschaft ausgeschlossen, sondern danach im Büro der Fürsorgeabteilung in Bethel beschäftigt. Ein Schöffengericht in Herford verurteilte ihn 1961 zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung.116 Der hier zu Tage tretende Umgang mit Missbrauchsfällen in konfessionellen Heimen zielte offenbar darauf, öffentliches Aufsehen und damit einen Imageverlust der Heime zu vermeiden sowie die Täter aus dem Blickfeld zu bringen. Ein Interesse an den Opfern wird darin kaum deutlich. Ihnen wurde teilweise sogar eine Mitschuld zugesprochen, da sie als sexuell vorbelastet galten und nicht auszuschließen sei, die geschehenen Vorfälle provoziert zu haben.117 Auch hatten nicht wenige Kinder und Jugendliche vor der Heimeinweisung im familiären Umfeld Gewalt erfahren, ohne dass dies den Tätern, sondern eher den Minderjährigen zur Last gelegt worden war.118 Sexuelle Gewalt fand jedoch nicht nur zwischen Erziehungskräften und den ihnen anvertrauten Minderjährigen statt. Gerade in den Erziehungsheimen, die fast ausschließlich geschlechtsspezifisch ausgerichtet waren und auf die sexuellen Bedürfnisse der Jugendlichen auf Grund der in der Gesellschaft und im Verständnis der an religiöse Gemeinschaften gebundenen Erziehungskräfte bestehenden Moralvorstellungen in der Regel außerordentlich abweisend reagierten, gehörte offenbar nicht selten sexuelle Gewalt der Mädchen und Jungen untereinander zum Alltag. Besonders die Schwächeren wurden Opfer der Übergriffe, die zudem ihre Position in der Gruppenhierarchie verschlechterte.119 Aber auch für Kinderheime war solche Art sexueller Gewalt zu konstatieren. So berichtete Wera Rüth über einen Vorfall, den sie im Essener Heim erlebt hatte: 116

117 118

119

Ev.-kirchl. Erziehungsverein für Westfalen an LWL v. 14.9.1960 u. Urteil des Schöffengerichts Herford v. 25.4.1961, in: HSTAD, NW 648 Nr. 103. Vgl. Kap. 5.4.9. Vgl. die Betrachtung der „koketten Art“ bei den Beschreibungen von Fangmeier in Kap. 3.1. Allgemein Lützke, Öffentliche Erziehung und Heimerziehung, S. 211-214. Vgl. etwa Benad/Schmuhl/Stockhecke, Endstation Freistatt.

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HEIMALLTAG

„Per Zufall [kam] an dem Tag […] mein Opa mal außerhalb der Besuchszeiten, dann wurde ich im Haus gesucht. Wera dein Opa ist da. Da hatte ich eine Ältere, die war so 14 Jahre alt, die ist mit mir auf Toilette gewesen und ich musste dann an der rum spielen. Und wie ich dann […] sagte, lass mich doch raus, der Opa ist da. Nein, du machst das zu Ende. Und dann bin ich, also als ich dann da raus konnte, war der Opa natürlich weg, und ich wurde dann gefragt wo ich denn war, aber ich habe mich natürlich nicht getraut zu sagen, dass die Gerda mich verführt, ich weiß auch den Namen so genau, dass die mich da zu solchen Sachen gezwungen hatte.“120 Die auf Grund des Personalmangels geringe Aufsicht der Erzieher, das „sexualpädagogische Vakuum“ in den Heimen und die Tabuisierung von Sexualität generell begünstigten somit sexuellen Missbrauch in den Heimen.

120

Interview Wera Rüth (8.9.2010), Transkript, S. 12.

WANDEL DER HEIMERZIEHUNG 1968–1975

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7. Wandel der Heimerziehung 1968–1975 7.1 Debatten in den konfessionellen Fachverbänden vor dem „kritischen Ereignis” 1968

A

uch im konfessionellen Bereich fanden Veränderungen im Wesentlichen erst nach der „restaurativen Phase“ der Heimerziehung statt. Die nach dem zeitgeschichtlichen und kulturellen Bruch des Jahres 1968 anhebenden Heimbefreiungen waren vielerorts das Ergebnis einer kumulierenden Konfliktlage, die sowohl von den ungelösten Defiziten des Systems Heimerziehung wie auch einem „primär pädagogische[n] Impetus“ linker sozialrevolutionärer Gruppen gespeist war.1 Die damit definierte Scharnierfunktion der Heimkampagnen ist darin offenbar, auch wenn diese nicht als Auslöser, sondern vielmehr als Verstärker der Reformen im Bereich der Jugendhilfe angesehen werden können. Nachfolgend soll sich der konfessionellen Jugendhilfe insbesondere am Beispiel evangelischer Heimträger zugewandt werden, die zeitgenössisch als Paradebeispiel der Rückständigkeit pädagogischer Methoden etc. gehandelt wurde. Hier hat es durchaus zuvor auch Reformimpulse und Reformversuche gegeben. In den Mikrostudien sind bereits in einzelnen Heimen Ansätze deutlich geworden, die nachfolgend auf der Verbandsebene skizziert und kontextualisiert werden sollen. Dies ist hier zwar angesichts der Fülle der Personen und Positionen nicht in aller Ausführlichkeit zu leisten, doch lassen sich zumin1

Schrapper, Voraussetzungen, Verlauf und Wirkungen, bes. S. 418-420; Wilfried Rudloff, Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft. Umbrüche und Entwicklungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren, in: FranzWerner Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 181-219, hier S. 207; vgl. auch ders. Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 5: 1966-1974, S. 557-591. Ähnlich auch Markus Köster, Holt die Kinder aus den Heimen! – Veränderungen im öffentlichen Umgang mit Jugendlichen in den 1960er Jahren am Beispiel der Heimerziehung, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 667-681, hier S. 680: „Festzuhalten bleibt aber auch, daß die Studentenbewegung mit ihrem Kampf gegen die autoritären Strukturen der Fürsorgeerziehung nicht am Nullpunkt ansetzte, sondern Forderungen aufgriff [...], die vielfach intern von ‚etablierten‘ Akteuren längst artikuliert worden waren [...]. Der APO kam also auch hier nur eine ‚Verstärkerfunktion‘ zu.“.

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WANDEL DER HEIMERZIEHUNG 1968–1975

dest Trends beschreiben. Es erscheinen drei Gruppen im evangelischen Fachdiskurs unterscheidbar.2 Die erste Gruppe, die ‚idealistischen Romantiker‘, bezogen sich gerne auf die Ursprungskonzeptionen Johann Hinrich Wicherns, dem Begründer der Rettungshausbewegung, der 1832 mit dem „Rauhen Haus“ in Hamburg eine erste Mustereinrichtung schuf und nachfolgend prägend für das Feld blieb.3 Diese ‚autoritären Praktiker‘ sahen die Heimerziehung als notwendiges Übel, in dem es die äußeren disziplinierenden Formen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten gelte. Die Kinder und Jugendlichen seien hier nicht ohne Grund eingewiesen worden. Es gelte, die Gesellschaft vor der hier eingesperrten Verwahrlosungsgefahr zu schützen. Zu dieser Gruppe lassen sich insbesondere die älteren Heimleiter größerer Einrichtungen zählen.4 Ein Paradebeispiel ist Ludwig Schlaich, der 1960 den „pädagogischen Ertrag der Rettungshaus-Bewegung“ verteidigte, oder Johannes Klevinghaus, der für Distanz zu den Jugendlichen im Heim plädierte.5 Als Gegengruppe lässt sich die Gruppe der Reformer identifizieren, zu denen wesentlich die Leiter evangelischer Ausbildungsstätten, Psychologen und besonders jüngere Pädagogen zählen. Als Namen sind hier Bernhard Kraak, Martin Maußhardt oder Anne Frommann zu nennen. Der 1922 geborene Bernhard Kraak war Diplom-Psychologe und von 1954 bis 1970 Direktor der Heimerzieherschule in Reutlingen, von 1970 bis 1987 Professor für Psychologie am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung an der Universität Frankfurt/ Main und von 1968 bis 1972 Vorsitzender des Bundes Deutscher Psy2

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Grundlage sind nachfolgend die Akten des AFET und die Zeitschriften „Evangelische Jugendhilfe“ (1950-1958) und „Sozialpädagogik“ (seit 1959). Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Senfkorn und Sauerteig. Die Geschichte des Rauhen Hauses von 1833 bis 2008, Hamburg 2008; Siehe insgesamt die Beschreibungen bei Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre; dies., Erziehungsvorstellungen in der evangelischen Heimerziehung der 50er und 60er Jahre – im Spiegel der Fachzeitschrift „Evangelische Jugendhilfe“, in: EREV (Hg.), Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, Hannover 2010 (Schriftenreihe 51. Jg., 1/2010), S. 25-35. Ludwig Schlaich, Vom pädagogischen Ertrag der Rettungshaus-Bewegung, in: Sozialpädagogik 2 (1960), S. 131-134; ders., Heimerziehung ist eine Chance, aber keine Schande, in: Sozialpädagogik 3 (1961), S. 267-269; Johannes Klevinghaus, Wie die eigenen Kinder?, in: Sozialpädagogik 2 (1960), S. 145-147, ders., Warum ich den Aufsatz geschrieben habe, in: Sozialpädagogik 3 (1961), S. 135-136; ähnlich auch W. Scherer, Nicht nur kritisieren, sondern helfen!, in: Sozialpädagogik 2 (1960), S. 134135.

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chologen.6 Kraak war mitbeteiligt an der Schriftleitung der 1959 neugegründeten Zeitschrift „Sozialpädagogik“. Martin Maußhardt (Jg. 1927) war der Sohn des Sindelfinger BK-Pfarrers Ludwig Maußhardt, der den Eid auf Hitler verweigert hatte. Martin Maußhardt studierte u.a. mit einem Fulbright-Stipendium in den USA und bekleidete seit 1955 eine Stelle als Diplom-Psychologe beim Diakonischen Werk in Stuttgart mit der Aufgabe, die württembergischen Heime zu beraten. Er machte berufsbegleitend eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und war von 1972 bis 1987 Leiter der psychologischen Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Reutlingen.7 Beide waren in der Fortbildung von Heimerzieherinnen und Heimerziehern engagiert. Kraak und Maußhardt eröffneten 1959 in der Zeitschrift „Sozialpädagogik“ eine Debatte über den ihrer Ansicht nach geringen Ertrag der evangelischen Heimerziehung.8 Die zuletzt genannte Anne Frommann schaltete sich Mitte der 1960er Jahre verstärkt in den Diskurs ein und war eine vehemente Vertreterin heilpädagogischer Zugänge.9 Als dritte Gruppe seien die „Vermittler“ zwischen beiden Positionen genannt. Hierzu zählte beispielsweise der Geschäftsführer des EREV, Karl Janssen, der sich eindeutig gegen ausufernde Strafregime, für die Professionalisierung und für die Verbreitung moderner Erziehungskonzeptionen in den Heimen einsetzte10, aber die alten Heimleiter auch nicht verschrecken wollte. Janssen zeichnete in zahlreichen Publikatio6

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Siehe Roland Ensinger/Thomas Fliege/Manfred Scholz (Hg.), „Bis auf weiteres…“ Reutlinger Beiträge zur Ausbildung, Theorie und Praxis sozialer Arbeit. 30 Jahre Evangelische Fachhochschule Reutlingen, Reutlingen/Tübingen 2003; Dietlinde Nord-Rüdiger, Beiträge zu Theorie und Praxis in Psychologie und Pädagogik. Herrn Professor Dr. Bernhard Kraak zum 60. Geburtstag gewidmet, Frankfurt/Main 1982. Vgl. Verein für Volksbildung e.V. Reutlingen (Hg.), „Lernen ist nicht müssen, sondern dürfen“. Ein Leben mit Familie, Beruf, Politik. Anneliese Maußhardt zum 18. Juni 1997, Reutlingen 1997. Bernhard Kraak, Warum ist der pädagogische Ertrag der Heimerziehung so gering?, in: Sozialpädagogik 1 (1959), S. 198-202; ders., Darauf lief mein Beitrag hinaus, in: Sozialpädagogik 2 (1960), S. 135-136; Martin Maußhardt, Das alte Gemäuer muß fallen, in: Sozialpädagogik 1 (1959), S. 221-222. Vgl. Anne Frommann, Was ist ein heilpädagogisches Heim? Anmerkungen zu einer vielschichtigen Frage, in: Sozialpädagogik 8 (1966), S. 110-113; dies., Die Situation der Heilpädagogik in den evangelischen Heimen und Anstalten, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 2 (Juni 1966), S. 18-24. Referat Janssen über „Gegenwartsfragen ev. Anstaltspädagogik“ im Informationsblatt Nr. 1 des EREV v. 14.5.1949, in: ADW, EEV 1; Karl Janssen, Der Beitrag der Heimerziehung zur modernen Pädagogik, in: Sozialpädagogik 1 (1959), S. 193-198.

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nen Idealbilder vorbildhafter Heime11 und musste zugleich immer wieder konstatieren, dass es mit der Verwirklichung nicht weit her war. Ähnlich kann die Geschäftsführerin des EREV von 1954 bis 1962, Olga Glaue, eingeschätzt werden. Glaue hatte als Leiterin einer NSV-Ausbildungsstätte für Volkspflegerinnen, Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen 1941 einen „Leitfaden des Jugendrechts und der Jugendhilfe“ veröffentlicht, in dem sie Fürsorge als „Bewahrung und Ausmerzung der für die Volksgemeinschaft nicht oder nicht mehr in Frage kommenden Glieder“ definiert hatte. Dieses Bekenntnis zur rassistischen Verfasstheit der Jugendhilfe im NS-Staat wurde Anfang der 1960er Jahre, als sie sich kritisch zur Hamburger Ausbildung für Heimerzieher geäußert hatte, von Walter Thorun entdeckt und skandalisiert.12 Verstärkt durch die Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961, die zunehmende Heimdifferenzierung und die veränderten, sich professionalisierenden Mitarbeiter sah Olga Glaue 1964 die „Heimerziehung im Umbruch“.13 Ähnlich war die Ansicht von Friedrich Horstmann, der 1964 die „Heimerziehung heute“ scharf von den Zuständen des 19. Jahrhunderts abhob. Das Verschwinden kasernenartiger Heime mit Schlafsälen von 35 Kindern zu Gunsten von Dreibettzimmern sah er in einer Linie mit den pädagogischen Verbesserungen, die unter Mithilfe von Psychologen und Psychiatern zustande gekommen seien. Die pädagogische Differenzierung trage zu einer Heimaufenthaltsdauer von im Durchschnitt 2,5 Jahren bei Schulkindern und 1,5 Jahren bei Schulentlassenen bei, wobei die Erfolgsquote für eine „fünf oder mehr Jahre überprüfte geordnete Lebensführung“ bei 65 % bis 70 % liege.14 Ebenso wie die Heime habe sich jedoch auch seit den 1950er Jahren die Klientel verändert. Verkürzt gesprochen sei es von einer „Notstandshilfe“ in der direkten Nachkriegszeit zu einer „Wohlstandshilfe“ in den 1950er Jahren und bis in die 1960er Jahre zu einer „Luxusver11 12

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Karl Janssen, Kleine Pädagogik des Erziehungsheimes, Gütersloh 1958. Olga Glaue, Leitfaden des Jugendrechts und der Jugendhilfe, Stuttgart 1941, S. 1; Walter Thorun, Jugendhilfe und Sozialarbeit im lebensgeschichtlichen Rückblick. Erinnerungen – Perspektiven, Hamburg 2006, S. 154; Glaue trat Anfang 1962 offiziell aus Gesundheitsgründen zurück (vgl. Meyer, EREV, S. 244). Olga Glaue, Heimkunde für alle Kinder und Jugendheime, Gütersloh 1961; dies., Heimerziehung im Umbruch, in: Fortbildungsbrief 5 (Februar 1964), Nr. 1, S. 5-13; eine ähnliche Situationsbeschreibung auch bei Charlotte Salaske, Von der Baracke zum Glaspalast. Mädchenwohnheime wandelten sich, in: Sozialpädagogik 6 (1964), S. 273-276. Friedrich Horstmann, Heimerziehung heute, in: Diakoniejahrbuch 1964, S. 87-95.

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wahrlosung“ gekommen.15 In dieser Sicht spiegelte sich die Skepsis der kirchlichen Heimvertreter gegenüber einer zunehmend am Konsum orientierten Gesellschaft und besonders der Jugend.16 Die Veränderung von Familienstrukturen, das Freiheitsbegehren der Jugend gegen einen mentalen Obrigkeitsstaat und der Generationenwandel insgesamt beschrieben einen gesellschaftlichen Wandel, dem gegenüber die kirchlichen Einrichtungen in vieler Hinsicht zurückgeblieben waren. Die zaghaften eigenen Reformbemühungen, die sich in evangelischen Heimen feststellen ließen, zielten auf die Reformierung eines Systems der Heimerziehung, angefangen von einer Behebung des Mitarbeitermangels durch Qualifizierung und bessere Einstufung, einer höheren staatlichen Refinanzierung von Baumaßnahmen in den Heimen und einer stärkeren Betonung des Bildungsgedankens.17 Die Anfrage des autoritären Stils vieler Heime nahm zu, was sich auch in den Fachdebatten spiegelte.18 Die bisherigen Erkenntnisse für das evangelische Feld sprechen von einem Wandel in den theologischen und religionspädagogischen Konzeptionen von der „Zucht“ zur „Selbstverwirklichung“ seit dem Beginn der 1960er Jahre, als auch neue gesetzliche Regelungen wie das Jugendarbeitsschutzgesetz von August 1960 oder das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 die Kinder und Jugendlichen mit mehr Rechten ausstatteten und neue Problemfelder schufen.19 Die 15

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„Aus der Massenverwahrlosung ist heute eine Luxusverwahrlosung, aus der skeptischen Generation eine junge sachliche Generation geworden.“ (Karl Janssen, Jugendfürsorge, in: Hans Christoph von Hase (Hg), Die Diakonie in der Evangelischen Kirche in Deutschland 1952-1966, Gütersloh 1967, S. 109-112). Ähnlich auch Gerhard Schmücker, Nach zwanzig Jahren. Über die Fürsorgeerziehung von 1945 bis 1965, in: Sozialpädagogik 7 (1965), S. 155-162. Siehe allgemein Detlev Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Albrecht Müller-Schöll, Der Bildungsauftrag des Heimes, in: Fortbildungsbrief 9, Nr. 4 (Dezember 1968), S. 3-10; Ursula Galley, Heimschule als Lebenshilfe. Erfahrungen mit Bildungsangeboten im Erziehungsheim, in: Sozialpädagogik 9 (1967), S. 270275. Walter Becker, Erziehung zu demokratischer Mitverantwortung. Eine Betrachtung über den „Erziehungsstil“, in: Sozialpädagogik 8 (1966), S. 242-247; Friedrich Kreppel, Autorität – Wesen, Wert und Wirkung, in: Sozialpädagogik 9 (1967), S. 194-199; Eberhard Stammler, Autorität und Partnerschaft, in: ebd., S. 199-203; Ruth Bang, Autorität – auctoritas, in: ebd., S. 203-208; Albrecht Müller-Schöll, Recht und Grenzen elterlicher Autorität, in: ebd., S. 224-227; Maria Buck, Unsere alten Heime in der sich wandelnden Welt, in: Fortbildungsbrief 8, Nr. 3 (Septenber 1967), S. 3-23. Vgl. hierzu Traugott Jähnichen, Von der „Zucht“ zur „Selbstverwirklichung“, S. 131146.

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vom EREV herausgegebene Zeitschrift „Evangelische Jugendhilfe“ stellte 1959 ihr Erscheinen ein und machte der Neugründung „Sozialpädagogik“ Platz, die auch von den eine Jugendsozialarbeit treibenden Verbänden wie dem Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD) als Zeitschrift für Mitarbeiter herausgegeben wurde.20 Nachfolgend orientierten sich die Themen stärker an Fragen nach einer demokratischen Heimerziehung, moderner Pädagogik, offenen Formen der Fürsorge, Heilpädagogik, Partnerschaft und Freizeitpädagogik.21 Im EREV selbst waren die Reformbemühungen in Konferenzen für die Heimerzieherschulen oder auch in einer Arbeitsgemeinschaft für Heilpädagogik durchaus greifbar22, doch sie setzten sich nur sehr zeitverzögert in der Praxis der Heimerziehung durch. Hier waren die Fragen der Mentalität vieler Heimerzieher und des Generationenwandels entscheidende Aspekte für eine Reform. Das Gegenbild zu vielen der bislang skizzierten alten Heimerzieher, das ein gegenläufiges Grundverständnis und eine andere Mentalität im Feld der evangelischen Heimerziehung ausdrückte, findet sich in der Sozialpädagogin Anne Frommann (Jg. 1927). Sie arbeitete nach dem Psychologiestudium in Berlin und Freiburg in unterschiedlichen Einrichtungen als Heil- und Sozialpädagogin23, nahm 1950 an einer Tagung in Hephata/Treysa teil und machte dann 1951 dort ein einjähriges Praktikum. Hier lernte sie nach eigener Einschätzung, was in der Heimerziehungspraxis unzulänglich war. Die religiöse Trägerschaft verband sich in ihrer Wahrnehmung mit den dortigen Machtstrukturen, was sie als „pervers“ wahrnahm.24 Nach ihrer Heirat mit Günther Frommann Mitte der 1950er Jahre leitete sie zusammen mit ihm für zwölf Jahre ein heilpädagogisches 20 21

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Vgl. 75 Jahre EREV, S. 84-86, Meyer, EREV, S. 227-232. Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen in der evangelischen Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, S. 31. Vgl. Meyer, EREV, S. 232-242; Ulrike Winkler, „Jugendnot“ und Fürsorgeerziehung in der frühen Bundesrepublik, in: Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, bes. S. 40-51. Siehe die autobiographischen Angaben aus dem Interview mit Anne Frommann, in: „SWR 2 Zeitgenossen extra: Anne Frommann, Sozialpädagogin, im Gespräch mit Reinold Hermanns, 26.04.2008, 17.05 Uhr, SWR 2 Zeitgenossen extra, SWR 2 [http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/zeitgenossen/archiv/-/id=660644/ nid=660644/did=3278308/1asmiry/index.html (24.2.2009)]. Siehe zur Einordnung der Jugendhilfe der Einrichtung Treysa in Schwalmstadt: Winkler, 100 Jahre Jugendhilfe Hephata (1908-2008), S. 16-50.

