Behindertenhilfe und Heimerziehung: Das Sankt Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945-1970) 3402129965, 9783402129968

Das St. Vincenzstift Aulhausen, das Jugendheim Marienhausen nahe Rüdesheim, u. anderer widmeten sich in den 1950/60er Ja

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German Pages 208 [217] Year 2013

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Table of contents :
Title
Inhalt
Geleitwort
Vorwort
Einleitung
Behindertenhilfe und Jugendhilfe vom 19. Jahrhundert bis in die Bundesrepublik
Das St. Vincenzstift zwischen Kontinuität und Innovation – die 1950/60er Jahre und ihre Vorgeschichte
Traditionsbildende Etappen von der Gründung bis 1945
Beharrung und Aufbruch zwischen Kriegsende und 1970
Das Personal: Schwestern und weltliche Mitarbeiter
Heimalltag
Ausblick in die 1970er Jahre
Das Jugendheim Marienhausen –„Internat“ und Fürsorgeerziehung
Entwicklungen 1889 bis 1970
Innere Strukturen und externe Sicht
Ausblick
Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungen
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Behindertenhilfe und Heimerziehung: Das Sankt Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945-1970)
 3402129965, 9783402129968

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ISBN 978-3-402-12996-8

Behindertenhilfe und Heimerziehung

Das Buch beschreibt unter Einbeziehung zahlreicher Interviews mit ehemaligen Bewohnern, „Zöglingen“, Schülern und Erziehenden den jeweiligen Heimkosmos und erläutert die rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Betreuungsarbeit beider Einrichtungen. Es vermittelt so ein Bild der hausinternen Strukturen und des Heimalltags. Im Zentrum dieser Studie steht dabei mit dem St. Vincenzstift ein bislang von der Geschichtswissenschaft weitgehend vernachlässigter Bereich caritativer Behindertenhilfe, der in den historischen Kontext eingeordnet wird.

BERNHARD FRINGS

Bernhard Frings

Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen nahe Rüdesheim widmeten sich in den 1950/60er Jahren unterschiedlichen Feldern der Heimerziehung. Es verwundert, dass dies auch in einer Einrichtung der Behindertenhilfe wie dem St. Vincenzstift geschah. Aber die (Landes)Jugendämter nutzten die „Bildungs- und Pflegeanstalt für schwachbegabte und seelisch abnorme Kinder und Jugendliche“ immer wieder zur Unterbringung von Mädchen und Jungen mit Erziehungsschwierigkeiten, nachdem ihnen zuvor von Amtsärzten und Landeskliniken die heute völlig unvorstellbare Diagnose „Schwachsinn“ zugeschrieben worden war. Ehemalige Bewohner beider Häuser berichten von einem Alltag, der wie in vielen anderen Heimen der Kinder- und Jugendfürsorge durch unzureichende räumliche und personelle Verhältnisse sowie strenger Disziplin und demütigende Strafen gekennzeichnet war. Auch kam es zu sexuellen Übergriffen durch den damaligen Direktor.

Behindertenhilfe und Heimerziehung Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945–1970)

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Bernhard Frings Behindertenhilfe und Heimerziehung Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945–1970)

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Bernhard Frings

Behindertenhilfe und Heimerziehung Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945–1970)

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Umschlag-Abbildung: Langer Flur einer Wohngruppe des St. Vincenzstifts Mitte der 1950er Jahre Foto: St. Vincenzstift, Rüdesheim-Aulhausen

© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-12996-8

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Inhalt Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Behindertenhilfe und Jugendhilfe vom 19. Jahrhundert bis in die Bundesrepublik – Grundlagen zur historischen Verortung des St. Vincenzstifts und des Jugendheims Marienhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung. . . . . . . Heimerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das St. Vincenzstift zwischen Kontinuität und Innovation – die 1950/60er Jahre und ihre Vorgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Traditionsbildende Etappen von der Gründung bis 1945 . . . . . . . . . . . . . 33 Gemeinsame Wurzeln: „Diözesan-Rettungsanstalt“(1861) und „Diözesan- Idiotenanstalt“ (1893). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Bildungs- und Pflegeanstalt St. Vincenzstift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Im Zeichen von NS-Ideologie, Kirchenkampf und „Entkonfessionalisierung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Beharrung und Aufbruch zwischen Kriegsende und 1970 . . . . . . . . . . . . 55 Neuanfang unter schwierigen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Zwischen „Schwachsinnigen-Fürsorge“ und Jugendfürsorge. . . . . . . . . . . 60 Zuständige staatliche Stellen in den 1950er Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Wichtige Weichenstellung: ein neuer Direktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Pioniercharakter der Sonderschule für „Praktisch Bildbare“. . . . . . . . . . . . 79 Von der Anstalt zum Heim?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Weitere Positionierung in Richtung Behindertenhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Das Personal: Schwestern und weltliche Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Die Bedeutung der Dernbacher Schwestern für das Stift. . . . . . . . . . . . . . . 97 Ordensinterne Leitlinien für die Betreuungsarbeit und Qualifizierungsbemühungen des Stifts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Personelle Situation der Sonderschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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Heimalltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Tagesablauf und konkrete Erziehungsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Schule und Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Freizeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Bezugspersonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Ordnungsrahmen, Strafen, sexualisierte Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Ausblick in die 1970er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Das Jugendheim Marienhausen – „Internat“ und Fürsorgeerziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Entwicklungen 1889 bis 1970. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Prägungen bis zur Fremdnutzung 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Orientierung zwischen Fürsorgeerziehung und „Internat“ bis Mitte der 1950er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Langsame Modernisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Innere Strukturen und externe Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Erziehungspraxis in der Wahrnehmung von Jungen und Erziehenden. . . 164 Besondere Vorfälle und Heimaufsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Marienhausen und der Fall Jürgen Bartsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Archive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Zeitzeugeninterviews (Namen anonymisiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Gedruckte Quellen und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

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Geleitwort Mit der vorliegenden Studie stellen sich das St. Vincenzstift Aulhausen und die Jugendhilfe Marienhausen, beide Einrichtungen in Rüdesheim am Rhein, ihrer Vergangenheit – der Situation der Heimkinder in den Jahren 1945 bis 1970. Auslöser waren die so genannten „Runden Tische“ auf Bundes- und Landesebene, an denen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, von Trägern sowie ehemaliger Heimkinder zusammengefunden hatten, um die Heimkindergeschichte als Epoche der Nachkriegszeit aufzuarbeiten und den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen. Als im Rahmen des „Runden Tisches“ des Landes Hessen im Oktober 2009 entsprechende Vorwürfe gegen die beiden Einrichtungen der Behinderten- bzw. Jugendhilfe erhoben wurden, hat sich das St. Vincenzstift Aulhausen für einen doppelten Weg der Aufarbeitung entschlossen. Zum einen stellte es die Möglichkeit der individuellen Begleitung der Opfer sicher. Im Zusammenhang dieser persönlichen Betreuung und Begleitung haben sich nach dem Runden Tisch über 90 Ehemalige aus beiden Einrichtungen gemeldet. Zum anderen ermöglichte das St. Vincenzstift Aulhausen über ein Drittmittelprojekt die unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der Heimkinderzeit 1945 bis 1970 im St. Vincenzstift Aulhausen und der Jugendhilfe Marienhausen im Rahmen einer vergleichenden Studie mit dem Franz Sales Haus in Essen. Erstmals sollte damit die Heimkindergeschichte innerhalb der Behindertenhilfe erarbeitet werden, nachdem zuvor vor allem die Jugendhilfe Beachtung gefunden hatte. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie werden für die Aulhauser Einrichtungen mit diesem Band vorgelegt. Die Ergebnisse der Studie, die nunmehr veröffentlicht werden, verantworten die Wissenschaftler. Mit dieser Studie bekennen sich das St. Vincenzstift Aulhausen und die Jugendhilfe Marienhausen zu einem Abschnitt ihrer Geschichte. Die Studie will ein weiterer Baustein in der Reform der Pädagogik, die seit den 70er Jahren eingeleitet wurde, sein. Die Träger entschuldigen sich bei allen, denen in diesen Einrichtungen Leid widerfahren ist. Prof. Dr. Dr. Franz Kaspar Dr. Dr. Caspar Söling Vorsitzender Geschäftsführer des Kuratoriums der Stiftung Sankt Vincenzstift gGmbH

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Vorwort In den letzten Jahren hat eine grundlegende Veränderung im Umgang mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder der Nachkriegszeit stattgefunden. Wenn insbesondere in den 1960er/70er Jahren der Diskurs von ideologisierten Debatten überlagert war, so ergaben sich mit der größeren zeitlichen Distanz, mit neuen, insbesondere psychologischen Forschungserkenntnissen und mit einer die Tabus hinter sich lassenden Sprachkultur neue Möglichkeiten, sich differenziert mit diesem Thema zu befassen. Dadurch wurde der breiteren Öffentlichkeit erkennbar bewusst, dass in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland Hundertausende von Kindern und Jugendlichen außerhalb von einer Familie in Heimen aufgewachsen sind. Medienberichte machten auf die damaligen, oftmals nachhaltig belastenden Lebensverhältnisse in den Heimen aufmerksam, gleichzeitig organisierten sich die ehemaligen „Zöglinge“ zur Wahrnehmung ihrer Interessen. Es folgte eine neue Form der Aufarbeitung dieser verdrängten und bedrückenden Thematik, die neben Gesellschaft und Politik auch den wissenschaftlichen Bereich umfasste. Auf Empfehlung des „Runden Tisches Heimerziehung“ beim Deutschen Bundestag wurde schließlich Anfang 2012 von Bund, Ländern und Kirchen ein mit 120 Mio. Euro ausgestatteter „Fonds Heimerziehung“ eingerichtet, der u.a. Therapien traumatisierter ehemaliger Heimkinder wie auch Rentennachzahlungen für im Heim geleistete Arbeit ermöglichen soll. Die Arbeit des „Runden Tisches Heimerziehung“ in Berlin konzentrierte sich dabei auf den Bereich der Jugendhilfe. Behindertenund psychiatrische Einrichtungen standen nicht im Blick. Als 2009 vom Hessischen Landtag ebenfalls ein „Runder Tisch Heimerziehung“ ini­ tiiert wurde, beschrieben dort auch ehemalige, in Anstalten für Menschen mit einer geistigen Behinderung untergebrachte Heimkinder ihre Leidensgeschichte. Diese und weitere Schilderungen führten zu der Erkenntnis, dass tatsächlich ein viel größerer Kreis von Kindern und Jugendlichen als bislang angenommen von der damaligen Jugendfürsorge in Behinderten- oder psychiatrischen Einrichtungen eingewiesen worden war. Denn es zeigte sich immer wieder, dass Amtsärzte und jugendpsychiatrische Einrichtungen diesen Mädchen und Jungen die Diagnose „Schwachsinn“ attestiert hatten – was dann die Möglichkeit einer Einweisung in eine Behinderteneinrichtung

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nach sich zog. Dabei stimmten die Erinnerungen dieser Betroffenen an die dortigen Lebensbedingungen oftmals mit denjenigen in den Erziehungsheimen überein. Im Ergebnis zeichnete sich eine breite Überlagerung von Heimerziehung – also Fürsorgeerziehung und Erziehungshilfe – mit der Behindertenhilfe während der ersten Nachkriegsjahrzehnte ab, die aus heutiger Sicht völlig unvorstellbar ist und nach heutigen Maßstäben viele Fehlplazierungen einschloss. Beim hessischen „Runden Tisch“ wurde auch das St. Vincenzstift in Rüdesheim-Aulhausen von entsprechenden Vorwürfen ehemaliger Heimkinder betroffen. Dies nahmen die Verantwortlichen der Einrichtung zum Anlass, das von ehemaligen Bewohnern erfahrene Leid anzuerkennen und aktiv bei der Bewältigung der Folgen zu helfen. Die Einsicht, dass dazu auch eine unabhängige, wissenschaftliche Erforschung der vielschichtigen Ursachen für diese uns heute so unbegreiflich anmutende Betreuungspraxis erforderlich war, führte zu dem Entschluss des St. Vincenzstiftes, den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Katholischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum bei einem Forschungsprojekt zu unterstützen, das diese bis vor kurzem noch wenig beachtete Fürsorgepraxis der frühen Bundesrepublik Deutschland ausleuchtet und insofern einen weiteren, wichtigen Aspekt der Geschichte der Heimerziehung beschreibt. In Kooperation mit der Evangelisch-Theologischen Fakultät hatte sich die KatholischTheologische Fakultät bereits früh und intensiv mit der Geschichte der Heimerziehung befasst. Diesem neuen Projekt kam dabei besonders zugute, dass mit dem Franz Sales Haus in Essen auch eine andere Behinderteneinrichtung mit ähnlichen Anfragen konfrontiert wurde. Auch hier bestand dringender Aufklärungsbedarf. Die Einbeziehung von zwei Einrichtungen in das Projekt ergab Vergleichsmöglichkeiten und steigerte die Belastungsfähigkeit der Befunde. Wichtig war, dass beide Einrichtungen das von Dr. Bernhard Frings durchgeführte Projekt außer durch den vollen Zugang zu ihren Archiven auch bei der Suche nach ehemaligen, in den Häusern untergebrachten Heimkindern wie auch ehemaligen Erziehenden, vor allem mit Blick auf die Durchführung und Dokumentation von Interviews, engagiert unterstützt haben. Das hier vorgelegte Buch ist im Rahmen des vergleichenden Forschungsprojekts entstanden, befasst sich aber speziell mit der Geschichte des St. Vincenzstiftes in Aulhausen und in einer Art Exkurs mit der heute damit in Verbindung stehenden Jugendhilfe-Einrichtung Marienhausen. Es legt die Ergebnisse des Projekts mit Blick auf die

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spezifischen Verhältnisse dieser Einrichtungen zwischen dem Ende des Dritten Reichs und den 1970er Jahren offen. Die Studie belegt, in welch großem Umfang „Heimzöglinge“ und „Schwachsinnige“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland nach wie vor zu den buchstäblich weggeschlossenen Randgruppen der Gesellschaft zählten: Gerade die Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung sollte sowohl aus der Sicht der Einrichtungen als auch der umliegenden Bevölkerung möglichst wenig Bezüge zur „Welt draußen“ haben, woraus sich eine beträchtliche Abschottung dieser Anstalten ergab. Heute mindestens ebenso erschreckend wie kaum nachvollziehbar erscheint uns die in den frühen Jahren des Bundesrepublik Deutschland lange Zeit maßgebliche, damals durchaus psychiatriewissenschaftlich gedeckte Sichtweise von „Behinderung“, mit der die auch in Aulhausen untergebrachten Kinder und Jugendlichen klassifiziert wurden. Von Amtsärzten und in Landeskliniken gestellte Diagnosen wie „moralischer Schwachsinn“ zeigen eine bis ins Kaiserreich zurückreichende Tradition, die im Dritten Reich für viele „Zöglinge“ fatale Folgen hatte und dennoch vereinzelt bis in die 1970er Jahre zu konstatierende Kontinuitäten besaß. Praktisch bedeutete dies für viele Männer und Frauen, dass zu dem an sich schon bedrückenden Stigma des Heimkindes spätestens nach Einsicht in die eigenen Bewohner-Akten das zusätzliche Stigma trat, in einer „Schwachsinnigen“-Anstalt untergebracht gewesen zu sein – oft mit schwerwiegenden biographischen Folgen. Eine Besonderheit der hier beschriebenen Vorgänge ist die Person des Direktors Rudolf Müller (1957-1970). Die bisher vorliegenden, allgemeinen Forschungsergebnisse zu den Verhältnissen in der Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik hatten schon erkennen lassen, daß bei allen gewissermaßen flächendeckend strukturellen Mängeln der Heimerziehung immer auch die jeweilige Persönlichkeit des Erziehers bzw. der Erzieherin wie auch die Stellung des ehemaligen Heimkindes innerhalb des Heimkosmos von sehr großem Gewicht für die konkrete und erinnerte Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen war: So konnten in derselben Einrichtung von Gruppe zu Gruppe sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Schwerste Missstände konnten dort entstehen, wo offenbar keine ausreichende interne wie externe Kontrolle erfolgte und die „Zöglinge“ tatsächlich vollständig ausgeliefert waren. Besonders dramatisch ist deshalb der Umstand einzustufen, dass sich im St. Vincenzstift der Direktor über seine gesamte Amtszeit hinweg immer wieder selbst sexuel-

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vorwort

ler Übergriffe schuldig machte, bevor er seinem Leben ein Ende setzte. An den Abgründen seiner Person gelangt allerdings eine historische Analyse, die primär an übergreifenden Strukturen, Prozessen und Denkformen von Akteuren und Institutionen ausgerichtet ist, an ihre methodischen Grenzen. Kriminologische und psychologische Einsichten bei der Einschätzung des Direktors sind an anderer Stelle zu leisten. Das „große Ganze“ und das Einzelschicksal begegnen sich in diesem Buch. Die Gespräche mit Zeitzeugen – darunter Opfer von Misshandlungen und sexualisierter Gewalt – lassen den Historiker und die Historikerin mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Die Rekonstruktion und Erinnerung vermag die Verhältnisse, Vorgänge und Schicksale in den Heimen und Anstalten nicht ungeschehen zu machen. Erst recht kann es nicht angehen, die zweifellos großen Leistungen, die an diesen Orten für so viele Mitmenschen erbracht wurden, dagegen aufzurechnen. Aber wir hoffen, dass wir dazu beitragen können, das lange Zeit hinter Anstaltsmauern verdrängte Unrecht ins gemeinsame öffentliche Bewusstsein zu rücken und so den Blick für die blinden Flecken unserer Geschichte und unserer Gegenwart zu schärfen. Wilhelm Damberg

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Einleitung Erst in den letzten etwa zehn Jahren haben nicht zuletzt die massiven Vorwürfe ehemaliger Heimkinder dazu geführt, dass die oftmals schlimmen Verhältnisse innerhalb der Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland während der 1950/60er Jahre nachhaltig öffentlich wahrgenommen wurden. Damit verbunden war eine vielschichtige Debatte auf gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Ebene und letztlich die Anerkennung des von den Betroffenen erlittenen Leids und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart.1 Obwohl bereits Ende der 1960er Jahre die im Zuge der Jugend- und Studentenproteste initiierten Heimkampagnen viele Missstände in der Heimerziehung angeprangert hatten, scheint erst jetzt die Zeit dafür „reif “ gewesen zu sein. Denn mit den in den 1970er Jahren langsam eingeleiteten Veränderungen war keine breite Auseinandersetzung hinsichtlich der Ursachen und Verantwortlichkeiten wie auch der individuellen Folgen für die Betroffenen verbunden.2 Allerdings galt auch die aktuelle mediale, politische und wissenschaftliche Heimkinder-Debatte zunächst fast nur den im Rahmen der Jugendwohlfahrtsgesetzgebung arbeitenden Kinder- und Erziehungsheimen, sodass etwa Lehrlings- und Jugendwohnheime, aber auch Behindertenund psychiatrische Einrichtungen, die ebenfalls Berührungspunkte zur Jugendfürsorge hatten, praktisch nicht beachtet wurden. Dann aber meldeten sich u.a. auch ehemalige Bewohner des St. Vincenzstifts, einer Einrichtung der Behindertenhilfe in Rüdesheim-Aulhausen, zu Wort, die die dort bis etwa 1970 erlebte Erziehungspraxis heftig kritisierten. Wie für viele Heime überliefert, berichteten sie nicht nur über schwere körperliche Züchtigungen und demütigende Strafen, sondern ebenso über Medikamenten-Missbrauch und sexualisierte Gewalt. Dabei standen die damaligen Betreuungsverhältnisse im St. Vincenzstift schon einmal in der Kritik, da viele dieser Vorwürfe den Schil1

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So befasste sich etwa 2009/10 der vom Bundestag eingerichtete „Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ mit den vielschichtigen Fragen der Thematik, auf dessen Empfehlung dann Anfang 2012 ein von Bund, Ländern und Kirchen ausgestatteter „Fonds Heimerziehung“ installiert wurde. Für die konfessionelle Heimerziehung mit einem allgemeinen Forschungsüberblick und weiter führender Literatur: Bernhard Frings/Uwe Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975, Münster 2012; Wilhelm Damberg/Bernhard Frings/Traugott Jähnichen/Uwe Kaminsky (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster 2010.

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derungen entsprachen, die Alexander Markus Homes 1981 in seiner literarisch verarbeiteten und verfremdeten Heimbiografie geschildert hatte und die 2012 in einer erweiterten Neuauflage erschienen ist.3 Trotz des so geweckten und über mehrere Jahre anhaltenden durchaus auch überregionalen öffentlichen Interesses sowie gerichtlicher und jugendbehördlicher Untersuchungen und Konflikte kam es in den nachfolgenden fast 30 Jahren weder von staatlicher noch von Trägerseite zu weitergehenden Analysen der vormaligen Betreuungsverhältnisse. Die erneuten Anschuldigungen im Zuge der aktuellen Heimkinder-Debatte führten nun jedoch u.a. dazu, dass das St. Vincenzstift gemeinsam mit dem Essener Franz Sales Haus Gegenstand einer vergleichenden geschichtswissenschaftlichen Studie wurde.4 Diese Vorwürfe betrafen weitgehend die Nachkriegszeit bis zum Tod Direktor Müllers im Jahr 1970. Unter der Leitung seines Nachfolgers Prof. Dr. Dr. Franz Kaspar, Priester des Bistums Limburg, war es im St. Vincenzstift wie insgesamt in der Heimerziehung und Behindertenhilfe der Bundesrepublik zu tiefgreifenden strukturellen und pädagogischen Veränderungen gekommen. Daher wurde der Untersuchungszeitraum der Studie auf die Jahre 1945 bis 1970 gelegt, wenn auch viele, gerade mentale Wandlungsprozesse in den 1970er Jahren selbstverständlich nicht schlagartig und umfassend zum Ziel führten.5 3

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Vgl. Alexander Markus Homes, Prügel vom lieben Gott. Eine Heimbiographie, Bensheim 1981 (erweiterte Neuauflage: Aschaffenburg 2012). In der Neuauflage beschreibt der Verfasser seine damaligen Aktivitäten und die daraus entstandenen Konflikte mit der Einrichtung bis hin zu mehreren Gerichtsverfahren. Zur methodischen Verarbeitung der Biographie im Rahmen dieses Projekts siehe weiter unten. Die auf das Franz Sales Haus bezogenen Untersuchungsergebnisse wurden publiziert in: Bernhard Frings, Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1945. Strukturen und Alltag in der „Schwachsinnigen-Fürsorge“, Münster 2012. Der Umstand, dass das Gesamtprojekt die Geschichte von zwei bedeutenden katholischen Einrichtungen in diesem caritativen Feld in Deutschland untersuchen konnte, ermöglichte es, offenbar allgemein verbreitete Phänomene von z. B. spezifischen Missständen zu unterscheiden. Entsprechend enthalten beide Einzelstudien auch sachliche Überschneidungen der Befunde, insoweit z. B. allgemeine Bedingungen des gesetzlichen Rahmens, staatlicher Ausbildungsrichtlinien oder Finanzierung und der gesellschaftlichen Einordnung, aber auch medizinisch-psychiatrische Sichtweisen und strukturelle Aspekte etwa der Aufnahmepraxis thematisiert werden. Vgl. Frings/Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion, S. 507-544. In einer demnächst erscheinenden Studie zu den Transformationsprozessen der Schwestern von Guten Hirten zwischen Kriegende und Mitte der 1980er Jahre wurde beschrieben, wie die norddeutsche Ordensprovinz in den 1970er Jahren den Entschluss fasste, sich aus dem traditionellen Feld der Heimerziehung zurückzuziehen, da u.a. die auch staatlicherseits geforderten Veränderungen nur schwer mit dem eigenen Selbst-

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Die Vorwürfe hatten zudem gezeigt, dass den so genannten „Sonderanstalten“ und darunter gerade den Einrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung innerhalb der Heimerziehung eine zunächst unterschätzte Bedeutung zukam. In diesen Anstalten befand sich anscheinend eine größere Zahl von Kindern und Jugendlichen als ursprünglich erwartet, die dort mit einer angeordneten Fürsorgeerziehung sowie aus schwierigen familiären Verhältnissen oder aus Kinderheimen von kommunalen Jugendämtern mit einer zuvor attestierten geistigen Behinderung untergebracht worden waren. Meist gab es ein Ursachenbündel aus Erziehungsschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten und massiven schulischen Problemen, das der Einweisung zugrunde lag. Unter den ärztlich-psychiatrischen Diagnosen, die diesen Schritt legitimierten, spielten auch „Psychopathie“ und „moralischer Schwachsinn“ eine wichtige Rolle. Wesentlich für diese ärztliche Sicht war nach wie vor oftmals das Abweichen von den gesellschaftlichen Normen. Immerhin listete etwa das 1968 in achter Auflage erstellte Verzeichnis des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstags über die Einrichtungen für Minderjährige in Fürsorgeerziehung unter der Rubrik der Sonderanstalten neben Anstalten „für jugendpsychiatrische Beobachtung und Behandlung“, „für Kinder und Jugendliche, die sinnesgestört oder körperbehindert sind“ auch solche „für bildungsfähige geistesschwache Kinder und Jugendliche“ auf.6 Die letzte Gruppe zählte insgesamt 126 Einrichtungen, unter denen sich etwas mehr als 30 Häuser in katholischer Trägerschaft befanden – darunter z. B. das St. Josefshaus in Herten, Haus Hall im Gescher, die St. Josefs-Anstalten in Ursberg wie auch das St. Vincenzstift. Das St. Vincenzstift wurde 1893 als „Diözesan-Idiotenanstalt“ von Prälat Matthäus Müller, dem Leiter der bereits in direkter Nachbarschaft befindlichen „Diözesan-Rettungsanstalt“ für elternlose und erziehungsschwierige Jungen, gegründet. In den ersten Jahrzehnten prägten seine unter damaligen Kriterien fortschrittliche Pädagogik auch die „Idiotenanstalt“. Indem das Haus 1905 in „Bildungs- und Pflege-Anstalt für schwachbefähigte Kinder“ umbenannt wurde, zeigte sich die ent-

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verständnis ihrer Erziehungsarbeit in Einklang zu bringen waren. (Vgl. demnächst: Kirsten Gläsel, Zwischen Seelenheil und Menschenwürde. Wandlungsprozesse weiblicher katholischer Ordensgemeinschaften in Deutschland – Die Schwestern vom Guten Hirten (1945-1985), Münster 2013) Irmgard Fricke, Verzeichnis der Erziehungsheime und Sondereinrichtungen für Minderjährige in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), 8. Aufl., Hannover-Kichrode 1968, S. III.

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scheidende Ausrichtung, die dann in den zwei Jahre später verfassten Statuten noch deutlicher zum Ausdruck kam. So hieß es zum Zweck des St. Vincenzstifts, „katholischen Knaben und Mädchen, welche geistig zurückgeblieben sind, sorgsame, liebevolle Pflege und Erziehung, und soweit sie noch bildungsfähig sind, Unterricht in den Elementarschulfächern der Volksschule und auch Anleitung zu nutzbringender Beschäftigung zu gewähren“.7 Die nachfolgende Darstellung zeichnet daher ein exemplarisches Bild eines Bereichs caritativer Behindertenhilfe, mit dem sich die Geschichtswissenschaft erst in Ansätzen befasst hat. Sie bildet deshalb einen weiteren wichtigen Baustein dieses kaum erschlossenen Forschungsfeldes.8 Zudem übernahm die Stiftung Sankt Vincenzstift 1991 die „Betreiberschaft“ des Jugendheims Marienhausen, das aus der „Diö­ zesan-Rettungsanstalt“ hervorgegangen war, sodass es sich im Rahmen des Projekts anbot, nicht nur auf die gemeinsamen Wurzeln beider Einrichtungen einzugehen, sondern auch diese seit 1924 von den Salesianern Don Boscos geleitete Einrichtung der Jugendfürsorge zwischen 1945 und 1970 näher zu betrachten und die Ergebnisse in einem Exkurs in dieses Buch mit aufzunehmen. Denn auch in Marienhausen kennzeichnete eine besondere Zusammensetzung der Belegung die Entwicklung dieser Zeitspanne, da neben der Abteilung der in Fürsorgeerziehung oder in Freiwilliger Erziehungshilfe stehenden schulentlassenen Jungen der Bereich für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in eine Art Internatsbetrieb umgewandelt wurde. Zwar gehörten auch hier auf Betreiben kommunaler Jugendämter aufgenommene Jungen zur Belegung, aber es kamen zunehmend „Private“ ins Haus, um auf Wunsch der Eltern die heimeigene Volksschule zu besuchen. Dabei unterlagen beide Bereiche einer strikten Trennung. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Strukturen zwischen 1945 und Anfang der 1970er Jahre die Betreuungsarbeit im St. Vincenzstift und im Jugendheim Marienhausen bestimmten, in welchem historischen Kontext sie standen und welche Konsequenzen sie für die 7 8

Abschrift der Satzung v. April 1907, in: Archiv St. Vincenzstift (AStV). Für das evangelische Feld: Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010; dies., „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung – der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld 2011; Ulrike Winkler, „Es war eine enge Welt“. Menschen mit Behinderungen, Heimkinder und Mitarbeitende in der Stiftung kreuznacher diakonie, 1947 bis 1975, Bielefeld 2012.

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Bewohner hatten. Daher müssen zunächst die allgemeinen rechtlichen, gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen, die die Felder der Behindertenhilfe und der Heimerziehung maßgeblich beeinflussten, seit dem 19. Jahrhundert nachgezeichnet werden. Denn wesentliche Grundlagen der ersten Nachkriegsjahrzehnte wurden bereits im Kaiserreich geschaffen und erhielten während des Dritten Reiches nicht selten eine verschärfte Ausprägung. Auch die wirtschaftlichen und räumlichen Voraussetzungen haben oftmals ältere Wurzeln. Danach geht es im Hauptteil der Studie um die Entwicklung des St. Vincenzstifts. Die Beschreibung der engen Verwobenheit mit der „Diözesan-Rettungsanstalt“ während der Gründungsphase und des weiteren Ausbaus bis zum Ende Zweiten Weltkriegs machen die spezifisch pädagogische Ausrichtung des Stifts mit dem Schwerpunkt der schulischen Förderung der Bewohner deutlich. Die Ende 1938 im Zuge der so genannten „Entkonfessionalisierung“ vorgenommene Enteignung der Anstalt bildete den Endpunkt der Auseinandersetzungen mit dem NS-Staat. Nach 1945 schließen sich die Etappen des schwierigen Neuanfangs und der erneuten Positionierung zwischen der „Schwachsinnigen-Fürsorge“ bzw. Behindertenhilfe und der Jugendfürsorge im Zusammenspiel mit den zuständigen staatlichen Stellen an. Unter dem neuen, 1957 eingesetzten Direktor Müller stand der Wandlungsprozess von der Anstalt zum Heim im Zentrum, wobei dem Haus bei der Differenzierung der eigenen Sonderschule in die Bereiche Lernbehinderte und „Praktisch Bildbare“ durchaus Pioniercharakter zukam. Des Weiteren müssen die personellen Aspekte in den Blick genommen werden. So spielten die Anzahl der dort tätigen Ordensschwestern und ihre Relation zu den weltlichen Mitarbeitern genauso eine wichtige Rolle wie ihre Qualifikation. Vor diesem Hintergrund ist auch zu beleuchten, welche Leitlinien die Bemühungen prägten und wie sich ihre konkrete Umsetzung z. B. auf das Verhalten der Erziehenden auf den Gruppen wie auch in der Schule auswirkte. Zu beachten sind ebenfalls die Wandlungen, die sich im Lauf des Untersuchungszeitraums vollzogen haben und verstärkt seit Anfang der 1960er Jahre spürbar wurden. Auf dieser Grundlage wird dann versucht, den Anstaltsalltag in seinem Ablauf wie auch bezüglich von Bezugspersonen, Ordnungsrahmen und Strafen vor allem aus der Perspektive Betroffener zu rekonstruieren. Der Exkurs über das Jugendheim Marienhausen skizziert zu Beginn kurz die Prägungen, die das Haus bis zur 1939 erfolgten Beschlagnahme durch NS-Stellen erhalten hatte und beschreibt dann im Überblick die Orientierung zwischen Fürsorgeerziehung und Internats-

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betrieb im Lauf der 1950er Jahre sowie die nur langsame und zudem hauptsächlich räumliche Aspekte betreffende Modernisierung in den 1960er Jahren. In einem zweiten Schritt werden die inneren Strukturen gerade auch in der Wahrnehmung ehemaliger „Zöglinge“, Schüler und Erziehender als auch der Einschätzung der maßgeblichen staatlichen und kirchlichen Instanzen erläutert. Letztere war von Fällen körperlicher Züchtigung und sexuellen Missbrauchs bzw. homosexueller Handlungen beeinflusst, die den Stellen bekannt geworden waren. Die Berührungspunkte des Heims mit dem Fall des Kindermörders Jürgen Bartsch brachte das Jugendheim Marienhausen zudem Anfang der 1970er Jahre in den öffentlichen Blick. Sowohl für das St. Vincenzstift als auch für das Jugendheim Marienhausen existieren anläßlich von Jubiläen verfasste Festschriften, die einen guten Überblick über die äußere Entwicklung beider Einrichtungen geben.9 Zudem wurde die Gründungsgeschichte des Stifts bereits im Kontext caritativer Bemühungen um Menschen mit einer geistigen Behinderung umfassend dargestellt.10 Darüber hinausgehend basieren die Ergebnisse der hier vorgelegten Studie zum St. Vincenzstift auf Quellen des Hauses, die in einem Archiv gesammelt und geordnet werden. Neben den beiden Bänden der von den Direktoren verfassten Haus-Chronik sind Schriftwechsel mit dem Limburger Ordinariat, den unterschiedlichen Kostenträgern und anderen zuständigen staatlichen Stellen und den kirchlichen Fachverbänden einschließlich statistischer Angaben überliefert. Auch die Aufnahmebücher für die Zeiträume von der Gründung bis zur Enteignung Ende 1938 und von 1946 bis 1970 konnten ausgewertet werden. Ebenso sind die Bewohner-Akten komplett vorhanden, die vor allem ärztliche Gutachten, Führungsberichte der Gruppenschwestern und Schulberichte der Lehrer, Krankengeschichten sowie personenbezogenen Schriftverkehr mit Jugendämtern und sonstigen Stellen enthalten. Ehemalige Bewohner gewährten Einsicht in ihre persönlichen Akten. 9

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75 Jahre St. Vincenzstift Aulhausen/Rheingau 1893 – 3. Juni – 1968. Bildungsheim mit Sonderschulen, Anlern- und Beschäftigungswerkstätten für lern- und geistig behinderte Kinder und Jugendliche, o. O. und o. J. [1968]; 100 Jahre Marienhausen von der ‚Oaschdald‘ zum Zentrum der Jugendhilfe. Jugendheim Marienhausen – Salesianer Don Boscos, hg. v. Ludger Lögers im Auftrag der Salesianer Don Boscos, Benediktbeuern o. J. [1989]. Franz Kaspar, Ein Jahrhundert Sorge um geistig behinderte Menschen. 75 Jahre Verband katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte, Bd. 1: Zeit der Gründungen: Das 19. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1980.

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Weitere das Stift betreffende Unterlagen konnten im Archiv des hessischen Landeswohlfahrtsverbandes in Kassel eingesehen werden, der seit 1953 die maßgebliche Behörde für die Bereiche der Behindertenhilfe und der Jugendfürsorge darstellte. Fragen zum Pflegesatz und zur Aufnahmepraxis waren hier ebenso tangiert wie statistische Erhebungen, Zuschüsse zu Baumaßnahmen und Besichtigungen der Einrichtung. Im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden ließen sich Akten zu polizeilichen Ermittlungen und einem Gerichtsverfahren gegen mehrere Mitarbeiter des Stifts – darunter der Direktor und die Anstaltsärztin – wegen körperlicher Misshandlungen in den Jahren 1937 bis 1939, zur heimeigenen Sonderschule und für die 1960er Jahre des Landesjugendamtes finden. Das Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland zählt ein Belegbuch des Landesjugendamtes für das St. Vincenzstift zu seinen Beständen. Die im Limburger Diözesanarchiv überlieferten Unterlagen dokumentieren vor allem die Perspektive der kirchlichen Aufsichtsbehörde über die Träger-Stiftung und ermöglichten zumindest teilweise Angaben zu den geistlichen Direktoren. Das Archiv der Deutschen Provinz der Dernbacher Schwestern bot neben der Schwestern-Chronik vor allem durch das „Gebräuchebuch“ der Gemeinschaft wichtige Einblicke in die ordensinternen Leitlinien für ihre verschiedenen Tätigkeitsbereiche. Auch wurden im Provinzhaus anhand des Filialbuchs der Gemeinschaft für das St. Vincenzstift, der Schwestern-Kartei und Nachfragen bei noch lebenden Schwestern die „Stehzeiten“ und die berufliche Qualifikation der zwischen 1946 und 1970 im Stift tätigen Schwestern ermittelt. Für das Jugendheim Marienhausen, in dem sich noch die Fall- bzw Schüler-Akten der betreffenden Jahre befinden, konnte ebenfalls in Beständen des Archivs des Landeswohlfahrtsverbandes, des Hessischen Hauptstaatsarchivs und des Diözesanarchivs recherchiert werden. So lieferten etwa Heimaufsichtsakten oder Unterlagen zu aktenkundig gewordenen Vorfällen wichtige Hinweise, und auch die wirtschaftlichen Belange ließen sich nachvollziehen. Wichtige Unterlagen befinden sich zudem im Archiv der Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos in München. So erwiesen sich etwa die Protokolle der Hausobernkonferenz des Marienhauser Konvents sowie der Austausch der Haus- mit der Provinzleitung und mit dem Bischöflichen Ordinariat in Limburg aufschlussreich. Immer wieder zeigte sich bereits in diesen unterschiedlichen Akten die Betroffenen-Perspektive, die durch eine methodisch kontrollierte Befragung ehemaliger Bewohner, „Zöglinge“ und Schüler sowie Mit-

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arbeiter gezielt erweitert wurde. Diese Interviews sollen in besonderer Weise dazu beitragen, den schriftlich oftmals nur unzureichend festgehaltenen Heim-Alltag und die biografische Verarbeitung der Erfahrungen durch die Betroffenen zu erhellen. Außerdem haben die bisherigen Projekte zur Heimerziehung gezeigt, dass ein Rekurs nur auf schriftliche Quellen nicht selten ein einseitiges Bild vermittelt. Vor dem Hintergrund, dass den Kindern und Jugendlichen während ihrer Heimzeit in der Regel nicht geglaubt wurde, wenn sie Erziehenden, Behörden oder Ermittlungsorganen etwa über erlittene Misshandlungen oder sexualisierte Gewalt berichteten11, schwiegen die meisten Betroffenen auch in den nachfolgenden Jahrzehnten über die Vorfälle. Mit dem Gefühl, dass ihr Schicksal nun Anerkennung erfährt, und sie sich zudem in einer auf das Leben zurückblickenden Phase befanden, entschlossen sich auch ehemalige Bewohner des St. Vincenzstifts und Marienhausens, über ihre oftmals traumatischen Erfahrungen zu berichten. Insgesamt kam daher den Interviews im Rahmen der Studie eine große Bedeutung zu. So wurden zum St. Vincenzstift sieben ehemalige bzw. noch aktuelle Bewohner – darunter zwei Frauen – sowie fünf ehemalige, seit Anfang der 1960 Jahre in verschiedenen Bereichen tätige Erziehende – zwei Dernbacher Schwestern und drei weltliche Mitarbeiter – interviewt. Von den Bewohnern kamen drei Ende der 1940er Jahre ins Stift. Sie leben noch heute in Wohngruppen der Einrichtung. Die übrigen waren in den 1960er Jahren bis Anfang der 1970er Jahre für zum Teil zehn Jahre im Stift untergebracht. Die ehemaligen Mitarbeiter begannen Anfang bzw. Ende der 1960er Jahre mit ihrer Tätigkeit im St. Vincenzstift, die sie, zum Teil mit Unterbrechungen, bis ins neue Jahrtausend fortführten. Neben dem Gruppendienst betätigten sie sich noch in der Schule. Zum Jugendheim Marienhausen wurden Interviews mit einem ehemaligen „Zögling“ und zwei Schülern sowie einem Salesianer-Pater durchgeführt. Ein weiterer Interviewpartner durchlief zunächst den Schul- und den Fürsorgeerziehungsbereich, um sich dann Ende der 1960er Jahre und erneut seit Anfang der 1980er Jahre selbst als Erziehender zu betätigen. Ein Schüler kam bereits Ende der 1950er Jahre nach Marienhausen, ansonsten waren die 1960er Jahre Schwerpunkt der Erinnerungen. Alle Interviews wurden in lebensgeschichtlicher Form geführt, wobei im Hintergrund ein spezifischer, auf die Schwerpunkte der Studie zugeschnittener Leitfaden mitbestimmend war. Sie sind voll transkri11

Gudrun Schramm-Arntzen, Kriminalhauptkommissarin a. D. und Mitglied der Bischöflichen Kommission für „sexuellen Missbrauch durch Geistliche“ in der Diözese Münster, an die Leitung des St. Vincenzstifts v. 24. Jan. 2010.

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biert und werden dem Archiv des hessischen Landeswohlfahrtsverbandes zur dauerhaften Überlieferung zur Verfügung gestellt. Zudem fanden die literarisch verarbeiteten, sehr eindringlich geschilderten Erinnerungen von Alexander Markus Homes Berücksichtigung. Freilich ist bei einer historischen Einordnung zu beachten, daß es auf Grund der von ihm erhobenen Vorwürfe schon zu Beginn der 1980er Jahre zu langwierigen juristischen Auseinandersetzungen kam, die sehr stark auf die damals beteiligten Personen ausgerichtet und mit individuellen Schuldzuweisungen behaftet waren und zum Teil noch sind. In der Neuauflage seiner Erinnerungen hat der Verfasser selbst diese Vorgänge ausführlich thematisiert.12 Die hier vorgelegte Studie beabsichtigt selbstverständlich nicht, die damaligen juristischen Auseinandersetzungen der betroffenen Personen fortzuschreiben. Vielmehr werden diese Erinnerungen insoweit verwandt, als sie die im Stift bestehenden Strukturen und Erziehungsmethoden aufzeigen und in ihren zeitlichen Kontext stellen sowie den Hausalltag rekonstruieren. Grundsätzlich muss in diesem Zusammenhang methodisch auch daran erinnert werden, dass im Rahmen der „oral history“ die Formung von Erinnerung gerade an lange zurückliegende Ereignisse durch den weiteren Verlauf der eigenen Biografie und Außeneinwirkungen wie etwa die derzeitige Heimkinder-Diskussion oder die teilweise vorgenommene Einsichtnahme in die eigenen Akten einbezogen wird. Dennoch erwiesen sich die mitgeteilten Details oftmals als differenziert und keineswegs nur von der Perspektive geformt, als ehemaliger Bewohner oder „Zögling“ ein möglichst schlimmes Schicksal zu beschreiben bzw. als Erziehender eine Rechtfertigung oder Beschönigung des eigenen Handelns zu liefern.13 So ist der Erkenntnisgewinn hoch einzuschätzen und das Gesagte im Folgenden in vielen Kontexten in anonymisierter Form abgebildet. Dabei wurden die Vornamen ohne System und die Abkürzung des Nachnamens in umgekehrter alphabetischer Abfolge gewählt. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die regelmäßig aufgeführten Zitate nicht nur als Belege zu verstehen sind, sondern vor allem auch die Sprache der Zeit verdeutlichen sollen. Begriffe, die teilweise bis in die 1970er Jahre hinein im amtlichen und medizinischen Sprachgebrauch üblich waren – etwa „Geisteskranke“, „Schwachsinnige“ oder „Idioten“ –, hatten damals nicht die heute diskriminierende Wertung. 12 13

Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 13-29. Frings/Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion, S. 135-169.

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Entsprechend dem Wandel im Verständnis von behinderten und psychisch kranken Menschen setzte sich dann eine begriffliche Differenzierung durch. In der folgenden Darstellung wurde für die Bezeichnung der im St. Vincenzstift untergebrachten Kinder und Jugendlichen in der Regel der heute übliche Begriff Bewohner, an einigen Stellen zur Verdeutlichung bestimmter Kontexte die auch in den Zitaten vorkommenden Begriffe „Zögling“ und „Pflegling“ verwandt. Dies trifft auch auf den Begriff Gruppe für die jeweiligen Wohnbereiche der Mädchen und Jungen zu, die bis in die 1960er Jahre hinein meist Station oder Abteilung genannt wurden.

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Behindertenhilfe und Jugendhilfe vom 19. Jahrhundert bis in die Bundesrepublik – Grundlagen zur historischen Verortung des St. Vincenzstifts und des Jugendheims Marienhausen Die Wurzeln des St. Vincenzstifts wie auch der Jugendhilfe Marienhausen liegen im 19. Jahrhundert und lassen sich in moderner Terminologie in den Fürsorgefeldern der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe verorten. Die sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ausbildenden rechtlichen, gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen dieser Betreuungsbereiche beeinflussten beide Einrichtungen zwar in unterschiedlicher Intensität, aber es waren doch nicht selten vergleichbare Entwicklungen, die sich bis in die 1960er Jahre als maßgeblich erwiesen. Trotz des gesellschaftlichen Wandels wie auch der 1961 im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) festgeschriebenen, teilweise neuen Zielrichtungen der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe wirkten sie zudem zunächst weiter fort. Denn nach wie vor erfuhren Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit Erziehungsschwierigkeiten genauso wie Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Altersdemenz nicht zuletzt wegen ihres von der Norm abweichenden Verhaltens als soziale Randgruppen im bundesdeutschen Sozialstaat nur eine unzureichende gesellschaftliche Anerkennung und Betreuung. Dies spiegelte sich gerade hinsichtlich der Unterbringung in den Anstalten und Heimen wider.14 Diese wichtigen Zusammenhänge gilt es im Folgenden etwas ausführlicher darzustellen.

Die Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts gewann eine differenziertere Betreuung geistig behinderter, psychisch kranker und an Epilepsie erkrankter Menschen in speziellen Einrichtungen an Bedeutung. Bis in diese Zeit blieben sie meist den Familien überlassen, wurden dabei oftmals 14

Vgl. Wilfried Rudloff, Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft. Umbrüche und Entwicklungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren, in: Franz-Werner Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 181-219.

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an den Rand gedrängt, versteckt, misshandelt und verspottet sowie aus den gesellschaftlichen Bezügen von Schule und Beruf ausgestoßen. Auch den bereits in dieser Zeit in Armen- oder Arbeitshäuser eingewiesenen Kranken und Behinderten ging es kaum besser, da man sie letztlich auf diesem Weg in Verwahranstalten ebenfalls isolierte. Um 1850 setzte sich dann in Deutschland parallel zum Bereich der Psychi­ atrie mit ihren neuen diagnostischen und therapeutischen Ansätzen in der Betreuung Geistesschwacher eine vorrangig pädagogische Konzeption durch. Sie betrachtete geistige Behinderung nun als Zustand und nicht mehr als Krankheit.15 Daher wurde auch eine institutionelle Trennung von den Irrenanstalten, aber auch von Bildungs- und Erziehungsanstalten gefordert. Gleichzeitig galten den Verfechtern dieser Leitlinien im Sinne von Aufklärung und Neuhumanismus alle Menschen, also auch Behinderte, zumindest in der Theorie als bildungsfähig, wobei besondere Methoden ihrer Förderung zu entwickeln waren. Aus diesem Bewusstsein heraus erwuchsen die Anfänge der Heilpädagogik. Nicht zuletzt aus der Arbeit mit Taubstummen und Blinden hervorgegangen, begann die schulische Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher in so genannten Hilfsschulen.16 Allerdings führten diese Bemühungen eher für Körperbehinderte oder Sinnesgestörte – immerhin wurde bereits 1911 die Schulpflicht für Gehörlose und Blinde eingeführt –, jedoch nur in Ansätzen bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung zu konkreten Verbesserungen.17 Denn auf diesem Feld erhielt Ende des 19. Jahrhunderts wieder der Krankheitsbegriff eine zunehmende Bedeutung, was sich auch auf die Heilpädagogik auswirkte. So wurde erneut nur noch bestimmten, besonderen Kriterien entsprechenden behinderten Kindern Bildbarkeit zugesprochen. Ärzte und Pädagogen „entschieden, ob sich Bildung noch lohnte oder nicht. Als Ausschlusskriterium wurden häufig das angeblich verminderte oder fehlende ‚seelische Vermögen‘ oder mangeln15

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Andreas Möckel, Zur Vorgeschichte, in: ders. (Hg.), Erfolg – Niedergang – Neuanfang. 100 Jahre Verband deutscher Sonderschulen – Fachverband für Behindertenpädagogik, München 1998, S. 14. Norbert Störmer, Die Entwicklung der Erziehung, Bildung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung von den Anfängen bis zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Ernst Wüllenweber/Georg Theunissen/Heinz Mühl (Hg.), Pädagogik bei geistigen Behinderungen, Stuttgart 2006, S. 13. Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München 2008, S. 124.

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de Empfindungen angeführt. Menschen mit Andersheiten, die heute als schwere geistige Behinderungen klassifiziert würden, wurden einer anthropologischen Sonderstufe zugeordnet und zu quasi tierähnlichen Wesen abgewertet. In diesen Fällen schienen nicht Unterricht oder Erziehung, sondern Pflege, Bewahrung und ‚Abrichten‘ zu einer Beschäftigung angebracht.“18 In den Anstalten unterschied man hinsichtlich der Bezeichnungen häufig zwischen „Zöglingen“ für bildungsfähige geistig behinderte Minderjährige und „Pfleglingen“ für schwerer geistig behinderten Menschen.19 Gleichzeitig kam es in Preußen zu einer auch für die Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung grundlegenden rechtlichen Veränderung. Im Juli 1891 erließ die Regierung das „Gesetz über die außerordentlichen Armenlasten“. Es verpflichtete die Landarmenverbände der preußischen Provinzen, ab 1893 u.a. alle anstaltspflegebedürftigen „Geisteskranken, Idioten und Epileptischen“ entsprechend unterzubringen und für die Kosten für die Errichtung und Unterhaltung der Anstalten wie auch der Behandlung und Pflege bedürftiger Patienten aufzukommen. Da die örtlichen Behörden, die bislang über die Anstaltspflegebedürftigkeit entschieden und konkret für die Unterbringung in einer Anstalt zu sorgen hatten, diese Verantwortung nun dem Landarmenverband der Provinz zuweisen konnten und teilweise bei den zu tragenden Kosten entlastet wurden, stieg die Hospitalisierung behinderter und psychisch kranker Menschen sprunghaft an. Neben der Errichtung eigener Anstalten griffen die Landarmenverbände zur Erfüllung ihrer Pflichten verstärkt auf die privaten, meist konfessionellen Anstalten zurück, mit denen sie oftmals feste und kostengünstige Aufnahmekonditionen vereinbarten.20 Dabei fungierten sie nach der entsprechenden amtsärztlichen Diagnose nicht nur als einweisende Behörde und Kostenträger der Anstaltsunterbringung, sondern durch regelmäßige Visitationen der Einrichtungen auch als Aufsichtsorgan. Eine Folge dieser verschiedenen Entwicklungen war in Preußen eine spürbare Verschärfung der Staatsaufsicht. 1895 wurde per Erlass der Zuständigkeits- und Aufgabenbereich der Ärzte in den Heil- und Pflegeanstalten beträchtlich erweitert. Sie sollten nun allein über die 18

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Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009, S. 38f. Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 448 u. 507. Bernhard Frings, Stift Tilbeck 1881-2006, Münster 2006, S. 41f.; vgl. auch Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen 2003, S. 46.

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Anwendung von Zwangsmitteln, die Isolierung von Kranken, etwaige therapeutische Maßnahmen sowie deren Verpflegung, Kleidung und Lagerung entscheiden und zu diesem Zweck ab einer bestimmten Bettenzahl in den Anstalten fest angestellt werden. Dem Erlass ging eine eskalierte Konfrontation zwischen Medizin und Pädagogik innerhalb der Betreuung geistig behinderter Menschen in den Anstalten voran, die, wie gesehen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von Pädagogen und Theologen getragen wurde. Unter Hervorhebung der Notwendigkeit, die pädagogische Grundausrichtung der „Idioten-Anstalten“ unbedingt aufrecht zu erhalten, wehrte sich eine Reihe von Pädagogen gegen die Folgen der neuen staatlichen Bestimmungen, die von konfessioneller Seite zudem als eine Gefährdung des Charakters christlicher Liebestätigkeit empfunden wurden. In der Folge kam es des Öfteren zu deutlicheren Abgrenzungen der „Schwachsinnigen“- von der „Irren“-Fürsorge. Auch wurden die staatlichen Vorgaben in weiteren Erlassen bereits 1896 und 1901 abgeschwächt bzw. unterschiedlich interpretiert und waren die Behörden wegen der gewachsenen Abhängigkeit von den privaten Anstalten zu Kompromissen bereit. Letztlich erwies sich aber auch in der „Schwachsinnigen“-Fürsorge vielfach das medizinisch-ärztliche Moment als maßgebliches Kriterium der Betreuungsbemühungen. Nach dem Ersten Weltkrieg regelte die 1924 erlassene „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ die organisatorischen Grundprinzipien der Fürsorge. Sie schrieb als Träger der öffentlichen Fürsorgeaufgaben die Landes- und Bezirksfürsorgeverbände fest, die nach der preußischen Ausführungsverordnung fortan durch die Provinzialverbände bzw. die Stadt- und Landkreise gebildet wurden.21 Somit konnten die privaten Anstalten meist die schon seit gut zwei Jahrzehnten bestehende fruchtbare Zusammenarbeit mit den preußischen Provinzialverbänden fortsetzen und auf der neuen gesetzlichen Grundlage nochmals intensivieren, wie es etwa auch in Hessen-Nassau der Fall war. Allgemein erhielt in dieser Zeit die Arbeitsfähigkeit der im Rahmen der Anstaltfürsorge betreuten Menschen als „Schlüssel zur Teilnahme an der Gemeinschaft des Sozialstaates“22 eine entscheidende Bedeutung. Gerade in den Anstalten in Trägerschaft der Provinzialverbände 21

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Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988, S. 146. Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, S. 205.

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galt die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit als Maßstab der Heilungskompetenz.23 Obwohl die Hilfsschulen seit dem Ende des Kaiserreichs ihre Schüler nicht nur von der Straße holen, sondern auch zur Erwerbsfähigkeit zum Nutzen der Allgemeinheit hinführen wollten, erfassten sie doch nicht die schulische Förderung von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Diese fand nach wie vor weitgehend in den Anstaltsschulen statt, und nur einige wenige öffentliche Hilfsschulen verfügten über spezielle „Sammelklassen“ für diesen Schülerkreis.24 Allerdings führte die Weltwirtschaftskrise zu großen Einbußen im Wohlfahrtsbereich, von denen auch die Anstalten etwa über eine massive Reduzierung der Pflegegelder betroffen waren. Auf Grund der an rassenideologischen Leitlinien ausgerichteten Sozialpolitik der NSDiktatur blieben diese auch nach der wirtschaftlichen Konsolidierung niedrig. Denn obwohl der Begriff „Behinderte“ erstmals während dieser Jahre in Gesetzestexten und Amtssprache gebraucht wurde sowie der seit Mitte der 1930er Jahre immer spürbarer werdende Arbeitskräftemangel diese Personengruppe einschließlich ihrer beruflichen Förderung für den Arbeitsmarkt interessant machte, galten Menschen mit stärkeren Behinderungen oder psychischen Erkrankungen als „unnütze Esser“. So orientierte sich auch das Hilfsschulwesen in zunehmendem Maß an rassenhygienischen Gesichtspunkten. Es wollte die Volksschulen entlasten und seine Schüler für die Volksgemeinschaft brauchbar machen, wie es 1938 in der „Allgemeinen Anordnung über die Hilfsschulen in Preußen“ festgeschrieben wurde.25 Durch Zwangssterilisierungen im Zuge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sollte seit 1934 gerade die Fortpflanzung derjenigen Bewohner der Anstalten unterbunden werden, bei denen als leichter Behinderte die Entlassung zu erwarten war. Obwohl die katholische Kirche Sterilisierungen grundsätzlich ablehnte und etwa Ärzten und Pflegekräften die Beteiligung an dem Eingriff verbot, befürworteten doch auch Ärzte in katholischen Anstalten erbbiologische Maßnahmen.26 Während des Zweiten Weltkriegs bedrohte die so genannte NS„Euthanasie“ die Patienten und Bewohner der Heil- und Pflegeanstal23

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Vgl. zu den hessischen Verhältnissen: Peter Sandner/Christina Vanja (Red.), Wissen und Irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg, Kassel 1999. Ellger-Rüttgardt, Sonderpädagogik, S. 206f.; vgl. auch Störmer, Entwicklung der Erziehung. Ellger-Rüttgardt, Sonderpädagogik, S. 263. Vgl. z. B. Frings, Stift Tilbeck, S. 134f., Frings, Franz Sales Haus, S. 39.

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ten. Nach neueren Erkenntnissen wurden in den Grenzen des Großdeutschen Reiches vermutlich ca. 200.000 behinderte und psychisch kranke, aber auch „als sozial auffällig eingestufte Menschen“ umgebracht.27 Vor allem die Pflegefälle, die gerade auch in caritativen und diakonischen Einrichtungen untergebracht waren, fanden im Rahmen dieses technokratisch organisierten Massenmordes den Tod. Die „Euthanasie“-Maßnahmen stellten im katholischen Spektrum für Anstalten wie Bischöfe nicht nur eine enorme moralische Herausforderung dar, sondern sie blieben in ihren psychologischen Auswirkungen auch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten von großer Bedeutung.28 Viele Anstalten erlitten zudem nicht nur teils schwere Kriegszerstörungen, sondern wurden auch in der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit etwa als Wehrmacht-Lazarett, Ausweichkrankenhaus oder für Vertriebene und Flüchtlinge fremd genutzt.29 Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wirkte das NS-Gedankengut z. B. in Institutionen der Justiz, der Hochschulen oder der psychiatrischen Anstalten fort. Dies galt ebenso bei der Sicht von Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht nur bei Ärzten, sondern auch bei vielen Bürgern. „Vorurteile, Intoleranz und offene Ablehnung durch eine unwissende Gesellschaft verurteilten geistig behinderte Kinder und ihre Eltern zu einem Dasein im Abseits.“ Wenn die Betreuung in der Familie nicht möglich war, blieb in der Regel meist nur die Verwahrung in „psychiatrischen Anstalten, Altenheimen oder Großein27 28

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Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 9. Vgl. Winfried Süß, Antagonistische Kooperation. Katholische Kirche und nationalsozialistisches Gesundheitswesen in den Kriegsjahren 1939-1945, in: Karl-Joseph Hummel/Christoph Kösters (Hg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945, Paderborn 2007, S. 336ff.; Friedrich Stöffler, Die „Euthanasie“ und die Haltung der Bischöfe im Hessischen Raum 1940-1945, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 13 (1961), S. 317325. Der Limburger Bischof Hilfrich, in dessen Diözese sich die Tötungsanstalt Hadamar und eine Reihe so genannter Zwischenanstalten befanden, protestierte zwar nicht wie Bischof von Galen in Münster in seiner berühmten Predigt vom 3. August 1941 öffentlich gegen die „Euthanasie“-Maßnahmen, verfasste aber zur gleichen Zeit eine Eingabe an den Reichsjustizminister und wies seine caritativen Anstalten an, etwaige Verlegungen in keinem Fall aktiv zu unterstützen. Indem er sich 1938 der Gleichschaltung des St. Vincenzstifts mit der Folge der Enteignung und der anschließenden Fremdnutzung widersetzt hatte, entging die Einrichtung auf der anderen Seite vermutlich dem Schicksal, innerhalb des Mordprogramms als Durchgangsanstalt fungieren zu müssen. (Vgl. Stöffler, Euthanasie, S. 320) Hans-Josef Wollasch, Ein Jahrhundert Sorge um geistig behinderte Menschen, Bd. 2: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, Speyer 1980, S. 98-133; Frings, Stift Tilbeck, S. 137-171.

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richtungen“. Die dortigen Verhältnisse waren auf Grund der während der NS-Zeit erlittenen Einbußen baulich und personell völlig unzureichend. Zudem sorgten zu geringe Pflegegelder für eine massive Unterfinanzierung. Als mit steigenden Geburtenzahlen auch wieder mehr Kinder mit einer geistigen Behinderung geboren wurden, wuchs außerdem die Nachfrage nach Plätzen in den Einrichtungen.30 Auch die Hilfsschulen hatten im NS-Staat Einbußen erlitten. „Überall mangelte es an Lehrkräften, Unterrichtsräumen sowie geeigneten Unterrichtsmaterialien. Da während des ‚Dritten Reiches‘ kaum noch Sonderpädagogen ausgebildet worden waren, fehlten vor allem heilpädagogisch qualifizierte Lehrer. Infolge des großen Lehrermangels arbeiteten in den Sonderklassen und -schulen nach Kriegsende in erster Linie ältere und nicht ausgebildete Lehrkräfte.“31 Dabei waren auch viele Hilfsschullehrer überzeugte Verfechte von Eugenik und Rassenhygiene gewesen.32 Verschärfend kam gerade für Kinder mit einer geistigen Behinderung hinzu, dass nach Kriegsende das Gesetz über die Schulpflicht von 1938 in Kraft blieb. Es sah zwar „Schulpflicht und Sonderschulzwang für Kinder mit Körper, Sinnes- und bestimmten intellektuellen Behinderungen“ vor, schloss Mädchen und Jungen „mit geistigen Behinderungen jedoch von der Beschulung“ aus. „Ansätze der Westalliierten, während der Besatzungszeit das gemeinsame Lernen als Wesenselement der Demokratisierung zu etablieren, waren gescheitert.“33 Dementsprechend gab es gerade in den ersten Nachkriegsjahren Schulangebote für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderung nach wie vor fast ausschließlich in den Anstalten. Die allgemeine sozialpolitische Entwicklung der 1950er und beginnenden 1960er Jahre war in der Bundesrepublik Deutschland durch den entstehenden Sozialstaat gekennzeichnet, der bereits im Grundgesetz seine Basis hatte. Den vorläufigen Abschluss der gesetzgeberischen Neuordnung stellte dabei das Bundessozialhilfegesetz des Jahres 1961 30

31 32

33

Berthold Budde (Bearb.), 50 Jahre Lebenshilfe. Aufbruch – Entwicklung – Zukunft, hg. v. d. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg 2008, S. 12f. Ellger-Rüttgardt, Sonderpädagogik, S. 298. Vgl. Dagmar Hänsel, Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer, Bad Heilbrunn 2006; dies., Quellen zur NS-Zeit in der Geschichte der Sonderpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 2012, S. 242-260. Bösl, Behindertenpolitik, S. 104.

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dar, das das ganze bisherige Fürsorgerecht zusammenfasste.34 Es begründete den individuellen Rechtsanspruch auf Hilfe und verpflichtete den Staat, die „Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern“35, wobei ausdrücklich auch behinderte Menschen einbezogen wurden. 1962 schrieb Hessen als erstes Bundesland die Schulpflicht für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung fest, dem sich in den folgenden Jahren die anderen Länder anschlossen. Damit war in den Heimsonderschulen meist eine Differenzierung in Klassen für Lernbehinderte und für „Praktisch Bildbare“ verbunden.36 Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 stellte dann einen entscheidenden Meilenstein für die individuelle berufliche Förderung behinderter Menschen dar, indem in der Folge etwa Berufsbildungswerke und Werkstätten für Behinderte entstanden. Damit wurde ein umfassenderes Integrationsverständnis festgeschrieben, das auch die behinderten Menschen einschließen wollte. Bezeichnender Weise wurden sie jetzt nach dem BSHG im Rahmen der so genannten Eingliederungshilfe in den Anstalten untergebracht. Im Zeichen des deutschen „Wirtschaftswunders“ standen letztlich auch die finanziellen Mittel zur Umsetzung dieses Prozesses zur Verfügung, wobei jedoch vielfach weniger die alte Bausubstanz der Einrichtungen verbessert, sondern „aufwändige Neubauten im klinischen und rehabilitativen Bereich“ geschaffen wurden.37 Allerdings wirkten sich die Zielformulierungen nicht auf alle Gruppen von Hilfsbedürftigen gleich aus. So gelang Menschen mit einer geistigen Behinderung im Gegensatz zu Kriegsversehrten zu dieser Zeit noch keine Integration in das soziale Leben der Bundesrepublik. Immerhin bevorzugten noch Anfang der 1970er Jahre in einer bundesweiten repräsentativen Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung die Heim­ unterbringung geistig behinderter Kinder gegenüber einem Leben im familiären Umfeld. Noch größer war die Zustimmung zu einer abgeschiedenen Lage dieser Anstalten. Menschen mit psychischen, geisti34

35 36

37

Andreas Wollasch, Geschichte und Geschichten der Josefs-Gesellschaft. 100 Jahre Josefs-Gesellschaft, Münster 2004, S. 135. BSHG, § 39 Abs. 3. Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt, Geschichte des Unterrichts mit Lernbehinderten, in: Herwig Baier/Ulrich Bleidick (Hg.), Handbuch der Lernbehindertendidaktik, Stuttgart u.a. 1983, S. 20-26; vgl. auch Heinz Bach, Personenkreis Geistigbehinderter, in: ders. (Hg), Pädagogik der Geistigbehinderten (= Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 5), Berlin 1979, S. 6-18; Otto Speck, Geschichte, in: ebd., S. 57-74. Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 28.

die betreuung von menschen mit einer geistigen behinderung

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gen und schweren körperlichen Behinderungen blieben bis Ende der 1960er Jahre für weite Teile der deutschen Bevölkerung Fremde, die möglichst außerhalb der gesellschaftlichen Bezüge zu betreuen waren.38 Bis in diese Zeit hinein war damit eine Sichtweise verbunden, die meist nur auf die Defizite des Behinderten gerichtet und nicht selten diskriminierend war. In ihr kam zum Ausdruck, dass er „als das letztgültig Andere und Besondere gefasst“ wurde.39 Dabei wurde Behinderung nach wie vor auch an der Fähigkeit festgemacht, am Erwerbsleben teilnehmen zu können und Rehabilitation als (Rück)Gewinnung gesundheitlicher wie beruflicher Leistung verstanden. Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung lebten jedoch ohne Schulbesuch, Arbeit und Beschäftigung im elterlichen Haushalt. Daneben gab es außer der Unterbringung in einer Anstalt mit ihren Heimschulen wie auch handwerklichen Betrieben kaum andere Hilfsangebote.40 Vor diesem Hintergrund gründeten 1958 betroffene Eltern und Pädagogen den Verein „Lebenshilfe für geistig Behinderte“, der sich fortan u.a. für den Aufbau von Sonderschulen und Werkstätten außerhalb der Anstalten einsetzte. In den 1960er Jahren ließen sich im Zeichen des Wertewandels in der deutschen Gesellschaft auch Bemühungen etwa von Politikern, Experten und Medien beobachten – die Contergan-Affäre wie auch die 1964 ins Leben gerufene „Aktion Sorgenkind“ sorgten für ein größeres öffentliches Interesse –, Menschen mit Behinderungen Freiheitlichkeit und Individualisierung sowie Selbstbestimmung und Pluralisierung von Lebensentwürfen zu ermöglichen. Als wichtige Verfechter und Sprecher in diesen Debatten traten nun vermehrt akademisch ausgebildete „kritische Fachleute wie Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heilerzieher oder Beschäftigungstherapeuten“41 auf, die mit dafür sorgten, dass sich zumindest auf wissenschaftlicher und politischer Ebene die Sicht von Behinderung von einem eher medizinischen, an der Person des Behinderten festgemachten zu einem verstärkt sozialen Erklärungsmodell wandelte.42 38

39 40 41 42

Wilfried Rudloff, Das Ende der Anstalt? Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Elsbeth Bösl/ Anne Klein (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 172f. Bösl, Behindertenpolitik, S. 127. Rudloff, Das Ende der Anstalt?, S. 172. Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 26. Bösl, Behindertenpolitik, S. 84.

