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German Pages 269 [272] Year 2005
Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten
Gegenwärtige Antike antike Gegenwarten
Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger
Herausgegeben von Tassilo Schmitt, Winfried Schmitz und Aloys Winterling
R. Oldenbourg Verlag, München 2005
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2005 R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Kraus PrePrint, Landsberg am Lech Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56754-3
Inhalt
Vorwort Die Nabel der Welt. Überlegungen zur Kanonisierung der „panhellenischen" Heiligtümer. Von Peter Funke (Münster)
VII
1
Zur elischen Ethnizität. Von Hans-Joachim Gehrke (Freiburg i. Br.)
17
Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs. Eine Nachlese. Von Christian Meier (München)
49
„Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit"? (Zu Thuk. 2,65,9). Von Peter Spahn (Berlin)
85
Altersklassen in Sparta? Von Winfried Schmitz (Bonn)
105
Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik. Kontrafaktische Überlegungen. Von Wilfried Nippel (Berlin) . . .
127
Tacitus und der Bataveraufstand. Von Dieter Timpe (Würzburg) .
151
Provincia Cilicia. Kilikien im Imperium Romanum von Caesar bis Vespasian. Von Tassilo Schmitt (Bremen)
189
„Öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen Rom. Von Aloys Winterling (Freiburg i. Br.)
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Register
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Vorwort Die Unterscheidung gegenwärtiger Rekonstruktion der antiken Geschichte von den Selbstdeutungen antiker Zeitgenossen bildete ein zentrales Anliegen im wissenschaftlichen Werk Rolf Rilingers. Es war daher kein Zufall, daß auch die Beiträge des Kolloquiums, zu dem sich seine Freunde und Kollegen, sein Lehrer und seine Schüler anläßlich seines 60. Geburtstags am 21. April 2002 in Bielefeld versammelten, trotz ganz unterschiedlicher Themen von einem gemeinsamen Zugang geprägt waren: der Unterscheidung gegenwärtiger Vergangenheit von vergangenen Gegenwarten und damit der Einsicht in die Notwendigkeit von historischer Theorie und methodischer Selbstreflexion bei der Arbeit an der antiken Geschichte. Zweck des Treffens war es, den Wissenschaftler Rilinger zu ehren, und er hat die Anerkennung, die ihm damit zuteil wurde, auch als solche genossen - acht Jahre nach einer Erkrankung, die seine Rolle als Wissenschaftler für immer auf das Zuhören beschränkte. Die Universität Bielefeld, an der Rilinger seit 1981 geforscht und gelehrt hatte, war Ort des Kolloquiums. Seine Atmosphäre war geprägt von gelassener Konzentration auf die Sache einerseits, von gemeinsamer Freundschaft und Sympathie mit dem Geehrten andererseits. Die Qualität der Beiträge und die intensiven Diskussionen legten es nahe, die Ergebnisse gemeinsam zu publizieren. Daß dies in der vorliegenden Form geschehen konnte, ist einem großzügigen Druckkostenzuschuß der Gerda-Henkel-Stiftung zu verdanken. Dank schulden die Herausgeber außerdem Astrid Habenstein, Lars Rohrand, Dirk Schnurbusch und vor allem Fabian Goldbeck, die bei der Vereinheitlichung der Beiträge und bei den Registern große Hilfe geleistet haben. Rolf Rilinger ist im August 2003 verstorben. So ist aus einer Fest- eine Gedenkschrift geworden, die an die Leistungen eines Althistorikers erinnert, der seine Arbeitskraft nur eine viel zu kurze Zeit der Wissenschaft zur Verfugung stellen konnte. Die Herausgeber
Die Nabel der Welt Überlegungen zur Kanonisierung der „panhellenischen" Heiligtümer* Von
Peter Funke Mittelpunkt der bewohnten Erde - der Nabel der Welt - zu sein, das war ein hoher Anspruch und bedurfte der Begründung. Und daher wurde Zeus selbst bemüht, diese herausragende Position, die dem Apollonheiligtum in Delphi zugeschrieben wurde, zu legitimieren. Folgen wir den Darlegungen Strabons, so wußte schon Pindar im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. davon zu berichten, daß Zeus jeweils einen Adler am westlichen und östlichen Ende der Welt habe aufsteigen und aufeinander zufliegen lassen. Unmittelbar über Delphi seien beide zusammengetroffen. Auf diese Weise sei Delphi zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Sinnfälliger Ausdruck dieser mythologischen Überlieferung war ein steinerner, mit zwei Adlern verzierter Omphalos, der im Inneren des Apollontempels aufgestellt war.1 War die exzeptionelle Stellung des delphischen Heiligtums, die mit dieser Erzählung eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht wurde, in der Antike auch unbestritten, so war sie aber dennoch nicht einmalig. Es gab mehrere Nabel der Welt. Es wäre für das antike Griechenland auch eher verwunderlich, wenn nicht auch im Verhältnis der zahllosen griechischen Heiligtümer untereinander Konkurrenz bestanden hätte und der Wettstreit um einen fuhrenden Platz prägend gewesen wäre. Das dürfte in besonderer * Die folgenden Ausführungen basieren auf Forschungen über die politischen Funktionen überregionaler Heiligtümer in der griechischen Staatenwelt, die ich im Rahmen des Münsteraner DFG-Sonderforschungsbereiches 493 „Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients" durchgeführt habe. Ich danke den Teilnehmern des wissenschaftlichen Kolloquiums zu Ehren von Rolf Ritinger sowie den Teilnehmern der Perugianer Konferenz „Elis und Olympia" und insbesondere meinen Mitarbeitern Klaus Freitag, Matthias Haake, Michael Jung und Nikola Moustakis, mit denen ich die hier vorgetragenen Überlegungen ausführlich diskutieren konnte. Eine italienische Fassung erschien in Geographia Antiqua 11, 2002. 1 Strab. 9,3,6; Paus. 10,16,3.