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Heim in Bad Segeberg.25 Da ihr Mann zunächst zu einem Zusatzstudium in die Schweiz ging, führte sie das Heim praktisch allein. Sie hatte zudem vier eigene Kinder. Auf Tagungen der Gilde Sozialer Arbeit kam sie mit dem aufstrebenden Feld der Sozialpädagogik in engere Berührung, was für sie im heilpädagogischen Sinne viel Einzelarbeit und Fallbesprechungen bedeutete. Sie schloss zudem noch eine Dissertation in Psychologie an der Universität Freiburg ab. Als Anne Frommann 1966 „Die Situation der Heilpädagogik in den evangelischen Heimen und Anstalten“ beschrieb, verwies sie auf die „zögernde Öffnung der evangelischen Heimwelt gegenüber der heilpädagogischen Arbeit“.26 Sie wollte dagegen die Heime insgesamt von der Heilpädagogik durchdrungen sehen. „Heilpädagogik ist eine Lehre und zugleich eine Praxis, und zwar die Lehre von der Erziehung unter erschwerten Umständen.“ Es gehe der Heilpädagogik darum, eine heilende Umwelt zu schaffen. Sie konstatierte allerdings, dass nach dem Heimverzeichnis des EREV 1963 von 475 Heimen mit 32.939 Plätzen nur 8 heilpädagogische Heime mit 352 Plätzen geführt wurden. Laut dem AFET-Verzeichnis von 1964 waren es in Deutschland von 920 Heimen nur 67 heilpädagogische Heime und Abteilungen, bei evangelischen Trägern nur 12 Heime mit 439 Plätzen. Die Gründe für diese geringe Offenheit für die Heilpädagogik, die sie mit Fortschritt gleichsetzte, sah sie in der historischen Entstehung der evangelischen Heimerziehung. So hätten sich bei Johann Hinrich Wichern politisch-konservative Interessen mit christlichen Anliegen verquickt. Die große Nähe zu Kirche und Staat bedeutete die finanzielle Absicherung der dann „wohlbestallten Institutionen“, die als „große bürgerliche Hauswesen“ das „patriarchalische Leitbild“ annahmen. Das pädagogische Denken sei mit einem eigentümlichen Pathos einer religiösen Verwirklichung im Erziehen und Bilden aufgeladen worden. Mit dem Theologen Stallmann meinte sie: „Die Feierlichkeit, die gravitätische Würde, die Unerbittlichkeit und Strenge, mit denen bis in die Gegenwart sich Erzieher und Pädagogen bewegen, legen noch heute Zeugnis ab von dem

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Siehe zur Geschichte dieses Heimes die Angaben in: Dietrich Brummack/Günter Frommann/Ulrich Ziethen, Familienerziehung im Auftrag eines heilpädagogischen Kinderheimes, in: Martin Bonhoeffer/Peter Widemann (Hg.), Kinder in Ersatzfamilien. Sozialpädagogische Pflegestellen: Projekte und Perspektiven zur Ablösung von Heimen, Stuttgart 1974, S. 276-286. Anne Frommann, Die Situation der Heilpädagogik in den evangelischen Heimen und Anstalten, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 2 (Juni 1966), S. 18-24, hier 19.

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religiösen Grunde, aus dem sie sich beauftragt, ermächtigt, gesandt, gesegnet fühlen.“27 In der religiösen Überhöhung der Autorität sah sie in der evangelischen Heimerziehung die Frontstellung zu modernen Wissenschaften wie der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, der Psychiatrie, zur pädagogischen Reformbewegung der 1920er Jahre und auch zur Jugendbewegung und dem liberalen Sozialismus begründet. Die Heilpädagogik habe nun die modernen Wissenschaften absorbiert und sehe sich in Gegenüberstellung zur traditionellen evangelischen Heimerziehung, die sie als „traditionsverhaftet, theoriefeindlich, betriebsam, dogmatisch, autoritär und einseitig“ wahrnehme und selbst von dieser als „aufgeklärt, hypermodern, theoretisch, bequem, liberalistisch, verwöhnend und individualistisch“ wahrgenommen werde. In der Praxis komme es heutzutage (1966) darauf an, die Heilpädagogik entweder als neue Spielart einer evangelischen Heimerziehung zu sehen, die u.a. zu neuen Formen wie dem heilpädagogischen Heim oder aber auch neuen Formen der Arbeit mit Mädchen und Säuglingen sowie Kleinkindern unter Einbeziehung psychologischer Erkenntnisse führe. In der anderen Sicht würde die Heilpädagogik eine vollständige Durchdringung der evangelischen Heimerziehung bedeuten, was „zur Diskussion eines veränderten Arbeitsstiles und neuer Leitungs- und Anleitungsformen“ führen müsse, was von soziologischen Erkenntnissen geleitet werden sollte. Insbesondere in heilpädagogischen Heimen sah sie einige der daraus folgenden Veränderungen bereits verwirklicht: „1. die demokratische Lebensform der Mitarbeiterschaft und ihre praktischen Ordnungen; 2. die pädagogische Zentriertheit aller heimerzieherischen Arbeit; 3. der Mut zur Freigabe und zum pädagogischen Risiko; 4. die Offenheit um jeden – fast jeden – Preis, auch wenn grundsätzliche und sogar christliche Überzeugungen geopfert werden müssen.“28 Damit beschrieb Anne Frommann sowohl den Umgang mit den Kindern und Jugendlichen als auch mit dem Personal als ein Gegenbild zur autoritätsfixierten evangelischen Anstaltserziehung. Sie propagierte jenseits aller Engführungen durch Disziplin und Autorität „Menschlichkeit als Methode“.29 Sie fragte insbesondere innerhalb der evange27 28 29

Ebd., S. 19-20. Alle Zitate ebd., S. 22-24. Anne Frommann, Menschlichkeit als Methode. Sozialpädagogische und biografische Texte, Mössingen 2008.

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lischen Heimerziehung an, ob eine Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen in evangelischen Heimen mit der modernen Umwelt gefördert würde.30 Selbstkritisch stellte sie dabei zur Diskussion, ob eine zwischen 1905 und 1945 geborene Erzieherschaft mit ihren Erfahrungshintergründen eine Jugend in einer veränderten Gesellschaft noch erreichen könnte. Sie verwies auf die Überbelastung von Frauen, auf den Zusammenhang von Kinderreichtum und materieller Armut, auf das „sexualpädagogische Vakuum“, dem die Jugendlichen ausgesetzt seien. Sie beschrieb den geringen Organisationsgrad von Jugendlichen in konfessionellen Gruppen und ihre dazu im Gegensatz stehenden informellen Gesellungsformen in der Freizeit. Zudem zählte sie den geringeren Bildungsgrad von Mädchen gegenüber Jungen, die geringe politische Urteilsfähigkeit Jugendlicher und die Macht der Massenmedien auf. Sie erkannte, dass der Musikgeschmack der Jugend eher Schlager als Volkslieder bevorzuge, und meinte, dass es nicht um eine Verneinung der Konsumwelt gehen könne, sondern um eine Erziehung zu „kritischen Konsumenten“. In der Auseinandersetzung mit diesen sozialen Tatsachen und Phänomenen bedeute dies in der Jugenderziehung, Selbstständigkeit und gesundes Selbstbewusstsein zu stärken. Dafür sei es wichtig, die Geschichte eines Jugendlichen im Sinne der „Bewältigung des bisherigen Schicksals“ zu kennen und nicht, um es „als Etikett für seine Verhaltensschwierigkeiten zu benützen“. Die Offenheit und der Austausch der Heime mit der modernen Welt sei zu pflegen und die weitestgehende Freiheit zu gewähren.31 Zielten die Darlegungen Anne Frommanns auf eine radikale Reform der Heimerziehung, so wurde die Heimerziehung von ihren Kritikern seit Ende der 1960er Jahre wissenschaftlich wie politisch frontal und grundsätzlich angegriffen. Die Einflüsse der 68er-Bewegung und die Bilder der Heimkampagnen aus dem Heim Staffelberg, hatten große Wirkung auf sie. Sie verließ die Ehegemeinschaft, knüpfte Fäden zu Heinz Thiersch an der Universität Tübingen und wurde dort 1971 Akademische Rätin. Am dortigen Institut für Erziehungswissenschaften verband sie Theorie und Praxis in vielfältiger Weise mit politischem und bürgerschaftlichem Engagement.32 Nicht von ungefähr führte ihr Weg heraus aus der evangelischen Heimerziehung. Die Reformer im 30

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Anne Frommann, Kinder und Jugendliche unserer Heime in der Auseinandersetzung mit der modernen Umwelt, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 4 (Dez. 1966), S. 20-29. Alle Zitate ebd. Ihre enge Freundschaft mit Ernst und Karola Bloch war für sie nachfolgend von weitreichender Bedeutung. Das Erbe des Blochschen Denkens pflegte Anne From-

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evangelischen Bereich kamen also in den 1960er Jahren zu spät, hatten gegenüber den Strukturen der Heimerziehung zu wenig Einfluss und unterlagen selbst den rasant beschleunigten Wandlungsprozessen um das Symboljahr „1968“. Auf katholischer Seite fand der fachspezifische Diskurs zu Fragen der Jugendfürsorge im „Verband katholisch caritativer Erziehungsheime“ bzw. seit 1964 im „Verband katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik“ statt.33 Die Ergebnisse der Diskussionen spiegelten sich in der Zeitschrift „Jugendwohl“, die den Untertitel „Katholische Zeitschrift für Kinder- und Jugendfürsorge“ besaß und nach der 1939 erzwungenen Einstellung seit 1948 wieder erschien. Auf Grund der Bindung des Fachverbands zum DCV wurde die Zeitschrift von den Referenten für Jugendfürsorge des DCV herausgegeben – 1929 bis 1958 der Geistliche Gustav von Mann, 1959 bis 1967 Paul Schmidle und 1968 bis 1991 Hubertus Junge. Seit 1949 veranstaltete der Fachverband zudem in meist zweijährigem Turnus Bundestagungen, deren Teilnehmerzahl von etwa 150 Personen im Jahr 1952 bis 1968 auf 1.200 Interessierte kontinuierlich anwuchs. Zudem wurden die Beiträge in Tagungsbänden festgehalten.34 Wenn zu den thematischen Schwerpunkten mehrfach die religiöse Erziehung zählte, stand bereits 1957 die Frage „Werden wir dem Kind und dem jungen Menschen in unseren Heimen gerecht?“ im Zentrum der Tagung. 1964 ging es dann um „Leib und Leiblichkeit in der Erziehung“, 1966 um „Für die Welt von morgen erziehen“, 1968 um „Werden und reifen“ sowie 1971 um „Gesellschaftliche Aspekte der Heimerziehung“.35 Wie Andreas Henkelmann anhand der Artikel in diesen Publikationsorganen herausgearbeitet hat, stand die katholische Heimerziehung im ersten Nachkriegsjahrzehnt „im Zeichen einer Hoffnung auf eine christliche Erneuerung der Gesellschaft“. Während der 1960er Jahre und dann verstärkt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zeichnen

33

34 35

mann auch als Publizistin sowie als Mitarbeiterin des Ludwigshafener Ernst-BlochZentrums. Siehe Interview mit Anne Frommann (SWR 2008). Seit 1999 „Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen“ (BVkE). Vgl. Erhard Rieß, Vom Verband der Heim- und Heilpädagogik zum Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e. V. und zur Bedeutung eines gemeinsamen Fachverbandes für die Dienste und Einrichtungen der Erziehungshilfen, in: Eckhart Knab/Roland Fehrenbacher (Hg.), Perspektiven für die Kinder- und Jugendhilfe – Von der Heimerziehung zur Vielfalt der erzieherischen Hilfen, Freiburg i. Br. 2007, S. 28-32. Andreas Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S. 149f. Vgl. Hiller/Knab/Mörsberger (Hg.), 100 Jahre BVkE, S. 277.

REAKTIONEN AUF DIE „HEIMBEFREIUNGEN“

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Autoren wie der Psychologe Ernst Ell, der Pädagoge und Heimleiter Erich Kiehn oder Peter Flosdorf einen neuen Weg, der in den Heimen von der Bewahrung zur Bewährung, von einer Pädagogik der Abschottung zu einer Erziehung für die Welt führen sollte. Allerdings gab es auch Stimmen, die zur Vorsicht mahnten.36

7.2 Die „Heimbefreiungen“ und die Reaktionen der konfessionellen Heime Als 1968 die Proteste für eine Liberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche lauter und schärfer wurden, gehörte die Heimerziehung auf Grund der Repressivität der Fürsorgeerziehung, ihres vermeintlichen Klassencharakters und ihrer konfessionellen Monopolisierung mit zum Kernbereich der Klagen. Studierende und junge Dozenten verbanden 1968 in Berlin kritische Theorie und Praxis der Sozialarbeit. Sie kritisierten mit „spektakulären Aktionen“ die herrschende Heimerziehung und eröffneten Gegenmodelle wie die Jugendwohnkollektive Georgvon-Rauch-Haus und Thomas-Weissbecker-Haus. Sie stellten gezielt Transparenz her, um „das Licht der Öffentlichkeit auf die menschenverachtenden Praktiken hinter Mauern, geschlossenen Türen und vergitterten Fenstern“ in den Erziehungsheimen zu lenken.37 In den Jahren seit 1968 fanden Protestaktionen von Gruppen der APO auch in Heimen in Hessen, Bayern, Niedersachsen und NRW statt.38 Besonders Hessen erlangte mit der so genannten Heimkampagne gegen das 36 37

38

Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S. 159-169. Manfred Kappeler, „Achtundsechzig“ und die Folgen für Pädagogik und Soziale Arbeit, in: Forum Erziehungshilfen 14 (2008), S. 268-273, hier S. 272; zu den Berliner Heimkampagnen vgl. auch ders., Kritik und Veränderung – Die Berliner Heimkampagne und ihre Folgen, in: Heimerziehung in Berlin, S. 76-133; Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend, S. 334-344. Vgl. Almstedt/Munkwitz, Ortsbestimmung, S. 29-41; Erfahrungsberichte in Brosch, Fürsorgeerziehung. Heimterror; Meinhof, Bambule; Liebel/Swoboda/Bott, Jugendwohnkollektive; Lothar Gothe/Rainer Kippe, Ausschuß. Protokolle und Berichte aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen, Köln 1970; dies., Aufbruch. Fünf Jahre Kampf des SSK: Von der Projektgruppe für geflohene Fürsorgezöglinge über die Jugendhilfe zur Selbsthilfe verelendeter junger Arbeiter, Köln 1975; Hans Erich Körner/Jochen Müller/Uwe Keßler, Erzieherische Sonderhilfen, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 1974, Nr. 11, S. 420-430; Imke Behnken/Jürgen Zinnecker: „Hi ha ho, die Bonzen komm’n ins Klo!“ Sozialpädagogische Studentenbewegung und Modernisierung Sozialer Arbeit in Deutschland, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 257-282.

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Heim Staffelberg 1969 einige Bekanntheit. In Frankfurt bildeten sich erste Wohngemeinschaften von Zöglingen. Kennzeichen aller Veränderungen war eine bereits in den 1960er Jahren zunehmende öffentliche Kritik besonders an der konfessionellen Heimerziehung. Diese Kritik stand in einer langen Traditionskette.39 Anfang 1968 fragte Maria Bömers in der Zeitschrift „Brigitte“ die Heimerziehung am Beispiel des Klosters vom Guten Hirten in Köln kritisch an40 und im Mai 1968 schrieb Ulrike Meinhof in der „Für Sie“ einen „Bericht zur Situation der Heimkinder“, in dem sie über die Heimkarriere eines zu diesem Zeitpunkt flüchtigen Mädchens berichtete. Sie kritisierte den häufigen Wechsel der Beziehungspersonen, altertümliche Disziplinierungsrituale, die sittliche Enge und die Beschränktheit der Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten in den Heimen, wofür sie die Schuld nicht dem Erziehungspersonal, sondern den Verantwortlichen in „Politik, Behörden und Parteien“ gab.41 Meinhof wollte sogar im Juli 1968 in den Mädchenheimen der Diakonissenanstalt Kaiserswerth eine Undercover-Reportage machen, doch verwehrte ihr die Anstaltsleitung die Mithilfe.42 Insbesondere die Kaiserswerther Mädchenheime waren, wie oben gezeigt, ein Symbol für die nicht erfolgreiche Anpassung an die Wandlungen im Bereich der Heimerziehung. Im Mai 1969 veröffentlichte der ASTA der Universität Erlangen eine hektographierte Dokumentation über Erziehungsheime der Inneren Mission mit einem Gerippe auf dem Titelbild, das wie ein Tramper das Schild „nach Voccawind“ hielt. Daneben war ein Fahnenmast mit einer stilisierten Kirchenfahne und dem „Kronenkreuz“, dem Zeichen der Diakonie, abgebildet. Dieses Bild spielte auf die Verstümmelung eines aus dem Heim Voccawind Ende 1968 weggelaufenen Jugendlichen an, der die Grenze zur DDR überwinden wollte, im Minenfeld eine Explo39

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Vgl. Henkelmann/Kaminsky, Konfessionelle Wohlfahrtspflege und moderner Wohlfahrtsstaat, S. 253-281, hier 255f. Maria Bömers, „Für 65 Mädchen soll hier ein besseres Leben beginnen“, in: Brigitte, 2/68, S. 90-94. „Da sitzen sie, in ihren weißen Wänden, mit ihren blauen Schürzen und nähen die weiße Wäsche. Die weiße Kälte der Sachen läßt sie die menschliche Kälte dieser Umwelt doppelt spüren.“ (Vgl. Die Flucht der Maria M. (Ulrike Meinhof), in: Für Sie, Heft 10 (7.5.1968), S. 90-101 (zitiert nach ALVR 40943)); siehe ebenso den kritischen Artikel von Tilmann Moser, Heimzöglinge. Stiefkinder der Erziehung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1.6.1968) (zitiert nach: ADWRh, Evangelischer Verband für Heimerziehung im Rheinland Nr. 76). Vgl. Kaminsky, Kirche, S. 315f. u. Kap. 5.4.5.

REAKTIONEN AUF DIE „HEIMBEFREIUNGEN“

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Abb. 26: ASTA Erlangen: Dokumente Erziehungsheime (7.5.1969)

sion auslöste und ein Bein verlor.43 43

Der Evangelische Erziehungsverband in Bayern versuchte bereits Ende 1968 vehement, die Kritik am Heim und seinen rigiden Erziehungsmethoden abzuwehren. Allerdings wurden die öffentlichen Angriffe durch eine ZDF-Sendung über Voccawind im Januar 1969 zur besten Sendezeit noch verstärkt. (EEV an Schriftleitung der

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In den systematischen Zusammenstellungen über die Einrichtungen Puckenhof, Voccawind, Fassoldshof und Rummelsberg bezüglich Einlieferung, Tagesablauf, Arbeit, Freizeit, Ausgang, sexuelle Aufklärung, Strafen, Postzensur, Ausbildung der Erzieher etc. wurden die Einrichtungen u.a. als „Kinder-KZs“ der Inneren Mission bezeichnet.44 Quellen für die Zusammenstellung waren entweder eigene Besuche oder Praktika in den Einrichtungen, Befragungen der Jugendlichen wie der Erzieher bzw. auch die Angaben ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Diakon Arnold Schubert aus dem Fassoldshof erinnert sich: „Es muss irgendwie auch 68 oder so etwa gewesen sein, es hat sich eben irgendein bayrisches Fernsehteam aus diesem Studentenpulk da auf den Weg gemacht und wollte eben dann Aufnahmen in den bayrischen Heimen machen, eben sich auch erkundigen, wie schlecht es also den Jugendlichen in den Heimen geht. Und so weit ich informiert bin, sind die in allen bayerischen Heimen abgeblitzt bis bei uns im Fassoldshof. [...] Die waren eine knappe Woche bei uns da und waren also auch bei uns hier im Heim und haben dann entsprechende Aufnahmen gemacht, Interviews gemacht mit den Jugendlichen, mit den Erziehern.“45 Nach Schuberts Erinnerung konnten sich die „Fernsehleute“ eine Woche lang frei in der Einrichtung bewegen und waren am Ende etwas frustriert, weil sie nicht den Aufstand unter den Jugendlichen hervorbringen konnten, den sie sich erhofft hatten. Die Jugendlichen hätten die Befrager zudem ausgetrickst, weil die Jugendlichen herausbekommen hatten, was jene hören wollten. „Süßigkeiten und Rauchwaren haben die denen also alles zugesteckt und dann waren die Jugendlichen bereit und haben in etwa das gesagt, was sie hören wollten.“46 Insbesondere gegen die auch in der Presse aufgegriffene Abwertung der evangelischen Einrichtungen als „Kinder-KZ“ wehrte sich die Innere Mission, die in der ASTA-Dokumentation ein „ideologisches vorgefaßtes Machwerk“ sah und auf die Abhängigkeit von und Bindung

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Abendzeitung und des Acht-Uhr-Blattes v. 31.12.1968 und Fernsehsendung ZDF v. 8.1.1969, Voccawind (Nachschrift der Sendung v. 9.1.1969), in: ELKAN, DW Bayern 1617. Siehe weitere Stellungnahmen in ADW, HGSt 4444.) ASTA-Sozialreferat der Universität Erlangen [ca. 1969] und Studenten sprechen vom Kinder-KZ, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 112 v. 10./11.5.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Interview Arnold Schubert (23.8.2010), Transkript Teil 2, S. 1. Ebd., S. 2. Dennoch decken sich die in der ASTA-Dokumentation befindlichen Informationen im Wesentlichen mit dem Eindruck, der aus den eingesehenen Akten gewonnen werden konnte.