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Abb. 1: Anstalten auf der „grünen Wiese“ Mitte der 1950er Jahre: im Vordergrund das Knabenheim Marienhausen, im Hintergrund das St. Vincenzstift.

Die so als Ziel formulierte „Integration“ von Menschen mit geistiger Behinderung wurde zunächst weiterhin fast nur innerhalb eines abgeschlossenen Umfeldes wie z. B. den Anstaltsschulen oder den Werkstätten für Behinderte angestrebt. Bis auf Aktivitäten der „Lebenshilfe“ fehlten zudem immer noch ambulante Hilfsangebote wie Tagesstätten oder Übergangsheime außerhalb von Familie und Anstalt.43 Daher blieb die Auslastung der Einrichtungen hoch oder nahm sogar zu, zumal viele behinderte Menschen, die mit der notwendigen Unterstützung auch ein eigenständigeres Leben hätten führen können, notgedrungen in einem Heim untergebracht wurden. So gab es etwa 1964 allein 93 Heime der Freien Wohlfahrtspflege für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung, die ca. 16.000 Plätze vorhielten.44 In Anbetracht des Mangels an Anstaltsplätzen kam es außerdem nach wie vor zu Fehlplatzierungen von behinderten Menschen in Altenheimen oder Psychiatrien. Noch 1973 waren bundesweit fast 17.500 Menschen mit einer geistigen Behinderung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht.45 43 44

45

Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 28. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hg.), Heime der Jugendhilfe im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Bestandsaufnahme, Freiburg i. Br. 1964, S. 8. Rudloff, Das Ende der Anstalt?, S. 172.

die betreuung von menschen mit einer geistigen behinderung

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Gleichzeitig gerieten im Lauf der 1960er Jahre nicht nur die oftmals völlig unzureichenden Betreuungsverhältnisse in den Anstalten, sondern auch ihre grundsätzliche Ausrichtung vermehrt in die Kritik. „Nicht allein die erschreckende Dürftigkeit und die ghettoartigen Strukturen vieler Anstalten machten in den Augen der Kritiker deren Fragwürdigkeit aus. Als Institutionen, deren Spielregeln den Ablauf und Rhythmus des Alltags diktierten, erschienen sie vielen auch als ein Ort ‚erlernter Hilflosigkeit‘.“46 Hier setzten wesentlich die in den 1970/80er Jahren vorgenommenen Verbesserungen der Betreuungsarbeit an. Mit der Verkleinerung der Gruppen auf in der Regel zwölf Bewohner, der Schaffung von Wohngruppen außerhalb der Kerneinrichtung, der Zunahme von Werkstätten für Menschen mit Behinderung für interne und externe Beschäftigte wie auch der Einstellung etwa von Freizeitpädagogen wurden wichtige Grundlagen geschaffen. Gleichzeitig bemühten sich viele Einrichtungen um eine bessere gesellschaftliche Integration.

46

Ebd., S. 176.

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Heimerziehung Die Heimerziehung in den 1950/60er Jahren basierte auf verschiedenen Traditionssträngen.47 Die Betreuung von Waisen wie auch vernachlässigter Kinder und Jugendlicher wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der wirtschaftlichen Umwälzungen zu einem wichtigen Anliegen von Kommunen, Kirchengemeinden und Stiftungen. Es waren die aus religiöser Motivation heraus von einzelnen Personen, Vereinen oder kirchlichen Verbänden ins Leben gerufenen evangelischen und katholischen Rettungshäuser, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten, die vielerorts auch noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine wesentliche Grundlage für die öffentliche Ersatzerziehung boten. Sie erwuchsen dem Bemühen, den negativen Folgen der rasanten Umbrüche jener Zeit zu begegnen. Zudem stand mit den Angehörigen der nicht selten gleichzeitig entstandenen, vor allem weiblichen Ordenskongregationen und Diakonen/ Diakonissen-Gemeinschaften das Personal für die als „gottgefällig“ angenommene Erziehungsarbeit zur Verfügung. Der Staat, der kaum und wenn doch kaum so billige Alternativen besaß, bediente sich in der Regel gerne dieser privaten und kirchlichen Initiativen. Auch noch in den 1950/60er Jahren dürften 70 % bis 80 % der Heime in konfessioneller Trägerschaft gewesen sein. Der klassische Weg einer Fremdbetreuung führte von der Aufnahme in den Waisenhäusern im Kleinkinderalter in geschlechtsgemischten Gruppen zu einer im Alter von 14 oder 15 Jahren erfolgenden Entlassung nach dem Ende der Schulpflicht, um in eine Dienst- oder Ausbildungsstelle zu wechseln. Diejenigen, die weder in der eigenen Familie noch am Arbeitsplatz eine Unterkunft besaßen, fanden in Lehrlings- und anderen Wohnheimen Aufnahme. Alternativ konnten Kinder und Jugendliche in so genannte Pflegefamilien aufgenommen werden. Doch für gut die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Erziehungsschwierigkeiten bzw. fehlenden geordneten Verhältnissen in der Familie führte der Weg in ein Erziehungsheim. Mit der Einführung des Fürsorgeerziehungsgesetzes in Verbindung mit dem BGB von 1900 fiel die Straffälligkeit als Voraussetzung für die auf gerichtliche Anordnung hin durchgeführte öffentlichen Ersatzerziehung grundsätzlich fort, die meist den Kommunal- bzw. Provinzialver47

Die nachfolgenden Ausführungen basieren weitgehend auf: Frings/Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion.

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bänden oblag. Nun betraf diese alle Minderjährigen, die in Gefahr standen zu „verwahrlosen“. Dieser Begriff kennzeichnete das Verhalten der Jugendlichen, das von den herrschenden gesellschaftlichen Normen abwich und als Aufsässigkeit eingeschätzt wurde, wie auch das Ungenügen des familiären Milieus und der elterlichen Erziehungsbemühungen. Bei den Mädchen spielte oftmals ein als auffällig betrachtetes Sexualverhalten, bei den Jungen Handlungen wie Diebstahl und Körperverletzung eine wesentliche Rolle. Letztlich ging es um eine Sozialdisziplinierung unangepassten Verhaltens.48 Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz wurde in der Weimarer Republik durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922/24 fortgeschrieben, ohne grundlegend verändert zu werden. So blieb während der 1920er Jahre der vor allem an Ordnung und Gehorsam orientierte Strafcharakter der Erziehungsheime trotz vereinzelter Reformansätze wirksam. Die NS-Zeit lässt sich hinsichtlich der Fürsorgeerziehung „als eine rassistisch überwölbte Phase“ in die Geschichte der Jugendfürsorge einordnen, wobei die „Erbkranken“, „Nichtangepassten“ und „Gemeinschaftsfremden“ ausgegrenzt wurden. Gerade die Schwererziehbaren und Verhaltensauffälligen kamen im Extremfall in ein Jugendschutzlager und waren durch Zwangssterilisierungen bedroht. So mussten in Westfalen und im Rheinland bis 1938 mehr als 6 % aller in den Heimen untergebrachten Minderjährigen diesen Eingriff erleiden. Viele Heime waren während des Zweiten Weltkriegs von Zerstörungen und Fremdnutzungen betroffen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war vielfach durch extreme Lebensbedingungen geprägt. In den Familien hatte die dauerhafte Abwesenheit der Männer die Verantwortung für die Versorgung und Kindererziehung auf die Frauen verschoben. Sie sorgten in den „Mütterfamilien“ durch Erwerbsarbeit, Hamsterfahrten in das Umland und Schwarzmarkthandel für das materielle Überleben.49 Durch Kriegsgefangenschaft spät heimkehrende Männer, durch Flucht und Vertreibung auseinandergerissene, unvollständige und neue Familien bedeuteten eine psychische Belastung, unter der viele Kinder litten. So waren zahlreiche Ehen zerrüttet und ließen „Scheidungskinder“ zurück, die wiederum in den neuen Ehen der Mütter und Väter nicht selten ausge48

49

Vgl. J. K. Detlev Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986. Vgl. Merith Niehuss, Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 316-334.

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grenzt wurden. Die Wohnungsnot und das Herumtreiben von Kindern und Jugendlichen waren ein allgemeines Zeitphänomen, zumal für sie die Lage in Schule, Ausbildung und Beruf gerade in der ersten Nachkriegszeit prekär war. Aber auch in den 1950er Jahren, als auf der einen Seite der enorme wirtschaftliche Aufschwung mit technischen Innovationen in vielen Bereichen die materielle Situation deutlich verbesserte, zeigte sich andererseits, dass diese immer spürbarer werdenden Modernisierungstendenzen in der „Findungsphase“ der Bundesrepublik nach NS-Zeit und verlorenem Krieg oftmals mit Verlust und Verfall gleichgesetzt wurden. Dem begegneten weite Teile der deutschen Gesellschaft, indem sie sich an „Wertmaßstäben“ des wilhelminischen Kaiserreichs orientierten. „Gesellschaftliche, kulturelle und strafrechtliche Normen im Verhältnis von Staat und Staatsbürger, von gesellschaftlichen Leitbildern und Individualität, in Bereichen wie Familie und Sexualität, Jugend und ‚Sittlichkeit‘, klassen-, geschlechts- und altersspezifischen Rollenzuweisungen, Bildungschancen und Arbeitsethos entsprachen noch in der Mitte der 50er Jahre in offenbar hohem Maße nach wie vor eher den in der Zeit der Jahrhundertwende entwickelten Modellen als den tatsächlichen Lebensverhältnissen der sich rapide wandelnden westdeutschen Gesellschaft.“50 Damit blieben auf christlicher Grundlage die Sekundärtugenden Disziplin, Ordnung, Gehorsam und Arbeitsamkeit verbunden mit einem ausgeprägten Autoritätsdenken als Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens maßgebliche Ziele bei der Erziehung der Jugend in Familie, Schule und Berufsausbildung. Zur Erreichung dieser Erziehungsziele galt die körperliche Züchtigung als probates Mittel. Sie war in den 1950/60er Jahren in den Familien weit verbreitet und wurde u.a. mit Rohrstock und Rute durchgeführt. Als der Bundesgerichtshof 1957 in einer Art Musterprozess den Lehrern entgegen teils vorhandener anderslautender Erlasse und Verwaltungsanordnungen das Gewohnheitsrecht der körperlichen Züchtigung zusprach, zeigte dies auch die tiefe Zementierung dieser Strafform innerhalb der deutschen Gesellschaft. Das Gericht erklärte sein Urteil sowohl historisch begründet als auch im Einklang mit dem Grundgesetz, da die körperliche Züchtigung des Lehrers weder die Würde des Menschen antaste noch seine körperliche Unversehrtheit verletze. Außerdem befürworteten auch die Eltern diese Befugnis. In der Konsequenz dieses Urteils hatte ein Leh50

Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Deutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 39f.

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rer selbst dann keine Strafverfolgung zu befürchten, wenn sein Verhalten eine Disziplinarstrafe nach sich gezogen hätte.51 Bei Heimkindern galt die juristische Einschätzung, dass die Heimleitungen die elterlichen Rechte übernähmen und daher auch deren zeitgemäßen Erziehungsmethoden anwenden dürften. Auch bestand bis 1972 zwischen den Erziehenden und den Heimkindern ein „besonderes Gewaltverhältnis“, durch das „die Grundrechte der Kinder und Jugendlichen aus – nicht näher bestimmten – erzieherischen Gründen eingeschränkt werden konnten, etwa das Recht auf Post- und Fernsprechgeheimnis. Demütigende seelische und körperliche Strafen seitens des Erziehers oder der Erzieherin legitimierte dieses ‚besondere Gewaltverhältnis‘ übrigens nicht, galt doch auch damals die ‚Menschenwürdegarantie‘.“52 Um der in der Bevölkerung häufig empfundenen Jugendgefährdung Herr zu werden, sollten zudem die Lebensräume der Jugendlichen durch permanente Kontrollen und Verbote drastisch begrenzt werden. Dies betraf neben den Feldern Freizeit, Medien und Konsum vor allem die Sexualität, für die eine strenge Abschirmung und Beobachtung gefordert wurde. Da das Sexuelle gerade für Mädchen als „zentrale Verwahrlosungsgefahr“ galt, sollten durch strikte Kontrolle frühzeitige sexuelle Kontakte verhindert werden. Hierzu diente die Überwachung gemischtgeschlechtlicher Gruppen wie auch das teilweise Eintreten für ein möglichst „getrenntes Aufwachsen der Geschlechter“, um so einen Verzicht auf Sexualität zu erreichen. Diese rigide Sexualerziehung fußte auf einem kirchlich verfochtenen Sittlichkeitsverständnis, das alle sexuellen Aktivitäten unverheirateter Minderjähriger verbot und diese als „unsittlich“ betrachtete. Dem entsprach in den 1950er Jahren das Bemühen von juristischer Seite, mit einer naturrechtlichen Fixierung den strengen Rahmen der Sittlichkeitsgesetze beizubehalten bzw. zu verschärfen – so etwa hinsichtlich homosexueller Handlungen die Auslegung durch den seit 1871 im Strafgesetzbuch verankerten § 175, der diese als „widernatürliche Unzucht“ bezeichnete.53 Als wesentliches Fundament dieser Leitlinien wurde allgemein die bürgerliche Familie betrachtet. Demgemäß erfuhren „uneheliche“ Kin51

52 53

Margret Kraul u.a., Zwischen Verwahrung und Förderung. Heimerziehung in Niedersachsen 1949-1975, Opladen u.a. 2012, S. 20. Winkler, kreuznacher diakonie, S. 224f. Michael Kandora, Homosexualität und Sittengesetz und Julia Ubbelohde, Der Umgang mit jugendlichen Normverstößen, in: Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Deutschland, S. 382 bzw. 407f.; vgl. auch Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005.

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der oftmals eine gesellschaftliche Ächtung, galten als „Kinder der Sünde“, wobei den als „moralisch minderwertig“ betrachteten Müttern triebhaftes Verhalten zur Last gelegt und diese Anschauung auch auf die Kinder übertragen wurde. Da nach dem BGB die „elterliche Gewalt“ weiterhin nicht bei den Müttern lag – in der Regel übernahm das zuständige kommunale Jugendamt die Vormundschaft – und zudem eine Reihe der ledigen Mütter bereits wegen ihrer Zwangslage zur Geburt ihrer Kinder in ein Säuglingsheim gegangen war, gelangte eine große Zahl der „unehelichen“ Kinder in ein Heim.54 Wenn man die 1969/70 im Bundestag verabschiedeten Reformen des Nichtehelichenrechts sowie des Sittlichkeitsstrafrechts als Er­ gebnis des sich dann seit Ende der 1950er Jahre vollziehenden „sexual­ moralische[n] Wandlungs- und Liberalisierungsproze[sses]“ versteht, ist auf einen wichtigen Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Zeitspanne hingewiesen. Ebenso galt dies für antiautoritäre und demokratischere Erziehungsmodelle, die etwa in der Schule vermehrt zum Tragen kamen, ohne sich jedoch in gleichem Maß auch in den Familien durchsetzen zu können. So standen traditionelle Wertmaßstäbe und kritische Gegenkonzepte nebeneinander. Die 1960er Jahre bildeten daher eine Übergangsphase, in der um die kulturelle und die politische Vormacht gerungen wurde. Erst nach langen Auseinandersetzungen, die sich am massivsten 1968 in den Studentenunruhen zeigten, entstanden neue und konsensfähige Grundlagen.55 Vor diesem Hintergrund der sich bis in die 1970er Jahre vollziehenden gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen führten die für die öffentliche Erziehung zuständigen Landesjugendämter nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit mit Billigung der Besatzungsmächte ihre Arbeit auf Grundlage des RJWG weiter. Dies umfasste auch die inhaltliche Ausprägung, indem der Begriff der „Verwahrlosung“, die sich nach immer noch weit verbreiteter Meinung etwa in Schuleschwänzen, Arbeitsbummelei, Herumtreiben oder sexuellen Verfehlungen zeigte, seine zentrale Bedeutung behielt. Demnach war ein Minderjähriger, der noch keine 18 Jahre alt war – bis 1975 begann 54

55

Sybille Buske, Die Debatte über ‚Unehelichkeit‘, in: Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Deutschland, S. 318f.; Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Heimwelten. Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in den Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers e. V. von 1945 bis 1978, Bielefeld 2011, S. 27. Herbert, Liberalisierung, S. 31.

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die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren –, per Beschluss eines Vormundschaftsgerichts in Fürsorgeerziehung (FE) zu nehmen, um die „Verwahrlosung“ zu verhüten bzw. zu beseitigen. Zudem gab es noch die Form der Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH), die von den Erziehungsberechtigten beantragt wurde. Das JWG von 1961 rückte ebenfalls nicht vom Zentralbegriff der Verwahrlosung ab und erweiterte die obligatorische Fürsorgeerziehung auf die Altersgruppe der 18- bis 21-jährigen. Der zwischen 1955 und 1975 steigende Anteil der in Heimen untergebrachten FE-„Zöglinge“ gegenüber anderen Betreuungsformen wie in einer Familien oder einer Dienststelle bei gleichzeitiger Abnahme der Gesamtzahl der angeordneten Fürsorgeerziehung könnte dafür sprechen, dass der Anteil der „Schwererziehbaren“ unter ihnen zugenommen hatte.56 Wie das RJWG schrieb auch das JWG das Prinzip der Konfessionalität fest, nach dem die Heimerziehung eines Minderjährigen möglichst in einer Einrichtung seines Bekenntnisses durchzuführen sei. Dabei waren in der Regel auch die Heime in staatlicher Trägerschaft jeweils nach den Konfessionen getrennt. Das auf Grund der Kriegszerstörungen und der Nachkriegsnot existierende große Modernisierungsdefizit innerhalb der Heimerziehung wurde in den 1950er Jahren nicht ausgeglichen. Auch blieb sie bis ins nachfolgende Jahrzehnt finanziell schlecht ausgestattet, zumal der von Seiten der staatlichen Stellen gezahlte Pflegesatz lange Zeit nicht kostendeckend war. So war es für viele Heime auch aus ökonomischer Sicht schwierig, etwa die Gruppengrößen entscheidend zu verkleinern und so durch die Schaffung eines überschaubaren, stärker auf die Individualität der Kinder und Jugendlichen ausgerichteten Gruppensystems den Anstaltscharakter vieler Heime zu beseitigen. Eine im Zuge des Wirtschaftswunders langsam beginnende Modernisierung setzte zwar neue Akzente, ohne allerdings einen schnellen und umfassenden Wandel zu erreichen. Über eine rege Bautätigkeit konnten pädagogisch wichtige Ziele wie die Schaffung von Freizeiträumen sowie die Verkleinerung der Schlafsäle – erste Heime verfügten sogar schon Mitte der 1950er Jahre über Einzelzimmer – erreicht werden. Auch die Größe der Gruppen wurde verringert, wobei diese aber stark schwankte und Ende der 1960er Jahre bereits 15 bis 20 Plätze, aber auch noch 30 bis 40 Plätze umfassen konnte. Neben den Auflockerungen der Gruppen kam es in einigen Heimen noch zu einer weiteren inneren Differenzierung durch die Schaf56

Dafür sprach auch der wachsende Anteil der Heimaufenthalte bis fünf Jahre. (Vgl. Arbeitsgruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen: Analyse der Heimreform in Hessen (1968-1983), Frankfurt a. M. 2000, S. 94)

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fung von neuen Abteilungen für Kinder und Jugendliche mit speziellen Erziehungsschwierigkeiten. Außerdem entstanden heilpädagogische Abteilungen. Diese Entwicklung führte allerdings zu einer Ballung von Problemfällen, wobei sich die Differenzierung primär auf die Schwere der „Verwahrlosung“ und Erziehungsschwierigkeit bezog. Darüber hinaus fand auch in konfessionellen Häusern bereits seit den 1950er Jahren eine äußere Differenzierung statt, indem neue Spezialheime wie heilpädagogische Heime oder Kinder- und Jugenddörfer errichtet wurden. Insgesamt blieben diese Gründungen jedoch zahlenmäßig begrenzt. Gleichzeitig fand in Anbetracht einer angenommenen Zunahme „Schwererziehbarer“ verstärkt die Psychiatrie Eingang in die Heimerziehung, die sich ihrer Diagnostik und Therapie bediente.57 Fortan wurden vermehrt Kinder und Jugendliche aus den Kinder- und Erziehungsheimen in jugendpsychiatrische oder Behinderteneinrichtungen überwiesen, die im Rahmen der Jugendfürsorge als Sonderanstalten galten. In den Heimen war der Tagesablauf in der Regel eng strukturiert. Vor allem morgendliche und abendliche Appelle in den Erziehungsheimen besaßen durchaus militärische Züge und hatten einen stark überwachenden Charakter. Großer Wert wurde auf Ordnung und Sauberkeit gelegt, die sich u.a. in der Verpflichtung der Kinder und Jugendlichen zur Mitarbeit im Heim durch sogenannte „Ämter“ zeigte. Wirkliche Freiräume für individuell gestaltete Zeiten wurden den Jugendlichen kaum zugestanden. Die religiöse Erziehung galt zumindest in der Theorie in den konfessionellen Heimen als entscheidendes Kriterium für ein erfolgreiches Ergebnis der gesamten Erziehungsbemühungen. Die Vermittlung eines „sittlichen Wertgefühls“ sollte den Kindern und Jugendlichen aus „dem Glauben heraus“ ein „Fundament“ mitgeben und so zu einem angepassten Leben innerhalb der gesellschaftlichen Normen führen. Da das leitende Erziehungspersonal in den meisten katholischen Einrichtungen aus Ordensangehörigen bestand, verband sich diese Sicht außerdem mit dem in den Ordenssatzungen festgeschriebenen Auftrag, neben dem eigenen auch für das Seelenheil der ihnen anvertrauten Minderjährigen Sorge zu tragen. Wenn bei der religiösen Formung Gott eigentlich nicht „zum Drohmittel erniedrigt werden“, sondern das Kind zuerst „den gütigen Vater in Gott erkennen lernen“ sollte58, sah dies in der Praxis oftmals anders aus. Denn gerade in den 1950er Jahren beinhaltete die reli57 58

Schmuhl/Winkler, Heimwelten, S. 73. Gustav von Mann, Grundsätze für die religiöse Erziehung, in: Friedrich Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt a. M. 1952-1966, S. 674f.

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Abb. 2: Seltenes Freizeitangebot: Lesen in der Bibliothek des Knabenheims Marien­hausen (um 1955).

giöse Erziehung „eine gewisse Drohkulisse“, durch die den Kindern und Jugendlichen ihre vermeintliche „Sündigkeit“ vor Augen geführt und auf einen alles sehenden Gott hingewiesen wurde.59 Für die konfessionellen Heime lässt sich im Lauf der 1950/60er Jahre in der Zusammensetzung des Personals ein tief greifender Umbruch beobachten, da die Zahl der aus einer Ordensgemeinschaft oder aus einem Diakonissen-Mutterhaus bzw. einer Diakonen-Brüderschaft kommenden Kräfte abnahm. So waren 1949 von 12.569 hauptberuflichen Mitarbeitern in den katholischen caritativen Heimen – darunter auch viele z. B. in der Hauswirtschaft und Ökonomie Beschäftigte – 58,2 % Ordensangehörige, 1964 von 11.049 49,2 % und schließlich 1975 von 14.834 nur noch 25,2 %. Darüber hinaus ist mit einzubeziehen, dass das Durchschnittsalter der Kräfte wegen der zunehmend größer werdenden Nachwuchsprobleme der Gemeinschaften kontinuierlich anstieg. Um dieses Problem zu lösen, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder mussten ältere Schwestern ihren Dienst verlängern oder aber weltliches Per59

Andreas Henkelmann, Religiöse Erziehung in Anstalten der Kinder- und Jugendfürsorge in den 1950er und 1960er Jahren – Das Beispiel „Maria im Klee“ in Waldniel, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat?, S. 272.

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sonal gefunden werden. Beide Lösungen bargen Probleme. Die älteren Schwestern zeigten auch in Anbetracht eines meist 24-Stunden-Dienstes zunehmend Symptome einer Überforderung. Weltliche, also nicht ordensgebundene, geschulte Kräfte waren wegen der Unattraktivität des Berufsfeldes z. B. auf Grund geringer Entlohnung, Schichtdienst oder Wohnen in der Einrichtung bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Boom, der seit Mitte der 1950er Jahre Arbeitskräfte in besser bezahlte Bereiche zog, kaum zu rekrutieren. Außerdem bestanden bei den Erziehenden oftmals Qualifizierungsdefizite. So waren etwa die in der Erziehung tätigen Ordensschwestern und Diakonissen zwar meist ausgebildet, allerdings nicht als Heimerzieherin, sondern in der Regel, wie allgemein üblich, als Kindergärtnerin oder in seltenen Fällen als Jugendleiterin. Versuche der Kompensation durch den Ausbau des Ausbildungswesens in Form von Heimerzieher/innen-Schulen sowie Fach- und Fachhochschulen liefen zwar an, doch reichten sie angesichts der schwierigen Gesamtsituation nicht aus. Es fand, allerdings nur in den größeren Heimen, zudem eine differenzierende Professionalisierung des Erziehungspersonals statt, das durch Psychologinnen und Psychologen ergänzt wurde. Je nach Größe der Einrichtung und der schulischen Situation in ihrem Umfeld richteten die Kinderheime und die Erziehungsheime entweder eine eigene Volks-/Hauptschule ein oder schickten die Kinder und Jugendlichen in kommunale Schulen. Dabei begegnete die Bevölkerung den Heimkindern des Öfteren mit Vorbehalten, was einer gemeinsamen Beschulung in einer allgemeinen Schule entgegenstehen konnte. Zudem war es offenbar nicht leicht, in ausreichender Zahl geeignete Lehrkräfte für die Heimschulen zu finden. Die Mitarbeit der Heimbewohner z. B. in der Wäscherei oder Küche bei Mädchen und in Werkstätten oder der Landwirtschaft der Einrichtungen bei Jungen war weit verbreitet und juristisch als nicht sozialversicherungspflichtige Mitarbeit abgesichert. Neben der großen Bedeutung für die Eigenversorgung der Heime galt sie auch als wertvolles erzieherisches Mittel, die Kinder und Jugendlichen zu Ordnung, Pünktlichkeit, Rücksichtnahme, Verantwortungsbereitschaft und Selbstständigkeit zu erziehen. Gleichzeitig diente sie als ein zentrales Erziehungsziel der Hinführung zur Arbeit. In den Heimen bestanden in unterschiedlichem Umfang Möglichkeiten, eine Berufsausbildung zu machen. Insbesondere in Mädchenheimen fand auch noch in den 1960er Jahren eine Verengung auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten statt, die auf die den Mädchen zugedachte

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Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. Manche Einrichtungen begannen erst langsam, auch zeitgemäßere Ausbildungsberufe wie Friseuse, Modistin oder Stenotypistin in ihr Angebot aufzunehmen. Auch in den Erziehungsheimen für Jungen blieben die Ausbildungsmöglichkeiten oftmals auf die eher traditionellen Bereiche der Landwirtschaft, Gärtnerei oder Korbmacherei begrenzt, wobei einige Heime allerdings über eine breite Palette auch moderner Lehrberufe verfügten. Die Vielfalt von Ausbildungsmöglichkeiten in Heimen bedeutete aber keineswegs, dass auch eine große Zahl der Minderjährigen diese Ausbildungen wirklich absolvieren konnte. Es hat in vielen staatlichen wie konfessionellen Heimen eine durch landesgesetzliche Regelungen bzw. Verordnungen legitimierte Strafpädagogik gegeben. Dabei betraf diese Erziehungspraxis nach den Aussagen ehemaliger Heimkinder nicht nur die Erziehungsheime, sondern ebenso die Waisenhäuser/Kinderheime. Neben offiziellen, meist in Strafbüchern zu vermerkenden Interventionen – dies sollte die Gefahr von willkürlichen Strafen eindämmen – ist eine in ihrem Ausmaß nur schwer feststellbare Menge von Bestrafungen, Demütigungen und physisch wie psychisch verletzenden Strafen sowohl durch an religiöse Gemeinschaften gebundene als auch weltliche Erziehende zu konstatieren. Sie lagen unterhalb einer in Aktenüberlieferungen festgehaltenen Ebene und haben bei den einzelnen Betroffenen Traumatisierungen hervorgerufen. Strafen fanden in so unterschiedlichen Formen wie Entzug von Vergünstigungen, Essensentzug, Isolierung/Arrest in so genannten „Besinnungszimmern“, körperliche Züchtigung und Misshandlungen – von Schlägen „auf die Erziehungsfläche“ und Ohrfeigen bis zu Prügel mit dem Rohrstock und den Fäusten – statt. Weitere Sanktionen umfassten das Abschneiden aller Haare eines Zöglings, der nach einem Fluchtversuch in ein Heim zurückgebracht wurde oder bei Bettnässern das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwäsche vor den anderen Kindern und Jugendlichen der Gruppe. Insbesondere Überforderungssituationen eines meist jungen Personals, das sich z. T. selbst bedroht fühlte, verstärkte die Zufluchtnahme zu Gewalt als letztem Mittel. Dies verknüpfte sich mit einem Ausbildungsmangel, sodass kaum andere Erziehungsmittel eingeübt oder gar bekannt waren, um mit schwierigen Jugendlichen umzugehen. Allerdings spricht manches dafür, dass die von den Angehörigen religiöser Gemeinschaften in die Erziehung eingebrachten spezifischen Wertvorstellungen, also etwa die im eigenen Leben einer Ordensschwester geforderte Demut, das Vollziehen demütigender Strafen beeinflusst haben

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könnte. So wurde den angehenden Schwestern nicht selten im Noviziat vermittelt, Ermahnungen, Zurechtweisungen und Bußen demütig anzunehmen und Empfindlichkeiten zu überwinden. Sie sollten sich für ihre Fehler selbst tadeln, bestrafen und um Buße zu bitten. Auch in den konfessionellen Heimen fanden die wesentlichen strukturellen Veränderungen erst nach den Heimkampagnen statt, die 1969 im Zuge der Jugend- und Studentenproteste ausgelöst worden waren und gerade auch die Defizite der Heimerziehung in den religiös geprägten Häusern anprangerten. Die „Heimbefreiungen“, die „im Land Hessen in besonders massiver und verdichteter Weise“ stattfanden, die Situation der Sonderheime jedoch kaum berücksichtigten60, waren allerdings weniger Auslöser als vielmehr Verstärker und Katalysatoren eines schon angelaufenen, freilich zunächst schleppend in Gang kommenden Reformprozesses. Die von Heim zu Heim sehr unterschiedlich einsetzenden Reformen verhinderten jedoch nicht, dass die Heim­ erziehung vor dem Hintergrund der umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er Jahren immer stärker als Auslaufmodell betrachtet wurde. Verhaftet in traditionellen gesellschaftlichen und theologischen Denk- und Verhaltensmustern hinkten die Erziehungsmethoden hinter dem dynamischen Wandel her, wobei die Generationenfrage auf der Leitungsebene wie auch unter den Erziehenden oftmals ein wesentliches Moment darstellte. Das konnte in Verbindung mit den verschiedenen Erzieherpersönlichkeiten dazu führen, dass selbst in demselben Heim zur gleichen Zeit sehr unterschiedliche Erziehungsstile zu beobachten waren. Vor allem die Heimkampagnen führten dann zu umfassenden gesellschaftlichen Diskussionen und zu tiefgreifenden Reformen in den 1970er Jahren, die flächendeckend aber erst in den 1980er Jahren griffen. Neben der kontinuierlichen Verkleinerung der Gruppen setzten sich Strukturen durch, die den Kindern und Jugendlichen mehr Rechte und Verantwortung zusprachen – auch hier entstanden etwa Außenwohngruppen – sowie gemeinsam mit gezielteren schulischen und beruflichen Fördermaßnahmen auf das Leben nach dem Heimaufenthalt vorbereiteten. Das 1990 verabschiedete Kinder- und Jugendhilfegesetz knüpfte folgerichtig nicht mehr an der Kontroll- und Eingriffsorientierung des JWG an, sondern stellte Unterstützung und Hilfsangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern in seinen Mittelpunkt. 60

Arbeitsgruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen, S. 16.

gemeinsame wurzeln als „diözesan-anstalten“

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Das St. Vincenzstift zwischen Kontinuität und Innovation – die 1950/60er Jahre und ihre Vorgeschichte Traditionsbildende Etappen von der Gründung bis 1945 Als 1893 Prälat Matthäus Müller in enger Anlehnung an das Limburger Ordinariat die „Diözesan-Idiotenanstalt“ ins Leben rief, besaß er als Direktor der 1861 gegründeten „Diözesan-Rettungsanstalt“ bereits große Erfahrung im erzieherischen Bereich. Seine fortschrittlichen pädagogischen Ansätze wurden auch für die maßgeblich von Dernbacher Schwestern durchgeführte Erziehung und Pflege der „schwachsinnigen“ bzw. „schwachbegabten“ Kinder und Jugendlichen wegweisend. Von Anfang an legte die Leitung des Hauses großes Gewicht auf die schulische Förderung. Dabei erlangten unter dem neuen geistlichen Direktor Aloys Faxel die in der seit 1902 „St. Vincenzstift, Bildungs- und Pflege-Anstalt für schwachbefähigte Kinder“ genannten Anstalt entwickelten Lehrmethoden wie etwa eine Vorklasse für stärker behinderte Kinder oder das „Wandersystem“ durchaus überregionale Bedeutung. So überwog in der Betreuungsarbeit lange Zeit das (heil)pädagogische gegenüber dem ärztlich-psychiatrischenden Moment, wobei immer wieder Mädchen und Jungen eher wegen ihres von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Verhaltens als einer tatsächlichen Intelligenzminderung im Haus untergebracht wurden. Mit der Übernahme des Knabenheims Marienhausen durch die Salesianer Don Boscos erlangte das Stift 1924 unter Direktor Anton Kaiser seine vollständige Selbstständigkeit wie auch für seine Schule die staatliche Anerkennung als Ersatzschule. Anfang der 1930er Jahre verschoben sich im St. Vincenzstift mit der Anstellung einer hauptamtlichen Assistenzärztin die Gewichte in Richtung einer stärker medizinischen Ausrichtung. Auch ergaben sich jetzt offenbar massive Missstände bei den Erziehungsmethoden, die 1938/39 zu polizeilichen Ermittlungen und zur Verurteilung von Mitarbeitern des Stifts führten. Im Zuge der in den hessischen Provinzen besonders forcierten „Entkonfessionalisierung“ des Anstaltswesens wurden bereits 1937 ca. 380 Bewohner zwangsweise in staatliche Anstalten verlegt. Als der NS-Staat das Stift Ende 1938 enteignete und anderen Aufgaben zuführte, mussten auch die übrigen rund 180 Bewohner das Haus verlassen. Sie kamen entweder zu den Eltern oder in andere Einrichtungen.

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Nachfolgend sollen diese Entwicklungen, die wesentliche Grundlagen für die Betreuung im St. Vincenzstift während der 1950/60er Jahre darstellten, nachgezeichnet werden.

Gemeinsame Wurzeln: „Diözesan-Rettungsanstalt“(1861) und „Diözesan- Idiotenanstalt“ (1893) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch im Bistum Limburg wesentliche Grundlagen der caritativen Tätigkeiten der katholischen Kirche ausgeprägt. Nicht zuletzt „die extreme soziale Not in den Westerwald-Gebieten“, aber auch in den Städten Frankfurt und Wiesbaden sorgten dafür, dass der Schwerpunkt der Bemühungen „in der Sorge für Waisenkinder, bzw. gefährdete und verwahrloste Kinder“ lag.61 Neben der Armenunterstützung und der Krankenpflege engagierten sich auch die beiden in der Diözese neu gegründeten Ordensgemeinschaften der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“ (1851 mit dem Mutterhaus in Dernbach)62 und der „Barmherzigen Brüder von Montabaur“ (1856) besonders auf diesem Feld. So unterhielten die Dernbacher Schwestern von Anfang an bei ihrem Mutterhaus ein Waisenhaus für Mädchen und Jungen, deren Zahl kontinuierlich anwuchs. Um die Betreuung weiter gewährleisten zu können, konzentrierte sich die Gemeinschaft nur noch auf die Erziehung der Mädchen. Für die Jungen rief der Limburger Bischof Peter Joseph Blum (1842-1884) daraufhin eine Rettungsanstalt für Jungen ins Leben, die seit 1861 in Montabaur von den Barmherzigen Brüdern geleitet wurde. Vier Jahre später übernahmen die „Väter vom Heiligen Geist“ die Betreuung der Jungen, die nun in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei Marienstatt als „Diözesanknabenrettungsanstalt zum hl. Josef “ eröffnet wurde. Nachdem 1873 infolge des Kulturkampfes die „Väter“ Preußen verlassen mussten, ging die Trägerschaft auf das Bistum Limburg über. Als Direktor fungierte nun der Pfarrer von Marienstatt, der von drei weiteren Geistlichen, vier Barmherzigen Brüdern und sechs Dernbacher Schwestern unterstützt wurde. 61 62

Klaus Schatz, Geschichte des Bistums Limburg, Mainz 1983, S. 140 u. 220. Gottfriedis Amend, Katharina Kasper. Gründerin der Kongregation der Armen Dienstmägde Jesu Christi. Schriften, 2 Bde., Kevelaer 2001/2004; dies., Bewegt von Gottes Geist. Zur Spiritualität Maria Katharina Kaspers und zur Geschichte ihrer Gemeinschaft, hg. v. d. Provinzleitung der Armen Dienstmägde Jesu Christi, Dernbach, 2 Bde., Montabaur 2005/2010.

gemeinsame wurzeln als „diözesan-anstalten“

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Unter diesen Diözesanpriestern befand sich auch Kaplan Matthäus Müller63, den der Bischof zum Assistenten und Verwalter der „Diözesanknabenrettungsanstalt St. Josef “ berufen hatte. Schon bald hatte er sich der Situation zu stellen, dass auch die Barmherzigen Brüder sowie die für die Hauswirtschaft zuständigen Dernbacher Schwestern nicht mehr im Haus bleiben durften. Auch die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich. Kaplan Müller gelang jedoch als Direktor die Konsolidierung der Erziehungseinrichtung. Nach dem Abflauen der Auseinandersetzung des preußischen Staats mit der katholischen Kirche kehrten die Dernbacher Schwestern zurück. Gleichzeitig bemühte sich nun Bischof Karl Klein (1886-1898) darum, das Kloster Marienstatt wieder in die Hände von Ordensangehörigen zu geben, wozu sich die Zisterzienser bereit fanden. Die Erziehungsarbeit übernahmen sie jedoch nicht. So blieb die Rettungsanstalt in Trägerschaft des Bistums, das das zur Gemeinde Assmannshausen zählende, 1806 säkularisierte Zisterzienserinnen-Kloster Marienhausen erwarb. 1889 fand dort die Erziehungseinrichtung, die bis 1924 von Direktor Müller geleitet wurde, ihren endgültigen Aufenthaltsort. Matthäus Müller vertrat in Anlehnung an Johannes Don Bosco (1815-1888), der als Geistlicher in Turin ein Erziehungswerk für Jungen begründet hatte, ein pädagogisches Konzept, das eine Reihe fortschrittlicher Momente enthielt.64 Zunächst strebte auch er das Erziehungsziel an, die ihm anvertrauten Jungen wieder der Gesellschaft nutzbar zu machen und zu guten Christen zu formen. Neben dem in den Anstalten seiner Zeit meist verfolgten Repressivsystem setzte er dabei jedoch grundsätzlich auf das Progressivsystem. Daher forderte er zwar ebenfalls Disziplin und Ordnung ein, hob aber doch das „väterliche“ Gespräch als wesentlichen Bestandteil der Erziehungsbemühungen hervor. Als Grundlage für dieses Konzept galten ihm Vernunft, Religion und Liebe. Ausgerichtet an der Individualität des jeweiligen „Zöglings“ waren beide Systeme in unterschiedlicher Weise anzuwenden. So zählten auch zur von ihm praktizierten Erziehungsmethode 63

64

1846 in Wicker geboren und 1873 zum Priester geweiht, wirkte Matthäus Müller zunächst ein halbes Jahr als Kaplan im Westerwald. Danach betätigte er sich bis auf eine Unterbrechung von 1882 bis 1884 als Subregens im Bischöflichen Konvikt in Montabaur auf der Leitungsebene der Diözesanknabenrettungsanstalt und des St. Vincenzstifts in Assmannshausen bzw. Aulhausen bei Rüdesheim. Prälat Müller starb 1925. Pietro Stella, Don Bosco. Leben und Werk, München 2000. Zu den Salesianern Don Boscos siehe Kapitel Marienhausen.

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Strafen, die jedoch nicht willkürlich und nur in klaren Grenzen anzuwenden waren. Immerhin erlaubte noch die 1909 vom preußischen Innenminister erlassene Strafordnung für die staatlichen Erziehungsanstalten u.a. Essensentzug von bis zu Dreiviertel der üblichen Portion, Arrest in einer gegebenenfalls verdunkelten Einzelzelle bei eingeschränkter Essensration und hartem Bettlager sowie die körperliche Züchtigung von bis zu 20 Schlägen auf Gesäß oder Rücken. Prälat Müller dagegen kritisierte diesen Strafenkatalog als zu pauschal. Denn die Strafe müsse „individuell nach dem Motiv der begangenen Tat verhängt werden, wobei das Kind möglichst „von ihrer Notwendigkeit überzeugt sein“ solle. Gerade die körperliche Züchtigung dürfe nur eine Ausnahme darstellen, da sie den Bestraften oftmals verbittere. Außerdem stumpfe sie „das Ehrgefühl ab“ und bessere „ganz selten“. Die Strafen sollten zudem nur diejenigen ausführen, die dem Kind wirklich nahe ständen, „Zöglinge über 16 Jahre sollte man überhaupt nicht schlagen“.65 Dieser Weg verlangte von den Erziehern umfassende rechtliche und soziale Kenntnisse. Des Weiteren war eine intensive religiöse Erziehung vonnöten, die von den Jungen nicht als lästige Pflicht, sondern als tragende Säule der Lebensgestaltung betrachtet werden müsse. Schließlich könne die Erziehung nur dann zum Erfolg führen, wenn sie die Liebe in den Mittelpunkt stelle und Angenommensein und Geborgenheit vermittele. Das entscheidende Beispiel fand er in der natürlichen Familie. Individualität, Vertrauen und Freude müssten maßgebliche Aspekte sein, ohne die gezielte Berufsausbildung der Jugendlichen und die Nachsorge zu vergessen.66 Seine pädagogischen Ziele fanden nicht nur Niederschlag in einer regen publizistischen Tätigkeit67, sondern auch in seinem Bemühen als Geschäftsführer des Seraphischen Liebeswerks.68 Dieser Einsatz im Rahmen der Jugendfürsorge wie auch seine konkrete pädagogische Ausrichtung führten dazu, dass Prälat Matthäus Müller in einer Traueransprache bei seinem Begräbnis als Don Bosco der Diözese Limburg bezeichnet wurde. 65

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Friedrich Stöffler, Direktor Prälat Matthäus Müller. Ein Pionier der Heimerziehung im Geiste Don Boscos (1846-1925), in: Archiv für Mittelrheinische Kirchengeschichte 14 (1962), S. 511-513. Markus Graulich, Matthäus Müller und seine Pädagogik, in: 100 Jahre Marienhausen, S. 39-43. Ein Auflistung der Schriften und Artikel Prälat Müllers in: Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 608. Vgl. Andreas Henkelmann, Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebeswerk (1899-1971), Paderborn 2008.

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Wenn Bischof Dominikus Willi (1898-1913) Prälat Müller zudem schon zu Lebzeiten den Vinzenz von Paul des Bistums nannte, würdigte er damit das gesamte caritative Wirken dieses Geistlichen. 1895 war er z. B. zum Caritas-Diözesan-Referenten ernannt worden und er zählte zu den Gründungsvätern des Deutschen Caritasverbands wie auch des Limburger Diözesancaritasverbands. So kann es nicht verwundern, dass das Limburger Ordinariat Prälat Müller zu Beginn der 1890er Jahre auch mit der Gründung einer „Diözesan-Idiotenanstalt“ betraute.69 Hintergrund waren zunächst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der preußischen Provinz Hessen-Nassau durchgeführte Erhebungen, die einen offenkundigen Bedarf an Einrichtungen für behinderte Menschen zeigten, dem in den Anstalten Scheuern und Idstein bislang weitgehend von evangelischer Seite begegnet wurde. Neben den vorhandenen konfessionellen Gegensätzen dieser Zeit war es nicht zuletzt auch die Sorge um eine angemessene katechetische Unterweisung behinderter Kinder, die in katholischen Kreisen zu Überlegungen führte, eigene Anstalten ins Leben zu rufen. So befragte 1888 die Leitung des Bistums Limburg die Kirchengemeinden der Diözese hinsichtlich der dort lebenden geistig behinderten Kinder. Die Antworten wiesen ca. 120 solcher Kinder auf, die in einer Anstalt Betreuung erfahren sollten. Darüber hinaus sprachen auch die von Direktor Müller in der „Rettungsanstalt“ gemachten Erfahrungen für die Errichtung einer Anstalt für „Schwachbefähigte“. Denn es zeigte sich immer wieder, dass in Erziehungsanstalten lebende „Zöglinge“ auf Grund ihrer als begrenzt eingeschätzten intellektuellen Fähigkeiten nicht in Normalschulen gehen könnten, sondern auf Hilfsschulunterricht angewiesen wären.70 Schließlich dürften die Planungen der Diözese durch das 1891 erlassene und 1893 in Kraft tretende Gesetz über die außerordentlichen Armenlasten beeinflusst worden sein, das, wie weiter oben gesehen, vergleichsweise sichere wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Gründung einer Anstalt erwarten ließ. Vor diesem Hintergrund wurde als materielle Basis der „Diözesan-Idiotenanstalt“ eine Stiftung errichtet. Für die entscheidende Anschubfinanzierung stellten Prälat Müller 21.000 Mark aus den Erträgen des von ihm herausgegebenen St. Franziskusblattes und der Frankfurter Stadtpfarrer Münzenberger 33.000 Mark dem Bistum zur Verfügung. So konnte in der Gemeinde Winkel im Rheingau ein Anwesen erworben werden, das die geplante Anstalt 69 70

Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 486-496. Stöffler, Direktor Prälat Matthäus Müller, S. 511; Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 520f.

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beherbergen sollte. Allerdings verhinderte der Widerspruch der dortigen Bürger, die eine Belästigung durch den Anblick der dort unterzubringenden behinderten Menschen befürchteten, wie auch des Rüdesheimer Landrats die Umsetzung der Planungen. Schließlich gelang es Prälat Müller, in der Nähe der Rettungsanstalt in Aulhausen ein Gebäude anzukaufen, und am 3. Juni 1893 begannen drei Dernbacher Schwestern mit der Betreuung der ersten Bewohner. Die Anstalt stand unter der Oberaufsicht des Limburger Ordinariats, und bis 1902 leitete Prälat Müller neben der „Rettungs-“ auch die „Idiotenanstalt“. Von Anfang an bestand eine enge Bindung zwischen der „DiözesanIdiotenanstalt“ und den Landarmenverbänden in Wiesbaden und Kassel, mit denen Direktor Müller vertragliche Vereinbarungen einging. Danach verpflichtete sich die Anstalt, von den Verbänden überwiesene katholische Kinder mit einer geistigen Behinderung oder einer Epilepsie-Erkrankung aufzunehmen, solange räumliche oder andere besondere Gründe dem nicht entgegenstehen. Seit 1894 kamen auch aus der Rheinprovinz Mädchen und Jungen nach Aulhausen, für die von Seiten der dortigen Behörde ein höherer Pflegesatz gezahlt wurde.71 Wegen der großen Nachfrage an Heimplätzen wurden mehrere Neubauten errichtet, die die Anstalt kontinuierlich vergrößerten. 1902 betreuten bereits 25 Kräfte gut 160 Kinder und Jugendliche, wobei die auf Grund der Ministerial-Anweisung von 1895 unangemeldet das Haus visitierenden staatlichen Besuchskommissionen diesen forcierten Ausbau forderten. Dagegen konnte Direktor Müller die ebenfalls verordnete Leitung der Anstalt durch einen hauptamtlichen Arzt verhindern, indem in der Nachbarschaft praktizierende Ärzte durch tägliche Besuche die medizinische Versorgung gewährleisteten, und damit die pädagogische Grundausrichtung beibehalten.

Bildungs- und Pflegeanstalt St. Vincenzstift Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich für Menschen, denen geistige Defizite zugesprochen wurden, eine Klassifizierung des Grades der Intelligenzminderung durchgesetzt, die über Jahrzehnte relevant blieb und, vom schweren Fall ausgehend, zwischen „Blödsinnigen“, „Schwachsinnigen“ und „Schwachbegabten“ unterschied. Innerhalb der Psychiatrie, die, wie oben skizziert, die Betreuung dieses Personenkrei71

Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 501f.

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ses zunehmend dem eigenen Aufgabenfeld zurechnete, galt ebenfalls eine Dreiteilung geistiger Beeinträchtigungen nach ihrer Schwere, wobei nach „Idioten“, „Imbezillen“ und „Debilen“ differenziert wurde.72 Gleichzeitig formte sich für „schwachsinnige“ oder auch „schwachbegabte“ Kinder und Jugendliche ein Bildungssystem heraus, in dem sich neben der Volksschule bzw. seit der Weimarer Republik auch Grundschule die öffentliche Hilfsschule etablierte. Diese Hilfsschulen besuchten in der Regel Schüler, „die wegen ungenügender Leistungen und meist auffälligem Verhalten in der Volksschule gescheitert waren“. Aus den „Idiotenanstalten“ kamen kaum Kinder in die öffentlichen Hilfsschulen, da sie in der Regel in den Anstaltsschulen unterrichtet wurden. Ihrem Anspruch, „eindeutig intelligenzgeschädigte Kinder aufzunehmen“, kamen die Hilfsschulen jedoch kaum nach. In der Realität waren sie „ein Sammelbecken für die unterschiedlichsten Arten von Schulversagern“, die hauptsächlich auf Grund „soziokultureller und ökonomischer Benachteiligung in der Regelschule zurückgeblieben“ waren.73 Allerdings wurden diejenigen als geistig beeinträchtigt geltenden Mädchen und Jungen, die zwar für die Hilfsschule ausreichend intelligent waren, sich aber nicht den herrschenden gesellschaftlichen Normen anpassten, als besondere Problemgruppe eingestuft. Fehlende Arbeitsamkeit, ein stark ausgeprägter Geschlechtstrieb oder Herumstreunen führten häufig dazu, dass sie letztlich in einer Anstalt untergebracht werden sollten. Damit verbunden waren die medizinisch geprägten Zuordnungen von „psychopathischen Minderwertigkeiten“ und „moralischem Schwachsinn“.74 Einer zeitgenössischen Definition zufolge musste letzterer „als völliger oder teilweiser angeborener moralischer Defekt bei genügender intellektueller Anlage“ betrachtet werden.75 „Das Konzept des ‚moralischen Schwachsinns‘ sollte sich als außerordentlich wirkmächtig erweisen – er wurde ab 1934 zu einer zentralen Indikation des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘.“76 Nach 1945 kam es zu keiner wirklich veränderten diagnostischen Sicht, sodass diese Kategorien auch im Rahmen ärztlicher Beurteilungen ihre Relevanz behielten.77 72

73 74 75 76 77

Hans-Walter Schmuhl, Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung, Berlin 2010, S. 42. Ellger-Rüttgardt, Sonderpädagogik, S. 162. Schmuhl, Exklusion und Inklusion, S. 40f. Hans Wolfgang Maier, Über moralische Idiotie, Leipzig 1908, S. 6, zit. n. ebd, S. 45. Schmuhl, Exklusion und Inklusion, S. 45 Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 145.

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Ebenfalls bereits im Kaiserreich entstand auf dem Feld der Jugendfürsorge gerade auch in Anbetracht der Auswirkungen des Fürsorgeerziehungsgesetzes von 1900 ein Diskurs über die so genannten „Unerziehbaren“, die jetzt in den Augen vieler Verantwortlicher der Jugendfürsorge vermehrt in die Heime gelangten. Da die Betreuung dieser Fälle im allgemeinen Betrieb der Erziehungseinrichtungen große Schwierigkeiten verursachte, wurden die Stimmen lauter, diese besondere, zunächst vor allem schulentlassene Minderjährige umfassende Gruppe in speziellen Heimen zu separieren. Im Rahmen der Diskussionen gewann der medizinische Aspekt immer größere Bedeutung, indem die entsprechenden Kinder und Jugendlichen als „abnorm“ und „psychopathisch“ eingeordnet wurden. Dabei attestierte man ihnen „erbliche oder erworbene Defizite“. Diese Klassifizierung führte zu einer analogen Sichtweise von Erziehungsschwierigkeit und Erbkrankheit.78 Vor diesem Hintergrund vollzog sich auch die weitere Entwicklung der „Diözesan-Idiotenanstalt“. Ihr rascher Ausbau während der ersten zehn Jahre nach der Gründung machte die Leitung durch die „Diözesan-Rettungsanstalt“ einschließlich der gemeinsamen finanziellen Verwaltung und Versorgung mit Lebensmitteln zunehmend schwieriger. Daher trennte die Limburger Bistumsverwaltung 1902 beide Einrichtungen von einander, wobei der „Idiotenanstalt“ nur ein ca. 2,5 Morgen großer Garten zugewiesen wurde. Mit Pfarrer Aloys Faxel übernahm ein eigenständiger Rektor die Führung des Hauses. 1896 bis 1899 Assistent Direktor Müllers, blieben dessen pädagogische Vorstellungen für die Betreuungsarbeit prägend. Gerade das von Prälat Müller in der Rettungsanstalt maßgebliche Prinzip der Individualisierung fand auch in der „Idiotenanstalt“ weiter Anwendung, sodass hier „dem einzelnen geistesschwachen Kind eher gerecht“, es „gezielter“ betreut und gefördert werden konnte.79 Augenscheinlich wurde dies 1905 auch für Außenstehende durch die von ihm initiierte Namensänderung von „Idioten-Anstalt Marienhausen“ in „St. Vincenzstift, Bildungs- und 78

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Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky, Die Entstehung der Fürsorgeerziehung im Rheinland (1878-1945), in: Andreas Henkelmann u.a., Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland 1945-1972, Essen 2011, S. 26, 36f. Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 524f. Immerhin hatte Prälat Müller „Richtlinien für Arbeit und Aufsicht“ der in der Anstalt untergebrachten Geistesschwachen formuliert, nach denen „Belehrung und Vormachen, sowie Ernst und Nachsicht“ nicht fehlen dürften. „Den Schwächen, Gebrechen und Ungeschicklichkeiten“ müsse „Rechnung getragen werden“. Auch müsse daher „oft Nachsicht walten“. „Schlagen ist unter allen Umständen verboten.“ (Handschrift o. D., zit. n. ebd.)

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Pflege-Anstalt für schwachbefähigte Kinder“. Auf dieser Grundlage erlangte er 1907 schließlich auch die staatlichen Kooperationsrechte der Trägerstiftung. Die zuvor verfasste Satzung gab dabei den strukturellen Rahmen vor, der in wesentlichen Punkten auch noch nach 1945 Gültigkeit besaß. So wurde als Zweck des St. Vincenzstifts festgehalten, „katholischen Knaben und Mädchen, welche geistig zurückgeblieben sind, sorgsame, liebevolle Pflege und Erziehung, und soweit sie noch bildungsfähig sind, Unterricht in den Elementarschulfächern der Volksschule und auch Anleitung zu nutzbringender Beschäftigung zu gewähren“. Als besonderes Ziel dieser Bemühungen galt die Befähigung „zur Führung eines religiös-sittlichen Lebenswandels“. (§ 1) Um diesem Zweck gerecht werden zu können, sollten staatlich geprüfte Lehrkräfte den Schulunterricht erteilen und die „noch nicht bildungsfähigen Zöglinge […] gesondert von den übrigen in eigenen Abteilungen“ gehütet und gepflegt werden. (§§ 2 und 3) Die Aufnahme sollte nur bis zum Alter von 16 Jahren möglich sein, wobei neben Kindern mit ansteckenden Krankheiten auch „Kinder, deren Veranlagung so beschaffen ist, dass sie den anderen Pfleglingen in sittlicher Beziehung gefährlich sein würden“, nicht berücksichtigt werden könnten. (§ 4) Der vom Bischöflichen Ordinariat in Limburg ernannte Direktor hatte zwar verbindlich durch die genehmigungspflichtige Vorlage von Voranschlägen und Jahresabrechnungen die wirtschaftlichen Belange mit der bischöflichen Behörde abzustimmen, vertrat aber ansonsten die Anstalt in gerichtlichen wie außergerichtlichen Angelegenheiten nach außen hin. Er hatte über „Aufnahme und Entlassung von Zöglingen sowie über alle Angelegenheiten ihres Unterrichtes und ihrer Pflege, soweit diese nicht durch die staatlichen Bestimmungen dem Anstaltsarzte übertragen“ waren, zu entscheiden. Ihm oblag die Einstellung, Beaufsichtigung und Entlassung des Personals, dem er die Dienstanweisung erteilte und die Hausordnung vorgab. Gegenüber den für „die Haushaltung und Pflege der Zöglinge“ zuständigen Dernbacher Schwestern war er diesbezüglich weisungsberechtigt.80 Rektor Faxel ging seine Leitungsaufgabe sehr zielorientiert an, indem er durch Besuche anderer vergleichbarer Anstalten vielfältige Erfahrungen für die Betreuung der Kinder und Jugendlichen im St. Vincenzstift sammelte. Schon bald zählte er zumindest im caritativen Bereich zu den führenden Köpfen dieses Feldes und daher 1905 auch zu den Gründungsvätern des „Verbands der katholischen Anstalten 80

Abschrift der Satzung v. April 1907, in: AStV.

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Deutschlands für Geistesschwache“ – die erste Tagung fand in Aulhausen statt.81 Durch weitere Baumaßnahmen schuf er zudem die räumlichen und versorgungstechnischen Voraussetzungen, dass in der Anstalt 1911, seinem Todesjahr, 226 Bewohner – 145 männliche und 81 weibliche – untergebracht werden konnten. Darunter befanden sich 108 aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden, 105 aus der Rheinprovinz und 13 auf private Kosten im Haus. Sie wurden von 22 Schwestern und 16 weltlichen Kräften versorgt. Großen Wert legte Rektor Faxel auf die schulische Unterrichtung in der anstaltseigenen Hilfsschule und die berufliche Ausbildung bzw. angemessene Beschäftigung in den Werkstätten. Zudem spielte die religiöse Hinführung der Kinder und Jugendlichen und dabei vor allem die Vorbereitung auf die Erstkommunion eine wichtige Rolle. Damit setzte er zunächst eine wesentliche Grundausrichtung des St. Vincenzstifts fort. So befand sich unter den ersten drei Dernbacher Schwestern, die 1893 zur Betreuung der geistig behinderten Kinder nach Aulhausen kamen, neben der Oberin und einer Küchen-Schwester bereits eine Schwester für die Schule, die kurz nach ihrer Ankunft mit dem Unterricht begann. Drei Jahre später erhielten schon mehr als 100 Kinder in fünf Klassen Schulunterricht. Die im Vergleich zu einer Volksschule geringe Klassenstärke ermöglichte eine bessere Differenzierung, was Direktor Faxel, der gleichzeitig als Schulleiter fungierte, weiter ausbaute. Nicht zuletzt durch die gezielte schulische Förderung der stärker behinderten Mädchen und Jungen, deren vor allem manuelle Fähigkeiten zunächst in einer Vorklasse und dann in einer dreiklassigen Vorschule erkannt und erweitert wurden, erwarb sich die „Anstaltshilfsschule“ des St. Vincenzstifts eine auch überregional beachtete Stellung. Bereits 1903 führte Direktor Faxel das „Wandersystem“ ein, indem der Deutsch- und Mathematikunterricht in allen Klassen zur gleichen Zeit stattfand und dadurch der Austausch von Schülern in Leistungsgruppen möglich wurde. Gemäß der Bedeutung, die die religiöse Erziehung für die Betreuungsarbeit einnahm, konzipierte er auf Basis eines Bilderbuches einen speziellen Lehrplan für den Religionsunterricht mit stärker behinderten Kindern. Direktor Faxel galt innerhalb der „Schwachsinnigen-Fürsorge“ als Experte, der seine Erfahrungen in Fortbildungen für Erzieher und Lehrer sowie regelmäßigen Hospitationen weitergab. Zudem richtete er Kurse für angehende Hilfsschullehrer ein. Seinem eigenen Schulkollegium, das sowohl Schulschwestern als 81

Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 503f.

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auch staatlich ausgebildete Lehrkräfte, Jugendleiterinnen und Kindergärtnerinnen umfasste, verordnete er intensiven Austausch und großes Engagement im Unterrichtsgeschehen.82 Dabei vertrat er hinsichtlich der Bildungsfähigkeit der Mädchen und Jungen des Stifts, die er an Eigenschaften wie selbsttätig und beschäftigungsfähig festmachte und zu deren Erlangung er von den Mitarbeitern besondere Geduld einforderte, großen Optimismus. Dennoch erkannte er auf der anderen Seite die Grenzen der Bemühungen, wenn er vermerkte, dass sich 42 der 226 Bewohner des Jahres 1911 nicht allein an- und auskleiden sowie 12 nicht allein essen könnten und 32 inkontinent seien. Auch wies er auf die Folgen für die an epileptischen Krämpfen leidenden Mädchen und Jungen hin, die mit der Zeit zu einer sehr starken geistigen Behinderung führten und letztlich auch nicht mehr den Kommunion-Empfang zuließen. Schließlich verlören geistig behinderte Kinder weitaus schneller wieder ihre erworbenen Kenntnisse, wenn sie nicht ständig wiederholt würden.83 1911 wurde Kaplan Anton Schuhmacher, der als ehemaliger Assistent Prälat Müllers in der Rettungsanstalt ebenfalls eine entsprechende pädagogische Prägung genossen haben dürfte, neuer Direktor des St. Vincenzstifts. Schon bald durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs gefordert, verließ er jedoch 1917 krankheitsbedingt wieder das Haus. Ihm folgte Pfarrer Anton Kaiser nach, der unter den äußerst schwierigen Verhältnisse in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren vor allem die Versorgung der Bewohner sicherstellen musste, von denen auch eine Reihe aus dem Bereich der Jugendfürsorge untergebracht worden waren. Für eine solche gezielte Aussonderung bestimmter Gruppen von Kindern und Jugendlichen aus den Erziehungsheimen stand in Hessen-Nassau besonders die Einrichtung eines „Psychopathinnenheims“ für Mädchen im Alter von 14 bis 24 Jahren in Hadamar, das „im Überschneidungsbereich zwischen Pädagogik und Medizin, im heilpädagogischen Feld also“, zu verorten war und fortan als „Heil- und Erziehungsanstalt“ firmierte.84 82

83 84

Beitrag Rektor Kollczeks zum Bildungsauftrag der Heimsonderschule des Stifts, in: 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe. Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 512. Vgl. Gabriele Kremer, „Sittlich sie wieder zu heben …“. Das Psychopathinnenheim Hadamar zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik, Marburg 2002, S. 13 u. 25. Wegen fehlender eindeutiger diagnostischer Kriterien wurden immer auch Formen von „Schwachsinn“ herangezogen. Dabei „spielte eher der subjektive Eindruck eine Rolle, dass die Person ‚zurückgeblieben‘ – und das hieß letztlich kaum mehr als auf-

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Als rechtliche Grundlage dieser Grenzüberschreitungen von Jugendfürsorge und Psychiatrie bzw. „Schwachsinnigen-Fürsorge“ diente dann das RJWG von 1922. § 73 RJWG sah „die vorzeitige Entlassung eines Minderjährigen wegen Unausführbarkeit der Fürsorgeerziehung aus Gründen, die in der Person des Minderjährigen liegen“ dann für erlaubt an, wenn seine „anderweitig gesetzlich geregelte Bewahrung“ gewährleistet war. Grundsätzlich sollte zudem nach § 70 die Unterbringung in Fürsorgeerziehung „unter ärztlicher Mitwirkung erfolgen“. „Minderjährige, die an geistigen Regelwidrigkeiten leiden (Psychopathie, Epilepsie, schwere Erziehbarkeit usw.) oder an schweren ansteckenden Erkrankungen (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten usw.) sind, soweit es aus hygienischen oder pädagogischen Gründen geboten erscheint, in Sonderanstalten oder Sonderabteilungen unterzubringen.“85 Spezielle Bewahranstalten für die „Unerziehbaren“ wurden zwar kaum eingerichtet. Aber nun bestand für die maßgeblichen Jugendämter ein gesetzlicher Rahmen, als schwererziehbar und/ oder verhaltensauffällig eingestufte Minderjährige auf Grundlage einer entsprechenden ärztlichen Diagnose in eine Anstalt für Menschen mit einer geistigen Behinderung zu überweisen. 1924 erlangte das St. Vincenzstift mit dem Übergang des Knabenheims Marienhausen auf die Salesianer Don Boscos nicht nur die vollständige Selbstständigkeit, sondern Direktor Kaiser entschloss sich auch, größere landwirtschaftliche Nutzflächen des Heims zu erwerben. Der Überfüllung der Anstalt versuchte er mit An- und Umbauten zu begegnen. Durch einen neu errichteten Flügel wurden die bislang allein stehenden Gebäude miteinander verbunden. Auch die Kirche, die Küche und der Theatersaal wurden neu gebaut sowie der Klausurbereich der Schwestern und die Schule erweitert. Dabei stieg die Zahl der Be-

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fällig – war. Auch renommierte Psychiater formulierten deshalb deutlich, dass sie bei leichteren Schwachsinnszuständen den ethischen Defekt für weitaus auffälliger hielten als die intellektuelle Minderbegabung und hoben damit die Grenze zwischen Psychopathie und Schwachsinn tendenziell auf. Einige Autoren nahmen überdies die Nachweisbarkeit eines isolierten so genannten moralischen Schwachsinns oder Irrsinns an. […] Auch wenn viele Psychiater eingeschränkte intellektuelle Kompetenzen als zentrales Symptom für Schwachsinn anerkannten, konnte die Diagnose also unter Umständen auch Personen bezeichnen, bei denen sich kaum beziehungsweise keine Intelligenzdefekte nachweisen ließen. Wie zu zeigen sein wird, hatte die auf theoretisch äußerst fragwürdigen Füßen stehende Unterscheidung zwischen Schwachsinn und Psychopathie für die mit den Diagnosen belegten Personen allerdings nachhaltige Konsequenzen.“ (S. 28f.) Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1922, Teil I, S. 646.

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wohner von 254 Mädchen und Jungen bei Kriegsende über 288 im Jahr 1925 bis 1930 auf 474 – darunter ca. zwei Drittel Jungen und ein Drittel Mädchen. Da auch der Anteil der schwerer Behinderten und an Epilepsie Erkrankten unter ihnen wuchs, wurde 1928 neben der Pflegeabteilung der Jungen auch eine für Mädchen eingerichtet. In diesem Jahr betreuten 30 Schwestern, 7 Handwerker und Aufseher sowie 17 Dienstmädchen die Bewohner. Außerdem konnte 1932 einige Kilometer vom Stift entfernt das ehemalige Kloster Nothgottes erworben werden, in dessen Räumlichkeiten ebenfalls ein Pflegehaus eingerichtet wurde. Die Nutzung der dortigen Landwirtschaft verbesserte gleichzeitig die Eigenversorgung der gesamten Anstalt.86 Aufbauend auf den Bemühungen Direktor Faxels legte auch Direktor Kaiser ein besonderes Schwergewicht auf die schulische Förderung gerade der stärker geistig behinderten Mädchen und Jungen des St. Vincenzstifts. In einem später publizierten Vortrag, den er 1924 auf der Tagung des „Reichsverbands katholischer Anstalten Deutschlands für Abnorme“ zum Thema „Wie machen wir unsere schwachsinnigen Kinder unterrichtsfähig?“ gehalten hatte87, legte er den Bildungsplan dar, nach dem in der dreiklassigen „Vorschule“ des Stifts unterrichtet wurde. Diese war den sechs aufsteigenden Hilfsschulklassen vorgeschaltet und wollte die Schüler zur Teilnahme am eigentlichen Hilfsschulunterricht befähigen. Durch eine gezielte, geduldige und anschauliche Sinnesschulung sollten die Kinder zur Selbsttätigkeit und zur sinnvollen Anwendung des Gelernten sowie schließlich zur Gewöhnung an das allgemein geforderte Sozialverhalten und das Erlernen der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens hingeführt werden. Als grundsätzliche Regeln für den Unterricht hielt er fest: „Gehe vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, lasse die Gegenstände wirken durch ihren Kontrast, verliere dich nicht in der Menge der Gegenstände und knüpfe bei allem möglichst an den Erfahrungskreis des Kindes an.“88 Auf dieser Grundlage erhielt die „Anstaltshilfsschule St. Vincenzstift“ 1924 die staatliche Anerkennung als Ersatzschule, nachdem die Schu86 87

88

Kaspar, Zeit der Gründungen, S. 507, 525ff. u. 572. Anton Kaiser, Wie machen wir unsere schwachsinnigen Kinder unterrichtsfähig, Freiburg i. Br. 1924. Ebd., S. 6.

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le visitiert worden war. Demnach galten die Räumlichkeiten der Schule wie auch die Lehrmittel als ausreichend für die Unterrichtung der im Stift aufgenommenen Kinder, „die wegen geistiger Defekte im Elternhaus und in der öffentlichen Volksschule die notwendige Pflege nicht erhalten können. Die meist debilen Kinder werden entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Anlagen unterrichtlich in kleineren Abteilungen zusammengefasst. Der Stoffplan sieht ihre Förderung entsprechend dem Hilfsschulplan vor.“89 In den nachfolgenden Jahren baute Direktor Kaiser vor allem die Fördermöglichkeiten für die stärker behinderten Kinder und Jugendlichen weiter aus, indem er „Werkklassen“ einrichtete, in denen auch für die Vorschule zu schwache Mädchen und Jungen eine Arbeitsbefähigung bekommen sollten, bewegungstherapeutisch arbeitete und 1934 eine „Sonderklasse“ schuf. Hier erhielten die mit der Beendigung ihrer Schulpflicht aus unteren Klassen ausgeschulten Jugendlichen im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiteren Unterricht, der sie für das spätere Leben in Gesellschaft und Beruf ertüchtigen wollte. Der damit verfolgte Weg, der etwa die Einführung des Werkunterrichts wie auch spezielle Lehrmittel zur religiösen Unterweisung der schwerer Behinderten umfasste, wirkte auch nach außen, indem angehende Hilfsschullehrer in der Aulhauser Schule hospitierten. Wie auch für die in ihrer Ausrichtung vergleichbaren nassauischen Anstalt Kalmenhof in Idstein90 konstatiert, standen die im St. Vincentstift verfolgten Bemühungen der schulischen und beruflichen Förderung für den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandenen Optimismus der Heilpädagogen hinsichtlich der Erziehbarkeit eines jeden Menschen.91 Allerdings gewann wie dort auch im Stift der medizinisch-psychiatrische Bereich bei der Betreuungsarbeit an Bedeutung. 89 90

91

Konzession v. 1. Mai 1924, zit. n. 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe. Außer dem Kalmenhof, der sich in Trägerschaft eines überkonfessionellen Vereins befand, und der privaten Heilanstalt Katzenelbogen gehörten um 1930 zum Kommunalverband Wiesbaden die Landesheilanstalten Eichberg und Herborn, die Landesheil- und Erziehungsanstalt Hadamar, das Nassauische Kindersanatorium Weilmünster, in evangelischer Trägerschaft die Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern und die Heil- und Pflegeanstalt Hephata in Treysa sowie in katholischer Trägerschaft das St. Valentiushaus in Kiedrich und das St. Vincenzstift in Aulhausen (vgl. Christian Schrapper/Dieter Sengling (Hg.), Die Idee der Bildbarkeit. 100 Jahre sozialpädagogische Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, Weinheim/ München 1988, S. 370, Anmerkung 28). Claudia Heckes, Der Fall Rosalinde K. Traditionen des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderten und anderen Normabweichenden, in: ebd., S. 48.

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Jedenfalls wurde 1932 erstmals eine hauptamtlich tätige Assistenzärztin in der Aulhauser Anstalt angestellt, wobei die ärztliche Leitung anscheinend weiterhin beim in Lorch praktizierenden Dr. Hilf lag. Dieser Schritt dürfte aber auch auf Grund der mittlerweile erreichten hohen Belegung des Hauses notwendig geworden sein.92 1896 geboren, war sie nach verschiedenen Stationen in staatlichen Heilanstalten Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und kam von der ebenfalls im Rheingau gelegenen Heilanstalt Eichberg nach Aulhausen. Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Lebenswegs eines Mitte 1937 nach zweijährigem Aufenthalt vom St. Vincenzstift zum Kalmenhof verlegten Mädchens wurde auch auf die im Stift angelegte Krankenakte Bezug genommen. Zumindest in diesem Fall wurde deutlich, dass für die Beurteilung des Mädchens vor allem ihr als von der Norm abweichend empfundenes Verhalten maßgeblich war. Demnach sah sie der Verfasser des Kalmenhofer Berichts auf Grund des von ihr an den Tag gelegten Verhaltens als „ein deutlich schwachsinniges Mädchen mit ausgesprochen psychopathischen Zügen im Sinne einer starken Unruhe und schwerer triebhafter Enthemmung bei erheblich erschwerter gemütlicher Ansprechbarkeit“. Der Schwachsinn hätte sich schon früh in „einer verzögerten Entwicklung“ gezeigt und sei erblich bedingt.93 Obwohl das Mädchen die nach der Aufnahme im Kalmenhof vorgenommenen Tests mit gutem Ergebnis absolvierte, hatte die Diagnose Schwachsinn weiter Bestand, da vor allem ihre Arbeitsamkeit zu Wünschen übrig ließ. In der Bewertung des Falls wurde in der Studie über den Kalmenhof betont, „daß man einen sozial unangepaßten und erzieherisch unerreichbaren Menschen aus pädagogischer Hilflosigkeit für krank erklärte, um ihn in eine gesonderte Einrichtung abschieben zu können“. Dabei spielte die Intelligenz des Mädchens letztlich kaum eine Rolle, sondern es kam „allein darauf [an], ob sie bereit und in der Lage ist, diese in den Dienst einer sozialen und moralischen Besserung zu stellen. Daß sie zählen, rechnen, lesen und schreiben oder sich nach der Uhr richten kann, daß sie im Spiel mit Eifer und Freude dabei ist und die an sie gestellten Aufgaben leicht und im Nu bewältigt, ist für sich genommen ohne Belang, wenn sie nicht auch in der Arbeit Fleiß, Ausdauer und Zielstreben zeigt, in der Gemeinschaft friedlich, freundlich und fügsam ist und ihre Sachen sauber und ordentlich hält. […] Durch 92 93

In der Haus-Chronik wurde die Ärztin nicht erwähnt. Krankenbericht Rosalinde K., zit. n. Heckes, Der Fall Rosalinde K., S. 36.

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die Verwendung eines rein individuellen, biologischen Erklärungsmusters (Rosalinde ist krank, sie hat einen schlechten Charakter) können die subjektiven Probleme und Bedürfnisse, die das Mädchen in ihrem Verhalten bewusst oder unbewußt zum Ausdruck bringt, nicht wahrgenommen werden. Ihre aggressiven Äußerungen werden als Streitsucht und psychopathische Unruhe gedeutet, die Anhänglichkeit an Kameradinnen und Erzieher gilt als sexuelle Triebhaftigkeit, und die unstete Arbeitsleistung wird auf den Mangel an Willensstärke und psychischer Energie zurückgeführt.“94

Im Zeichen von NS-Ideologie, Kirchenkampf und „Entkonfessionalisierung“ Das 40-jährige Jubiläum des St. Vincenzstifts fiel 1933 in das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung. Als katholische Anstalt zur Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung war die Einrichtung in den nachfolgenden Jahren dann auch in mehrfacher Hinsicht von den neuen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen betroffen. Dabei bestimmte im Wiesbadener Bezirksverband Nassau, der sowohl als Aufsichtsbehörde wie auch als Kostenträger vieler Bewohner des Stifts fungierte, ab 1935 „die feindliche Haltung gegenüber den Kirchen“ das Vorgehen. „Insbesondere seine Anstaltspolitik ist durch ein starkes antiklerikales Movens gekennzeichnet. Zusammen mit der ‚Rassenhygiene‘ war die Kirchen- und Religionsfeindlichkeit konstitutiver Bestandteil jenes ideologischen Fundamentes, auf das sich das weitere Vorgehen gegen die kranken und behinderten Menschen gründete.“95 So mussten sich auch die Verantwortlichen der Aulhauser Anstalt den Auswirkungen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ stellen. Nachdem zunächst von Seiten des Hauses keine Anträge auf Sterilisierung von Bewohnern gestellt worden waren, drohte der Kommunalverband, bei weiterer Weigerung die in seiner Kostenträgerschaft befindlichen Kinder und Jugendlichen in andere Einrichtungen zu verlegen. Um dies zu verhindern, wurde die Blockadehaltung aufgegeben. 1935 mussten zehn, 1936 elf und 1937 sechs Bewohner des St. Vincenzstifts die Sterilisierung über sich ergehen lassen.96 In diesem 94 95 96

Ebd., S. 56f. Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 169. Ebd., S. 256.

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Zusammenhang wird es auch eine Rolle gespielt haben, dass seit 1936 der Rüdesheimer Amtsarzt, Medizinalrat Dr. Nordmann, die ärztliche Leitung des Hauses inne hatte. Denn die Sterilisierungsanträge gingen über seine Dienststelle an das zuständige Erbgesundheitsgericht. Da eigentlich regelmäßig im Haus untergebrachte Mädchen und Jungen entlassen wurden, erscheinen diese Zahlen eher gering. Allerdings hatten sich Hausleitung und Träger offenbar entschlossen, dem Stift gemäß dem Gesetz einen geschlossenen Charakter zu geben, um dadurch Sterilisierungen zu verhindern. Außer der kompletten Einfriedung des Geländes mit Drahtzäunen und Toren zählte auch die „scharfe Überwachung im geschlossenen Raum“ zu den gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen. Gerade letzteres wurde von den älteren Bewohnern als „sehr schwer empfunden“. Immerhin erteilte die Heimärztin für Ausgänge mit den Eltern „die entsprechende Erlaubnis“.97 Bei den Planungen des Kommunalverbands Nassau im Bereich der Anstaltsfürsorge, die durch einen sehr hohen Anteil von Menschen mit einer geistigen Behinderung in kirchlichen Einrichtungen gekennzeichnet war, verbanden sich die Bemühungen zu wirtschaftlichen Einsparungen mit den Bestrebungen der „Entkonfessionalisierung“. Das anvisierte Ziel, die Anstalten in eigener Trägerschaft durch eine vollständige Auslastung rentabler zu machen, wurde seit 1936 durch die Verlegungen aus den privaten, meist konfessionellen Einrichtungen umgesetzt. Zu Beginn dienten noch die Sittlichkeitsprozesse vor allem gegen die Barmherzigen Brüder von Montabaur als Vorwand.98 Der Beschluss des Landeshauptmanns vom Mai 1937, in den Kommunalverbänden Nassau und Kassel die katholischen Einrichtungen grundsätzlich von Belegungen auf öffentliche Kosten auszuschließen, legitimierte dann das weitere, gerade auch das St. Vincenzstift betreffende Vorgehen. Immerhin war von den 1936 hier untergebrachten ca. 560 Bewohnern ein Großteil vom Kommunalverband eingewiesen. Ende April 1937 informierte sich zudem eine Besuchskommission aus Vertretern des Landeshauses über die Verhältnisse im Stift. Zwischen Mai und Ende 1937 wurden dann in mehreren Transporten viele Bewohner zwangsweise in die staatlichen Anstalten verlegt, und auch die auf Kosten des saarländischen und des rheinischen Landesfürsorgeverbands im Stift betreu97 98

Chronik St. Vincenzstift für das Jahr 1935, in: AStV. Vgl. Schatz, Das Bistum Limburg, S. 273; allgemein: Hans Günter Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971.

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ten Kinder und Jugendlichen mussten das Haus verlassen. Nur noch rund 180 Mädchen und Jungen verblieben in Aulhausen. Der nach dem Tod Direktor Kaisers seit 1934 amtierende Direktor K. scheint sich einigen dieser, „ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten“ durchgeführten Überführungen „widersetzt“ zu haben, sodass diese „nur mit Polizeigewalt“ stattfinden konnten. Offenbar ausgelöst durch diese Behinderungen kam es zu einer Anzeige gegen den Direktor, die jedoch auf „Überschreitung des Züchtigungsrechtes“ lautete.99 Wenn auch auf Grund des zeitlichen Ablaufs von polizeilichen Ermittlungen und Schritten der staatlichen Stellen zur Enteignung des St. Vincenzstifts sowie deren propagandistischer Begleitung die Verhaftung und Verurteilung des Direktors und weiterer Mitarbeiter des Hauses als Kirchenkampfmaßnahme des NS-Staats gelten müssen, weisen die Ermittlungs- und Prozessakten doch auch auf massive Missstände in der Erziehungspraxis der Angeklagten. Demnach zeigten im Sommer 1937, also auf dem Höhepunkt der antikirchlichen Propagandawelle nach der Enzyklika „Mit brennender Sorge“100, die Eltern eines 19-jährigen, seit 1926 im Stift betreuten Jungen den Direktor wegen Körperverletzung und Misshandlung ihres Sohnes an, der von diesem mit einem GummiKnüppel gezüchtigt worden sei. Nachdem die Wiesbadener Oberstaatsanwaltschaft die Gestapo in die Durchführung der Ermittlungen eingeschaltet hatte, folgten Verhöre von Schwestern, weltlichen Mitarbeitern und z. T. auch in andere Anstalten überführten Bewohnern des Stifts wie auch Hausdurchsuchungen. Dabei ergaben sich weitere Anschuldigungen auch gegen andere Mitarbeiter, und im Februar 1938 wurden neben dem Direktor auch die Heimärztin, ein Aufseher und ein Gärtner sowie in den nächsten Monaten fünf weitere Beschäftigte des Stifts verhaftet – darunter auch ein ehemaliger geistlicher Assistent, eine Ordensschwester und eine Postulantin.101 Im Zuge der weiteren Ermittlungen und Prozessvorbereitungen, die sich bis April 1939 hinzogen, wurden zahlreiche zusätzliche Zeugen befragt und Gutachten eingeholt. Bis auf drei Handwerker des Stifts, die im August 1938 aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, mussten die anderen Beschuldigten trotz mehrerer Beschwerden der Verteidiger gegen die Aufrechthaltung der Haft im Gefängnis bleiben. Eine Anfang Januar 1939 verfasste Beschwerde des Anwalts mehrerer Angeklagter 99

100 101

Friedrich Stöffler, „Euthanasie“, S. 319; vgl. auch Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 191. Schatz, Das Bistum Limburg, S. 275. Vgl. Berichte und Protokolle, in: HHStAW, Abt. 468 Nr. 536.

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gibt ein Bild der von den Beschuldigten wie vermutlich auch von der Bistumsleitung vertretenen Einschätzung der Sachlage. Zunächst wurde moniert, dass „offensichtlich mit unendlichem Fleiss alle Fälle von Kindesmisshandlungen, die in den letzten Jahren im St. Vincenzstift sich ereignet haben sollen, zusammengetragen sind. Von den unendlich vielen Kindern, die dagegen ohne irgendeine Züchtigung voll Vertrauen zu ihren Führern im St. Vincenzstift aufsahen und die dort wohlbehütet und erzogen worden sind, ist mit keinem Wort die Rede.“ Zudem würde im Vergleich zur Rekonstruktion der Abläufe den Ursachen der Züchtigung nur unzureichend Beachtung geschenkt, obwohl nur dann eine richtige Bewertung der Taten möglich sei. „Man wird dann unwillkürlich eher Verständnis für die Züchtigungen auch von Schwachsinnigen gewinnen, wenn man sieht, dass diese häufig Strafe dafür waren, dass ein nicht nur schwachsinniger, sondern auch charakterlich tief verdorbener Junge harmlose Kinder zum onanieren verführte, unendlich frech war, das Ordnungsgefüge des ganzen Hauses durch egoistische Triebhaftigkeit gefährdete, oder gar Tiere quälte und Katzen die Augen ausstach.“ Während meist eine gute Betreuung der Bewohner „ohne jede fühlbare Zwangsmassnahme und ohne jede körperliche Strafe erreicht worden“ sei, war dies manchmal „ohne Züchtigung nicht zu erlangen. In der Kindererziehung hat aber körperliche Züchtigung immer ihren Platz gehabt und wird sie auch weiterhin haben. Gerade Zeitalter von Härte und Grösse haben ihre Jugend auch hart angefasst. Schwachsinnige sind nicht immer nur krank, sondern weisen auch daneben abnorme Charakterveranlagungen auf, für die sie zum Teil verantwortlich sind, z. B. Verlogenheit, Widerspenstigkeit, Heimtücke, Boshaftigkeit und Geltungsbedürfnis. Hier hilft Güte oft nicht, sondern nur äusserste Strenge, die im einzelnen Fall vielleicht manchmal hart und unmenschlich erscheinen mag. Aber wie will sich ein Erzieher wehren, wenn ein Schwachsinniger aus offensichtlicher Boshaftigkeit sich und seine ganze Umgebung mit Kot beschmiert, um nur die Erzieher zu ärgern; da helfen nur exemplarische Strafen.“102 Der Anwalt stellte also die Strafpraxis nicht grundsätzlich in Abrede, sondern seine Verteidigung zielte darauf ab, deren Ausnahmecharakter und pädagogische Notwendigkeit – nicht ohne Anklang an die NS-Erziehung – hervorzuheben. Schließlich wurden Ende April 1939 zehn Angestellte des Stifts der Körperverletzung bzw. Misshandlung an Bewohnern in Aulhausen und 102

Beschwerde v. 13. Jan. 1939 gegen mehrere Haftbefehle, in: ebd.

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auf dem Gut Nothgottes angeklagt, die in manchen Fällen auch von mehreren Angeklagten zusammen begangen worden sein sollten. Dabei kam der Ärztin vielfach eine zentrale Rolle zu, da sie im St. Vincenzstift Strafformen wie das Schlagen von „Zöglingen“, die zuvor in „kalte Packungen“ eingewickelt wurden, das Vollziehen der Strafen und das nachfolgende Einsperren in einem speziellen, „Kabäuschen“ genannten Arrestraum sowie die Verabreichung so genannter „Kotz-Spritzen“ eingeführt und sich zudem unter ihrer Anleitung in einigen Bereichen die Ausprägung der körperlichen Züchtigung hinsichtlich der benutzten Schlaginstrumente verschärft hätte.103 Obwohl der von Anfang Juni bis zum 11. Juli 1939 dauernde Prozess im Kontext der Entkonfessionalisierungsstrategie des Kirchenkampfes auf regionaler Ebene propagandistisch ausgenutzt werden sollte – am 1. Juni machte der Gaupropagandaleiter die entsprechenden Stellen seines Bezirks durch eine Skizze der in der Anklageschrift beschriebenen Ereignisse auf den Fall aufmerksam104 –, scheint das Verfahren unter Beachtung rechtstaatlicher Kriterien abgelaufen zu sein, zumal die Angeklagten die Taten grundsätzlich zugegeben hatten. Die Abläufe können daher als ein Beispiel für die widersprüchlich anmutende Struktur des NS-Staats gelten. So hieß es einleitend in der Urteilsbegründung: „Bevor nach diesen allgemeinen Ausführungen auf die einzelnen Straffälle eingegangen wird, ist noch festzustellen, daß der jeweilige Sachverhalt des Einzelfalles auf dem glaubhaften Geständnis der Angeklagten beruht, wenn nicht noch andere Beweismittel aufgeführt sind. Von der Vernehmung der Zöglinge selbst wurde im Einverständnis der Verteidigung und Angeklagten sowie der Anklagebehörde abgesehen, da nach den übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen von den betreffenden Zöglingen ihrer Geistesschwäche wegen eine wahrheitsgetreue und für die Urteilfindung geeignete Aussage ohne eine 103

104

Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Wiesbaden v. 25. April 1939, in: ebd. Im „Psychopathinnenheim“ in Hadamar galten bereits in den 1920er Jahren neben der Verlegung in andere Gruppen und Bettruhe warme oder kalte Packungen und die Gabe von Beruhigungsmedikamenten zu den therapeutischen Mitteln. Nach 1933 wurden dann, wie auch für den Kalmenhof und die Landesheilanstalt Weilmünster überliefert, „Kotz-Spritzen“ angewandt. „Da für andere Heilanstalten belegt ist, dass Ärzte Zöglingen als Disziplinierungsmittel Spritzen verabreichten, die zu langanhaltendem Erbrechen führten, liegt der Verdacht nahe, man habe die Anwendung medizinischer Mittel zu Strafzwecken nach 1933 noch ausgebaut.“ (Kremer, Psychopathinnenheim, S. 161f. u. 224) Propagandaleiter des Gaus Hessen-Nassau an alle Gauredner, Kreisleiter, Kreispropagandaleiter und Kreisschulungsleiter v. 1. Juni 1939, in: AStV.

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nochmalige besondere psychiatrische eingehende Untersuchung der Zöglinge in Frage gestellt wurde.“ Auch wurden unterschiedliche Gutachten etwa zum Züchtigungsrecht oder zur therapeutischen Bedeutung von „kalten Packungen“ in die Urteilsfindung einbezogen, wobei durchaus ein Züchtigungsrecht bis zur Volljährigkeit zugestanden wurde. Allerdings sahen die Richter unter den „verwandten Züchtigungsmittel[n] [als] allein zulässiges Instrument für körperliche Züchtigungen nur „Stock, Rohr und Haselnussstock“. Die übrigen von den Angeklagten benutzten Schlaggegenstände wie eine Hundepeitsche und Holzlatten wurden abgelehnt. „Die Packung für sich allein ist nach den gutachterlichen Äusserungen der ärztlichen Sachverständigen eine gebräuchliche medizinische Maßnahme, um Erregungszustände bei Geisteskranken und Geistesschwachen zum Abklingen zu bringen.“ Jedoch sei das „Schlagen in der Packung […] – weil gegen das Sittengesetz verstoßend [stärkere Schmerzen, völlige Wehrlosigkeit] – eine bewusste Überschreitung der rechtlichen Grenzen des Züchtigungsrechtes und damit strafbar, mag auch im einzelnen Falle eine Züchtigung mit dem Stock für sich allein ohne Packung nicht zu beanstanden sein.“105 Ebenso führten die Richter die Eindrücke der staatlichen Kommissionen an, die in den betreffenden Jahren das St. Vincenzstift besucht und dem Haus „einen gut geleiteten und über dem Durchschnitt stehenden Eindruck“ attestiert hätten. „Das hierbei beobachtete zutrauliche Verhalten der Insassen zu den Angeklagten K. und Dr. St. ließ darauf schließen, daß sie sich um die Erziehung und Förderung der Zöglinge mit Erfolg bemühten und auf das Wohlergehen der Kinder bedacht waren.“ Der Anstaltsärztin wurde der schwerste Vorwurf gemacht, da sie „gleichsam der böse Geist in Aulhausen“ war, ohne Freude am Quälen oder sadistische Züge gehabt zu haben.106 Acht der Angeklagten erhielten bei Anrechnung der Untersuchungshaft Gefängnisstrafen zwischen sechs Wochen und zweieinhalb Jahren für die Ärztin. Der Direktor musste 21 Monate und die Ordensschwester 16 Monate Strafe verbüßen. Ein Schreiner und der Inspektor des Gutes Nothgottes wurden freigesprochen. Die Ermittlungen wie auch der Prozess und dabei vor allem die Verhaftung des Direktors boten dem Kommunalverband Wiesbaden eine willkommene Handhabe, den Weg zur „Entkonfessionalisierung“ des 105 106

Urteil vom 11. Juli 1939, in: ebd. Ebd.

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St. Vincenzstifts weiter voranzuschreiten. Anfang März 1938 rief der Regierungspräsident den Direktor „von staatsaufsichtswegen“ ab und setzte mit dem NS-Bürgermeister von Eibingen einen kommissarischen Vorstand ein, ohne dass das Ordinariat als Träger darauf hätte Einfluss nehmen können. Als dann die bereits zugesagte Einsetzung eines neuen, vom Bistum ernannten Direktors an eine Veränderung der Satzung geknüpft wurde, die dem Stift den katholisch-kirchlichen Charakter genommen hätte, weigerte sich der Bischof. Dem von ihm schon zuvor eingesetzten Direktor erteilte die Gestapo Hausverbot. Wenig später erklärte der Kommunalverband, dass das St. Vincenzstift mit einer Belegung von 180 Bewohnern wirtschaftlich nicht überleben könne und daher die Verwaltung dem „Verein für Volkspflege“ überantwortet worden sei. Gleichzeitig wurde Dr. Nordmann die ärztliche Betreuung des Stifts entzogen. Die hier noch tätigen Dernbacher Schwestern mussten bis zum Ende des Jahres das Haus verlassen, nachdem die noch verbliebenen Kinder und Jugendlichen entweder zu den Eltern nach Hause gegeben oder in andere staatliche Anstalten verlegt worden waren. Indem die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt nun das „Kindererholungsheim Aulhausen“ eröffnete, sollten – ganz im Sinne des in der NS-Ideologie hervorgehobenen gesunden Volkskörpers – jährlich ca. „5.000 deutsche Kinder aus allen Teilen Großdeutschlands Erholung und Stärkung finden“.107 Der Kriegsbeginn verhinderte jedoch schon bald dieses Vorhaben. Stattdessen diente das St. Vincenzstift unter der Leitung Dr. Nordmanns bis Kriegsende als Reserve-Lazarett.

107

In der Chronik des St. Vincenzstifts eingeklebter Zeitungsartikel „Kindererholungsheim Aulhausen“ o. D. und Zeitungsnamen, in: AStV.

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Beharrung und Aufbruch zwischen Kriegsende und 1970 Bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelangte das St. Vincenzstift wieder in die rechtmäßige Trägerschaft, und das Limburger Ordinariat bestellte daraufhin mit dem Geistlichen Josef Hannappel einen neuen Direktor. Durch die Rückkehr der Dernbacher Schwestern ergaben sich personelle Kontinuitäten, wobei an die vor 1933 ausgebildete, vor allem pädagogisch geprägte Betreuungsarbeit angeknüpft wurde. Mitte 1946 kamen schließlich die ersten Kinder ins Haus, die sofort auch wieder Schulunterricht erhielten. Die Verhältnisse blieben bis Ende der 1950er Jahre wegen des großen ausstattungsmäßigen Nachholbedarfs und unzureichender Pflegesätze bei gleichzeitig raschem Wachstum bis auf ca. 400 Plätze sehr einfach. Dies bedeutete, dass teilweise 30 bis 40 Bewohner auf den Gruppen lebten. 1957 übernahm Rudolf Müller als neuer geistlicher Direktor die Leitung des Stifts. Gemeinsam mit dem fast zeitgleich eingesetzten neuen Rektor der hauseigenen Sonderschule, Karl Heinz Königstein, bemühte er sich um den Wandel der Aulhauser Einrichtung von der Anstalt zum modernen Heim. Trotz enger Finanzierungsmöglichkeiten führten Baumaßnahmen zur Verkleinerung und Modernisierung einer Reihe von Wohngruppen. 1970 brachte hier die Fertigstellung des ersten von zwei geplanten neuen Gruppenhäusern einen großen Fortschritt. Obwohl sich der Direktor im Zuge der Fachdiskurse grundsätzlich für eine Erweiterung der halboffenen und offenen Betreuungsangebote der Behindertenhilfe aussprach, kam es im Wohnbereich des Stifts jedoch kaum zu einem strukturellen Wandel. Dagegen war es erneut der Schulsektor, der bis Anfang der 1960er Jahre neben dem traditionellen, nun Schule für Lernbehinderte genannten Lehrinstitut eine Schule für „Praktisch Bildbare“, also für Kinder und Jugendliche mit einer stärkeren geistigen Behinderung, einrichtete und damit innovative Maßstäbe setzte. Letztlich blieb das St. Vincenzstift bis in die 1970er Jahre eine Einrichtung, die nach wie vor an der Schnittstelle zwischen Behinderten- und Jugendhilfe stand. Somit gelangten immer wieder Kinder und Jugendliche, die oftmals aus schwierigen familiären Verhältnissen stammten, weniger auf Grund einer tatsächlichen intellektuellen Leistungsminderung, sondern eines Ursachenbündels von Erziehungsschwierigkeit, Verhaltensauffälligkeit und massiven schulischen Problemen ins Haus, nachdem ihnen zuvor im Rahmen der auch noch in den 1950/60er Jahren maßgeblichen psychiatrisch-medizinischen Sichtwei-

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beharrung und aufbruch zwischen kriegsende und 1970

se einer geistigen Behinderungen die Diagnose „Schwachsinn“ attestiert worden war. Diese teils ambivalenten Entwicklungen werden nun näher beschrieben.

Neuanfang unter schwierigen Bedingungen Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte das Limburger Ordinariat die Rückgabe des St. Vincenzstifts in die ursprüngliche Trägerschaft, nachdem die widerrechtliche Enteignung der Einrichtung nachgewiesen worden war. Indem die Bistumsleitung bereits Mitte August 1945 Pfarrer Josef Hannappel zum Direktor des Hauses berief, zeigte sie ihren Willen, die Betreuung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher wieder aufzunehmen. 1909 im Westerwald geboren und 1934 zum Priester geweiht, hatte er als Kaplan in den Frankfurter Stadtteilen Praunheim und Niederrad gewirkt und als Sanitäter und Divisions-Pfarrer am Krieg teilgenommen. Gerade war er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt.108 Als das hessische Kultusministerium 1946 die 1938 zwangsweise erlassene Satzung wieder aufhob und die Fassung von 1907 wieder in Kraft setzte, wurde der schon zuvor als kommissarischer Vorstand fungierende Limburger Domkapitular Josef Lamay109 regulärer Vorstand der Stiftung. Aber noch im Frühjahr des gleichen Jahres beklagte der neue Direktor die nach wie vor bestehende Einflussnahme der Militärverwaltung auf die finanziellen Belange des Stifts und forderte, dass „nunmehr die Kon­ trolle über das gesamte Vermögen des St. Vincenzstiftes baldmöglichst aufgehoben wird“110, was allerdings noch bis 1948 dauerte. Obwohl also die völlige Eigenständigkeit des St. Vincenzstifts erst drei Jahre nach Kriegsende erreicht wurde und zudem die Besatzungstruppen die Einrichtung als Erholungsheim nutzten sowie Ostflüchtlinge im Haus untergebracht waren, ging Direktor Hannappel von der Rettungsanstalt Marienhausen und dann vom Gut Nothgottes aus, wo vier im September 1945 eingetroffene Dernbacher Schwestern ein Altenheim einrichteten, umgehend seine Aufgabe an. Ende März 1946 be108 109

110

Klerus-Kartei, in: Diözesanarchiv Limburg (DAL). Prälat Lamay war 1925-1943 Direktor und 1943-1952 Vorsitzender des Limburger Diözesancaritasverbands. Bericht Direktor Hannappels über das St. Vincenzstift v. 14. April 1946, in: DAL, 238  A. In der Chronik des Stifts wurde erst für Februar 1949 die Aufhebung der Militärkontrolle vermerkt.

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zogen dann nach dem Abzug der Amerikaner weitere drei Schwestern Räumlichkeiten des Stifts, und Mitte Juni wurde das erste behinderte Kind aufgenommen. Auf Grund des großen Bedarfs an Plätzen wuchs in den nachfolgenden Jahren die Zahl der im St. Vincenzstift untergebrachten Kinder und Jugendlichen schnell an. So lebten 1948 bereits 320 und Ende 1950 neben gut 50 alten Menschen auf Nothgottes, die von fünf Schwestern betreut wurden, 392 Bewohner im Haus, von denen 279 Jungen und 113 Mädchen waren.111 Wie etwa auch im Kalmenhof wurden im St. Vincenztstift die Jungen und Mädchen gerade während der ersten Nachkriegsjahre intensiv zu den unterschiedlichsten Arbeiten herangezogen.112 Denn das Haus befand sich wie viele andere Anstalten wegen der vorherigen Fremdnutzungen und der Kriegsfolgen in einem schlechten Zustand – so galt es, sowohl die Gebäudeschäden als auch fehlendes Inventar zu beseitigen bzw. zu ergänzen.113 Zudem war der von den Kostenträgern gezahlte Pflegesatz, der 1946 1,70 RM, 1948 2,50 RM und 1950 2,90 DM betrug, unzureichend, sodass die Eigenversorgung eine große Bedeutung besaß. Eigentlich sahen die hessischen Richtsätze für Pfleglinge in Heimen und Anstalten von Ende 1949 für eine Einrichtung wie das Stift einen Richtsatz von 3 DM bis 4.50 DM vor. Aber erst 1951 erreichte das Stift einen Satz von 3,50 DM, wobei der Landesfürsorgeverband Wiesbaden nach einer Sondervereinbarung nur 3,30 DM zahlte. Dies bewog wiederum den Landeswohlfahrtsverband Rheinland-Pfalz, sich erst an diesem Betrag zu orientieren, um dann doch 3,50 DM zu gewähren.114 Obwohl sich nach der Währungsreform von 1948 das Warenangebot vergrößerte, waren also Verbesserungen der Unterbringungsverhältnisse wegen der engen wirtschaftlichen Spielräume im Stift kaum durchzuführen. 111 112 113

114

Statistische Angaben in der Haus-Chronik, in: AStV. Interview Georg S.; vgl. Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 131. So waren etwa auch im Kalmenhof Flüchtlinge untergebracht und die Räume völlig unzureichend ausgestattet. (Vgl. Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 128) Direktor Hannappel schätzte 1952 die im St. Vincenzstift vorhandenen Schäden an Gebäuden und Inventar als mittelschwer ein und bezifferte die Kosten zur Behebung mit 80.000 DM (Gebäude) bzw. 120.000 DM (Inventar), die zu 70 % aus eigenen Mitteln geleistet wurde. (Von Direktor Hannappel ausgefüllter Fragebogen des DCV v. 8. Jan. 1952, in: AStV, Ordner Schriftverkehr CV-Anstalten) An anderer Stelle ist von 350.000 DM Wiederaufbaukosten, davon 125.000 DM Eigenleistungen, die Rede. (am 18. April 1962 ausgefüllter Fragebogen) Direktor Hannappel an das Landeswohlfahrtsamt Rheinland-Pfalz v. 6. Juni 1951, in: AStV, Ordner Schriftverkehr Rheingau – Koblenz.

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Abb. 3: Unterricht in der Sonderschule des St. Vincenzstifts Mitte der 1950er Jahre.

Die schwierigen räumlichen und ausstattungsmäßigen Bedingungen wirkten sich auch auf die „Heim-Hilfsschule“ des St. Vincenzstifts aus. Direktor Hannappel hatte schon bald nach der Ankunft der ersten behinderten Kinder beim Regierungspräsidenten einen Antrag auf Wiedereröffnung der Schule gestellt. Dabei verwies er auf die Notwendigkeit der schulischen Betreuung der Mädchen und Jungen, die am 19. März 1925 erteilte staatliche Konzession für die private Volks- bzw. Hilfsschule sowie auf die als widerrechtlich einzuordnende Schließung der Anstalt im Jahr 1938. Gleichzeitig bat er wegen der erheblichen Kriegs- und Besatzungsschäden um einen Zuschuss.115 Mitte November 1946 begann für 27 Schüler, davon 14 Jungen und 13 Mädchen, wieder der Schulunterricht, den die Lehrerin Schwester Mechthilde erteilte. Als Klassenraum diente der große Schlafsaal der Elisabeth-Abteilung. Da die alten Bänke nicht mehr vorhanden waren, wurden Tische und Stühle aufgestellt. Die „Morgenschule“ besuchten 17 Schüler, die übrigen 10 schwächeren Schüler gingen in die „Nachmittagsschule“, die an die Form der früheren Vorschule anknüpfen wollte.116 Indem die promovierte Mittel- und Hilfsschul-Lehrerin Schwester Mechthilde das 115

116

Direktor Hannappel an den Regierungspräsidenten v. 3. Aug. 1946, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Vgl. Schul-Tagebuch I 1935-1962/63, in: AStV.

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Amt der Rektorin übernahm, fiel erstmals seit der Gründung des Stifts die Leitung der Schule nicht dem Direktor der Aulhauser Anstalt zu. Mit der kontinuierlichen Zunahme der Bewohner wuchs auch die Zahl der Schüler bis Anfang der 1950er Jahre auf ca. 200 Jungen und Mädchen an, die in acht gemischtgeschlechtlichen Klassen – ein Schulkindergarten, eine Vorschulklasse und sechs aufsteigende Klassen – unterrichtet wurden.117 Im Erhebungsbogen für Volksschulen von Mitte Mai 1951 wurden fünf aufsteigende Klassen angegeben, wobei die Klassen I und II zusammengelegt waren. Hinzu kam eine Sammelklasse. Die Klassenstärke lag zwischen 20 (Klasse I/II) und 32 Schülern (Klasse VI).118 Spätestens seit 1948 besuchten der zuständige Schulrat und Vertreter der Wiesbadener Regierungsbehörde regelmäßig die staatlich anerkannte Hilfsschule des St. Vincenzstifts, um einzelne Lehrproben vorzunehmen und die Schulstrukturen zu überprüfen. Zudem bedurfte die Einstellung von Lehrpersonal der staatlichen Genehmigung. Allein schon aus diesen Gründen war es vonnöten, die Lehrkräfte durch Fortbildungen weiter zu qualifizieren. An diesen Veranstaltungen nahmen Schwestern wie weltliche Kräfte teil. U.a. diesem Zweck diente auch die Teilnahme an einem Treffen westdeutscher caritativer Einrichtungen mit gleicher Ausrichtung, das Anfang 1950 im Franz Sales Haus in Essen stattfand. Im Dankesschreiben von Oberin Schwester Augustana kam zum Ausdruck, dass die im Rahmen dieser Veranstaltung beschriebenen fortschrittlichen Lehrmethoden von Schwester Mechthilde mit Erfolg aufgegriffen worden waren. Dabei hoffe man, „daß die Essener Anregungen zur Neugestaltung des Anfangs-Lese- und Schreibunterrichtes Ostern ihre Verwirklichung finden, vor allem da wir jetzt einen unerwarteten Erfolg beim ganzwortlichen Schreib- und Leseversuch feststellen können.“119 Wie skizziert waren die Verhältnisse im St. Vincenzstift in den ersten Nachkriegsjahren für Bewohner wie Mitarbeiter sehr einfach. Um das weltliche Personal, das teilweise unter den in Aulhausen lebenden Flüchtlingen rekrutiert worden war, weiterhin an das Haus zu binden, bemühte sich Direktor Hannappel um die Verbesserung ihrer Wohnsi117

118

119

Vom St. Vincenzstift ausgefüllter Fragebogen für Volksschulen (Stand 16. Mai 1950) und Auflistung v. 15. Nov. 1950, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Im November waren es 205 Schüler (170 Jungen u. 35 Mädchen). Vom St. Vincenzstift ausgefüllter Fragebogen für Volksschulen (Stand 15. Mai 1951), in: ebd. Schwester Augustana an Direktor Brodesser v. 6. März 1950, in: Archiv des Franz Sales Hauses, Nr. 65/1-4.

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tuation. Gleichzeitig versuchte er dabei, die Unterbringungsmöglichkeiten für die Bewohner zu optimieren. So teilte er Anfang 1950 dem Limburger Ordinariat mit, dass „das St. Vincenzstift beabsichtigt, für die Familien der verheirateten Angestellten des Hauses zwei Zweifamilienhäuser zu bauen. Das Bauvorhaben wird notwendig, weil die Familien zur Zeit alle im Hause wohnen und die Räume in Anspruch nehmen, die notwendigst für den Anstaltsbetrieb benötigt werden. Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit des Häuserbaus ergibt sich aus manchen Unzuträglichkeiten, die durch das Wohnen der verheirateten Angestellten innerhalb der Anstalt sowohl der Anstaltsleitung wie auch den Familien selbst, entstehen. […] Der beigefügte Kostenvoranschlag [mit Gesamtkosten von 37.720 DM] dürfte sich um rund 10.000 DM ermäßigen, da viele Arbeiten in Selbsthilfe ausgeführt werden können.“120 Letztlich kosteten die beiden 1950/51 errichteten Gebäude knapp 50.000 DM, die noch durch eine Gärtnerwohnung ergänzt wurden.121 Nach diesen Entwicklungen hielt das St. Vincenzstift 1952 insgesamt 400 Plätze vor – 130 für Mädchen und 270 für Jungen –, die meist zu 100 % belegt waren. Auf dem Gutshof Nothgottes lebten zudem noch knapp 20 alte Menschen. Die ärztliche Versorgung des Stifts hatte seit zwei Jahren Obermedizinalrat Dr. Josef Ewald nebenamtlich inne, der regelmäßig zweimal in der Woche und nach Bedarf das Haus besuchte. 20 Dernbacher Schwestern bildeten den Kern des Personals, die von weltlichen Kräften unterstützt wurden. So bewirtschafteten etwa 13 Mitarbeiter die 62 ha der hauseigenen Landwirtschaft.122

Zwischen „Schwachsinnigen-Fürsorge“ und Jugendfürsorge In welchem Umfang in den ersten Nachkriegsjahren auch das St. Vincenzstift im Rahmen der Jugendfürsorge „als Auffanglager“ für „die ‚Kriegsverwahrlosten‘ dienen mußte“ und so seiner eigentlichen Aufgabe der „Bildung und Betreuung behinderter Kinder“ nicht mehr nach120

121

122

Direktor Hannappel an das Bischöfliche Ordinariat Limburg v. 24. Febr. 1950, in: DAL, 238 A. In der Chronik des St. Vincenzstifts eingelegte Zusammenstellung der Baumaßnahmen seit 1948 (bis 1964), in: AStV. Von Direktor Hannappel ausgefüllter Fragebogen des DCV v. 8. Jan. 1952, in: ebd., Ordner Schriftverkehr CV-Anstalten.

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kommen konnte, wie es für den Kalmenhof herausgearbeitet wurde123, ließ sich im Einzelnen nicht feststellen. Allerdings befanden sich unter den 15 Kindern, die 1947 nach einer Begutachtung in der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn nach Aulhausen kamen, immerhin acht als FE- oder FEH-Fälle in Verantwortung des Landesjugendamts Rheinland.124 Zumindest ein weiterer Junge war bereits zuvor in anderen Kinderheimen aufgewachsen.125 Wie für das Essener, also im Rheinland gelegene Franz Sales Haus gezeigt werden konnte, war allen von der Bonner Landesklinik überwiesenen FE-„Zöglingen“ in unterschiedlicher Ausprägung die Diagnose „Schwachsinn“ attestiert worden, und nach einer Eingewöhnungsphase wurde die Fürsorgeerziehung aufgehoben, sodass die Verantwortlichkeit für die Unterbringung und die Kostenträgerschaft vom Landesjugendamt zum Landesfürsorgeverband Rheinland wechselte.126 Daneben bildeten meist die Gutachten der regional zuständigen Amtsärzte mit der Diagnose „Schwachsinn“ die Grundlage für die Einweisung der Mädchen und Jungen in das St. Vincenzstift. Dabei konnten aber auch andere Beeinträchtigungen eine entscheidende Rolle spielen. So überwies der saarländische Landesfürsorgeverband 1948 ein neunjähriges Mädchen wegen ihrer ausgeprägten Sehschwäche nach Aulhausen, da offenbar kein Platz in einer entsprechenden Einrichtung gefunden werden konnte. Zumindest legt der vom Gesundheitsamt der Stadt Saarbrücken ausgefüllte Fragebogen zur „Unterbringung von Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen und Blinden“ diesen Schluss nahe. Dort wurde zwar vermerkt, dass das „Kind körperlich und geistig zurückgeblieben“ sei, aber eindeutig die Aufnahme 123 124

125 126

Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 131. Belegungsbuch „Ausländer“, Archiv des Landschaftsverband Rheinland (ALVR), Nr. 42. Interview und Bewohner-Akte Markus R., in: AStV. Frings, Franz Sales Haus, S. 62. Vermutlich deshalb konnte 1949 Medizinalrat Dr. Henkel, der 1946/47 zusammen mit Dr. Nordmann und 1948/49 allein nebenamtlich für die ärztliche Versorgung des Stifts zuständig war, dem rheinland-pfälzischen Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt mitteilen, dass sich überhaupt keine „Fürsorgezöglinge […] in unserer Anstalt“ befänden, „sodass zu den Fürsorgeerziehungsbehörden keine Beziehungen bestehen“ – außer aus Hessen wurden vor allem Mädchen und Jungen aus dem Rheinland, dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz aufgenommen. (vgl. Dr. Henkel an das Rheinland-Pfälzische Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt v. 14. Dez. 1949, in: AStV, Ordner Schriftverkehr Rheingau – Koblenz)

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in einer Blindenanstalt empfohlen.127 Für die Belegungspraxis im Kalmenhof wurde für die ersten Nachkriegsjahre festgestellt, dass während dieser Phase Einweisungen wegen fehlender differenzierter Diagnosemöglichkeiten anscheinend nicht selten auf Basis von Fehldiagnosen durchgeführt wurden.128 Im Hauptbuch der Aufnahmen und Abgänge des St. Vincenzstifts wurden in den 1950/60er Jahren weiterhin immer wieder kommunale Jugendämter und Landesjugendämter als einweisende Stellen verzeichnet.129 Nach wie vor tangierte damit sowohl die „Schwachsinnigen-Fürsorge“ als auch die Jugendfürsorge die Belegung der Anstalt. Allerdings ist es ohne Sichtung der einzelnen Bewohner-Akten, in denen oftmals ärztliche Gutachten enthalten sind, kaum möglich, zahlenmäßige Angaben hinsichtlich der Relationen zu machen. Die Belegung legitimierten jedenfalls weiterhin die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse von Pädagogik und Psychiatrie. Dabei wurden auch „Diagnosen wie ‚moralischer Schwachsinn‘ und ‚Psychopathie‘ […] in der frühen Bundesrepublik unreflektiert aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ übernommen“. Sie „pathologisierten auffälliges, normabweichendes Verhalten und rückten es in den Grenzbereich von Erziehungsproblemen, psychischer Krankheit und geistiger Behinderung“.130 So ging das zwischen 1952 und 1966 erschienene Handbuch der Heimerziehung, das als Standardwerk galt, hinsichtlich der verschiedenen Arten und Formen der Heime nicht auf den etwaigen Zusammenhang von Schwererziehbarkeit und geistiger Behinderung ein. Aber einleitend wurde erwähnt, dass die „unterschiedliche intellektuelle Leistungsfähigkeit der Minderjährigen in den Heimen das Vorhandensein von Einrichtungen für die verschiedenen Intelligenzgrade“ erfordere. „Die Schwachsinnigen, für die Sonderheime bestehen, scheiden zwar aus, aber die Debilen – die im 1. Grade Schwachsinnigen – finden noch in den Erziehungsheimen Aufnahme.“ Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass „Schwachbegabte“ zwar durch das Zusammenleben mit Normalbegabten gefördert würden. Aber dies sei nur dann möglich, wenn ein Heim auch über eine Hilfsschule verfüge, was jedoch nur größere Heime ermöglichen könnten. Auch sonst täten sich „gewisse Grenzen“ auf, „da auch bei der Freizeitgestaltung und 127 128 129 130

Fragebogen Gerda Y. v. 24. Febr. 1948, in: AStV, Bewohner-Akte Gerda Y. Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 132. Hauptbuch des St. Vincenzstift, Bd. 2. Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 211.

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dem sonstigen Zusammenleben auf dieses allgemeine Leistungsniveau Rücksicht genommen werden muß“.131 Der Beitrag im Handbuch über „Heime für Geistesschwache“ betonte zunächst die nicht selten erniedrigenden Lebensumstände, denen die „geistesschwachen“ Kinder bis zu ihrer Heimaufnahme ausgesetzt wären. Dort fänden sie dann einen Raum zum Leben und Arbeiten, in dem „dem geistigen und körperlichen Unvermögen aufgeholfen werden soll, seelische Abwegigkeiten und wilde Freiheiten gebunden werden sollen“. Hierzu sei die „Anstaltshilfsschule“ eine wesentliche Hilfsquelle, wobei das „geistige Niveau der Hilfsschule in Schwachsinnigenheimen“ in der Regel „weit unter dem der städtischen Hilfsschule, ihre Leistungen oft darüber“ lägen. Neben kleineren Klassen seien hier vor allem das Vorschalten von Vorschul- und Werkklassen sowie die relativ freie Anwendung unkonventioneller Lehrmethoden von Bedeutung. Daneben erweise sich die Arbeits- bzw. Beschäftigungstherapie als wichtiges Moment.132 Auch sei einzubeziehen, dass „Schwachsinn“ keine Krankheit im eigentlichen Sinn, „sondern ein Sammelbegriff für Zustände“ sei, „die sich aus vielen Krankheiten“ ergeben. Außer einem niedrigen Intelligenzquotienten beeinflussten u. U. „seelische Abwegigkeiten“ wie etwa „psychopathische“ Momente die Persönlichkeit des „Geistesschwachen“. Deshalb müsse sowohl am Anfang als auch während des gesamten Aufenthalts „ärztliche Diagnostik und Ursachenforschung […] den ganzen Weg der Erziehung“ begleiten. Obwohl der Psychiater für die Betreuung „Schwachsinniger“ notwendig sei, darf dieser jedoch die „relative ‚Gesundheit‘“ der „Geistesschwachen“ wie auch die „erzieherischen Kategorien“ nicht übersehen, zu denen „Verantwortlichkeit, Lohn, Strafe usw.“ zählten. Sie schlichen sich „dann in seine ärztliche Praxis unter medizinischen Namen wieder ein. Und der Psychiater macht dann eine schlechte Pädagogik.“133 Der Zusammenhang von Unerziehbarkeit und „SchwachsinnigenFürsorge“ zumindest im Bereich der Fürsorgeerziehung wurde während der 1950er/60er auch von Psychiatern richtungweisend vertreten, die durch ihre maßgebliche Mitwirkung an Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“-Maßnahmen im NS-Staat vorgeprägt waren. Hier spielten etwa die Marburger Professoren für Kinder- und Jugendpsychiat131

132 133

Gertraude Schulz, Arten und Formen der Heime, in: Trost (Hg.), Handbuch der Heimerziehung, S. 281-294, Zitat S. 281f. u. 288. Johannes Klevinghaus, Heime für Geistesschwache, in: ebd., S. 347f. Ebd., S. 349

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rie, Werner Villinger und Hermann Stutte, eine wesentliche Rolle, die immerhin auch dem Beirat des Vereins „Lebenshilfe“ angehörten.134 Der Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Hans Heinze, hielt in seinen Gutachten „unbeirrt an alten Mustern“ fest.135 Prof. Hans Aloys Schmitz, der, seit 1935 in der Bonner Kinderanstalt tätig, in erbbiologischen Forschungen, Begutachtungen und Selektionen verstrickt war, wurde in einem Gerichtsprozess von einer Schuld an Maßnahmen der NS„Euthanasie“ freigesprochen und von der englischen Militärregierung wieder als Leiter der Kinderklinik eingesetzt. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Ruhestand 1964 inne.136 Prof. Stutte erstellte 1958 in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Horst Pfeiffer eine Studie mit dem Titel „Grenzen der Sozialpädagogik. Ergebnisse einer Untersuchung praktisch unerziehbarer Fürsorgezöglinge“. Auf Grundlage der Angaben zu gut 200 Probanden, die 1954/55 auf Grund des § 73 (R)JWG aus der Fürsorgeerziehung entlassen worden waren, kamen die Verfasser zu dem Schluss, dass für fast 20 % von ihnen „Institutionen der Schwachsinnigen- und Geisteskrankenfürsorge angezeigt“ seien. Hinsichtlich der Ursachen der Schwererziehbarkeit vertraten die Autoren eine „mehrdimensional-dynamische Betrachtungsweise“, die ein Bündel aus „erbbiologischen, soziologischen, psychologischen, biologischen“ u.a. Aspekten wie etwa auch frühkindliche Hirnschädigungen umfasste.137 Immerhin 82,4 % der Probanden zeigten „psychopathische Wesenszüge“138, bei immerhin 43 % erwies sich „geistige Minderbegabung vom Ausmaß eines Schwachsinns“ – der Intelligenzquotient lag unter 0,75 – als ein „entscheidendes Bedingungsmoment der Schwererziehbarkeit“. Dabei konstatierten die Verfasser, dass die soziale Anpassung durch das Zusammenspiel eines „Intelligenzmangels“ mit „erzieherischer Vernachlässigung in der frühen Kindheit, körperlichen Mängeln, Charakterabartigkeiten, Reifungsstörungen etc. deutlich erschwert würde. So 134 135 136

137

138

Budde (Bearb.), 50 Jahre Lebenshilfe, S. 11 u. 64f. Schmuhl/Winkler, Heimwelten, S. 74. Linda Orth, Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“, Köln 1989, S. 19; dies., Nur Opfer und keine Täter? Bonn als Hochburg der erbbiologischen Forschung, in: Ralf Forsbach (Hg.), Medizin im „Dritten Reich“. Humanexperimente, „Euthanasie“ und die Debatten der Gegenwart, Berlin 2006, S. 174. Hermann Stutte, Grenzen der Sozialpädagogik. Ergebnisse einer Untersuchung praktisch unerziehbarer Fürsorgezöglinge, Marburg 1958, S. 52. Ebd., S. 63.

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seien von den 75 „schwachsinnigen“ Probanden – insgesamt waren ca. 93 % aller einbezogenen Minderjährigen zwischen 13 und 21 Jahren alt – zehn „imbezill“, standen also „auf der geistigen Stufe von Schulanfängern. Und diese wären ausnahmslos besser untergebracht gewesen in einer für die Pflege, Behandlung, sonderpädagogische und arbeitstherapeutische Betreuung Schwachsinniger geeigneten Anstalt als in einem Erziehungsheim.“ 65 dieser „schwachsinnigen“ Probanden galten als „debil“. Die so genannte „frühkindliche Hirnschädigung“ – also etwa in Folge einer schwierigen Geburt oder einer Kinderkrankheit erworbene Defekte – zeige sich in schweren motorischen und/oder intellektuellen Schädigungen, aber auch in leichteren Formen ohne auffallende Beeinträchtigungen, wobei jedoch „typische psychopathologische Merkmale“ erkennbar wären. Gerade letztere Formen beträfen auch die „Sozialpädagogik bei erziehungsschwierigen, verhaltensauffälligen, milieu-reaktiv gestörten oder kriminellen Kindern“. Da zwischen den verschiedenen Formen frühkindlicher Hirnschädigungen fließende Übergänge konstatiert wurden, fehlten zuverlässige Angaben hinsichtlich ihrer Häufigkeit und „diagnostischen Abgrenzung“.139 Letztlich war für die festgestellten „Anpassungsschwierigkeiten“ dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen „regelmäßig die Vergesellschaftung des Intelligenzmangels mit charakterlichen Abnormitäten“ entscheidend. „Halt- und Willensschwäche, Reizbarkeit, Bindungsarmut u.a. psychopathische Wesenszüge können bei einem Schwachsinnigen, bei dem ohnedies der regulative Einfluß des Verstandes auf die Emotionalität und Triebregungen gering ist, den Effekt praktischer Unerziehbarkeit bewirken. […] Im Spezialheim für Schwachsinnige kommen diese Noxen aber weitgehend in Wegfall.“ Erhärtet würde diese Aussage durch die Schulbildung der 43 % „Schwachsinnigen“ unter den Gesamt-Probanden, von denen nur 22,5 % eine Hilfsschule besucht hatten. Somit sei davon auszugehen, dass ein Teil „schulisch unzweckmäßig gelenkt worden“ sei, was die „Schwererziehbarkeit mit verursacht haben“ könnte.140 Im Rahmen dieser Sichtweise ließ sich auch nach wie vor die Ausrichtung und das Betreuungsspektrum des St. Vincenzstifts verorten, 139

140

R. Lempp, Die frühkindliche Hirnschädigung in ihrer Bedeutung für die Sozial- und Heimpädagogik, in: Hermann Stutte (Hg.), Jugendpsychiatrische Probleme und Aufgaben in der öffentlichen Erziehungshilfe, Hannover 1967, S. 20f. Ebd., S. 62f.

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wie ein 1955 von Direktor Hannappel verfasster Bericht an den Kreisausschuss des Landkreises Rheingau zeigte: „Das St. Vincenzstift ist eine Bildungs- und Pflegeanstalt für schwachbegabte und seelisch abnorme Kinder und Jugendliche. Der Zweck der Anstalt ist es, Jungen und Mädchen sorgsame, liebevolle Pflege, Erziehung und entsprechend ihren geistigen Fähigkeiten Unterricht in der Hilfsschule und berufliche Förderung in den Werkstätten zu gewähren. Die bildungsfähigen, vorschulpflichtigen Kinder besuchen den heilpädagogischen Kindergarten, wo sie für den eigentlichen Schulunterricht vorbereitet werden. Der Unterricht in der staatlich anerkannten Hilfsschule wird nach den Grundsätzen der Heilpädagogik von staatlich geprüften Lehrerinnen erteilt. Für männliche Jugendliche stehen nach den Methoden der modernen Beschäftigungsbehandlung ausgerichtete Werkstätten (Bäckerei, Bürstenmacherei, Gärtnerei, Malerei, Schlosserei, Schreinerei, Schneiderei und Schuhmacherei) zur Verfügung. Daneben bietet das zum St. Vincenzstift gehörige Landgut Nothgottes Möglichkeit zur Betätigung in der Landwirtschaft. Die Mädchen werden im gleichen Sinne im Nähen, Stricken, Kochen, Waschen und allen sonstigen Hausarbeiten angeleitet. Kinder und Jugendliche sind in Familiengemeinschaften nach Alter und geistigen Fähigkeiten getrennt untergebracht. Für körperlich Erkrankte ist eine besondere Krankenabteilung vorhanden. Zur Aufnahme können Kinder und Jugendliche vom 3. Lebensjahre an bis zum 16. Lebensjahre kommen. Sie können jedoch über das 16. Lebensjahr hinaus in der Anstalt verbleiben, soweit sie beruflich zu fördern sind.“141 Das oben skizzierte Bild von geistiger Behinderung fand sich ebenfalls in den Berichten wieder, die der Anstaltsarzt an die Jugendämter bzw. Kostenträger über die Entwicklung eines Bewohners verfasste. Auch er zog das Ursachenbündel von Intelligenzminderung, Erziehungsschwierigkeit, Verhaltensauffälligkeit und massiven schulischen Problemen z. B. zur Begründung des von ihm für erforderlich erachteten weiteren Aufenthalts im St. Vincenzstift heran. Die Einträge in die Krankenakten spiegeln daher hauptsächlich eine an den Defiziten orientierte Sichtweise der Kinder und Jugendlichen wider. So hieß es z. B. im April 1950 über einen 1940 geborenen und 1947 aufgenommenen Jungen, dass dieser sich „albern während der Unterhaltung“ verhalte, „unmotiviert“ lache sowie „unruhig“ und „zappelig“ sei. 141

Bericht Direktor Hannappels an den Kreisausschuss des Landkreises Rheingau v. 17. Febr. 1955, in: AStV, Ordner u.a Landrat des Rheingau-Kreises 1943-1959.

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Abb. 4: Schuhmacherei Mitte der 1950er Jahre.

„Kaum bildungsfähig“ ging er zur Vorschule, ohne jedoch mitzuarbeiten. „In der Gemeinschaft stört er durch seine Unruhe“ und „undisziplinierten Handlungen“.142 Psychiatrisch ausgebildet und als Amtsarzt tätig, scheint er jedoch selbst kaum diagnostische und therapeutische Bemühungen unternommen zu haben, was vermutlich allein schon aus zeitlichen Gründen nur in Ausnahmen möglich gewesen sein dürfte. Zumindest beziehen sich seine Einträge in die eingesehenen Krankengeschichten und Stellungnahmen in der Regel auf die Erkenntnisse der Gutachten, die vor der Einweisung ins Stift erstellt worden waren. Die Ergebnisse der Erziehungsbemühungen beschrieb er dann meist anhand der vom jeweiligen Lehrer bzw. der Gruppenleitung verfassten Schul- und Führungsberichte. Auf der anderen Seite gibt es auch Hinweise, dass auf Grund einer differenzierten Betrachtung durchaus eine Änderung der Ausgangsdiag­ nose vorgenommen wurde. So sprach der Anstaltsarzt 1957 in einer Mitteilung an die hessische Fürsorgebehörde hinsichtlich eines 1944 geborenen Jungen von durchschnittlichen schulischen Leistungen, wobei „es ihm an Konzentration und Lerneifer“ fehle. „Seine ganze Arbeitsweise ist stark gefühlsmäßig anhängig von Lust und Unlust.“ Weiter hieß es dann, dass der Junge „intellektuell […] aber im ganzen gesehen 142

Eintrag in Krankengeschichte v. 12. April 1950, in: AStV, Bewohner-Akte Markus R.

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nicht mehr als schwachsinnig zu betrachten“ sei. Daraus resultierend schlug er vor, „den Jungen möglichst bald in ein Heim mit Normalschule zu verlegen, um ihm die Aussichten im späteren Erwerbsleben nicht zu verengen. Er ist bei konsequenter pädagogischer Führung in der Lage, für 2 Jahre die Volksschule zu absolvieren und sich ein entsprechendes Abschlusszeugnis zu beschaffen.“ Dafür sah er das Heim Karlshof in Wabern bei Kassel als geeignet.143

Zuständige staatliche Stellen in den 1950er Jahren Obwohl das St. Vincenzstift weiterhin zahlreiche Kinder und Jugendliche aus dem Rheinland und aus Rheinland-Pfalz aufnahm und daher vielfältige Beziehungen zu den jeweils dort zuständigen staatlichen Stellen bestanden, blieben doch die hessischen Behörden in grundsätzlichen Fragen maßgeblich. Hier ergab sich 1953 durch die Schaffung des in Kassel angesiedelten Landeswohlfahrtsverbands Hessen (LWV) eine neue Bezugsgröße im Bereich des Fürsorge- und Verwaltungsrechts, indem die beiden ehemals preußischen Kommunalverbände Kassel und Wiesbaden zusammengelegt wurden. In Wiesbaden verblieb eine Zweigverwaltung des LWV, zu der sich eine weitere in Darmstadt gesellte. Zu den zentralen Aufgaben des LWV zählten auch die Anstaltsunterbringung psychisch kranker und behinderter Menschen sowie die Erziehungsfürsorge, wofür nach wie vor neben den Einrichtungen in eigener Trägerschaft auch diejenigen freier Träger genutzt wurden. Durch die Verstaatlichung der bislang kommunalen Landesjugendämter in Kassel und Wiesbaden bzw. der Stadt- und Kreisjugendämter im Regierungsbezirk Darmstadt wurde zudem im LWV unter Beibehaltung der Landesjugendämter eine zentrale Fürsorgeerziehungsbehörde geschaffen.144 Somit war der LWV auch für Direktor Hannappel, der das St. Vincenzstift nach der im November 1954 verfassten neuen Satzung unter Berücksichtigung der Weisungen des Bischöflichen Ordinariats und der staatlichen Bestimmungen ohne eine weitere Instanz wie 143

144

Anstaltsarzt an den LWV mit Durchschlag an Schulrat v. 23. Sept. 1957, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Vgl. Karl-Heinz Deutsch, Die Aufgaben der Fürsorgeerziehungsbehörde des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Art, Umfang und Zeitprobleme (= Schriften des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Nr. 1), Kassel 1956; Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), 10 Jahre Sozialarbeit in Hessen 1953-1963. Ein Arbeitsbericht (= Schriften des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Nr. 8), Kassel 1963.

zuständige staatliche stellen in den 1950er jahren

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Abb. 5: Direktor Hannappel in der „Verwaltung“ des Hauses.

etwa einem Vorstand oder Kuratorium leitete145, sowohl als Kostenträger wie auch als Aufsichtsbehörde wichtig. Auch unter dieser neuen verwaltungstechnischen Konstellation blieb die wirtschaftliche Lage des Hauses nach wie vor angespannt. Da der LWV als maßgeblicher Kostenträger vor allem daran interessiert war, seine Ausgaben in der Anstaltsfürsorge möglichst gering zu halten, war er nicht nur an einer vollständigen und kostengünstigen Belegung seiner eigenen Einrichtungen interessiert – so hatten sich etwa im Kalmenhof die sehr einfachen Unterbringungsverhältnisse der Nachkriegszeit bis Mitte der 1950er Jahre kaum verbessert und wurde am Personal gespart146 –, sondern vereinbarte er auch mit den von ihm belegten Einrichtungen in freier Trägerschaft einen niedrigen Pflegesatz. Für das St. Vincenzstift wurden für 1952/53 3,80 DM und 1953 bis 1955 4,30 DM gebilligt.147 Als sich Direktor Hannappel Mitte 1956 hinsichtlich einer Pflegesatzerhöhung an den LWV wandte, verdeutlichte er zumindest die Unzulänglichkeit der Höhe der Betreuungsgelder, da der „bisher gezahlte Pflegesatz von täglich 4,65 DM für die Pfleglinge und 4 145 146 147

Satzung des St. Vincenzstifts v. 10. Nov. 1954, in: DAL, 238 A. Schrapper/Senling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 162f. In die Chronik des St. Vincenzstifts eingelegte Liste über die Entwicklung des Pflegesatzes des Hauses seit 1. Juli 1946, in: AStV.