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an die vorhandenen Gesetze pochte. „Einerseits beschwere sich die Öffentlichkeit, daß diese ‚Strolche‘ überhaupt Ausgang hätten, andererseits werde behauptet, man sperre sie ein.“ Zudem sei der Beruf des Erziehers gesellschaftlich mit „einem so geringen Sozialprestige versehen, daß der Nachwuchsmangel katastrophal sei“. Eine solch „böswillige Kritik“ halte Idealisten vom Ergreifen des Berufes ab.47 Im Juni 1969 erschien in der Zeitschrift „Stern“ der Artikel „Einzelhaft für Kinder – Wie in christlichen Heimen Fürsorgezöglinge mit aller Gewalt zu besseren Menschen erzogen werden“.48 Anlass war der missglückte Selbstmordversuch eines Jungen im Erziehungsheim Buchenhof der Inneren Mission in Schweicheln. Die Reporterin Heide Weidle berichtete kritisch über Strafzellen („Besinnungsstübchen“), rigide Methoden sowie eine Briefzensur in den Heimen und klagte den herrschenden Mitarbeitermangel an.49 Ende Juni 1969 erhielt das katholische Piusheim in Glonn Besuch von ca. 15 APO-Vertretern der so genannten „Südfront“. In Glonn hatte zwar eine neue Leitung seit 1966 bereits eine Reihe von Reform-Projekten etwa durch die Anlage eines Jugenddorfes in Richtung kleinerer Gruppen und einer heilpädagogischen Orientierung angestoßen, doch besaß es einen traditionell schlechten Ruf.50 Sie verteilten Flugblätter und versuchten mit den Jugendlichen des Heimes ins Gespräch über die angeblich herrschende Unterdrückung und Ausbeutung zu kommen. „Auch in Punkto Sex sei sofort eine Aktion gestartet worden. Die mitgekommenen Mädchen entblößten ihren Busen und forderten die Jugendlichen auf, daran zu spielen und mit den Mädchen in den Busch zu verschwinden.“51 Zwei APO-Vertreter hatten versucht, eine Diskussion mit dem Anstaltsleiter zu führen, dieser habe sie aber hinausge47

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Pfarrer Klinger: „Differenzierung der Heime außer Acht gelassen!“ und Dekan Kelber nahm zu ASTA-Dokumentation Stellung, in: Blätter für Innere Mission in Bayern 22 (1969), H. 6, S. 44-45. „Einzelhaft für Kinder – Wie in christlichen Heimen Fürsorgezöglinge mit aller Gewalt zu besseren Menschen erzogen werden“ (Heide Weidle), in: „Stern“ v. 22.6.1969, zit. n. ALVR 40943 und Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Die Einrichtung reagierte bewusst nicht auf den Artikel. Vgl. Schweicheln an Diakonisches Werk v. 20.6.1969, in: ADW, HGSt 4451. Weidle war zuvor im Heim, fragte gezielt nach dem Selbstmord eines Zöglings, und ihr wurde ein „sauberer, ordentlicher Besinnungsraum“ vorgeführt. Oswald, 100 Jahre Katholische Jugendfürsorge, S. 115f. Vertraulicher Vermerk betr. Aktionen der APO v. 23.6.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“; siehe auch den Bericht von Anstaltsleiter Fiedler (Glonn) in dem Entwurf zur Niederschrift der Besprechung am 2.7.1969 (Ministerialdirektor

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worfen. Sechs Jugendliche haben sich dann von den APO-Leuten zum Weglaufen verleiten lassen. Im Heim sei es dann am nächsten Morgen zu Unruhe und Arbeitsverweigerungen gekommen. Der bereits am 23. Juni durch einen Anruf der Regierung von Oberbayern über den Vorfall benachrichtigte Herzogsägmühler Leiter Decker meinte, die APO-Leute würden gar nicht wirklich diskutieren wollen, sondern seien für die „Auflösung jeder Ordnung (Anarchie)“. Er empfand es als wichtig, sich und die Minderjährigen auf einen möglichen Besuch der „Südfront“ vorzubereiten. Hierzu nahm er einmal Kontakt zur Kriminalpolizei auf, mit der er einen Alarmplan für das Auftreten von APO-Aktivisten besprach. Das Stichwort für eine schnelle telefonische Benachrichtigung sollte bedeutungsschwanger „Katastrophe“ lauten.52 Zudem entwarf der Erziehungsleiter Wurth ein „Gegenflugblatt“, in dem er versuchte den Duktus der Anrede der zur Selbstbefreiung auffordernden Flugblätter der „Südfront“ nachzuahmen und die Ziele der APO herabzusetzen. Er verstärkte die vermeintlich originale Anmutung noch mit der Einfügung einer Zeichnung aus einem APO-Flugblatt, die einen sich selbst befriedigenden Mann mit Brille und Halbglatze zeigte, der mit der anderen Hand ein Kreuz hochhielt.53 Sie sollte das „Symbol für den Befreiungskampf “ darstellen. In Bayern waren die Heime durch die Aktionen der „Südfront“ in Unruhe und höchste Alarmbereitschaft versetzt. Alle rechneten mit der oben beschriebenen „Katastrophe“, denn man fühlte sich offenbar sturmreif. Real kamen die APO-Aktivisten allerdings nur in eine vergleichsweise kleine Zahl von Heimen, in die Herzogsägmühle z. B. gar nicht.54 So verhinderte etwa auch die Polizei Ende Juni, dass zehn De-

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Knies, 4.8.1969), in: BHStA, MInn, Nr. 89744. Zu den Aktionen vgl. auch Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders, S. 415-417 u. 424. Vermerk über Besuch von zwei Polizisten betr. Kennwort „Katastrophe“ (27.6.1969), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. „An die Jugendlichen in Herzogsägmühle“ (Gerhard Wurth) [ca. Juni 1969], in: ebd. [auch in: BHStA, MArb 3151]. „Die SÜDFRONT meint, daß Erzieher in ihrer Freizeit fortgesetzt wixen und Euch verbieten, nach Mädchen zu schauen. Die Südfront meint noch mehr, sagt viel, schreit laut – aber was vernünftiges bringt sie nicht zu wege. Laßt Euch nicht verwirren.“ Dieses anfänglich auch noch an verschiedene andere Heime verteilte Flugblatt wurde bei einer erneuten Versendung durch den EREV am 5.8.1969 weggelassen, da es „in falsche Hände gelangen und eine tendenziöse Auswertung“ erfahren könnte. Ein zweites in ähnlichem Stil verfasstes Flugblatt wurde ebenfalls nicht weitergegeben. (Vgl. EREV an Vorstandsmitglieder v. 5.8.1969 und Herzogsägmühle an EREV v. 11.8.1969, in: ebd.) Auch nicht in die Anstalten Treysa oder die Anstalt Freistatt, die sich ebenso vorbereiteten. Siehe Ulrike Winkler, Vom Rettungshaus zum Jugenddorf – Das Hes-

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Abb. 27: Gegenflugblatt der Herzogsägmühle (1969)

monstranten in das Piusheim und in das ebenfalls bei Glonn gelegene Erziehungsheim Schloss Zinneberg der Schwestern vom Guten Hirten gelangten.55 Nach einer eigenen Chronik der Aktivitäten der „Südfront“ war diese im Mai/Juni 1969 gegründet worden. Im Juni 1969 kam es bereits zu Kontakten mit Rockergruppen aus Kaufbeuren, einer Aktion vor dem Lehrlingsheim Salesianum und dem spektakulären Besuch des Erziehungsheims in Glonn, der eine Massenflucht aus den Heimen Bayerns nach sich zog. Im Juli folgten dann mehrere ‚Besuche‘ in den katholischen Erziehungsheimen Birkeneck, Waldwinkel und anderen. Trotz erster Kontakte mit dem Jugendamt mit der Zielrichtung der Legalisierung der ‚Entwichenen‘ kam es im Juli zu einer ersten Verhaftungsaktion eines ‚Südfrontlers‘ und zu einer ersten Polizeiakation, der im September 1969 zwei weitere Polizeiaktionen und Anklagen folgten. Auf

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sische Diakoniezentrum Hephata in den 1950er bis 1970er Jahren, in: EREV (Hg.), Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, S. 57-64; dies. 100 Jahre Jugendhilfe Hephata (1908-2008), S. 16-50; Hans-Walter Schmuhl, Kritik, Krise und Reform – Erziehungsarbeit in Freistatt (1969 – 1973), in: Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 255-289. Vgl. Bayer. Innenministerium an Bundesinnenministerium v. 1.7.1969 über Aktionen der „Aktion Südfront“ in den Erziehungsheimen Piusheim und Schloss Zinneberg, in: BHStA, MInn Nr. 89744.

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dem „Höhepunkt der chaotischen Wohnungssituation“ in München fanden auch „Schlägereien innerhalb der Südfront mit Lehrlingen“ statt. Im Oktober 1969 ergaben sich Kontakte mit Sozialarbeitern, Bewährungshelfern und dem Jugendamt in München, die in der „Gründung des Vereins ‚Progressive Jugend- und Sozialarbeit‘“ mündeten, der im Januar 1970 die ersten Jugendkollektive aufbaute.56 Das Bayerische Staatsministerium des Innern, in dessen Zuständigkeit das Landesjugendamt stand, berief angesichts der Lage am 2. Juli 1969 eine Besprechung aller Heime in München ein.57 Dabei wurde in einem ersten Teil die Lage und mögliches Verhalten gegenüber den APO-Aktivisten erörtert, doch am Nachmittag kam es zu einer inhaltlichen Diskussion über Reformen in der Heimerziehung. Die angefragten Themen von Strafen, der Freiheitsentziehung im Heim, der Briefkontrolle, der Taschengeldgewährung, des Gottesdienstzwangs, der Arbeitsentlohnung, der Pflegesatzgestaltung, der Sexualerziehung und der „Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung der Heime nach der zu leistenden Erziehungsaufgabe“ wurden erörtert. Bei den Strafen wies das Staatsministerium auf den bereits oben erwähnten, noch in Vorbereitung befindlichen Erlass hin, der sich klar gegen körperliche Züchtigung positionierte, bei den Pflegesätzen auf eine in Vorbereitung befindliche Anhebung der Sätze. In Bezug auf den „Zwang zum Kirchenbesuch in konfessionellen Heimen“ hieß es: „Hier wurde von der Mehrzahl der Teilnehmer die Ansicht vertreten, daß kein Zwang ausgeübt werden sollte. Der freiwillige Besuch der Gottesdienste soll vielmehr durch Überzeugung und entsprechende Gestaltung erreicht werden.“ Über eine mögliche Entlohnung der industriellen Arbeiten in den Heimen sollten sich die Heime Gedanken machen. Möglichkeiten des freien Ausgangs seien zu verstärken, wie überhaupt eine Öffnung der Heime nach außen und keine Abkapselung erfolgen sollte. Im Rahmen 56

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Zeitung „Oktoberland“ v. Nov. 1969, in: BHStA, MArb Nr. 3151. Vgl. auch Aktion „Südfront“ (Spiegel 30.9.1969, Nr. 40, S. 112) und „An der Südfront“ (Zeit Nr. 40, S. 67 „Bestandsaufnahme“), in: ebd. Dieser Teil der „Südfront“ mit den Personen Seibert, Steinvorth, Helga Spindler etc. wurde wiederum von einem anderen Teil „der sozialistischen Randgruppen- und Sozialarbeit“ als Modellfall des Reformismus und der Entpolitisierung durch Psychotherapeutisierung eingestuft. (Rand-Notizen. Zeitung der sozialistischen Randgruppen- und Sozialarbeit, Nr. 1 v. April 1970, Redaktionskollektiv M. Braun/G. Eibl/R. Falk, C. Randl, in: ebd.) Entwurf zur Niederschrift der Besprechung am 2.7.1969 (Ministerialdirektor Knies, 4.8.1969), in: BHStA, MInn Nr. 89744; Vermerk betr. Besprechung beim Bayerischen Staatsministerium des Innern – Aktion Südfront am 2.7.1969 (Georg Wurth, 4.7.1969), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“.

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des „Briefzensus in Heimen“ müsse es Minderjährigen in FEH und FE stets gestattet sein, „Briefe ungeöffnet und ungelesen an die Erziehungsbehörde“ zu richten. Bereits in dieser ersten Reaktion auf die Heimkampagnen der APO wurde neben dem Behauptungswillen der Heime auch deutlich, für wie reformbedürftig diese selbst die Heimerziehung erachteten. Die schwierigen, zum Teil skandalösen Zustände betrafen natürlich in erster Linie, doch nicht ausschließlich, die konfessionellen Heime. Im Heim der AWO in Tittmoning im Kreis Laufen wurden 1968 bis 14-jährige Kinder durch Strafturnen, Schläge und Einsperren in eine dunkle Besenkammer zur Raison gebracht. Den pädagogisch nicht qualifizierten als Isolierklempner ausgebildeten Hausvater und eine Kinderpflegerin verurteilte ein Schöffengericht in Traunstein im April 1970 zu Geldstrafen. Zwei als „Kindertanten“ bezeichnete 19 und 21 Jahre alte Helferinnen wurden wegen des von ihnen verhängten so genannten „Fliegenstehens“ (mit waagerecht ausgebreiteten Armen) zu Freizeit-Arresten verurteilt.58 Außer in Bayern machten sich Heimkampagnen im Sommer 1969 auch im Rheinland, in Hessen, in Württemberg und in Berlin bemerkbar.59 Nachfolgend kristallisierte sich eine Doppelstrategie der Heime und Landesjugendämter im Umgang mit den Heimkampagnen und den Forderungen der APO heraus. Einerseits wurde versucht, weitere Beeinträchtigungen der Heimerziehung mit polizeilichen und juristischen Mitteln strikt zu unterbinden, andererseits agierten gerade die reformwilligen Kräfte in den Heimen und auch den konfessionellen Verbänden dahingehend, den Druck, der hierdurch erzeugt war, für die Durchsetzung eigener Reformvorhaben zu nutzen.60 Einige Beispiele sollen das nachfolgend illustrieren. Ein Rundschreiben des Diakonischen Werkes in Bayern vom 17. Juli 1969 warnte ausdrücklich vor den Störaktionen und riet, die Polizei einzuschalten wie auch keine politisch aktiven Jugendlichen oder Stu58

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Seltsame Methoden der Kindererziehung. Skandalöse Strafen in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt, in: Schongauer Nachrichten v. 18.4.1970, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Vgl. Markus Köster, Die Heimkampagnen – die 68er und die Fürsorgeerziehung, in: Damberg u.a.(Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 63-77; Sven Steinacker, Heimerziehung, Kritik und Alternativen. Jugendhilfe und Soziale Bewegungen in den siebziger Jahren, in: ebd., S. 89-106; eine zeitgenössische Auflistung in der Niederschrift über die außerordentliche, erweiterte Vorstandssitzung des EREV am 24.7.1969 in Frankfurt (Varkevisser, 25.7.1969), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Eine ähnliche Bewertung auch bei Köster, Heimkampagnen, S. 76.

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denten zur Mitarbeit heranzuziehen.61 In Rundschreiben für die Rummelsberger Heime oder auch die Herzogsägmühle wurde ausdrücklich auf die Rechtslage eingegangen mit der Aufforderung, Autokennzeichen festzustellen, den vermeintlichen „Tatbeitrag“ einzelner APO-Aktivisten genau zu bestimmen etc.62 Ein erster Ermittlungsbericht der Polizei von Anfang August sprach von Ermittlungen gegen neun Personen wegen verschiedener Delikte. Das Verfahren wegen Beleidigung der Erzieher wurde allerdings eingestellt. Vier Jugendämter (Greinwald, Hamburg, Erding, Passau) stellten einen Strafantrag gem. § 86 JWG wegen Entziehung von der FE. Insgesamt waren 17 Zöglinge bis dahin weggelaufen und in München untergebracht worden.63 Auf die Legalisierungsversuche, die der in München gegründete „Verein Jugendhilfe e.V.“ für die entlaufenen FE-Zöglinge machte, reagierte das Piusheim in Glonn mit Unverständnis gegenüber der Regierung und forderte die Rückkehr der Heimzöglinge ein.64 Ende September 1969 richtete sich eine Polizeiaktion in München gegen die APO-Aktivisten. Laut den Zeitungsberichten wurden 21 Jugendliche und zwei Erwachsene dabei festgenommen und auch der „Trikont“-Verlag durchsucht.65 61

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DW Bayern an Heime v. 17.7.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“ [auch: BHStA, MArb Nr. 3151 und MInn Nr. 89744] Rundschreiben an Rummelsberger Heime v. 14.7.1969 und Abschrift Fernschreiben an die Landespolizei Schongau v. 27.6.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Landpolizeidirektion Oberbayern an Staatsministerium des Innern v. 8.8.1969, in: BHStA, MInn Nr. 89744. Jugenddorf Piusheim an Regierung Oberbayern v. 23.7.1969 und Regierung Oberbayern an Jugenddorf Piusheim v. 8.8.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“ [auch: BHStA, MInn Nr. 89744]. Ein entlaufener Zögling, der bei einer Familie in München unterkam und regelmäßig einer Arbeit nachging, wurde vom Heim regelrecht verfolgt, allerdings erfolglos. Vermerk (Wurth) an alle Jugendwohnheime v. 25.9.1969, Polizeiaktion gegen Münchner APO-Gruppe „Südfront“, in: Schongauer Nachrichten v. 25.9.1969, Fürsorgezöglinge müssen in Heime zurück; in: Schongauer Nachrichten v. 26.9.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“; Sex-Skandal mit Fürsorge-Zöglingen! Nachts kam die Polizei zur APO, in: Bild v. 25.9.1969, in: BHStA, MInn Nr. 89744. Laut dem letztgenannten Zeitungsartikel wurde die Aktion von Justizbehörden zudem damit begründet, dass die FE-Zöglinge von ihren APO-Betreuern „bei der Störung der Münchner CSU-Wahlkundgebung mit dem Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß am 5. September eingesetzt worden seien“. Vgl. auch wertend Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders, S. 416: „Mit der Münchener Polizeiaktion gelangte die Geschichte der ‚Südfront’ freilich schon wieder an ihr Ende. Sie zerbrach gewiß nicht allein am Außendruck. Viele ihrer Protagonisten hatten, nachdem sie der Lage nicht mehr Herr wurden, die ‚Polizeirazzia heimlich als Erleichterung emp-

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Der EREV, der sich in Vorbereitung seines 50-jährigen Jubiläums befand, hielt Ende Juli 1969 eine außerordentliche, erweiterte Vorstandssitzung in Frankfurt ab, um über die „Störaktionen der APO“ zu beraten.66 Im Vorfeld wurden verschiedene Materialien wie die Rundschreiben und das „Gegenflugblatt“ der Herzogsägmühle, das Rundschreiben der bayerischen Diakonie und ein Zeitungsartikel an die Teilnehmer versandt. Es wurden verschiedene Varianten diskutiert, um einen Schutz der Jugendlichen vor Störmaßnahmen zu erreichen. Dabei setzte sich die Meinung durch, man solle sich nicht an Behörden und den AFET zur Überwindung der angeprangerten Missstände wenden, da das nur das Verschieben des „Schwarzen Peters“ bedeute. Es sollte in den Heimen eine „Revision der pädagogischen Maßnahmen“ erst mit zeitlichem Abstand zum 50-jährigen Bestehen des EREV erfolgen. Zudem wurde eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit, aber nicht in direkter Reaktion auf die APO-Aktionen für nötig erachtet. Man meinte, die Sache besser „totlaufen“ zu lassen, da Presse und Rundfunk nur die negativen Dinge aufnehmen würden. Zur Vorsicht vor der Aufnahme von Praktikanten von Pädagogischen Hochschulen und von Psychologiestudenten als „Trojanische Pferde“ wurde gemahnt. In einem Rundschreiben sollte ein Situationsbericht enthalten sein, die Empfehlung zur Information der Mitarbeiter, eine Empfehlung zu aufklärenden Gesprächen mit den Jugendlichen und zu Diskussionen mit Teilen der Aktionsgruppen, die aber ohne Minderjährige durchzuführen seien.67 Insgesamt fühlte man sich auf Seiten des EREV wohl zu schwach, den überwiegend berechtigten Forderungen – es wurden u.a. auch die 14 Forderungen des ASTA Frankfurt „Kampf dem Heimterror“

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funden’. Die studentische Avantgarde mußte, von all den anderen Konflikten zwischen ‚Befreiern’ und ‚Befreiten’ einmal abgesehen, die Erfahrung machen, daß den entwichenen Fürsorgezöglingen die politischen Anliegen der ‚Südfront’ ziemlich gleichgültig waren; damit hatte sich eine Grundannahme des ganzen Unternehmens sehr schnell als illusorisch erwiesen.“ Bereits zuvor war in einer Vorstandssitzung am 7.7.1969 eine Information über die Frankfurter Vorgänge erfolgt (Niederschrift über die Vorstandssitzung am 7.7.1969 in Frankfurt v. 1.8.1969, in: ADW, EEV 124). Anwesend waren am 24.7. neben den Vorstandsmitgliedern: Badenhop, Focken, Heerschlag, Hörrmann, Janssen, Klett, Klinger, Schilling, Vahldorf, Vogel Varkevisser noch Benkendorff (Scheuern), Heidecker (Rummelsberg), Hesse (Birkenhof in Hannover), Kilian (Treysa), Kleem (Rengshausen), Knöfel (Berlin), Paucke (Kästorf), Tietze (Oberbieber). Niederschrift über die außerordentliche, erweiterte Vorstandssitzung am 24.7.1969 in Frankfurt v. 25.7.1969, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“.

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an die Heime weitergesandt68 – zu begegnen.69 In der Vorstandssitzung Anfang Juli hatte man bereits die Erstellung einer Denkschrift beschlossen.70 In einem Entwurf vom November 1969 wurde als „Anlaß der Denkschrift“ die „gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der Heimerziehung, berechtigte und unberechtigte Kritik der Öffentlichkeit, der Massenmedien, der APO-Gruppen usw.“ benannt. „Sinn und Zweck dieser Denkschrift war ‚Dank für das Gewesene, Ja zum Kommenden‘.“71 Der EREV nutzte die Situation dahingehend, dass er in einem Brief an das Diakonische Werk darum bat, sich für die bereits seit längerer Zeit angestrebten Ziele wie die Erfüllung des Nachholbedarfs der Heime, einen besseren Personalschlüssel etc. einzusetzen. Die Forderungen umfassten im Einzelnen: 1. mehr Geld für Modernisierungen der Häuser (auch durch Refinanzierung durch öffentliche Stellen), 2. Stellenpläne auf der Basis von 3 bis 3,5 Stellen pro Gruppe (mit 12 Kindern oder Jugendlichen). Die Kirche sollte notfalls finanziell in Vorlage treten. 3. Empfehlungen des AFET vom 2. April 1969 bezüglich Laufbahnordnung und Ausbildung der Heimerzieherschaft sollten verwirklicht werden. 4. Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit, 5. ein Personalförderungsprogramm aus kirchlichen Mitteln sollte die Ausbildung und Anstellung von Jugendpsychiatern, Psychiatern, Psychagogen, Heilpädagogen, Supervisoren fördern und 6. eine Fachfortbildung der Mitarbeiter (u.a. über die Diakonische Akademie).72 68

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asta-information (johann-wolfgang-goethe-universität frankfurt-m) Nr. 5 v. 10.7.1969: „Kampf dem Heimterror, Kampf dem Heimterror...“, in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“ (siehe auch HHSA, Nds. 120 Hannover., Acc 103/76 Nr. 13). Abgedruckt in: Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend, S. 347; Köster, Heimkampagnen, S. 63f. So auch die Einschätzung bei Meyer, EREV, S. 248-154; 75 Jahre EREV, S. 91-94. Niederschrift über die Vorstandssitzung am 7.7.1969 in Frankfurt v. 1.8.1969, in: ADW, EEV 124. Zweiter Entwurf für die Gliederung einer Denkschrift zum Jubiläum des EREV (Müller-Schöll, 6.1.1969) als Anlage zur Niederschrift der Vorstandssitzung des EREV am 26.11.1969 (1.12.1969), in: ADW, EEV 124. Vgl. die erste Bilanz, die im Oktober 1969 dem Diakonischen Rat vorgelegt wurde: Albrecht Müller-Schöll, APO-Aktionen in den Erziehungsheimen. Versuch eines Überblicks, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 76-80.