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DM für die Altersheiminsassen […] bei weitem nicht mehr aus[reiche], um die Selbstkosten zu decken“. Immerhin wären die Kosten gegenüber dem Nachweis vom März 1955 um 0,48 DM gestiegen, was „vorallem [!] durch eine 15%ige Erhöhung der Personalkosten bedingt [sei]. Die Anstalt sah sich gezwungen, die Löhne und Gehälter der in ihr tätigen Kräfte wenigstens in etwa den Löhnen und Gehältern der in öffentlichen Anstalten tätigen Kräfte anzugleichen. Dazu kommt, dass infolge Mangels an Ordensnachwuchs die Anstellung von Laienkräften immer mehr erforderlich wird und sich damit die Personalkosten erhöhen. Zu den Personalkosten kommen noch die gestiegenen Lebenshaltungskosten.“ Deshalb bat Direktor Hannappel den LWV, den Tagessatz für die Anstaltsbewohner auf 5,15 DM und für die Altersheim-Insassen auf 4,50 DM zu erhöhen. Außerdem schlug er der Behörde vor, die bislang im Einzelfall gegen Nachweis erstatteten Nebenkosten etwa für Medikamente, Krankenhausaufenthalte oder sonstige Zusatzausgaben durch einen Pauschalbetrag von 0,10 DM je Bewohner und Tag zu erstatten.148 Der LWV gewährte die erbetenen Pflegesätze ab dem 1. Juli 1956, wobei „besonders kostspielige Massnahmen der Krankenhilfe“ weiterhin nicht als pauschale Nebenkosten gezahlt wurden.149 Das St. Vincenzstift galt also nach wie vor auch für Institutionen der Jugendfürsorge als Anlaufstelle. Daher blieben auch die kommunalen Jugendämter wichtige Instanzen für die Belegung der Anstalt. Allerdings scheint Direktor Hannappel hinsichtlich entsprechender Aufnahmegesuche klare Grenzen gezogen zu haben. Dabei positionierte er das Haus deutlich als Behinderteneinrichtung, wie es in etwa zeitgleich in ähnlicher Form auch der Direktor des Essener Franz Sales Hauses gegenüber dem Landesjugendamt Rheinland tat.150 Zumindest beschied Direktor Hannappel Mitte der 1950er Jahre eine Anfrage des Kreisjugendamts Rheingau bezüglich der Unterbringung aufgegriffener weiblicher Jugendlicher im Stift negativ, da diese „nur auf Stationen der schwachsinnigen Zöglinge möglich, […] aber nicht vertretbar“ sei, zumal „auf Grund des Gesetzes der Unterbringung von Schwachsinnigen in Schwachsinnigen-Anstalten […] wohl auch von gesetzlicher Seite aus sich Schwierigkeiten ergeben“ würden. Schließlich müsse er grundsätzlich „die Unterbringung ablehnen, da wir im Hause eine grössere Anzahl männlicher Schwachsinnige haben und mit der Unterbringung 148

149 150

Direktor Hannappel an den LWV v. 14. Juni 1956, in: Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (ALWV), B 100/32 Nr. 1509. LWV Hessen an das St. Vincenzstift v. 29. Juni 1956, in: ebd. Frings, Franz Sales Haus, S. 66.

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von weiblichen aufgegriffenen Jugendlichen sich sicher Gefahren ergeben würden“.151 Die weiter oben schon erwähnte Bedeutung des St. Vincenzstifts für die Anstaltsbetreuung benachbarter Bundesländer hing vermutlich eng mit seiner besonderen Ausrichtung zusammen. So stand dem Landschaftsverband Rheinland Mitte der 1950er Jahre zur „Unterbringung von schwer erziehbaren, schwachsinnigen Kindern sowie Kinder[n] mit psychischen Störungen“ als katholische Häuser neben vier Einrichtungen in NRW und dem Herz-Jesu-Haus im rheinland-pfälzischen Kühr-Niederfell an der Mosel nur noch die Aulhauser Anstalt zur Verfügung.152 Gleiches galt auch für das Landeswohlfahrtsamts Rheinland-Pfalz, wie ein Schreiben an das St. Vincenzstift schließen lässt. Nach einer Besichtigung hatten sich offenbar nicht näher genannte Unstimmigkeiten ergeben, die sich jedoch für das Stift nicht nachhaltig negativ auswirkten. Denn die auf Kosten der Behörde im Stift lebenden Bewohner erführen eine „vorzügliche Schulung“ und seien „auch bestens untergebracht“. Daher versicherte das Landeswohlfahrtsamt, „von irgendeiner Verlegung der Pfleglinge, die sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden, ab[zu] sehen“ und bat, „auch weiterhin unsere Anmeldung für Aufnahmen einzuschulender Knaben und Mädchen mit Rücksicht auf die alten Beziehungen unseres Landesfürsorgeverbandes zu Ihrer Anstalt bevorzugt zu berücksichtigen“.153 Die Ausführungen dürften in starkem Maß durch das insgesamt bestehende unzureichende Angebot an Heimplätzen für bildungsfähige geistig behinderte Kinder beeinflusst gewesen sein. Daher war die Behörde bemüht, weiterhin aus Rheinland-Pfalz stammende Mädchen und Jungen in ausreichender Zahl im St. Vincenzstift unterzubringen und vor allem die offenbar positiv eingeschätzten schulischen Angebote des Hauses zu nutzen. Hier waren wiederum das hessische Kultusministerium und seine regionalen Schulbehörden die maßgeblichen Institutionen, die der schulischen Förderung im St. Vincenzstift ebenfalls ein gutes Zeugnis ausstellten, sich aber mit einer stärkeren finanziellen Unterstützung schwer taten. Denn die Sonderschule des Stifts konnte ihr Niveau nur durch eine zunehmende Zahl weltlicher Lehrkräfte erreichen bzw. hal151

152 153

Direktor Hannappel an das Kreisjugendamt Rheingau vermutlich v. Sommer 1954, in: AStV, Ordner Schriftverkehr Rheingau – Koblenz. LVR an den Oberstadtdirektor von Viersen v. 22. Dez. 1955, in: ALVR, Nr. 40367. Landeswohlfahrtsamt Rheinland-Pfalz an das St. Vincenzstift v. 15. Mai 1953, in: AStV, Ordner Schriftverkehr Rheingau – Koblenz.

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ten. Da diese möglichst nach der öffentlichen Tarifordnung entlohnt wurden, hatte die Anstalt immer höhere Personalkosten zu tragen. Aber gerade diese Ausgaben belasteten den Haushalt der Einrichtung. Im Gegensatz zur Anschaffung der erforderlichen Schulbücher, die im Zuge der so genannten Lernmittelfreiheit bezuschusst wurde, war hier das Stift allein gefordert, zumal das im April 1953 erlassene Hessische Privatschulgesetz Privatschulen keinen Anspruch auf öffentliche Zuschüsse einräumte. Das Gesetz bot zwar in Ausnahmenfällen bei einer staatlichen Anerkennung als öffentliche Ersatzschule die Möglichkeit Mittel zu erhalten.154 Aber der 1924 für die Schule des Stifts erreichte Status scheint nicht ausgereicht zu haben. Jedenfalls wandte sich das Limburger Ordinariat Anfang 1954 an das hessische Kultusministerium, um Klarheit über den Charakter der HeimHilfsschule und deren Finanzierung zu erlangen. Dabei argumentierte die bischöfliche Behörde, dass der Schulträger zwar privater Natur, aber hinsichtlich der unter den Bewohnern zu beschulenden ca. 200 Kinder, „die zum weitaus größten Teil von den Landesfürsorgeverbänden und Jugendämtern eingewiesen sind, da der Staat nicht über genügend Einrichtungen verfügt, um die Beschulung dieser Kinder zu ermöglichen“, eine öffentliche Funktion wahrgenommen werde. Bei vier Schulschwestern und vier weltlichen Lehrkräften sollten letztere eigentlich aus staatlichen Mitteln bezahlt werden, zumal sonst die Abwanderung in den öffentlichen Schuldienst zu erwarten sei.155 Auch in der Folgezeit kam es zu keiner einvernehmlichen Lösung, obwohl das Regierungspräsidium schon zuvor einen Antrag des Stifts auf Gewährung von staatlichen Zuschüssen für die Hilfsschule „wärmstens befürwortet[e], da dort „eine notwendige und ungemein segensreiche Arbeit an Kindern, die nicht nur der normalen Begabung ermangeln, sondern die meist noch die Geborgenheit in geordneten Familienverhältnissen entbehren müssen“, geleistet werde.156 Zwar wurde dem Stift 1954 angekündigt, dass die Förderung heimgebundener Sonderschulen neu geregelt würde, auch Mittel aus dem Staatshaushalt eingebracht werden und Beratungen der zuständigen Behörden stattfinden 154

155

156

Neues Privatschulgesetz v. 23. April 1953, in: Zeitgeschichte in Hessen [http://www. lagis-hessen.de/de/subjects/sn/edb/id/4200]; vgl. auch Frank-Lothar Kroll, Geschichte Hessens, 2., durchges. u. erg. Aufl., München 2010, S. 99. Entwurf eines Schreibens des Limburger Ordinariats an das hessische Kultusministerium v. 19. Jan. 1954, in: DAL 238 A. Vermerk eines Referenten der Wiesbadener Regierungsbehörde zu einem Antrag auf Zuschüsse v. 10. April 1953, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22.

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sollten.157 Aber ein Schreiben Direktor Hannappels an das Kultusministerium vom Februar 1956 wies auf die nach wie vor unzureichenden Rahmenbedingungen für den Schulbetrieb hin. Demnach hatte das Ministerium für den Unterhalt der Hilfsschule zwar einen Zuschuss in Höhe von 15.000 DM gezahlt, aber zur Deckung der im Haushaltsplan veranschlagten Beschulungskosten von 59.200 DM fehlten immer noch 42.200 DM, die durch keine anderen Einnahmen gedeckt werden könnten. Dann erinnerte er, „wie bereits im Schreiben vom 17.3.55 betont, an die Pflicht der Beschulung der in das Heim eingewiesenen Kinder durch den Staat und an die damit gegebene Verpflichtung zur Übernahme der Beschulungskosten. Sollten die bestehenden Schwierigkeiten nicht grundsätzlich gelöst werden, dann sieht sich die Anstalt gezwungen, die Beschulung eines großen Teiles der schulpflichtigen Kinder einzustellen und diese gegebenenfalls der öffentlichen Schule in Aulhausen zur Verfügung zu stellen. Die Anstalt erhebt erneut die Forderung nach einer grundsätzlichen Regelung“, wie sie bereits vom Ministerium „in Aussicht gestellt“ worden sei.158 Dieses Schreiben scheint im Ministerium eine aufrüttelnde Wirkung gehabt zu haben. Bereits wenige Tage später fragte die Regierungsbehörde beim zuständigen Schulrat an, „ob dort Unterlagen betreffend Anerkennung der Privaten Sonderschule mit Heim St. Vincenzstift Aulhausen als Ersatzschule im Sinne des Privatschulgesetzes vom 27.4.1953 vorhanden“ seien.159 Schließlich erhielt das St. Vincenzstift im Mai 1956 die Nachricht, dass „zur Unterrichtung der in Ihrem Heim untergebrachten schulpflichtigen Kinder erstmalig 5 Lehrerstellen der Besoldungsgruppe A 3 d zugewiesen“ würden, wobei das Vorschlagsrecht für die entsprechenden Lehrkräfte bei der Schule lag. Neben der Schulleiterin Schwester Mechthilde wurden eine weitere Schwester und drei weltliche Lehrerinnen vorgeschlagen.160 157

158

159 160

Direktor Hannappel an Landesrat Stöffler v. 3. März 1955, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1509. Direktor Hannappel an das hessische Kultusministerium v. 17. Febr. 1956, in: DAL 238 A. In einem Verzeichnis der in Hessen befindlichen Sonderschulen waren 1959 insgesamt 32 Schulen aufgelistet. Unter den 15 im Regierungsbezirk Wiesbaden aufgeführten Schulen war die Hilfsschule des Vincenzstifts die einzige in privater Trägerschaft. Im Rheingau gab es ansonsten keine weitere Schule, drei befanden sich in Wiesbaden. (Vgl. Namentliches Verzeichnis der Sonderschulen mit Stand vom Mai 1959, in: AStV, Ordner Schule. Regierungspräsidium an den Schulrat v. 27. Febr. 1956, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Regierungspräsidium an das St. Vincenzstift v. 18. Mai 1956 und Antwort v. 25. Juni 1956, in: ebd.

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Abb. 6: Spielen im Aufenthaltsraum einer Schuljungen-Gruppe um 1955.

Zu dieser Zeit befanden sich im St. Vincenzstift auf zwölf Stationen insgesamt 427 Bewohner – wie schon seit den Anfängen rund zwei Drittel Jungen und ein Drittel Mädchen. Neben der mit 35 Kindern und Jugendlichen belegten Pflegestation gab es für die Jungen vier Schulkinder-Stationen (St. Rochus, St. Hermann-Josef, St. Stanislaus, St. Antonius), eine Station für Jugendliche (St. Aloysius), eine Station für Jugendliche und Erwachsene (St. Georg) sowie eine ausschließlich für Erwachsene (St. Josef). Während St. Josef mit 30 und St. Georg mit 23 Jungen belegt waren, hatten die anderen Stationen eine Belegung von 37 bis 43 Jungen. Bei den Mädchen war die Pflegestation 29 Personen stark, befanden sich auf der Station St. Agnes 28 und auf St. Elisabeth 40 Schulkinder sowie auf St. Notburga 40 Jugendliche und Erwachsene. Für die Betreuung und Versorgung standen insgesamt 100 Frauen und Männer zu Verfügung, darunter 39 weibliche und 5 männliche Erziehungs- und Pflegekräfte. 56 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigten sich in der Hauswirtschaft (26), in den Handwerksbetrieben (12), in der Landwirtschaft und Gärtnerei (13) sowie in der Verwaltung (5).161 Das Haus war voll oder sogar überbelegt, was sich 161

Auflistung zu Personal und Stationen des St. Vincenzstifts mit Stand v. Juli 1957 o. D. und Verf., in: AStV, Ordner CV – Schriftverkehr Anstalten.

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vor allem auf die Größe der Gruppen niederschlug. Der rechnerische durchschnittliche Betreuungsschlüssel im Stationsdienst lag bei 1 zu 10, was zur gleichen Zeit in etwa den Verhältnissen im diakonischen Wittekindshof in Bad Oeynhausen entsprach.162 Trotz der mehrfach zum Ausdruck gekommenen schwierigen wirtschaftlichen Lage des St. Vincenzstifts hatte Direktor Hannappel erkannt, dass Baumaßnahmen zur Hebung des Betreuungsstandards erforderlich waren und sich nicht mehr aufschieben ließen.163 Obwohl etwaige konkrete Planungen einschließlich Anfragen bei den zuständigen Behörden hinsichtlich der Finanzierung nicht nachzuvollziehen waren, signalisierten diese Überlegungen auch das Ende der Nachkriegsentwicklung. Allerdings konnte der Direktor die Umsetzung dieser Ziele nicht mehr selbst angehen, da er Mitte Juni 1957 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 47 Jahren starb.

Wichtige Weichenstellung: ein neuer Direktor Den Verantwortlichen im Limburger Ordinariat dürfte in dieser Situation klar gewesen sein, dass auf den Nachfolger Direktor Hannappels nicht nur hinsichtlich der notwendigen baulichen Verbesserungen, sondern auch struktureller Fragen große Aufgaben warteten. Zudem musste der neue Leiter dazu in der Lage sein, die verschiedenen, offenbar nicht immer einvernehmlich agierenden Ebenen der Mitarbeiterschaft des Hauses zu führen und den als notwendig erachteten disziplinarischen Rahmen zu gewährleisten, wie der Anstaltsarzt in einem Schreiben an den Limburger Bischof Kempf darlegte. Denn nachdem der Arzt die große Trauer unter den Schwestern, dem weltlichen Personal und besonders unter den Bewohnern über das Ableben Direktor Hannappels betont hatte, wies er zunächst darauf hin, dass die „Vielfältigkeit des Hauses […] täglich Entscheidungen kleiner und grosser Fragen“ erfordere und daher bald ein Nachfolger gefunden werden müsse. Gerade weil „der Verstorbene ein überaus guter Vater und Erzieher sei162

163

Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, „Der das Schreien der jungen Raben nicht überhört.“ Der Wittekindshof. Eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, 1887 bis 2012, Bielfeld 2012, S. 509. Im Essener Franz Sales Haus lag der Schlüssel noch 1963 bei 1 zu 17,5 (vgl. Frings, Franz Sales Haus, S. 108). In einem Schreiben an das Limburger Ordinariat sprach Direktor Müller am 4. Dez. 1957 von „schon vor meiner Zeit hier als dringend notwendig geplanten baulichen Veränderungen“. (in: DAL, 238 F/1)

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ner Kinder, ein verständnisvoller Vorgesetzter seinen Mitarbeitern gegenüber, ein von den Schwestern hochgeachteter Direktor und in seinem Innersten ein vorbildlicher Priester war“, sah er zwar durchaus die Probleme bei der Nachfolgeregelung. Aber trotz aller Bemühungen von Schwestern und weltlichem Personal, „Ordnung und Geist des Hauses zu erhalten“ seien „dem ohne eine verantwortliche Leitung Grenzen gesetzt“.164 Eine wesentliche Rolle bei Neubesetzung der Direktorenstelle nahm Diözesan-Caritasdirektor Walter Adlhoch (1956-1962) ein. Er wies dem St. Vincenzstift innerhalb der caritativen Arbeit in der Diözese eine so bedeutende Stellung zu, dass er während der Übergangsphase häufig die Anstalt besuchte und der Bistumsleitung konkrete Personalvorschläge machte. Das spezifische Anforderungsprofil für den Direktor erforderte nach seiner Einschätzung auf Grund der in der Satzung festgeschriebenen Machtfülle und der besonderen Ausrichtung des Stifts vielfältige Qualitäten, wie er dem Bischöflichen Ordinariat erklärte: „In Aulhausen ist der Direktor allein die letzte Instanz […]. Die Belegung des Hauses ist so schwierig wie in keinem anderen Heim unseres Bistums: 430 schwierigste Zöglinge, Jungen und Mädchen, Kinder und Jugendliche mit individuellen und differenzierten Bedürfnissen, von Eltern und Behörden meist unfreiwillig eingewiesen, das Haus mit einer Gesamtverantwortung (Personensorge) für das Lebensschicksal der meisten. Das Personal (100 Menschen) sind Ordensschwestern und Laien, jeweils nicht nur mit wirtschaftlichen, sondern auch schulischen und erzieherischen Aufgaben betraut und zum Teil zur Ausbildung und Fortbildung im Hause (Praktikanten von Wohlfahrtsschulen). Vom Direktor wird mehr als ein gutes Herz und priesterlich-pädagogisches Verstehen verlangt, das Haus erwartet von ihm eine feste Hand, Autorität und Leitung, Voraussicht und klare, richtungsweisende Ideen und vor allem das gewichtige und entscheidende Wort den (älteren) Zöglingen und ihren (meist unvernünftigen) Angehörigen gegenüber, aber auch dem Personal gegenüber und den Behörden des Staates und der Kommune gegenüber.“165 164 165

Anstaltsarzt an Bischof Kempf v. 21. Juni 1957, in: DAL, 238 B. Prälat Adlhoch an das Limburger Ordinariat v. 31. Juli 1957, in: ebd. Walter Adlhoch, der 1945 bis 1956 neben seinen Aufgaben als Pfarrer an St. Bonifatius in Wiesbaden bereits als Caritasdirektor für die Region Wiesbaden fungiert hatte, sprach sich für eine möglichst autonome Position der freien, kirchlich orientierten Träger gegenüber dem Staat aus und sah in den „Heimzöglingen“ auch wegen ihrer meist

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Vor diesem Hintergrund war die Zahl Geistlicher als potentielle Kandidaten sehr begrenzt. Zu diesen zählte von Anfang an Kaplan Rudolf Müller. 1921 in Wiesbaden geboren, nahm er als Soldat von Beginn an am Zweiten Weltkrieg teil, wobei er von November 1944 bis Ende 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war. Nach seiner 1949 erfolgten Priesterweihe wirkte er als Kaplan in Schlossborn im Taunus, in der Frankfurter Hl.-Kreuz-Gemeinde und seit 1955 in der Wiesbadener St.-Bonifatius-Pfarrei, wo er mit Prälat Adlhoch zusammenarbeitete. Vermutlich ließen seine hier gezeigten Eigenschaften und Fähigkeiten Kaplan Müller geeignet für das Direktorenamt erscheinen. Aber nach einem Besuch des Stifts, der ihm die zu erwartenden Belastungen des Amts verdeutlicht hatte, nahm er wegen seiner durch den Krieg angeschlagenen Gesundheit und fehlender landwirtschaftlicher Kenntnisse Abstand von seinen Ambitionen.166 Prälat Adlhoch sah daraufhin im Wiesbadener Caritasdirektor die beste Lösung. Allerdings hatte dieser sich gerade erst erfolgreich in seine Aufgaben als Caritasdirektor eingearbeitet, was bei der Entscheidungsfindung der Bistumsleitung ein wichtiger Faktor gewesen sein dürfte. Jedenfalls rückte Kaplan Müller wieder in den Mittelpunkt der Bemühungen, und schließlich übernahm er im Oktober 1957 das Amt des Direktors des St. Vincenzstifts. Direktor Müller griff schon bald nach seinem Amtsantritt die Planungen seines Vorgängers auf. Nach einer zweimonatigen Bestandsaufnahme erkannte auch er die dringende Notwendigkeit baulicher Verbesserungen im St. Vincenzstift. Vor allem hinsichtlich der sanitären Anlagen bestand hier ein großer Bedarf. So waren für die ca. 80 schulentlassenen Jungen, die abends von der Arbeit kamen, nur vier Brausen und fünf Waschschüsseln vorhanden. In der Pflegeabteilung der Jungen, die oftmals jeden Tag gebadet werden mussten, gab es „nur ein Wannenbad und 2 feste Toiletten in einem engen Raum“, und „transportable Sitztoiletten müssen in der Badewanne (!) gereinigt werden“. Als großes Bauvorhaben strebte Direktor Müller zudem für veranschlagte rund 500.000 DM die Aufstockung des Mädchen-Trakts an, indem durch die Errichtung eines weiteren Stockwerks die hygienischen Verhältnisse der im Dachgeschoss befindlichen Pflegeabteilung verbessert, neue Personalzimmer geschaffen und nicht zuletzt „die ältere Mädchenabteilung, in der sich 15-20jährige in einer Gruppe befinden, 166

schwierigen familiären Verhältnisse eine Gruppe von Betreuten, der mit großer Konsequenz begegnet werden müsse. (Vgl. auch Kapitel Marienhausen) Kaplan Müller an das Limburger Ordinariat v. 6. Juli 1957, in: DAL, 238 B.

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endlich altersmäßig zu teilen“. Insgesamt plante er 17 Baumaßnahmen mit zu erwartenden Gesamtkosten von ca. 620.000 DM.167 Direktor Müller ging konsequent die Umsetzung seiner Vorhaben an, die er bis 1963 einschließlich des Neubaus eines Ferienheims und der Erneuerung der Kesselanlage durchführte. Allerdings beteiligte sich aus seiner Sicht der Bischöfliche Stuhl gemäß seiner Verantwortung für das St. Vincenzstift nur unzureichend an der Finanzierung, wodurch dem Haus trotz der erhaltenen Bundes- und Landeszuschüsse immer wieder große Belastungen im laufenden Etat zugemutet würden. Dabei ging er eigentlich davon aus, dass die Diözese „nicht nur dem normalen, in der Familie wenigstens einigermaßen behüteten Kind durch die Neuschaffung von Kindertagesstätten helfen“ dürfe, sondern „seine Hilfe – eigentlich noch mehr – auch dem vielfach behinderten und geschädigten Kinde angedeihen lassen“ müsse. Deshalb drückte er sein Bedauern aus, auf seine „Anfragen um eine finanzielle Hilfe eine Absage“ erhalten zu haben. Er „hätte wohl alles beim Alten belassen sollen, dann könnte ich heute auch argumentieren: ‚Wenn nicht sofort gebaut wird, muß die Behörde das Haus schließen‘. In unserem Falle stimmt Ihr Argument nicht: ‚Sie würden nicht auf einen fahrenden Zug aufspringen‘. Als unser Zug noch stand, ist das Bischöfliche Ordinariat, dem das Haus doch letztlich gehört, nicht finanziell eingestiegen. So musste ich, um nicht die Zuschüsse zu verlieren, allein abfahren.“168 Durch die Zahlung von Wiedergutmachungsleistungen für die erlittenen Schäden durch die Enteignung im NS-Staat – der Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt vom Frühjahr 1960 sprach dem Stift gut 276.000 DM zu, die in zwei Raten innerhalb der nächsten zwei Jahre gezahlt werden sollten169 – und einer Spende der „Aktion Sorgenkind“ konnten zwar Mittel gewonnen werden, aber weder der angestrebte Neubau zur erforderlichen weiteren Verkleinerung von Gruppen als 167

168 169

Direktor Müller an das Limburger Ordinariat v. 11. Jan. 1958 in: DAL, 238 F/1. In einer vermutlich von Direktor Müller zusammengestellten Auflistung v. 6. Juni 1958 zur Belegung des Hauses waren von 408 Plätzen 402 belegt, wobei die Aufnahme von neun Mädchen und Jungen zugesagt war. Neben vier dauernd Bettlägrigen befanden sich auch 23 Jungen und 29 Mädchen als Dauerbewahr- und Pflegefälle im Stift. Wie gerade letztere unter den schwierigen räumlichen Verhältnissen zu leiden hatten, veranschaulichte ein abschließender Satz: „Infolge Platzmangel auf den Stationen sind 4 Dauerbewahr- und Pflegefälle z. Zt. auf dem Zimmer der Stationspflegerin untergebracht und 3 dauernd bettlägrige Kinder und 3 Bewahrfälle auf der Krankenstation.“ (in: AStV, Ordner Schriftverkehr Rheingau – Koblenz) Direktor Müller an das Limburger Ordinariat v. 12. Nov. 1963, in: DAL, 238 F/2. Bescheid der Oberfinanzdirektion Frankfurt v. 8. März 1960, in: DAL, 238 A.

pioniercharakter der sonderschule für „praktisch bildbare“

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auch eines „eigenen neuen Pflegeheim[s] für nicht mehr bildbare Kinder“ hatten sich bis 1965 umsetzen lassen.170

Pioniercharakter der Sonderschule für „Praktisch Bildbare“ Wenn also mit Direktor Müller eine Person die Gesamtleitung des St. Vincenzstifts übernommen hatte, die mit großer Energie strukturelle Verbesserungen anstrebte – auch hinsichtlich des Mangels an qualifiziertem Personal bemühte er sich um Abhilfe171 – galt dies auch für den fast zeitgleich eingesetzten neuen Schulrektor Karl Heinz Königstein. Offenbar im Zuge des hessischen Schulverwaltungsgesetzes von 1957 löste der Sonderschullehrer 1958 Schwester Mechthilde ab172, die zuvor zwar schwerer erkrankt und von einem Theologie-Studenten bei der Unterrichtung der Schüler vertreten worden war, aber noch zehn Jahre zum Kollegium der Schule zählte. In Anlehnung an einen Erlass des hessischen Kultusministeriums wurde die Bildungseinrichtung zudem in „Heim-Sonderschule St. Vincenzstift“ umbenannt. In den nachfolgenden drei Jahren führte Rektor Königstein in Versuchen weitergehende Differenzierungen der Schule „nach heilpädagogischen Grundsätzen“ durch und richtete sie stark zukunftsweisend aus, sodass diese Strukturen „in anderen Sonderschulen Nachahmung“ fanden.173 Dabei vollzog sich diese Entwicklung in der sich verändernden Sichtweise geistig behinderter Menschen, die sich etwa gerade im Bildungsbereich in der nun vorgenommenen Unterscheidung zwischen einer geistigen Behinderung und einer Lernbehinderung zeigte.174 170

171 172

173

174

Direktor Müller an das Limburger Ordinariat v. 20. Juli 1965, in: AStV, Ordner Bischöfliches Ordinariat Limburg/Lahn 1. Vgl. Kapitel Personal Der Kalmenhof erhielt zur gleichen Zeit erstmalig „einen eigenen, vom Land bestellten Schulleiter“, wobei die Sonderschule „trotz der neuerlangten institutionellen Eigenständigkeit […] weiterhin dem Heim organisatorisch untergeordnet“ blieb. (vgl. Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 182) Direktor Müller an das hessische Kultusministerium v. 25. Nov. 1961, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Nach Emil E. Kobi (Die Rehabilitation der Lernbehinderten, München/Basel 1975, S. 13) bezeichnete man ein Kind als lernbehindert, „das trotz seiner für schulische Belange ausreichenden Voraussetzungen in den Bereichen Sinnesaufnahme (insbesondere Hören und Sehen), Motorik, Sprechen und Sprache sowie Verhalten unter den üblichen Bedingungen der Allgemeinen Schule nicht hinreichend gefördert werden kann, für das jedoch begründete Hoffnungen bestehen, dass es durch auf

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Wie weiter oben schon skizziert, rückte gleichzeitig langsam ein breiterer, auf die (Wieder)Eingliederung in die Gesellschaft ausgerichteter Rehabilitationsaspekt für Menschen mit einer geistigen Behinderung und damit auch eine positive Einschätzung ihrer Bildungsfähigkeit ins Zentrum der konkreten Förderbemühungen wie auch der bildungspolitischen Diskussion. Diese wurde gerade in Hessen, das 1961 als erstes Bundesland „Sonderschulklassen für Praktisch Bildbare“ einrichtete, intensiv und fortschrittlich geführt.175 Innerhalb dieses Prozesses auf Länderebene kam der Sonderschule des St. Vincenzstifts offenbar eine wichtige Funktion zu. So hielt Rektor Königstein im Schul-Tagebuch für das Jahr 1959 fest: „Um auch den Kindern helfen zu können (und damit auch den Erwartungen der sie vertrauensvoll nach hier bringenden oder sie einweisenden Erziehungsberechtigten gerecht zu werden), die schulisch nicht mehr ansprechbar, aber n. u. M. noch motorisch bildbar sind, wurde Ostern eine (Werk-) Klasse S1 eingerichtet, die solche Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 1 und 2 aufnimmt. Aus Verantwortung vor dem bildungsschwachen Kind sehen wir geradezu eine Notwendigkeit in der Existenz dieser Klasse. Alle nur vorhandenen ‚positiven‘ Ansatzpunkte (u.a. Spieltrieb, Betätigungsfreude, Eifer) sollen unter besonderen methodischen Prinzipien der manuellen Tätigkeit so entwickelt und die ‚negativen‘ Verhaltensweisen oder Erscheinungsformen (wie Antriebsarmut, Ungeordnetheit u.a.) so abgebaut werden, daß nach der Schulentlassung – wenn möglich am Ende der Schulpflicht – ein bescheidener Arbeitseinsatz möglich ist. Auch soll hier in Einzelfällen der Gefahr der Verwilderung in jeglicher Form oder das Abgleiten in einen ‚Pflegefall‘ entgegengewirkt werden. Damit die Repetenten in der Hilfsschule ihres Alters oder ihrer geistigen Schwäche wegen nicht den Unterrichtsverlauf der Unterstufe stören oder hemmen und dadurch ihre Klassenkameraden schädigen, werden die Schüler, die in den Klassen 3 und 4 (z. T. auch 5) a. Gr. ihres Leistungsversagens bis zum Ende der Schulpflicht verbleiben

175

seinen Lebenszusammenhang und seine Bildungsbedürfnisse ausgelegten Unterricht (und evtl. auch durch Therapiemaßnahmen) dazu befähigt werden kann, sein künftiges Leben – möglichst auf der Basis anständig bezahlter Erwerbstätigkeiten – hinreichend selbständig zu führen und seine gesellschaftlichen Rechte und Pflichten wahrzunehmen.“ (Zusammenfassung aus: Artikel Lernbehinderung von Hans Weiß in Familienhandbuch: https://www.familienhandbuch.de/behinderung/formenvon-behinderung-lernbehinderung) Ellger-Rüttgardt, Sonderpädagogik, S. 304 u. 332; Bösl, Behindertenpolitik, S. 48.

pioniercharakter der sonderschule für „praktisch bildbare“

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müssten, zu einer (Sammel-) Klasse S2 zusammengefaßt. Ihre Aufgabe ist es, die schulischen Kenntnisse und Fertigkeiten, die die Kinder aus der Hilfsschule mitbringen, zu erhalten, zu festigen und darüber hinaus bei jedem Kind nach weiteren Anhaltspunkten zu suchen, die eine, wenn auch nur geringe, Weiter-‚Bildung‘ ermöglichen. Die Arbeit ist eine zweifache: Einmal, Lesen, Schreiben und Rechnen unter den gegebenen Verhältnissen im Rahmen des Möglichen zu pflegen; zum anderen, durch manuelle Betätigung Erfolgserlebnisse zu vermitteln, die das Selbstwertgefühl dieser Kinder festigen.“176 Indem Rektor Königstein bald darauf für zwei Monate ins Kultusministerium abgeordnet wurde, um am „Bildungsplan für Hilfsschulen“ mitzuarbeiten und seine im Stift gemachten Erfahrungen einzubringen, zeigte sich auch die Vorbildfunktion der schulischen Bemühungen im St. Vincenzstift für die hessischen Bildungsinitiativen. Neben diesem wichtigen Engagement auf ministeriale Ebene, durch das nicht nur Einfluss auf die übergeordneten Rahmenbedingungen genommen, sondern vermutlich auch konkrete materielle wie personelle Unterstützung für die eigene Schule erlangt werden konnte177, dürfte es für eine erfolgreiche Umsetzung der Zielvorstellungen entscheidend gewesen sein, das Kollegium mit auf den Weg zu nehmen. Hierzu dienten die Schaffung neuer Klassenräume, die deutliche Verbesserung der Ausstattung, die Einrichtung eines neuen Lehrerzimmers und die Abhaltung monatlicher Konferenzen, die Fortbildungscharakter besaßen. Auch profitierten die Lehrkräfte davon, dass immer wieder Lehrergruppen anderer Schulen die Aulhauser Lehreinrichtung besuchten, aber auch Besuche in anderen Schulen stattfanden sowie Lehrer für Qualifizierungsangebote etwa auf sprachheilkundlichem Gebiet frei gestellt wurden. Durch den Einsatz einzelner Lehrkräfte war es letztlich möglich, etwa Turnstunden für Spastiker oder Schwimmstunden in einem öffentlichen Bad zu erteilen. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses hatte sich im St. Vincenzstift ein Schulsystem mit heilpädagogischem Schulkindergarten, Vorschule, Sonderschule für Lernbehinderte, Sonderschule für „Praktisch Bildbare“ und Berufssonderschule herauskristallisiert. Im März 1963 umfass176 177

Schul-Tagebuch I 1935-1962/63, in: AStV, S. 27-29. Ende1960 führte die Schule für das Kultusministerium einen Schulversuch über die Intensivierung der musischen Erziehung durch, der mit 1.700 DM für die Anschaffung von Orff`schen Instrumentarium, eines Tonbandgeräts und eines Plattenspielers nebst Zubehör gefördert wurde. (vgl. Schul-Tagebuch I 1935-1962/63, in: AStV, S. 54)

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te die Schule 36 Berufsschüler (26 Jungen, 10 Mädchen), 120 Lernbehinderte (94 Jungen, 26 Mädchen), 40 Vorschüler (17 Jungen, 13 Mädchen) und 35 „Praktisch Bildbare“ (21 Jungen, 14 Mädchen). Von diesen 231 Schülern unter den insgesamt ca. 400 Bewohnern des Stifts wurden 25 entlassen und 23 wiederholen die Klasse.178 Eine Besonderheit bildete zudem die Einrichtung einer „Artikulationsklasse“ für sprachbehinderte Kinder. In den insgesamt 18 Klassen befanden sich in drei Klassen 18 bzw. 19 Schüler, ansonsten betrug die Klassenstärke 9 bis 13 Schüler.179 Diese Entwicklung der Schule des St. Vincenzstifts musste sich auch auf die Stellung dieses Bereichs innerhalb des Hausgefüges auswirken. Jedenfalls bemühte sich Rektor Königstein, außer den Hausverantwortlichen auch die in den Gruppen tätigen Erzieher stärker in die schulischen Abläufe einzubeziehen und zumindest hinsichtlich der EntlassSchüler in einen regelmäßigen Austausch zu treten. Für den Direktor als Leiter des gesamten St. Vincenzstifts dürfte es ein entscheidender Aspekt gewesen sein, dass die mit dem Ausbau der Schule verbundene Kostenzunahme nicht zu Lasten des Haushaltes der Anstalt ging. Da sich die staatlichen Stellen bereit erklärten, weitere Lehrkräfte der Schule als Landesbeamte und damit die bislang vom Stift als Schul­ träger gezahlten Gehälter zu übernehmen, konnte 1962 eine für alle Seiten günstige Regelung getroffen und auf dieser Grundlage ein Schul­ etat vereinbart werden.180 Als Rektor Königstein 1966 als Oberschulrat zum hessischen Kultusministerium wechselte, übergab er seinem Nachfolger Herbert Koleczek eine nach modernen Maßstäben ausgerichtete Sonderschule, die auch eine entsprechend positive Außenwirkung besaß.181 Davon profitierte das Ansehen der gesamten Einrichtung, zumal das öffentliche Sonderschulwesen gerade in den ländlichen Regionen immer noch wenig ausgeprägt war. Langsam begann sich Ende der 1960er Jahre auch das Übergewicht der Beschulung der Lernbehinderten in Richtung der „Praktisch Bildbaren“ zu verschieben. In diesem Bereich wurden jetzt auch externe Schüler aus der Umgegend in die sieben Klassen aufgenommen – eine Aufnahme- und Beobachtungsklasse, drei Klassen 178 179

180 181

Ebd., S. 93-95. Karsten Q., der 1963 als Lehrer zum Stift kam, erinnerte sich an durchschnittlich ca. 20 Schüler in den Klassen und 26 Schüler als höchste Zahl. (Vgl. Interview Karsten Q.) Schul-Chronik I, in: AStV, S. 73f. So wurde Karsten Q. bei seinem sozialpädagogischen Studium in Marburg erklärt, dass die Sonderschule des Stifts schon weit entwickelt sei. (Vgl. Interview Karsten Q.)

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Abb. 7: Schulische Förderung Ende der 1960er Jahre.

der Unterstufe, 2 Klassen der Mittelstufe sowie eine Klasse der Oberstufe. Die Sonderschule für Lernbehinderte orientierte sich am hessischen Bildungsplan für diese Schulform und war mit einer zusätzlichen Sammelklasse in neun Klassen voll ausgebaut. Durch die Früherfassung und Förderung der Kinder vor allem in den Kulturtechniken in den ersten beiden Klassen sollte das Leistungsniveau in der Mittel- und Oberstufe erhöht werden. Die Sonderberufsschulklassen dienten der beruflichen wie auch der lebenspraktischen Förderung. Insgesamt 240 Schüler wurden nun unterrichtet.182

Von der Anstalt zum Heim? Bis Anfang der 1960er Jahre hatte Direktor Müller gemeinsam mit Rektor Königstein in relativ kurzer Zeit im St. Vincenzstift wichtige bauliche und strukturelle Veränderungen durchgeführt. Neben diesen Bemühungen um die Fortentwicklung des Stifts sah Direktor Müller eine wichtige Aufgabe seines Amtes in einer konstruktiven Mitarbeit in den 182

Beitrag Rektor Koleczeks zur aktuellen Situation der Sonderschule in: 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe.

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regionalen wie überregionalen Gremien der Behindertenhilfe. Sein gesamtes Engagement wird mit dazu geführt haben, dass ihn die Mitglieder des „Verbands katholischer Anstalten Deutschlands für Geistesschwache“ 1961 zu ihrem Vorsitzenden wählten. Dabei dürfte auch für den Aulhauser Direktor gesprochen haben, dass er sich auf Grund seines noch jungen Alters den neuen Herausforderungen, denen sich die Behindertenhilfe gegenüber sah, vergleichsweise unbefangen stellen konnte. Direktor Müller selbst hob hier das BSHG und das JWG, die beide seit Anfang der 1960er Jahre für das Betreuungsfeld maßgeblich waren, aber auch neue medizinische, psychologische und pädagogische Erkenntnisse hervor. Ebenso erwähnte er in diesem Zusammenhang die „Verlagerung der Hilfe von der sogenannten geschlossenen Arbeit in den Heimen und Anstalten auf die halboffene in Tagesstätten und Beschützenden Werkstätten und die offene in der Einbeziehung der Beratungsstellen zur möglichen Früherfassung und rechtzeitigen Therapie der Behinderten“, die in zunehmendem Maß dieses Fürsorgefeld prägten.183 In einem Beitrag in der Zeitschrift „Caritas“ fasste Direktor Müller Mitte der 1960er Jahre die für ihn maßgeblichen modernen Erkenntnisse und Grundsätze hinsichtlich der „Sorge um das geistig behinderte Kind“ zusammen, wobei er die Bezeichnung „geistige Behinderung“ als einen „pädagogischen Terminus für Schwachsinn“ betrachtete. Seinen Überlegungen legte er weiterhin die wissenschaftlich anerkannte Unterscheidung der Intelligenzdefekte in „Idiotie“, „Imbezillität“ und „Debilität“ zugrunde. So könnten debile Kinder, die einen IQ von ca. 70 bis 90 besäßen, gut in „Sonder- oder Hilfsschulen“ gefördert werden und „durchaus eine selbständige Arbeitsfähigkeit erreichen. Intellektuell minder ausgerüstete Menschen brauchen – das zeigt die Erfahrung – viel länger Halt und Führung von außen, weil sonst die Gefahr eines sozialen und menschlichen Abgleitens leichter gegeben ist.“ Grundsätzlich sah er bei der Betreuung geistig behinderter Kinder die Heilpädagogik gefordert, der die Psychiatrie etwa durch eine „mehrdimensionale Dia­ gnostik“ oder „medikamentöse Behandlung“ höchstens helfen könne. Durch qualifiziert durchgeführte heilpädagogische Bemühungen, also in „Lebens-Hilfe, Erziehung und Unterricht“, ergaben sich für ihn Perspektiven, „die bestmögliche Entwicklung und soziale Anpassung des Kindes zu erreichen“. Diese Aussichten hätten auch „nervöse und psy183

Rudolf Müller, Hilfe für geistig Behinderte und Geisteskranke im Spiegel der Geschichte eines Verbandes, in: Jugendwohl 3/1970, S. 136.

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chopathische Kinder“ unter Anwendung spezifischer „heilpädagogischer Methoden“, die jedoch „nicht mit dem Kindesalter enden“ dürften.184 In seiner darauf folgenden Bestandsaufnahme der Bemühungen um Kinder mit einer geistigen Behinderung erkannte er die in den letzten Jahren von der „Lebenshilfe“ angestoßenen Initiativen im Bereich der offenen Arbeit an, die bislang von Seiten der Caritas nur unzureichend in den Blick genommen worden sei. Auch konstatierte er in diesem Zusammenhang durchaus eine verbreitete „Aversion gegen Heime und Anstalten“. Dennoch stellte er fest, „daß Einrichtungen dieser Art – einund ausgerichtet nach den modernen Erkenntnissen der Psychiatrie und Heilpädagogik – heute ebenso notwendig sind wie die offenen und halboffenen Einrichtungen“. Nicht zuletzt auch für das Feld der Caritas regte er daher an, neben einer Erweiterung der Aktivitäten hinsichtlich offener Angebote, auch „die Arbeit im geschlossenen Raum zu modernisieren“, was auch durch den Umbau einer Reihe der vorhandenen Einrichtungen geschehen solle. Dies erwartete er „nicht nur in baulicher, sondern auch [in] einstellungsmäßiger Beziehung, was sich in der „Wegführung von der Bewahrung und Hinführung zur echten Lebenshilfe, Förderung und Starthilfe“ zeigen müsse.185 Allerdings vertrat Direktor Müller noch Anfang der 1960er Jahre für die Betreuungsarbeit im St. Vincenzstift ein Konzept, das diesen Ansprüchen zumindest in den Augen des hessischen Landesjugendamts nur teilweise genügte. Dabei kam diesem Urteil insofern Bedeutung zu, als das JWG erstmals eine die gesamte Einrichtung betreffende Heimaufsicht festschrieb. Bislang hatte der Gesetzgeber den unterschiedlichen zuständigen staatlichen Stellen – also etwa kommunalen Jugendämtern oder Landesjugendämtern – nur die Aufsicht über das individuelle Wohl des einzelnen Heimkindes vorgegeben.186 Das JWG wies jetzt jedoch die institutionelle Heimaufsicht den Landesjugendämtern zu und weitete diese in den §§ 78 und 79 auf alle „Heime und andere Einrichtungen, in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig, betreut werden oder Unterkunft erhalten“, aus.187 Darunter fielen ausdrücklich auch Heime für geistig behinderte Minderjährige, wobei die Landesju184

185 186 187

Rudolf Müller, Die Sorge um das geistig behinderte Kind, in: Caritas 65 (1964), S. 228f. Ebd., S. 230f. Winkler, kreuznacher diakonie, S. 231. Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) v. 11. Aug. 1961, in: BGBl, S. 1205.

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gendämter nun im Zuge der Neuregelung des Pflegekinderschutzes anstelle der kommunalen Jugendämter die Pflegeerlaubnis erteilten und ebenfalls das „leibliche, geistige und seelische Wohl“ der unter 16 Jahre alten Minderjährigen zu gewährleisten hatten.188 Hier kam ihnen vor allem eine beratende, aber auch eine überwachende Funktion zu, was besonders Personalfragen tangierte. Wenn die Landesjugendämter etwa auf Grund ihrer eigenen oft nur unzureichenden Personalausstattung oder organisatorischer Mängel bei der Umsetzung dieser Vorgaben immer wieder mit Problemen zu kämpfen hatten, die die eigentlich notwendigen Visitationen der Heime verhinderten, dürften zudem Behinderteneinrichtungen im Gegensatz zu FE-Heimen nicht unbedingt im Fokus der Heimaufsicht gestanden haben.189 Da jedoch im hessischen Landesjugendamt bereits Anfang der 1960er Jahre konkrete Bemühungen um eine Reform der Heimerziehung einsetzten190, sah sich auch das St. Vincenzstift einer kritischeren Sichtweise hinsichtlich seiner Betreuungsarbeit gegenüber. So fiel bereits 1960 Mitarbeitern des Landesjugendamts bei einem Besuch im Stift die stark auf den Anstaltskosmos begrenzte Betreuungsarbeit ins Auge. Direktor Müller begründete dies mit dem Grad der Erziehungsschwierigkeit vieler im Haus untergebrachter Mädchen und Jungen wie auch ihrer problematischen familiären Verhältnisse. So habe sich der „Besuch der öffentlichen Berufsschule […] nicht als zweckmäßig erwiesen, weil der Besuch unkontrollierbar war und die Jugendlichen sich teilweise draußen herumgetrieben“ hätten. Auch fürchte er den „schädlich[en]“ Einfluss des Elternhauses, wobei bei den Vertretern der Erziehungsbehörde „der Eindruck“ entstand, „daß es im Grunde genommen dem Heim lieber ist, wenn die Eltern sich nicht sehr stark um ihre Kinder kümmern. Die Notwendigkeit des Eltern-Kontaktes wird vom Heim nicht eingesehen.“ Zudem sprach der Direktor den schulentlassenen Bewohnern die Fähigkeiten zu einer Lehrausbildung ab. Gerade die Mädchen kämen „nur für ganz einfache Tätigkeit in Frage“. Es passiere kaum, „daß eines der Mädchen einen Lehrvertrag abschließen“ könne, und sollte eines „in der Intelligenz 188

189

190

JWG §§ 28 u. 29; vgl. Karl-Wilhelm Jans/Günter Happe, Jugendwohlfahrtsgesetz. Kommentar mit systematisch gegliederten Erläuterungen, den einschlägigen Nebengesetzen und ergänzenden Bestimmungen, Köln 1963, S. 573ff. Winkler, kreuznacher diakonie, S. 233. Für die verschiedenen Einrichtungen der kreuznacher diakonie – u.a. Kinderheime und Behinderteneinrichtungen, ließen sich nur für erstere seit den 1970er Jahren Besuche der Heimaufsicht nachweisen. Arbeitsgruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen, S. 128 u. 200.

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über die anderen“ hinausragen, werde „es nach Hofheim-Marxheim abgegeben“. Wenn auch die Sonderschule des Stifts bei den Besuchern einen guten Eindruck hinterließ und die Räume des Hauses teilweise freundlich eingerichtet empfunden wurden, konstatierten sie letztlich doch einen „Anstaltscharakter“ des Stiftes. Dem entsprach auch das ambivalente zusammenfassende Besuchsergebnis, „daß das ‚St. Vincenzstift‘ in Aulhausen den Behinderten, die dort untergebracht sind, schon ein menschliches Zuhause schafft. Man gibt sich Mühe, im Rahmen der dort vorhandenen Möglichkeiten auch noch auf eine Weiterbildung zu achten. Ein heilpädagogisches Heim in unserem Sinne unter Anwendung bestimmter Therapie und modernerer Hilfsmittel ist das ‚St. Vincenzstift‘ zweifelsohne nicht. Sicher sind [!] unter den Kindern eine Reihe, die unter Anwendung modernerer Heilpädagogik noch weiter gefördert werden könnten. Man sollte versuchen, das ‚St. Vincenzstift‘ auch in diesen Bemühungen zu unterstützen und ihm entsprechende Anregungen zu geben. Es müßte eventuell zunächst einmal der Versuch gemacht werden, mit einer kleinen Gruppe, aber dann unter Einstellung entsprechend ausgebildeten Fachpersonals, moderne Heilpädagogik zu treiben.“191 Der Aktenvermerk über einen weiteren, 1962 unangemeldet erfolgten Besuch des Landesjugendamts im St. Vincenzstift setzte eher umgekehrte Schwerpunkte. Zunächst wurden bei der Inneneinrichtung die zum Teil enge Bettenformation und die großen Waschbecken mit zehn bis zwölf Wasserhähnen bemängelt – man ging davon aus, dass dies auch dem Amtsarzt bekannt sei. Andererseits hob der Verfasser des Vermerks jedoch hervor, dass man sich im Stift „zweifellos mit viel Liebe, Geduld und Fachkenntnis der Pflege und Förderung der geistig behinderten Kinder“ hingebe. Zudem bezeichnete er wie Direktor Müller „den Charakter des Heimes ebenfalls vorwiegend als ‚offen‘ “, wenn auch einige Abteilungstüren je nach Schwierigkeit und Unruhe der Kinder mit einfachen Vierkant-Schlüsseln verschlossen würden.192 Auch in den nachfolgenden Jahren war Direktor Müller bemüht, durch weitere Auflockerungen und Modernisierungen den Charakter des St. Vincenzstifts zu verändern. Ein Aktenvermerk einer Mitarbeiterin des LWV vom April 1965 über den Besuch des Stifts zeigte, dass dies durchaus positiv wahrgenommen wurde. So hielt „das Heim, ein 191

192

Bericht des LJA v. 4. Febr. 1960 über den Besuch vom 18. Jan. 1960, in: HHStAW, Abt. 561 Nr. 1313. Aktenvermerk des LJA v. 20. Febr. 1962 über den unangemeldeten, mit dem Rüdesheimer Jugendamtsleiter vorgenommenen Besuch v. 13. Febr. 1962, in: ebd.

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Abb. 8: Schlafsaal einer Mädchengruppe Mitte der 1950er Jahre.

älteres Gebäude in gut erhaltenem Zustand“, insgesamt 400 Plätze vor, von denen „144 für geistig behinderte, bildungsfähige schulpflichtige Jungen und Mädchen, 68 [mit] männliche[n] und weibliche[n] lehrbzw. anlernfähige[n] Jugendliche[n]“ sowie ca. 90 mit „Imbecillen, 60 mit pflegebedürftigen Minderjährigen und ca. 30 mit Erwachsenen, für die das Haus zur Heimat geworden ist, belegt“ waren. „Die Gruppen sind 20 bis 25 Jungen bzw. Mädchen stark. Die großen Schlafräume wurden, soweit die Baulichkeiten es zuließen, unterteilt und machen einen gepflegten, freundlichen Eindruck. Teilweise stehen den Kindern 2 Wohnräume zur Verfügung. Der Flur ist jeweils ziemlich lang, aber breit und durch große Fenster sehr hell, so daß auch hier noch Aufenthalts- und Arbeitsecken eingerichtet werden konnten.“193 Als das St. Vincenzstift 1968 aus Anlass seines 75. Jubiläums eine in wesentlichen Teilen von Direktor Müller verfasste Festschrift herausgab, überschrieb er die rund zehn Jahre seiner Direktorenzeit „Von der Anstalt zum Heim“. Neben den Maßnahmen zur Auflockerung der Gruppen nannte er den von den weltlichen Rektoren außerordentlich kompetent geleiteten Schulbereich als richtungsweisend. Die quantita193

Aktenvermerk einer Mitarbeiterin des LWV v. 15. April 1965 über den drei Tage zuvor erfolgten Besuch, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1509.

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tive Bilanz seit dem Wiederbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg umfasste insgesamt 1.519 Kinder und Jugendliche, die bis Ende 1967 ins Haus gekommen waren. Von diesen kehrten 550 in ihr Elternhaus zurück, 384 wurden in andere Heime oder Anstalten verlegt, 97 in eine Arbeitsstelle vermittelt und 82 verstarben. Bis auf acht, über deren Verbleib keine Angaben gemacht werden konnten, lebten die übrigen 398 noch im Stift.194 Die im St. Vincenzstift geleistete Arbeit scheint, wie zuvor gesehen, von den maßgeblichen staatlichen Behörden weitgehend positiv eingeschätzt worden zu sein. Jedenfalls unterstützten sie die Weiterentwicklung des Hauses. Denn 1968 konnte mit dem Neubau von zwei Gruppenhäusern mit insgesamt 80 Plätzen begonnen werden, den Zuschüsse der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz ermöglichten. Das erste, „Hessen“ benannte Haus wurde 1970 fertig gestellt und beherbergte fortan vier Wohngruppen mit zwölf Kindern. Neben den modern eingerichteten Gruppenräumen standen im Erdgeschoss auch ein Hobbyraum und zwei Gymnastikräume zur Verfügung. Wie die Schwester-Chronik berichtete, „bezog im August Schwester A. mit ihren Jungen die neuen Räume in der zweiten Etage des Hauses ‚Hessen‘. Die Rochusgruppe wurde aufgeteilt. Die eine Gruppe behält den Namen ‚Rochus‘. Die Nachbargruppe auf der gleichen Etage erhielt den Namen ‚Martin‘. Aus den zahlenmäßig großen Gruppen des Zentralbaus zogen Kinder in den Neubau. Zwei neue Wohngruppen mit den Namen ‚Markus‘ und ‚Christophorus‘ wurden im ersten Stock eingerichtet.“195 Gerade die hier beschriebene Verkleinerung der Gruppen wurde von Erziehenden, deren Gruppen konkret von dieser Maßnahme profitierten, im Rückblick als eine wesentliche Veränderung positiv geschildert. Dies betraf sowohl die Strukturen des Zusammenlebens, die sich deutlich familiengerechter darstellten, als auch die weitaus bessere Möglichkeit, die Bewohner individueller zu fördern.196

194

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196

75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe. Bis Ende 1970 wurden nach den Hauptbüchern des Stifts insgesamt 1.652 Mädchen und Jungen aufgenommen. (Vgl. Hauptbuch des St. Vincenzstifts, Bd. 2) Chronik der Dernbacher Schwestern des St. Vincenzstifts Aulhausen für den 12. Aug. 1970, in: Archiv der Deutschen Provinz der Dernbacher Schwestern (AADJC), Bd. II, S. 3. Interviews Schwester Helga W., Schwester Hildegard U. u. Claudia O.

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Weitere Positionierung in Richtung Behindertenhilfe Die weiter oben beschriebenen Überschneidungen zwischen Behindertenhilfe und Jugendfürsorge bei der Betreuungsarbeit im St. Vincenzstift erforderten von Direktor Müller des Öfteren klare Positionierungen. Dabei sah er das Stift eindeutig als Einrichtung für Mädchen und Jungen mit einer geistigen Behinderung. Diese konnte sich jedoch auch in Verhaltensgestörtheit und Erziehungsschwierigkeit zeigen, wie er 1962 im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Regelung der Taschengeld-Zahlung an FE-„Zöglinge“ und die anderen vom LWV im Haus Untergebrachten gegenüber der Behörde betonte. Denn bei den von der dortigen Abteilung Erziehungshilfe „eingewiesenen Pfleglingen [handele es sich] um psychisch kranke Kinder und Jugendliche […], die auf Grund dieses Leidens bei uns aufgenommen werden konnten. Niemals hätte eine Aufnahme nur im Hinblick auf einen FE-Beschluß erfolgen können, da wir ein Heim für Schwachsinnige und nicht für FE-Zöglinge sind.“ Deshalb könne auch nicht akzeptiert werden, dass den auf Basis des BSHG vom ebenfalls beim LWV angesiedelten Landessozialamt eingewiesenen Kindern und Jugendlichen ein Taschengeld gezahlt werde, aber FE- und FEH-„Zöglingen“ nicht. Auch für die betroffenen Bewohner wäre nur eine einheitliche Regelung verständlich.197 Die enge Verknüpfung beider Fürsorgebereiche, die auch die konkrete Betreuungsarbeit kennzeichnete, spiegelte sich 1963 auch in einer statistischen Beschreibung der familiären Verhältnisse und der Lebensstationen der 397 im St. Vincenzstift untergebrachten Bewohner wider. Immerhin 30 % von ihnen hatte bereits zuvor in Kinder- bzw. Er197

Direktor Müller an den LWV v. 30. Nov. 1962, in: AStV, Ordner Kassel - Landesjugendamt. Noch 1958 von „Aufnahmeabteilung der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof “ in „Jugendheim Kalmenhof “ umbenannt, da sich u.a. Eltern sorgten, „daß ihre Kinder als geistig Behinderte nach dem Aufenthalt in der Aufnahmeabteilung im Heilerziehungsheim untergebracht werden sollten, wurde im November 1962 „in Anbetracht des Fürsorgedefizits im Bereich geistig behinderter Kinder in Hessen“ und „unter Verweis auf die vorhandenen Einrichtungen (Sonderschule und Werkstätten) die Spezialisierung des Heimes auf die Unterbringung und Ausbildung geistig- oder lernbehinderter Kinder beschlossen“. Dennoch gab es im hessischen Raum neben dem Kalmenhof nur noch die Anstalt Scheuern und das St. Vincenzstift als spezielle Einrichtungen für die Betreuung „geistesschwacher Minderjähriger“, wobei der Kalmenhof als öffentliche Einrichtung die Aufnahme nicht verweigern konnte, was private Einrichtungen offenbar des Öfteren taten. (vgl. Schrapper/Sengling, 100 Jahre Kalmenhof, S. 168-172)

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ziehungsheimen gelebt. 12 % waren Waisen und bei 10 % galt die Ehe der Eltern als zerrüttet. Bei 18 % der Bewohner konnten keine Angaben zum Beruf des Vaters gemacht werden, und auch für die 36 % der unehelich Geborenen unter ihnen fehlten entsprechende Daten. Von den restlichen entstammten 20 % dem Arbeitermilieu und bei 16 % war der Vater Handwerker oder Landwirt. Schließlich vermerkte die Auflistung noch, dass bei 12 % der Bewohner zumindest einem Elternteil ebenfalls eine geistige Behinderung attestiert worden sei. Eine Auflistung der Familienverhältnisse der 1969 in Hessen in Heimerziehung überwiesenen Minderjährigen zeigt ähnliche Konstellationen auf, was die Verwobenheit der Betreuungsfelder unterstreicht.198 Konkret auf die Lebensschicksale bezogen, bedeuteten diese Zahlen, dass z. B. immer wieder Mädchen und Jungen bereits nach der Geburt wegen der als problematisch eingestuften Familienverhältnisse in einem Säuglings- und danach in einem Kinderheim untergebracht worden waren. Gerade die für Säuglingsheime typische Massenpflege und mangelnde Zuwendung hatten Entwicklungsstörungen zur Folge, die sich nachfolgend in Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten zeigten.199 Auch traten immer wieder im Umfeld der Einschulung massive Lernprobleme auf. Letztlich waren sowohl die Erzieher in den Kinderheimen als auch die Volksschullehrer bei der Betreuung der Mädchen und Jungen überfordert, sodass eine andere Unterbringung mit der Möglichkeit einer spezifischen Beschulung angestrebt wurde. Auch während der 1960er Jahre behielt bei der Begutachtung dieser Kinder und Jugendlichen die traditionelle ärztlich-psychiatrische Sichtweise ihre maßgebliche Bedeutung, die durch die Diagnose „Schwachsinn“ zur Überweisung in eine Einrichtung für Menschen mit einer geistigen Behinderung führte. So wurde etwa ein 1953 unehelich geborener Junge, der nach Aufenthalten in verschiedenen Heimen zu Pflegeeltern kam, im Alter von vier Jahren auf Grund seines schwierigen Verhaltens – bei der Untersuchung im Kreisgesundheitsamt schrie und trat er und war kaum zu bändigen – als „psychopath. Kind mit Störungen“ eingestuft. Obwohl sich die Pflegeeltern um den Jungen bemühten, waren sie doch oftmals so überfordert, dass sie sich nur mit strenger körperlicher Züchtigung 198

199

In die Chronik eingefügte Statistik des St. Vincenzstifts v. 1. März 1963, in: AStV, Chronik II; Arbeitsgruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen, S. 100. Vgl. Carlo Burschel, Säuglingsheime: Die „vergessenen“ Kinderheime der „Wirtschaftswundergesellschaft“, in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat, S. 305-336; Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950 und 1960er Jahren, S. 211.

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zu helfen wussten. Eine weitere amtsärztliche Untersuchung konstatierte nach einem Binet-Simon-Test einen „Intelligenzrückstand mit einem Intelligenzquotienten von 0,84“, um „eine harmonische Retardierung“ in Verbindung „mit einer leichten Debilität“ bei unbekannter Ursache – „ein zusätzlicher Pflegeschaden auf Grund verschiedener Krankenhausaufenthalte in der Kleinkinderzeit“ fand Erwähnung – zu diagnostizieren. Allerdings bescheinigten die Gutachter dem Jungen „ein deutliches Aufgabenbewußtsein, so daß er beschult werden könnte, entweder in einer Vorklasse oder in einem entsprechenden Sonderschulheim“. Dabei sahen sie „eine individuellere Betreuung des Kindes“ als erforderlich, da der Junge „wahrscheinlich auch bei den zwar recht bemühten, aber doch wohl primitiven Pflegeeltern geistig nicht genügend gepflegt wurde“. Geeignet erschien ihnen hier der Bernardshof in Mayen, der als FE-Heim eine eigene Sonderschule besaß. Letztlich erfolgte doch die schon zuvor vom zuständigen Frankfurter Jugendamt ins Auge gefasste Verlegung zum St. Vincenzstift.200 Im Beitrag der Jubiläumsschrift von 1968 zum Thema „Geistige Behinderung – in der Sicht des Heimarztes“ kam auch eine Einordnung der im Haus betreuten Menschen zum Tragen, die die obigen Befunde bestätigte, aber auch die Grenzen der Aufnahmepraxis aufzeigte. Rückblickend „wurden vor allem solche Kinder aufgenommen, die infolge ihrer Minderbegabung in der normal gegliederten Volksschule nicht mitkamen, das Ziel der Sonderschule aber mehr oder weniger gut erreichten oder wenigstens lernten, sich manuell zu betätigen. Sie sollten ihrer Wesensart und ihrem Verhalten nach außerdem in der Lage sein, sich in eine Gemeinschaft einzugliedern, ohne allzu große Schwierigkeiten zu bereiten und allzu ungünstig auf die anderen Kinder ihrer Gruppe einzuwirken und zu stören, d. h. sie sollten nicht zu stark wesensverändert und verhaltensgestört sein. Das ist bis heute so geblieben.“201 Neben „vielen hirngeschädigte[n] Kinder[n] aus gutem sozialen Milieu“, die von den Eltern wegen fehlender anderer schulischer Möglichkeiten dem Stift anvertraut wurden, kamen ebenso „uneheliche, unerwünschte Kinder, deren Eltern zum Teil psychisch oder in der Intelligenz geschädigt“ seien. Bei einem Aufnahmealter von sechs bis zehn Jahren befanden sich unter den 400 untergebrachten Personen 90, die älter als 20 Jahre waren. „Alle Kinder und Jugendlichen“ bezeichne200

201

Aktenvermerk des Frankfurter Jugendamts v. 27. April 1960 u. amtsärztliches Gutachten v. 28. April 1960, in: AStV, Bewohner-Akte Roland K. 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe.

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te der Arzt als „lern- oder geistig behindert“, davon 14 % als so schwer behindert, „daß sie auch kaum mehr praktisch bildbar sind“. 15 Kinder waren an Epilepsie erkrankt, 14 „mongoloid“ und 28 zeigten „erhebliche Charakterstörungen und neurotische Entwicklungen“. 320 Kindern attestierte er vornehmlich „Schwachsinn verschiedenen Ausmaßes und verschiedener Ursache“, wobei meistens Hirnschädigungen vor oder nach der Geburt“ sowie „Hirnverletzungen und entzündliche Erkrankungen des Gehirns im Säuglingsalter“ den Grund darstellten. Unter den Übrigen vermutete er einen Anteil mit „sogenannte[m] angeborene[m] Schwachsinn“.202 Auf dieser Grundlage blieb die Nachfrage nach einem der rund 400 Plätze im St. Vincenzstift regional wie überregional hoch – nach einer Auflistung vom Sommer 1965 kamen 161 Kinder und Jugendliche aus Hessen, 131 aus Rheinland-Pfalz, 56 aus NRW und 30 aus dem Saarland. Weiterhin fanden auch FE- und FEH-Fälle Aufnahme. Jedoch bestanden bei jährlichen Aufnahmezahlen zwischen knapp 40 und 70 Mädchen und Jungen203 immer wieder Schwierigkeiten, den Gesuchen nachzukommen. Immerhin betrug die durchschnittliche Verweildauer im Stift fünf bis zehn Jahre – dagegen blieben 1969 in Hessen nur 5,1 % der FEH- und 8,6 % der FE-Fälle über diesen Zeitraum in Heimen, während ca. 68,5 % bzw. 64 % nicht länger als zwei Jahre dort verbrachten204. Die Aufnahme-Möglichkeiten der Heimschule mit ihren zehn Klassen für lernbehinderte Kinder und vier Klassen für „Praktisch Bildbare“ begrenzten die Aufnahmen ebenso wie die vorhandenen Plätze auf den einzelnen Gruppen. Da sich außerdem sowohl die beiden Pflegegruppen als auch die Gruppen der 14- bis 21-jährigen Jugendlichen weitgehend aus eigenen Bewohnern zusammensetzten, kam es gerade in dieser Altergruppe kaum zu Neuaufnahmen.205 Schließlich ließen die Auflagen des Landesjugendamts hinsichtlich der Gruppengrößen und der personellen Besetzung keine Erhöhung der Platzzahlen zu.206 1968 konstatierte vermutlich Direktor Müller, dass bei jährlich ca. 202 203 204 205

206

Ebd. Auswertung des Hauptbuches des St. Vincenzstifts, Bd. 2, in: AStV. Arbeitsgruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen, S. 93. Direktor Müller an den Direktor des LVR v. 16. Juli 1965, in: AStV, Ordner Zuschüsse – Beihilfen. So waren etwa die „Richtlinien für Heime gem. § 78 JWG im Lande Hessen“ vom 6. Mai 1963 in vielen Fragen maßgeblich, obwohl für die Sonderheime später spezifische Richtlinien erlassen werden sollten. (vgl. Richtlinien in: AStV, Ordner CV Limburg)

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600 Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet rund 550 abgesagt werden müssten.207 Diese schon von Direktor Hannappel erwähnte Entwicklung hatte drei Jahre zuvor zu Verstimmungen vor allem mit dem Frankfurter Jugendamt geführt, das der Leitung des St. Vincenzstifts eine unzureichende Bereitschaft zur Aufnahme von Jugendlichen seines Sprengels unterstellte und den LWV einschaltete. Die fast über das gesamte Jahr 1965 geführten Schriftwechsel standen zunächst für den allgemein zu konstatierenden Mangel an Heimplätzen, aber vermutlich auch für den Kurs Direktor Müllers, den Anteil der aus dem Bereich der Fürsorgeerziehung überwiesenen Kinder und Jugendlichen zu minimieren. Jedenfalls befanden sich 1963 von insgesamt 9 FE- und 16 FEH-Fällen 19 in der Zuständigkeit des LWV Hessen, wobei diese Zahl 1964 auf 14 und 1965 auf 12 sank.208 Wie zuvor skizziert, wurden zudem auch viele Kinder und Jugendliche, bei denen keine Fürsorgeerziehung angeordnet oder Freiwillige Erziehungshilfe vereinbart war, wegen des schon beschriebenen Ursachenbündels mit der Diagnose einer geistigen Behinderung aus Kinderheimen oder direkt aus der Familie im St. Vincenzstift untergebracht. In einem Schreiben an die Abteilung Erziehungshilfe des LWV bezüglich der „Unterbringung von geistig behinderten, bildungsfähigen Minderjährigen im Rahmen der öffentlichen Erziehung“ bemerkte Direktor Müller, dass „die Zahl der Heimaufnahmen bei FE und FEHFällen rückläufig“ sei. Als Grund nannte er die wegen der vollen Belegung des Hauses fast einjährige Wartezeit auf einen Platz. Weil jedoch „im Rahmen der FE und FEH meist große Eile geboten“ sei, „waren wir bei evt. Anfragen – falls diese überhaupt für unser Haus geeignet waren – nicht in der Lage, schnell zu helfen. Notfälle sind eigentlich alle Anfragen. Hinzukommt, daß nicht nur im Rahmen der öffentlichen Erziehung, sondern ganz allgemein die Schwierigkeit zugenommen hat, geistig behinderte Kinder unterzubringen. Durch die notwendige Differenzierung der Arbeit (BSHG) […], die Größe der einzelnen Gruppen und den allgemeinen Personalmangel sind wir leider nur in der

207

208

Rede vermutlich Direktor Müllers zum 75. Jubiläum (1968), in: AStV, Ordner Bischöfliches Ordinariat Limburg/Lahn 1. In den ersten gut acht Monaten des Jahres 1959 konnten bei etwa 200 Anfragen 30 Aufnahmen vorgenommen werden. (Bericht Direktor Müllers v. 12. Sept. 1959, in: ebd.) LWV an das Jugendamt Frankfurt v. 15. April 1965, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1509.

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Lage, einer beschränkten Anzahl und bestimmten Gruppe Hilfe geben zu können.“209 Der schon erwähnte Aktenvermerk einer Mitarbeiterin des LWV vom April 1965 über den Besuch des St. Vincenzstifts zeigte, dass das Haus trotz der bestehenden Irritationen für die Behörde nach wie vor große Bedeutung besaß. Wenn auch das „Landessozialamt einschließlich der Zweigverwaltungen nur ca. 30 im Rahmen des § 100 BSGH Betreute im St. Vincenzstift“ untergebracht hatte, befänden sich nach Mitteilung Direktor Müllers „unter den ca. 220 Schülern etwa 80 hessischer Kostenträger […], so daß es sich bei der Differenzzahl um Unterbringungen im Rahmen der örtlichen Minderjährigenfürsorge handeln muß.“210

209

210

Direktor Müller an den LWV v. 3. März 1965, in: AStV, Ordner Landesjugendamt – LWV Hessen. Aktenvermerk einer Mitarbeiterin des LWV v. 15. April 1965 über den drei Tage zuvor erfolgten Besuch, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1509.

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das personal: schwestern und weltliche mitarbeiter

Das Personal: Schwestern und weltliche Mitarbeiter Die Ausprägung und Qualität der Betreuung der Bewohner des St. Vincenzstift hing neben den räumlichen und ökonomischen Verhältnissen wesentlich vom Personal ab. Hier kam auch in den 1950/60er Jahren den Dernbacher Schwestern eine maßgebliche Rolle zu, von denen zwischen 1946 und 1970 insgesamt 55 Schwestern im Stift tätig waren. Meist stellten sie die Gruppenleitungen – bei den älteren Jungen waren nur männliche Erzieher tätig – und waren so nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die zahlreichen, in diesem Zeitraum angestellten weltlichen Erziehungshelferinnen die entscheidenden Instanzen. Als Ende der 1950er Jahre ihre Zahl von 20 auf 16 Schwestern abnahm und die so entstandenen Löcher gerade auch im Erziehungsdienst zunächst trotz regelmäßiger Anfragen an das Mutterhaus nicht aufgefüllt werden konnten, schien die Erfüllung der Aufgaben des Stifts nicht mehr gewährleistet. Einige Jahre später war es der Ordensgemeinschaft jedoch möglich, den Personalstand auf 25 Schwestern zu erhöhen. Die Dominanz der Schwestern zeigte sich auch in einer verbreiteten, von der Hausleitung sanktionierten Erziehungspraxis, die in Anlehnung an das eigene Ordensleben klösterliche Elemente wie Gehorsam und Unterordnung betonte. Die im „Gebräuchebuch“ der Gemeinschaft vorgegebenen Leitlinien hoben zudem sowohl die Bedeutung der religiösen Erziehung als auch die Wahrung einer Distanz zu den Kindern und Jugendlichen hervor. Im Bereich der Sonderschule verschoben sich allerdings seit dem Ende der 1950er Jahre die Gewichte in Richtung weltlicher Lehrkräfte. So befanden sich zehn Jahre später unter den fast 20 Lehrkräften nur vier Schulschwestern. Während die Ausbildung der Lehrkräfte in der Regel den inhaltlichen Ansprüchen wie auch den staatlichen Vorgaben entsprach, erkannte gerade Direktor Müller, dass nicht nur die weltlichen Erziehenden, sondern auch die Schwestern trotz ihrer für die Heimerziehung typischen Bildungsabschlüsse meist keine ausreichende Qualifikation für ihre schwierigen heilpädagogischen Aufgaben besaßen. Daher bemühte er sich zur Behebung des Fachkräftemangels um gezielte Weiterbildungsmaßnahmen, aus denen 1968 ein eigenes Seminar für Heilerziehung hervorging. Die hier angerissenen Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

die bedeutung der dernbacher schwestern für das stift

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Die Bedeutung der Dernbacher Schwestern für das Stift Als 1946 die Betreuungsarbeit im St. Vincenzstift wieder begann, nahmen wie gesehen erneut die Dernbacher Schwestern eine maßgebliche Rolle ein. Die Zusage der Ordensgemeinschaft dürfte grundsätzlich eine entscheidende Voraussetzung für die erneute Eröffnung als Behinderteneinrichtung gewesen sein, da sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihren vielfältigen Problemen auch für die Kongregationen vermutlich kaum eine andere Gemeinschaft dazu bereit erklärt hätte. Zudem bedeutete dieser Schritt auch eine wichtige personelle Kontinuität, die gerade unter den äußerst schwierigen Verhältnissen der Anfangjahre hilfreich war. So bestand die im März 1946 ins Stift kommende erste Gruppe aus drei Schwestern, die bereits vor der Enteignung zum Aulhauser Konvent gezählt hatten. Ende 1946 waren dann neun Schwestern im Stift. Neben der Oberin Schwester Augustana betätigten sich in vermutlich leitender Funktion drei im Gruppenbzw. Krankendienst, eine in der Schule, zwei in der Küche bzw. Hauswirtschaft sowie zwei im Nähzimmer. Somit blieb ihr Einfluss nur bei der Arbeit in den Werkstätten und der Landwirtschaft begrenzt.211 Am Ende der ersten Wiederaufbau-Phase waren im St. Vincenzstift von insgesamt 20 Schwestern zehn in der Erziehung beschäftigt. Sie wurden von 23 weltlichen Kräften – darunter ein Erzieher, elf Kindergärtnerinnen, zwei Jugendleiterinnen, vier Lehrerinnen sowie fünf Handwerksmeister mit staatlich anerkannten Abschlüssen unterstützt.212 Allerdings musste Direktor Hannappel bereits 1955 im Zusammenhang mit einer Anfrage des Deutschen Caritasverbands hinsichtlich der Bereitstellung von Pflegeplätzen durch die Erweiterung oder den Neubau von Pflegeeinrichtungen feststellen, dass auch das St. Vincenzstift trotz einer langen Warteliste für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen wegen des Mangels an ausreichendem Pflege- und Erziehungspersonal keine neuen Kapazitäten schaffen könne. Damit thematisierte er ein Problem, das, wie von ihm erwartet, auch weiterhin dringlich war.213 Dabei betraf dies Ordens- wie weltliche Kräfte. Denn 211

212

213

Vgl. Lothar Schöbinger, Analyse einer Institution: Das St. Vincenzstift Aulhausen von seiner Gründung 1893 bis 1995, Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der FH Wiesbaden, vorgelegt 1995, S. 72f. Von Direktor Hannappel ausgefüllter Fragebogen des DCV v. 8. Jan. 1952, in: AStV, Ordner Schriftverkehr CV-Anstalten. Direktor Hannappel an den DCV v. 5. Aug. 1955, in: AStV, Ordner Schriftverkehr – Caritasverband – Anstalten.

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Direktor Müller vermerkte im Sommer 1959 bei nur noch 16 im Haus tätigen Dernbacher Schwestern ebenfalls einen elementaren Personalnotstand. Zudem herrsche unter den weltlichen Kräften eine sehr hohe Fluktuation – innerhalb von zwei Jahren hatten 40 Frauen und Männer ihre Stelle gewechselt – und die Resonanz auf entsprechende Stellenanzeigen gerade für die verantwortliche Gruppen-Erziehung sei äußerst gering. „Unser Haus steht und fällt mit den Schwestern. Was wird in etwa 5-10 Jahren, wenn die älteren Schwestern nicht mehr mitarbeiten können? Soll die Zahl der Schwestern in unserem Haus noch mehr abnehmen? 25 Ordensschwestern wären in unserem Heim notwendig. Mit ihnen wäre eine gute Arbeit an den Kindern möglich. Wenn nicht bald Hilfe kommt, werden die 16 Schwestern noch früher verbraucht sein. Eine grundsätzliche Entscheidung und Planung auf längere Sicht ist nicht mehr zu umgehen.“214 Obwohl das Mutterhaus im September/Oktober 1959 fünf Schwestern ins St. Vincenzstift schickte215, entspannte sich die personelle Situation wegen der gleichzeitigen Abgänge von Schwestern nicht nachhaltig. Denn im nachfolgenden Jahr bat Direktor Müller Bischof Wilhelm Kempf, sich beim Mutterhaus der Dernbacher Schwestern für die Übersendung von Schwestern einzusetzen. Um ihm den Stellenwert des Anliegens vor Augen zu führen, beschrieb er eindringlich die aktuelle Lage: „Wie ich in einem früheren Bericht schon darlegte, haben wir hier noch Gruppen bis zu 40 und mehr Kinder. Ich habe daher im letzten Jahr im Zuge der Erneuerung des Heimes eine neue Abteilung bauen lassen, die jetzt fertig gestellt ist, aber noch leer stehen muß, weil die Gruppenleiterin fehlt. Meine mehrfachen Anfragen im Mutterhaus in Dernbach und Tiefenthal waren leider erfolglos. Unsre vielfachen Versuche, Laienkräfte durch Annoncen, durch persönliche Werbung zu erreichen, sind für diesen Fall einer verantwortlichen Gruppenleiterin gescheitert. […] Von unseren hiesigen Laienkräften ist keine in der Lage oder gewillt, diese Stelle zu besetzen. Außerdem liegt diese neue 214

215

Vermerk vermutlich Direktor Müllers v. 12. Sept. 1959, in: AStV, Ordner Bischöfliches Ordinariat Limburg/Lahn 1. Freundlicherweise wurden im Mutterhaus der Deutschen Provinz der Dernbacher Schwestern anhand des Filialbuchs der Gemeinschaft für das St. Vincenzstift, der Schwestern-Kartei und Nachfragen bei noch lebenden Schwestern die „Stehzeiten“ und die berufliche Qualifikation der zwischen 1946 und 1970 im Stift tätigen Schwestern aufgelistet. Die Ergebnisse sind dem Projekt von der Ordensgemeinschaft zur Verfügung gestellt worden.

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Abteilung im Haus der großen Jungen (14-25 Jahren). Auch aus diesem Grund wäre mir eine Ordensschwester sehr willkommen. Zu ergänzen wäre noch, dass in diese neue Gruppe nicht neue Kinder aufgenommen werden sollen, sondern die überbelegten Gruppen sollen dadurch entlastet werden und damit die 4 Gruppenschwestern. Von den 17 Ordensschwestern sind bei 420 Kindern und Jugendlichen nur 6 in der Gruppenerziehung tätig. Daß in den letzten 2 Jahren 2 angestellte Mädchen ins Kloster gegangen sind, spricht für sich. Daß sie nicht nach Dernbach gegangen sind, ist nicht meine Schuld. Am Rande sei noch vermerkt, dass auch einige unserer Schwestern hier bald am guten Willen des Mutterhauses zweifeln. Nach jahrelangem Betteln hätte man uns doch wenigstens eine Schwester dazu geben können. Wir sind doch das größte Heim in unserer Diözese und haben eine besondere Aufgabe. Wenn auch keine Ordensschwestern dafür mehr bereit gestellt werden können, wer soll es dann noch tun?“216 Es bestanden also bereits seit Mitte der 1950er im Mutterhaus der Dernbacher Schwestern vor dem Hintergrund des allgemein zu beobachtenden Nachwuchsmangels der Ordensgemeinschaften große Probleme, dem St. Vincenzstift zusätzliche Schwestern gerade auch für den Dienst auf den Gruppen zur Verfügung zu stellen, was anscheinend zumindest gegenüber Direktor Müller unzureichend dargelegt worden ist.217 Nach einer handschriftlichen Notiz auf dem Schreiben des Direktors an den Bischof waren auch Verhandlungen der Bistumsleitung mit dem Mutterhaus zunächst nicht von durchschlagendem Erfolg. Im Lauf der nächsten Jahre kam es dann allerdings doch zur Entsendung von 14 Schwestern zum St. Vincenzstift, indem die Ordensgemeinschaft im Zuge einer Konzentration auf die Kernbereiche ihrer sozial-caritativen Tätigkeiten Niederlassungen geschlossen hatte und die so zur Verfügung stehenden Schwestern anderen Häusern wie dem St. Vincenzstift zuwies. Daher stieg ihre Zahl bis 1968 im Stift trotz des Abzugs von acht Schwestern auf 25 an.218 216 217

218

Direktor Müller an Bischof Kempf v. 28. Mai 1960, in: DAL, 238 A. Weder im Provinz- noch im Generalatsarchiv in Dernbach ließen sich außer der Schwestern-Chronik und dem Filialbuch, in dem die Zu- und Abgänge der Schwestern vermerkt wurden, weitere Unterlagen über die Schwestern in Aulhausen finden. Dies traf auch auf die Existenz eines Gestellungsvertrags zwischen der Ordensgemeinschaft und dem Stift bzw. dem Bistum als maßgebliche kirchliche Behörde zu. Vermutlich wurden die entsprechenden Schriftstücke, so sie denn bestanden, bei der Umorganisation der Archive vernichtet. 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe und Mitteilung der Dernbacher Schwes­ tern.

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Insgesamt kamen zwischen 1946 und 1970 55 Schwestern zum St. Vincenzstift, davon drei zweimal. Bis Ende 1950 waren es 23, bis Ende 1968 nochmals 31, von denen 15 in diesem Zeitraum jedoch wieder versetzt wurden. Hinsichtlich ihrer beruflichen Qualifikation ließen sich für 16 Schwestern keine Angaben finden. Von den übrigen 39 hatte eine ganze Reihe mehrere Ausbildungen durchlaufen. 14 Schwestern besaßen den Abschluss als Krankenpflegerin bzw. „Kranken- und Irrenpflegerin“ sowie 13 Schwestern die allgemein in der Heimerziehung verbreiteten Abschlüsse als Kindergärtnerin, Hortnerin, Erzieherin und/oder Jugendleiterin. Daneben hatten vier Schwestern die Meisterprüfung als Schneiderin oder Wirtschafterin abgelegt, waren vier staatlich anerkannte Lehrerinnen zum Teil für die Sonderschule und drei Schwestern Diätassistentinnen. Zudem kamen noch eine Heilerziehungshelferin, eine Fürsorgerin und eine Psychologin hinzu.219 Die Palette der Aufgaben im St. Vincenzstift berührte mit der Krankenpflege und dem erzieherischen Bereich die Tätigkeitsschwerpunkte der Gemeinschaft. Beide dürften maßgeblich die Entscheidung zum Ordenseintritt bei den Dernbacher Schwestern beeinflusst haben. Dabei kam der potentielle Ordensnachwuchs offenbar des Öfteren über den Besuch der ordenseigenen Haushaltungsschulen in Kontakt mit der konkreten Arbeit. So berichteten zwei im St. Vincenzstift tätig gewesene Schwestern, dass sie als Schülerinnen der Haushaltungsschule im saarländischen Neunkirchen entsprechende Einblicke im dortigen Kinderheim der Gemeinschaft erhalten hatten und nach dem Schulabschluss bis zum Eintritt in die Gemeinschaft dort beschäftigt waren. Auf dieser Grundlage entstand dann der Wunsch, selbst im erzieherischen Bereich zu wirken, was auch von der Ordensleitung erkannt wurde. So erhielten sie ihre weitere Berufsausbildung im staatlich anerkannten Kindergärtnerinnen-Seminar der Gemeinschaft in Limburg, in dem Schwestern wie weltliche Kräfte pädagogisch geschult wurden. Bereits Anfang der 1960er Jahre wurde eine der Schwestern von der Ordensleitung gefragt, ob sie bereit wäre, in den Gruppendienst des St. Vincenzstifts zu wechseln.220 Dieses Vorgehen entsprach zumindest bis zu den Veränderungen im Zuge der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) nicht der in den Ordensgemeinschaften, so auch bei den Dernbacher Schwestern ansonsten üblichen Praxis. Denn etwaige persönliche Wünsche spielten bei der Auswahl des Einsatzortes 219 220

Mitteilung der Dernbacher Schwestern. Interview Schwester Helga W.

ordensinterne leitlinien und qualifizierungsbemühungen des stifts

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in der Regel keine Rolle. Vermutlich kam hier zum Ausdruck, dass die Oberen die Aufgaben in Aulhausen als besondere Herausforderung für die dort Tätigen ansahen und dort möglichst geeignete und besonders motivierte Kräfte einsetzen wollten.221

Ordensinterne Leitlinien für die Betreuungsarbeit und Qualifizierungsbemühungen des Stifts Außer der beruflichen Qualifikation werden die Prägung durch das Noviziat und die Leitlinien des Ordenslebens mitentscheidend für die konkrete Betreuungsarbeit der Schwestern im St. Vincenzstift gewesen sein. Dabei verpflichtete sich der Ordens-Christ traditionell durch die Ablegung der Gelübde zu einem Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Im freiwilligen Verzicht auf Besitz, Ehe und Selbstbestimmung sah man die beste Voraussetzung, Gott zu finden und die Vollkommenheit zu erlangen. Ohne eine gewisse Abkehr von der Welt mit ihren Gefährdungen schien das Erreichen dieses Ziels nicht möglich. Gerade für die sozial-caritativ tätigen Frauengemeinschaften führte dies zu einer permanenten Spannung z.B. auch zwischen den Anforderungen einer Klausur und der konkreten Arbeit. Vor diesem grundsätzlichen Hintergrund betonten die Konstitutionen und „Gebräuchebücher“ der Gemeinschaften deren hierarchischen Aufbau und verlangten von den Schwestern unbedingten Gehorsam gegenüber der Leitungsebene. Der genau reglementierte Tagesablauf mit festen Gebetszeiten, Gottesdienstbesuch, geistlichen Übungen, Schweigegebot etwa bei den Mahlzeiten wie auch strengen Bestimmungen hinsichtlich des Besuches von bzw. bei den Angehörigen oder des Postverkehrs – in der Regel wurden die Briefe von den Oberen gelesen – schufen einen festen Ordnungsrahmen. Auch war es bereits den Novizinnen oftmals untersagt, sich mit einer Mitschwester näher anzufreunden, also eine besondere Bezugsperson in der Gemeinschaft zu haben.222 Wenn auch, wie weiter oben skizziert, viele junge Frauen vor allem in den 1950er Jahren häufig aus ihrem familiären Umfeld zwar einen engen disziplinarischen Rahmen 221

222

So betrachtete etwa Schwester Hildegard U. auch nach ihren im Kinderheim in Neunkirchen gemachten Erfahrungen gerade den Gruppendienst im St. Vincenzstift als ihr spezifisches Aufgabenfeld. Vgl. Annnelies van Heijst, Models of Charitable Care. Catholic Nuns and Children in their Care in Amsterdam, 1852-2002, Leiden u.a. 2008, S. 213-264.

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gewohnt waren, bedeuteten doch auch für sie die während der Novi­ ziatszeit vermittelten klösterlichen Grundsätze zunächst immer wieder einen Schritt, der nicht einfach zu gehen war. Gerade auch die Forderung nach unbedingtem Gehorsam gegenüber den Oberen bildete hier einen entscheidenden Aspekt.223 Man wird davon ausgehen können, dass die meisten Schwestern die im Noviziat erhaltene Prägung des Ordenslebens verinnerlicht hatten und sie oftmals auch auf ihre konkrete Arbeit übertrugen. Gerade bei der Erziehungstätigkeit fanden sich dafür immer wieder Anknüpfungspunkte. Da zudem der Einsatz der Schwestern hier nicht nur das eigene, sondern auch das Seelenheil der Kinder und Jugendlichen fördern sollte, erhielten die Erziehungsbemühungen quasi eine zweite Dimension, die durch den hohen Stellenwert der religiösen Erziehung betont wurde. Diese klösterlich geprägte Erziehungspraxis wurde bereits Ende der 1950er Jahre in Fachkreisen als überholt betrachtet. Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzog sich dann der Wandel „von der Bewahrung zur Bewährung“ im Leben, ohne dass dies sofort alle Heime erfasst hätte.224 Eine fortschrittliche Orientierung hinsichtlich der Erziehungsarbeit in den Heimen dürfte daher auch stark davon abhängig gewesen sein, inwieweit die jeweilige Gemeinschaft wie auch die einzelne Schwester es geschafft haben, die Vorgaben des Ordenslebens von den ihnen anvertrauten Minderjährigen zu lösen. So hieß es im 1940 erschienenen und bis Ende der 1960er Jahre relevanten „Gebräuchebuch“ der Dernbacher Schwestern – die Ordensgemeinschaften wollten den Schwestern mit ihren „Gebräuchebüchern“ Hilfen für die konkreten täglichen Aufgaben an die Hand geben, um gerade auch schwierige Situationen bewältigen zu können –, dass die Schwestern, wollen sie „segensreich in ihrem Berufe wirken“, „den Hauptzweck ihrer Arbeit fest im Auge behalten und die besten Mittel dazu anwenden [müssten]. Der Gedanke, recht viele Menschen zu Gott zu führen, sollte sie beständig beherrschen. Was aber diesem edlen Streben Erfolg verspricht, das ist weniger die äußere Tat als vielmehr der von innen her strömende Einfluß einer tiefen religiösen, von reiner Gottesliebe und opferbereiter Nächstenliebe erfüllten Persönlichkeit.“225 223 224

225

Interview Schwester Hildegard U. Andreas Henkelmann, Die Entdeckung der Welt – Katholische Diskurse zur religiösen Heimerziehung zwischen Kriegsende und Heimrevolte (1945-1969), in: Damberg u.a. (Hg.), Mutter Kirche – Vater Staat, S. 147-171, hier S. 162. Im Dienste Jesu Christi. Erwägungen und Belehrungen für unsere Schwestern, hg. v. d. Genossenschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi, 1940, S. 111.

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Hinsichtlich der Erziehungstätigkeit wurde im „Gebräuchebuch“ erklärt, dass es den Dernbacher Schwestern letztlich darum gehen solle, die ihnen „Anvertrauten zu christlichen Persönlichkeiten [zu] erziehen und sie, entsprechend ihren Fähigkeiten und ihrem künftigen Beruf, so auszubilden, daß sie später in Familie, Kirche und Staat ihre Aufgaben pflichtbewusst und zuverlässig erfüllen und ihr letztes Ziel glücklich erreichen“.226 Das einheitliche und unveränderliche Erziehungsideal der Gemeinschaft baute dabei auf der katholischen Glaubens- und Sittenlehre auf. „Der Vorrang des Religiösen in der Erziehung sichert allen ihren Maßnahmen die Einheitlichkeit. Die christliche Erziehung kennt keine Trennung zwischen Religion und Leben, zwischen Erziehung und Unterricht, weil sie den ganzen Menschen erfasst, um ihm die Richtung auf das eine Ziel zu geben.“ Allerdings dürfe nicht vergessen werden, dass die zu Erziehenden durch ihre „Umgebung schon einigermaßen geformt“ seien. „Stand und Herkunft der Zöglinge wie deren voraussichtlich spätere Stellung sind also bei der Erziehung im allgemeinen und auch hinsichtlich der äußeren Lebensformen zu beachten. Namentlich in den Anstalten sind bei Erziehung und Ausbildung, bei Verpflegung, Kleidung und Behandlung der Kinder deren Verhältnisse und künftiger Lebensstandard in Betracht zu ziehen. Zöglinge, die voraussichtlich später in abhängiger Stellung ihr Brot verdienen müssen, erziehe man schon im Heim so, daß sie in der rauhen Wirklichkeit des Lebens nicht versagen.“227 Eine gute Erzieherin zeichne sich zudem durch eine Art natürlicher Autorität aus, die den „Zögling“ zu einer „freiwillige[n] Unterwerfung unter das Sittengesetz“ bringt. Die „Gewöhnung an Ordnung und Pünktlichkeit, an anständiges, bescheidenes Benehmen, an Frömmigkeit und Pflichttreue“ wurden als wesentliche Erziehungsmittel hervorgehoben, wozu die Beachtung einer entsprechenden Hausordnung führen sollte.228 Mit den „eigentlichen Zuchtmittel[n], Befehl, Lohn und Strafe“ sei vorsichtig umzugehen, dagegen vor allem mit Lob und Aufmunterung zu agieren. Wenn ein Kind bestraft wird, muss es Gerechtigkeit und den guten Sinn darin erkennen. „Niemals darf die Erzieherin Schimpf- und Spottworte gebrauchen; körperliche Züchtigung sollte, zumal bei Mädchen, möglichst ausgeschlossen oder doch auf seltene Ausnahmefälle beschränkt sein. Je stärker der persönliche Einfluß 226 227 228

Ebd., S. 140f. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 151f.

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des Erziehers ist, desto geringer kann das Zuchtmittel sein, das er anwendet.“ Zur Verhinderung unsittlicher Gedanken und Handlungen galt es, vor allem die Schlafsäle gut zu überwachen sowie das „Aus- und Ankleiden“ durch eine Schwester zu beaufsichtigen. „Eine gewissenhafte Schwester wird sich, wenn sie nachts aufwacht, durch einen raschen Blick überzeugen, ob bei den Kindern alles in Ordnung ist.“ Letztlich sollte weniger durch Strenge als durch Güte das familienhaft auszurichtende Leben auf den Gruppen gestaltet werden, indem die Gruppenschwester „nach dem Vorbild einer guten Mutter, die alle ihre Kinder mit der gleichen Liebe umfängt und betreut“, ihre Arbeit ausrichte. Dabei müsse sich die Schwester jedoch „vor jeder Bevorzugung oder Zärtlichkeit und namentlich vor unordentlichen Freundschaften mit älteren Zöglingen“ hüten.229 Zur Erreichung der Erziehungsziele wurden die Schwestern zu einer engen Zusammenarbeit mit den weltlichen Helferinnen ermahnt, die unter der pädagogischen Leitung der Hausoberin zu gestalten sei. Den für eine erfolgreiche Erziehung erforderlichen Austausch der Erziehenden sollten sowohl Gespräche untereinander als auch Konferenzen fördern. Auch galt es, die Eltern mit in die Erziehungsbemühungen einzubeziehen. Ihnen war daher „der freie Verkehr mit den Lehrerinnen und Erzieherinnen gestattet, wobei aber Rücksicht auf die Hausordnung zu nehmen ist.“230 Auf dieser Grundlage blieben die Dernbacher Schwestern im St. Vincenzstift bis in die 1970er Jahre weitgehend die maßgeblichen Erziehenden, die von weltlichen Kräften unterstützt wurden. Nur auf den Gruppen der schulentlassenen Jungen, die männliche Erziehungskräfte betreuten, und vereinzelt auch auf Mädchen-Gruppen hatten sie nicht die Leitung inne. Die Schwestern gaben so die Leitlinien der Erziehung für die jeweiligen Gruppen vor, die in der Regel von den dort ebenfalls tätigen weltlichen Helferinnen ausgeführt bzw. übernommen wurden. Wie anerkannt der von den Schwestern ausgeübte Erziehungsstil zumindest auch innerhalb des katholischen Ausbildungswesens eingeschätzt wurde, ging aus einem Schreiben des Leiters des Wohlfahrtspfleger-Seminars in Freiburg an Direktor Müller kurz nach dessen Amtsübernahme hervor. Nach den Worten des Leiters könnten Schüler des Seminars, die im Stift Praktika machten, hier „etwas lernen, was kein Unterricht vermitteln kann, nämlich Gesinnung und Haltung des 229 230

Ebd., S. 152-155. Ebd., S. 156.

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Abb. 9: Gruppe der älteren Jungen beim Kaffeetrinken (1963).

Dienens, die Geduld im Umgang mit schwachen und belasteten Menschen, die Überwindung des egoistischen Ichs.“231 Während der ersten Hälfte der 1960er Jahre kamen auch Priesteramtskandidaten aus Limburg auf die Gruppen, um Erfahrungen in diesem Bereich sozial-cariativer Arbeit sammeln zu können. Obwohl die personelle Struktur im Erziehungsdienst des St. Vincenzstifts dem in der Anstaltsfürsorge und der Heimerziehung weithin bestehenden Standards entsprach, hatte Direktor Hannappel offenbar bereits Anfang der 1950er Jahre erkannt, dass den Mitarbeitern eine den spezifischen Anforderungen der dortigen schwierigen Betreuungsarbeit gerecht werdende Qualifikation fehlte. Zumindest richtete er für Schwestern wie Angestellte einen hausinternen heilpädagogischen Kurs ein, der im November 1951 begann. Allerdings scheint diesen Bemühungen kein ausreichender Erfolg beschieden gewesen zu sein. Jedenfalls thematisierte Direktor Müller unmittelbar nach seiner Amtsübernahme diese Problematik, da von den augenblicklich nur sechs als Gruppenerzieherinnen tätigen Schwestern fünf nicht die „notwendige pädagogische Ausbildung“ besaßen. Denn neben zwei völlig unausgebildeten Schwestern hatte eine Schwester „einen Kurs für Irrenpflege“ 231

Leiter des DCV-Seminars für Wohlfahrtspfleger an Direktor Müller v. 28. Okt. 1957, in: AStV, Ordner Caritas Freiburg.

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gemacht, eine war ausgebildete Krankenpflegerin, eine Kindergärtnerin mit und eine ohne Examen. Von den weltlichen Gruppenerziehenden – fünf Frauen und drei Männer – war nur eine examinierte Kindergärtnerin entsprechend qualifiziert. Unter den 16 als Gruppenhelferinnen angestellten Kräften konnte nur die Hälfte eine Ausbildung vorweisen – eine Seelsorghelferin, eine Kindergärtnerin, eine Säuglingsschwester, zwei Kinderpflegerinnen und drei Praktikantinnen. Allen 39 Arbeitserziehern in den 15 handwerklichen und landwirtschaftlichen Betrieben des Stifts fehlte eine pädagogische Qualifikation. In den Augen des Direktors war diese Bestandsaufnahme „eigentlich katastrophal“ und bedurfte „baldiger Abhilfe“.232 Diese versprach er sich von einrichtungsübergreifenden Fortbildungskursen, für deren Umsetzung er sich zunächst im Heimbeirat der Diözese Limburg einsetzte. Allerdings war die Resonanz in diesem Gremium verhalten, und auch die Unterstützung dieses Projekts durch das Bistum empfand er als unzureichend. Daher vertrat er gegenüber Caritasdirektor Adlhoch das dringend anzustrebende Ziel, dass in der „Hauptsache […] den unausgebildeten Erzieher(innen) und Schwestern“ bald geholfen werde „und damit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen“. Hier sah er zumindest die Teilnahme der „11 nichtausgebildeten Gruppenerzieher (4 Ordensschwestern, 4 weibl. und 3 männl. Gruppenerzieher)“ an dem „gemeinsamen Kurs im Johannisstift in Wiesbaden“ als „Mindestlösung“.233 Seine Bemühungen waren insofern erfolgreich, als Anfang April 1959 zwei Schwestern und „einige Angestellte“ mit diesem „Lehrgang zur Grundausbildung von Erzieherkräften in den Heimen und Anstalten des Bistums Limburg“ begannen.234 Bis 1967 durchliefen insgesamt 20 Mitarbeiter vier solcher Grundausbildungslehrgänge, um „das pädagogische Rüstzeug für eine zeitgemäße Erziehung“ zu bekommen.235 Auch nahmen Schwestern wie weltliche Kräfte immer wieder an Fachtagungen und Besichtigungsfahrten zu anderen Einrichtungen teil, um so den Erfahrungshorizont zu erweitern. Ende der 1960er Jahre erwarben zudem verschiede232

233

234 235

Direktor Müller an Caritasdirektor Adlhoch v. 15. Dez. 1958, in: AStV, Ordner Kurs für Heimerziehung. Ebd. Der LWV führte seit 1959 in den Heimen in seiner Trägerschaft Grund­ ausbildungslehrgänge durch, „in denen den Erziehungshelfern die elementaren Kenntnisse in den entsprechenden Fachgebieten vermittelt werden“. (vgl. Ar­beits­ gruppe Heimreform (Hg.), Aus der Geschichte lernen, S. 130f.) Schwestern-Chronik, in: AADJC, S. 30. 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe.

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ne Schwestern durch Fortbildungen am heilpädagogischen Seminar in Mainz Zusatzqualifikationen. Zur gleichen Zeit machten vermehrt junge examinierte Erzieherinnen ihr Anerkennungsjahr im Stift, wobei sie im Haus wohnten. Meist unterstützten sie die Schwestern im Gruppendienst und waren so wie ihre Vorgängerinnen in die von den Schwestern praktizierten Erziehungsmethoden einbezogen. Doch vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels gerade der jungen Generation im Lauf der 1960er Jahre empfanden offenbar immer mehr von ihnen eine große Diskrepanz zwischen den eigenen, auch in der Ausbildung vermittelten Ansprüchen und den Verhältnissen auf den Gruppen. Durch den regelmäßigen Austausch untereinander entstand dabei zudem ein breiteres Bild der im Stift bestehenden Erziehungspraxis. Zu offenen Meinungsverschiedenheiten mit den Schwestern kam es jedoch nicht, da die Autorität der Schwestern und ihr Rückhalt bei der Hausleitung offenbar zu groß waren.236 Auch die nun vermehrt im Stift ihren Zivildienst ableistenden jungen Männer befanden sich in einer ähnlichen Situation. Der Fachkräftemangel im Erziehungsdienst des St. Vincenzstifts blieb aber weiterhin groß, zumal der Bedarf nicht zuletzt durch die Auflockerung der Gruppen weiter zunahm. Um hier bereits im Haus tätige Kräfte zu qualifizieren, begann Anfang 1968 ein eigenes Seminar für Heilerziehung mit seiner Arbeit, in dem vorerst eine berufsbegleitende Ausbildung zur Heilerziehungshelferin angeboten wurde.237

Personelle Situation der Sonderschule Anders als im Gruppendienst nahmen im Bereich der Sonderschule des St. Vincenzstifts weltliche Kräfte eine deutlich dominantere Rolle ein. Durch das rasche Wachstum der Schule seit 1946 musste entsprechend auch das Lehrerkollegium vergrößert werden. Da die Möglichkeiten der Dernbacher Schwestern, dem Stift qualifizierte Lehrschwestern in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen, begrenzt und weltliche Lehrkräfte ebenfalls nur schwer zu gewinnen waren, bat das Haus 1949 auch die Regierungsbehörde um Unterstützung bei der Suche. 1952 erteilten dann vier Schwestern und vier weltliche Lehrerinnen im St. Vincenzstift den Hilfsschulunterricht. Neben älteren Kräften im Alter bis 236 237

Interviews Susanne P. und Claudia O. 75 Jahre St. Vincenzstift, ohne Seitenangabe; Schwestern-Chronik, in: AADJC, S. 41.

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zu 66 Jahren gehörten auch zwei 27- bzw. 28-jährige Lehrerinnen zum Kollegium. Die 1902 geborene Rektorin Schwester Mechthilde hatte 1922 den staatlich anerkannten Abschluss als Lehrerin für Lyzeen und Mittelschulen sowie 1930 für Hilfsschulen erworben. Außerdem hatte sie 1929 in Psychologie promoviert und 1937 noch das Examen für Kranken- und „Irrenpflege“ abgelegt.238 Auf Grund dieser umfangreichen Ausbildung war sie für ihre Lehrtätigkeit wie auch die Leitung der Sonderschule in besonderem Maß qualifiziert. Auch die anderen Schulschwestern hatten entsprechende staatliche Examen abgelegt bzw. wie eine 1950 zum Stift gekommene Schwester durch den Besuch des Hilfsschullehrerkursus in Frankfurt berufsbegleitend gemacht. Schwestern wie weltliche Lehrkräfte nahmen zudem an Fortbildungsveranstaltungen teil. So besuchte etwa 1954 eine Schulschwester ebenfalls in Frankfurt einen viermonatigen Montessori-Lehrgang. Damit kam die Ordensgemeinschaft nicht nur staatlichen Vorgaben nach, sondern handelte auch im Sinne der eigenen Richtlinien, die zudem die religiösen Komponenten für den Schulunterricht hervorhoben. Denn es lag „im Interesse der Genossenschaft und der heiligen Kirche, daß jede Lehrschwester Tüchtiges leistet. Die Schwestern unterziehen sich daher den vom Staat geforderten Prüfungen und seien eifrig um die Weiterbildung in ihren Fächern und der allgemeinen Erziehungswissenschaft bemüht.“ Als ein wesentliches Merkmal eines erfolgreichen Schulunterrichts galt „eine gute Zucht. Jede Lehrerin sorge in der Klasse für Aufmerksamkeit, Fleiß und Eifer, für Ruhe und Ordnung und halte alles fern, was ablenken und stören könnte. […] Eine kluge Erzieherin wird auch bewußt die Gelegenheit wahrnehmen, die der Inhalt des Unterrichts biete, um Verstand und Willen nach der sittlich-religiösen Seite zu bilden und zu leiten. Diese Forderung ist um so ernster, je mehr ihr Wirken durch äußere Einflüsse gehemmt wird, und die Eltern, die hier in erster Linie verpflichtet sind, in einzelnen Fällen versagen.“ Schließlich wurde hervorgehoben, dass „wirkliche Autorität“ nur die Lehrerin „besitzt und bewahrt“, die „über gründliches Wissen und eine reiche Erfahrung verfügt, die aber ebenso sicher die Kunst der Erziehung beherrscht.“ Diese läge „im rechten Ausgleich zwischen Autorität und Freiheit“, um so „den Zögling zu freiwilliger Unterwerfung unter das Sittengesetz zu bringen. Das wird jener Erzieherin am besten gelingen, die die werdende Persönlichkeit im Jugendlichen anerkennt, 238

Mitteilung der Dernbacher Schwestern.

personelle situation der sonderschule

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die nicht taktlos in seine Geheimnisse eindringt, die den Zögling durch Vertrauen und hohe Ansprüche an sein Können und Wollen ehrt und so das Gute in ihm weckt.“239 Inwieweit diese Leitsätze in ihrer Gesamtheit auch unter einem weltlichen Rektor ihre Gültigkeit behielten, ist nicht überliefert. Allerdings verschob sich zumindest das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Schulschwestern und den weltlichen Lehrkräften zunehmend in Richtung letzteren. Die durchgeführten Maßnahmen der Lehrer-Weiterbildung sprechen dafür, dass jedoch die traditionelle Prägung ihre Bedeutung behielt. Hierzu dienten sowohl Besuche des Kollegiums in anderen vergleichbaren Einrichtung wie etwa den diakonischen Häusern Bethel bei Bielefeld oder dem Wittekindshof in Bad Oeynhausen als auch die Teilnahme an Tagungen des Fachverbandes oder anderer Anstalten. Darüber hinaus verfassten Direktor Müller und eine Schulschwester einen „Bildungsplan für katholische Religion an Sonderschulen und Sonderklassen für Praktisch Bildbare“, der u.a. die Felder Kommunion-, Beicht- und Firmvorbereitung sowie ein Werkheft für Katecheten enthielt und mit einer Auflage von 800 Exemplaren bundesweite Beachtung fand.240 Dennoch blieb es wegen der begrenzten Zahl ausgebildeter Sonderpädagogen nach wie vor schwierig, für ausscheidende Lehrkräfte Ersatz zu erlangen bzw. das Kollegium zu vergrößern. Daher war dem zuständigen Schulrat wie auch Rektor Königstein daran gelegen, angehende Volksschullehrer nach dem ersten Staatsexamen als so genannte außerplanmäßige (Apl.-) Lehrer, wie bis Anfang der 1970er Jahre in Hessen die Lehramtsreferendare bezeichnet wurden, für die Sonderschule des St. Vincenzstifts zu gewinnen. Ein langjähriger Lehrer der Sonderschule, der während seines Studiums zum Volksschullehrer großes Interesse an Psychologie entwickelt hatte, begann etwa 1963 ohne sonderpä­ dagogische Kenntnisse als Apl.-Lehrer im Stift. Zwei Jahre unterrichtete er zunächst neben seinen Ausbildungsveranstaltungen und den Seminarbesuchen wöchentlich 23 Stunden. Da ihm dieses Arbeitsfeld lag, absolvierte er nach dem zweiten Staatsexamen in Marburg noch ein viersemestriges sonderpädagogisches Zusatzstudium mit sprachheilpädagogischem Schwerpunkt, wobei er als außerplanmäßiger Landesbe-

239 240

Erwägungen und Belehrungen für unsere Schwestern, S. 145-151. Beitrag Rektor Koleczeks zur aktuellen Situation der Sonderschule, in: 75 Jahre Vincenzstift, ohne Seitenangabe.

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das personal: schwestern und weltliche mitarbeiter

amter Teil des Kollegiums blieb. 1967 wurde er dann im Sonderschulbereich für Lernbehinderte eingesetzt.241 In diesem Jahr unterrichteten 19 Lehrkräfte an der Sonderschule des St. Vincenzstifts – darunter vier Dernbacher Schwestern –, von denen acht ausgebildete Sonderschullehrer, drei Volksschullehrer, eine Fachlehrerin, drei Jugendleiterinnen, zwei Kindergärtnerinnen und zwei Werklehrer waren. Sie übernahmen zudem wichtige Aufgaben im Rahmen der Fort- und Ausbildung des Erzieherpersonals des Stifts.242 Ende 1970 gehörten 17 Lehrkräfte zum Kollegium, darunter drei Schwestern und sieben Männer. Neben sieben Sonderschullehrern unterrichteten auch drei Apl.-Lehrer und eine Lehrschwester ohne Lehrbefugnis. Hinzu kamen ein Werklehrer, drei Kindergärtnerinnen, eine Jugendleiterin und ein Erzieher.243

241 242

243

Interview Karsten Q. Beitrag Rektor Koleczeks zur aktuellen Situation der Sonderschule, in: 75 Jahre Vincenzstift, ohne Seitenangabe. Aktenvermerk des Rüdesheimer Schulrats v. 22. Dez. 1970, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22.

tagesablauf und konkrete erziehungsschwerpunkte

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Heimalltag Die vorhergehende Beschreibung der strukturellen Entwicklungen des St.Vincenzstifts haben bereits viele Aspekte aufgegriffen, die konkret die Lebensverhältnisse der dort untergebrachten Mädchen und Jungen beeinflussten. Hier spielten etwa die Größe und Ausstattung der Gruppen oder die personelle Situation eine wichtige Rolle. Gerade die Erinnerungen ehemaliger Bewohner und Erziehender bieten darüber hinausgehend die Möglichkeit, den Heimalltag der 1950/60er Jahre in seinen wesentlichen, nicht immer klar abgrenzbaren Bereichen und seinen Auswirkungen für die Bewohner zu beschreiben. Wenn hier nicht selten subjektive Sichtweisen zu Tage treten, entsteht doch, auch durch die Hinzuziehung anderer zeitgenössischer Einschätzungen, ein Bild des täglichen Miteinanders, das Übereinstimmungen wie Unterschiede widerspiegelt. Skizziert werden nun aus diesem Blickwinkel der Tagesablauf der Kinder und Jugendlichen mit seinen Erziehungsfixpunkten, die Felder Arbeit und Schule, die Freizeitgestaltung, die Bedeutung von Bezugspersonen für die Bewohner sowie der Bereich Strafen, Misshandlungen und sexualisierte Gewalt.

Tagesablauf und konkrete Erziehungsschwerpunkte Wie in Behindertenanstalten und Heimen üblich, lebten die Kinder und Jugendlichen auch im St. Vincenzstift in geschlechts- und altersspezifischen, bis Anfang der 1960er Jahre noch „Station“ bzw. „Abteilung“ bezeichneten Gruppen. Eine Ausnahme bildeten die beiden Pflegegruppen für die schwerer behinderten Bewohner, die ein größeres Altersspektrum abdeckten. Die Gruppen der Klein- und Schulkinder wurden von Schwestern geleitet, die auch auf den Gruppen schliefen, was zum Teil auch auf die „Fräulein“ genannten weltlichen Erzieherinnen bzw. Helferinnen zutraf. Die Mahlzeiten nahmen die Schwestern im Refektorium des Klausurbereichs ein, wo sie sich außerdem zu den vorgeschriebenen Gebets- und Erholungszeiten aufhielten. In diesen Phasen waren die Helferinnen eigenständig auf den Gruppen tätig. Bei den schulentlassenen Jungen und den Männern taten männliche Erziehungskräfte ihren Dienst. In der Regel durchliefen die Mädchen und Jungen im Lauf ihres oftmals langjährigen Aufenthalts im Stift mehrere Gruppen, ehe sie entweder zu den Eltern, in ein anderes Heim oder eine Arbeitsstelle entlassen wurden. Eine Reihe blieb bei gleichzeitiger

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heimalltag

gerichtlicher Entmündigung auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit mit 21 Jahren im Haus, da ihre Behinderung als zu schwer eingeschätzt wurde, um ein Leben außerhalb der Anstalt führen zu können. In den Gruppen der schulpflichtigen Bewohner lebten nach den Erinnerungen ehemaliger Bewohner wie Erziehender weitgehend Mädchen und Jungen mit einem vergleichbaren Leistungsvermögen, zu denen aber auch einige schwächere, mehr Betreuung benötigende Bewohner und zudem vereinzelt an Epilepsie Erkrankte kamen. Bei den Schulentlassenen fand eine stärkere Durchmischung statt. In den 1960er Jahren soll jeweils eine stärkere Konzentration auf die geistig behinderten und auf die lernbehinderten Kinder und Jugendlichen stattgefunden haben. Nach Einschätzung einer weltlichen Erzieherin befanden sich 1969 auf der Gruppe St. Elisabeth unter den dort lebenden schulpflichtigen Mädchen nur wenige mit einer geistigen Behinderung, dagegen viele Lernbehinderte, von denen wiederum ca. Dreiviertel verhaltensgestört war. Auf der Gruppe Antonius waren zwei Jahre zuvor nach Meinung einer anderen Mitarbeiterin von den knapp 30 Jungen im Alter von 8 bis 15 Jahren ca. 50 % wegen Erziehungsschwierigkeiten untergebracht worden.244 Zudem bestand in einigen Gruppen eine mehr oder weniger ausgeprägte, teilweise von den Erziehenden unterstützte „Hackordnung“, die durchaus auch „Häuptlinge“ kannte. Innerhalb dieser Hierarchie hatten jedoch die schwächeren und jüngeren Kinder und Jugendlichen des Öfteren unter den Stärkeren zu leiden. Dies betraf bei der anfangs noch stärkeren Durchmischung der Gruppen gerade auch die geistig behinderten Mädchen und Jungen, die von Mitbewohnern unter Druck gesetzt, aber auch zu „Dummheiten“ angetrieben wurden.245 Auch die in der Regel von der Gruppenleitung verfassten Führungs- und die Schulberichte der zuständigen Lehrkräfte wiesen für einen Teil der Interviewten, die durchaus zu den stärkeren Bewohnern zählten, in diese Richtung. So hieß es Ende 1964 etwa bei einem 1955 geborenen und 1962 im Stift aufgenommenen Jungen, dass er „immer im Mittelpunkt stehen [möchte]. Gelingt es ihm nicht, macht er sich auffällig durch sein unbeherrschtes und rechthaberisches Wesen. Seine Arbeitsweise ist zerfahren. Er hilft gerne, duldet aber keinen anderen Jungen neben sich.“246 Und beim alterbeding244

245 246

Interviews Franz Z., Susanne P., Claudia O., Schwester Hildegard U. und Schwester Helga W. Interviews Markus R. u. Schwester Helga W. Führungs-Bericht v. 14. Nov. 1964, in: AStV, Bewohner-Akte Günter V.

tagesablauf und konkrete erziehungsschwerpunkte

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Abb. 10: Waschbecken und Zahnputzbecher vermutlich auf einer Jungengruppe um 1955.

ten Wechsel der Gruppe suchte er dann auch eher Kontakt zu den älteren Jungen.247 Die in den 1950/60er Jahren wie in den meisten anderen Anstalten auch im St. Vincenzstift bestehenden räumlichen Voraussetzungen mit Gruppengrößen von 25 bis 30, aber auch bis 45 Mädchen und Jungen ließen bereits grundsätzlich kaum Spielraum für eine an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Erziehung. Dies spiegelte sich jedoch auch in anderer Form wider, indem die Zahnbürsten, Becher und Handtücher der Bewohner nicht mit ihrem Namen, sondern nur mit einer Nummer gekennzeichnet waren.248 Schlafsäle mit anfangs mehr als zehn Betten, große Wasch- und Duschräume wie auch das noch für die 1960er Jahre erinnerte Baden der kompletten Gruppe – so benutzten am Badetag einer Gruppe sämtliche 30 Jungen nacheinander die Wanne mit dem gleichen Wasser, was allerdings bei einigen zu Geschwüren führte.249 Vor diesem Hintergrund war es für die Bewohner schwierig, ihre Intimsphäre zu wahren. 247 248 249

Führungs-Bericht v. 6. Okt. 1966, in: ebd. Interview Gerda Y. Interview Franz Z.

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heimalltag

Wenn bereits durch die Zusammensetzung und die beengten Verhältnisse der Gruppen nach Aussage eines ehemaligen Bewohners Konflikte vorprogrammiert waren250, betonten Schwestern wie weltliche Erzieher im Rückblick zudem den teilweise hohen Anteil verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher in ihren Gruppen, die sehr aggressiv gewesen seien – eine frühere Bewohnerin machte die Erziehungspraxis und die Gruppenverhältnisse dafür verantwortlich, selbst eine Art Antihaltung entwickelt zu haben. Zwar wurde für eine Gruppe berichtet, dass den Jungen hier von den Erziehenden viel Raum gegeben worden sei, Konflikte untereinander auszutragen. Aber es sei des Öfteren auch notwendig gewesen, schlichtend einzugreifen.251 Zumindest auf einigen Gruppen interpretierten die Erziehenden dabei die schwierigen familiären Verhältnisse, aus denen die Bewohner häufig stammten, als entscheidend für das gezeigte Verhalten. Als „Kind vom Teufel“ betrachtet müsste die Herkunft abfärben und sich negativ auswirken. Schon bei der Ankunft sei ihnen daher klar gemacht worden, „Menschen zweiter Klasse“ zu sein, die im Stift lernen sollten, was gut und was schlecht sei. Letztlich ging es den Erziehenden demnach darum, die Kinder zu brechen, um sie dann nach ihren Vorstellungen neu aufzubauen. So hielt man den Kindern ihre Defizite mit Verweis auf die negativen Familienverhältnisse vor, was einen großen psychischen Druck bedeutete.252 Der Heimalltag im St. Vincenzstift war in der Regel durch einen konsequenten Ordnungsrahmen und umfassende Kontrolle gekennzeichnet. Dabei sollte auch hier zu jeder Zeit der „Tagesablauf einer großen Zahl von Menschen auf beschränktem Raum und mit geringen Mitteln“ überwacht werden, wie es der Soziologe Erving Goffman Anfang der 1960er Jahre für so genannte „totale Institutionen“ herausgearbeitet hat. Dazu zählten für ihn Kasernen, Klöster, Internate, Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten.253 Für ihre Bewohner war das Leben in einer solchen Einrichtung mit ihrem engen Ordnungsrahmen und speziellen Ritualen – so Goffman – häufig mit dem teilweisen oder sogar vollständigen Verlust ihrer Individualität und Identität verbunden. 250 251 252 253

Interview Roland K. Interviews Schwester Helga W., Schwester Hildegard U., Susanne P. und Claudia O. Interviews Erika T. und Claudia O. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt 1973 (1961 im amerikanischen Original), S. 13-123, hier S. 53; vgl. auch Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 32-38.

tagesablauf und konkrete erziehungsschwerpunkte

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Grundsätzlich bestanden dabei für die Bewohner verschiedene Möglichkeiten, mit diesen Bedingungen umzugehen. Zunächst gab es die Anpassung an die bestehende Situation, die ein relativ ruhiges Leben bot. Einige gingen noch weiter, identifizierten sich mit ihrer Lage und unterstützten das Personal. Andere wiederum begaben sich in den totalen Rückzug aus den Anstaltsbezügen. Schließlich lehnten sich auch Bewohner gegen die Umstände in der Anstalt auf, wurden dann aber meist „gebrochen“. Nach Goffman war für die Mehrzahl ein eher angepasstes Verhalten in unterschiedlichen Variationen zu konstatieren. Auch wenn das Personal im Gegensatz zu den Bewohnern meist freiwillig und durchweg aus der Motivation heraus in die Einrichtung kam, sich dem jeweiligen Ziel der Anstalt zu widmen und den dort untergebrachten Menschen zu helfen, stand nach Goffman in der Realität jedoch die Sicherung des störungsfreien Betriebsablaufs unter schwierigsten Voraussetzungen im Vordergrund ihrer Arbeit, die augenscheinlich nur durch die Betonung von Autorität und strenger Disziplin erreicht werden konnte. Dabei galt auch Gewalt als probates Mittel. Der Bewohner wurde so vom Menschen zum Objekt. Diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit fing das Personal durch die Integration in das hierarchische Anstaltsprinzip auf. Mitarbeiter, die eine größere Nähe zu den ihnen anvertrauten Bewohnern suchten, galten als Abweichler und wurden entlassen oder wandelten sich zu besonders strengen Kräften, die sich von den Bewohnern getäuscht fühlten. Allerdings bestanden zwischen Goffmans Strukturanalyse und den historisch vorgefundenen Lebenswirklichkeiten in den Anstalten Unterschiede, worauf explizit in einer Studie über die niedersächsischen Kinder- und Erziehungsheime zwischen 1945 und 1975 hingewiesen wurde. So sei zwar in den hier untersuchten Heimen, „der Erziehungszweck vielfach verkümmert“, „aber nicht völlig verschwunden“ gewesen. Daher dürften sie auch nicht „umstandslos als ‚totale Institution‘ im Sinne Goffmans“ betrachtet werden. Gleichwohl kamen die Autoren jedoch zu dem Ergebnis, dass das oben skizzierte Konzept „aber auf die in der Heimstruktur angelegte grundlegende Gefahr des Absinkens zu einer bloßen Aufbewahrungsanstalt“ verweise.254 Auch im St. Vincenzstift stand die Gewährleistung des Betriebsablaufs unter den unzureichenden räumlichen und personellen Bedingungen vielfach im Zentrum der Betreuung der Kinder und Jugendlichen. Gehorsam, strenge Disziplin und eine oftmals große menschliche 254

Kraul u.a., Heimerziehung in Niedersachsen, S. 24.

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heimalltag

Distanz des Personals zu den Mädchen und Jungen kennzeichneten die Arbeit. So werden auch hier die meisten Bewohner versucht haben, sich an die herrschenden Verhältnisse anzupassen. Aber gerade die intellektuell Stärkeren waren mit ihrer Situation unzufrieden und lehnten sich gegen die als willkürlich und kleinlich empfundenen Strafen auf. Die so heraufbeschworene Konfrontation eskalierte nach den Erinnerungen Betroffener des Öfteren. Denn es ging offenbar vielen Erziehenden in einem solchen Fall darum, die unbedingte Unterordnung der Mädchen und Jungen zu erreichen. So beschrieb eine ehemalige Bewohnerin, die sich nicht mehr alles gefallen ließ, im Stift nach dem Schema „gehorchen oder es kracht“ nichts als Zwang erfahren zu haben. „Das Schlimme war daran die ganze Zeit das Dogma. Das war ein Müssen. Es war: Wir hören nicht, was ihr sagt. Und niemand hört euch. Niemand hört euch zu und niemand will wissen, was ihr zu sagen habt. Ihr seid nichts. Und ihr sollt dankbar sein, dass wir für euch da sind. Aber so habe ich das nicht empfunden. […] Ich kann mich nicht dran erinnern, dass ich in der ganzen Zeit im Vincenzstift [...] einmal in den Arm genommen worden bin. Oder dass man gute Dinge herausgehoben hat, sondern es war immer, dass ich schlecht war. Es war immer nur negativ. Es war niemals gut. Meine Mutter sollte kommen und sie kam nicht. Du wurdest nicht getröstet. Da war nur, stell dich nicht so an, anderen geht es auch so. Da war keine Liebe, keine Zuneigung. Es war immer Gewalt, Dogma und Unterdrückung. Das macht das Ganze eigentlich so bitter.“255 Unter diesen Vorzeichen gestaltete sich der konkrete Tagesablauf etwa auf einer Schulmädchengruppe Ende der 1960er Jahre nach den Erinnerungen einer weltlichen Erzieherin in der Form, dass die immerhin ca. zehn „Bettnässer“ bereits um 5 Uhr von der Gruppenschwester geweckt und fertig gemacht wurden, wobei die Betroffenen offenbar nackt im Flur stehen mussten. Ihr Frühdienst begann um 6:30 Uhr. Da die Gruppenschwester wegen der Teilnahme am klösterlichen Leben nicht anwesend war, musste die Erzieherin allein die restlichen Mädchen wecken und für ein geregeltes Waschen, Anziehen, Tischdecken und Frühstücken sorgen. Dies konnte nur gelingen, indem die älteren und stärkeren den jüngeren und schwächeren Mädchen halfen sowie auch sonst Ämter wie Spül-, Fege- und Mülldienst unter diesen verteilt waren – eine Erzieherin einer anderen Gruppe berichtete vom wöchentlichen Wechsel dieser Ämter. Um 7:45 Uhr verließen die Mädchen die Gruppe und gingen zur Schule, wo sie bis kurz vor 12 Uhr 255

Interview Erika T.

tagesablauf und konkrete erziehungsschwerpunkte

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blieben. Gemeinsam mit der Schwester, die um 8 Uhr aus der Klausur zurückkehrte, wurden in der Zwischenzeit vielfältige hauswirtschaftliche Tätigkeiten verrichtet. In einer Jungengruppe hatte die weltliche Erzieherin bis zur Mittagszeit frei, da hier eine ältere Bewohnerin des Stifts als Haushaltskraft eingesetzt wurde.256 Die Qualität des Mittagessens, das meist von Mädchen und Jungen der einzelnen Gruppen an der Zentralküche in mehreren Aluminiumtöpfen abgeholt wurde – Schwestern und weltliche Kräfte erhielten eigene Mahlzeiten –, wurde von Bewohnern unterschiedlich bewertet. So wurde für die Praxis in einer Jungengruppe erinnert, dass die Erziehenden die verschiedenen Bestandteile in einem Topf zusammenschütteten und erst dann verteilten.257 Mehrfach kam zum Ausdruck, dass auf die Kinder und Jugendlichen großer Zwang ausgeübt wurde, die Mahlzeiten auch dann komplett aufzuessen, wenn sie diese nicht mochten oder bereits satt waren. Dies ging so weit, dass sogar zuvor Erbrochenes gegessen werden musste.258 Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre waren die Jüngeren gehalten, in der nachfolgenden Mittagspause den „Kopf aufzulegen“, also an den Tischen der Aufenthaltsräume zu ruhen.259 Ansonsten begann schon bald nach dem Essen die Freizeitgestaltung, zumal kaum Hausaufgaben zu machen waren. Gegen 16:30 Uhr gingen die Mädchen und Jungen wieder in ihre Gruppen, um sich, u. U. nach einer Dusche, umzuziehen und das 18 Uhr einzunehmende Abendessen vorzubereiten. Nach dem Abräumen und Spülen schloss sich nochmals Zeit zum Spielen oder Fernsehen an, ehe, nach Alter gestaffelt, für die Schulkinder gegen 20 Uhr die Nachtruhe begann – die Schwestern kamen gegen 19:30 Uhr aus der Klausur zurück. In der Regel war es den Kindern und Jugendlichen verboten, in den Schlafsälen zu sprechen.260 Unter bischöflicher Oberaufsicht sowie von geistlichen Direktoren geleitet, musste im St. Vincenzstift die religiöse Erziehung große Bedeutung haben, wofür auch die in der Gruppenerziehung maßgeblichen Ordensschwestern standen. So waren regelmäßige Tischgebete, der verpflichtende Gottesdienstbesuch am Sonntag wie in den 1950er Jahren auch an den Werktagen und die monatliche Beichte feste Bestandteile des Anstaltsalltags. Die älteren Jungen und Mädchen, die nicht mehr 256 257 258 259 260

Interviews Susanne P. und Claudia O. Interview Roland K. Interviews Franz Z. und Roland K. Interview Markus R. Interviews Susanne P. und Claudia O.

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heimalltag

Abb. 11: Fronleichnamsprozession 1966.

die Schule besuchten, konnten auch bei den Salesianer-Patres des Jugendheims Marienhausen zur Beichte gehen. Das Beten des Rosenkranzes etwa im Marienmonat Oktober oder des Kreuzweges in der Fastenzeit gehörten ebenso zur selbstverständlichen Erziehungspraxis, und auch die Fronleichnamsprozession behielt ihre Relevanz. Zudem wurden die kirchlichen Feste des Jahreskreises einschließlich des Haus- bzw. Gruppenpatrons wie auch die Namenstage des Direktors und der Oberin, aber auch der Kinder entsprechend gefeiert. Daneben fand die Vorbereitung auf die Erstkommunion und die Firmung in der Schule statt, wobei gerade die Kommunionfeier ein besonderes Ereignis darstellte. Eine Reihe der Bewohner fungierte, nicht immer gewollt, als Messdiener und lernte auch die entsprechenden lateinischen Gebete und Formeln. Gerade letzteres wurde im Rückblick von ehemaligen Bewohnern hervorgehoben, um die so gezeigten Fähigkeiten der Diagnose „Schwachsinn“ entgegenzustellen. Zeitgenössisch scheint dies von den Erziehenden nicht als Widerspruch aufgefasst worden zu sein.261 Wenn sich auch lange Zeit die religiöse Erziehung im St. Vincenzstift in vielen Bereichen nicht nennenswert von derjenigen in gerade ländlichen katholischen Regionen unterschied – so waren regelmäßige werktägliche Schulmessen lange normal –, hing die Bewertung der er261

Interviews Gerda Y., Franz Z., Günter V. und Roland K.