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Der EREV benannte sich im Herbst 1969 zeichenhaft in „Evangelischer Erziehungsverband – Bundesverband evangelischer Erziehungseinrichtungen“ um, wenngleich er die historische Abkürzung EREV bis heute in seinem Namen trägt.73 Insgesamt war auch eine Neuorientierung der Erziehungsarbeit nicht zu umgehen. Auch andernorts wurde darüber nachgedacht. In der Ergebnisniederschrift über die Arbeitstagung des Landesjugendamts Hannover für die überwiegend konfessionellen Heimleiter im November 1969 findet sich die paradoxe Situation, dass der Leiter des Frauenheims in Hildesheim, Isermeyer, am Anfang noch ein Referat über die Erziehungsarbeit im Mädchenheim am Finkenberg in Sorsum hielt und die Abgeschlossenheit und den „Freiheitsentzug“ der Mädchen lobte, und dann im zweiten Teil zwei Arbeitskreise über die APO-Aktionen und über Methodik moderner Heimerziehung ihre Arbeit aufnahmen. Deren Ergebnisse konstatierten, dass Heimerziehung als Erziehung zur Lebensfremdheit, als Erziehung ‚unter der Käseglocke‘, als eine Art ‚veränderter Strafvollzug‘ angesehen werde. Der Widerspruch, dass sich diese in Unfreiheit vollziehe, doch zur Freiheit erziehen solle, wurde formuliert. Heimträger, Heimleitung und Erzieher seien ständig in Gefahr, aus ‚Heimblindheit‘ die Mängel in der Heimerziehung nicht mehr zu sehen oder zu verdrängen, weil die Reflexion der Ziele und Methoden erlahmt.“ Auch den 14 Punkten der APO konnten die teilnehmenden Heimleiter durchaus etwas abgewinnen. Die „Erziehungsplanung“ solle zwar nicht vor den anderen Minderjährigen gemacht, doch der betroffene Minderjährige einbezogen werden wie bei einem „Erziehungsvertrag“. Den unkontrollierten Besuch von Jungen und Mädchen fand man zwar nicht diskutabel, doch war man sich des Defizits einer Sexualpädagogik bewusst. Auf Anstaltskleidung sei künftig zu verzichten, da sie dem Ziel der Ich-Stärkung zuwider laufe. „Der Haarschnitt ist keine Frage der Repression, sondern der Erziehung. ‚Gesellschaftsadäquater Haarschnitt‘ gehört zum Erziehungsziel (Arbeitsstelle).“ Zum geforderten freien Ausgang hieß es: „Völlig freier Ausgang würde das FE-Heim ad absurdum führen.“ Doch sollte die vorherrschende Kontrolle durch Vertrauen ersetzt werden. Der zweite Arbeitskreis hob auf eine klare Konzeption abhängig von Lage, Arbeitsmöglichkeiten, baulichen Gegebenheiten, Alters- und Berufsstruktur wie Differenzierungsmöglichkeiten des jeweiligen Heimes ab. Gegen 73

Jahrestagung evangelischer Heimerziehung, in: Sozialpädagogik 11 (1969), S. 214215; „Gelder im Kinderschutz verzinsen sich in den Erwachsenen“, in: Blätter für Innere Mission in Bayern 22 (1969), H. 6, S. 42-43.

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„Heimblindheit und Heimmüdigkeit“ sollte eine Förderung des Erziehers, praxisbegleitende Lehrgänge, Fortbildung, Supervision und die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die Erzieher helfen. Insgesamt wurde mehr Demokratie im Heim durch Heimbeirat bzw. -parlament befürwortet. „Das Erziehungsziel besteht darin, mit Hilfe der Methodik (Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit ggf. Gemeinwesenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit) und mit Hilfe der vorgenannten pädagogischen Konzeption den Minderjährigen zu befähigen, mit seinen Konflikten fertig zu werden und Fehlhaltungen abzubauen. Gleichzeitig muß seine Bindungsfähigkeit gefördert und gestärkt werden.“ Auch bei der Frage nach einer tarifmäßigen Bezahlung der in Erziehungsheimen arbeitenden Jugendlichen, zu deren Ausbildungsmöglichkeiten, zu Fragen der Erziehung zur Freiheit wie Postzensur, Progressivsystem, Heimbeirat, Punktsystem etc. war man gespalten. Die Mehrheit der Diskutanten wünschte eine „leistungsgerechte Bezahlung“. Angesichts der Verunsicherung sollte aus den Heimen eine Kommission gebildet werden, die dem Kultusminister Fragen beantwortet, welche zur Erstellung von Richtlinien zur FE und FEH dienen sollte.74 Als dritte Region, die mit Heimkampagnen und nachfolgend einer Umorientierung zu tun hatte, sei das Rheinland genannt. Im evangelischen Heim Wolf an der Mosel75, das in Rheinland-Pfalz liegt, doch zum Teil mit Minderjährigen aus dem Gebiet des Landschaftsverbandes Rheinland in NRW belegt wurde, tauchten im August 1969 Studenten im Gottesdienst auf und verteilten Flugblätter, welche für die APO und gegen das Heim und dessen Erzieher mobilisieren sollten.76 Die Studenten waren ehemalige Schüler des örtlichen Gymnasiums und hatten sich dort bereits dem „Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler“ (AUSS) angeschlossen. Anfang September 1969 kam es dann zu einer Diskussion zwischen zehn APO- und AUSS-Vertretern mit den Zöglingen. Laut dem Bericht des Einrichtungsleiters der 74

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Ergebnisniederschrift über die Arbeitstagung des LJA Hannover für die Heimleiter am 6./7.11.1969, in: HHSA, Nds 120 Hannover, Acc 103/76 Nr. 13. Zur Geschichte des Heimes siehe Uwe Kaminsky, Das Landeserziehungsheim bzw. Evangelische Kinder- und Jugendheim Wolf an der Mosel, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 265-273. Bericht über die Diskussion am 3.9.1969 mit Angehörigen der APO vertreten durch den AUSS Traben-Trabach und Flugblatt: Warum die Heimleitung die APO schlecht machen muß (AUSS Traben-Trabach, 24.6.1969), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“.

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am Anfang des Jahres programmatisch in „Evangelischer Jugendhof Martin Luther King“ umbenannten Einrichtung, Helmuth Schilling, fanden die Studenten allerdings unter den Minderjährigen, welche ihre vermeintliche Depravierung nicht erkennen wollten, keine Resonanz. Vielmehr bewährte sich dabei das Annehmen der eingeforderten Diskussion, in der man die Hoheit behauptete.77 In Köln gründete sich im Juli 1969 als Produkt des Engagements von Sozialpädagogen und Studenten wie auch von Engagierten des Politischen Nachtgebets78 der Verein „Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln“ (SSK), der sich insbesondere um entlaufene, obdachlose Jugendliche, darunter FE-Zöglinge, kümmerte.79 Neben dem Elend einer wachsenden Zahl obdachloser Jugendlicher80 waren dabei die Verhältnisse im Don-Bosco-Aufnahmeheim des Katholischen Männerfürsorgevereins in Köln Gegenstand des Protestes. Die Vorwürfe besagten, Minderjährige würden dort „oft monatelang hinter Gittern [vegetieren], sadistisch misshandelt [und] von einigen Erziehern sogar sexuell missbraucht.“81 Diese Skandalisierung erzeugte eine heftige öffentliche Reaktion, welche letztlich zur Schließung der 77

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Helmuth Schilling, „Kulturrevolution“ gegen die Heimerziehung, in: Diakonie im Rheinland 7 (1970), H. 1, S. 10-14. Vgl. zur Geschichte des politischen Nachtgebets: Klaus Schmidt, Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 Jahre Protestanten im Rheinland, Köln 2007, S. 220-224; Peter Cornehl/Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen, in: Hermle/ Lepp/Oelke (Hg.), Umbrüche, S. 265-284; Kaminsky, Kirche, S. 228-239. So wurden z. B. im „Urkontaktzentrum“ mit dem Namen „Etage“ des „Vereins kritischer Christen“ auch obdachlose Jugendliche untergebracht. Später nannte sich dieser in „Sozialistische Selbsthilfe Köln“ um. Vgl. Gothe/Kippe, Ausschuß; dies., Aufbruch; Wolfgang Liegel, Die 70er Jahre: Gesetzlicher Anachronismus und seine Folgen, in: Landschaftsverband Rheinland (Hg.), 75 Jahre Landesjugendamt Rheinland, Köln 1999, S. 55-59; LJA Rheinland, Schmuddelkinder, S. 56-70. Siehe die Charakterisierung aus der zeitgenössischen Perspektive: LVR an Düsseldorfer Arbeits- und Sozialministerium v. 9.4.1970 und Ministerium an LVR v. 24.4.1970, in: ALVR 39105. Der SSK schätzte in seinem Papier über die Situation der „Streunenden Jugend“ in Köln im Mai 1970 die Zahl der Jugendlichen ohne Wohnung auf mindestens 1.000 (vgl. Gothe/Kippe, Ausschuß, S. 181-185). Behnken/Zinnecker, Bonzen, S. 263. Vgl. zeitgenössisch u.a.: Uwe Seidel/Diethard Zils (Hg.), Aktion Politisches Nachtgebet. Analysen, Arbeitsweisen, Texte und Politische Gottesdienste aus Augsburg, Berlin, Bonn-Bad Godesberg, Dinslaken, Düsseldorf, Köln, Osnabrück, Rheinhausen, Stuttgart, Trier und Utrecht, Wuppertal 1971, S. 155-205 (vgl. auch „Trautes Heim...“, Politisches Nachtgebet am 5./6.5.1970, in: ALVR 39119; ferner: Kinder klagen an, Sie schlagen und sie küssen es (Politisches Nachtgebet in der Antoniterkirche, Köln, 2./3.6.1970, in: ALVR 40468); Ein Betroffe-

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Einrichtung führte. Insbesondere die mediale Verstärkung der Vorwürfe gegen die Heimerziehung führte auch in den Folgejahren zu einer Problematisierung der öffentlichen Erziehung durch Jugendämter und Landschaftsverband. Meilensteine in diesem Prozess der Medialisierung der Missstände waren der Film von Günter Wallraff „Flucht vor den Heimen“ und der „Kinderheimreport“ von Jürgen Roth im Jahr 1971.82 In Köln entstanden seit 1969 Wohngemeinschaften entlaufener FEZöglinge.83 Die Unterstützung der Häuser durch die Stadt Köln wurde ertrotzt und durch eine Vielzahl von Aktionen teilweise herbeigezwungen.84 Anfangs unterstützte das Landesjugendamt den SSK, da es sich offenbar davon auch ein Auffangen der allerorten um sich greifenden Proteste und politischen Aktionen gegen die traditionellen Formen der Heimerziehung erhoffte. Später suchte der SSK eine Abgrenzung insbesondere zur Heimaufsicht des Landesjugendamtes und skandalisierte die frühen Versuche mittlerweile abgespaltener Gruppen, ein Übereinkommen mit diesem zu finden.85

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nenbericht eines u.a. im Don-Bosco-Heim untergebrachten Jugendlichen in: Gothe/ Kippe, Ausschuß, S. 101-116; Köster, Heimkampagnen. „Flucht vor den Heimen. Aussagen und Selbstdarstellungen (Fürsorgezöglinge)“. Film von Günter Wallraff, ZDF 1971 und Sendemanuskript „Kinderheimreport“ von Jürgen Roth [Hörfunk WDR 1 v. 18.5.1971, in: ADWRh, Evangelischer Verband für Heimerziehung im Rheinland Nr. 76 (später auch als: Roth, Heimkinder)]. Offenbar konnte nach Kritik der von Roth angegriffenen konfessionellen Heimträger und auf Vermittlung des LVR im November 1971 eine „Diskussion zur Sendung ‚Kinderheim-Report‘ von Jürgen Roth“ am 8.11.1971 im WDR III stattfinden. Teilnehmer: Dr. Elisabeth Siebenmorgen (Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter), Siegfried Hörrmann (Ev. Kinderdorf Tuttlingen), Dr. Gerhard Iben (Erziehungswissenschaftliches Seminar der Philipps-Universität Marburg), Hubertus Junge (DCV), Jürgen Roth, Diskussionsleiter: Ulrich Gembardt (siehe Aktenvermerk v. 20.8.1971 und MS. in: ebd.). Siehe R16 - 1 Jahr Jugendkontaktzentrum Kerpener Straße, Köln, 1.7.1970-1.7.1971 (Druck), in: ALVR 40468 Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 136-150. So Gothe/Kippe, Aufbruch, S. 11-30. Im Juli 1969 wandte sich der Erzieher Rudolf May aus dem Don-Bosco-Heim in Köln an den Landschaftsverband und trug den Plan vor, der „Bewegung, bevor sie sich formiert, durch eine gezielte Aktion Einhalt zu gebieten“. Dafür wollte er Gebäude im Stadtgebiet anmieten, um schwierige Jugendliche in diesen in offener Form mit einem Team zu betreuen (Vermerk Dernbach an LR 4 v. 25.7.1969, in: ALVR 39119; vgl. auch LJA an Landesdirektor v. 8.4.1970, in: ALVR, NL Klausa 35). Bei diesem Gespräch mit zwei Sozialarbeitern, die im Auftrag des SSK Wohngemeinschaften führen wollten, beriefen sie sich auf

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Anfang Dezember 1969 lief in der WDR-Sendung „Hier und Heute“ ein Bericht über das im Münsterland gelegene Martinistift, nachdem Journalisten der Sendung das Haus besucht hatten. Wenige Tage später wandte sich dann Direktor Wiggenhorn an den münsterischen Bischof Tenhumberg: „In den letzten Wochen hatten wir hier mancherlei Wirrwarr: Polizei und Feuerwehr im Haus, das Fernsehen war hier mit der guten Absicht, uns vom Altbau zu erlösen und finanziell etwas für die Jungen zu tun. Unterschwellig ging es ebenso stark darum, den konfessionellen und noch mehr den religiösen Charakter des Hauses anzuprangern. Einige Jungen wollten schon an Dich schreiben, Du solltest alles tun, daß diese Heime nicht verstaatlicht werden. Sie haben verstanden, worum es im Grunde geht. Ich hoffe aber, die Schreiberei unterbunden zu haben. Z. Zt. haben wir noch Soziologiestudenten im Haus (Apo.). Die Jungen haben mir aber versichert, sie würden sie ohne meine Hilfe am Dienstag, dem 9.12.69, Punkt 21 Uhr endgültig verabschieden. Einem größeren Besuch von seiten der Apo sehen sie mit Interesse entgegen. Du siehst, die Stimmung ist gut.“86 Ende des Jahres beschwerte sich der Bischof auf Grundlage der Schilderungen dann beim WDR-Intendanten über den vermeintlich negativen Bericht und erneuerte im Februar des nachfolgenden Jahres wegen des Ausbleibens einer Reaktion seinen Wunsch auf Prüfung des Beitrags, „da der Eindruck entstanden sei, dass diese Sendung tendenziös negativ für diese karitative Anstalt gewesen sei“.87 Nachdem dann aber die Redaktion der bistumseigenen Kirchenzeitung erklärte, dass die Sendung eigentlich kaum zu kritisieren gewesen sei, kam es zu keinen weiteren Aktivitäten. Fasst man die hier benannten Reaktionen der konfessionellen Verbände wie der Landesjugendämter auf die Heimkampagnen zusammen, so wird deutlich, wie nach 1969 neue Orientierungen durch reformfreudige Vertreter der Heimerziehung zumindest konzeptionell Platz griffen. Ihre Verwirklichung in einer veränderten Praxis der Heimerziehung war allerdings ein mühsamer und langfristiger Prozess.

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den Vorsitzenden des LJWA, Scheve, der gesagt habe, es könnten weitere Kollektive gegründet werden, wenn man Sozialarbeiter bringe. Direktor Wiggenhorn an Bischof Tenhumberg v. 8.12.1969, in: BAM, GV NA A0483. Bischof Tenhumberg an WDR-Intendant Klaus von Bismarck v. 28.2.1970, in: ebd.

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7.3 Denkschriften und Veränderungen in der konfessionellen Heimerziehung Im November 1969 fand in der Evangelischen Akademie in Mülheim/ Ruhr eine Tagung über „Heimerziehung und Öffentlichkeit“ statt. Die Referate unterstrichen die angestrebte Neuorientierung der Heimerziehung unter dem Aspekt der medialen Vermittlung dieser Form der öffentlichen Erziehung. Fast alle Referate wurden nachfolgend in der Zeitschrift „Sozialpädagogik“ veröffentlicht.88 Nur das Referat von Tilman Moser „Wie sieht der Journalist die Heimerziehung – Warum sieht er sie kritisch?“ fehlte. Es stand auf einem hohen soziologischen und psychologischen Reflexionsniveau und stellte eine Verbindung zwischen der Aufopferungsbereitschaft der in der Heimerziehung Tätigen und ihrer angegriffenen Identifikation mit dem Heim durch eine kritische, skandalisierende Berichterstattung her. Sein Versuch zu erklären, dass die mangelnde Organisation von Macht im Feld der Heimerziehung dazu führt, dass die Skandalisierung durch die Presse als eine Art Ersatzstrategie zu Angriffen gegen das System Heimerziehung führe, verfing offenbar nicht bei den Teilnehmern. Seine Aufforderung zur Organisation der Heimerzieher, die durch eine „Ideologie des Dienen[s]“ zu „defensiver Verteidigung ihrer miserablen Institutionen“ gebracht werden, widersprach offenbar den Ansichten der evangelischen Vertreter.89 Womöglich wollte man soviel Wahrheit auch gar nicht hören. Die Veränderungen im Klima des Anti-Establishment-Impulses waren mit medialer Verstärkung gegen die skandalisierungsfähigen Zustände in den konfessionellen Heimen allerdings nicht aufzuhalten. Die Denkschrift des Evangelischen Erziehungsverbandes von 1970 „Zur Lage der Heimerziehung“ hat die Reformdiskussionen noch ein88

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Siehe Protokoll Nr. 276 „Heimerziehung und Öffentlichkeit“ der Ev. Akademie Rheinland-Westfalen, Haus der Begegnung, Mülheim/Ruhr (in: AEKR); Herbert Kubis, Heimerziehung in der Gesellschaft, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 146153; Theodor Falt, Ausbildung und Ausbildungsplanung für eine zukünftige Heimerziehung, in: ebd., S. 153-162; Karl-Heinz Marciniak, Die öffentliche Kritik und das Verhalten der Heimerziehung, in: ebd., S. 168-175; Kritik und Klarstellung in der Mülheimer Akademie, in: Diakonie im Rheinland 7 (1970), H. 1, S. 15-17; Heimerziehung und Öffentlichkeit (Bericht über eine Tagung in der Ev. Akademie Mülheim-Ruhr), in: Archiv Herzogsägmühle, Ordner „Apo“. Siehe Protokoll Nr. 276 „Heimerziehung und Öffentlichkeit“ der Ev. Akademie Rheinland-Westfalen, Haus der Begegnung, Mülheim/Ruhr (in: AEKR), S. 1-21, hier 20f.

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mal gebündelt und zugespitzt. Nicht zuletzt angesichts der Heimrevolten im Umfeld der 1968er-Bewegung hatte man die Notwendigkeit erkannt, eine „umfassende Neudurchdenkung und Neugestaltung der Arbeit“90 in die Wege zu leiten. „Die Erziehung „unter dem Gesetz“ wurde im Anspruch durch eine Erziehung „unter dem Evangelium“ abgelöst. „Aus der Gottzugehörigkeit des Menschen erwachsen ihm jedoch Chancen der Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung. Wer in die Freiheit der Kinder Gottes berufen ist, den Nächsten als Bruder Christi zu erkennen vermag, das als volles Glied der Heilsgemeinde akzeptieren kann, nimmt damit Sachverhalte wahr, die auch den pädagogischen Bezug vertiefen, erweitern und reinigen. [...] Man kann denjenigen Menschen, der in einer unmittelbaren Gottesbeziehung steht, nicht zu einem bloßen Objekt, das unter dem Erzieher als Subjekt des pädagogischen Handelns steht, erniedrigen.“91 Den besonderen Beitrag der Religion wollte man in den sozialisationsfördernden und therapeutischen Möglichkeiten sehen, die eine religiöse Deutung der eigenen Lebensgeschichte eröffneten.92 Im Ideal löste sich damit die Orientierung an Pünktlichkeit, Gehorsam und Disziplinierung mit der z. T. rigiden Strafpädagogik durch eine therapeutische Intervention im Sinn heilender Hilfen zur Persönlichkeitsbildung93 ab. Der Bildungsauftrag des Heimes wurde in den Mittelpunkt gestellt. Auf diese Weise ist auch die religiöse Erziehung von Zwangskomponenten befreit und als freies Angebot religiöser Lebensdeutung verstanden worden. Im Juni 1970 folgte das so genannte „Herrenalber Memorandum“ von 80 baden-württembergischen Sozialpädagogen, die sich der kritischen Lagediagnose anschlossen und mehr Geld für bauliche Modernisierungen und pädagogische Mitarbeiter von Landesregierungen und Städtetag forderten.94 Es wurde dann im Novemer 1970 noch vom so genannten „Wildbader Memorandum“ ergänzt, das auf Grund 90

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Zur Lage der Heimerziehung. Denkschrift, herausgegeben vom Evangelischen Erziehungs-Verband e.V. zum 50jährigen Bestehen 1970, in: Diakoniejahrbuch 1970, S. 159-180, hier S. 159; auch: Nur eine durchgreifende Reform kann helfen. Auszug aus einer Denkschrift des EREV, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 252-264. Zur Lage der Heimerziehung, S. 160. Ebd., S. 162. Vgl. Albrecht Müller-Schöll, Der Bildungsauftrag des Heimes, in: Fortbildungsbrief, 9 .Jg., H. 2/1968, S. 5 u.a. Im Interesse der Kinder: tut mehr! Memorandum baden-württembergischer Sozialpädagogen, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 279-281.

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einer Umfrage bei Verbänden, Heimerziehern, Heimleitern, Dozenten, Sonderschullehrern, Psychologen, Studenten etc. die Lage in Württemberg erhob und auf die Überlastung der Mitarbeiter angesichts einer immer schwieriger werdenden Klientel hinwies. Als Mängel derzeitiger Heimerziehung erschienen „a) fehlende therapeutische Funktion, b) der noch überwiegend autoritäre Führungsstil, c) mangelnde äußere und innere Differenzierung der Heime, d) fehlende Elternberatung, e) Personalmangel, f) ungenügende Finanzierung“. „Die Praxis der Heimerziehung verhindert durch ihre Aufnahmebereitschaft den weiteren Ausbau der ambulanten Hilfen und die Weiterentwicklung des Pflegestellenwesens.“ Das Ziel sollte die Heimerziehung als „eigenständige pädagogische Institution“, nicht als Familienersatz sein.95 Selbst im ansonsten immer noch gegen den Züchtigungserlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern kämpfenden Evangelischen Erziehungsverband in Bayern veränderte sich die Blickrichtung. Der Vorsitzende Heidecker umriss im August 1970 die „Grundlinien eines Konzeptes für unsere Erziehungsarbeit“. Er räumte ein, dass die APO gezeigt habe, dass „pragmatische Erziehung“ unzureichend sei. Es sei wie bei einem „Steuermann, der sein Schiff in allen Einzelheiten genau beherrscht, aber das Ziel aus den Augen verloren hat“. Hilfe erkannte er in einem biblischen Menschenbild, das die Jugendlichen als Geschöpfe Gottes mit Verantwortung ansehe. Das Ziel sei, erste Schritte mit den anvertrauten Kindern und Jugendlichen zu gehen. Als Primärwerte wurden „Würde, Entscheidungsfreiheit und Verantwortung dem Anderen gegenüber“ angesehen. Bei der heiklen Frage nach den Erziehungsmitteln wurde auf eine bewusste Aufzählung der Mittel „zu einer Verhaltensverstärkung oder –änderung“ verzichtet wie „Gespräch, Blick, Gebärde, Lob, Tadel, Belohnung, Strafe usw.“ Stattdessen betonte er die persönliche Beziehung zum Erzieher und wies auf die „Vermeidung häufigen Personalwechsels“ hin. Die Gruppe sei „Erziehungsraum“ wie „Erziehungsmittel“ und eine Gruppenpädagogik unentbehrlich. Schulausbildung, Berufsausbildung, „höchstmögliche Fachausbildung“, freie Gestaltung der Freizeit sollten gewährt werden. „Nicht nur Gruppen politisch engagierter Studenten, sondern auch unsere Verantwortung für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen fordern eine ver95

Siehe die Broschüre über die Ergebnisse der v. 16.-19.11.1970 stattfindenden Tagung in: ADW, EEV 105; Wildbader Memorandum (Arbeitstagung in Wildbad v. 16.19.11.1970), in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Konzept (bis 1977)“.