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lebten Praxis doch stark von der eigenen Vorprägung ab. Daher sahen nicht nur ehemals im Stift tätige Schwestern – die Beichte war so selbstverständlich wie das „Zähneputzen“ –, sondern auch eine Ende der 1960er Jahre zum Stift gekommene weltliche Erzieherin keinen Zwang in religiöse Fragen, wohingegen eine andere, fast zeitgleich angestellte Kraft das religiöse Leben als „übertrieben“ einschätzte.262 Dabei dürfte auch der Bedeutungsverlust, der das kirchlich-religiöse Leben im Zuge der starken gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeitspanne erfasst hatte, eine Rolle gespielt haben. Bei vielen Bewohnern kam hinzu, dass sie auf Grund ihrer familiären Verhältnisse nicht selten eine religionsferne Prägung erhalten hatten, die dem intensiven Bemühen der Direktoren und der Schwestern entgegenstand. Daher empfanden sie den Glauben als „aufgezwungen“ und in seiner Alltäglichkeit nur schwer nachvollziehbar, wie auch Erinnerungen an die Zeit auf einer Schulmädchengruppe zeigen: „Die haben uns auch beigebracht, wenn ihr flink betet, dann wird das besser. Zum Beispiel, das fand ich als Kind so lustig und auch jetzt muss ich da drüber lachen. Wenn im Vincenzstift Gewitter war und es blitzte und es donnerte, dann mussten wir alle in den Esssaal. Und dann wurde eine Kerze aufgestellt und dann wurde den Rest der Nacht gebetet. Das war gut, wenn du dann am nächsten Morgen in die Schule musstest. Da konntest du dir Streichhölzer in die Augen tun. Das war dann, damit das Gewitter abzieht. Und das ging nicht weg. Um ein weiteres Beispiel zu geben: Es wurde immer gebetet, immer und immer. Ich habe zum Beispiel, wie heißt sie noch, die Heilige Hildegard von Bingen, 1.500 Mal musste ich als Strafe über sie schreiben. Ich musste etwa 100 Heiligengeschichten lesen. Ich musste dann an das Vorbild schreiben: Lieber Gott, ich bin ein Esel. Überall war Gott drin. Oder wenn du etwas verloren hast: Heiliger Antonius, hilf mir Schlappsack. Es ging nichts ohne die Kirche. Du konntest keinen Schnaps versetzen. Ich denk, wenn ich im Haus in die Toilette gefallen wäre, dann hätte ich auch noch zum Heiligen Bimbam beten müssen. Das war so strikt.“263 Wie insgesamt immer wieder für die Heimerziehung überliefert, haben auch im St. Vincenzstift Schwestern bei ihren Erziehungsbemühungen den Kindern einen alle Sünden sehenden und strafenden Gott vermittelt. Wie prägend dies bei einem Jungen gewesen ist, kam in der Aussage zum Ausdruck, dass dieses Gottesbild auch noch zu Anfang 262 263

Interviews Schwester Helga W., Schwester Hildegard U., Susanne P. und Claudia O. Interview Erika T.

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heimalltag

der 1970er Jahre einige Jahre nach der Entlassung aus dem Stift im Erwachsenenalter Ängste hervorrief.264 In diesem Zusammenhang stellten gerade Körperlichkeit und Sexualität ein „totales Tabu“ dar und wurden offenbar fast ausschließlich als schlimme Sünde betrachtet. Nach dem Bericht eines ehemaligen Bewohners fragte Direktor Müller bei der Beichte stets nach etwaigen sexuellen Handlungen. So wurde auch von einer ehemaligen Erzieherin erinnert, dass die Mädchen ihrer Gruppe noch Ende der 1960er Jahre nach dem Willen der Schwester vor dem Einschlafen die Hände auf dem Oberbett halten sollten, damit sie sich nicht „befummeln“ könnten.265 Eines dieser Mädchen war im Rückblick der Meinung, die Schwestern hätten „immer Angst“ gehabt, „wenn du mit einem Mädchen gesprochen oder sie berührt hast. Oder du hast beim Duschen ein größeres Mädchen mit einem großen Busen gesehen, was ja normal ist. Dann haben sie dich beim Baden an den Haaren genommen und unter Wasser gedrückt. Wir hätten nicht nach anderen zu gucken. Sie hatten immer Angst, dass wir irgendwas ... Alles, was nackt war, war Sex, war fies. Wir durften ja auch nichts. Wenn wir uns gewaschen haben und wir haben zu lange zwischen den Beinen gewaschen, dann gab es ja auch Strafen. Und meist wusstest du gar nicht, warum du jetzt als Kind Strafen bekommen hast. Sie haben ja nicht geredet, ja, das ist deine Scheide und das ist das. Das waren Dinge, die da ganz verkehrt gelaufen sind.“266 Aus diesem Umgang mit Sexualität ergab sich fast zwangsläufig eine strikte Geschlechtertrennung, die auch in der Sorge vor Schwangerschaften begründet gewesen sein dürfte und in unterschiedlicher Intensität in allen Bereichen des St. Vincenzstifts zu spüren war. Gleichzeitig galt es, homosexuelles Verhalten, das als besonders abscheulich betrachtet wurde, zu verhindern.

Schule und Arbeit Schule und Arbeit waren im St. Vincenzstift Bereiche, die sich allein schon räumlich und in ihrer personellen Zusammensetzung vom Leben in der Gruppe unterschieden. So fand der Unterricht in den Schulklassen statt. Auch dominierten im Lehrerkollegium seit Ende der 264 265 266

Interview Roland K. Interview Claudia O. Interview Erika T.

schule und arbeit

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1950er Jahre zahlenmäßig immer stärker weltliche Kräfte, die im Gegensatz zu den meisten Mitarbeitern in der Gruppenerziehung entsprechende qualifizierte Ausbildungen besaßen. Zudem nahm die Schule, wie weiter oben bereits skizziert, innerhalb des Hausgefüges unter der Leitung der Rektoren eine vergleichsweise unabhängige Position ein.267 Zumindest die schulentlassenen Jungen wurden an ihren Arbeitsplätzen von Meistern und Gesellen betreut, die ebenfalls keinen direkten Bezug zu den Gruppen hatten. Obwohl die Mädchen und Jungen in der Schule gemeinsam unterrichtet wurden, blieb die Trennung der Geschlechter auch hier wichtig. Daher standen besonders die Mädchen auf ihrem Weg von der Gruppe zu den Klassenräumen unter Beobachtung, und während der Pausen hatten sie auf einem von den Jungen separierten Schulhof zu spielen. Der Unterricht selbst wurde, vermutlich stark abhängig von der jeweiligen Lehrkraft wie auch den damaligen individuellen Möglichkeiten des einzelnen Schülers, unterschiedlich wahrgenommen. Außerdem hatte in der ersten Nachkriegszeit vor dem Hintergrund der erforderlichen Sicherung der Eigenversorgung der Einsatz in der Landwirtschaft und den Handwerksbetrieben Vorrang vor dem Schulbesuch. Ein 1947 im Alter von neun Jahren ins Stift gekommener Bewohner, der auf einem ostpreußischen Gut geboren war, berichtete etwa, dass er und andere Jungen bei Bedarf auch für einen längeren Zeitraum aus der Schule geholt und auf Nothgottes oder im Wegebau eingesetzt wurden. Da er bereits grundsätzlich Schwierigkeiten mit den schulischen Anforderungen hatte, trugen diese Versäumnisse zu einer weiteren Verschlechterung seiner Leistungen bzw. einer unzureichenden Förderung bei.268 Inwieweit man hier besonders diejenigen Bewohner heranzog, deren schulische Perspektiven als gering erachtet wurden, muss wegen fehlender Hinweise dahin gestellt bleiben. Allerdings berichteten viele ältere Männer, die auch nach der Volljährigkeit im Stift geblieben sind, von dieser Praxis.269 Andere ehemalige Schüler erinnerten sich dagegen, in der Schule eher unterfordert gewesen zu sein, weil das Niveau des Unterrichts an den schwächsten Schülern ausrichtet und eine Förderung ihrer Möglichkeiten unterblieben waren. Der zum Teil später unter großen Mühen nachgeholte Hauptschulabschluss zeigte ihrer Meinung nach 267 268 269

Interview Karsten Q. Interview Georg S. Interviews Gerda Y., Georg S., Markus R. und Claudia O.

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heimalltag

sowohl das an sich vorhandene Potenzial, aber auch die nur unzureichende Vermittlung elementarer schulischer Grundlagen.270 Allerdings beurteilte einer von ihnen den in der Oberstufe erhaltenen Nachmittagsunterricht insofern als positiv, als die Beschäftigung auf der Gruppe oft langweilig und noch weniger fördernd war.271 Auf der anderen Seite waren es Lehrkräfte des Stifts, die zuvor nicht festgestellte körperliche Ursachen für Lerndefizite erkannten und therapeutische Maßnahmen ergriffen bzw. veranlassten. Bei einem Mitte der 1960er Jahre neunjährig u.a. wegen ihrer schulischen Probleme vom Kinderheim in Dernbach zum St. Vincenzstift verlegten Mädchen war es eine Lehrerin, der die offenbar zuvor bei ärztlichen Untersuchungen nicht festgestellte große Sehschwäche auffiel, die ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten verursacht hatte.272 Etwa zur gleichen Zeit bemerkte ein sprachheilkundlich ausgebildeter Lehrer der Sonderschule bei einem elfjährigen, seit drei Jahren im Stift untergebrachten Jungen dessen Hörprobleme und die damit verbundene verzögerte Sprachanbahnung. Daraufhin erhielt er in der Schule eine gezielte Förderung, die seine schulischen Leistungen deutlich verbesserte. Nach der Entlassung aus dem Stift konnte er seinen Hauptschulabschluss nachholen und erfolgreich eine Krankenpflegeausbildung abschließen.273 In der Sonderschule für Lernbehinderte im St. Vincenzstift nahm offenbar eine Schulschwester eine besondere Stellung ein. Ende der 1960er Jahre war sie in diesem Bereich die einzige Schulschwester – die anderen Schwestern betätigten sich in der Schule für „Praktisch Bildbare“. Dieser Schwester blieb es vorbehalten, die Abschlussklasse zu unterrichten. Unter ihren weltlichen Kollegen galt sie als aufgeschlossen – auch sonst gab es im Schul-Kollegium anscheinend keinen Konkurrenzkampf zwischen Schwestern und weltlichen Kräften, wie er für manche Gruppen erinnert wurde. Innerhalb des Konvents besaß sie schon auf Grund ihrer Qualifikation eine besondere Stellung.274 Zudem hatte sie nach den Erinnerungen einer Schwester eine positive Ausstrahlung auf ihre Mitschwestern, die sie mit trug und wie auch ihre Schüler zu begeistern vermochte. Auch hätte sie die Gruppen in von ihr durchgeführte schulische Aktivitäten eingebunden.275 270 271 272 273 274 275

Interviews Günter V. und Roland K.; vgl. auch Homes, Prügel vom lieben Gott, S. 119. Interview Franz Z. Interview Erika T. Interview Franz Z. Interview Karsten Q. Interview Schwester Hildegard U.

schule und arbeit

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Dagegen überwog bei einer ehemaligen Bewohnerin im Rückblick auf diese Schulschwester, dass bei ihr als Leiterin des Chores vor allem die gesanglichen Fähigkeiten der Schüler für ihr Wohlwollen sorgten, andere jedoch nur wenige Chancen bei ihr hatten. Ein 1953 geborener ehemaliger Bewohner des St. Vincenzstifts sprach davon, dass sich die weltlichen Lehrer unter der „diktatorischen Herrschaft der Nonnen“ sehr schwer taten. Als sich etwa sein damaliger Klassenlehrer dafür einsetzte, den Schülern nicht nur am Sonntag, sondern auch unter der Woche – also auch im Unterricht – das Tragen vom Armbanduhren zu erlauben, rief er massiven Widerstand der Gruppenerziehenden hervor. Denn damit verstieß er gegen ein strenges Verbot, was zu einem regelrechten „Eklat“ geführt habe, der fast mit dem „Rausschmiss“ des Lehrers geendet sei.276 Weitere grundsätzliche Konfliktlinien ergaben sich vor allem für die Bereiche der Sexual- und der religiösen Erziehung. Da durch den koedukativ angelegten Schulunterricht die ansonsten im Hausalltag bestehende strikte Geschlechtertrennung durchbrochen wurde, waren Reibungen vorprogrammiert. Zwar existierte jeweils ein Schulhof für Jungen und für Mädchen und Übertretungen waren verboten, aber dennoch nutzten Schüler hier trotz großer Angst vor den Folgen die ansonsten kaum vorhandene Möglichkeit, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen.277 Hinzu kam, dass vor dem Hintergrund der sich im Lauf der 1960er innerhalb der jungen Generation stark wandelnden Sexualvorstellungen besonders jüngere Lehrer andere Standpunkte vertraten als viele Erziehende und die Hausleitung. Dies betraf gerade die auf den Gruppen kaum durchgeführte Aufklärung, die einerseits im Lehrplan verankert, andererseits aber nicht von allen Lehrern aufgegriffen wurde und zudem elementare moralische Fragen berührte.278 Nach den Erinnerungen eines ehemaligen Bewohners an den etwa im Alter von 13 Jahren begonnenen Sexualunterricht hat Direktor Müller den Lehrer dabei unterbrochen und den Unterricht dann selbst übernommen, wobei jedoch nur die Namen der Geschlechtsorgane, aber nicht ihre Funktion vermittelt wurden.279 In der Schule fand nicht nur der Religionsunterricht, sondern auch die Sakramentenvorbereitung statt. Lange Zeit übernahmen die Schul276 277 278 279

Interview Roland K. Interviews Roland K., Erika T. und Günter V. Vgl. Interviews Karsten Q. und Schwester Hildegard U. Interview Roland K.

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schwestern und der Direktor diese Aufgaben, was jedoch im Zuge der Zunahme der Klassen und der Abnahme der Schwestern nicht mehr in vollem Umfang möglich war. Der dann vermehrt von den weltlichen Lehrkräften erteilte Religionsunterricht entsprach nach den Erinnerungen eines ehemaligen Lehrers zumindest nicht immer den Vorstellungen Direktor Müllers, da er zu alltagsbezogen und an den Schülern ausgerichtet war.280 Welche Sichtweise die Lehrkräfte gerade den oftmals aus schwierigen familiären Verhältnissen stammenden lernbehinderten Schülern entgegen brachten und ob diese die Bewertung der schulischen Leistung und ihr Verhalten beeinflussten, ließ sich nicht eindeutig benennen. Ein von 1961 bis 1972 im St. Vincenzstift untergebrachter Bewohner erinnerte sich, dass für eine Reihe weltlicher Lehrer beim Umgang mit den Kindern und Jugendlichen rein schulische Kriterien maßgeblich waren.281 Ende der 1960er Jahre neu in die Gruppenerziehung des Stifts gekommene Kräfte wiesen dem damaligen schulischen Engagement im Rückblick ebenfalls eine gute Qualität zu, das sich positiv auf die Kinder und Jugendlichen ausgewirkt hätte.282 Letztlich wird dieser Aspekt wie an anderen Schulen stark vom jeweiligen Verhalten der einzelnen Schüler und der Möglichkeit des Aufbaus einer persönlichen Beziehung abhängig gewesen sein. Wenn es in der Schule mit einem Schüler Probleme gab, die in den Hausalltag reichten, suchten die Lehrer im Lauf der 1960er Jahre vermehrt den Austausch mit den Gruppenleitungen. Diese Kontakte wurden von einem Lehrer wie von Erziehenden als fruchtbar erinnert. Als mit der Zunahme qualifizierter weltlicher Sonderschullehrer, die täglich von außerhalb in die Schule kamen, der Unterricht auch mehr Alltagsbezüge erhielt, wurden jedoch auch stärker die Diskrepanzen im Gruppenleben wahrgenommen. So erkannten Lehrer die nach wie vor bestehende Enge und Eingleisigkeit im Gruppenleben. Solange die schulische Förderung nicht beeinträchtigt und die Persönlichkeit des Schülers beachtet wurden, akzeptierten die Lehrer diese Verhältnisse. Doch die unterschiedlichen Erziehungsmaßstäbe zwischen einer Reihe von Lehrkräften und den meist aus Schwestern bestehenden Gruppenleitungen führten auch zu Konflikten.283 280 281 282 283

Interview Karsten Q. Interview Franz Z. Interviews Susanne P. und Claudia O. Interview Karsten Q. und Schwester Helga W.

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Zudem orientierte sich die Schule verstärkt nach außen, womit für die konkrete Arbeit ebenfalls eine Öffnung verbunden war. Allerdings wurde dies vor dem Hintergrund der nach wie vor großen Vorbehalte in der Gesellschaft gegenüber behinderten und erziehungsschwierigen Mädchen und Jungen von den Bewohnern nicht nur positiv gesehen. So hatten etwa Schüler des Stifts gemeinsam mit Schülern öffentlicher Volksschulen an den Bundesjugendspielen teilgenommen und dabei wegen ihrer Herkunft auch demütigende Kommentare erdulden müssen: „Ich kann mich noch erinnern, dass man die Bundesjugendspiele ja auch mit uns durchgeführt hat. Und dass eine Gesamtschule in Assmannshausen war, Volksschule und Realschule war es glaub ich, ja. Da kam einer auf die Idee, das machen wir jetzt zusammen. Und die Kinder vom Vincenzstift, die kommen dann mit dazu. Das haben wir dann nie mehr gemacht. Das war der größte Fehler. Weil, wenn man vorher schon so Fehler macht und da Jahrzehnte lang, dann kann man normale Kinder und Jugendliche nicht zu geschädigten Kindern und Jugendlichen hin tun. Wir waren auch ganz schnell abgegrenzt und haben auf einem Haufen gesessen und man hat mit dem Finger auf uns gezeigt. Wir waren dann froh, als wir weggehen konnten. Da hab ich lange drunter gelitten. Ich hab immer geguckt, dass ich möglichst in der Mitte von unserer Gruppe saß, damit man mich von außen weniger sieht. Und so haben die anderen auch gedacht. Und so war es halt ein Gedränge. […] Das war der Reinfall gewesen.“284 Neben den schon erwähnten „Ämtern“, die die Kinder und Jugendlichen auf den Gruppen zur Gewöhnung an Ordnung und Arbeitsamkeit, aber auch in Anbetracht der sehr dünnen Personaldecke ausübten, mussten im St. Vincenzstift auch die Schulmädchen nach dem Mittagessen putzen und in der Küche helfen sowie zur Erntezeit Obst und Gemüse pflücken und verarbeiten.285 Wie auch für das Franz Sales Haus festgestellt286, waren im Stift dabei die Mädchen gegenüber den Jungen benachteiligt. Noch in den 1960er Jahren wurde ihnen nach den Erinnerungen einer ehemaligen Bewohnerin „von der ersten Klasse an beigebracht, es ist wichtig, [...] dass du arbeitest. Im Höchstfall kannst du noch eine gute Ehefrau werden. Es war gar nicht darauf ausgelegt, dass wir überhaupt etwas lernen. Das war überhaupt nicht darauf ausgelegt. 284 285 286

Interview Roland K. Interview Gerda Y. Frings, Fanz Sales Haus, S. 128f.

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Abb. 12: Mädchen beim Mangeln und Bügeln Mitte der 1950er Jahre.

Es ging darum: Die müssen auf den Arbeitsmarkt und für den Rest sind sie Frauen und spielen Hausmütterchen.“287 Darüber hinaus verrichteten Mitte der 1960er Jahre offenbar Jungen der Antonius-Gruppe nach Bedarf Fremdarbeiten für eine Firma – nach den Erinnerungen eines Betroffenen im Rheingau gelegen –, indem sie nach der Schule drei bis vier Mal im Jahr nach Bedarf über mehrere Wochen Lockenwickler fertigten. Dabei erhielten sie nur ein höheres Taschengeld, obwohl sie manchmal bis 21 Uhr beschäftigt waren.288 Das Ende der Schulzeit im St. Vincenzstift bedeutete für die Jugendlichen in der Regel, in das Berufsleben einzutreten. Diejenigen unter ihnen, die in der Einrichtung bleiben mussten, besaßen meist nur begrenzte Möglichkeiten. Dabei scheint vor allem hinsichtlich der Mädchen klar gewesen zu sein, diese nach einer Anlernphase in der Hauswirtschaft des Stifts zu beschäftigen. Viele Jungen wurden im großen Bereich der Landwirtschaft und Gärtnerei eingesetzt. Direktor Hannap287 288

Interview Erika T. Interviews Franz Z. u. Roland K. Auch Mädchen der Gruppe Maria Goretti fertigten nach der Erinnerung von Gerda Y. Lockenwickler. Dafür gab es zwar Lohn, der aber für den Gruppen-Fernseher gespart wurde. (Vgl. Interview Gerda Y.)

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Abb. 13: Arbeit in der Gärtnerei um 1955.

pel, der selbst auf einem Bauernhof im Westerwald aufgewachsen war, arbeitete des Öfteren auf den Feldern mit und nahm dann dort auch die Mahlzeiten mit den Jungen ein. Damit demonstrierte er eine große Nähe zu den Bewohnern, die von diesen durchaus positiv wahrgenommen wurde.289 Daneben erhielten Jungen in den verschiedenen Werkstätten des Hauses Arbeitsplätze zugewiesen und trugen so ebenfalls zur möglichst kostengünstigen Versorgung des Stifts bei. Offenbar besaßen zumindest einzelne Gruppenschwestern wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung, welche berufliche Betätigung ergriffen werden sollte. Der persönliche Wunsch wie auch die spezifischen Fähigkeiten der Betroffenen fanden dabei weniger Beachtung.290 So hätte sich ein Mitte der 1960er Jahre aus der Schule des Stifts entlassener Junge lieber in der Schneiderei als in der Gärtnerei betätigt, in der auch viele Leistungsschwächere beschäftigt wurden. In der Schneiderei wäre er seiner Meinung nach jedenfalls stärker gefordert gewesen. Daher sprach er von vier vergeudeten Jahren, zumal ihn der Unterricht in der zeitweise parallel besuchten Sonderberufsschule des Stifts kaum 289 290

Interviews Gerda Y. und Georg S. Interview Franz Z.

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weiterbrachte. Denn letztlich fehlte ihm wie den meisten anderen Jugendlichen die Möglichkeit, eine Lehrausbildung zu durchlaufen – zu seiner Zeit hätten diese nur zwei Jungen machen können. Auch habe er für seine Arbeit keinen Lohn, sondern nur monatlich zwölf DM Taschengeld erhalten. Nachdem die vom Stift neu eingestellte Psychologin das tatsächliche Leistungspotenzial der Bewohner getestet hatte, wurde er Anfang der 1970er Jahre in eine Gärtner-Lehre nach Paderborn vermittelt. Diese brach er jedoch nach vier Wochen wieder ab, da er mit der gesamten Situation überfordert war. Erst als er 1972 mit vier weiteren Jungen über zwei Jahre in einer Essener Jugendheimstätte gezielt auf den neuen Lebensabschnitt vorbreitet worden war, gelang ihm der „totale Umbruch“. Er holte den Hauptschulabschluss nach und absolvierte dann in Koblenz die Krankenpflegehelfer- und später auch noch die Krankenpflegeausbildung.291 Ende der 1960er Jahre gab es offenbar weitere gezielte Bemühungen des St. Vincenzstifts, Lehrausbildungen außerhalb des Stifts zu ermöglichen. Zwei andere im Haus untergebrachte Jungen, die in der Heimsonderschule zu den stärkeren Schülern gezählt hatten, nahmen an einem Test des Wiesbadener Arbeitsamtes teil, um die Perspektiven für eine Ausbildung in einem anderen Heim zu ermitteln. Daraufhin wurde einer zum Jugendwerk St. Josef nach Landau verlegt, wo er die Gesellenprüfung als Schuhmacher ablegte – eigentlich wäre er lieber Autoschlosser geworden, was aber im Jugendwerk wegen seiner als nicht ausreichend eingeschätzten Mathematikkenntnisse abgelehnt wurde.292 Der andere blieb jedoch im St. Vincenzstift. Seiner Meinung nach war er auf den Test nicht gut genug vorbereitet gewesen. Er erhielt einen Arbeitsplatz in der Schreinerei des Stifts, obwohl er gar keinen Bezug zu Holz hatte. Der die Werkstatt leitende Meister hätte auf der einen Seite eine Lehrausbildung unterstützt. Anderseits aber brachte er seine Zweifel an einem Erfolg zum Ausdruck, indem er „lieber ein[en] gute[n] Hilfsarbeiter als ein[en] schlechte[n] Geselle[n]“ hätte. Daher empfand sich der Junge erneut „abgestempelt“. Weil er keinen Lohn erhielt und für ihn keine Sozialabgaben abgeführt wurden, sah er sich zudem in einem System der „Zwangsarbeit“. Mitte der 1970er Jahre holte er dann „in nur zwei Jahren“ seinen „Facharbeiterbrief “ nach, „in nur zwei Jahren auf einem Ausnahmeweg, auf eigene Faust und auf eigene

291 292

Interview Franz Z. Interview Günter V.

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Rechnung. Und mein Gesellenstück, was damals auch erforderlich war, ist heute noch so, das steht heute noch in meiner Wohnung.“293 Bei anderen Bewohnern waren die Erinnerungen an ihre Zeit als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und den Werkstätten der 1950er Jahre unterschiedlich. Einer berichtete etwa darüber, dass die Mitarbeiter des Gutes Nothgottes ihn und seine ebenfalls dort beschäftigten Mitbewohner als „dumme Jungen“ bezeichnet, also als nicht vollwertig betrachtet hätten. Ein zweiter Bewohner, der u.a. in der Bürstenmacherei, Gärtnerei, Bäckerei eingesetzt worden war, erklärte, dass in letzterer vom Meister viel Wert auf Sauberkeit gelegt wurde und er bei Nichtbeachtung dieser Vorgabe „viel einstecken musste“. Gleichzeitig verteilte der Bäcker des Öfteren Backwaren an die Jungen, was positiv haften geblieben ist. Hinsichtlich der fehlenden Entlohnung, die insgesamt bis in die 1970er Jahre für die Heimerziehung als rechtlich legitimierte Praxis galt, wurde darauf hingewiesen, dass demnach auch keine Sozialabgaben abgeführt wurden und so Fehlzeiten bei der Rentenversicherung entstanden sind.294 Immer wieder kam in den Erinnerungen ehemaliger Bewohner, aber auch Erziehender des St. Vincenzstifts zum Ausdruck, dass die relative Abgeschlossenheit des Hauses, die Erziehungsbemühungen auf den Gruppen sowie die Förderung in der Schule und im Beruf entgegen den eigentlichen Erziehungszielen nur unzureichend auf das Leben außerhalb der Einrichtung vorbereitet hatten. Für die Schule wurde etwa hervorgehoben, dass sie zwar zu Selbstständigkeit und Lebenstüchtigkeit erziehen wollte, dies aber wegen der abgeschiedenen Lage der Einrichtung sehr schwierig war. Z. B. sei es noch in den 1960er Jahren nur mit einem großen Aufwand möglich gewesen, mit einer ganzen Klasse zum Einkaufen nach Rüdesheim zu fahren.295 So waren auch intellektuell stärkere Bewohner nach der Entlassung mit 18 oder 19 Jahren mit manchen alltäglichen Abläufen überfordert gewesen. Dabei stellten sich vermehrt Probleme ein, wenn der Weg aus dem Stift direkt in eine Großstadt führte, was etwa die räumliche Orientierung oder die Nutzung des Nahverkehrs stark erschwerte. Aber auch sonst erwiesen sich der wirklich verantwortliche Umgang mit Geld oder das selbstbe293

294 295

Interview Roland K. Alexander Markus Homes beschreibt in seiner „Heimbiographie“, wie er nach dem Sonderschulabschluss im Stift trotz eigentlich unzureichender Grundlagen in einem Frankfurter Internat den Hauptschulabschluss schaffte. (Vgl. Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 119.) Interviews Georg S., Markus R. und Günter V. Interview Karsten Q.

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wusste Auftreten in Geschäften als schwierig. Da offenbar gleichzeitig Übergangseinrichtungen fehlten, scheiterte nicht selten der Eintritt in das Leben außerhalb der Einrichtung.296

Freizeit Die Freizeitgestaltung im St. Vincenzstift war zunächst vom Alter, dann aber auch vom Geschlecht der Bewohner und dem Grad ihrer Behinderung abhängig – auf den Pflegegruppen dürfte sie kaum eine Rolle gespielt haben. Während sie für die Schulkinder den Nachmittag, Abend, das Wochenende und die Ferien umfasste, beschränkte sie sich bei den arbeitenden Jugendlichen vor allem auf den Abend und das Wochenende sowie die Urlaubszeit. Für Jungen standen weitgehend das Fußballspielen und andere sportliche Aktivitäten im Vordergrund, wobei zumindest in den 1950er Jahren auch Spiele gegen Mannschaften des Jugendheims Marienhausen und aus benachbarten Orten stattfanden. Ein ehemaliger Bewohner erinnerte sich, dass er eigentlich nur Fußballspielen im Kopf hatte, was bei ihm durchaus auch als Motivation für den Schulbesuch diente. Denn da er sich dort besonders engagiert hatte, bekam er ein Paar Fußballschuhe.297 Darüber hinaus hatten alle Kinder und Jugendlichen möglichst an der frischen Luft zu spielen, wobei jeweils ein Spielplatz für die Mädchen und für die Jungen zur Verfügung stand. Im Sommer konnten zudem die beiden, wiederum nach den Geschlechtern getrennten Schwimmbecken der Anstalt genutzt werden. Die Gruppen der Schulkinder unternahmen häufig Spaziergänge in die umliegenden Wälder, die von einer Erziehenden als „schönster Abenteuerspielplatz“ bezeichnet wurden298, wie auch Wanderungen etwa zum einige Kilometer entfernt gelegenen Niederwald-Denkmal oder manchmal auch nach Rüdesheim. Diese Aktivitäten hatten für die Erziehenden den Vorteil, meist ohne die Notwendigkeit zur individuellen Beschäftigung auskommen zu können, was auch der personellen Situation entgegen kam. Außerdem trugen sie dazu bei, dass die Mädchen und Jungen abends wie gewünscht müde waren. Letztlich hing ihr Verlauf von der Bereitschaft der begleitenden Schwestern und Erzieherinnen ab, Spielphasen zuzulassen. 296 297 298

Interviews Günter V. und Roland K. Interview Günter V. Interview Susanne P.

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Abb. 14: Mädchen-Spielplatz Ende der 1960er Jahre.

Manchmal gingen die Gruppen auch geschlossen unter Aufsicht in den Ort Aulhausen, wo sie von manchen Einwohnern bis in die 1970er Jahre nicht gern gesehen waren und als die „Idioten“ oder „Vincenser“ galten. Zu dieser ablehnenden Haltung trug auch bei, dass die Kinder durch ihre altmodische und teilweise geflickte oder zu große Kleidung auffielen. So ergaben sich auch des Öfteren peinliche Situationen, weil sie sich unfreiwillig lächerlich machten.299 Im Winter oder bei schlechtem Wetter dienten auf den Gruppen vor allem die langen Flure zum Spielen, die mit Bänken und Tischen an einer Wand ausgestattet und in der Regel heller als die multifunktionalen Aufenthalts-/Essräume waren. Auch hier war das jeweilige Engagement der Schwestern und weltlichen Mitarbeiter ausschlaggebend, wie abwechslungsreich oder anspruchsvoll sich die Beschäftigung darstellte.300 Spielzeug war jedenfalls ausreichend vorhanden und wurde auch in der freien Zeit zwischen dem Abendessen und dem Zubettgehen genutzt. Hier standen in einer Gruppe der Schuljungen neben Gesellschaftsspielen vor allem Lego-Steine im Mittelpunkt. Auch wurden von 299 300

Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 82; vgl. auch Interview Claudia O. Franz Z., der die Freizeitaktivitäten auf seiner Gruppe oftmals langweilig empfand, war froh, in der Oberstufe auch nachmittags zur Schule gehen zu können. (Vgl. Interview Franz Z.)

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den Jungen Strümpfe gestrickt. Außerdem bestand die Möglichkeit, im Fernsehsaal, in dem die großen Jungen das Programm vorgaben, fernzusehen.301 Daneben gab es etwa auch im Aufenthaltsraum der Gruppe Don Bosco, auf der Ende der 1960er Jahre ältere Jungen untergebracht waren, einen Fernseher. Hier stand die Serie „Bonanza“ hoch im Kurs.302 Auch sonst genossen die Bewohner dieser Gruppen mehr Freiheiten, indem sie allein in den Ort und auch länger ausgehen durften. Allerdings blieb der sonntägliche Ausgang auf die Zeit von 13 Uhr bis 17 Uhr begrenzt. Bei Unpünktlichkeit drohte am folgenden Sonntag ein Ausgeh-Verbot. Unter diesen zeitlichen Vorgaben ließen sich in der Rückschau eines ehemaligen Bewohners kaum Aktivitäten unternehmen, zumal die ländliche Lage des St. Vincenzstifts wie auch unzureichende Geldmittel auf Grund des fehlenden Arbeitslohns keine Möglichkeiten eröffneten.303 Die Feier der kirchlichen Hochfeste, der Namenstage des Direktors, der Oberin und des Gruppen-Patrons wie auch das St. Vincenz- bzw. Sommerfest waren von den Schwestern mit besonderer Sorgfalt gestaltet und bedeuteten für die Mädchen und Jungen eine willkommene Abwechslung im Jahresablauf. Sie waren aber lange Zeit meist interne Veranstaltungen, die kaum zu breiteren Außenkontakten führten. Die Distanz zur umliegenden Bevölkerung konnte so noch nicht abgebaut werden. Nicht zuletzt wegen dieser nach wie vor innerhalb der Gesellschaft zu spürenden Vorbehalte gegenüber geistig behinderten Menschen errichtete das Stift ein eigenes Ferienhaus im Grolochtal, in dem die Mädchen und Jungen dann gruppenweise Ferien machten – zuvor waren dort auch Zeltlager veranstaltet worden.304 So wandte sich Direktor Müller im Sommer 1962 zur Erlangung eines Zuschusses für diese Baumaßnahme an das hessische Kultusministerium und legte dar, dass von den 420 Kindern und Jugendlichen „im Laufe eines Jahres nur rund 100 nach Hause in Urlaub fahren“ könnten. Doch für eine Ferienfreizeit würde „eine öffentliche Jugendherberge oder ähnliche Einrichtung“ kaum zu nutzen sein, „da unsere Heiminsassen wegen ihrer Behinderung und z. T. wegen ihres Aussehens leicht dem Spott der An-

301 302 303 304

Interviews Susanne P. und Schwester Helga W. Interview Günter V. Interview Roland K. Interview Markus R.

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Abb. 15: Direktor Müller beim Patronatsfest einer Gruppe Ende der 1960er Jahre.

Abb. 16: St. Vincenzfest 1962.

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deren ausgesetzt“ seien.305 Die Urlaube im nur einige Kilometer entfernten, im Wald gelegenen Ferienhaus wurden von ehemaligen Bewohnern jedoch auch negativ erinnert, weil sie sich nur wenig vom normalen Gruppenalltag unterschieden.306

Bezugspersonen Wenn bei diesen das Ferienhaus betreffenden Ausführungen Direktor Müllers einzubeziehen war, dass einige Bewohner wegen der Schwere ihrer Behinderung oder Verhaltensauffälligkeit in den Ferien von den Angehörigen nicht betreut werden konnten, standen sie doch auch für die oftmals fehlende Bindung vieler Jungen und Mädchen zu ihren Eltern oder Großeltern. Wie weiter oben schon erwähnt, sah der Direktor gerade bei erziehungsschwierigen Kindern und Jugendlichen wegen der problematischen familiären Verhältnisse engere Kontakte nicht gern, die zumindest Ende der 1960er Jahre bei den kleineren Kindern weitaus häufiger bestanden als bei den Jugendlichen.307 Jedenfalls war es vielen Bewohnern während ihres oftmals mehrjährigen Aufenthalts im St. Vincenzstift nur selten oder gar nicht möglich, die Eltern zu besuchen, was außer in den Ferien grundsätzlich auch alle 14 Tage am Wochenende und zu Weihnachten erlaubt war. Gerade während der Ferien und zu Weihnachten hatte dies für manchen im Haus Verbliebenen „schlimme“ Empfindungen zur Folge.308 Angehörige, die die Kinder im Stift besuchten, durften wiederum nicht auf die Gruppen kommen und meist nur im an der Pforte gelegenen Besucherzimmer in Anwesenheit einer Schwester mit ihnen sprechen. Die Verhältnisse auf den Gruppen sollten dabei nicht thematisiert werden. Zwei ehemalige Bewohner erinnerten sich zudem daran, zu Geschwistern, die zur gleichen Zeit im Stift untergebracht waren, keinen Kontakt gehabt zu haben.309 Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des anscheinend in der ersten Zeit nach der Ankunft im Stift bei nicht wenigen Kindern aufkommenden Gefühls, sich – auch im Vergleich zu ihren vorherigen Heimerfahrungen – in einer großen, unüberschaubaren und kalten 305

306 307 308 309

Direktor Müller an das hessische Kultusministerium v. 2. Aug. 1960, in: AStV, Ordner Zuschüsse – Beihilfen. Interviews Erika T. und Roland K. Interview Claudia O. Interview Roland K. Interviews Erika T. und Günter V.

bezugspersonen

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Einrichtung zu befinden, dürfte es wichtig gewesen sein, eine Bezugsperson zu finden. Nach den Erinnerungen sowohl ehemaliger Bewohner als auch Erziehender blieben Freundschaften unter den Kindern und Jugendlichen nicht zuletzt wegen der bestehenden Gruppenhierarchien die Ausnahme. In der Regel gingen die Beziehungen daher nicht über die eines „Spielkameraden“ hinaus und kennzeichneten eher die Ebene eines „günstigeren oder ungünstigeren Zusammenlebens“.310 Außerdem kam zum Ausdruck, dass Erziehende Freundschaften zu unterbinden suchten und dabei schnell homosexuelle Neigungen vermuteten.311 Dennoch wurde auch berichtet, dass Gruppen fest zusammenhielten und sich Freundschaften herauskristallisierten.312 Untersuchungen haben gezeigt, dass sich gerade diejenigen ehemaligen Heimkinder positiv an ihre Heimzeit erinnerten, die in der Einrichtung eine erwachsene Bezugsperson gefunden hatten.313 Hier waren die Erfahrungen im St. Vincenzstift ebenfalls unterschiedlich. Während eine Erzieherin davon sprach, dass die Mädchen ihrer Gruppe meist unter den Erziehenden keine Bezugspersonen suchten, und ehemalige Bewohner betonten, dass solche nicht gewonnen werden konnten, nannten andere sowohl Schwestern als auch weltliche Mitarbeiter, die sie z. B. trösteten. So fand etwa ein Junge in den 1960er Jahren in der die Krankenstation betreuenden Schwester einen „herzensguten“ Ansprechpartner, der zudem seine krankenpflegerische Begabung erkannte und förderte. Auch der langjährige Verwaltungsleiter war für ihn als „netter Mensch“ wichtig. In diesem Zusammenhang wurden mehrmals auch die Ende der 1960er Jahre im Stift ihren Dienst verrichtenden Zivildienstleistenden erwähnt, die in der Gruppenerziehung den „männlichen Part“ und demnach eine gewisse Vorbildfunktion einnahmen.314 Insgesamt scheinen engere Beziehungen zu Erwachsenen jedoch eine Ausnahme dargestellt zu haben. 310 311 312 313

314

Interviews Günter V., Roland K., Markus R., Schwester Helga W. und Claudia O. Interview Erika T.; vgl. auch Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012. Interviews Georg S. u. Franz Z. Klaus Esser, Die retrospektive Bewertung der stationären Erziehungshilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Wirkungsorientierung, Diss., Köln 2012; Frings/Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion, S. 487-490. Interview Franz Z.; auch Interviews Claudia O., Susanne P. und Markus R. Alexander Markus Homes nennt Erzieher auf der Gruppe der älteren Jungen, zu denen eine Beziehung aufgebaut werden konnte, die aber bald das Haus verließen oder verlassen mussten. (Vgl. Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 113f.)

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heimalltag

Ordnungsrahmen, Strafen, sexualisierte Gewalt In den Erinnerungen ehemaliger, während der 1950/60er Jahre im St. Vincenzstift untergebrachter Mädchen und Jungen kam immer wieder die große Angst zum Ausdruck, die vor allem die auf ihren Gruppen angewandte Erziehungspraxis bei ihnen ausgelöst hatte. Diese empfanden einige Jungen deutlich verschärfter als in den Kinderheimen, in denen sie zuvor gelebt hatten. Wenn bereits die Verlegung aus den dort vergleichsweise überschaubaren Verhältnissen in die neue große Einrichtung mit vielen Bewohnern und Erziehenden für sie, wie schon erwähnt, ein negatives Erlebnis darstellte, steigerte sich diese Wahrnehmung im nachfolgenden Heimalltag weiter. So berichtete ein ehemaliger Bewohner, dass zwar auch die Schwestern im vorherigen Heim streng gewesen seien, aber doch eine familiäre Atmosphäre geherrscht habe, in der auch das Gefühl von Geborgenheit aufkam. In seiner neuen Gruppe im Stift, in der die kleineren Jungen betreut wurden, war das Gegenteil der Fall. Denn die dort verantwortliche Schwester agierte „fast schon schizophren“, „unberechenbar“, zumal er als Bettnässer häufig bestraft wurde. Bereits kurz nach seiner Ankunft musste er eine erste entsprechende Erfahrung machen: „Ich habe die so, wie ich sie Ihnen jetzt geschildert habe, so habe ich die erlebt. Schon am ersten Tag, als ich da hin kam, Angst sowieso, Angst, was Neues, was Fremdes, viele fremde Jungs. Wir hatten da so ein ... und da haben wir zu Abend gegessen. An langen Bänken saßen wir, an langen Tischen mit Bänken. Und die ist dann, mich hat sie da verschont, mit einem Gegenstand durch und hat die ganzen Jungs verprügelt. Mich hat sie verschont, weil ich neu war. Ich habe vor Angst in die Hose gemacht.“315 Ein anderer, etwa zeitgleich in dieser Gruppe lebender Junge erinnerte sich, dass die Schwester gemeinsam mit ihrer weltlichen Erziehungshelferin, die sich in ihrem Verhalten nicht von der Schwester unterschied, die gut 30 Kinder häufig schlug. Sie bestrafte etwa das „Vergehen“, sich trotz des nach 18 Uhr bestehenden Toilettengehverbots zum WC geschlichen zu haben, mit brutalem Prügeln. Diese körperlichen Misshandlungen gingen einher mit psychischen Demütigungen, durch die seiner Meinung nach letztlich viele der Kinder gebrochen wurden. Die permanent empfundene Angst sei dabei so groß gewesen, dass nichts über diese Vorgänge im Haus verbreitet wurde, zumal die 315

Interview Franz Z.; vgl. zudem Interviews Günter V. und Roland K.

ordnungsrahmen, strafen, sexualisierte gewalt

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Gruppen sehr autonom waren. „Da hat jede Gruppe geguckt, dass seine eigene Gruppe lief und damit war eigentlich schon Schluss. […] Es war wie als wenn was passiert hinter verschlossenen Türen, was nicht nach außen dringen darf. […] Der gesamte Heimaufenthalt war wie ein ausgehbares Glasgefängnis. So hab ich das über die ganzen Jahre empfunden. Ich kann zwar raus. Es sind keine Mauern da und keine Türen abgeschlossen. Aber trotzdem bin ich in Gefängnissen. Wenn ich länger weg bleibe und so weiter, stehen da drakonische Strafen auch eben drauf. Und die Angst, dass man da nicht abgehauen ist und so weiter. Es waren auch relativ Wenige, die fortgelaufen sind. Aber die waren dann wirklich fertig.“316 Obwohl die beiden Erziehenden versucht hätten, Verletzungen durch die Misshandlungen etwa bei den regelmäßigen Reihenuntersuchungen zu vertuschen, wurde ihr Verhalten nach den Erinnerungen Betroffener doch bekannt – dazu zählte auch die Veruntreuung von Geschenken der Kinder. Jedenfalls waren beide plötzlich aus dem Stift verschwunden und wurden ersetzt, wodurch sich die Situation auf der Gruppe etwas besserte.317 Vermutlich handelte es sich bei den Erziehungsmethoden der Schwester und ihrer Helferin um Extremfälle. Doch zumindest Ende der 1960er Jahre war unter den Erziehenden bekannt, welche Schwestern und weltlichen Kräfte auch in Anbetracht ihrer Machtposition innerhalb des Anstaltskosmos als besonders streng galten. Dabei waren gerade die Jungengruppen betroffen, wo teilweise eine „handfeste Pädagogik“ betrieben wurde. Zu Reaktionen führte dieses Wissen jedoch in der Regel nicht.318 Unabhängig von diesen besonderen Fällen gehörten Strafen in unterschiedlicher Ausprägung auch im Heimalltag des St. Vincenzstifts zur Normalität. Die Palette reichte von einer Ausgangssperre, Fernsehverbot oder dem Entzug anderer Vergünstigungen, ins Bett müssen, kalt duschen oder in der Badewanne „eingetunkt“ oder „untergetaucht“ werden, einen Tag Einsperren in einem der in den 1950er Jahren „Kabause“ genannten „Besinnungsstübchen“ bis zum Barfußstehen auf dem kalten Steinboden im Flur oder „an der Wand“ etwa für verbotenes Sprechen im Schlafsaal. Die „Besinnungsstübchen“ waren auf dem Dachboden mit einer äußerst kargen Ausstattung eingerichtet. Nach den Erinnerungen einer Ende der 1960er Jahre zum Stift gekommenen 316 317 318

Interview Roland K. Interviews Franz Z. und Roland K. Interviews Susanne P. und Claudia O. Vgl. auch die Beschreibungen über das Strafregiment in seiner Jungengruppe bei Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012.

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weltlichen Erzieherin brachten die Gruppenerziehenden die betroffene Person zum Arrest, der offenbar meist einen Tag dauerte. Später musste auch Direktor Müller über den Vorgang benachrichtigt werden, der die Strafe im „Besinnungsstübchen“ aber auch selbst veranlasste. Sie selbst habe ein solches Einsperren von Kindern ihrer Gruppe nicht erlebt. Neben der individuellen Bestrafung wurden außerdem Kollektivstrafen angewandt. Diese Strafform stieß zwar Ende der 1960er Jahre bei neu eingestellten weltlichen Kräften auf Ablehnung, galt den jeweiligen Gruppenleitungen aber als probates Mittel.319 In der Rückschau ehemaliger Bewohner wie Erziehender zählten zu den häufigen Strafen körperliche Züchtigungen wie Ohrfeigen oder Schläge mit dem Stock auf die Fingerspitzen, aber auch auf den Kopf, die sowohl von den Direktoren und von Schwestern als auch von weltlichen Erziehern, Lehrkräften und Arbeitserziehern durchgeführt wurden. Nach den Beobachtungen einer Erzieherin waren dabei die Jungen stärker von den körperlichen Züchtigungen betroffen als die Mädchen.320 Doch eine seit Ende der 1940er Jahre im Stift lebende Frau erinnerte sich daran, dass die Schwester ihrer Mädchen-Gruppe auch mit einem Kleiderbügel geschlagen hat, bis das Gesäß blau war. Eine Zwangsjacke scheint hier ebenfalls verwandt worden zu sein. Auch 20 Jahre später wurden die Schulmädchen dieser Gruppe nach Auskunft einer Erziehenden wie auch einer ehemaligen Bewohnerin heftig geschlagen.321 Dagegen betonten die interviewten Schwestern wie weltlichen Erziehenden, dass sie körperliche Züchtigung abgelehnt hätten, ihnen jedoch manchmal „die Hand ausgerutscht“ sei. Demnach waren diese Strafen bei ihnen „nicht an der Tagesordnung“, aber auf der anderen Seite „gab es schon hinter die Ohren“. Zudem wurde von ihnen erwähnt, dass Direktor Müller als absolute Autoritätsperson zur Konfliktlösung zumindest auf ihre Gruppen geholt wurde und dabei durchaus körperlich gezüchtigt hätte. Letztlich waren vor allem diejenigen Mädchen und Jungen von häufigen und massiven Strafen betroffen, die kaum Kontakte zu Angehörigen besaßen.322 In Gruppen der älteren Schulkinder griffen die Erziehenden zudem auf „Gruppenkeile“ zurück. Denn während bei den Kleineren noch andere Mittel durchgängig griffen, bot diese Strafform bei den Älteren in 319 320 321 322

Interview Susanne P. Interview Claudia O. Interviews Gerda Y., Claudia O. und Erika T. Interviews Susanne P., Claudia O., Schwester Helga W. und Schwester Hildegard U.

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schweren Konflikten eine gesteigerte Abschreckung, wie eine ehemalige Bewohnerin beschrieb: „Und wenn sie [die Gruppenschwester] so machte, meinte sie auf einmal, die müssen ruhig sein. Und wenn sie nicht mehr gegen dich an konnten, dann haben sie alle Kinder auf dich losgelassen. Sie nannten das Gruppenschläge. Wenn sie gegen das Mädchen nicht mehr ankamen, dann wurde gesagt, jedes Kind muss sie schlagen. Wer das nicht tut, wird auch geschlagen. Ja, dann gehen alle Kinder, mit denen du zusammen bist, auf dich los. Bei dem Fall hab ich einmal eine Nagelschere mit der Unterkante so weit im Kopf gehabt. Das war dann ein Kind. Bis heute weiß ich noch nicht, welches Kind das war. Die stach dann einfach zu und dann hatte ich die Nagelschere so weit drin. Nur, um ein Beispiel zu bringen, wie viel Gewalt da war.“323 Wie weiter oben skizziert, befand sich die Frage, ob und in welcher Weise körperliche Züchtigung in Heimen erlaubt war, in einer gewissen rechtlichen Grauzone. So verbot bereits ein Erlass des Hessischen Kultusministeriums vom Mai 1946 körperliche Züchtigung an Schulen in jeglicher Form. Zehn Jahre später wies das Ministerium nochmals ausdrücklich auf diese Anordnung hin und erklärte, dass sich ein Lehrer, der diese Anweisung missachtet, „eines Dienstvergehens schuldig“ mache und „unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung […] dienstrechtlich zur Verantwortung gezogen werden“ könne.324 Auf eine Anfrage des Schulrats hinsichtlich des zweiten Erlasses teilte Direktor Hannappel Ende August 1956 mit, dass die Lehrkräfte der anstaltseigenen Schule per Unterschrift die Anordnung zur Kenntnis genommen hätten.325 In der Praxis hatte dies jedoch, wie allgemein üblich, keine nachhaltigen Konsequenzen. Letztlich durch das Gewohnheitsrecht legitimiert, fanden bis in die 1970er Jahre auch in der Schule des St. Vincenzstifts körperliche Züchtigungen statt. So erlebte nicht nur ein 1962 als Siebenjähriger im Stift untergebrachter Junge Schulschwestern, die ihn etwa wegen der Störung des Unterrichts mit dem Rohrstock auf die Fingerspitzen schlugen326, sondern eine andere ehemalige Bewohnerin erinnerte einen während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erlebten weltlichen Lehrer als gewalttätigen Mann mit brutalen Züchtigungsme323 324

325 326

Interview Erika T. Erlasse des hessischen Kultusministeriums v. 13. Mai 1946 und 11. Juni 1956, in: Schulrecht in Hessen, VB I, S. 1 u. 13. Direktor Hannappel an den Schulrat v. 30. Aug. 1956, in: HHStAW, Abt. 806/2 Nr. 22. Interview Günter V.

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thoden wie häufiges Schlagen auf den Kopf.327 Allerdings waren nach den Erinnerungen eines Pädagogen für Lehrer im Gegensatz zur Schule für Lernbehinderte in den Klassen der „Praktisch Bildbaren“ körperliche Züchtigung ein Tabu, da die augenscheinliche Hilflosigkeit der stärker behinderten Kinder und Jugendlichen eine Hemmung darstellte und zudem gar keine Notwendigkeit dazu bestand, da durch positive Aktionen wie gemeinsames Lachen oder spürbares Annehmen ihrer Person eine schwierige Situation geklärt werden konnte.328 Hier kam im kulturellen Kontext der 1950/60er Jahre zum Ausdruck, dass Strafen an bestimmten Betreuten-Gruppen gesellschaftlich nicht anerkannt waren. Dies galt aber trotz der auch in den Familien weit verbreiteten und akzeptierten Praxis körperlicher Züchtigung etwa mit dem Rohrstock auch für die jeweilige Ausprägung der Strafen. So wurde für Erziehungseinrichtungen der Stiftung kreuznacher diakonie konstatiert, „dass demütigende, entwürdigende und verängstigende Strafen – etwa das Schlagen mit einem Uringetränkten Laken oder mit einem Handfeger in Alt-Bethanien, die Verwendung eines eigens angefertigten Schlaginstruments auf dem Niederreidenbacher Hof, das Werfen eines Schlüsselbundes an den Kopf in Zoar/Rechtenbach oder das Stecken eines Kindes in einen Sack und dessen anschließende Ablage im Winter auf der Terrasse von Alt-Bethesda – dem allgemeinen Em­pfinden von ‚Sitte‘‚ ‚Anstand‘ und Verhältnismäßigkeit auch in der damaligen Zeit nicht (mehr) entsprachen. Andere Formen der körperlichen Züchtigung in den Diakonie-Anstalten, etwa Ohrfeigen oder ‚Kopfnüsse‘, entsprachen hingegen den repressiven Erziehungsvorstellungen weiter Teile der damaligen Bevölkerung. Insofern folgte die in den Diakonie-Anstalten in der Kindererziehung übliche Strafpraxis also durchaus dem Zeitgeist, sowie mehr oder weniger auch – wie oben skizziert – dem geltenden Recht bzw. der Rechtsprechung.“329 Mit der Entwicklung wirksamer Psychopharmaka im Lauf der 1950er Jahre eröffneten sich nicht nur im Bereich der Psychiatrie bislang verschlossene therapeutische Möglichkeiten, sondern diese Medikamente fanden nun auch vermehrt Eingang in die Erziehungsarbeit. Zwar wurde eine „strenge Indikationsstellung“ angemahnt, aber die „Psychopharmako-Therapie des Kindesalters“ zählte Mitte der 1960er Jahre zum festen „therapeutischen Repertoire“ der Betreuenden. Auch 327 328 329

Interview Erika T. Interview Karsten Q. Winkler, kreuznacher diakonie, S. 229f.

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wenn sie „die Heilpädagogik nicht ersetzen“ könne, „vermag sie jedoch vielfach die pädagogische Angriffsfläche zu verbreitern und erst die Voraussetzungen zu schaffen für eine gezielte pädagogische oder psychotherapeutische Hilfe“.330 So wurden auch im St. Vincenzstift Medikamente zur Ruhigstellung von Kindern und Jugendlichen verabreicht, wobei dies durchaus auch einen Strafcharakter haben konnte. Eine Erzieherin berichtete etwa, zumindest mit der Gabe von Beruhigungsmitteln gedroht zu haben. Ein ehemaliger Bewohner erklärte, dass ihm vermutlich Truxal331 z. B. in Saftform heimlich in der Milch vermischt oder auch mit Gewalt gegeben worden sei. Er musste dieses Medikament über ein Jahr regelmäßig nehmen, wodurch eine permanente Müdigkeit mit negativen Auswirkungen auch auf die Konzentrationsfähigkeit in der Schule hervorgerufen wurde.332 Eine Bewohnerin erinnerte sich, wenn sie „Ärger hatte“, vom Arzt eine Spritze erhalten zu haben, sodass sie „Sternchen“ sah und auf die Krankenstation kam.333 Wenn auch die Medikamente stets ärztlicherseits verschrieben werden mussten, geschah dies aber auch auf entsprechenden Wunsch von Schwestern auch ohne eine Untersuchung und nachfolgende Begutachtung der jeweiligen Bewohner, zumal der Arzt kaum auf die Gruppen kam.334 Während der 1950/60er Jahre kam es auch im St. Vincenzstift sowohl zwischen Bewohnern als auch Erziehenden und Bewohnern zu sexuellen Handlungen, Übergriffen und zu sexualisierter Gewalt. Vor dem Hintergrund des in weiten Bereichen der Einrichtung anzutreffenden Umgangs mit Sexualität einschließlich der weitgehenden Ge330

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H. Krebs, Psychopharmako-therapeutische Hilfen bei der Behandlung schwererziehbarer und verhaltensgestörter Jugendlicher, in: Hermann Stutte (Hg.), Jugendpsychiatrische Probleme und Aufgaben in der öffentlichen Erziehungshilfe, Hannover 1967, S. 51. Truxal ist ein seit Ende der 1950er Jahre in Deutschland eingesetztes Antipsychotikum vor allem zur Behandlung von Unruhe und Erregungszuständen bei einer psychischen Erkrankung. Es hat eine stark sedierende Nebenwirkung bis hin zur Schläfrigkeit, kann aber auch zur Gewichtszunahme und Schlafstörungen führen. Interviews Erika T. und Günter V. Alexander Markus Homes beschreibt in seiner „Heimbiographie“ nicht nur, dass als besonders renitent geltende Jungen seiner Gruppe auf Veranlassung der Hausleitung in psychiatrische Anstalten überwiesen worden seien, sondern auch, dass andere über mehrere Jahre ein starkes Beruhigungsmittel mit nachfolgenden schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen erhalten hätten. (Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 87ff.) Interview Erika T. Interview Claudia O.

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schlechtertrennung waren Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen – besonders das Austauschen von Zärtlichkeiten – strikt verboten und konnten zu Strafen führen. Dennoch wurden sie manchmal eingegangen. Vor allem die Älteren suchten zudem Wege, sich heimlich sexuell betätigen zu können. Gleiches galt für homosexuelle Handlungen, die auch in Anbetracht der großen Schlafsäle bei Jungen und Mädchen immer wieder vorkamen, allerdings unterschiedlich wahrgenommen werden konnten. Während etwa ein ehemaliger Bewohner sowohl von seinen, bereits vorpubertären Erlebnissen als auch von der in seinem Schlafsaal verbreiteten Praxis berichtete, erklärte eine Erziehende, dort keine sexuellen Handlungen unter den Jungen bemerkt zu haben.335 Wie es für viele Einrichtungen der Heimerziehung belegt ist, wird man hier ebenfalls davon ausgehen können, dass nicht nur einvernehmliche, oftmals auch ein Stück Geborgenheit vermittelnde Aktivitäten, sondern auch sexueller Missbrauch gerade der schwächeren Jungen durch die Älteren stattfanden. Dabei konnte das „Erwischtwerden“ wie auch schon der Verdacht massive körperliche Züchtigung und demütigende Beschimpfungen zur Folge haben.336 Ein ehemaliger Bewohner ging davon aus, dass zumindest auf seiner Gruppe aus Angst vor diesen Strafen kaum entsprechende Kontakte zustande gekommen seien.337 Diese Tabuisierung von Sexualität durch die Schwestern und offensichtlich auch ältere Erziehende stand allerdings im Gegensatz zu der „Schamlosigkeit“, die von ehemaligen Bewohnern empfunden wurde, wenn die Gruppenerzieherinnen sie wuschen, duschten oder ankleideten. Auch sei zu fragen, ob diese Abläufe gerade auch bei älteren Kindern nicht auch zur sexuellen Befriedigung der Erziehenden gedient hätten.338 So erinnerte sich ein ehemaliger Bewohner an das Duschen auf einer Gruppe älterer Schuljungen Mitte der 1960er Jahre: „Ich weiß noch, mit 13, 14 Jungen hat die uns eingeseift. Da waren wir in einer Reihe gestanden und bevor wir in die Dusche sind, hat die uns eingeseift. Das war natürlich peinlich.“339 Dies galt ebenfalls für den Ablauf der halbjährlichen, damals etwa auch in Schulen regelmäßig stattfindenden Reihenuntersuchungen durch den Anstaltsarzt. Dazu gingen die Bewohner einer Gruppe geschlossen auf den Krankenstock, wo sie nur mit der Unterhose beklei335 336 337 338 339

Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 56f.; Interview Schwester Helga W. Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 69f.; Interviews Franz Z. und Erika T. Interview Roland K. Ebd. Interview Günter V.

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det vor dem Behandlungszimmer so lange warten mussten, bis sie in alphabetischer Reihenfolge im Beisein mehrerer anderer Kinder, der Gruppenschwester und der Arztsekretärin untersucht wurden. Mehrfach wurde von der von den Mädchen und Jungen empfundenen Scham berichtet, da auch die Genitalien für alle Beteiligten sichtbar gezeigt werden mussten.340 Indem die Gruppenschwestern wie zum Teil auch weltliche Mitarbeiter in kleinen, in der Nähe bzw. zwischen den Schlafsälen der Bewohner liegenden Kammern schliefen und zudem ein starkes Abhängigkeitsverhältnis der Kinder zu den Erziehenden bestand, war eine Konstellation gegeben, die grundsätzlich sexuellen Missbrauch begünstigte. Insgesamt 13 Personen haben sich unabhängig von einander bei der heutigen Leitung des St. Vincenzstifts gemeldet und über sexuellen Missbrauch berichtet, darunter auch ein Mann, der ein Jahr lang regelmäßig von einem Gruppen-Erzieher missbraucht wurde.341 Zudem vermutete ein ehemaliger Bewohner im Interview, dass sich die weltliche Erzieherin seiner Gruppe an einem Jungen „sexuell vergangen hat. Weil der musste jeden zweiten Abend zu ihr ins Zimmer rein. Das Zimmer war ein Holzverschlag im Schlafraum und da ist der nachts eigentlich nie raus gekommen. Erst am nächsten Morgen.“342 Soviel sich aus den Akten, den Interviews mit ehemaligen Bewohnern und Erziehenden wie auch den gerade erwähnten Meldungen Betroffener beim St. Vincenzstift nachvollziehen lässt, nutzte auch Direktor Müller über Jahre seine Machtposition als Priester und Heimleiter sowohl für sexuelle Übergriffe gegenüber Mitarbeiterinnen als auch sexuellen Missbrauch an seinen Schutzbefohlenen aus. So erklärte eine ehemalige Bewohnerin, die Mitte der 1960er Jahre als neunjährige zum St. Vincenzstift gekommen und sechs Jahre dort untergebracht war, dass Direktor Müller als Vaterersatz des Öfteren abends auf ihre Gruppe gekommen sei und einigen Mädchen im Beisein der Schwester einen „Gute-Nacht-Kuss“ auf den Mund gegeben und sie auch „befummel[t]“ habe. Außerdem gab sie an, schon bald nach ihrer Ankunft im Stift das „erste Mal in meinem Leben von Pastor Müller im Beichtstuhl vergewaltigt worden“ zu sein. Dabei nahm er die Beichte in der Sakristei ab, da er hier „besser an uns ran[gekommen]“ sei. Sie ging nicht davon aus, „dass 340

341 342

Interviews Günter V., Gerda Y., Erika T., Susanne P., Claudia O. und Roland K. Im Spiegel der Interviews wird deutlich, dass die Durchführung dieser Untersuchungen für die Betroffenen langfristig belastende Folgen haben konnte. Mitteilung des St. Vincenzstifts. Interview Roland K.

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ich das einzige Mädchen war. Man redet da nicht drüber, weil ich solche Angst hatte. Das erste Mal vor der Beichte hat er gesagt, ihr wisst, dass böse Mädchen, die was angestellt haben, von Gott bestraft werden. Und dann musste ich auf seinen Stuhl, dann musste ich mit den Knien so und dann mit dem Kopf an die Lehne dran und dann hat er meinen Rock hoch gemacht und dann hat er mich vergewaltigt. Und dann habe ich geschrien und er hat mir den Mund zugehalten. Dann habe ich ihm in die Finger gebissen. Und dann hat er die Finger vor den Mund gehalten und danach hat er gesagt, dass ist eine Strafe Gottes. Und wenn ich darüber rede, dann bestraft Gott mich noch härter. Und das ging eine ganze, ganze Weile, Jahre so durch, bis ich meine Menstruation bekam. […] In dem Moment, wo ich meine Tage gekriegt [...] habe, wurde ich nicht mehr missbraucht. Da stoppte das von heute auf morgen.“343 Auch ein Bewohner einer Jungengruppe deutete an, dass sich der Geistliche an ihm vergangen habe. Demnach wurde der Junge im Alter von ca. 12 oder 13 Jahren mehrmals vom Direktor in dessen Büro bestellt, um einen Kontakt mit seiner ebenfalls im St. Vincenzstift lebenden Schwester herzustellen. Diese war jedoch niemals anwesend und der Junge musste sich auf den Schoß des Direktors setzen. Da dem Jungen in diesem Alter über einen längeren Zeitraum starke Beruhigungsmedikamente verabreicht worden waren, konnte er sich auch nicht gegen nicht weiter beschriebene sexuelle Handlungen durch den Direktor wehren.344 Eine weltliche, Ende der 1960er Jahre im Stift angestellte Erzieherin konstatierte zwar, dass die von der ehemaligen Bewohnerin beschriebenen Geschehnisse auf Grund des Ablaufes der gruppenweisen Beichten für sie im Detail nur schwer vorstellbar seien. Denn die in der Kirche wartenden Mädchen und Jungen gingen in jeweils kurzen Abständen zum Direktor in die Sakristei und eine Gruppenerzieherin wartete stets in der Kirche, bis alle Kinder der Gruppe gebeichtet hatten. Aber unter den Mitarbeitern und auch Bewohnern des Hauses kursierten dahingehende Gerüchte, dass Direktor Müller etwa ein Verhältnis zu einer in einer Mädchengruppe – seiner „Lieblingsgruppe“ – tätigen weltlichen Erzieherin gehabt sowie sexuellen Kontakt zu anderen Mitarbeiterinnen und auch Bewohnerinnen gesucht habe. Zudem wurde über sein Verhalten „gemauschelt“, sich bei seinen regelmäßigen Besuchen auf den Gruppen als „Vaterfigur“ darzustellen und sich dabei Mädchen auf 343 344

Interview Erika T. Interview Günter V.

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den Schoß zu setzten. Die interviewten Schwestern verneinten dagegen ausdrücklich, etwas wahrgenommen bzw. von diesen Gerüchten etwas gewusst zu haben.345 1970 führten diese Beobachtungen und Berichte nach den Erinnerungen der Erzieherin zu konkreten Reaktionen gegen den Direktor. „Und dann kamen ja auch Zivildienstleistende und die kamen dann zu uns und haben gesagt, dass die der Sache einen Strich durch die Rechnung machen wollten. Direktor Müller muss weg, der tatscht das Personal und die Kinder an und das geht nicht. Dann haben die einen Brief an den Bischof geschickt. Einige [Mitarbeiter] haben unterschrieben. […], dann kam das mit dem Direktor Müller ja ins Rollen.“346 Nachdem der Direktor am 15. August noch die erste Namenstagsfeier in einer Gruppe des gerade fertig gestellten neuen Hauses „Hessen“ mitgefeiert und dabei die weiteren Baumaßnahmen erläutert hatte, reiste er zwei Tage später zur wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands – es ist von einem „schweren Nervenleiden“ die Rede347 – schon länger geplanten Kur nach Bad Krumbad. Offenbar verabschiedete er sich vor der Abreise auf jeder Gruppe und deutete auch an, nicht mehr ins Stift zurückzukehren. Zudem soll er auch private Unterlagen verbrannt haben. Man wird also davon ausgehen können, dass ihn die lauter werdenden Anschuldigungen erreicht hatten.348 Der Druck, der hinsichtlich der von Mitarbeitern des Stifts für dringend notwendig erachteten Ablösung Direktor Müllers auf die Bistumsleitung ausgeübt wurde – so sollen sie auch gedroht haben, dem „Spiegel“ Hinweise zukommen zu lassen349 –, dürfte an den Direktor weiter gegeben worden sein. Jedenfalls wurden die Mitarbeiter des Stifts am 1. September 1970 darüber informiert, dass er mit Schreiben des gleichen Datums seinen sofortigen Dienstverzicht mit der Bitte an den Bischof, „ihn bis zur Ernennung eines Nachfolgers zu beurlauben“, mitgeteilt hatte. Er grüße „alle im Hause mit einem Dank für alles Gute, das Sie und die Kinder ihm in den vergangenen Jahren erwiesen haben. Er 345

346 347

348 349

Interviews Susanne P., Claudia O., Schwester Helga W., Schwester Hildegard U. und Franz Z. Alexander Markus Homes führt im Prolog seiner in der Einleitung eingeordneten Heimbiographie weitere Fälle des sexuellen Missbrauchs Direktor Müllers auf. (Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 18-21) Interview Claudia O. „Der vermißte Krumbadgast tot aufgefunden“, in: Mittelschwäbische Nachrichten v. 15. Sept. 1970. Interview Claudia O. Homes, Prügel vom lieben Gott, 2012, S. 28.