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stärkte politische Bildung, um unseren Jugendlichen zum kritischen Urteil ein Stück helfen zu können.“96 Insgesamt wurden hier alle zeitgenössischen Forderungen angesprochen, wenn auch nicht immer geteilt. Religiöse Erziehung wurde nicht mehr als Erziehung zum Glauben, sondern als Information über den Inhalt des christlichen Glaubens gesehen. Dennoch verwahrte man sich gegen den Inhalt des Gutachtens des Frankfurter Lehrstuhlinhabers für Öffentliches Recht Erhard Denninger. Dieser hatte 1969 im Rahmen eines von ihm erstellten Gutachtens für den ASTA der Frankfurter Universität mit dem Titel „Jugendfürsorge und Grundgesetz97“ darauf hingewiesen, dass der Staat kein Recht habe, „Kindern und Jugendlichen eine an einem bestimmten weltanschaulichen Leitbild fixierte Erziehung aufzuzwingen“. Auf den Religionswahlmündigen – die Altersgrenze lag bei 12 bzw. 14 Jahren – dürfe überhaupt kein Gewissenszwang ausgeübt werden. „Gottesdienstbesuch, Bibellektüre, das Singen geistlicher Lieder sind von dieser Altersstufe an nur auf völlig freiwilliger Basis statthaft. Dabei muß gewährleistet sein, daß den Desinteressierten deshalb weder direkt noch indirekt Nachteile entstehen“.98 Denninger argumentierte dabei mit dem staatlichen Erziehungsauftrag, der seiner Auffassung nach eine solche Beeinflussung nicht erlaube. Denningers Ansicht fand Widerspruch beim Vertreter der Diakonie Paul Collmer, der ein Gegengutachten erstellte.99 Allerdings sprach selbst Collmer den Heimen das Recht zur religiösen Prägung des Tagesablaufs ab. Das klang für den bayerischen Vertreter unwirklich, denn nach seiner Ansicht war eine weltanschaulich indifferente Erziehung in Bayern unmöglich. Bei den Erziehern allerdings meinte er, vom Ideal des „überzeugte[n] Christen als Erzieher“ abrücken zu können, denn man sei immer unterwegs und nie am Ziel. Eine gute Fachausbildung und „nicht gegen die Grundeinstellung unserer Arbeit“ 96

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Grundlinien eines Konzeptes für unsere Erziehungsarbeit (Heidecker, 13.8.1970), in: ELKAN, DW Bayern 1617. Denninger, Jugendfürsorge und Grundgesetz, in: Brosch, Fürsorgeerziehung, S. 164170, auch in: AFET-Mitgliederrundbrief 1971, Nr. 1/2, S. 3ff.; ferner in: Hermann Giesecke (Hg.), Offensive Sozialpädagogik, Göttingen, 1973, S. 81-89. Der Text erschien erstmalig 1969 in der Zeitschrift „Kritische Justiz“ und wurde als Gutachten anlässlich von Verhandlungen mit dem hessischen Ministerium und dem hessischen Landeswohlfahrtsverband verfasst. Brosch, Fürsorgeerziehung, S. 166. Der EREV versandte beide Gutachten an seine Vorstandsmitglieder. Siehe EREV an Vorstandsmitglieder v. 29.4.1970, in: ELKAN, DW Bayern 1598.

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erschien Heidecker ausreichend zum Mitmachen im Feld der evangelischen Heimerziehung zu sein.100 Als der Rektor der Rummelsberger Anstalten, Karl-Heinz Neukamm im Juni 1974 den Neubau des Mädchenheims Schmeilsdorf einweihte, betonte er in einem „Gedanken zur evangelischen Heimerziehung“ überschriebenen Vortrag die Grundrechte der Minderjährigen und die Erziehung in Partnerschaft zur Selbstständigkeit. Die Antimodelle zur Heimerziehung waren nach seiner Ansicht „Eintagsfliegen“ geblieben. Viele „Befreite“ seien letztlich unter die Räder gekommen. Die Heimerziehung bleibe zumindest als „Notmaßnahme“ wichtig.101 Ähnlich sind Veränderungen auch in westfälischen evangelischen Anstalten wie der „Endstation“ Freistatt nachweisbar.102 Die berüchtigte Einrichtung fand 1969 Erwähnung im Programm des Rationaltheaters München „Knast. 1. deutsches Sing-Sing-Spiel“, das mit Bezug auf Augenzeugenberichte Prügelorgien, drakonische Strafen und Ausbeutung der Zöglinge anprangerte und dies in Verbindung mit kapitalistischer Klassenherrschaft und dem Lebenslauf des Kindermörders Jürgen Bartsch brachte.103 Statt einer 1971 zur Diskussion gestellten Schließung der Einrichtung fanden nachfolgend Reformen statt, die wesentlich eine Vermehrung der Mitarbeiterschaft, eine Öffnung nach außen, Beschulung, Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, vermehrte Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, ein liberalisiertes Anstaltsregime – keine Postkontrolle, mehr Besuch, freie Wahl des Haarschnitts, freiwilliger Gottesdienstbesuch – umfassten.104 Auch in der Anstalt Bethel fand ein Umbruch in der Mitarbeiterschaft statt, der sich wesentlich darin manifestierte, dass bei dem mit einer Brüderschaft und einer Schwesternschaft ausgestatteten Personalgesteller die Rekrutierung der eigenen Arbeitskräfte nicht mehr aus diesen christlichen Personalgenossenschaften erfolgen konnte. Die Gewinnung neuer ‚weltlicher‘ Mitarbeiter war mit einer Ausbildungsoffensive, erhöhten Pflegeentgelten und einem Wandel in den Arbeitsfeldern verbunden, der allerdings je nach Bereich bis in die zweite Hälfte 100

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Grundlinien eines Konzeptes für unsere Erziehungsarbeit (Heidecker, 13.8.1970), in: ELKAN, DW Bayern 1617. Ansprachen zur Einweihung des Mädchenheims Schmeilsdorf am 14.6.1974, in: Archiv Fassoldshof, Ordner „Konzept (bis 1977)“. Schmuhl, Kritik, Krise und Reform, S. 255-289. Siehe das abgedruckte Programm in: Benad/Schmuhl/Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt, S. 349-356. Schmuhl, Kritik, Krise und Reform, S. 273-289.

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der 1980er Jahre dauerte.105 Auch in den Brüder- und Schwesternschaften selbst vollzog sich ein Wandel, der wegführte vom autoritär-patriarchalischen Familienprinzip. Viele Ordensgemeinschaften führten im Lauf der 1970er Jahre ihre durch die Beschlüsse des zweiten Vatikanischen Konzils motivierten Reform-Kapitel durch, die auch Anfragen an die konkrete Apostolatsaufgabe stellten. Bei den Schwestern vom Guten Hirten traten dabei das zu lange Verhaftetsein an überkommenen Erziehungskonzepten bei gleichzeitigem Anmahnen einer weiteren Öffnung für moderne Erkenntnisse zu Tage. Damit wurden weitere Modernisierungsbestrebungen unterstützt, aber auch auf Generationskonflikte hingewiesen. Bei den Schwestern der Norddeutschen Provinz der Gemeinschaft führte diese Reflexion letztlich dazu, sich aus dem Feld der stationären Heimerziehung zurückzuziehen.106 Diese hier wie auch andernorts idealtypisch zu beschreibende Entwicklung hatte allerdings in der Praxis erhebliche Ungleichzeitigkeiten im Gefolge. Manche Einrichtungen veränderten sich einfach gar nicht oder vollzogen notwendige Neuorientierungen zu langsam. Die oben erwähnten Skandale der 1970er Jahre in den Einrichtungen Düsselthaler Anstalten und Birkenhof illustrieren dies.107 Das Landesjugendamt Rheinland regte Ende 1971 eine einheitliche Neufassung der Heimordnungen an.108 Es sollten insbesondere die sich als konflikthaft und schwierig herausstellenden Bereiche der Züchtigung, der Arreststrafen, des Briefgeheimnisses, der Arbeitszeitbegrenzung und der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit eindeutig geregelt werden. Anfänglich fühlten sich dabei die konfessionellen Träger bzw. ihre Wohlfahrtsverbände übergangen. Doch letztlich einigte man sich 1972, eine „Grundordnung“ für die Erziehungsheime zu schaffen, welche „die im Grundgesetz verankerten Grundrechte der Jugendlichen wah105

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Matthias Benad, Dynamische Zeiten in Bethel – Zehn Punkte zum Umbruch in der Mitarbeiterschaft und zu anderen grundlegenden Wandlungsprozessen um 1968, in: Jähnichen u.a., Transformationen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren, S. 209-224. Vgl. Kap. 5.3.6. Auch im von den Sarepta-Diakonissen aus Bethel geführten Evangelischen Frauenund Mädchenheim Ummeln bei Bielefeld ging der Wandel sehr langsam vonstatten, worauf besonders die im Rahmen einer Kampagne 1976 skandalisierten Umstände hinwiesen. (Vgl. Winkler, „Gehste bummeln...“, S. 337f.) Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 147f.

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ren“ sollte.109 Im Juni 1972 beschloss der Landesjugendwohlfahrtsausschuss „Allgemeine Richtlinien zur Durchführung der öffentlichen Erziehung (Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung)“, die in einem ersten Teil insbesondere jene Grundrechte in der Heimerziehung betonten.110 Die Heimordnungen sollten „dem Verständnishorizont der Kinder und Jugendlichen“ gerecht werden und deren z. T. zuvor erfolgte Mitwirkung bei der Entstehung der Entwürfe „nicht als ‚Beschäftigungstherapie‘ – wie es ein Heimleiter formulierte – erscheinen“. Das Landesjugendamt schlug einen „Musterentwurf “ vor, den z. B. die drei Heime übernehmen sollten, welche sich nicht in der Lage gesehen hatten, einen eigenen Entwurf zu fertigen.111 Auch das Handwerkerheim Reckestift der Düsselthaler Anstalten legte im April 1973 eine Heimordnung vor, die den „Erziehungsauftrag unter dem Evangelium“ betonte, aus dem sich die „Bereitschaft zum sozialen Handeln“ herleiten sollte. Als „Erziehungsstil“ wurde die „Kooperation zwischen Erwachsenen und Jugendlichen“ definiert, woraus ein Heimrat folgte. Im Rahmen der Betonung der Grundrechte wurden „körperliche Züchtigung, strafweiser Arrest, Maßnahmen, die nach ihrer Art entehrend sind“ als unzulässig bezeichnet. Auf Entweichungen sollte pädagogisch mit Gesprächen reagiert werden, eine Entlassung entsprechend vorbereitet werden.112 Allerdings ließ sich das Heim in verschiedenen Formulierungen auch Raum für „geboten[e]“ Maßnahmen wie Postkontrolle etc., um die beschriebenen Grundrechte entsprechend einzuschränken, was der Bearbeiter des Landesjugendamtes durch Anstreichungen und Fragezeichen deutlich machte. Auch in Westfalen ergriff das Landesjugendamt die Initiative, den Heimen Richtlinien an die Hand zu geben. Vor diesem Hintergrund verfasste Direktor Wiggenhorn 1972 eine Grundordnung für das Martinistift als „ein Geflecht von Rechten und Pflichten“, wobei nicht jeder 109

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Protokoll der AG Ev. Heimerziehung v. 31.1.1972 im Düsseldorfer Haus der Diakonie und Vermerk über Gespräch am 30.3.1972 in Münster zwischen den LJA Rheinland und Westfalen und der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW v. 6.4.1972, in: ADWRh, Evangelischer Verband für Heimerziehung im Rheinland Nr. 72. Siehe ALVR 40467. Abgedruckt in: Wolfgang Bäuerle/Jürgen Markmann, Reform der Heimerziehung. Materialen und Dokumente (zusammengestellt im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung (Föderation Internationale des Communautes d‘ Enfants - FICE), Weinheim/Basel 1974, S. 267-275. Es handelte sich um die Einrichtungen Gertrudisheim (Düsseldorf), Jugendhaus (Düsseldorf) und Haus an der Linde (Bensberg). Heimordnung Reckestift v. April 1973, in: ALVR 40688.

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„gleichermaßen zur Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten befähigt“ sei. Da ein Großteil der elterlichen Rechte und Pflichten während des Heimaufenthalts der Jungen auf „die Heimleitung und die im Heim diensttuenden Mitarbeiter“ übergehe, müssten sich die Minderjährigen wie auch die Erzieher der rechtlichen Grundlagen bewusst sein. Entscheidender Gradmesser sei hier das Grundgesetz, wobei der § 71 des JWG ausdrücklich Einschränkungen der Grundrechte zur Folge habe. Darauf basierend ging der Direktor dann konkret auf die einzelnen Punkte ein, die die Erziehungsarbeit beeinflussten. So sah er etwa nach wie vor das Recht auf Briefzensur sowie die Kontrolle der Zimmer und Schränke der Jugendlichen erlaubt, wenn es aus erzieherischen Gründen gerechtfertigt erscheine. Auch dürfe der Haarschnitt „modegerecht sein, ist aber hinsichtlich der Länge entsprechend den Erfordernissen des Zusammenlebens aus hygienischen Gründen und aus Gründen der Unfallverhütung bis auf Kragenhöhe zu kürzen“.113 Hinsichtlich der vom Landesjugendamt geplanten Richtlinien teilte Direktor Wiggenhorn Bischof Tenhumberg zudem seine erneut skeptische Haltung mit: „Wie ich aus sicherer Quelle weiß, geht die Anordnung der Richtlinien für Erziehungsheime – in Westfalen-Lippe wurden dieselben Richtlinien sogar an die Kinderheime versandt – auf einen Entschluß der Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in der Bundesrepublik Deutschland zurück. Hessen gab die ersten Richtlinien heraus. Dann folgte Nordrhein-Westfalen. In beiden Fällen handelt es sich also um SPD-regierte Länder. Woher der Wind weht, soll der angehängte Auszug aus dem Buch von Brezinka ‚Die Pädagogik der Neuen Linken’ sagen. Richtlinien und Erziehungsparolen decken sich fast aufs Wort. Alle katholischen Heime vertreten nach mehreren harten Aussprachen die Meinung, die Richtlinien so weit wie möglich fernhalten zu sollen. Eine Aussprache mit dem Landesjugendamt ist für den 20.11.72 angesetzt. Das Datum kann bezeichnend sein.“114 An dieser im Kloster vom Guten Hirten in Münster stattfindenden Sitzung nahmen neben fünf Mitarbeitern des Landesjugendamts Münster mit Landesrat Happe an der Spitze 21 Vertreter von 13 katholischen Heimen sowie des Sozialdiensts katholischer Frauen und des Diözesancaritasverbands Münster teil. Zuvor hatten die Heimleiter bei drei Treffen einen Fragenkatalog zum Entwurf der Richtlinien zusammenge113 114

Grundordnung für die Jungen im Martinistift o. D. [1972], BAM, GV NA A0-483. Direktor Wiggenhorn an Bischof Tenhumberg v. 29.10.1972, in: ebd.

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stellt, der mit dem Landesrat abgearbeitet wurde. Wie Caritas-Direktor Müer dem Bischof mittelte, besaßen dabei „alle Teilnehmer Gelegenheit, ihre Bedenken dem Landesjugendamt darzulegen. Das Gespräch verlief sehr harmonisch und weitere Besprechungen über diese Richtlinien sollen im Arbeitskreis der kath. Heimleiter stattfinden.“115 Trotz der hier erkennbaren Beharrungskräfte gingen die „Umwälzungen der Jahre 1968 und 1969“ auch am „Verband katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik“ „nicht spurlos“ vorbei, sondern wurden als „Herausforderung des eigenen Selbstverständnisses wahrgenommen“, was sich auch in den Beiträgen der Zeitschrift Jugendwohl niederschlug.116 Dabei sahen sich gerade auch katholische Reformer der Heimerziehung einer „doppelten Frontstellung“ gegenüber, die einerseits durch die vielerorts bestehenden Gewohnheiten oder die Monotonie in den Heimen, auf der anderen Seite durch den von den sozialistischen Reformgruppen ausgeübten revolutionären Druck gekennzeichnet war. Als der Journalist Jürgen Roth den so genannten „Kinderheimreport“ 1971 im Hörfunk und später auch als Buch veröffentlichte, weckte er noch alte Reiz-Reaktions-Mechanismen, als z. B. Hubertus Junge ihm ähnliche journalistische Angriffe auf die Ordensangehörigen wie in der NS-Zeit unterstellte.117 Gleichzeitig verstärkten sich die schon zuvor begonnenen Bemühungen um eine Reform der Kinder- und Jugendfürsorge deutlich. „Zwei Punkte sind besonders hervorzuheben. Die Kritik nach innen an Defiziten im eigenen Lager, etwa mit Blick auf reformunwillige katholische Heime, verschärfte sich gegenüber den 1960er Jahren.“118 Darüber hinaus verfasste der Bundesverband 1973 erstmals seit seiner Gründung eine Denkschrift mit dem Titel „Das Heim als Erziehungshilfe“.119 „Genauso wie die innerkatholische Kritik verstand sich die Denkschrift bei aller Betonung der Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege keineswegs als Apologie der bestehenden Zustände. Bewusst enthielt sie daher nicht nur allgemeine

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118 119

Caritas-Direktor Müer an Bischof Tenhumberg v. 29.12.1972, in: ebd. Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S. 169. Sendemanuskript der Diskussion zur Sendung „Kinderheim-Report“ von Jürgen Roth am 8.11.1971 WDR III , in: ADWRh, Evangelischer Verband für Heimerziehung im Rheinland Nr. 76. Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S. 170. Das Heim als Erziehungshilfe. Denkschrift des Verbandes katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik, in: Jugendwohl 54 (1973), S. 424-466.

DENKSCHRIFTEN UND VERÄNDERUNGEN

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Leitsätze, sondern auch die Präsentation von Modelleinrichtungen und ihrer Entwicklung.“120 Als im Sommer 1971 der Ausschuss für Geschlossene Jugendfürsorge des EREV zusammen mit Studierenden der Theologie und Pädagogik an einer Sondervorführung des Walraff-Films „Flucht aus den Heimen“ teilnahm, wurde das negative Image des Berufes des Heimerziehers beklagt, das durch die Art der Darstellung erzeugt werde. Man beschloss die Einsetzung einer Kommission, die sich mit der Produktion eines Filmes über evangelische Heimerziehung befassen sollte. In diesem sollte eine „bessere“ Darstellung der Heimerziehung gegeben werden.121 Auf Seiten des evangelischen Fachverbandes lässt sich die Strategie lesen, den Forderungen auf Abschaffung der Heime zu Gunsten von Jugendwohngemeinschaften durch eine offensivere eigene Öffentlichkeitsarbeit zu begegnen, worin man inhaltlich die Erziehungsform Heim weiterhin als notwendig erachtete. Insgesamt war durch die Kritik gerade an der religiösen Erziehung als Indoktrination auch die konfessionell-wohlfahrtsstaatliche Verfasstheit der Jugendhilfe in Frage gestellt worden. Auf dem vierten Jugendhilfetag, der ein Forum für die sozialkritischen Gruppen der Neuen Linken wurde, war eine Forderung die Entkonfessionalisierung der Jugendhilfe gewesen.122 Nachfolgend regte diese Kritik wie auch die Forderungen der Landesjugendämter zur Vorlage eines pädagogischen Konzeptes – so z. B. im Rheinland – eine Neubesinnung über evangelische Erziehung im Heim an.123 120 121

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Henkelmann, Die Entdeckung der Welt, S. 170. Niederschrift der Sitzung des Ausschusses für Geschlossene Jugendfürsorge v. 14.07.1971, in: ADW, EEV 170. Vgl. Almstedt/Munkwitz (Hg.), Ortsbestimmung der Heimerziehung, S. 41-44; Müller, Helfen und Erziehen, S. 115-124. Zeitgenössisch: Bernhard Kraak, Die unbequeme Realität. Nachwort zum 4. Deutschen Jugendhilfetag in Nürnberg, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 249-252; Albrecht Müller-Schöll, Zu Anfang und zu Ende ein Paukenschlag. Bericht vom 4. Deutschen Jugendhilfetag in Nürnberg, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 273-279; Willi Erl, Das hamse in der Eile wohl vergessen! Zur „Dokumentation des 4. Deutschen Jugendhilfetages“, in: Sozialpädagogik 13 (1971), S. 136-137. Henkelmann/Kaminsky, Die Geschichte der öffentlichen Erziehung im Rheinland (1945-1972), S. 148; zeitgenössisch: Manfred Priepke, Einige Gedanken zur Heimerziehung, in: Die Innere Mission 60 (1970), S. 358-368; Klaus Meier-Wiedenbach, Religiöse Erziehung im Heim, in: ebd., S. 369-372; Siegfried Hörrmann, Zur Situation der Schule am Heim, in: ebd., S. 372-376; Herbert Krimm, Grenzen und Chancen der evangelischen Heimerziehung in unserer Zeit, in: Fortbildungsbrief 12, Nr. 4 (Dezember 1971), S. 20-21; Klaus Meier-Wiedenbach, Die Motivation der evange-

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Es dauerte nachfolgend noch etliche Jahre, bis sich professionalisierende Impulse auch konkret in der Heimerziehungspraxis durchsetzten. Der Zeitgenosse und Pädagoge Manfred Kappeler hat vehement darauf verwiesen, dass die eigentliche und für viele Betroffene fühlbare Reform der Heimerziehung in den 1970er Jahren nur vorbereitet und in den 1980er Jahren erst wirksam wurde.124 Hier stellen aber noch weitere Studien ein Desiderat dar.125

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lischen Heimerziehung, in: Fortbildungsbrief 13, Nr. 1 (März 1972), S. 1-5; PaulFriedrich Mau, Möglichkeiten religiöser Erziehung und Betreuung im Heim, in: Fortbildungsbrief 13, Nr. 1 (März 1972), S. 6-13; Klaus Meier-Wiedenbach, Gefahr und Chancen religiöser Erziehung im Heim, in: Fortbildungsbrief 13, Nr. 3 (September 1972), S. 1-5; Joh. Leszke, Gefahr und Chancen religiöser Erziehung im Heim. Korreferat, in: ebd., S. 6-8; EREV, Kennzeichen christlich verantworteter Pädagogik, o. O. 1973; Handreichung zur Religionspädagogik in evangelischen Einrichtungen, in: Fortbildungbrief 18, Nr. 1 (März 1977), S. 1-14. Manfred Kappeler, Die Heimreformen der siebziger Jahre, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 79-88; ders., Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung, in: Soziale Arbeit 4-5, 2010, S. 132-141. Als erste Zwischenbilanz aus einem noch nicht abgeschlossenen Projekt über die Kritische Soziale Arbeit und Jugendhilfe in den siebziger Jahren siehe Steinacker, Heimerziehung, Kritik und Alternativen.