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bittet Sie um ein besonderes Gedenken in den kommenden Wochen. Die Ursachen, die den Herrn Direktor R. Müller zur Resignation veranlassen, sind durch ärztlichen Rat begründet.“ Die Leitung des Hauses übernahmen übergangsweise der Verwaltungsleiter, die Oberin, die Heimfürsorgerin, der Sonderschuldirektor und der Arzt.350 Ein in der im Bischöflichen Ordinariat geführten Personal-Akte Pfarrer Müllers abgelegter Vermerk legt nahe, dass der Heimarzt wie schon nach dem Tod Direktor Hannappels maßgeblich das Leitungsvakuum ausfüllte, in Kontakt mit dem Limburger Ordinariat stand und darauf drängte, mit einer Änderung der Statuten die große Machtfülle des Direktors des St. Vincenzstifts durch Einsetzung eines Kuratoriums zu beschneiden. Hinsichtlich Pfarrer Müllers wurde festgehalten, dass weder „homos. Verfehlungen“ noch „Vergehen an Kindern des Hauses“ vorlägen, sondern dass er „Kontakte mit Küchenmädchen“ gehabt habe. Der Arzt wolle den Geistlichen nun dazu bewegen, „dem Bischof offen diese Dinge vorzulegen“. Vermutlich über die rechtlichen Konsequenzen der Handlungen des ehemaligen Direktors hatte er bereits mit einem Juristen gesprochen, und auch in der Nachfolgefrage sah er sich zu Gesprächen veranlasst. Schließlich hielt der Vermerk noch fest, als Ursache für den Amtsverzicht Direktor Müllers nur den „sehr angegriffenen Gesundheitszustand“ nennen zu wollen.351 Die rasche Entwicklung der Ereignisse und die Sorge vor einem Öffentlichwerden seiner Verfehlungen – u. U. krankheitsbedingt noch verstärkt – dürften Pfarrer Müller bereits zugesetzt haben. Auf Grund der weiteren Abfolge der Ereignisse wird zudem davon auszugehen sein, dass er zeitnah über die Ergebnisse des gerade skizzierten Gesprächs des Arztes mit einem Ordinariatsvertreter Mitteilung erhalten hatte. Vermutlich sah er jetzt keinen anderen Ausweg mehr, als Selbstmord zu begehen. Schließlich nahm er in einem abgelegenen Waldgebiet in der Nähe Bad Krumbachs eine Überdosis Tabletten. Seit dem 5. September vermisst, konnte er erst am 14. September von der Polizei gefunden werden.352 350

351 352

Von den Mitgliedern des Leitungsgremiums unterzeichnete Verlautbarung v. 1. Sept. 1970, in: AStV, Nachlass Schwester V. Vermerk v. 4. Sept. 1970, in: DAL, Personal-Akte Rudolf Müller. Im bereits erwähnten Zeitungsartikel hieß es: „Er lag, wie in normaler Ruhestellung, in Rückenlage auf einem Moorpolster, um die linke Hand den Rosenkranz gewickelt.“ (Vgl. „Der vermißte Krumbadgast tot aufgefunden“, in: Mittelschwäbische Nach­ richten v. 15. Sept. 1970)

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Ausblick in die 1970er Jahre Die Umstände des Todes Direktor Müllers stellten vermutlich für das Limburger Ordinariat sowie die anderen Leitungsverantwortlichen und viele Mitarbeiter des St. Vincenzstifts einen Tiefpunkt in der Entwicklung der Einrichtung nach 1945 dar. Wenn ihnen auch die tatsächliche Dimension seiner persönlichen Verfehlungen nicht oder nur unzureichend bekannt war – immerhin wurde noch 2005 ein neues Gruppenhaus nach Rudolf Müller benannt –, musste nicht nur ein qualifizierter Nachfolger gefunden werden, der den durchaus vom verstorbenen Direktor angestoßenen konzeptionellen Wandel fortführte, sondern ebenso überkommene Strukturen etwa im Heimalltag verändert werden. Mit Pfarrer Franz Kaspar übernahm ein neuer, reformorientierter Direktor diese Aufgabe, der 1962/63 ein Praktikum im Stift absolviert hatte und das Haus seitdem kannte sowie 1975 an der Frankfurter Universität in Erziehungswissenschaften promovierte. Unter seiner Leitung ging das St. Vincenzstift den Weg vom Heim zum sonderpädagogischen Zentrum, wobei im Wohnbereich vermehrt stärker behinderte Kinder und Jugendliche Aufnahme fanden. Neben der kontinuierlichen und dabei differenzierten Vergrößerung besonders des pädagogischen Fachpersonals auch durch gezielte hausinterne Weiterbildungsmaßnahmen und gleichzeitiger Verkleinerung der Gruppen stand dabei die Erweiterung der pädagogischen Angebote im Zentrum der Bemühungen. So konnte bereits 1973 eine intensivpä­ dagogische Abteilung für noch nicht schul- und gruppenfähige Kinder eröffnet werden. Weitere Förderangebote wie ein Sonderkindergarten sowie der Ausbau der Sonderschule und begleitender Fachdienste schlossen sich an. Hand in Hand damit ging die Vermittlung einer Sichtweise der Bewohner durch die Mitarbeiter weg von einer Defizitorientierung hin zur positiven Betonung ihrer vorhandenen Fähigkeiten. Auch wurden körperliche Züchtigungen und entwürdigende Strafen ausdrücklich verboten. Die Missachtung dieser Vorgaben konnte zur Entlassung führen. Wie insgesamt in Kirche und Gesellschaft setzte so auch im St. Vincenzstift ein tiefgreifendes Umdenken ein.

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Das Jugendheim Marienhausen – „Internat“ und Fürsorgeerziehung Entwicklungen 1889 bis 1970 Die 1861 beginnende wechselvolle Gründungsgeschichte des Jugendheims Marienhausen als „Diözesanknabenrettungsanstalt zum hl. Josef “, die 1889 im ehemaligen Kloster Marienhausen ihre endgültige Wirkungsstätte fand und in der von Eltern oder Behörden geschickte Waisen sowie gefährdete und „verwahrloste“ Jungen – zum Teil auch als „Zwangszöglinge“ – untergebracht wurden, wie auch die fortschrittlichen pädagogischen Ansätze des langjährigen Direktors Prälat Matthäus Müller wurden bereits weiter oben skizziert.353 In den nachfolgenden Jahren erfuhr das Heim dann einen steten Ausbau, ehe ein Großbrand zu Beginn des Ersten Weltkriegs weite Teile zerstörte. Es blieb den Salesianern Bon Boscos, die 1924 unter der weiterhin bestehenden Oberaufsicht des Limburger Ordinariats die Leitung und Erziehungsarbeit übernahmen, vorbehalten, das Heim bis Anfang der 1930er Jahre wieder endgültig aufzubauen. 1932 waren ca. 240 Jungen in Marienhausen untergebracht, deren Zahl im Dritten Reich wieder reduziert werden musste. Im Zuge der „Entkonfessionalisierung“ wurde die Einrichtung schließlich 1939 vom NS-Staat beschlagnahmt. Die Patres mussten das Haus verlassen, die Ordensbrüder verblieben zunächst noch in der Aulhauser Einrichtung. Nach Kriegsende nahmen die Salesianer schon bald die Erziehungsarbeit im Knabenheim Marienhausen wieder auf, wobei sie vor dem Hintergrund der Ausrichtung der Ordensgemeinschaft bis Anfang der 1950er Jahre den Schwerpunkt auf den Schulbereich verschoben. So befanden sich 1954 von insgesamt 245 Jungen 60 Jugendliche als FE- oder FEH-Fälle auf der Lehrlingsabteilung und 185 im „Internat“ – darunter neben von Jugendämtern Überwiesenen zunehmend von ihren Eltern privat untergebrachte Jungen. Da die räumlichen Verhältnisse und die Ausstattung völlig unzureichend waren, wurden in den 1960er Jahren mit finanzieller Unterstützung des Bistums zwar Modernisierungen durchgeführt, die jedoch nicht verhindern konnten, dass am Ende des Jahrzehnts die Lehrlingsabteilung nur noch zur Hälfte belegt war. 1972 wurde sie schließlich aufgelöst. Diese Prozesse gilt es nun genauer nachzuzeichnen. 353

Vgl. Kapitel Gemeinsame Wurzeln

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entwicklungen 1889 bis 1970

Prägungen bis zur Fremdnutzung 1939 Unter Direktor Müller, der 1889 mit ca. 100 Jungen von Marienstatt nach Marienhausen gezogen war, konnte die Rettungsanstalt bis zum Ersten Weltkrieg kontinuierlich ausgebaut werden, sodass ca. 360 Personen im Haus lebten. Ein schwerer Brand, der im Sommer 1915 die ca. 90 Räume des Hauptgebäudes der Anstalt zerstörte, bedeutete jedoch einen schweren Rückschlag. Zwar waren unter den Bewohnern keine Opfer zu beklagen, aber der Wiederaufbau kam durch die Kriegs- und nachfolgende Inflationszeit nur schleppend in Gang und zog sich letztlich bis 1930 hin. So blieben die wirtschaftlichen Verhältnisse angespannt und die in den Nebengebäuden betriebene Erziehungsarbeit schwierig. In Anbetracht dieser Lage und des fortgeschrittenen Alters Direktor Müllers suchte die Limburger Bistumsleitung nach einer zukunftsweisenden Lösung, um dem Erziehungsauftrag weiterhin angemessen gerecht werden zu können. Daher bemühten sich die Verantwortlichen seit 1920, mit den Salesianern Don Boscos eine Ordensgemeinschaft für diese Aufgabe zu gewinnen, die in der Jungen-Erziehung ihre ureigenste Aufgabe sah. 1859 durch Johannes Don Bosco gegründet und 1864 anerkannt – 1874 wurden auch die Konstitutionen durch die römische Kurie endgültig approbiert –, verbreitete sich die Gemeinschaft weltweit. 1916 übernahm sie als erste deutsche Niederlassung in Würzburg ein Lehrlingsheim, der bis 1920 fünf weitere Einrichtungen im bayerischen Raum folgten.354 Die Verhandlungen zogen sich bis 1924 hin, ehe die Salesianer die Anstalt übernahmen. Laut abgeschlossenem Vertrag355 übertrug die Diözese der Deutschen Provinz der Salesianer die „Leitung und Verwaltung der Diözesan Erziehungsanstalt zum hl. Josef in Marienhausen bei Aulhausen (Rheingau)“ auf 50 Jahre (§ 1). Nach Ablauf dieser Zeit sollte sich der Vertrag um jeweils zwei Jahre verlängern, solange nicht ein Vertragspartner unter Einhaltung einer zweijährigen Kündigungsfrist die Vereinbarung löste. Die Salesianer hatten fortan „die Anstalt auf eigene Rechnung und Gefahr“ zu betreiben, wobei sie das Personal ein354

355

Vgl. Georg Söll, Die Salesianer Don Boscos (SDB) im deutschen Sprachraum 18881988, München 1989, zu Marienhausen S. 194-201; Maria Maul, Provinzial P. Dr. Franz Xaver Niedermayer SDB (1882-1969) als „Baumeister“ des Don-BoscoWerkes im deutschen Sprachraum. Ein Beitrag zur salesianischen Ordensgeschichte, Linz 2009, hier S. 272-281. Vertrag v. 9. bzw. 24. April 1926, in: Archiv der Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos (ASDB), Marienhausen Nr. 48.

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stellen und entlohnen sowie den Pflegesatz sowohl mit den Eltern als auch den zuständigen staatlichen Behörden und sonstigen Verbänden vereinbaren sollten (§ 14). Während die Lehrerstellen der eigenen Heimschule umgehend mit Ordensangehörigen zu besetzen waren, sollte „das gesamte weltliche Personal mit den gleichen Rechten und Pflichten“ wie bisher übernommen, frei werdende Stellen aber möglichst mit Salesianern besetzt werden (§ 12). Wie vom Bischöflichen Ordinariat angeboten, blieben die für die Hauswirtschaft zuständigen Dernbacher Schwestern auch unter den Salesianern im Haus tätig. Obwohl die Leitung des Heims also in die Verantwortung der Salesianer übergeben wurde und sie auch für die bei „größeren Neu- und Umbauten entstehenden Kosten“ aufzukommen hatten, waren diese doch „nur mit Genehmigung des Bischöflichen Ordinariates vorzunehmen“ (§ 4). Zudem musste die Gemeinschaft der Diözesanleitung in einem jährlichen Bericht Auskunft über die Entwicklung des Hauses geben, „sowie die Visitation der Anstalt durch einen beauftragten Geistlichen des Bischöflichen Ordinariates jederzeit“ zulassen (§ 1). Demnach nahm die Bistumsverwaltung weiterhin die kirchliche Oberaufsicht wahr. Das Wirken der Salesianer in der Anstalt Marienhausen war zunächst von den schwierigen räumlichen Verhältnissen bestimmt. Bislang konnten vom Haupthaus nur die Küche und einige Büroräume wieder aufgebaut werden. Die Schule und die landwirtschaftlichen Gebäude hatten keine Brandschäden erlitten und standen ebenso zur Verfügung wie eine Holzbaracke zur Freizeitgestaltung. Unter diesen Voraussetzungen wurden die Gruppe der vorschulpflichtigen Kinder, die Gruppe der schulpflichtigen Jungen, die Gruppe der Schulentlassenen und die Lehrlingsabteilung betreut. Obwohl die finanziellen Schwierigkeiten nur schwer zu lösen waren, gelang es, durch Spendenaktionen sowie durch die Unterstützung der Erziehungsbehörde in Wiesbaden und der Diözese Limburg den Wiederaufbau zu forcieren, im Frühjahr 1925 neue Schlafsäle zu beziehen und einige Monate später die neue Kirche zu weihen. Der seit 1927 amtierende Direktor Pater Theodor Seelbach nahm schließlich die letzten Etappen der Baumaßnahmen in Angriff, indem vor allem der Südflügel ausgebaut und der parallel zur Kirche liegende Schwesternflügel verlängert wurde. U.a. ließen sich so eine Hoftoilette und Wohnräume im Erdgeschoss, in der erste Etage eine Krankenstation und in der zweiten Etage Schlafräume wie auch im Schwesterntrakt Vorratsräume errichten. Da der alte Ostflügel nicht wieder aufgebaut wurde, entstand ein in Richtung der Schule offener Innenhof. Als be-

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entwicklungen 1889 bis 1970

sondere Attraktion des Hauses konnte zudem ein Schwimmbecken angelegt werden.356 Bei einem Aufnahmealter von 6 bis 21 Jahren befanden sich in den ersten Jahren nach der Übernahme der Erziehungsanstalt Marienhausen durch die Salesianer deutlich mehr Schüler als Lehrlinge im Haus – 1925 waren es laut Chronik 175 Schüler und 42 Lehrlinge – was sich bis Anfang der 1930er Jahre jedoch wandelte. So lebten 1932 neben 81 Schülern 160 Lehrlinge im Heim. Als im gleichen Jahr die Altersgrenze für die Fürsorgeerziehung von 21 auf 19 Jahre herabgesetzt wurde und da­ raufhin der Landesfürsorgeverband Rheinland 50 Jungen in andere Heime verlegte, sank die Lehrlingszahl 1934 bei 62 Schülern auf 91 Jugendliche. Weiterhin waren auch noch nicht schulpflichtige Jungen im Haus untergebracht und entgegen der im Vertrag von 1926 festgelegten Bestimmung, dass der Schulunterricht von Salesianern erteilt werden sollte, weltliche Lehrkräfte angestellt, wobei auch die Lehrlinge unterrichtet wurden. Außer in der Landwirtschaft fanden die schulentlassenen Jungen in der Gärtnerei, Schreinerei, Schuhmacherei, Schneiderei und seit 1932 auch in der Schlosserei Beschäftigung bzw. Ausbildung. Wie weiter oben bereits erwähnt, fußte die Erziehungsmethode Prälat Müllers vermutlich auf dem von Don Bosco entwickelten Präventivsystem, sodass die Übernahme der Rettungsanstalt durch die Salesianer hier eine Kontinuität darstellte. Nach Don Bosco sollte im gemeinsamen Leben der Erzieher mit den Jungen das Erziehungsziel, die Jungen zu einem verantwortlichen Lebensvollzug anzuleiten und sie zu aufrichtigen Bürgern sowie guten Christen zu formen, verwirklicht werden. Letztlich müssten sich die Jungen nach dem Vorbild der Erzieher, die immer mit wachsamem Blick auf diese zu achten hatten, die erforderlichen Lebensgrundlagen aneignen, wobei die schon im Zusammenhang mit der Pädagogik Prälat Müllers dargelegte Trias von Liebe, Vernunft und Religion maßgeblich war. Während die ersten beiden Punkte die emotionale und die rationale Voraussetzung für den Dialog darstellten, der die wesentliche Grundlage für die Beziehung der Jugendlichen zu den Erziehern bildete, bot die Religion die erforderliche Wertorientierung, die in der Kirche garantiert war. Dabei sollte das Zusammenleben wie in einer Familie stattfinden. Körperliche Züchtigung schloss Don Bosco als Erziehungsmittel aus, und auch andere leichtere Strafen sollten möglichst vermieden werden. So stellte bereits bei ihm die religiöse Erziehung einen wichtigen Schwerpunkt der Betreuungsarbeit in Schule und Freizeit dar. Daneben 356

100 Jahre Marienhausen, S. 58f.

prägungen bis zur fremdnutzung 1939

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füllten auch im Knabenheim Marienhausen andere musische und sportliche Aktivitäten den Tagesablauf neben Schule und Arbeit. Theaterspiel, Musik in Chor und Orchester sowie Fußballspielen dienten hier ebenfalls der Freizeitbeschäftigung. Aber auch religiös geprägte Gruppen, die so genannten Bündnisse, besaßen eine wichtige Funktion. Anlässlich von Festen kamen auch die Bewohner der Umgegend ins Haus, wobei es vermutlich eine Rolle spielte, dass die Salesianer die Pfarr-Seelsorge in Aulhausen ausübten und so Kontakte hergestellt werden konnten.357 Ab Mitte der 1930er Jahre rückten das Aulhauser Heim und die dort tätigen Salesianer immer stärker in den Blick der NS-Stellen. Zunächst wurde durch die 1937 angeordnete Verlegung von insgesamt 65 Jungen in andere Heime die ökonomische Basis des Hauses massiv in Frage gestellt, da neben dem Verlust an Pflegegeldern Arbeitskräfte für die Landwirtschaft fehlten. Durch die Hinzuziehung von Theologen und Gymnasiasten der Ordensniederlassungen in Benediktbeuern und Bamberg konnten die notwendigen Erntehelfer schließlich gewonnen werden, und während der Schulferien wurden durch die Vermittlung der Caritas Kinder zur Erholung aufgenommen. Im gleichen Jahr verhaftete die Gestapo den Direktor wegen seines angeblichen früheren Engagements in einer Friedensgruppe. Er kam zwar nach einigen Wochen wieder frei, wurde aber zu Beginn des nachfolgenden Jahres durch einen anderen Pater ersetzt.358 Anfang März 1939 wurden dann zunächst elf Salesianer – neun Patres, ein Kleriker und ein Bruder – im Heim verhört und danach für acht Tage in Wiesbaden inhaftiert. Vermutlich diente die Aktion als Handhabe für die Beschlagnahme des Heimes. Zurückkehren durften sie jedenfalls nicht mehr.359 Ca. 20 Laienbrüder blieben jedoch im Haus, um die Landwirtschaft aufrecht zu erhalten. Das Gebäude diente fortan der Kinderlandverschickung, als Lazarett, Kriegsgefangenenlager und zuletzt als „Landdienstlehrhof “, wobei im Verlauf des Zweiten Weltkriegs immer mehr Brüder zur Wehrmacht eingezogen wurden. Als die NS-Belegung mit dem Vorrücken der Front im März 1945 die Marienhauser Einrichtung verließ, nahm sie die Ausstattung, die Lebensmittel sowie die Nutztiere und den landwirtschaftlichen Fuhrpark mit. Ende 357

358 359

Vgl. Franz Schmid, Die Pädagogik Don Boscos, in: 100 Jahre Marienhausen, S. 7380; Nikolaus Endres, Don Bosco – Erzieher und Psychologe, München 1961; Vertrag v. 9. bzw. 24. April 1926, in: ASDB, Marienhausen Nr. 48, § 16. 100 Jahre Marienhausen, S. 60f. Auflistung der 1933 bis 1945 im Bistum Limburg NS-verfolgten Salesianer für die Personalstatistik im Limburger Ordinariat v. 19. Jan. 1961, in: ASDB, Marienhausen Nr. 7.

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März zogen amerikanische Soldaten ein und setzten den als Pfarrer von Aulhausen fungierenden Salesianer-Pater als vorläufigen Leiter Marienhausens, des St. Vincenzstifts und des Gutes Nothgottes ein. Teile des Hausrats und des landwirtschaftlichen Inventars konnten zwar gefunden und zurückgebracht werden, aber letztlich waren große Verluste zu konstatieren.360

Orientierung zwischen Fürsorgeerziehung und „Internat“ bis Mitte der 1950er Jahre Schon bald nach Kriegsende wurden die Räumlichkeiten in der nun „Diözesan-Knabenheim Marienhausen“ genannten Einrichtung wieder genutzt, indem Erholungskinder und die ersten „Heimzöglinge“ untergebracht wurden. Außerdem erhielten die alten Menschen evakuierter Altenheime, die zunächst auf dem zum St. Vincenzstift gehörenden Gut Nothgottes Quartier bezogen hatten, in Räumlichkeiten Marienhausens Unterkunft. Bereits im September 1945 öffneten mit alliierter Genehmigung und staatlicher Anerkennung auch die Heimvolksschule und Ende 1946 die Heimberufsschule die Türen.361 Anstelle der Dernbacher Schwestern, die „durch den Tod von Schwestern und die bekannte Behinderung des Eintrittes von Kandidatinnen“ im NS-Staat nicht mehr in der Lage waren, Schwestern für die Hauswirtschaft zum Knabenheim zu schicken, kamen fünf Schwestern aus der Ordensgemeinschaft der Cellitinnen von der Kupfergasse in Köln. Laut Gestellungsvertrag lag die Einstellung weltlichen Hilfspersonals wie auch die Regelung ihres Dienstes in der Verantwortung der Oberin.362 Der Salesianer-Konvent hatte sich nach der Rückkehr der Patres und Brüder aus Krieg und Gefangenschaft offenbar Anfang 1946 soweit entwickelt, dass Mitte Februar zum ersten Mal nach sieben Jahren der Hausobernrat als traditionelles Leitungsgremium einer Salesianer-Niederlassung zusammentrat.363 Gemeinsam mit dem Direktor diskutierten der für die wirtschaftlichen Belange zuständi360 361 362

363

100 Jahre Marienhausen, S. 62. Ebd., S. 64. Gestellungsvertrag zwischen dem Kloster zur hl. Maria in der Kupfergasse in Köln und der Deutschen Provinz der Salesianer v. 26. Dez. 1945 bzw. 28. März 1946, in: ASDB, Marienhausen Nr. 51. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 19. Febr. 1946, in: ASDB, Marienhausen Nr. 41. Zu den ordensinternen Organen vgl. Hans Schoch, Die Salesianer Don Boscos, in: 100 Jahre Marienhausen, S. 82-84.

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ge Pater (Präfekt), der den Bereich der religiösen Erziehung koordinierende Pater (Katechet) und der als Studien- bzw. Schulleiter fungierende Pater die für die anstehenden Aufgaben notwendigen Entscheidungen. Wenn in den ersten Sitzungen Fragen der Disziplinierung der im Haus untergebrachten „Zöglinge“ wie das Anlegen von Führungslisten für die Jungen oder die Gewährung von Geldprämien für gute Führung als Belohnungsmittel behandelt wurden, weist das Protokoll vom Mai 1946 auf Spannungen innerhalb des Konvents und auf eine anstehende Kursvorgabe für die Ausrichtung des Hauses hin. Denn es ging um die „Abstellung von gröblichen Unordnungen im Hause“, die die „Sittenreinheit“ sowie den „guten Ruf einzelner“ wie auch des Hauses gefährdeten. Auch sollten „Maßnahmen zur Erhaltung des Präventivsystems“ ergriffen werden, da dies ein entscheidendes Erziehungsmittel der salesianischen Heime sei. Schließlich wurde die „Erhaltung, respektive Wiedereinführung des Friedens im Hause“ thematisiert, „um den wir bisher vergeblich gebetet haben, weil wir nichts dafür tun.“ Die weiteren knappen Ausführungen lassen vermuten, dass die vielen fremden Personen – darunter auch Frauen und Mädchen –, die sich demnach im Heim aufhielten, sowohl als eine Art „Versuchung“ die Erziehungsbemühungen beeinträchtigten wie auch ein schlechtes Licht auf das Haus warfen. Jedenfalls wurde der Entschluss gefasst, Besucher nur noch im Sprechzimmer zu empfangen und die bestehenden Spannungen durch eine Aussprache zu beseitigen.364 Des Weiteren beschloss der Hausobernrat, keine „Schwererziehbaren“ mehr aufzunehmen bzw. solche wieder zu entlassen. Damit dürfte die Leitung des Knabenheims Marienhausen auf eine Besichtigung des Hauses durch den Wiesbadener Caritasdirektor Adlhoch und die Fürsorgerin des Verbandes reagiert haben, bei der dieser Aspekt erörtert wurde. So informierte der Caritasdirektor Mitte März 1946 das Bischöfliche Ordinariat in Limburg über die seiner Meinung nach nicht zu akzeptierenden Zustände in der Einrichtung, indem er zunächst auf die besonderen Zeitverhältnisse hinwies. Diese hätten den Caritas-Verantwortlichen der Diözese „fast jede Möglichkeit genommen, durch geordnete und straffe Heimerziehung Kindern und Jugendlichen das fehlende oder in der Erziehung versagende Elternhaus zu ersetzen“. Da im Augenblick männliche „Zöglinge“ nur in Marienhausen untergebracht werden könnten, aber die dortigen Salesianer „verständlicherweise an den Grundsätzen ihres Stifters und der Tradition ihrer Häu364

Protokoll der Hausobernkonferenz v. 9. Mai 1946, in: ASDB, Marienhausen Nr. 41.

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ser“ festhielten, sei die Ausgangslage untragbar. Denn diese versuchten, „durch ein aufgelockertes, dem Rahmen der Familie angepasstes System den jugendlichen Menschen zu erfassen“. Es werde diesbezüglich jedoch „übersehen, dass in der heutigen Zeit die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sich wesentlich geändert [habe]. Der Grad der Verwahrlosung hat an Umfang und Stärke derartig zugenommen, dass von vornherein behauptet werden kann, dass jeder Jugendliche mit Beginn der Pubertätsjahre als schwer erziehbar gelten muss. Demzufolge ist es nicht tragbar, dass Jugendliche im Alter von 14, 15, 16 Jahren mit noch schulpflichtigen Kindern gemeinsam erzogen werden.“365 Zudem hätte sich die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen stark nach vorne verschoben und infolgedessen die Straffälligkeit von Kindern stark zugenommen. Gleiches sah er „auf sexuellem Gebiet“, weshalb es nicht zu verantworten sei, „innerlich gesunde Kinder mit schwierigen Elementen zu verbinden“. Das Gute und Normale hält heute der zersetzenden Kraft der Verwahrlosung nicht mehr Stand, und es muss von vornherein damit gerechnet werden, dass die natürliche Kindlichkeit vorzeitig genommen wird. So ist es unbedingt erforderlich, dass auch in der Gruppe der schulpflichtigen Kinder eine Trennung geschaffen wird.“366 Nach der Besichtigung ergab sich für den Caritasdirektor „die dringende Notwendigkeit einer grundsätzlichen Stellungnahme zur Frage der Methode und der Neuformung des inneren Aufbaus von Marienhausen“. Als „Voraussetzung für eine gute, der Zeit entsprechenden Erziehung“ betrachtete er bis zur Eröffnung eines weiteren, in Kleinzimmern geplanten Heims für FE-Fälle, dass innerhalb des Knabenheims Marienhausen „eine scharfe Trennung der einzelnen Gruppen durchgeführt würde“. Wenn es dann Alternativen gäbe, „wäre zu erwägen, in diesem Hause lediglich schwer Erziehbare, in Marienhausen dagegen nur leichtere Fälle aufzunehmen“.367 Wenn in diesem Schreiben moniert wurde, dass die an den Idealen Don Boscos ausgerichtete Erziehung im Knabenheim Marienhausen auf Grund des empfundenen hohen Grades der „Verwahrlosung“ der Jugend nicht konsequent genug wäre, dürften hier auch grundsätzliche Erwägungen der Ordensgemeinschaft eine Rolle gespielt haben. Denn erst unter Provinzial Pater Niedermayer (1922-1941) hatten die Sale365

366 367

Caritasdirektor Adlhoch an das Limburger Ordinariat v. 14. März 1946, in: DAL, Nr. 458 A. Ebd. Ebd.

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sianer neben Schüler- und Lehrlingsheimen auch Fürsorgeerziehungseinrichtungen übernommen, die sich dann zu einem weiteren „nicht unbedeutenden Schwerpunkt unter den salesianischen Werken“ entwickelten. Dabei wurde ihnen diese Aufgabe offenbar zugetragen, da sie auf Grund ihrer Erziehungsmethoden dafür prädestiniert erschienen. „Ihnen selbst [lag] jedoch daran, mit Werken dieser Art nicht letzte Station für problematische Jugendliche zu sein, sondern sich einerseits die Möglichkeit offenzuhalten, diese an spezialisierte Einrichtungen weiterverweisen zu können, anderseits zu den Fürsorgezöglingen auch Jugendliche aus geordneten Verhältnissen aufzunehmen und somit Nachwuchsförderung auch in Häusern solcher Art zu ermöglichen.“368 Im Rahmen dieser ordensinternen Vorgaben versuchten die Salesianer, auch ihre Erziehungsbemühungen im Knabenheim Marienhausen auszurichten, die 1949 durch 13 Patres, 3 Kleriker/Scholastiker und 9 Ordensbrüder durchgeführt wurden. Ihre Zahl blieb in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten in etwa gleich, wobei sie zunächst kaum weltliche Kräfte anstellten. Außer den staatlich anerkannten Volksschullehrern besaßen nur wenige Salesianer pädagogische Qualifikationen.369 Nach dem Bericht an das Bischöfliche Ordinariat für das Jahr 1954 betreuten die Salesianer wieder insgesamt 245 Kinder und Jugendliche, von denen 60 zur Lehrlingsabteilung und 185 zum Schulbereich zählten. Die 1948 eingerichteten zwei Gymnasialklassen für Spätberufene, die in den Salesianern-Orden eintreten und Priester werden wollten, war 1951 nach dem Wiederaufbau der dortigen Niederlassung nach Essen-Borbeck verlegt worden. Unter den Lehrlingen befanden sich 12 Vollwaisen, 10 Halbwaisen, 17 unehelicher Abstammung, 15 Flüchtlinge und 6 als schwererziehbar geltende Jugendliche. Die Gruppe der Volksschüler setzte sich aus 15 Vollwaisen, 31 Halbwaisen und 41 so genannten „Milieugeschädigten“ zusammen. Zudem kamen 63 aus „geschiedenen und zerrütteten Ehen“ bzw. waren 35 „unehelicher Geburt“. Insgesamt gab es unter den Schulkindern 30 Flüchtlinge.370 Offenbar war es der Hausleitung also gelungen, möglichst nur wenige Jungen betreuen zu müssen, die nach damaligen Kriterien große Erziehungsschwierigkeiten bzw. Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Zudem könnte damit verbunden gewesen sein, seit Anfang der 1950er Jahre bei den Schulpflichtigen verstärkt Kinder und Jugendliche auf 368 369

370

Maul, Don-Bosco-Werk im deutschsprachigen Raum, S. 272. Vgl. Personallisten an das Limburger Ordinariats für 1949, 1954, 1958 u. 1960, in: ASDB, Marienhausen Nr. 7. Bericht für das Jahr 1954 an das Limburger Ordinariat v. 10 Nov. 1955, in: ebd.

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privater Basis aufzunehmen, sodass dieser Bereich zunehmend einen Internatscharakter erhielt.371 Neben Jungen, die die Jugendämter einwiesen, kamen immer mehr Schüler, deren Eltern im Diözesan-Knabenheim bessere Voraussetzungen als im heimischen Umfeld sahen, ihre Kinder zu einem guten Schulabschluss zu führen. Zumindest teilweise spielte für diesen Schritt gleichzeitig die gewünschte Vermittlung einer katholisch-religiösen Erziehung eine Rolle.372 Es ist nicht auszuschließen, dass sich diese Entwicklung auch auf die Pflegesatzverhandlungen mit den Kostenträgern ausgewirkt hatte. Jedenfalls zeigte der Schriftwechsel mit dem LWV hinsichtlich des Pflegsatzes, dass dieser noch Mitte der 1950er Jahre stets unter den errechneten Selbstkosten lag und von der Behörde nur bedingt angeglichen wurde. Für 1954 betrug der von der Behörde festgelegte Pflegesatz 3,60 DM, der tatsächliche Tagesaufwand aber 5,05 DM, sodass eine Erhöhung auf 4,50 DM beantragt wurde. Da dieser jedoch den ansonsten für private Kinderheime gezahlten Satz überstiegen hätte und zudem die große Landwirtschaft des Hauses mit einbezogen werden müsse, kam es nur zu Erhöhung auf 4 DM.373 Unter diesen wirtschaftlichen Voraussetzungen war es schwierig, die während der Kriegzeit erlittenen Verluste an Ausstattung wieder aufzufüllen und die beschränkten räumlichen Verhältnisse zu verbessern. Die Unterbringung war daher auch Mitte der 1950er Jahre meist noch sehr spartanisch.

Langsame Modernisierung Bereits Mitte der 1950er Jahre erkannte die Marienhausener Leitung, dass die äußerst einfachen Verhältnisse des Diözesan-Knabenheims mittlerweile nicht mehr zeitgemäß waren. So wies der Direktor im November 1957 die Limburger Bistumsleitung auf einige „Vorarbeiten für ein neues Lehrlingsheim“ hin, „das in Zukunft gebaut werden muss. Wir bauten bereits einen neuen Kuhstall, um den alten aus dem Lehrlingsgebäude zu entfernen. Denn Herr Prälat Müller hatte über den Kuhstall Schlafsäle gebaut. Dieser Zustand war nicht mehr trag371 372

373

100 Jahre Marienhausen, S. 64. So erklärte zumindest Ralf L., dass letzteres ein wichtiger Aspekt für seine Eltern gewesen sei, ihn gerade im Knabenheim Marienhausen anzumelden. (Vgl. Interview Ralf L.) Antrag v. 14. Febr. 1955, Antwort des LWV v. 6. März 1955 und endgültige Festsetzung des Pflegesatz v. 29. März 1955, in: ALWV, B100/32 Nr. 1524.

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bar.“ Auch befanden sich in der Schülerabteilung“ immer noch 35 „Behelfsbetten“, die jetzt durch richtige Betten ersetzt werden müssten. Vor diesem Hintergrund bat er dann um eine Weihnachtsgabe.374 Der Generalvikar erkannte offenbar die dringende Notwendigkeit der Unterstützung: „Wir sind uns bewusst, welche Hilfe unserer Diözese zuteil wird durch die Arbeit, die Sie mit Ihren Mitbrüdern in unserem DiözesanKnabenheim in Marienhausen leisten. Darum sind wir grundsätzlich bereit, Ihnen bei Lösung Ihrer derzeitigen Schwierigkeiten behilflich zu sein. Um einen Überblick zu bekommen, in welcher Weise wir helfen sollen, werden wir H.H. Diözesan-Caritasdirektor Adlhoch beauftragen, daß er an Ort und Stelle mit Ihnen die verschiedenen Vorhaben durchspricht und uns dann einen Bericht darüber gibt.“375 In der zweiten Hälfte des Jahres 1958 konkretisierten sich in Zusammenarbeit mit Diözesan-Caritasdirektor Adlhoch die Planungen unter dem neuen Direktor, den die Ordensgemeinschaft offenbar besonders zur Verbesserung der räumlichen Situation mit diesem Amt betraut hatte.376 Dieser konnte dann auch die Bistumsverantwortlichen dazu bewegen, zur Finanzierung umfassender Baumaßnahmen beizutragen. Wenn auch zunächst unter Einbeziehung der Herkunft der „Zöglinge“ eine sparsamere Variante diskutiert wurde, indem durch Umbauten der alten Räumlichkeiten erheblich weniger Finanzmittel erforderlich gewesen wären, wurden 1960/61 schließlich doch ein neuer Wohntrakt für die Lehrlinge errichtet sowie die Lehrwerkstätten vergrößert und modernisiert.377 Dabei unterstützte die Diözese die Baumaßnahmen durch zinslose Darlehen in Höhe von 600.000 DM, die 1962 in ei374

375 376

377

Marienhauser Direktor an den Limburger Generalvikar v. 27. Nov. 1957, in: ASDB, Marienhausen Nr. 7. Generalvikar an Marienhauser Direktor v. 11. Dez. 1957, in: ebd. Vgl. Aktenvermerk des LJA v. 29. Sept. 1966 über einen Besuch Marienhausens, in: HHStAW, Abt. 561 Nr. 1188. So schrieb am 4. Sept. 1958 Prälat Adlhoch nach einem Besuch Marienhausens an den Direktor: „Auf dem Heimweg haben Herr H. und ich noch einmal die Frage ventiliert, ob man nicht doch entsprechend den Wünschen des verstorbenen P. Provinzials Dr. Seelbach durch freilich erhebliche Umbauten die alten Räume des Lehrlingsheims verwenden und damit möglicherweise einige hunderttausend DM sparen könnte, zumal wenn nur 60 bis 70 Lehrlingsplätze nötig sind. Zu dieser Überlegung veranlasste uns auch Ihre Bemerkung, daß die Jungen meistens aus der unteren Mittelschicht kommen und darum in unseren Heimen nicht durch einen Komfort verwöhnt werden dürfen. Ich habe diese Überlegung auch dem Bischöflichen Ordinariat unterbreitet.“ (in: ASDB, Marienhausen Nr. 7)

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nen Zuschuss umgewandelt wurden. Außerdem erhielt das Heim während dieser Zeit eine Wiedergutmachungszahlung in Höhe von 122.000 DM.378 Vermutlich hat dieser Schritt dazu beigetragen, dass die Bistumsleitung im Frühjahr 1962 im Zusammenhang mit der Einführung neuer Postleitzahlen vorschlug, das Aulhauser Heim „Jugendheim Marienhausen“ zu nennen, was auch im Hausobernrat auf Zustimmung stieß.379 Eine Mitarbeiterin der Fürsorgeerziehungsbehörde des LWV hielt nach einer Anfang 1966 erfolgten Besichtigung des Jugendheims die neuen Wohnräume für „ansprechend. Die Schlafräume dagegen mit je 6 Betten wirken in ihrer strengen Sachlichkeit (keine Schränkchen oder Wandborde, kein Wandschmuck) außerordentlich kühl. Der uniforme Eindruck wird noch verstärkt dadurch, daß mehrere Schlafräume mit einem offenen Durchgang ohne Tür verbunden sind. Die Jungen arbeiten in den heimeigenen Werkstätten: Schlosserei, Schreinerei, Malerei, Schneiderei, Schuhmacherei, Bäckerei und Gärtnerei sowie in der Landwirtschaft. Die Betriebe sind mit je einem Meister und einem Gesellen besetzt.“ 8 der 65 Plätze waren nicht belegt.380 Zwei Jahre später befanden sich dann in der Gruppe der 15- bis 16-jährigen 25 und in der Gruppe der 17- bis 19-jährigen 27 Jungen die jeweils von einem Pater bzw. Bruder sowie einem weiteren Bruder und einem Praktikanten betreut wurden. Auf eine Anfrage der Provinzleitung an die Mitbrüder zu ihrem Urteil über ihre Niederlassung wurde Marienhausen insgesamt als gut eingeschätzt. Allerdings wären die Räumlichkeiten, die Angebote und die Ausstattung unzureichend.381 Nach den Baumaßnahmen zur Modernisierung der Lehrlingsabteilung war den Verantwortlichen schon bald klar, dass auch der Bereich der Schüler dringender Verbesserungen bedurfte. Im Sommer 1964 wurde daher im Hausobernrat über den Neubau des Schulgebäudes beraten, um gerade bei schlechtem Wetter für die Jungen bessere Unterbringungsmöglichkeiten zu haben und die großen Schulräume zu unterteilen. Denn die Klassenräume dienten bislang in der Freizeit auch als Aufenthaltsräume. Allerdings gestalteten sich Verhandlungen mit dem Kultusministerium hinsichtlich der Finanzierung des Projekts zunächst wenig 378 379 380 381

Aktennotiz des Bischöflichen Ordinariats v. 27. April 1973, in: ebd. Nr. 48. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 8. April 1962, in: ebd. Nr. 42. Vermerk des LWV v. 7. Febr. 1966, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1524. Auflistung über den Einsatz der Mitbrüder im Jugendheim Marienhausen für die Norddeutsche Provinz v. 20. April 1968 mit Einschätzung der Niederlassung, in: ASDB, Marienhausen Nr. 2.

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Abb. 17: Pausenhof vor dem Marienhauser Schulgebäude Mitte der 1950er Jahre.

erfolgreich, da die Schule dort als Privatschule im Land Hessen betrachtet wurde. Um an staatliche Zuschüsse oder Kredite zu gelangen, kam es auch zu Anfragen beim Sozialministerium und der Luftschutzbehörde, um über den Bau eines Luftschutzkellers Finanzmittel zu erhalten.382 Im Frühjahr 1965 hielt der Hausobernrat die Unterteilung der großen Schlafsäle der Schüler nicht mehr für aufschiebbar383, und 1966/67 konnte dann endlich der Neubau für die Klassenräume errichtet werden, der 1968 noch durch eine Turn- und Mehrzweckhalle ergänzt wurde. Neben der staatlichen Unterstützung stellte die Diözese Limburg 800.000 DM an Zuschüssen zur Verfügung.384 Im alten Schulgebäude, in dem sich nach wie vor die Schlafsäle der Schüler befanden, entstanden jetzt erstmals auch Gruppenräume. Obwohl dies eine deutliche Verbesserung der räumlichen Möglichkeiten darstellte, blieben jedoch die Verhältnisse unzureichend, wie im Sommer 1969 eine Bestandsaufnahme des Direktors über die Unterbringung der Schüler im „Volksschulinternat Marienhausen“ vermutlich für die Provinzleitung der Salesianer offenbarte. Demnach waren 382 383 384

Protokolle der Hausobernkonferenzen v. 17. Aug. u. 22. Sept. 1964, in: ebd. Nr. 42. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 5. Mai 1965, in: ebd. Aktennotiz des Limburger Ordinariats v. 27. April 1973, in: ebd. Nr. 48

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weder die Anzahl der vorzuhaltenden 180 Plätze noch die zeitgemäßen Standards unter den „augenblicklichen Wohnverhältnissen des Internats […] gewährleistet“. Neben „baupolizeilichen Beanstandungen für die in den Dachgeschossen befindlichen Schlafräume“ erwiesen sich „diese Schlafräume nach Gesichtspunkten der Erziehung und Wohnkultur nicht mehr tragbar“, worüber sich auch die Eltern beschwerten. Die zu große Belegung mit 25 bis 44 Betten, die dennoch nur insgesamt 167 Betten zuließ, wie auch die mangelnde Ausstattung, „hygienisch unzumutbar[e] Toiletten“ – im auf dem Dachboden gelegenen Schlafsaal der „Puppenstube“ genannten 9. Klasse waren sogar keine Toiletten vorhanden – und die ungenügenden „Aufgliederungsmöglichkeiten“ und Einrichtungen der Freizeiträume standen hier besonders in der Kritik. Als Möglichkeiten der Umgestaltung, die jedoch „keine Provisorien mehr“ sein dürften, sollten die vorhandenen Schlafsäle der Unterstufe im ersten und zweiten Stock sowohl aufgelockert als auch teilweise erweitert werden. Dazu müssten dann entweder durch den Ausbau des Puppenspeichers Platz für 30 Betten und einen Neubau für weitere 70 Betten oder durch einen großzügigeren Neubau direkt weitere 100 Plätze mit „entsprechenden Spiel- und Aufenthaltsräume[n] (möglichst nach gruppenpädagogischen Gesichtspunkten und der Klassenfrequenz von 25 Jungen)“ entstehen. Abschließend hieß es, dass allerdings doch ein „Provisorium […] jetzt schon nicht mehr“ zu umgehen sei, wobei die „Beschwerden der Eltern und Erzieher […] in besonderem Maße den Schlafsaal im Speichergeschoß der alten Schule“ beträfen. „Als ein mögliches Provisorium wünschen wir schon jetzt eine Verlegung dieses Schlafsaales in die darunter liegenden Zimmer.“385 Mitte der 1960er Jahre war „der größte Anteil der Schüler […] privat untergebracht“. Gleichzeitig erklärte der LWV, dass „durch den Internatscharakter und das Fehlen weiblicher Kräfte in der Erziehungsarbeit […] die Einweisung schwieriger Kinder nicht zu empfehlen“ sei.386 Nach einer Auswertung der „Schulstatistischen Kartei“ des Jugendheims Marienhausen vom Oktober 1969 kamen von insgesamt 170 Schülern 47 % aus NRW, 28 % aus Rheinland-Pfalz, 15 % aus Hessen und 8 % aus dem Saarland. Mehr als die Hälfte der Schüler wies zum Teil große schulische Mängel auf, alle hatten bereits wenigstens einmal die Schule gewechselt. Nach den Gründen für den Wechsel nach Ma385 386

Ausführungen des Marienhauser Direktors v. Aug. 1969, in: ebd. Vermerk des LWV v. 7. Febr. 1966, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1524.

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rienhausen befragt, sahen 79 % der Schüler den Rückgang ihrer schulischen Leistungen „infolge schlechter Betreuung durch die Eltern wegen Zeitmangel“ als ein entscheidendes Motiv an. Immerhin 55 % betrachteten sich zudem als „sogenannte Sozialwaisen“, und 24 % gaben grundsätzlich den Zeitmangel der Eltern an. Neben 25 Halb- und 1 Vollwaisen waren bei 52 Schülern die Eltern geschieden oder lebten getrennt, bei 112 waren die Mütter berufstätig und bei 22 der Vater oder die Mutter unbekannt. Bei 29 Schülern (17 %) hatten „Fürsorge-Ämter“ die Einweisung ins Jugendheim Marienhausen veranlasst. Und viele der privat Untergebrachten befanden sich unter „vorsorgende[r] Fürsorge, was sich aber aus den Unterlagen nicht nachweisen“ ließ.387 Die Klassenstärke betrug Ende der 1960er Jahre zwischen 25 und 40 Schüler, wobei ab der 5. Klasse Unterricht erteilt wurde. Seit der 1964 erfolgten Einführung der Haupt- anstelle der Volksschule war die 9. Klasse hinzu gekommen. Mitte der 1960er Jahre konstatierte der LWV nach der weiter oben bereits erwähnten Besichtigung, dass der „Anteil der Unterbringung im Rahmen der öffentlichen Erziehung“ im Jugendheim Marienhausen „ca. 25 %“ betrug, wobei dies in der Lehrlingsabteilung 98 % ausmachte.388 Daher war es für die Hausleitung hinsichtlich der Belegung mit schulentlassenen Jungen wichtig, mit den einweisenden staatlichen Behörden einen vertrauensvollen Umgang zu pflegen. Verschiedene Vorfälle, auf die später noch näher eingegangen wird, dürften das Verhältnis zu den hessischen Erziehungsbehörden belastet haben. Jedenfalls ging die Zahl der Unterbringungen kontinuierlich zurück, sodass die Lehrlingsabteilung 1969 nur noch aus einer Gruppe bestand. Als Anfang 1972 die Provinzleitung der Salesianer vermutlich wegen des immer spürbarer werdenden Nachwuchsmangels überlegte, ob in den Niederlassungen Bereiche geschlossen werden könnten, sah der Hausobernrat Marienhausens dies für die Lehrlingsabteilung gegeben. Denn diese umfasste nur noch 32 Jugendliche, die zum überwiegenden Teil aus dem Saarland kamen, wo es augenblicklich zwar noch kein eigenes Heim für diese Jungen gab, aber ein solches geplant wurde. Auf Grund dieser Perspektive wurde die Lehrlingsabteilung im Lauf des Jahres aufgelöst.389 387

388 389

Auswertung der „Schulstatistischen Kartei“ des Jugendheims Marienhausen (Stand 17. Okt. 1969), in: ASDB, Marienhausen Nr. 7. Vermerk v. 7. Febr. 1966, in: ALWV, B 100/32 Nr. 1524. Protokolle der Hausobernkonferenzen v. 27. Febr. u. 15. Sept. 1972, in: ASDB, Marienhausen Nr. 42.

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Innere Strukturen und externe Sicht Die Schul- wie auch die Lehrlingsabteilung Marienhausens, die relativ abgegrenzt voneinander betrieben wurden, waren in den 1950/60er Jahren durch einen von den Salesianern vorgegebenen Tagesablauf stark normiert und durch einen von den „Zöglingen“ und Schülern sowie auch einigen jüngeren Erziehenden als eng empfundenen Ordnungsrahmen einschließlich körperlicher Züchtigung, aber etwa auch Schweigegeboten gekennzeichnet. Wenn dies auch teilweise den lange Zeit unzureichenden räumlichen Verhältnissen geschuldet war, kamen hier auch die angestrebten Erziehungsziele zum Tragen. Eine zentrale Rolle spielte zudem die religiöse Erziehung, die jedoch in den 1960er Jahren immer weniger auf eine tradierte Praxis der Jungen aufbauen konnte. Zudem stellte Sexualität ein Tabu-Thema dar. Da den Patres, Brüdern und den als Assistenten fungierenden Klerikern oftmals die notwendige pädagogische Qualifikation fehlte, waren Konflikte vorprogrammiert. Diese spiegelten sich dann auch in den Vorfällen wider, die, in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnend, zu Untersuchungen der zuständigen Jugendbehörden wie auch der Polizei führten. Obwohl die Ordensleitung beschuldigte Patres und Brüder meist aus dem Marienhauser Heim abzog, gab sie doch in der Regel die Schuld an den Auseinandersetzungen den betroffenen Jungen, die als besonders „verwahrlost“, erziehungsschwierig oder sexuell auffällig eingestuft wurden. Das hessische Landesjugendamt wies jedoch mehrfach darauf hin, dass im Haus trotz baulicher Modernisierungen weiterhin große pädagogische Defizite vorhanden wären. Als Anfang der 1970er Jahre der 1958 bis 1960 im Internat des Knabenheims untergebrachte Kindermörder Jürgen Bartsch die erlebten Erziehungsmethoden für seine Taten mit verantwortlich machte, geriet die Aulhauser Einrichtung auch in den kritischen öffentlichen Fokus. Die folgende nähere Betrachtung dieser Aspekte lässt ein interessantes Bild der inneren Strukturen und ihrer zeitgenössischen Einschätzung entstehen.

Erziehungspraxis in der Wahrnehmung von Jungen und Erziehenden Die beiden während der 1950/60er Jahre im Knaben- bzw. Jugendheim Marienhausen bestehenden Betreuungsbereiche des „Internatsbetriebs“ und der Lehrlingsabteilung als FE-Heim waren so strikt von einander

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getrennt, dass ehemalige Schüler wie auch „Zöglinge“ im Rückblick berichteten, allein schon auf Grund der räumlichen Anordnung kaum etwas vom anderen Teil mitbekommen zu haben. Denn offenbar sollten aus Sicht der Erziehenden die älteren Jugendlichen die Schuljungen nicht „verderben“.390 Nur beim zumindest in den 1960er Jahren „professionell aufgezogenen“ Heimfest kam es zu wirklichen Kontakten.391 Dies betraf sowohl die Wohn-, Unterrichts- und Arbeitsfelder als auch die verschiedenen Esssäle. Auch die Gottesdienste fanden getrennt statt. Es bestanden also zwei relativ eigenständige Welten, die von einem engen disziplinarischen Rahmen geprägt waren. Der Internatsbereich war in die Unter-, die Mittel- und die Oberstufe unterteilt. Aber der Klassenverband bildete den entscheidenden Fixpunkt, an dem sich nicht nur der Schulunterricht, sondern auch das gesamte Zusammenleben orientierte. Jeweils ein Pater war für den Unterricht wie auch die Erziehung eines Klassenjahrgangs verantwortlich. In der Erziehungsarbeit wurde er dabei meist von einem Assistenten unterstützt, der in der Regel ein angehender Priester der Gemeinschaft war – im Sprachgebrauch der Salesianer Scholastiker oder Kleriker genannt – und neben seinen theologischen oder philosophischen Studien ohne eine entsprechende pädagogische Qualifikation eine Art ErzieherPraktikum machte. Eigene Gruppenräume gab es bis zum Neubau des Schultraktes nicht, sodass die Klassenräume auch außerhalb des Unterrichts von den Schülern genutzt wurden. Sie nahmen, ebenfalls in jahrgangsmäßiger Ordnung, die Mahlzeiten in einem der Speisesäle des Hauptgebäudes ein und schliefen bis Ende der 1960er Jahre in großen Sälen mit 40 bis 80 Betten, in denen der Assistent eine abgetrennte Zelle hatte.392 Insgesamt herrschte im gesamten Haus ein nicht selten als militärischer Drill empfundener Rahmen, der sich z. B. im permanenten Aufstellen in Doppelreihe zeigte.393 Die Jungen lebten auch sonst nach einer strengen Hausordnung, die etwa zwischen dem Abendgebet und dem Frühstück Stillschweigen einforderte. In der Schule wurde meist intensiv gelernt, um die angestrebten Leistungen zu bringen, wozu auch die Betreuung der Hausarbeiten durch die Assistenten diente. Dabei waren viele Schüler hoch motiviert, da sie einen möglichst guten Schulab390 391 392 393

Interview Heinz N. Interview Klaus J. Heimspiegel für den LWV mit Stand v. 10. Jan. 1959, in: ALWV, B100/32 Nr. 1524. Interviews Ralf. L., Klaus J. und Robert M. Letzterer erklärte, dass fast alle Mitbrüder beim Militär gewesen seien.

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Abb. 18: Einer der Speisesäle Marienhausens um 1955.

schluss als Ziel hatten. So war täglich zwischen 16 und 18 Uhr Lernzeit der Klassen, bei denen vor allem auf große Ruhe Wert gelegt wurde.394 Die Freizeitgestaltung nach dem Mittagessen bis 15 Uhr – danach gab es Kaffee im Speisesaal der jeweiligen Stufe – und nach dem Abendessen sowie an den Wochenenden fand in der Regel auch im Rahmen des Klassenverbands statt, wobei häufig das Fußballspielen und Wanderungen in der Natur im Mittelpunkt standen. Um 20 Uhr kamen die Jungen zum Abendgebet in der Kirche zusammen, um danach stillschweigend in die Schlafsäle zu gehen. Meist wurde noch vorgelesen oder eine Schallplatte gespielt, danach war Nachtruhe. Während der Erntezeit wurden die Jungen auch zu Arbeiten in der Landwirtschaft und in den Gärten herangezogen. Die Ferien verbrachten viele Schüler zumindest teilweise bei ihren Eltern. Für diejenigen, die in Aulhausen bleiben mussten, bot das Heim Ferienfreizeiten an. Als Studienleiter fungierte nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1970 der 1906 geborene und bereits seit 1936 im Haus tätige Pater G., der in der Regel den vorletzten Jahrgang unterrichtete. Die dominante Persönlichkeit des Internatsbetriebs war jedoch Pater Pütz, der, 1913 in der Eifel geboren und 1948 zum Priester geweiht, 1949 nach Marienhausen 394

Interview Heinz N.

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gekommen war. So erinnerte sich ein ehemaliger Schüler an seine von 1966 bis 1968 in Marienhausen verbrachte Zeit auch in entsprechender Weise an ihn: „Der Klassenlehrer, der Klassenpater war Pater G. Ein älterer Herr, ich schätze damals schon über 50. Das war ein sehr ruhiger, etwas fülliger Mensch, der auch so ein bisschen väterlich wirkte. Er war ein Gutmütiger. Aber Pütz […], ich weiß nicht, mir ist nicht ganz klar geworden, ob er überhaupt eine leitende Funktion als solche hatte, aber er machte alles. Der Pütz organisierte, Pütz hielt die Bastelstunden ab, Pütz, muss ich zugeben, war ein begnadeter Orgelspieler, der konnte wirklich gut Orgelspielen, der kümmerte sich um den Chor, also Pütz war das Mädchen für alles. Der hatte auch für sämtliche Schlösser so die Schlüsselgewalt. Also, das ging durch, nicht nur die Oberstufe, das ganze Gebäude komplett schwebte unter seinem Schatten. Ich weiß nicht, ob er da offiziell zu befugt war. […] Er sorgte auch dafür, dass genug Tinte da war.“395 Ein von 1963 bis 1966 im Jugendheim tätiger Salesianer, der fast zwei Jahre Assistent der Klasse von Pater Pütz war, charakterisierte ihn als „sehr jähzornig und das war auch so ein stabiler Kerl und der hatte schon eine Handschrift, also, wenn der einem eine gehauen hat, das war brutal. […] Er war eigentlich derjenige, der in der Schülerabteilung das Sagen hatte. Und ich glaube, da hat sich der Direktor auch nie eingemischt. Ich glaube, dass hat man ihm größtenteils überlassen. […] Pater G. war der Schulleiter. Das war der mehr Intellektuelle. Und das war eigentlich ein sehr umgänglicher und sehr netter Mann mit viel Humor. Aber so als Kleriker damals, als Assistent hab ich gedacht: Er lehnt sich an den Pütz an, weil der Pütz für ihn die Disziplin aufrecht erhalten hat. Ich glaube, wenn er allein gewesen wäre, hätte er disziplinär mit den Jugendlichen Schwierigkeiten gehabt. Er hätte sich wahrscheinlich nicht so durchsetzen können, weil er mehr so ein Schöngeist war. Also, wenn das nicht so auf der intellektuellen Basis gegangen wäre, dann hätte er da ein bisschen hilflos gestanden. Und ich glaube, er hat sich dann an den Pütz angelehnt. […] Ich meine, der Pütz ging ja auch dann bei ihm in die Klasse und hat da für Ordnung gesorgt, wenn er fand, dass ging ein bisschen zu laut zu. Das war also ein bisschen so. Der G. war ein vernünftiger Mann, mit dem konnte man auch reden. […] Das war auch der einzige von den älteren Priestern, den konnte man fragen: ‚Hör mal, was würdest du machen‘. Der war dafür offen. 395

Interview Klaus J.

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Wir haben ihn vor allem geschätzt, weil er Humor hatte. Mit ihm konnte man wirklich, das war schon ok. Während der Pater Pütz, ja, das war schwierig.“396 Nach seinen Erinnerungen konsumierten Pater Pütz und Pater G[…] abends des Öfteren größere Mengen Alkohol, wobei Pater Pütz dann in angetrunkenem Zustand durch den Schlafsaal ging, sodass Schüler aufwachten. Nachdem ihm Mitte der 1960er Jahre der für seine Klasse zuständige Assistent nach längerer Beobachtung dieses Verhaltens harsch zu Rede stellte und sich dieses verbat, sorgte Pater Pütz dafür, dass der Assistent zur Betreuung einer anderen Klasse versetzt wurde, ohne dass die Vorgänge nochmals thematisiert worden wären.397 Unter Pater Pütz nahm der 70 bis 80 Jungen starke Schüler-Chor einen bestimmenden Platz im Rahmen des Internatsalltags ein. Bei den häufigen Proben forderte er große Disziplin. Auf der einen Seite machte Pater Pütz den Chor zu einer Art Aushängeschild des Hauses, indem er erfolgreiche Konzerte in der Region gab, eine Schallplatte aufgenommen wurde und eine Übertragung im Radio stattfand. Andererseits erinnerten sich ehemalige Schüler an den großen Druck der Proben, die bei nicht Wenigen Angst vor einem etwaigen Versagen auslösten, da ein solches schon bei kleinsten Fehlern nicht selten hart bestraft wurde. Des Weiteren wurde gerade der Geschichtsunterricht von Pater Pütz mehrmals als besonderes Kennzeichen seines schulischen Wirkens erwähnt, wobei er das Dritte Reich in den Mittelpunkt stellte und detaillierte Antworten auf einen umfangreichen Fragen-Katalog erwartete. Auch konnte Pater Pütz mit teilweise demütigendem Verhalten, aber auch körperlicher Züchtigung reagieren, wenn Schüler in seinen Augen den zu lernenden Stoff nur unzureichend beherrschten. Zudem wurde betont, dass insgesamt im Jugendheim Marienhausen auf der Basis straffen Lernens relativ hohe Lernziele erreicht wurden.398 Wie Pater Pütz im Geschichtsunterricht Filme zeigte, unternahm er hier auch für die Freizeit der Jungen Anstrengungen, indem er Filmvorführungen organisierte. Ein vermutlich von ihm erstelltes „Verzeichnis der im Jugendheim Marienhausen gespielten Spielfilme“ zwischen 1956 und 1970 listete für das erste Jahr 4, für 1963 17 und für 1969 41 Filme auf. Darunter befanden sich neben Kinderfilmen wie „Das fliegende Klassenzimmer“ oder „Pünktchen und Anton“ und Heimatfilmen durch396 397 398

Interview Robert M. Ebd. Interviews Ralf L. und Klaus J.

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Abb. 19: Erdkunde-Unterricht Mitte der 1950er Jahre.

aus auch Film-Klassiker wie „Quo Vadis“, „Moby Dick“ und „Reise zum Mittelpunkt der Erde“.399 Zudem spielte er in Priesterkleidung mit den Jungen Fußball und organisierte die alljährliche Kirmes des Jugendheims. Die Abteilung der schulentlassenen Jungen war in den 1950er Jahren unter der Leitung eines Paters in eine größere Gruppe der Lehrlinge und eine Gruppe der Hilfsarbeiter aufgeteilt.400 Die Anfang 1952 für die Lehrlingsabteilung verfasste Hausordnung teilte den Tag mit dem Aufstehen um 5:45 Uhr bis zum Schlafengehen um 20:30 Uhr genau ein. Großer Wert wurde auf Ordnung, Ruhe und Sauberkeit bzw. Reinlichkeit gelegt. Das Rauchen war verboten. „In der Mittagspause hat jeder nach Möglichkeit zu spielen. Herumlungern und Herumstehen in den Ecken ist verboten.“401 Der verantwortliche Pater bzw. Assistent schlief in einem Raum zwischen den beiden Schlafsälen im ersten Stock. Der disziplinarische Rahmen wurde von den Erziehenden unterschiedlich gesetzt, wobei die 399

400 401

Verzeichnis der im Jugendheim Marienhausen gespielten Spielfilme v. 3. Aug. 1971, ASDB, Marienhausen Nr. 16. Heimspiegel für den LWV mit Stand v. 10. Jan. 1959, in: ALWV, B100/32 Nr. 1524. Hausordnung der Lehrlingsabteilung Marienhausen v. 5. Jan. 1952, als Kopie in Marienhausen.

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Abb. 20: Fußballspielen auf dem „Bolzplatz“ mit Blick auf das St. Vincenzstift um 1955.

Bestrafung von Ohrfeigen, über eine schlechte Arbeitsbenotung bis zur Ausgangssperre reichte. Als wesentliche Freizeitbeschäftigung galten auch hier Fußballspielen und anderer Sport. Ansonsten konnte man bis zur Nachtruhe um 21 Uhr Lesen oder Koffer-Radio hören.402 Um Ausgang zu erhalten, benötigten die Jungen eine besondere Karte, die bei Nachfrage vorgezeigt werden musste. Allerdings waren sie in Aulhausen nicht gut angesehen, und die Patres erlaubten offenbar keine Kontakte. So berichtete ein ehemaliger „Zögling“, die Beziehung zur Freundin aus dem Ort nur heimlich oder in der größeren Gemeinschaft der „Clique“ geführt zu haben.403 Da keine Mauer das Heim umschloss, waren Entweichungen nicht schwierig. Ein ehemals 1969/70 im Jugendheim Marienhausen untergebrachter Junge berichtete, innerhalb von eineinhalb Jahren sechsmal entwichen und damit „ungekrönter Walzenkönig“ gewesen zu sein. Nach dem Aufgreifen wurde er dann meist vom Direktor abgeholt. Unter der auf der Gruppe bestehenden Hackordnung hatten die Schwächeren zu leiden, wobei dieses Gefüge nach seinen Erinnerungen teilweise bewusst von den Erziehenden ein402 403

Interview Ludger X. Interview Heinz N.