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8. Zusammenfassung

A

us zeithistorischer Perspektive ist die Geschichte der Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland, die zu weiten Teilen konfessionelle Heimerziehung war, trotz der Dynamik, die das öffentliche Interesse seit 2006 mit einer Reihe bereits beendeter und noch laufender Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erzeugte, in vielen Teilfragen immer noch unzureichend erforscht. Dies gilt umso mehr, sofern auch rechtliche sowie ethische und theologische Anfragen in die Diskurse einfließen. Wegen der zur Verfügung stehenden Datenbasis war nur eine statistische Annäherung an den enormen Umfang des Forschungsfeldes möglich. Demnach ist zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik von insgesamt etwa 800.000 Kindern und Jugendlichen in einer Form der Ersatzerziehung auszugehen, von denen ca. 70 % bis 80 % Kontakt zu einem katholischen oder evangelischem Heim hatten. Allerdings waren hier regionale Unterschiede zu beachten, da sich etwa in Bayern, Niedersachsen und NRW zwischen 85 % und 90 %, in Hamburg und Schleswig-Holstein jedoch nur rund 27 % bzw. 37 % der Minderjährigen in FE und FEH in Einrichtungen befanden, die weitgehend in konfessioneller Trägerschaft standen. Vom Beginn der 1950er bis Ende der 1960er Jahre waren 55 % bis 58 % der konfessionellen Heime in katholischer und zwischen 42 % und 45 % in evangelischer Trägerschaft. Bei den verfügbaren Plätzen ergab sich eine Relation von ca. 65 % in katholischen und rund 35 % in evangelischen Heimen. Die in diesen Zahlen trotz aller Unterschiede zum Ausdruck kommende große Dominanz der konfessionellen Heimerziehung gerade auch in den ausgewählten Musterregionen war geschichtlich gewachsen und im gesetzlichen Rahmen des RJWG von 1922/24 durch die Vorrangstellung der freien Träger festgeschrieben – das JWG bestätigte dann 1961 diese Ausrichtung. Nach der rassistischen Überwölbung der Jugendfürsorge während der NS-Zeit knüpften 1945 Verwaltungen wie Träger in der Jugendfürsorge wieder an die Zeit vor 1933 an, ohne dass etwa erbbiologische Deutungsmuster bei der Beurteilung der in Ersatzerziehung befindlichen Minderjährigen ganz verschwanden. Auch personelle Kontinuitäten ließen sich feststellen. Insgesamt bestand auch während der Nachkriegsjahrzehnte meist eine enge Verquickung zwischen den zuständigen staatlichen Stellen und den konfessionellen Trägern und ihren Fachverbänden, wie es etwa bei den Landesjugendämtern im Rheinland und in Westfalen der Fall war. Beide

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Seiten profitierten von diesem Arrangement, indem einerseits Einrichtungen mit der notwendigen Platzzahl und vergleichsweise kostengünstigen Heimplätzen vorhanden waren, andererseits die kirchlichen Einrichtungen relativ unabhängig agieren konnten. Die unter diesen Bedingungen meist durch die kommunalen Jugendämter und Landesjugendämter ausgeübte Heimaufsicht war lange Zeit durch diese enge Bindung geprägt und ließ den konfessionellen Trägern relativ große Spielräume. Zudem blieben diese Kontrollmechanismen unzureichend, was sich jedoch in den einzelnen Regionen unterschiedlich darstellte. Fehlende Mitarbeiter in den Behörden und die Abhängigkeit von den Heimplätzen der konfessionellen Träger, aber auch die weitgehende Übereinstimmung in Fragen der Erziehungspraxis ließen oftmals Missstände nicht an die Oberfläche gelangen. Als 1955/56 als Reaktion auf den „Fall Zeven“ die staatliche Heimaufsicht verschärft werden sollte, wehrten sich die Heime und ihre Fachverbände vehement, da sie einen Verlust ihrer Autonomie als freie Träger befürchteten. Allerdings nahmen weder die Verbände noch die Träger selbst eine effektive Kontrollfunktion ein, die in der Lage gewesen wäre, bei – auch nach den damaligen Standards – offenkundigen Missständen präventiv oder korrigierend eingreifen zu können. Weiterhin ließ die bis in die 1960er Jahre ungenügende materielle Ausstattung der Heime, die sich weitgehend über den staatlicherseits gewährten Pflegesatz finanzierten und nicht selten in Anbetracht der Kriegsfolgen einen großen Nachholbedarf bezüglich ihrer Räumlichkeiten und Ausstattung aufwiesen, wenig Spielräume. Es gibt jedoch auch Hinweise, dass konfessionelle Heime, vermutlich aus einer Konkurrenzsituation heraus, offenbar bewusst einen niedrigen Pflegesatz und damit geringere Mittel für Verbesserungen in Kauf nahmen, um die Kostenträger zu einer möglichst guten Belegung ihrer Häuser zu bewegen. Solche niedrigen Pflegesätze ließen sich außer mit einfachster Wirtschaftsführung nur durch die Mitarbeit der Minderjährigen in den heimeigenen Ökonomien und Betrieben sowie die vergleichsweise geringen Aufwendungen für das Personal aus religiösen Gemeinschaften erreichen. Gleichzeitig sahen sich die Heime einem sich verschärfenden Personalmangel gegenüber, der zunächst durch den fehlenden Nachwuchs der Ordensgemeinschaften bzw. Schwestern-/Brüderschaften bedingt war. Vor allem auf katholischer Seite, wo noch 1964 fast die Hälfte der gut 11.000 hauptberuflichen Mitarbeiter in den caritativen Heimen einer Ordensgemeinschaft angehörten – insgesamt sank ihr Anteil zwischen 1949 und 1975 von fast 60 % auf 25 % – spielte dieser Faktor ein große

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Rolle. Dennoch stellten sie bis in die 1970er Jahre im erzieherischen Bereich nicht selten die Gruppenleitungen. Dagegen machten Diakonissen und Diakone als traditionelles Personal im Bereich der Diakonie bereits Anfang der 1950er Jahre nur noch rund ein Fünftel der Mitarbeiterschaft aus. Letztlich litten nicht nur die religiös gebundenen Erzieher in vielen Heimen unter einer permanenten Überbelastung, da sie oftmals auf den Gruppen schliefen, also einen 24-Stunden-Dienst versahen. Weltliches Personal fand wegen der Unattraktivität des Berufsfeldes – lange Arbeitszeiten, schlechte Entlohnung und fehlende Anerkennung – ungern den Weg in die Heime. Auch kam es verstärkt in den 1960er Jahren immer wieder zu Problemen zwischen religiös gebundenen und weltlichen Kräften, die auch in unterschiedlichen pädagogischen Vorstellungen ihre Ursache hatten. Beim Großteil des Personals – auch des nicht aus christlichen Gemeinschaften kommenden – bestand ein Qualifizierungsdefizit, das nur unzureichend durch Nachqualifizierung ausgeglichen wurde. Versuche der verstärkten Kompensation durch Fortbildungsangebote und den Ausbau des Ausbildungswesens in Form von Heimerzieher/innenSchulen, Fachschulen oder Fachhochschulen liefen zwar im Lauf der 1950er Jahre an, doch reichten sie angesichts der schwierigen Gesamtsituation in der Personalfrage nicht aus. Zudem begünstigte das geringe wissenschaftliche Anspruchsniveau des in den 1950/60er Jahren verbreiteten sozialpädagogischen Praxiswissens eine wissenschaftsferne Erfahrungslegitimation, welche die gesellschaftlichen und theologischen Hintergründe der eigenen Tätigkeit nicht reflektierte. Allerdings fand seitdem eine differenzierende Professionalisierung des Erziehungspersonals statt, das zunehmend auch durch Psychologinnen und Psychologen ergänzt wurde, wenn auch verschiedene Heimleitungen immer wieder Vorbehalte gegen den Bedeutungsgewinn der säkularisierenden Humanwissenschaften in ihrem Bereich äußerten. Die Verabreichung von Medikamenten als „Verbreiterung der pädagogischen Angriffsfläche“ ab Mitte der 1960er Jahre bedeutete in zwei nachgewiesenen Fällen evangelischer Einrichtungen die Zufluchtnahme zu einer Sedierung der Jugendlichen im Rahmen einer durch Personalmangel und zunehmend psychiatrisch definierter Erziehungsschwierigkeit bestimmten Gesamtlage. Im Zuge des Wirtschaftswunders begann auch in konfessionellen Heimen eine langsame, nicht selten wie etwa im Rheinland durch die Landesjugendämter forcierte Modernisierung, die etwa durch Baumaßnahmen die Gruppengrößen zu verkleinern suchte. Gleiches galt für

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die Schlafsäle und auch den Ausbau weiterer Freizeitmöglichkeiten. Ein schneller und umfassender Wandel konnte jedoch nicht erreicht werden. Zudem existierten zwischen den Häusern große Unterschiede. Daneben kam es in einigen Heimen zu einer weiteren inneren Differenzierung durch die Schaffung von neuen heilpädagogischen Abteilungen und solchen für Kinder und Jugendliche mit speziellen Erziehungsschwierigkeiten. In bescheidenem Umfang fand auch eine äußere Differenzierung statt, indem neue Spezialeinrichtungen wie heilpädagogische Heime oder Kinder- und Jugenddörfer errichtet wurden. Unzureichende bauliche Voraussetzungen und die durch den Personalmangel bedingten Überbelastungen der Erziehenden können jedoch nur begrenzt einen Heimalltag erklären, der auch durch die Normalität körperlicher Züchtigung und demütigende Strafen geprägt war, die sowohl durch religiös gebundene als auch weltliche Erziehende vorgenommen wurden. Denn Strafen galten in den Waisenhäusern/Kinderheimen und ebenso in den FE-Heimen als wichtiges Erziehungsmittel und zeigten sich vom Essensentzug über die Isolierung in „Besinnungszimmern“ bis hin zu körperlicher Züchtigung und Misshandlungen, wobei körperliche Züchtigungen seit dem Ende der 1940er Jahre zwar vielfach staatlicherseits unerwünscht oder gar verboten waren, doch als ultima ratio für männliche Jugendliche bis in die 1970er Jahre ihre Legitimation behielten. Körperstrafen wurden zwar nur selten aktenkundig, prägten sich aber fest in die Erinnerungen der Betroffenen ein. Auch das Abschneiden aller Haare eines Zöglings, der nach einem Fluchtversuch in ein Heim zurückgebracht wurde und Strafkleidung erhielt oder bei Bettnässern das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwäsche vor den anderen Kindern und Jugendlichen der Gruppe sind überliefert. Entscheidend blieben hier beim Erzieherpersonal bis in die 1960er Jahre hinein die überlieferten Gehorsamsvorstellungen und zu vermittelnden Tugenden, die Ordnung, Sauberkeit, sittliche Reinheit und sexuelle Enthaltsamkeit hervorhoben. Diese Kontinuität verband sich mit der autoritären und patriarchalen bzw. hierarchischen Ordnung der christlichen Personalgenossenschaften, wirkte sich als Anstaltshierarchieprinzip im Verhältnis zu den Mitarbeitenden aus und diente der Organisation der Heimgruppen als „Familien“ im Rahmen eines „Progressivsystems“. Außer dem eingeforderten Gehorsam und der Akzeptanz von Autorität in einer strengen Rangordnung, die auch innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft einen hohen Stellenwert genossen, kennzeichneten darüber hinaus Weltabgeschiedenheit und eine Defizitorientierung bei der Beurteilung der Minderjährigen die Erziehung.

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Hier spielte katholischerseits die klösterliche Prägung des Ordenspersonals eine wichtige Rolle, die in einen „monastischen“ Erziehungsstil einfloss. Gerade von den Schwestern geforderte Tugenden wie Demut, Verzicht auf körperliche und emotionale Zuwendung oder das Ertragen von Leid wirkten sich bis in die Erziehungspraxis aus. Hinzu kam noch, dass das Ordenspersonal bei seinen Erziehungsbemühungen sowohl das eigene als auch das Seelenheil der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen im Blick haben sollte. Welche Spannung sich daraus ergab, zeigten die Heimordnungen und Ordenssatzungen, die zunächst das göttliche Gebot der Liebe in den Mittelpunkt stellten. Dem widersprach jedoch nicht selten das Verhalten der Erzieher, indem sie sich an den vermeintlichen Defiziten der Minderjährigen orientierten und das „Böse“ durch Aufsicht und straffe Ordnung zu verhindern suchten. Unterstützt durch die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) mit ihrer Hinwendung zur Welt verstärkte sich seit Mitte der 1960er Jahre die Tendenz von der Bewahrung zur Bewährung. In der evangelischen Heimerziehung der 1950er Jahre galt das „Spannungsfeld von Strenge und Vergebung“ als kennzeichnend, das im nachfolgenden Jahrzehnt durch eine Orientierung am Ideal der Selbstverwirklichung, theologisch gesprochen durch die Befreiung durch das Evangelium, und eine Hinwendung zu therapeutischen Interventionen erst langsam aufgelöst wurde. Innerhalb dieses Gefüges nahm die religiöse Erziehung einen zentralen Platz ein, die den Kindern und Jugendlichen aus dem Glauben heraus ein Fundament geben und ein sittliches Wertgefühl vermitteln sollte. Insgesamt gehörten in den Heimen regelmäßige Tischgebete, Morgen- und Abendgebete, die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst – katholischerseits auch zumindest teilweise an den Werktagsgottesdiensten und die Beichte – zum vorgegebenen Rahmen, in dem die Ritualisierung des Glaubens Vorrang vor anderen Formen hatte. Gerade in den Einrichtungen für schulpflichtige Kinder und Jugendliche waren die Katechese und dabei besonders die Vorbereitung auf die Erstkommunion oder Konfirmation wichtige Elemente der religiösen Erziehung. Nicht selten wurde dabei eine Drohkulisse durch einen strafenden Gott aufgebaut, erhielten Aspekte wie Sünde, Schuld und Sühne hohe Bedeutung – so galten uneheliche Kinder in den Augen mancher Erziehender als „Kinder der Sünde“. Allerdings machte sich seit den 1950er Jahren auch in den Heimen eine religiöse Tradierungskrise bemerkbar, da anscheinend immer weniger der in die Häuser überwiesenen Kinder und Jugendlichen kirchlich-religiöse Bezüge besaßen. Daher wurden die Bemühungen einer

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religiösen Erziehung zusehends erschwert und verloren religiöse Pflichten im Alltag mehr und mehr an Bedeutung, wenn sie sich etwa auf die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst reduzierten. Auch deswegen empfanden viele in den Heimen untergebrachte Minderjährige die in die dortigen Organisationsabläufe eingelassenen verpflichtenden religiösen Elemente besonders seit den 1960er Jahren als Zwang. Auch vorenthaltene Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten lassen sich in konfessionellen Heimen konstatieren. Die schulpflichtigen Minderjährigen in den Kinder- und Erziehungsheimen besuchten entweder heimeigene oder kommunale Volks-/Hauptschulen bzw. Berufsschulen. Auf Grund der Probleme, geeignete Lehrer zu bekommen und die Klassengrößen den pädagogischen Erfordernissen anzupassen, aber auch der fehlenden schulischen Grundlagen der Kinder und Jugendlichen, waren hier große Einschränkungen für einen effektiven Unterricht gegeben. In den 1960er Jahren werden daher die Versuche zahlreicher, die Schulen als Sonderschulen anerkennen zu lassen. Außerdem galt auch in Heimen in konfessioneller Trägerschaft Arbeit sowohl als wesentliches Erziehungsziel wie auch als Erziehungsmittel, sodass die schulische Förderung in den Hintergrund trat. Daher war die Mitarbeit der Heimbewohner in der Haus- und Landwirtschaft der Einrichtungen die Regel, zumal sie eine große Bedeutung für die Eigenversorgung der Heime besaß. Letztlich sollten die Minderjährigen jedoch auf diesem Weg zu Ordnung, Pünktlichkeit, Rücksichtnahme, Verantwortungsbereitschaft und Selbstständigkeit erzogen werden. Seit dem Ende der 1950er Jahre kam zudem die Schulung einfacher manueller Tätigkeiten hinzu, um die Jugendlichen auf eine etwaige Beschäftigung am Fließband nach ihrem Heimaufenthalt vorzubereiten. Manche Heime übernahmen auch gewerbliche Arbeiten für Firmen, wobei die dort tätigen Jugendlichen nur einen sehr geringen Teil ihres Lohnes ausgezahlt erhielten. Schließlich bestanden in geringem Umfang Angebote zur Berufsausbildung in den Heimen. In vielen Mädchenheimen fand auch noch in den 1960er Jahren eine Konzentration auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten statt, die die Mädchen auf die ihnen zugedachte Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollten. Gleichzeitig wurden mancherorts Möglichkeiten zum Erlernen zeitgemäßerer Berufe wie zur Friseurin oder Stenotypistin geschaffen. Die Jungenheime unterschieden sich ebenfalls hinsichtlich des Umfangs und der Ausprägung ihrer Lehrmöglichkeiten in großem Maß, wobei sich neben den Heimen mit einer breiten Berufspalette weitere Einrichtungen um den Ausbau dieses

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Sektors bemühten. Wie grundsätzlich die Anlerntätigkeiten galten hier auch die Lehrberufe bis Mitte der 1960er Jahre offiziell als nicht sozialversicherungspflichtig, sodass sich für viele ehemalige Heimkinder Fehlzeiten bei ihren Rentenansprüchen ergeben. Die Ausbildungsmöglichkeiten, so begrenzt sie auch waren, sind ein wichtiger Grund dafür, dass es unter ehemaligen Heimkindern auch positive Erinnerungen an ihre Heimzeit gibt. Dies trifft auch für Bezugspersonen zu, die unter den Erziehern oder anderen Mitarbeitern des Hauses gefunden wurden. Hier bietet sich ein ambivalentes Bild. Einerseits berichten ehemalige Heimkinder davon, dass bereits in den Kinderheimen im Verhalten der Erzieherschaft kaum Geborgenheit, sondern eher Ablehnung und Strafen vorherrschten. Andererseits gab es trotz vielfältiger negativer Erfahrungen in manchen Heimen erwachsene Personen, die eine emotionale Bindung zuließen und sich auch für die Jungen und Mädchen einsetzten. Inwieweit dies mit Vorleistungen wie etwa einer besonderen Arbeits- und/oder Anpassungsbereitschaft verbunden war, dürfte im Einzelfall sehr unterschiedlich gewesen sein. Ebenso scheint es für die Minderjährigen nur selten möglich gewesen zu sein, untereinander Freundschaften oder Bindungen aufzubauen. Hier wirkte sich die oftmals bestehende Gruppenhierarchie negativ aus. Wie in den Interviews zum Ausdruck kam, spielte außerdem die jeweilige Fähigkeit der Mädchen und Jungen eine große Rolle, sich den gegebenen Verhältnissen des Heimalltags anpassen zu können. Ein Wandel der beschriebenen schwierigen Verhältnisse in den konfessionellen Einrichtungen fand wesentlich seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre statt. Dies gilt trotz schon zuvor eingeleiteter Veränderungen, die sowohl das Erziehungsverständnis wie auch die materiellen Grundbedingungen in vielen Heimen betrafen. Wesentliche strukturelle Modifikationen folgten erst nach den Heimkampagnen, die 1969 von der APO ausgingen. Medial verstärkt prangerten sie vor allem die Defizite der Heimerziehung in den religiös geprägten Häusern an. Die ‚Heimbefreiungen‘ waren allerdings weniger Auslöser als vielmehr Verstärker und Katalysatoren eines schon angelaufenen, freilich zunächst schleppend in Gang kommenden Reformprozesses. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse kam es 1970 evangelischerseits bzw. 1973 von katholischer Seite zur Abfassung von Denkschriften der Fachverbände, die die Heime zu konkreten Modernisierungen und Veränderungen im Heimalltag anhielten. Die auch im konfessionellen Bereich langsam, jedoch von Heim zu Heim sehr unterschiedlich einsetzenden Reformen – es gab Einrichtun-

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gen, die während der 1950/60er Jahre durch die eingeleiteten Maßnahmen ihr Gesicht zum Teil stark, andere jedoch nur kaum veränderten – verhinderten also nicht, dass die Heimerziehung insgesamt als eine zentrale Maßnahme der Ersatzerziehung vor dem Hintergrund der umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er Jahren immer stärker als Auslaufmodell betrachtet wurde. Verhaftet in traditionellen gesellschaftlichen und theologischen Denk- und Verhaltensmustern hinkten die Erziehungsmethoden hinter dem dynamischen Wandel her, wobei die Generationenfrage auf der Leitungsebene wie auch in der Erzieherschaft oftmals ein wesentliches Moment darstellte. Das konnte in Verbindung mit den verschiedenen Erzieherpersönlichkeiten dazu führen, dass selbst in demselben Heim zur gleichen Zeit sehr unterschiedliche Erziehungsstile zu beobachten waren. Vor allem die Heimkampagnen führten dann zu umfassenden gesellschaftlichen Diskussionen und zu tiefgreifenden Reformen in den 1970er Jahren, die flächendeckend aber wohl erst in den 1980er Jahren griffen. Nicht zuletzt in Anbetracht dieser Entwicklungen wird verständlich, dass viele der 500.000 bis 600.000 Minderjährigen, die zwischen 1945 und 1975 mit der konfessionellen Heimerziehung in Berührung kamen, sich an das Heim als erlebte „totale Institution“ erinnern, die durch mangelnde Transparenz, autoritäre Abhängigkeitsverhältnisse, eingeschränkte Rechte sowie durch alltägliche Demütigungen bis hin zu Misshandlungen und sexuellem Missbrauch geprägt war. Die Ergebnisse der hier vorliegenden Studie spiegeln die enorme Vielschichtigkeit der Thematik wider. Dieser ist es letztlich auch geschuldet, dass verschiedene Aspekte nur berührt bzw. als Desiderate benannt werden konnten. Viel Forschung ist weiterhin insbesondere zum theologischen Selbstverständnis der Ordensgemeinschaften, zur Professionalisierung der Mitarbeiterschaften, zur inneren Entwicklung der Waisenhäuser, Kinderund Säuglingsheime – auch in etwaiger Abgrenzung zu den FE-Heimen –, der kommunalen Kinder- und Jugendfürsorge wie überhaupt zur Geschichte von diakonischen und caritativen Erziehungseinrichtungen in ihrer spezifischen Struktur und Veränderung notwendig. Hierzu zählt auch die Belegung der so genannten „Sonderheime“ im Rahmen der Jugendfürsorge – hier vor allem Einrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung –, die offenbar in größerem Maß vorgenommen wurde. Die vorliegende Studie, die in bislang unerreichter Breite versucht hat, Einzelbefunde und Kontexte der konfessionellen Heimerziehung in einen Rahmen zu bringen, stellt hierbei einen ersten Schritt dar, dem weitere auf den angesprochenen Ebenen folgen sollten.