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gesetzt wurde. Freundschaften unter den Jugendlichen waren selten, bei gleichen Interessen entstanden höchsten „Zweckgemeinschaften“. Des Öfteren kam es unter ihnen auch zu homosexuellen Handlungen.404 Die auf neun Berufe ausgerichteten 60 Ausbildungsplätze erfüllten auch die von staatlichen Stellen gewünschten modernen Ansprüche. Dabei scheinen die Handwerksmeister die Lehrverträge abgeschlossen zu haben, was ihnen nicht unerheblichen Einfluss auf den weiteren Werdegang der Jungen gab.405 Ansonsten erhielten sie für ihre geleistete Arbeit nur ein Taschengeld. Sozialversicherungsbeiträge wurden, wie allgemein in der Heimerziehung üblich, in der Regel nicht gezahlt, sodass sich Fehlzeiten bei der Rente ergeben mussten. Ein wesentlicher Bestandteil der Erziehungspraxis im gesamten Jugendheim Marienhausen war die religiöse Erziehung. Wie in anderen Heimen zeigte sich jedoch auch hier gerade auf diesem Feld im Lauf der 1960er Jahre eine immer größere Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Erziehenden und der von ihnen betreuten Jugendlichen, sodass die religiöse Erziehung nach und nach ihre Bedeutung verlor. So beschäftigte sich im Frühjahr 1965 auch die Hausobernkonferenz mit der hausinternen Gottesdienstordnung, wie im Protokollbuch vermerkt wurde: „Da man in Deutschland schon seit Jahren über die tägliche hl. Messe in Jugendheimen sehr geteilter Meinung ist, sehen auch wir uns hier gezwungen, etliche Zugeständnisse zu machen. Vor allem wird allgemein nicht mehr verstanden, daß man schulentlassene Jugendliche aus der Fürsorge täglich in die hl. Messe gehen lassen soll, wofür gerade bei diesen Jugendlichen die Voraussetzungen fehlen. Es wurde daher beschlossen, für die Lehrlinge den Besuch der hl. Messe an Werktagen auf 2 Tage in der Woche zu beschränken. Diese Maßnahme wird zwar von etlichen Mitbrüdern nur sehr schwer verstanden, aber sie läßt sich doch wohl nicht länger aufschieben, weil selbst schon in Priesterseminaren die tägliche hl. Messe für die Priesterkandidaten als zu viel empfunden wird.“406 Obwohl dieser Prozess also von vielen Salesianern als schmerzhaft empfunden wurde, sahen doch gerade jüngere Mitbrüder den Zwangs­ charakter etwa des täglichen Gottesdienstbesuchs, ohne dies jedoch zunächst bewusst zu hinterfragen, da diese Praxis – entgegen den ur404 405 406

Interview Ludger X. Ebd. und Fall-Akte Ludger X., in: Archiv Marienhausen. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 21 März 1965, in: ASDB, Marienhausen Nr. 42.

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sprünglichen Weisungen Don Boscos – als salesianisch galt. Nach den Erinnerungen eines Salesianer-Paters, der sich 1963 bis 1966 als Assistent auf der Schülerabteilung betätigte, war es für die Hausleitung der entscheidende Anstoß für begrenzte Änderungen, als Lehrlinge während der Messe Hostien unter die Bank geklebt hatten. Diese gerade von älteren Patres als Sakrileg betrachtete Handlung löste bei vielen einen Schock aus, wurde aber zum Teil auch als Protest gedeutet und führte schließlich, wie oben gesehen, zur Abschaffung des täglichen Gottesdienstes für die Lehrlinge.407 Die Schüler gingen werktags weiter jeden Morgen zur Messfeier. Die religiöse Erziehung als ein wesentlicher Bestandteil der salesianischen Erziehung prägte auch in der Folgezeit im Jugendheim Marienhausen den Hausalltag, wobei den Patres die Notwendigkeit weiterer Veränderungen – u. U. auch als Folge der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) – immer stärker bewusst wurde. Anfang 1970 fand dann unter Leitung des Provinzials eine Konferenz zum Thema „Gestaltung der religiösen Erziehung“ statt, die nach neuen Wegen suchte und daher die vormaligen Verhältnisse erkennen ließ. So sollten etwa die Beichtangebote am Samstag wieder verstärkt werden, da die Bedeutung des Beichtens bei den Kindern und Jugendlichen, aber auch den Erziehenden stark abgenommen hatte. Indem während der Beichtzeiten keine anderen Veranstaltungen stattfinden durften und gezielt auf die Beichte hingewiesen wurde, erhoffte sich die Hausleitung eine verstärkte Beteiligung. Auch sollten die Beichten zumindest teilweise von Patres der jeweils anderen Abteilung abgenommen werden. Andachten waren zukünftig nur noch für den Samstag geplant, über den Wunsch der Lehrlinge, den Sonntagsgottesdienst auf eine spätere Zeit – etwa 9:30 Uhr oder 10:00 Uhr – zu verlegen, kam jedoch keine Einigung zustande. Die Werktagsmessen der Schüler fanden nun dienstags und freitags „wie früher“ um 6:50 Uhr statt, wobei auch die Schüler in die Vorbereitungen mit einzubeziehen waren. Das „Frühstudium“ der Schüler sollte entfallen. Schließlich war zu erproben, das Abendgebet am Sonntag, Montag, Donnerstag und Samstag (als Andacht) in der Kirche, an den anderen Tagen gleichzeitig um 20:00 Uhr auf den Gruppen durchzuführen und dabei einen Gebetsstamm zu vermitteln, zu dem auch ein „Reuegebet“ zählte. Auch die „Gewissenserforschung“

407

Interview Robert M.

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wie das sog. „Gute Nacht“ durch den Direktor als auch die Erziehenden galt es zu aktivieren.408 Wenn also gerade die Beichtpraxis der Schüler und Lehrlinge in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre abgenommen hatte, wurde diese in den Erinnerungen eines ehemaligen „Zöglings“ und eines Schülers doch als Zwang empfunden. Ein anderer Interviewter, der sowohl als Schüler als auch als Lehrling im Jugendheim Marienhausen untergebracht war, sah sich dagegen bei der Beichte keinem Druck ausgesetzt, sondern nahm aus einem inneren Bedürfnis teil. Häufig fragten die Patres in der Beichte nach etwaigen sexuellen Verfehlungen.409 Hier kam auch zum Tragen, dass Sexualität, die die Patres von den Kindern und Jugendlichen fern zu halten suchten, ein kategorisches Tabu darstellte. So untersagte die Heimordnung der Lehrlingsabteilung von 1952 nicht nur den Umgang mit den Hausmädchen, sondern dieser konnte „sogar die sofortige Entlassung nach sich ziehen“.410 Onanie wie auch homosexuelle Handlungen galten als „Todsünde“. Allerdings waren es dennoch auch gleichgeschlechtliche Betätigungen, die die ersten sexuellen Erfahrungen der Jungen darstellen konnten.411 Körperliche Züchtigung gehörte im Knabenheim Marienhausen in der Schule wie im sonstigen Erziehungsalltag zur Normalität. Nach den Erinnerungen ehemaliger Schüler wurde vielfach willkürlich und auch für Bagatellhandlungen gestraft. Allerdings gab es unter den Erziehenden deutliche Unterschiede hinsichtlich ihres Erziehungsstils und der Härte der Maßnahmen, indem etwa einige Patres und Assistenten deutlich gelassener agierten als andere. Auch bestand weder in Marienhausen noch bei den Eltern eine Beschwerdeinstanz. Innerhalb der Hausstrukturen war es für viele Jungen kaum möglich, Bezugspersonen zu gewinnen. Meist waren sie auf sich allein gestellt. Andere fanden dagegen gerade unter den jüngeren Patres und Assistenten, aber auch weltlichen Mitarbeitern in den heimeigenen Betrieben oder auf der Krankenstation Ansprechpartner, mit denen sie sich über ihre Lebenssituation und persönlichen Perspektiven austauschen konnten oder die sie einfach trösteten.412 408

409 410

411 412

Mitteilung an die Mitbrüder und Erzieher zum Thema “Gestaltung der religiösen Erziehung” o. D. (nach dem 19. Jan. 1970), in: ASDB, Marienhausen Nr. 16. Interviews Ludger X., Klaus J. und Heinz N. Hausordnung der Lehrlingsabteilung Marienhausen v. 5. Jan. 1952, als Kopie in Marienhausen. Interview Heinz N. Interviews Ralf L., Klaus J. und Heinz N.

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Neben ehemaligen Schülern, die weitgehend negative Erinnerungen an ihre Zeit in Marienhausen hatten, gab es auch andere Stimmen. So wandte sich 1955 ein Mann, der von 1945 bis 1951 die Schule besuchte und dann auch zu den „Mariensöhnen“, also zur Gruppe der Spätberufenen zählte, an Direktor Pater Martin, um ein Ehemaligen-Treffen zu organisieren. Er selbst sprach von einer schönen, in Marienhausen verlebten Zeit und ging davon aus, dass viele dort in den vergangenen zehn Jahren „Liebes erfahren“ hätten und gerne an einem solchen Treffen teilnehmen würden. Ob dieses aber wirklich zustande kam, war nicht erwähnt.413 Ein Interviewter erklärte, sich allein schon deswegen bei seinem Aufenthalt im Jugendheim Marienhausen während der 1960er Jahre wohlgefühlt zu haben, da er hier im Gegensatz zum Elternhaus keine Misshandlungen erfuhr und regelmäßige Mahlzeiten erhielt, also letztlich versorgt wurde. Auch fand er im genormten, durchaus auch als streng beschriebenen Alltag Halt. Allerdings hob auch er hervor, dass die Vorgaben für die Erziehungsbemühungen wie auch die räumlichen Verhältnisse kaum Platz für einen emotionalen Umgang und für Individualität gelassen hätten.414

Besondere Vorfälle und Heimaufsicht Wie weiter oben skizziert scheinen während der ersten Nachkriegsjahre viele als besonders erziehungsschwierig geltende Jungen im Knabenheim Marienhausen untergebracht worden zu sein, was sich auch in der Erziehungspraxis dieser Jahre niederschlug. So wurden entwichenen „Zöglingen“ als Strafe und Abschreckung für die anderen Jungen für das Entweichen die Haare abgeschnitten. Als im Herbst 1946 das Landesjugendamt dieses Verfahren „als entehrende Strafe“ verbot, sollten durch die Anstellung eines Nachwächters Entweichungen verhindert und damit letztlich Bestrafungen überflüssig gemacht werden.415 Im Sommer 1947 wurde dann durch einen Artikel in Frankfurter Rundschau ein Vorfall öffentlich, der das Knabenheim Marienhausen mit einer schweren Form von „Prügelpädagogik“ in Verbindung brach-

413

414 415

Nikolaus K. an Direktor Marienhausens v. Weißensonntag 1955, in: ASDB, Marienhausen Nr. 16. Interview Heinz N. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 25. Okt. 1946, in: ASDB, Marienhausen Nr. 41.

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te.416 Ein unter Freiwilliger Erziehungshilfe stehender 13-jähriger Junge war aus dem Heim zu seiner Mutter nach Frankfurt geflohen, nachdem ihm ein Salesianer-Pater wegen eines augenscheinlich geringfügigen Vergehens brutal mit einem Stock geprügelt hatte. Die Mutter schaltete eine Jugendschutzvereinigung wie auch den Frankfurter Caritasverband ein, die zunächst zu einer ärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt rieten. Dort wurde festgestellt, dass der Junge an Arm, Rücken und Gesäß Striemen und Blutergüsse aufwies, die auf einem Bild in der Zeitung deutlich zu erkennen waren. Das Frankfurter Jugendamt informierte das Landesjugendamt über den Fall, das eine sofortige Untersuchung der Umstände in Marienhausen anregte. Neben dem Direktor Marienhausens und dem betreffenden Pater nahmen je ein Vertreter des Landesjugendamts und des Stadtjugendamts an der Besprechung teil, über die ein vom Jugendamtsmitarbeiter verfasstes Protokoll Auskunft gab. Demnach wurde in der Besprechung zunächst der Junge als schwierig und „asozial veranlagt“ charakterisiert, „der auf Grund seines unkameradschaftlichen, gemeinschaftsschädigenden Verhaltens durch den Erzieher vor den übrigen Jungen geschützt werden musste“. Gerade in der letzten Zeit sei er in seinem Verhalten besonders renitent gewesen und habe „jede, mit Geduld und Langmut immer wieder an ihn gerichtete Anordnung einfach mißachtet“. Schließlich wurde er von dem für ihn verantwortlichen Pater, „einem etwa 30-jährigen, sympathischen Erzieher, der auf Grund seines ausgeprägten Gerechtigkeitsempfindens bei den Jungen sehr beliebt ist und den der Direktor des Heimes schon von Jugend auf kennt“, verprügelt, weil er verbotener Weise einen Apfel essend mit einem neu ins Haus gekommenen Brüderpaar angetroffen wurde und sich weigerte zu sagen, „von wem er das Obst habe“.417 Der Direktor Marienhausens erklärte in dem Gespräch sein großes Bedauern über das Geschehene, versicherte, solches in Zukunft zu verhindern und die Provinzleitung der Salesianer zu bitten, den betroffenen Pater „aus der Erziehungsarbeit und dem Knabenheim Marienhausen herauszunehmen“. Dieser, „durch die 3-stündige Verhandlung sehr erschüttert, bat darum, nicht weiter in der Erziehungsarbeit verwendet zu werden“. Für den Jungen wies das Landesjugendamt die Verlegung in das Landesaufnahmeheim Idstein an.418 416

417 418

„Erlebnis im Erziehungshaus. Ein Dreizehnjähriger wurde mißhandelt“, in: Frankfurter Rundschau v. 31. Juli 1947. Protokoll des Frankfurter Jugendamtsmitarbeiters v. 22. Juli 1947, in: DAL, Nr. 458 A. Ebd.

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Damit war der Fall jedoch noch nicht abgeschlossen, da er eine zumindest begrenzte politische Dimension erhielt. Denn gleichzeitig wurden Vorwürfe gegen einen weiteren, zuvor in Marienhausen tätigen Pater erhoben, „die auf einem anderen Gebiet lagen“. Daher schien dem Autor des Artikels in der Frankfurter Rundschau „eine gewissenhafte Überprüfung in Marienhausen unerlässlich“ zu sein, zumal schon seit einiger Zeit ein Landtagsbeschluss vorläge, „daß eine parlamentarische Kommission alle privaten und staatlichen Erziehungsanstalten besichtigen soll“.419 Das Frankfurter Jugendamt hatte als Konsequenz bereits angeordnet, alle aus Frankfurt stammenden, im Knabenheim Marienhausen untergebrachten Jungen von dort abzuziehen. Zwar sei dies nach Meinung des Caritasverbands, der das Bischöfliche Ordinariat in Limburg Anfang August über seine Sicht des Vorfalls in Kenntnis setzte, nur schwer möglich, da das Jugendamt für die FE-Fälle nicht zuständig sei und durch die augenblicklich starke Beanspruchung der zur Verfügung stehenden Heime nur wenig Spielräume habe. Aber die gesamte Situation wurde doch als bedenklich erachtet, zumal ein in die Vorgänge einbezogener Angestellter der KPD da­rauf drängte, einen Strafantrag auf Körperverletzung gegen den betroffenen Pater zu stellen.420 Nach dem Erscheinen des Artikels in der Frankfurter Rundschau hatte die Bistumsverwaltung zudem eine Stellungnahme des Knabenheims erbeten, die der Direktor letztlich dazu nutzte, weitere Akzente zu setzen. Zunächst wies er darauf hin, dass der Junge von dem Pater „tatsächlich geschlagen“ wurde, was in Marienhausen verboten sei und zu einer Bestrafung führe. „Wir bedauern es sehr, daß der Junge geschlagen wurde und besonders, daß es so heftig geschah. Die Entlassung aus dem Amte und Versetzung wurde sofort zugesichert und ist auch durchgeführt worden.“ Allerdings kritisierte er die Veröffentlichung in der Frankfurter Rundschau als unnötig, „da kein System der Unordnung bestand. Die Jungen fühlen sich wohl im Hause und hatten auch Herrn P. gern. Er galt als gerecht und gut. Durch die Veröffentlichung ist dem Jungen nicht gedient. Die öffentlichen Erziehungswerke haben dadurch Schaden erlitten. Es galt nur, der kath. Sache einen Schlag zu versetzen. Obwohl Herr Emil S. als Vertreter der KPD sich 419

420

„Erlebnis im Erziehungshaus. Ein Dreizehnjähriger wurde mißhandelt“, in: Frankfurter Rundschau v. 31. Juli 1947. Caritasverband Frankfurt an das Limburger Ordinariat v. 4. Aug. 1947, in: DAL, Nr. 458 A.

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bereiterklärte von weiteren Maßnahmen (Veröffentlichung und Strafantrag) abzusehen, kam die Sache dann doch in die Zeitung.“421 Auch die Vorwürfe gegen den anderen Pater waren seiner Meinung nach unberechtigt. Denn „nicht andere, sondern einer unserer Patres machte mich aufmerksam auf Formen der Erziehung, die bei uns nicht üblich sind.“ Daraufhin hätte er mit dem Pater gesprochen, und beide hielten es „fürs Beste, daß er zunächst mal in Erholung ginge, da er ziemlich abgearbeitet war. Die Verdächtigungen in der Zeitung sind nicht berechtigt.“422 Der handschriftliche Entwurf eines Antwortschreibens des Ordinariats zeigte sowohl die Sorge über etwaige negative Auswirkungen der Geschehnisse auf das Ansehen des Diözesan-Knabenheims wie insgesamt der kirchlichen Heime als auch auf die Würdigung der schweren Erziehungsaufgabe und das Vertrauen in die Hausleitung. Weitere Konsequenzen scheinen die zuständigen staatlichen und kirchlichen Behörden aus den Vorfällen nicht gezogen zu haben. Allerdings musste hausintern der Schulleiter wegen des Ausscheidens der Mitbrüder zusätzliche Erziehungsbereiche übernehmen.423 Der hier ausführlich geschilderte Fall dürfte insofern eine Ausnahme dargestellt haben, als er in die Öffentlichkeit gelangte und damit eine Außenwirkung besaß. Die schnelle und zumindest teilweise drastische Reaktion des Frankfurter Jugendamts spricht zudem für eine gewisse Sensibilisierung hinsichtlich etwaiger Übergriffe in der Fremderziehung in den ersten Nachkriegsjahren. Die Leitung des Knabenheims signalisierte auf der anderen Seite, sofort auf Grund des auch in ihren Augen nicht tragbaren Verhaltens der Patres Maßnahmen ergriffen zu haben, wobei deutlich auf die besondere Erziehungsschwierigkeit des misshandelten Jungen und so auch auf die sich daraus für die Erziehenden ergebenden Probleme hingewiesen wurde. Das Protokoll der Hausobernkonferenz vom November 1949 lässt vermuten, dass sich jedoch zunächst die Belegung wie auch die Erziehungsmethoden nicht grundlegend veränderten. Auf „ein Schreiben des Landesjugendamtes Strafmittel betreffend“ hatte die Heimleitung jedenfalls „vorgeschlagen, uns solche Jungen zu schicken, die noch erziehungsfähig sind, damit wir möglichst keine Strafmittel anwenden brauchen. Ferner wollen wir uns die Freiheit sichern, bei schlimmen Fällen entlassen zu können.“424 421 422 423

424

Marienhauser Direktor an das Limburger Ordinariat v. 8. Aug. 1947, in: ebd. Ebd. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 10. Sept. 1947, in: ASDB, Marienhausen Nr. 41. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 21. Nov. 1949, in: ebd.

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1957/58 gaben erneut die Erziehungsmethoden eines Salesianer-Paters des Knabenheims Marienhausen staatlichen Behörden Anlass für eine Untersuchung. Von zwei Jugendlichen provoziert, war es zu einer körperlichen Züchtigung durch den Pater gekommen, die auch zu polizeilichen Ermittlungen und einer Anklage führte. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt. In einem Schreiben an das hessische Landesjugendamt zitierte Caritasdirektor Adlhoch eine Erklärung des Marienhauser Direktors. Dieser erkannte zwar durchaus das fehlerhafte Verhalten des an sich von den Jugendlichen geschätzten Erziehers an, sah die Schuld für diesen Vorfall jedoch eindeutig auf Grund „der erheblichen Verlogenheit“ und der „sittlichen Entgleisungen“ bei den „in Frage kommenden Jugendlichen“, die seiner Meinung nach „infolge ihrer weitgehenden sittlichen Verwahrlosung auf keinen Fall unserem Knabenheim [hätten] überwiesen werden dürfen“. Auch kritisierte er die voreilige Vorgehensweise der beteiligten Behörden. Der Caritasdirektor teilte zudem mit, dass der Pater, über den er von anderen Erziehenden wie Jugendlichen gehört habe, dass „er ein sehr ernster und einsatzfreudiger Erzieher ist, der das Vertrauen der Jungen gewinnt“, das Heim verlassen hatte. Auch hätte der Erzieher auf die sexuelle Prägung eines der betreffenden Jungen hingewiesen, der zu häufigen sexuellen Übergriffen gegenüber anderen Jungen neige.425 Auch in den 1960er Jahren musste sich die Leitung des Jugendheims Marienhausen auf kirchlicher wie staatlicher Ebene gegenüber Vorwürfen bzw. Vorfällen rechtfertigen. So wandte sich im Sommer 1964 die Ortsgruppe des Männerfürsorgevereins Leverkusen an das Bischöfliche Generalvikariat in Mainz und berichtete, „im Februar dieses Jahres im Rahmen der Jugendgerichtshilfe mit einem 19-jährigen jungen Mann befasst“ gewesen zu sein, „der wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht in der Zeit von 1959 bis 1961 im og. Knabenheim [Marienhausen] mit einem gleichaltrigen Jungen angeklagt war“. Sowohl im Gespräch mit den Mitarbeitern des Vereins als auch vor Gericht hätte der junge Mann angegeben, „daß u.a. damals die Atmosphäre in diesem Heim sein Tun gefördert habe. Auf Gegenfrage gab er an, daß damals unter den Jungen gegenseitige Onanie üblich und daß sogar der Gruppenleiter darin verwickelt sei.“ Der Verein hielt es für seine „Pflicht“, dem Generalvikariat „diese Mitteilung im Interesse eines guten Rufs

425

Caritasdirektor Adlhoch an das LJA v. 27. Sept. 1958, in: HHStAW, Abt. 561 Nr. 1188.

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unserer kath. Heime zu machen“ und nahm an, „daß mittlerweile eine Änderung in dem genannten Heim eingetreten sein wird“.426 Nachdem die Anfrage an das eigentlich zuständige Ordinariat in Limburg weitergeleitet worden war, fragte es in Marienhausen wegen des Sachverhalts an.427 Die vermutlich vom Direktor verfasste Antwort legte den Schwerpunkt auf die aus seiner Sicht äußerst schwierige Zusammensetzung der im Haus untergebrachten „Zöglinge“ und wies die Vorwürfe als haltlos zurück: „Das in diesem Schreiben erwähnte Thema ist für jeden Erzieher ein schweres Kapitel, besonders dann, wenn er es mit Jugendlichen zu tun hat, die im Leben zum Teil schon sehr beträchtlich gestrauchelt sind. Es ist schon ein erheblicher Prozentsatz der Lehrlinge – so nennen wir unsere schulentlassenen Jugendlichen –, die auf diesem Gebiet mit einem Knacks hierher kommen. Gott sei Dank gelingt es in vielen Fällen, die Sache zu überwinden. Das ist aber leider nicht bei allen der Fall. Wenn dann einer irgendwo auffällt, dann ist er sehr schnell bei der Hand, sich irgendwo ein Alibi zu verschaffen, d. h. die Schuld auf andere zu schieben. Das ist eine Erfahrung, die man in der Praxis sehr oft auf allen möglichen Gebieten machen muß. Mir will scheinen, dass man dann gar zu gerne geneigt ist, alles für bare Münze zu nehmen, was da oft sehr bedenkenlos vorgebracht wird. Wir geben uns gerade auf diesem so heiklen Gebiet mit unseren Jugendlichen sehr große Mühe. Dennoch lässt sich nicht alles vermeiden. Es mag auch sein, dass diese Dinge in der angegebenen Zeit und in den damaligen alten Gebäuden schlechter gewesen sind. Auf jeden Fall muß ich unsere Gruppenleiter in dieser Hinsicht, auch für jene Zeit, sehr in Schutz nehmen.“428 Einige Jahre später dürfte ein anderer Fall weitaus kritischer betrachtet worden sein. Denn im Februar 1967 wurde ein 46-jähriger, als Gärtnermeister tätiger Salesianer-Bruder, der sich seit 1951 in Marienhausen befand, wegen Unzucht mit einem „Zögling“ angeklagt. Immerhin hatte ihn das Schöffengericht Wiesbaden bereits 1964 wegen eines ähnlichen Vergehens zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung bestraft, ohne dass er jedoch von der Leitung des Jugendheims oder der Ordensprovinz aus der Erziehungsarbeit mit Jungen genommen wor426

427 428

Männerfürsorgeverein Leverkusen an das BGV Mainz v. 25. Juni 1964, in: ASDB, Marienhausen Nr. 7. Limburger Ordinariat an den Marienhauser Direktor v. 28. Juli 1964, in: ebd. Vermutlich Marienhauser Direktor an das Limburger Ordinariat v. 4. Aug. 1964, in: ebd.

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den wäre.429 Routinemäßig von der Oberstaatsanwaltschaft über die Anklageschrift benachrichtigt, erkundigte sich der Limburger Generalvikar beim Marienhauser Direktor über die Umstände des Falls, um „etwaigen unwahren Gerüchten begegnen zu können“. Zudem solle erläutert werden, wie er und die Ordensgemeinschaft „den Vorfall sachlich und personell geregelt“ hätten.430 In seiner Antwort bedauerte der Direktor das „schwere Vergehen“ sehr, das sich „aber leider nicht ungeschehen machen“ lasse. Es sei gut gewesen, „daß die Sache gleich aufkam, sodaß es bei einer einzigen Verfehlung blieb. Schon am Tag des Bekanntwerdens haben wir nach Rücksprache mit dem H. Provinzial den Mitbruder in ein anderes Haus geschickt, in dem sich keine Jungen befinden. Zur Weiterführung unserer Gärtnerei und zur weiteren Ausbildung der vorhanden Gärtnerlehrlinge haben wir einen sehr zuverlässigen Gartenmeister anstellen können.“431 Nach Auskunft eines Mitbruders erhielt der Gärtnermeister eine Gefängnisstrafe und trat später aus dem Salesianer-Orden aus. Er sei ein sehr umgänglicher Mensch gewesen, der seinen Mitbrüdern immer half und auf Festen für Stimmung sorgte. Zumindest innerhalb der Schulabteilung hätten keine Gerüchte über etwaige sexuelle Verfehlungen kursiert.432 Dieser Vorfall wird auch das Verhältnis des Jugendheims Marienhausen zum hessischen Landesjugendamt beeinflusst haben, das, wie weiter oben bereits dargelegt, schon früh Reformen innerhalb der Heim­erziehung anmahnte und die Besichtigung der Heime zu konkreten Verbesserungsvorschlägen nutzte.433 Dementsprechend stand die Aulhauser Einrichtung schon grundsätzlich unter kritischer Beobachtung der Behörde. So wurde nachfolgend des Öfteren festgehalten, dass die in Marienhausen durchgeführten baulichen Modernisierungen zwar die Gruppen aufgelockert und teilweise für eine wohnlichere Atmosphäre gesorgt hätten, aber in pädagogischen Fragen keine Modernisierungsbemühungen unternommen würden. Gerade die Förderung der „Zöglinge“ der Lehrlingsabteilung in der Berufsausbildung – hier würden etwa die Wünsche der Jungen nicht berücksichtigt, was zwangsläufig zu Entweichungen führe – wie auch in der Freizeit galt als unzureichend. Zudem sei „die Atmosphäre des Hauses […] dadurch 429 430 431 432 433

Anklageschrift des Amtsgerichts Wiesbaden v. 17. Febr. 1967, in: DAL, 458 B/2. Generalvikar an Marienhauser Direktor v. 15. März 1967, in: ebd. Marienhauser Direktor an das Limburger Ordinariat v. 22. März 1967, in: ebd. Interview Robert M. Vgl. Kapitel „Von der Anstalt zum Heim?“

marienhausen und der fall jürgen bartsch

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stark geprägt, daß ausschließlich männliche Mitarbeiter die Ausgestaltung des Heimes und den Tagesablauf bestimmen“.434 Letztlich stand während der gesamten 1960er Jahre auch die Qualifikation der Erziehenden im Zentrum der Kritik. 1970 waren neben 24 Salesianern 15 weltliche männliche Mitarbeiter im Haus tätig. Von den 20 im pädagogischen Bereich beschäftigten Kräften besaßen 2 eine akademische, vermutlich theologische und 2 keine abgeschlossene Ausbildung, 10 waren Lehrer, 4 Sozialarbeiter und 2 Heimerzieher. Unter den 15 Arbeitserziehern befanden sich 8 Meister, 3 Gesellen und 4 unausgebildete Mitabeiter.435 Im November 1972 hieß es hinsichtlich des bei einer Besichtigung Marienhausens durch das Landesjugendamt gewonnenen Gesamteindrucks, dass „trotz aller Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen […] der Anstaltscharakter erhalten geblieben [sei]. Moderne Erkenntnisse der Heimpädagogik sind offenbar noch nicht in das Bewusstsein der Erzieher gelangt. Die fachliche Besetzung der Gruppen ist unhaltbar.“436 Diese Einschätzung dürfte sich auf beide Heimbereiche bezogen haben.

Marienhausen und der Fall Jürgen Bartsch 1971 gerieten durch den Fall Jürgen Bartsch Pater Pütz und die während der 1950/60er Jahre im Jugendheim Marienhausen herrschenden Verhältnisse in den Fokus der Öffentlichkeit. Ohne den Fall hier detailliert nachzuzeichnen oder den teilweise schweren Anschuldigungen im Einzelnen nachzugehen437, sollen doch die deutlichen Hinweise auf die im Haus bestehenden Strukturen und Erziehungsmethoden herausge434 435

436 437

LJA an das Hamburger Jugendamt v. 29. Mai 1962, in: HHStAW, Abt. 561 Nr. 1188. Fragebogen für den Verband katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik mit Stand v. 1. Aug. 1970, in: ASDB, Marienhausen Nr. 16. Aktenvermerk des LJA v. 27. Nov. 1972, in: HHStAW, Abt. 561 Nr. 1188. Zum Fall Jürgen Bartsch: Paul Moor, Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch, Frankfurt a. M. 1972; ders., Jürgen Bartsch: Opfer und Täter. Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen, San Francisco 1991; Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a. M. 1983. Die Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum Marienhausens, die durchaus qualifizierte Beiträge enthält und hier schon mehrfach zitiert wurde, ging 1989 an keiner Stelle auf den Fall Jürgen Bartsch ein, worauf bereits kritisch hingewiesen wurde. (Vgl. Andreas Henkelmann, Ordensgeschichte und die Diskussion um die Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Anmerkungen anlässlich einer neuen Studie aus den Niederlanden, in: Wissenschaft und Weisheit 73/2 (2010), S. 302.

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hoben werden, um das Bild der Einrichtung zu präzisieren und die unterschiedlichen Sichtweisen der Beteiligten aufzuzeigen. Der 1946 in Essen unehelich geborene Jürgen Bartsch kam bald nach seiner Geburt zu einem Fleischer-Ehepaar, das ihn später auch adoptierte, und wuchs in Velbert-Langenberg auf. 1958 gaben ihn die Eltern nach Aulhausen, wo er zwei Jahre blieb. Danach machte er eine Fleischerlehre und arbeitete im elterlichen Betrieb. Seine pädosexuellen Neigungen wurden immer ausgeprägter, und zwischen 1962 und 1966 missbrauchte und tötete er vier Jungen auf sadistische Weise. 1967 zunächst vom Wuppertaler Landgericht zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, wurde das Urteil 1971 in einem Revisionsprozess vor dem Düsseldorfer Landgericht in eine zehnjährige Jugendstrafe und Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung umgewandelt. Während der von ihm beantragten Kastration starb Jürgen Bartsch 1976 wegen eines Narkosefehlers. Im Revisionsprozess erhob Jürgen Bartsch, unterstützt von vier ehemaligen Schülern des Jugendheims Marienhausen als Zeugen, schwere Vorwürfe gegen das Heim und im Besonderen gegen Pater Pütz, die er mitverantwortlich für seine Entwicklung sah. Diese wurden im 1972 erschienenen Buch von Paul Moor, der seit 1968 in Briefkontakt mit Bartsch stand und auf dieser Grundlage ein Selbstporträt des Kindermörders zeichnete, nochmals plastisch dargestellt. In den Briefen beschrieb Bartsch Marienhausen als Heim, in dem „Angst, Not und Sadismus“ vorherrschten.438 An anderer Stelle sprach er von einer „Hölle, wenn auch eine katholische, das macht sie nicht besser. […] Stete Schlägerei im Priesterrock, ob nun in der Schule, beim Chor oder, auch da machte man sich nichts daraus, in der Kirche“. Auch sonst seien die Strafen sadistisch gewesen, und die während der Ernte zu leistende Arbeit sah er als „verbotene Kinderarbeit“. Schließlich hob er „die gnadenlose Verteufelung der (für die Entwicklung notwendigen!) ach so bösen ‚Schweinereien‘ unter Jungen, das unnatürliche ‚Silentium‘ beim Essen, ab bestimmter Uhrzeit usw. und die verwirrenden, unnatürlichen Sprüche gegenüber Kindern, etwa: ‚Wer eines unserer Küchenmädchen nur anschaut, bekommt Prügel!‘“ hervor. Gerade die rigiden Sexualvorstellungen hätten häufig im Mittelpunkt gestanden. Die Mahlzeiten bezeichnete Jürgen Bartsch als „Gefängnisessen“. Auch sei strikt untersagt gewesen, untereinander Freundschaften aufzubauen.439 438 439

Moor, Selbstporträt, S. 100. Ebd., S. 105, 109 u. 111. Ein Teil der Anschuldigungen bestätigte Ralf L. in seinen Erinnerungen, der zur gleichen Zeit wie Jürgen Bartsch in Marienhausen war. So

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Noch schwerwiegender waren die Anschuldigungen gegen Pater Pütz hinsichtlich sexuellen Missbrauchs. Jürgen Bartsch leistete wie andere Jungen auch den Patres während der von ihnen allein frühmorgens zu lesenden Messen Ministrantendienste. Während er dann auf der Empore auf den später beginnenden Hauptgottesdienst für alle Schüler wartete, soll der Pater ihn sechs bis sieben Mal unsittlich berührt haben. Während eines Ferienlagers in der Eifel, das Pater Pütz leitete und an dem Bartsch, nachdem der Pater seine Eltern überredet hatte, eigentlich gegen seine Willen teilnahm, sei es dann zu sexuellen Handlungen gekommen. Bartsch, der wegen eines plötzlichen hohen Fiebers im Zimmer des in einem Gasthaus übernachtenden Paters gebracht worden war, hätte sich demnach in das Bett des Paters legen und mit ihm gegenseitig onanieren müssen.440 Schließlich erklärte Jürgen Bartsch, dass er für Pater Pütz, obwohl er ihn verabscheute, „wie alle anderen Jungs in Marienhausen […] eine Art widerwillige Verehrung […] empfunden habe. Das ging uns aber allen so. Durch seine persönliche Robustheit ragte er irgendwie aus der Reihe der anderen Erzieher. Aber es ist kein einziges Mal vorgekommen, daß PaPü jemanden lobte. Das gab es einfach nicht.“441 Nachdem die vier anderen ehemaligen Schüler vor Gericht viele der Anschuldigungen von Jürgen Bartsch bestätigten, stand das Jugendheim Marienhausen wie auch die Ordensgemeinschaft der Salesianer massiv auch in der öffentlichen Kritik. Daher rief der Provinzial der Norddeutschen Provinz der Gemeinschaft, zu der auch die Einrichtung in Aulhausen zählte, unmittelbar nach der Urteilsverkündigung im Revisionsprozess gegen Bartsch die Mitbrüder auf, sich mit „Stellungsnahmen zur Person Pater Pütz oder zur Niederlassung Marienhausen sehr vorsichtig“ zu verhalten. Gleichzeitig wurde über dpa und das Deutsche Fernsehen eine Verlautbarung veröffentlicht. Darin teilte die Provinzleitung mit, dass „bis zur Klärung der Vorwürfe P. Pütz von allen Aufgaben beurlaubt [wurde], die das Erziehungs- und Schul-

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hätte Pater Pütz etwa auch während der Gottesdienste von der Orgelempore aus mit schweren Gebetbüchern auf vermeintlich die Messfeier störende Jungen geworfen. Andere Gegebenheiten wie die häufigen sexuellen Handlungen der Jungen untereinander hatte er so nicht erlebt, obwohl er sich an einen Fall erinnerte, bei dem zwei Jungen nachts auf der Toilette bei homosexuellen Vorgängen angetroffen und anschließend umgehend aus dem Heim entlassen worden waren. Auch empfand er die Arbeiten in der Landwirtschaft und im Garten eher als willkommene Abwechselung, zumal seine Eltern eine Gärtnerei betrieben. Moor, Selbstporträt, S. 120 und 199. Ebd., S. 124.

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wesen innerhalb und außerhalb des Heimes betreffen“. Pater Pütz bestritt nach wie vor die Vorwürfe, und der Provinzial kündigte an, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Bartsch Pater Pütz erst im zweiten Prozess belastet hatte und sich auch von Seiten der Heimaufsicht keine Beanstandungen gegen ihn ergeben hätten, selbst „eine Untersuchung durchzuführen, die so sorgfältig und gewissenhaft wie möglich alle Vorgänge umfassend überprüfen“ würde.442 Immerhin räumten „der Direktor des Jugendheimes und auch die Mitbrüder von Pater Pütz“ bereits jetzt ein, „daß er nicht unbedingt der beste Erzieher des Hauses gewesen sei“, um dann fortzufahren, dass er „jedoch bei vielen, die in den letzten 20 Jahren als Jungen im Heim waren, in hohem Ansehen“ stand. „Zu beanstanden gewesen seien allerdings seine Strafen durch Ohrfeigen, die jedoch mit Sadismus nicht das geringste zu tun hatten.“443 Im Zuge der Untersuchung der Vorwürfe durch die Provinzleitung wurden Ordensmitglieder befragt, die mit Pater Pütz zusammengearbeitet hatten.444 Zudem führte die Ehemaligen-Vereinigung der Salesianer unter ehemaligen Schülern Marienhausens eine Fragebogen-Aktion durch, in der sie hinsichtlich der konkreten Anschuldigungen gegen Pater Pütz ihre eigenen Erfahrungen wiedergeben sollten.445 Letztlich hielten sie ihn für einen strengen, teilweise auch harten, aber gerechten wie manchmal netten Erzieher. Sexuelle Verfehlungen hatte keiner erlebt oder beobachtet. So blieb das Bild zwar ambivalent, hinderte aber die Hausleitung – offenbar auch auf Drängen vieler Eltern – nicht daran, Pater Pütz mit Zustimmung des Schulrats mit Beginn des Schul442

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Provinzial vermutlich an den Direktor Marienhausens o. D. und Stellungsnahme v. 7. April 1971, in: ASDB, Marienhausen Nr. 2. Wenig später recherchierte Jürgen Roth versteckt für seinen WDR-Hörfunk-Beitrag „Heimreport“ in Marienhausen, ohne dass das Haus in der Reportage genannt wurde. Eltern heimlich interview­ter Kinder waren gerichtlich gegen eine Ausstrahlung vorgegangen. (Schilderung der Vorgänge durch den Marienhauser Direktor an den DCV v. 3. Juni 1971, in: ebd. Nr. 12) „Rätsel im Prozeß Bartsch“, in: Der Sonntag. Kirchenzeitung für das Bistum Limburg, Nr. 16 v. 18. April 1971. Interview Robert M. Er selbst erklärte damals, dass er sich für die Zeit seiner Assis­ tenz in der Klasse von Pater Pütz (1963/64) an eine Situation erinnerte, die ihn zum Nachdenken gebracht hätte. Dabei hatte ihn ein Junge, der am anderen Morgen bei Pater Pütz ministrieren sollte, gebeten, dies nicht machen zu müssen, da Pater Pütz ihm offenbar des Öfteren zu nahe gekommen war. Er schickte den Jungen dann nicht zum Ministrieren. Danach hätte er zwar das Gespräch mit einem jüngeren Pater gesucht, ohne dass es zu einer Reaktion gekommen sei. Die Antworten befinden sich im Provinzarchiv in München.

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jahrs 1971/72 wieder in Dienst zu stellen.446 Allerdings drängte die Bistumsleitung darauf, ihn nicht wieder in der direkten Internatserziehung einzusetzen, zumal noch ein gerichtliches Nachspiel zu erwarten war. Daher erteilte er nur noch zur Aushilfe Unterricht, ohne jedoch „im Speisesaal und in der Lernzeit“ eingesetzt zu werden.447 Das 1972 gegen Pater Pütz eingeleitetes Verfahren wegen Unzucht mit Kindern, Unzucht mit Abhängigen, Unzucht zwischen Männern sowie Körperverletzung wurde im Sommer mangels hinreichenden Tatverdachts bzw. Verjährung eingestellt. Von einem 1976 angestrengten Verfahren wegen Meineids wurde er freigesprochen.448 1972 verließ Pater Pütz das Jugendheim Marienhausen und wirkte zwei Jahre als Seelsorger in einem Altenheim in Meckenheim, um sich danach bis 1985 als Missionsbeauftragter der Norddeutschen Ordensprovinz zu betätigen. 1986 starb er in Meckenheim.

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Marienhauser Direktor an das Limburger Ordinariat v. 18. Nov. 1971, in: ASDB, Marienhausen Nr. 7. Protokoll der Hausobernkonferenz v. 22. Jan. 1972, in: ebd. Nr. 42. Gerichtsbescheide in Kopie in Marienhausen.

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Ausblick Im Jugendheim Marienhausen wurden wie beschrieben seit 1972 mit der Aufgabe der Lehrlingsabteilung nur noch Jungen betreut, die wie in einem Internat die Hauptschule des Hauses besuchten. Damit verbunden war die Übergabe der Landwirtschaft, die bis dahin eine zentrale Bedeutung für das Heim besessen hatte, an das St. Vincenzstift. Allerdings standen weiterhin die Werkstätten mit ihren Meistern und Gesellen zur Verfügung, in denen Jugendliche, die auch nach ihrer Schulzeit im Haus bleiben wollten, eine Ausbildung machen konnten. Neben weiteren Umbau- und Renovierungsmaßnahmen, die etwa im alten Schulgebäude die Einrichtung weiterer Gruppenräumlichkeiten ermög­ lichten, fanden wesentliche Veränderungen im personellen Bereich statt. So gelangten – auch in Anbetracht des Mangels an Patres und Ordensbrüdern – verstärkt weltliche Mitarbeiter in den Schul- und Heimbereich. Jedoch nahm die Belegung des Hauses weiter ab. Die Gründe beruhten vermutlich auf verschiedenen Ursachen: Es mag sein, dass sich das Medienecho im Zusammenhang mit dem Bartsch-Prozess negativ ausgewirkt hatte. Aber ebenso belegten die Jugend- und Sozialämter die Heime zunehmend möglichst nach regionalen Gesichtspunkten, was dem traditionellen, hauptsächlich in NRW, Rheinland-Pfalz und dem Saarland gelegenen Einzugsgebiet Marienhausens widersprach. Schließlich wird in Anbetracht der weiterhin vorhandenen Erziehungspraxis und unzureichenden Qualifikation vieler Mitarbeiter die Nachfrage nach dem im Haus vertretenen pädagogischen Konzept nachgelassen haben. Jedenfalls wurden Anfang der 1980er Jahre die Internatsformen aufgegeben und dafür Strukturen der Erziehungshilfe wieder stark gemacht. Dies bedeutete, dass die Schüler auch in der Einrichtung wohnten und u. U. dort nach dem Schulabschluss auch eine Ausbildung machten. Allerdings blieben traditionelle Aspekte wie die Verpflegung über die Zentralküche in den Speisesälen als auch der Erziehungsmethoden zunächst erhalten. Letztlich sahen die Salesianer für ihr Engagement in Marienhausen keine nachhaltige Perspektive mehr und lösten 1991 die Niederlassung auf. Das Jugendheim wurde schließlich von der Stiftung St. Vincenzstift übernommen und entwickelte sich zu einer differenzierten und dezentralen Jugendhilfeeinrichtung.

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Zusammenfassung Sowohl das St. Vincenzstift als auch das Knabenheim Marienhausen standen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor einem Neuanfang, da die Bewohner und das Personal der Anstalten 1938/39 im Zuge der „Entkonfessionalisierung“ durch den NS-Staat weitgehend die Häuser hatten verlassen müssen. Beide Einrichtungen knüpften dabei unter der erneuten Oberaufsicht des Limburger Ordinariats wieder an die zum Teil seit dem Kaiserreich ausgeprägten traditionellen Strukturen an, was sich allein schon an den personellen Kontinuitäten festmachen ließ. So betreuten wiederum maßgeblich die Dernbacher Schwestern die Bewohner der „Bildungs- und Pflegeanstalt für schwachbegabte und seelisch abnorme Kinder und Jugendliche“, wie das Stift bezeichnet wurde, und die Salesianer Don Boscos leiteten erneut das Marienhauser Erziehungsheim für Jungen mit einer eigenen Volksschule und einer Lehrlingsabteilung. Unter schwierigen wirtschaftlichen Voraussetzungen konnten jedoch die durch die Fremdbelegungen erlittenen Verluste nur langsam ausgeglichen werden, zumal die staatlicherseits gezahlten Pflegesätze bis in die 1960er Jahre unzureichend blieben. Große Bedeutung kam daher nach wie vor der landwirtschaftlichen Eigenversorgung zu, die nur durch die Mitarbeit der Bewohner erfolgreich betrieben werden konnte. Insgesamt gestalteten sich die Verhältnisse in beiden Häusern äußerst einfach. Bis Anfang der 1950er Jahre erreichte das St. Vincenzstift unter Direktor Hannappel mit ca. 400 Bewohnern – darunter wie in der Heimerziehung ca. ein Drittel Mädchen und zwei Drittel Jungen – eine Belegung, die in etwa auch während der nachfolgenden zwei Jahrzehnte Bestand hatte. Sie kamen aus Hessen, aber auch in nicht unbeträchtlicher Anzahl aus dem Rheinland, aus Rheinland-Pfalz sowie dem Saarland und lebten bis auf jeweils eine Pflegegruppe für stärker behinderte Mädchen und Jungen auf Wohngruppen mit teilweise mehr als 40 Plätzen. Direktor Müller, der 1957 seinem verstorbenen Vorgänger nachfolgte, begann mit den dringend erforderlichen Modernisierungen, wobei die finanzielle Unterstützung durch die Diözese Limburg lange Zeit begrenzt blieb. Bei den Maßnahmen stand vor allem die Verkleinerung der Gruppen im Mittelpunkt, was ihm im Lauf der 1960er Jahre schrittweise gelang. Aber auch noch am Ende dieses Jahrzehnts waren teilweise um die 30 Bewohner auf den Gruppen. Neben dem grundsätzlichen Bedarf an Anstaltsplätzen für Menschen mit einer geistigen Behinderung spielte die spezielle Ausrichtung

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des Hauses eine maßgebliche Rolle für die meist vollständige Auslastung. Denn das Stift agierte an der Schnittstelle von „SchwachsinnigenFürsorge“ und Jugendfürsorge bzw. Heimerziehung. Voraussetzung für die Aufnahme der Mädchen und Jungen war die Diagnose „Schwachsinn“, die zuvor von einem Amtsarzt oder einer begutachtenden psy­ chia­trischen Klinik wie in Bonn oder Andernach im Rahmen der damals bestehenden psychiatrisch-medizinischen Sichtweise von geistiger Behinderung gestellt worden war. Dabei spielte des Öfteren weniger eine tatsächliche intellektuelle Leistungsminderung, sondern ein Ursachenbündel von Erziehungsschwierigkeit, Verhaltensauffälligkeit und schulischen Problemen die entscheidende Rolle für die ärztliche Beurteilung. Wie für eine vergleichbare Einrichtung festgestellt, war letztlich auch bei der diagnostischen Beurteilung von Bewohnern des St. Vincentsifts „auffälliges, normabweichendes Verhalten […] in den Grenzbereich von Erziehungsproblemen, psychischer Krankheit und geistiger Behinderung“ gerückt worden.449 So kann es nicht verwundern, dass neben ehemaligen Bewohnern auch im Lauf der 1960er Jahre neu ins Stift gekommene Mitarbeiter im Rückblick eine größere Anzahl von Fehlplatzierungen konstatierten. Vermutlich durch den Betreuungsschwerpunkt des Stifts war die Nachfrage nach Plätzen sehr groß, das Haus stets voll belegt und die Warteliste bei einer Verweildauer von fünf bis zehn Jahren Mitte der 1960er Jahre – also deutlich höher als in der Heimerziehung – lang. Daher mussten viele Anfragen der Jugendbehörden gerade auch für besonders erziehungsschwierig oder verhaltensauffällig geltende Kinder und Jugendliche abgelehnt werden, was teilweise zu Konflikten führte. Dabei positionierte sich die Hausleitung immer deutlicher in Richtung Behindertenhilfe. Gerade gegenüber den aus schwierigen familiären Verhältnissen stammenden verhaltensauffälligen Bewohnern vertrat Direktor Müller eine strenge, weitgehend auf das Haus beschränkte Erziehungspraxis. Zwischen 1946 und Ende 1970 wurden unter diesen Bedingungen insgesamt 1.652 Mädchen und Jungen im Stift aufgenommen. Eigene diagnostische und therapeutische Aktivitäten wurden im St. Vincenzstift zumindest bis Ende der 1960er Jahre eher selten unternommen, zumal die Anstaltsärzte etwa im Gegensatz zum Franz Sales Haus in Essen nur nebenamtlich beschäftigt und daher nur stundenweise im Haus tätig waren. So beschränkten sich ihre Bemühungen 449

Schmuhl/Winkler, Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, S. 211.

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etwa durch regelmäßige Reihenuntersuchungen eher auf die Erkennung körperlicher Erkrankungen. Dennoch beeinflussten die Ärzte durch ihre jährlichen Berichte an die zuständigen staatlichen Stellen den weiteren Werdegang der Bewohner, also ihren Verbleib, die Entlassung oder die Verlegung in eine andere Einrichtung, in großem Maß. Der traditionelle pädagogische Schwerpunkt der Betreuungsarbeit im St. Vincenzstift zeigte sich besonders in der Bedeutung der anstaltseigenen Sonderschule. Die von Schulschwestern wie weltlichen Lehrkräften durchgeführte schulische Förderung der Kinder und Jugendlichen blieb daher zentraler Bestandteil der Bemühungen. Allerdings stellten sich Mitte der 1950er Jahre durch die vermehrte Beschäftigung weltlichen Personals massive Probleme bei der Unterhaltung des Schulbetriebs ein, da staatliche Zuschüsse für die als Privatschule betrachtete Einrichtung nur bedingt gewährt, die staatlichen Instanzen hier also nur unzureichend ihrer Verantwortung gerecht wurden. Nach langen Auseinandersetzungen übernahm das Land Hessen schließlich für eine Reihe von Lehrerstellen die Kosten. Damit verbunden war eine noch klarere Verankerung der staatlichen Vorgaben im Schulbetrieb. Immerhin entwickelte die Sonderschule des Stifts eine Art Pioniercharakter für die Unterrichtung von Menschen mit einer geistigen Behinderung, indem bis Anfang der 1960er Jahre unter dem neuen Schulrektor Königstein die Trennung in die Bereiche für Lernbehinderte und für schwerer Behinderte, so genannte „Praktisch Bildbare“, vorgenommen wurde. Auch fand eine besondere Förderung für Jungen und Mädchen mit einer Sprachstörung statt, was jedoch nach Aussage ehemaliger Bewoher nicht in ausreichendem Maß für stärkere Schüler zutraf. Wenn auch das Land Hessen bei der schulischen Förderung von Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Vorreiterrolle einnahm, müssen doch ebenso die vergleichsweise innovativen Aktivitäten der Aulhauser Sonderschule hervorgehoben werden. Für die Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Wohnbereich des St. Vincenzstifts spielten die Dernbacher Schwestern die entscheidende Rolle. Sie hatten bis auf den Bereich der älteren Jungen – hier waren männliche Erzieher maßgeblich – meist die Gruppenleitungen inne und wurden von weltlichen Erzieherinnen unterstützt. Nachdem das Mutterhaus in den 1950er Jahren nur unzureichend in der Lage war, für das St. Vinzenstift genügend Schwestern zur Verfügung zu stellen, konnte ihre Zahl im Lauf der 1960er Jahre trotz Nachwuchsmangels der Ordensgemeinschaften von gut 15 deutlich auf 25 Schwestern erhöht werden. Die Qualifikation der meisten in der Gruppen-

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betreuung tätigen Schwestern bestand entweder in einer Ausbildung zur Krankenpflegerin oder zur Erzieherin. Dies war der Ausrichtung des Hauses angepasst und entsprach zusächst den allgemeinen Standards. Allerdings erkannte die Hausleitung, dass gerade Personal mit einer heim-/heilpädagogischen Qualifikation fehlte, was zudem seit Anfang der 1960er Jahre auch vom Landesjugendamt moniert wurde. Daher blieb es schwierig, den angestrebten Wandel von der Anstalt zum Heim wirklich nachhaltig umzusetzen. Gerade Direktor Müller war hier engagiert, und mit hausinternen Fortbildungen und seit dem Ende der 1960er Jahre durch die Einrichtung eines eigenen Seminars für Heilerziehungshelferinnen konnten langsam Fortschritte erzielt werden. Nun gelang es auch, vermehrt weltliche Erzieherinnen zu rekrutieren. Insgesamt herrschte gerade auf den Gruppen der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen eine unter Schwestern wie weltlichen Kräften verbreitete Erziehungspraxis, die sich trotz der von den Schwestern in den ordeninternen Leitlinien geforderten Mütterlichkeit, Geborgenheit oder Geduld, wie in der damaligen Pädagogik verbreitet, eher an den Defiziten der Minderjährigen orientierte. In Kombination mit dem besonderen Stellenwert, der der religiösen Erziehung im Zuge eines klösterlichen Erziehungsstils zugemessen wurde und dem die Bewohner kaum gerecht werden konnten, entstand auch eine Perspektive moralischer Minderwertigkeit. Die auch innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft anerkannten Sekundärtugenden Ordnung, Reinlichkeit, Gehorsam und Arbeitsamkeit galten als die entscheidenden Kriterien einer erfolgreichen Erziehung der Bewohner zu gesitteten, religiösen und in der Gesellschaft nützlichen Menschen, wobei Abweichungen nicht toleriert wurden. Hinzu kamen ebenfalls weit verbreitete rigide Sexualvorstellungen, die jedoch durch die eigene Ordenprägung verschärft worden sein dürften. Auf den Haus-Alltag wirkte sich diese Sichtweise durch große Strenge, körperliche Züchtigungen und auch andere, zum Teil demütigende Strafen, durch eine als unzureichend empfundene Förderung auf den Gruppen, weitgehende Geschlechtertrennung auch in den Schulpausen und der Freizeit sowie nicht selten harte eintönige Arbeit aus. Gerade die Mädchen mussten sich schon früh neben der Schule intensiv im hauswirtschaftlichen Bereich betätigen. Wie sie erhielten auch die schulentlassenen Jungen kaum eine Lehrausbildung, sondern arbeiteten kostengünstig in den Werkstätten und der Landwirtschaft der Anstalt. Die Gruppen, in denen die Bedingungen sowohl durch die Bemühungen der Erziehenden als auch die Zusammensetzung der Bewohner

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durchaus unterschiedlich sein konnten, waren relativ autonom. Innerhalb dieser Abgeschlossenheit kam es auch zu Misshandlungen. Zudem hat Direktor Müller seine Position als Geistlicher und Respektsperson nicht nur zu sexuellem Umgang mit Mitarbeiterinnen, sondern auch zu sexualisierter Gewalt gegenüber Mädchen und Jungen des Hauses missbraucht. Ehemalige Bewohner berichteten daher von einer im St. Vincenzstift erlebten Atmosphäre, die von großer Angst geprägt war. Diesem Bild widerspricht nicht der vielleicht auf den ersten Blick befremdliche Umstand, dass der Direktor seit 1961 als Vorsitzender des „Verbandes katholischer Anstalten Deutschlands für Geistesschwache“ fungierte und auf dem Feld der Behindertenhilfe eine pädagogische Reformorientierung bewies. So heißt in einer kriminalistischen Bewertung zum Missbrauch Direktor Müllers, dass er „sicherlich in seinem beruflichen Wirken anerkannt und erfolgreich gewesen sein [dürfte]. Es ist bei derart disponierten Tätern üblich, sich öffentliche Anerkennung zu verschaffen. Sie vermittelt ihnen Sicherheit und minimiert das Risiko, sich strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Ebenso verstehen sie sehr geschickt, sich als Opfer vermeintlicher Angriffe darzustellen.“ Da zum damaligen Zeitpunkt sexueller Missbrauch ein „absolutes Tabu war“, wurde die „Glaubwürdigkeit von kindlichen Opfern/Zeugen […] oftmals infrage gestellt“.450 Das Knaben- bzw. Jugendheim Marienhausen hatte in den ersten Nachkriegsjahren Schwierigkeiten, auf Basis der salesianischen Erziehungstradition den Anforderungen der Betreuung erziehungsschwieriger Jungen gerecht zu werden. Dies führte zu einer strikten Trennung des Bereichs der Schüler, in dem außerdem in den nachfolgenden Jahren vermehrt private Aufnahmen von Jungen mit Schul- oder familiären Problemen stattfanden und eine Art Internatsbetrieb entstand, vom Lehrlingsabteilung genannten Bereich der Schulentlassenen, der weiterhin hauptsächlich FE- und FEH-Fälle umfasste. Ab Mitte der 1950er Jahre lebten ca. 240 Jungen im Haus – davon lange Zeit rund 60 auf der Lehrlingsabteilung –, die weitgehend von etwa 25 Salesianern erzieherisch betreut wurden. Die mangelhaften räumlichen Verhältnisse versuchte die Hausleitung zu verbessern, indem zunächst Anfang der 1960er Jahre die Lehrlingsabteilung einen Neubau erhielt sowie die Werkstätten modernisiert wurden. Einige Jahre später wurde dann ein neues Schulgebäude errichtet. Nun war es möglich, den ein450

Gudrun Schramm-Arntzen, Kriminalhauptkommissarin a. D. und Mitglied der Bischöflichen Kommission für „sexuellen Missbrauch durch Geistliche“ in der Diözese Münster, an die Leitung des St. Vincenzstifts v. 24. Jan. 2010.

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zelnen Schulklassen, denen bislang auch in der Freizeit nur die Klassenräume zur Verfügung standen, separate, jedoch immer noch unzureichende und sehr einfache Gruppenräume zuzuordnen. Das Bistum Limburg beteiligte sich dabei maßgeblich an der Finanzierung der Verbesserungsmaßnahmen. Insgesamt vollzog sich die Modernisierung eher schleppend. Auch in Marienhausen prägten ein strenger Ordnungsrahmen, der teilweise als militärischer Drill erinnert wurde, körperliche Züchtigungen und andere zum Teil demütigende Strafen den Heim- und Schulalltag. Ebenso blieben das häufig geforderte Stillschweigen und die engen Sexualvorstellungen der Salesianer in den Erinnerungen ehemaliger Schüler, die durchaus auch über eigene schulische Erfolge berichteten, und „Zöglinge“ haften. In unterschiedlicher Wahrnehmung kam es in beiden Hausbereichen zu sexuellen Handlungen unter den Jungen, und zumindest in einem Fall wurde zudem auch der sexuelle Missbrauch eines Bruders gerichtlich geahndet. Der Bereich der schulentlassenen Jungen geriet darüber hinaus seit dem Ende der 1940er Jahre immer wieder in Anbetracht bekannt gewordener Misshandlungen durch Salesianer auch in den Blick des hessischen Landesjugendamts und wurde in den 1960er Jahren von der Behörde vor allem auf Grund fehlender pädagogischer Weiterentwicklungen zunehmend kritisiert. Letztlich kam es zu einer spürbaren Minderbelegung, sodass die Ordensgemeinschaft dieses Betreuungsfeld aufgab. Zur gleichen Zeit war das Jugendheim im Zusammenhang mit dem Fall Jürgen Bartsch in den öffentlichen Fokus gelangt. Viele der Minderjährigen, die zwischen 1945 und 1970 im St. Vincenzstift und im Jugendheim Marienhausen betreut wurden, dürften die beiden Einrichtungen in Anbetracht dieser skizzierten Bedingungen als „totale Institutionen“ erlebt haben. Hierzu zählten eine lückenlose Kontrolle, weitgehend begrenzte Kontakte zur Außenwelt, stark autoritäre Strukturen, eingeschränkte Rechte sowie häufige Strafen und Demütigungen bis hin zu Misshandlungen. Ebenso wurde die religiöse Erziehung mit lange Zeit täglichen Gottesdiensten, häufigen Gebeten und Andachten sowie regelmäßigen Beichten bei im Haus tätigen Geistlichen als Zwang empfunden. Die konstatierten Auswüchse waren zwar vermutlich bis zu einem gewissen Grad auch durch die Überforderung vieler Erziehender wegen der geforderten Gewährleistung der Betriebsabläufe unter schwierigen räumlichen Verhältnissen bedingt – so waren trotz durchgeführter Verkleinerungen die Gruppen weiterhin zu groß. Aber in ihrer Spitze spielten offenbar auch die besonders

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negative Sichtweise der Bewohner und „Heimzöglinge“ wie auch die besonderen Persönlichkeitsmerkmale einzelner Mitarbeiter eine entscheidende Rolle. Hinzu kam die extreme Abgeschlossenheit der Gruppen innerhalb des Anstalts- bzw. Heimkosmos wie auch der gesamten Einrichtungen zur Außenwelt, die solche Handlungen begünstigt haben. Vor diesem Hintergrund konnte von Sozial- und Binnenkontrolle sowie interner Aufsicht, so sie denn tatsächlich gewollt war, kaum die Rede sein. Aber auch die staatliche Heimaufsicht durch das Landesjugendamt blieb letztlich ungenügend. Allerdings ist es aus quellenkritischer Sicht schwierig, ein ausgewogenes, aus zahlreichen Facetten bestehendes Gesamtbild der Lebenswelt beider Einrichtungen zu zeichnen. Denn sowohl in den Erinnerungen vieler ehemaliger Bewohner, Schüler, „Zöglinge“ und Mitarbeiter als auch in der heutigen Wahrnehmung überschatten die offenkundigen Extremfälle von Misshandlungen, Demütigungen und sexualisierter Gewalt die oftmals gute, im historischen Kontext einzuordnende Betreuungsarbeit, die eben auch von Schwestern, Patres und Brüdern sowie weltlichen Mitarbeitern geleistet wurde. Diese hing jedoch stark von der Zusammensetzung der Gruppe und von der jeweiligen Erzieherpersönlichkeit ab. So berichtete ein ehemaliger Bewohner des Stifts, dass er sich nicht mehr an den Namen derjenigen Gruppenschwester erinnern könne, die im Gegensatz zu ihrer häufig und brutal schlagenden Vorgängerin deutlich humaner agierte, um dann festzustellen: „Was positiv ist, das vergisst man eher als wie das, was negativ war.“451 Bei den oben skizzierten, oftmals traumatischen Erfahrungen und Empfindungen der interviewten ehemaligen Bewohner des St. Vincenzstifts kamen die erlebte Hilflosigkeit, aber auch Scham und Verletzungen zum Ausdruck. Sie verbanden sich mit dem Gefühl der doppelten Stigmatisierung des Heimkindes wie auch des „Schwachsinnigen“, also letztlich im Rückblick mit der Anfrage, warum sie eigentlich in die Anstalt gekommen waren und welche schulischen und beruflichen Chancen dadurch verbaut wurden. Hier wurde auch den Jugendämtern und den einweisenden Ärzten eine große Mitschuld gegeben. Ebenso hoben sie immer wieder hervor, dass die Vorbereitung auf das Leben nach der Entlassung aus der Einrichtung etwa hinsichtlich sozialer Kompetenzen oder der Fähigkeit, eine Beziehung einzugehen, völlig unzureichend und massive Probleme für den weiteren Lebensweg vorprogrammiert waren. So weisen die für die 1950/60er Jahre beschriebenen Betreu451

Interview Roland K.

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ungsstrukturen mit ihrer Eingebundenheit in den damaligen rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Kontext auf Fehlentwicklungen, die bei den Betroffenen oft bis in die Gegenwart fortwirken.

quellen- und literaturverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis Archive Archiv des St. Vincenzstifts (AStV) Hauschronik Bewohner-Akten Sachakten Schöbinger, Lothar, Analyse einer Institution: Das St. Vincenzstift Aulhausen von seiner Gründung 1893 bis 1995, Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der FH Wiesbaden, vorgelegt 1995 Archiv Marienhausen Fall- und Schüler-Akten Archiv der Deutschen Provinz der Dernacher Schwestern (AADJC) Schwesternchronik St. Vincenzstift „Gebräuchebuch“ Archiv der Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos (ASDB) Niederlassung Marienhausen Archiv des Franz Sales Hauses, Essen Sachakten Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) Landesjugendamt Hessen Staatsanwaltschaft beim Landgericht Wiesbaden: Prozessakten 1938/39 Der Schulrat des Rheingau-Kreises Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen (ALWV) Erziehungshilfe Sondereinrichtungen Archiv des LVR (ALVR) Belegungsbuch Aulhausen seit 1945

Zeitzeugeninterviews (Namen anonymisiert) Interview Klaus J. (17.11.2011) Interview Roland K. (11.04.2011) Interview Ralf L. (11.03.2011) Interview Robert M. (17.05.2011) Interview Claudia O. (04.04.2011) Interview Heinz N. (25.01.2012) Interview Susanne P. (05.04.2011)

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quellen- und literaturverzeichnis

Interview Karsten Q. (23.01.2012) Interview Markus R. (29.09.2010) Interview Georg S. (29.09.2010) Interview Erika T. (01.04.2011) Interview Schwester Hildegard U. (19.04.2011) Interview Günter V. (11.04.2011) Interview Schwester Helga W. (19.04.2011) Interview Ludger X. (10.03.2011) Interview Gerda Y. (29.09.2010) Interview Franz Z. (27.09.2010)

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Bildnachweis Alle Abbildungen stammen aus Beständen des Archivs des St. Vincenzstifts, Rüdesheim-Aulhausen.

abkürzungen

Abkürzungen AADJC Archiv der Deutschen Provinz der Dernacher Schwestern AFET Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag ALVR Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland ALWV Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen ASDB Archiv der Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos AStV Archiv des St. Vincenzstifts Aufl. Auflage Bd. Band Bearb. Bearbeiter BGB Bundesgesetzbuch BGV Bischöfliches Generalvikariat BSHG Bundessozialhilfegesetz bzw. beziehungsweise ca. cirka (ungefähr) DCV Deutscher Caritasverband Ders. Derselbe d. h. das heißt DiCV Diözsancaritasverband Dies. Dieselbe(n) Diss. Dissertation DM Deutsche Mark dpa Deutsche Presseagentur Dr. Doktor Ebd. Ebenda Ev.-Luth. Evangelisch-Lutherisch e. V. eingetragener Verein f. folgende FE Fürsorgeerziehung FEH Freiwillige Erziehungshilfe Hg. Herausgeber HHStAW Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden IQ Intelligenzquotient JWG Jugendwohlfahrtsgesetz LJA Landesjugendamt LVR Landschaftsverband Rheinland LWV Landeswohlfahrtsverband Hessen Nr. Nummer

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abkürzungen

NRW Nordrhein-Westfalen NS Nationalsozialismus o. D. ohne Datum o. O. ohne Ort Prof. Professor Red. Redaktion RJWG Reichsjugendwohlfahrtsgesetz S. Seite u.a. und andere, unter anderen u. U. unter Umständen v. vom Verf. Verfasser Vgl. Vergleiche VKFZG Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte z. B. zum Beispiel zit. n. zitiert nach z. T. zum Teil z. Zt. zur Zeit