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen und Periodika 1.1 Staatliche Archive Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) NW 648 (Ministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales, Abt. Jugendpflege) NW 41 (Sozialministerium) NW 61 (Arbeits und Sozialministerium) Hauptstaatsarchiv Hannover (HHSA) Nds. 120 Hannover (LJA Hannover) Nds. 400 (Kultusministerium) Rep. 400 (Verwaltungsbezirk Oldenburg) Rep. 410 (Bezirksregierung Weser-Ems) Staatsarchiv Osnabrück Staatsarchiv Oldenburg Rep. 430 Regierung Osnabrück (Dezernat Kirchen und Schulen) Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BHStA) MInn (Staatsministerium des Innern) MArb (Ministerium für Arbeit) Staatsarchiv, München (STAM) RA (Regierung Oberbayern) LR (Landratsämter Freising, Miesbach, Schongau ...) Staatsarchiv, Nürnberg (STAN) Regierung von Mittelfranken Abg. 2000 Regierung von Mittelfranken Abg. 1978 Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR) Sachakten NL Klausa Einzelfallakten

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1.2 Kirchliche Archive Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin (ADW) HGSt (Hauptgeschäftsstelle Innere Mission und Hilfswerk) EEV (Evangelischer Erziehungsverband) Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf (AEKR) 6 HA 034 (NL Präses Immer) 1 OB 017 (Sachakten LKA, Bestand Konsistorium) Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg (ELKAN) LKR (Landeskirchenrat) DW Bayern (Diakonisches Werk der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern) Bestand Rummelsberger Anstalten Landeskirchliches Archiv Hannover E 52 (Diakonisches Werk Hannover) Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf (ADWRh) Bestand Ohl Evangelischer Verband für Heimerziehung im Rheinland Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Bielefeld (HAB) Bestand Birkenhof Archiv der Fliedner Kulturstiftung, Kaiserswerth (FKSK) FKSK 2-1 (Diakonissenanstalt) Archiv der Graf Recke Stiftung, Düsseldorf (AGRS) Sachakten; unverzeichnetes Archivgut Archiv Birkenhof, Hannover Sachakten; unverzeichnetes Archivgut Archiv Fassoldshof, Mainleus Sachakten; unverzeichnetes Archivgut Archiv Rummelsberger Anstalten, Peiting Sachakten; unverzeichnetes Archivgut Archiv des Deutschen Caritasverbands (ADCV) Verband katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik

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Bistumsarchiv Hildesheim (BAHI) Generalvikariat, Waisenhaus Henneckenrode Diözesancaritasverband Bistumsarchiv Münster (BAM) Marienburg Generalvikariat Neues Archiv (GV NA) Archiv DiCV München Verbandsakten Archiv der Deutschen Provinz der Schwestern v. Guten Hirten NDP (Norddeutsche Provinz) SW (Süddeutsche Provinz) Archiv der Norddeutschen Provinz der Herz-Jesu-Missionare Sachakten Archiv der Katholischen Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising (AKJF) Sachakten; unverzeichnetes Archivgut Archiv Johannesburg Sachakten; unverzeichnetes Archivgut

1.3 Zeitzeugeninterviews Interview Hannelore Abraham (25.1.2010) Interview Walter Bertelt (14.06.2010) Interview Diakonisse Agnes Bröcker (25.2.2010) Interview Schwester Gudula Busch (12.10.2010) Interview Pater Josef Danne (13.07.2010) Interview Josef Dorsten (25.05.2010) Interview Corinna Fast [Aliasname] (15.12.2010) Interview Diakon Horst Fiedler (24.9.2010) Interview Gerda Franz [Aliasname] (06.10.2010) Interview Bertha Gruber [Aliasname] (7.8.2009) Interview Alois Hügle (13.07.2010) Interview Dagmar Kerste [Aliasname] (15.12.2009) Interview Wera Rüth (08.09.2010) Interview Dieter Schmidt (1.9.2009) Interview Diakon Arnold Schubert (23.08.2010) Interview Ursula Steingräber (20.8.2010) Interview Richard Sucker (25.8.2010)

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1.4 Periodika Verschiedene Beiträge dieser Periodika finden sich unter dem jeweiligen Verfasser im Verzeichnis der Sekundärliteratur. Ansonsten sind sie in den Fußnoten benannt. Blätter für Innere Mission in Bayern (1948ff.). Caritas-Dienst – Katholischer Caritasverband der Erzdiözese München und Freising. Die Innere Mission – Zeitschrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (1932-1974). diakonie. Mitteilungen aus dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (1964-1974). Evangelische Jugendhilfe (1950-1959). Fortbildungsbrief des Evangelischen Erziehungsverbandes (1961ff.) Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD (Diakoniejahrbuch). Jugendwohl – Katholische Zeitschrift für Kinder- und Jugendfürsorge (1920-1939/19481999). Mitglieder-Rundbrief des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages [danach Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe] (seit 1948). Sozialpädagogik. Zeitschrift für Mitarbeiter (1959ff.). Statistische Berichte, Reihe VI/29. Statistisches Bundesamt, Fachserie K, Reihe 2. Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 6. Unsere Jugend – Zeitschrift für Studium und Praxis der Sozialpädagogik (seit 1949). Wirtschaft und Statistik, hg. v. Statistischen Bundesamt Wiesbaden (seit 1948).

2. Sekundärliteratur Abel, Karl: Freiwillige Erziehungshilfe, in: Köster/Küster (Hg.), Zwischen Disziplinierung und Integration, S. 267-281. Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, Berlin 2010 [http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht_000.pdf] (10.1.2011). AFET (Hg): Die Notlage der Erziehungsheime für Kinder und Jugendliche (19.2.1953), Hannover 1953. AFET (Hg.): Die Lage der Heimerzieher. Ergebnis einer vom Vorstand des AFET durchgeführten Untersuchung in 5 Ländern der Bundesrepublik, Hannover 1958. AFET (Hg.): Erziehungsheime in Wort und Bild. Eine Auswahl von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten aus den Jahren 1951 bis 1961, Hannover 1961. Ahlheim, Rose u.a.: Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1971. Aichhorn, August: Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung, 11. Aufl., Bern 2005 (Original 1925).

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Albertin, Lothar (Hg.): Jugendarbeit 1945. Neuanfänge der Kommunen, Kirchen und politischen Parteien in Ostwestfalen-Lippe, Weinheim/München 1992. Almstedt, Matthias/Munkwitz, Barbara (Hg.): Ortsbestimmung der Heimerziehung. Geschichte, Bestandsaufnahme, Entwicklungstendenzen, Weinheim/Basel 1982. Amthor, Ralph Christian: Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit. Auf der Suche nach Professionalisierung und Identität, Weinheim 2003. Arbeitsgruppe Heimreform: Aus der Geschichte lernen: Analyse der Heimreform in Hessen (1968-1983) (Erziehungshilfe Dokumentation, Bd. 16), Frankfurt a. M. 2000. Arnold, Pascal/Sprumont, Dominique: Der Nürnberger Kodex: Regeln des Völkerrechts, in: Ulrich Tröhler/Stella Reiter-Theil (Hg.), Ethik und Medizin 1947-1997 – Was leistet die Kodifizierung von Ethik?, Göttingen 1997, S. 115-130. Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. Badenhop, Hans Georg: Gedanken zur Heimerziehung heute, in: Fortbildungsbrief 12, Nr. 1 (März 1971), S. 1-8. Baier, Helmut: Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz. Die Innere Mission Münchens in der Zeit des Nationalsozialismus, München 2008. Banach, Harald: Prälat Paul Wolpers, in: ders. (Hg.), Ich werde mich umdrehen und gehen …: 100 Jahre Jugendhilfe in Fichtenhain, Krefeld 2006, S. 131-143. Banach, Sarah: Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, Bd. 5), Opladen u. a. 2007. Banach, Sarah: Lebenserinnerungen ehemaliger Heimkinder, in: Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung, S. 515-536. Baucke, Joachim/Grünewald, Gerhard/Zuberbier, Erika: Graphomotorische Untersuchungen an verhaltensschwierigen Kindern, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Vereinigt mit Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie 201 (1961), S. 549-564. Bäuerle, Wolfgang/Markmann, Jürgen: Reform der Heimerziehung. Materialien und Dokumente (zusammengestellt im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung Federation Internationale des Communautes d‘ Enfants – FICE), Weinheim/Basel 1974. Becker, Carl: Es fehlt an Ordensschwestern, in: Herder Korrespondenz 4 (1949/50), S. 233ff. Becker, Carl (Bearb.): Handbuch der caritativen Jugendhilfe in Deutschland. Übersicht über die Anstalten und Einrichtungen der Kath. Jugendhilfe nach dem Stande vom 1. November 1953, hg. v. d. Zentrale des Deutschen Caritasverbands, Freiburg i. Br. 1954. Becker, Carl (Bearb.): Die Heime der katholischen Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Stande vom 1. Mai 1965, hg. v. d. Zentrale des Deutschen Caritasverbands, Freiburg i. Br. 1965. Becker, Walter: Das neue Jugendstrafgesetz in der Praxis, in: Evangelische Jugendhilfe 1954, S. 44-47. Becker, Walter: Erziehung zu demokratischer Mitverantwortung. Ein Betrachtung über den „Erziehungsstil“, in: Sozialpädagogik 8 (1966), S. 242-247. Becker, Walter: Der „Fürsorgezögling“ in der öffentlichen Meinung, in: Sozialpädagogik 9 (1967), S. 276-278. Becker, Walter: „Weltfremd durch Heimerziehung?“, in: Sozialpädagogik 11 (1969), S. 75-78.

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Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen: „Hi ha ho, die Bonzen komm’n ins Klo!“ Sozialpädagogische Studentenbewegung und Modernisierung Sozialer Arbeit in Deutschland, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 257-282. Belz, Christel u.a. (Red.): Das Freiwillige Soziale Jahr. Ein dokumentarischer Bericht, hg. v. Arbeitskreis „Freiwilliger Sozialer Dienst/Freiwilliges Soziales Jahr“, Bonn-Bad Godesberg 1973. Benad, Matthias: Dynamische Zeiten in Bethel – Zehn Punkte zum Umbruch in der Mitarbeiterschaft und zu anderen grundlegenden Wandlungsprozessen um 1968, in: Jähnichen u.a (Hg.), Transformationen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren, S. 209-224. Benad, Matthias/Schmuhl, Hans-Walter/Stockhecke, Kerstin (Hg.): Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre, Bielefeld 2009. Bendick, Claudia: Von der diakonischen Ausbildung zum Frauenbildungszentrum − Lehrdiakonie am Beispiel des Diakonissenmutterhauses in Münster. Die Evangelische Sozialpädagogische Ausbildungsstätte – Eine Einführung, in: Kaiser/Scheepers (Hg.), Dienerinnen des Herrn, S. 245-266. Bendokat, Bruno: Wie wirken sich die nationalsozialistischen Erziehungsgedanken und die Wandlungen, die der Nationalsozialismus auf entscheidenden Gebieten des deutschen Volkslebens hervorgerufen hat, in der Praxis der männlichen Fürsorgeerziehung aus?, in: Evangelische Jugendhilfe 1935, S. 265-278. Benninghoven, Cornelia/Pankoke, Eckart: Leben lernen. Hundert Jahre Berufsbildungszentrum der Graf-Recke-Stiftung, Düsseldorf 2005. Benölken, Andreas: Daheim und doch nicht zu Haus! Die Geschichte der Heimerziehung – dargestellt an der Entwicklung des St. Josefshauses Wettringen, Maschinenschrift, Wettringen 1997. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe (Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, DS V/302 [in der 4. Wahlperiode am 25.6.1965 verteilt]). Birtsch, Vera u.a. (Hg.): Handbuch Erziehungshilfen. Leitfaden für Ausbildung, Praxis und Forschung, Münster 2011. Blandow, Jürgen: Erziehungshilfen im historischen Kontext. Aspekte zu ihrer Geschichte seit 1945, in: Jürgen Blandow/Josef Faltermeier (Hg.), Erziehungshilfen in der BRD, Frankfurt a. M. 1989. Blandow, Jürgen: Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens, Weinheim/München 2004. Blaschke, Olaf: Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen, in: ders. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13-71. Blum-Geenen, Sabine: Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz von 1871-1933 (Rheinprovinz, Bd. 11.), Köln 1997. Blum-Geenen, Sabine/Kaminsky, Uwe, „Reinigung von der Last der Erbkranken“ – Fürsorgeerziehung und Zwangssterilisation, in: Landschaftsverband Rheinland, Archivberatungsstelle (Hg.), Folgen der Ausgrenzung. Studien zur Geschichte der NS-Psychiatrie in der Rheinprovinz, Köln 1995, S. 1-40. Bondy, Curt/Eyferth, Hans: Bindungslose Jugend. Eine sozialpädagogische Studie über Arbeits- und Heimatlosigkeit, München/Düsseldorf 1952.

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Burger, Annemarie: Die Mitarbeiter in evangelischen Anstalten und Heimen nach dem Stand vom 31.12.1960, in: Die Innere Mission 54 (1964), S. 65-75. Burschel, Carlo: Säuglingsheime: Die „vergessenen“ Kinderheime der „Wirtschaftswundergesellschaft“, in: Damberg u.a (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 305- 336. Carspecken, Ferdinand: Die Heimerziehung heute. Überlegungen zur Differenzierung, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 173-179. Carspecken, Ferdinand: Aufsicht und Pflegekinderschutz in den Heimen nach dem neuen JWG, in: Unsere Jugend 13 (1961), S. 498-505. Carspecken, Ferdinand: Probleme des Jugendwohlfahrtsgesetzes vom 11.8.1961. Fragen der Freiwilligen Erziehungshilfe und der Fürsorgeerziehung, der Heimaufsicht und des Schutzes von Minderjährigen unter 16 Jahren in den Einrichtungen der Jugendhilfe, Berlin u. a. 1962. Carspecken, Ferdinand: Probleme der Heimerziehung heute, in: Unsere Jugend 15 (1963), S. 214-220. Carspecken, Ferdinand: Das Verhältnis zwischen Kinderheimen und Erziehungsheimen, in: Fortbildungsbrief 6, Nr. 3 (September 1965), S. 2-13. Carspecken, Ferdinand/Gaupp, Albrecht: Wo steht die Fürsorgeerziehung? Vergleichende Untersuchung im Bezirk des Landesjugendamtes Oldenburg für die Jahre 19421952 mit einer Studie über die pädagogischen Folgen, München/Düsseldorf 1953 (Unsere Jugend, Beih. 7). Castell, Rolf u.a.: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937-1961, Göttingen 2003. Clostermann, Ludwig: „Reinigung“ der Fürsorgeerziehung, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 23 (1931), S. 202-205. Colla, Herbert E.: Evangelische Heimerziehung – repressive Pädagogik?, in: Fortbildungsbrief 12, Nr. 4 (Dezember 1971), S. 8-13. Colla, Herbert u.a. (Hg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, Neuwied/Kriftel 1999. Cornehl, Peter: Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen, in: Hermle/ Lepp/Oelke (Hg.), Umbrüche, S. 265-284. Cramer, August: Bericht an das Landesdirektorium in Hannover über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung der Fürsorgezöglinge in dem Stephansstift bei Hannover, im Magdalenenheim bei Hannover, im Frauenheim bei Himmelsthür vor Hildesheim und im Calandshof bei Rotenburg, in: Klinisches Jahrbuch 18 (1908), S. 163-198. Damberg, Wilhelm/Frings, Bernhard/Jähnichen, Traugott/Kaminsky, Uwe (Hg.): Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster 2010. Damberg, Wilhelm/Hellemans, Staf (Hg.): Die neue Mitte der Kirche. Der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945, Stuttgart 2010. Das Heim als Erziehungshilfe. Denkschrift des Verbandes katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik, in: Jugendwohl 54 (1973), S. 424-466. Das offene Tor. Hundert Jahre Caritas im Geist des Guten Hirten, hg. v. d. Schwestern d. Provinzial-Mutterhauses Münster (Westfalen), Münster 1950. Das verdoppelte Jahr, hg. v. d. ev.-kath. Arbeitsgemeinschaft Soziale Dienste in Nordrhein-Westfalen. „Diakonisches Jahr“/“Jahr für den Nächsten“ Düsseldorf, Geldern o. J. [1968].

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Esser, Klaus: Die Kinderdorfbewegung in der katholischen Heimerziehung, in: Hiller/ Knab/Mörsberger (Hg.), 100 Jahre BVkE, S. 73-90. Esser, Klaus: Die retrospektive Bewertung der stationären Erziehungshilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Wirkungsorientierung, Diss., Köln 2010. Esser, Klaus: Zwischen Alptraum und Dankbarkeit. Ehemalige Heimkinder kommen zu Wort, Freiburg i. Br. 2011. Evangelischer Reichserziehungsverband (Hg.): 75 Jahre EREV. Antworten eines Fachverbandes auf die Herausforderungen der Erziehungsarbeit, o. O. [Hannover] o. D. [1995]. Fachbereich Jugend und Familie der Landeshauptstadt Hannover (Hg.): Heimerziehung in der Landeshauptstadt Hannover in den 50er und 60er Jahren. Eine Dokumentation, Hannover 2011 [http://www.hannover.de/data/download/lhh/ges_soz/doku_ heimerziehung.pdf (26.6.2011)]. Falt, Theodor: Ausbildung und Ausbildungsplanung für eine zukünftige Heimerziehung, in: Sozialpädagogik 12 (1970), S. 153-162. Fangmeier, Gerhard: Individualpsychologie und Anstaltserziehung, in: Evangelische Jugendfürsorge 4 (1928), S. 142-149. Fangmeier, Gerhard: Jahresbericht über die Erziehungs-Anstalt Oberbieber für das Jahr 1929, in: Evangelische Jugendfürsorge 6 (1930), S. 126-129. Fangmeier, Gerhard: Die Individualpsychologie in der Anstaltserziehung, in: Die Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz 7 (1931), S. 43-44. Fangmeier, Gerhard: Jahresbericht über das Erziehungsheim Oberbieber (Heime in Oberbieber, Rengsdorf und Neuwied) für das Jahr 1930, in: Evangelische Jugendfürsorge 7 (1931), S. 77-84. Fangmeier, Gerhard: Jahresbericht über das Erziehungsheim Oberbieber (Heime in Oberbieber, Rengsdorf und Neuwied) für das Jahr 1931, in: Evangelische Jugendfürsorge 8 (1932), S. 72-76. Fangmeier, Gerhard: Gemeinschaftserziehung im Erziehungsheim, in: Die Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz 9 (1933), S. 366-368. Fangmeier, Gerhard: Versuch einer Typisierung geistesschwacher Kinder unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit von Familienerziehung, in: Die Rheinprovinz 10 (1934), Heft 7, S. 40-41. Fangmeier, Gerhard: Unsere psychologische Arbeit im Beobachtungsheim, in: Evangelische Jugendhilfe 1939, S. 171-174, 182-187. Fangmeier [Gerhard]: Heutige Probleme der Arbeitserziehung, in: Evangelische Jugendhilfe Nr. 2 (August 1950), S. 1-5. Fangmeier, Gerhard: Veträgt sich die heutige Menschenführung mit Strafe?, in: Evangelische Jugendhilfe 1953, S. 40-48. Fangmeier, Gerhard: Vier Glieder einer Kette: die Wandlungen des Evangelischen Kinderund Jugendheimes Oberbieber auf seinem 100jährigen Werdegang, o. O. o. D. [ca. 1955]. Fangmeier, Gerhard: Gesichtspunkte für die Differenzierung unserer Heime, in: Evangelische Jugendhilfe 1955, S. 9-17. Fangmeier, Gerhard: Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, insbesondere für die männliche Heimjugend, in: Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 638-657. Fangmeier, Gerhard: Ein Überblick über die Geschichte der Heilpädagogik unter Berücksichtigung der Heimerziehung für Schwachsinnige, in: Evangelische Jugendhilfe 1957, S. 162-173.

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Fangmeier, Gerhard: Überblick über die Heilpädagogik der letzten Jahrzehnte; abgestellt auf die Heilpädagogik an erziehungsschwierigen Minderjährigen, in: Evangelische Jugendhilfe 1958, S. 120-129. Fangmeier, Gerhard: Der Erzieher als Mensch, in: Fortbildungsbrief 2 (November 1961), Nr. 4 (ohne Paginierung). Fangmeier, Gerhard: Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen, in: Fortbildungsbrief 6, Nr. 1 (März 1965), S. 14-23. Fangmeier, Gerhard: Erziehungsschwierigkeiten im Schulalter, in: Fortbildungsbrief 7, Nr. 3 (September 1966), S. 9-16. Fangmeier, Gerhard: Der Mensch und seine Vergangenheit, in: Fortbildungsbrief 8, Nr. 1 (März 1967), S. 8-16. Fangmeier, Gerhard: Erlebnisse und Gedanken eines Neusiedlers, Maschinenschrift, o. O. 1977. Fangmeier, Jürgen: Gerhard Fangmeier 1900-1985, in: Witschke (Hg.), 150 Jahre Innere Mission und Diakonie im Rheinland, S. 479-496. Fehrlen, Burkhard/Schubert, Ulrich: Offene Jugendarbeit in Baden-Württemberg: Von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 60er Jahre, Leinfelden-Echterdingen 1997. Felgentreff, Ruth: Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836-1998. Von der Diakonissenanstalt zum Diakoniewerk – ein Überblick, Düsseldorf 1998. Fischer, Alfons (Red.): 1897-1972. 75 Jahre Deutscher Caritasverband, hg. v. Deutschen Caritasverband, Waldkirch 1972. Flosdorf, Peter: Die „Ausbildungsrichtlinien für eine heilpädagogische Zusatzausbildung“. Ein innovatives Qualifizierungskonzept des AFET, in: Scherpner/Schrapper (Hg.), 100 Jahre AFET, S. 340-345. Föcking, Friederike: Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007. Foitzik, Doris: Jugend ohne Schwung? Jugendkultur und Jugendpolitik in Hamburg 1945 – 1949, Hamburg 2002. Fontana, Julia: „Fürsorge für ein ganzes Leben“ – Spuren der Heimerziehung in den Biographien von Frauen, Opladen 2007. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976. Forsbach, Ralf: Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Fricke, Irmgard: Verzeichnis der Erziehungsheime und Sonderheime für Minderjährige in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), 8. Aufl., Hannover 1968. Frie, Ewald: Wohlfahrtsstaat und Provinz. Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes Westfalen und des Landes Sachsen 1880-1930 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 8), Paderborn 1993. Frings, Bernhard: Zu melden sind sämtliche Patienten … NS-‚Euthanasie’ und Heil- und Pflegeanstalten im Bistum Münster, Münster 1994. Frings, Bernhard: Sorgen – Helfen – Heilen. Dülmen und seine sozial-caritativen Einrichtungen, Dülmen 1997.

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ABKÜRZUNGEN

Abkürzungen AFET AG AOK APO ASM ASTA BBKL Bearb. Bd. Bde. BGB BGV BIOS BK Br. BRD CA CSU CVJM DAF DCV DDR DiCV DIJuF Diss. DVA e. V. Ebd. EKD EREV FE FEH GWU Hg. HSM IGfH IM Jg. JWG KFV KJF KKF KLV

Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag Arbeitsgemeinschaft Allgemeine Ortskrankenkasse Außerparlamentarische Opposition Arbeits- und Sozialministerium Allgemeiner Studentenausschuss Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bearbeiter Band Bände Bundesgesetzbuch Bischöfliches Generalvikariat Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen Bekennende Kirche Bruder Bundesrepublik Deutschland Centralausschuss Christlich Soziale Union Christlicher Verein Junger Männer Deutsche Arbeitsfront Deutscher Caritasverband Deutsche Demokratische Republik Diözsancaritasverband Deutsches Institut Jugendhilfe und Familienrecht Dissertation Deutsche Verlags-Anstalt eingetragener Verein Ebenda Evangelische Kirche in Deutschland Evangelischer Reichserziehungsverband Fürsorgeerziehung Freiwillige Erziehungshilfe Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Herausgeber Herzogsägmühle Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen Innere Mission Jahrgang Jugendwohlfahrtsgesetz Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder Katholische Jugendfürsorge Verband katholischer kaufmännischer Frauenjugend Kinderlandverschickung

ABKÜRZUNGEN

KPD KR KZ LJA LJWA LR LV LVW LWL LWV MAGS MSC NRW NS NSDAP NSV o. D. o. J. o. O. P. Pf. PIT RAF Red. RJWG RLK RM RP RTH SA SBZ SDS SGB SkF SSK u.a. VAKFP Vgl. VO ZKG

587 Kommunistische Partei Deutschlands Kirchenrat Konzentrationslager Landesjugendamt Landeswohlfahrtsausschuss Landratsamt, Landrat Landesverband Landesverband für Wandererdienst Landschaftsverband Westfalen-Lippe Landeswohlfahrtsverband Hessen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Missionarii (Missionariae) Sancritissimi Cordis Nordrhein-Westfalen Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ohne Datum ohne Jahr ohne Ort Pater Pfarrer Pädagogisch-Therapeutische Intensivabteilung Rote Armee Fraktion Redaktion Reichsjugendwohlfahrtsgesetz Rheinische Landesklinik Reichsmark Regierungspräsidium, Regierungspräsident Runder Tisch Heimerziehung Sturmabteilung Sowjetisch besetzte Zone Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialgesetzbuch Sozialdienst katholischer Frauen Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln und andere/unter anderen Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Vergleiche Verordnung Zeitschrift für Kirchengeschichte

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Abbildungsverzeichnis Archiv Diakonisches Werk der EKD S. 427, 470, 473, 483, 485 Fliedner Kulturstiftung Kaiserswerth S. 36, 342, 352, 476, 497 Fassoldshof S. 308 Rheinische Post S. 503 Herzogsägmühle S. 519, 523 Johannesburg S. 40, 56, 153, 290 Privatarchiv Schwester Adelgund Philipp S. 104, 361, 367 LWL-Medienzentrum für Westfalen S. 115, 439, 453, 472, 495 Die caritativen Anstalten im Bistum Münster [1955] S. 174

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Personenverzeichnis Alfons (Schwester) 234 Alicke, Regina 107 Ambrosia (Schwester) 226 Badenhop, Johannes 106, 108, 125f., 130f., 197 Baucke, Joachim 267, 269 Beckmann (Heimleiterin Schloss Wollerhausen) 127f. Bellingrodt, Paul 180 Beninda, Johannes 297, 300 Beurmann, Martha 178, 245, 276 Blum, Friedrich 220 Böggering, Laurenz 446, 449-451 Bömers, Maria 518 Böttinger, Friedrich 307, 320–326 Brezinka, Wolfgang 541 Brosch, Peter 407f., 411 Brüggeboes, Wilhelm 232 Büchner, Dr. (Kreisarzt) 225 Bürckstümmer, Hermann 327 Carspecken, Ferdinand 112 Collmer, Paul 537 Comenius 122 Dames, Dr. med. (Heimärztin im Birkenhof) 108, 405, 407 Daumiller, Oskar 51 Decker, Wilhelm 95, 522 Delekat, Friedrich 58 Delpus (Direktor) 93 Denninger, Erhard 537 Dierkes, Florenz 436, 446f., 449, 452, 454 Domitilla, Schwester (Oberin) 224 Dühsler (Rittmarshausen) 202 Ell, Ernst 517 Endres, P. Nikolaus 89, 97 Eudes, Johannes 354 Fangmeier, Gerhard 58f., 61–67, 89f., 92, 474 Fasel, W. 192 Finger, Anni 311 Fischer, Hans 303

Fischer, Otto Heinrich 303 Flosdorf, Peter 517 Freitag, Dr. (Justitiar BGV Münster) 454 Fröhlich, Cyprian 204 Frommann, Anne 508f., 512–515 Frommann, Günther 512 Frör, Kurt 474 Gaupp, Albrecht 105, 107 Geesink, Gerhard 436, 441–443 Gerlach, Elsa 390 Gerson, Walter 106 Gieraths, F. J. (Landespsychiater) 267 Gierster (Direktor) 314 Glaue, Olga 69, 510 Goffman, Erving 5, 145 Goller, Friedrich 314f., 417f., 422 Graf, Gabriele 377 Greifenstein, Hans 51 Grimm, Hans 312, 327 Güldenberg, Carl 40, 128, 133, 289, 292–296, 301 Halbach, Kurt 51 Halberstadt, Günter 192 Happe, Günther 181 Hardtmann, Joachim 261 Harz, Luise 335, 345 Hecker, Walther 178, 245 Heerschlag (Pfarrer) 481 Hege, Dr. (Erziehungsberaterin in München) 93 Heidecker, Günter 95, 160, 536, 538 Heinze, Hans 108 Henke (Direktor Bernwardshof) 106 Hennerfeind, Alois 54, 72, 88, 97, 116, 123 Hesse, Eduard 386, 390 Höffner, Joseph 450, 456 Hohmann, Hilde 368 Horning, Robert 59, 254 Horstmann, Friedrich 510 Hundhammer, Alois 119 Hunger, Heinz 479

590 Ibing, Heinrich 454 Immer, Karl 273 Isermeyer, Hans-Georg 202, 529 Jans, Karl Wilhelm 265 Janssen, Karl 117, 190, 196, 481, 501, 509 Janzen, Wilhelm (Willi) 249–251, 255, 261 Jörissen, Luise 377 Jung, Ursula 361 Junge, Hubertus 516, 542 Kaperschmidt, Josef 166, 290, 300 Keller, Michael 452f. Kiehn, Erich 517 Kiene, Marie 87 Kindler (Pastor) 481 Kinnius, Wilhelm 254 Kleem, Hans Hermann 481 Klevinghaus, Johannes 474, 508 Koepchen, Ernst 380 Kolb, Richard 94 König (Erziehungsberaterin Neudettelsau) 93 Kraak, Bernhard 101, 508f. Krebs, Heinz 403 Kronenberger, Angelika 373f. Künkel, Fritz 62 Lähnemann, Karl-Heinz 202 Lange, Johannes 313 Lanver, Hildegard 192 Lauerer, Hans 51 Lettmann, Reinhard 456 Lukretia (Schwester) 228 Luxenburger, Hans 53, 319 Maaß, Hermann 166, 296–298, 302 Machens, Godehard 222, 224 Mahrarens, August 50 Makarenko, Anton Semjonowitsch 65 Mann, Gustav von 473, 516 Marx, Theodor 309 Maußhardt, Ludwig 509 Maußhardt, Martin 93, 508f. Mayrhofer (Psychologin) 326, 238 Mehringer, Andreas 45 Meinhof, Ulrike 350f., 518

PERSONENVERZEICHNIS

Meinzolt, Marie 82–84 Meiser, Hans (Bischof) 51 Meisinger, Konrad 327, 331 Meyberg, Anna 184 Montessori, Maria 240 Moser (Pater) 314 Moser, Tilman 169, 534 Müller (Pastor Rischborn) 106 Müller, Hans 49f. Müller, Johann Georg 435 Nägelsbach, Elisabeth 84, 208, 311, 317 Nägelsbach, Ernst (Naegelsbach) 51, 72, 94, 122, 207, 310, 474, 477 Neukamm, Karl-Heinz 538 Nicol, Karl 51, 312, 318f. Nüssle, Elisabeth 93 Ohl, Otto 245, 347f., 504 Panse, Friedrich 265 Pelletier, Maria Euphrasia 354, 358 Petto, Peter 281, 291, 293 Prehn (Propst) 481 Priepke, Manfred 481 Ratz, Hilmar (Rektor Neuendettelsau) 96 Recke-Volmarstein, Graf von der 242 Riedel, Heinrich 51 Ritter (Ministerialrat bzw. -dirigent) 312, 429 Röer, Heinrich 180, 436, 440, 451 Rosi, Lilo 192 Roth, Jürgen 532, 542 Rüdin, Ernst 54 Rühberg, Alfons 456–458 Rundt, Erich 271 Schaubert, Hugo 92, 122, 159, 161 Scheffler, Willi 323f. Scherpner, Martin 202 Scheuner, Ellen 68, 180f., 448 Schilling, Helmuth 531 Schlaich, Ludwig 508 Schlegtendahl, Emil Gottfried 254 Schmidle, Paul 516 Schmidt (Vorsteher Ricklinger Bruderhaus) 70

591

PERSONENVERZEICHNIS

Schmidt, Gottfried 270 Schneider (Heimleiter) 253 Schneller, Max 96 Scholz, Gertraude 70 Schöning, Leo 447 Schüler, Friedrich Karl 252, 254, 260f., 274, 481 Schwarz, K. H. 261 Seidler, Alarich 414 Seifert, Helmut 114 Sendker, Adalbert 107, 113, 194, 227 Seuthe, Else 339, 350 Sieverts, Rudolf 70 Söhlmann, Fritz 184, 197, 384 Spitta, Theodor 113, 127, 195, 197, 201 Spranger, Eduard 58 Staa, Friedrich-Wilhelm von 273 Steinkopff (Wollershausen) 202 Stoltenhoff, Ernst 245 Strauß, Franz-Josef 312 Strzelewicz, Willy 202 Sucker, Richard 121f., 144, 490f. Tenhumberg, Heinrich 533, 541 Thiersch, Heinz 515 Thomae, Hans 217 Thorun, Walter 510 Tobler, Dr. 95 Tornow, Dr. 107 Treute, Elisabeth 388f., 394 Trowitzsch (Oberregierungsrat) 202

Uttke, Wilhelm 244 Volkert, Berta 202, 390, 405 Vömel, Martin 254 Wahler, Martha 313 Wallraff, Günter 532, 543 Walter, Friedburg 395, 467 Walter, Robert 390 Wasmuth, Friedrich 380 Weber (Ministerialrätin a.D.) 61 Weidle, Heide 521 Weiler, Martha 313 Weizsäcker, Victor von 314 Werner, Gottfried 303, 309, 312, 314, 317f., 320 Westphal, Ingeborg 390 Wichern, Johann Hinrich 508, 513 Wieler (Dietrichsfeld) 202 Wiesenhütter, Eckart 309, 311, 313f., 317f. Wiggenhorn, Bernhard 451–453, 455f., 459–465, 533, 540f. Wöbking (Hausvater Knabenhof) 129 Wolff, Johannes D. 50, 68, 70, 127, 129, 183f., 255, 319 Zanden, Jakob van der 128, 282–285, 288, 443f., 450 Zarnke (Psychaterin Caritas Hildesheim) 107

592

ORTSVERZEICHNIS

Ortsverzeichnis Aachen 227, 354, 367 Aachen-Burscheid 173 Adelheide s. Delmenhorst-Adelheide Altencelle 127, 142, 189 Appelhülsen s. Nottuln-Appelhülsen Aprath 142 Aschau am Inn 498 Augsburg 85, 96, 209, 213 Bad Godesberg 350 Bad Harzburg 381–383, 385 Bad Laer 154 Bad Segeberg 513 Basel 58 Bayreuth 52, 213 Benediktbeuren 99 Berlin 11, 140, 143, 517 Berlin-Kreuzberg 166 Berlin-Marienfelde 357 Bethel. s. Bielefeld-Bethel Bielefeld 175 Bielefeld-Bethel 255 Bocholt 163, 175, 357, 372 Bochum 166, 242, 258 Bonn 142 Boppard 176, 337 Braunschweig 189 Brauweiler 176 Bremen 125 Bremen-Lesum 142, 148 Bremen-Vegesack 385 Bremerhaven 147 Bruchmühlen 190 Burscheid 245 Celle 47, 106, 189 Coesfeld 115, 142, 173, 362, 435, 459 Damme 190 Danndorf 304 Delmenhorst-Adelheide 43, 107, 190, 194, 443 Diez 245 Dortmund 164, 259 Dortmund-Eving 142, 149, 362, 500

Düsseldorf 142, 176, 242, 259, 337 Düsseldorf-Kaiserswerth 143, 242 Erlangen 160, 213, 332 Essen 477 Essen-Bredeney 173 Essen-Heidhausen 142, 467 Ettmannsdorf 212, 377, 379 Euskirchen 176 Frankfurt a. M. 146, 209 Freiburg i. Br. 140 Freising 212 Freistatt 127 Fürth 209, 216, 218 Gleidingen, 381f., 385 Glonn 53, 375, 521 Glückstadt 155 Göttingen 106, 191 Großburgwedel 125 Gunzenhausen 85 Hamburg 164, 297 Hameln 221, 385 Hämelschenburg 381f., 385 Hannover 49f., 67, 125, 132, 142, 148, 189, 384f., 503 Hannover-Döhren 190 Hannoversch Münden 221 Happerschoß 194 Henneckenrode 190, 193 Hennef 176 Herford 175 Herzogenaurach 211 Hildesheim 88, 99, 113, 190, 194, 197, 220f., 233, 385 Hiltrup s. Münster-Hiltrup Himmelsthür 190 Hofheim 213 Holle 233 Ibbenbüren 143, 369, 370, 372 Kaiserswerth s. Düsseldorf-Kaiserswerth

593

ORTSVERZEICHNIS

Kiel 155 Kleinenbremen 175 Koblenz 244 Köln 355f., 531 Köln-Lindenthal 176, 367f. Köln-Mülheim 172 Krefeld 176 Kulmbach 209

Rummelsberg 85

Landscheid 245 Lichtenau 217 Mainleus 143, 219 Minden 180 Moers 70 Moringen 191 Morsbach 142 München 53, 88f., 93, 99, 212, 355, 374, 378f. München-Haidhausen 373 München-Solln 373 Münster 142, 173, 175, 354–358, 360, 367, 372, 435 Münster-Hiltrup 49

Tittmoning 525 Trier 117, 118, 496 Tübingen 93

Schongau 213 Schweicheln 481 Schweinfurt 121 Simmern 176 Solingen 176 Stuttgart 11

Vechta 142 Viersen-Süchteln 176 Waldniel 88, 105, 478 Wettringen 175, 435 Witten 175 Wolf an der Mosel 337 Wunsdorf 108, 142, 148 Wuppertal 142 Zeven 69, 71

Naila 109, 121, 122 Neuendettelsau 82–85, 96 Neukirchen 337 Neuwied 59 Niederdollendorf 36, 337, 350 Nottuln-Appelhülsen 435, 472 Nürnberg 85, 208, 213, 308, 320, 332 Oberbieber 59 Oldenburg 189 Olpe 173 Osnabrück 142, 152–154, 186, 190, 484 Overdyck 242 Paderborn 142, 173, 362, 469, 496 Papenburg 49, 190, 280, 493 Peiting 219, 414 Ratingen 176, 337 Regensburg 378 Rengsdorf 59 Rengshausen 481 Reutlingen 101 Rottenburg 11

594

VERZEICHNIS DER EINRICHTUNGEN

Verzeichnis der Einrichtungen Abtshof 176, 252 Adelgunden-Heim 211 Altorf 213 Anstalten Schweicheln 175, 180 Antoniusstift, Damme 190 Arbeitshaus Brauweiler 334 Asbacher Hütte 244 Auhof 52, 207 Barbarossaheim 334, 337 Bernwardshof, Himmelsthür 106, 190, 240 Berta-Lungstras-Heim 350 Bethel 255, 538 Birkenhof, Hannover 13, 106, 127, 130, 132, 142, 148, 184ff., 189, 193, 202f., 380ff., 467 Blumsches Waisenhaus (siehe Kinderheim Henneckenrode) Bodelschwinghsche Anstalten (siehe auch Bethel) 11, 189 Buckenhof 213 Christliches Jugenddorf Adelheide 194 Clemens-Maria-Kinderheim, München 88, 211 Clementinenhaus 50 Dansweilerhof 176 Dorotheenheim 142, 148f., 337 Düsselthaler Anstalten 13, 59f., 176, 242ff., 486, 503, 504, 540 Eben Ezer 334, 336, 345 Eduardstift, Helenenberg 117, 496 Elsa-Brandström-Haus 180 Erlenhof 176 Erziehungs- und Lehrlingsheim Kronsberg 49f. Erziehungsheim Gotteshütte 175 Erziehungsheim Hünenburg 190, 192 Evangelischer Jugendhof Martin Luther King 531 Evangelisches Hospital Neuenkirchen 385 Evangelisches Kinder- und Jugendheim Wolf an der Mosel 176, 530

Evangelisches Mädchenheim Ratingen 176 Evangelisches Waisenhaus, Celle 189 Fassoldshof (Faßoldshof) 13, 52, 69, 93, 120-122, 143, 160, 207, 209, 218f., 303ff., 484, 502, 520 Fichtenhain, Landesjugendheim 176, 252 Freistatt (bei Diepholz) 11, 175, 189, 202 Friederikenstift 50, 334, 336 Georg-von-Rauch-Haus 517 Gleidingen, Heim 384 Göttinger Landjugendheim 106 Grafenberg, Rheinische Landesklinik 270 Großefehn, Erziehungshaus 127 Gut Eben 305 Gut Leye 190 Gut Weihersmühle 218 Halfeshof, Solingen 176 Haus Disselhoff 335f. Haus Elim 337 Haus Hall 435 Haus Heckenwinkel 247 Haus Hoheneck 142, 467, 477, 483, 500 Haus Widey 142, 149, 151, 362, 486 Heim Rischborn 125 Heime der Schwestern vom Guten Hirten 354ff. Heimerzieherschule Reutlingen 101 Helenenstift, Bad Harzburg 382f., 385 Henneckenrode, Kinderheim 13, 88, 203, 220ff., 492 Henriettenstift 50 Hephata, Pflegeanstalt 243 Herzogsägmühle, Heime 13, 95, 122, 213, 219, 414ff., 499, 523 Himmelsthür 106, 132, 202 Iris-Trapp-Haus 411 Jean-Paul-Stift 52, 213 Johannesburg 13, 40, 49, 56f., 128, 133,

595

VERZEICHNIS DER EINRICHTUNGEN

142f., 152-155, 165, 190f., 280ff., 474, 484f., 492, 499 Johannesstift 82 Josefshaus der Arenberger Dominikanerinnen 175 Josefshaus, Wettringen 13, 175, 435ff. Jugendgefängnis Vechta 148 Kaiserswerther Mädchenheime 13, 104, 143, 156, 159, 334ff., 496, 497, 518 Karl-Immanuel-Küpper-Stiftung 176 Karlshöhe 82 Kästorfer Anstalten 106, 125 Katharine Göbel Stift 334, 366, 343 Katholisches Jugendwerk St. Ansgar 43, 190, 194, 240, 443 Kinderheim Altmannshofen 483 Kinderheim Hannover-Döhren 230, 233 Kinderheim Immigerode 222 Kinderheim Johanne(i)shof 190, 230f. Kinderheim Küllenhan 142, 145 Kinderheim Lochhausen 109 Kinderheim Naila 94, 109, 491 Kinderheim St. Josef, Hannover 190 Kinderheim St. Raphael, Düsseldorf 172 Kinderheim St. Hedwig 190 Kinderheim Stadtwald, Aachen 172 Klauckehaus 209, 213 Kloster vom Guten Hirten , Ettmannsdorf 212, 377 Kloster vom Guten Hirten Schloss Zinneberg, Glonn 212, 357, 375f., 377, 491f. Kloster vom Guten Hirten, Ibbenbüren 143, 480 Kloster vom Guten Hirten, Köln-Melaten 104, 361, 518 Kloster vom Guten Hirten, München (auch St. Gabriel) 212, 375, 378f., 494 Kloster vom Guten Hirten, Münster 142, 149, 151, 156, 163-165, 175, 367, 479, 485, 496, 541 Koxhof, Anstalt 247 Krankenhaus Siloah 50 Lehrlingsheim Zoppenbrück 142, 146 Lichtenau, Staatserziehungsanstalt 216219

Liebfrauenhaus 211 Lindenhof 242f., 253 Linerhaus 127, 142, 189 Lydiahaus, Hannover 384f. Mädchenheim Dietrichsfeld 202 Mädchenheim Ratingen 104 Mädchenheim Ummeln 175 Mädchenheim Wengern 175 Maria im Klee, Waldniel 88, 105, 475, 478 Maria in der Drucht 173f. Maria-Theresia-Heim 211 Marienburg 13, 80, 115, 142, 149, 180, 362, 435ff., 491 Marien-Ludwig-Ferdinand-Kinderheim 211 Martinistift 13, 69, 435ff., 468, 472, 496, 498, 503, 533 Martinsberg, Naila 109, 121, 122, 142 Neudüsselthal 104, 142f.,145 Neukirchener Erziehungsverein 176 Oberbieber 58-59, 63, 66, 89, 142, 244 Oberlauringen 213 Pestalozzistiftung Großburgwedel 106, 108, 129-131, 189, 196 Piusheim, Glonn 53, 86, 110, 123, 521 Probsthof, Niederdollendorf 337, 350 Puckenhof 84, 520 Rauhes Haus 82 Reckestift 242f., 253f., 271, 276f. Renthe-Fink-Haus 147f., 186, 190, 471 Rickling 47 Rummelsberger Anstalten 53, 82f., 85, 89, 92f., 156, 159f., 162, 206, 213, 218, 314, 322, 324, 429, 471, 490, 520, 538 Salesianisches Jugendhilfswerk Waldwinkel 498 Salvator-Kolleg Klausheide 469, 495f. Scheuen 47 Schloss Birkeneck, Jugendheim 212, 498 Schloß Buchau 304 Schloss Hämelschenburg 384 Schloss Kalkum 245

596 Schloss Rittmarshausen 202 Schloss Wollershausen 106f., 127f., 133, 190, 202 Schmeilsdorf 304 Sophienheim 209 St. Annaheim 110 St. Elisabeth-Waisenhaus, Dortmund 172 St. Josefsheim 110 St. Joseph, Säuglingsheim und Waisenhaus 362 St. Joseph-Elisabeth-Kinderheim 172 St. Vinzenz-Kinderheim, Bochum 172 Stephansstift Hannover 49, 68, 82, 127, 129, 183f. Stephanusheim, Rummelsberg 160 Stift Tilbeck 437, 457 Tannenhof 58 Thomas-Weissbecker-Haus 517 Treysa 82

VERZEICHNIS DER EINRICHTUNGEN

Uckermark, Jugendschutzlager 335 Villigst, Haus 258 Vinzentinerinnen, Waisenhaus 500 Voccawind 215f., 218, 518, 520 Volmarsteiner Anstalten 11 Waisenhaus Fürth 84 Waisenhaus St. Johann 190 Waisenhaus St. Joseph 149 Waldhof-Templin, Heim 47 Weihermühle 304 Wichernstift, Adelheide 107, 190, 194