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Weise bei den Heiligtümern der Fall gewesen sein, deren Wirkungskreis sich schon von ihrer Funktion her über einen engeren lokalen Bereich hinaus erstreckte oder zumindest erstrecken konnte - wie vor allem bei den Orakelstätten oder den Heilkulten. Die berühmte Erzählung Herodots über die Befragung der griechischen Orakel durch den Lyderkönig Kroisos vor seinem Kriegszug gegen den Perserkönig Kyros2 ist - ganz unabhängig von der Frage der Authentizität des Berichtes - ein deutlicher Erweis, daß es offenbar ein Ensemble griechischer Orakelstätten gab, die aus einer weitaus größeren Zahl solcher Heiligtümer herausragten und - wenn der Ausdruck erlaubt ist - quasi in der ersten Liga spielten. Neben Delphi waren es zu Kroisos' (oder auch Herodots) Zeit Abai in Phokis und Dodona in Epirus sowie das Amphiaraion und das Trophonion in Boiotien, Branchidai bei Milet und das libysche Zeus-Ammon-Heiligtum in der Wüstenoase Siwah. Um nun das beste Orakel herauszufinden, stellte Kroisos die genannten Orakel auf die Probe und ließ an sie alle die gleiche Frage stellen, deren richtige Antwort nur ihm allein bekannt war. Daß sich Delphi dabei als Gewinner herausstellte, ist zwar signifikant, soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Die bei Herodot überlieferte Liste der Orakel, die Kroisos einer Probe unterziehen ließ, zeigt aber zugleich, wie weitgespannt das Netz dieser Kultorte war, die trotz aller Konkurrenz in gewisser Weise doch auch wieder als zusammengehörig betrachtet wurden. Das verdeutlicht die ebenfalls bei Herodot überlieferte Gründungsgeschichte des Zeus-Orakels von Dodona: Zwei schwarze Tauben seien vom ägyptischen Theben aus nach Libyen beziehungsweise nach Dodona geflogen und hätten dort jeweils die Gründung eines Zeus-Orakels veranlaßt.3 So wurden die beiden berühmten Orakelstätten an den äußersten Enden der griechischen Welt miteinander verbunden. Weiter hätte der Bogen geographisch kaum gespannt werden können, um das Beziehungssystem dieser Heiligtümer zu betonen und damit die räumliche Extension einer kultischen Oikumene in der griechischen Staatenwelt zu beschreiben, die Kroisos dann von seinen Gesandten in alle Richtungen durchstreifen ließ. Diese kultische Oikumene bestand aber eben nicht nur aus der einfachen Summe einer Vielzahl von Tempeln und Kultplätzen, sondern war durch die Existenz einzelner, weit über einen engeren lokalen Bereich 2
Hdt. 1,46-49. Hdt. 2,55. - Vgl. hierzu zuletzt Heinz-Günther Nesselrath, Dodona, Siwa und Herodot. Ein Testfall fur den Vater der Geschichte, MH 56, 1999, 1-14; Reinhold Bichler, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 2000, 174 ff. 3
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hinaus wirksamer Heiligtümer, die auch in der nichtgriechischen Welt in Ansehen standen, in besonderer Weise gekennzeichnet. Nun wird man die herodoteische Aufzählung der von Kroisos befragten Orakel nicht unbedingt als eine vollständige Liste aller damals renommierten Orakelstätten betrachten dürfen. Dennoch ist es auffällig, daß etwa das durch seine reichen archaischen Funde bekannte Heiligtum des Apollon Ptoios in Boiotien ungenannt bleibt;4 auch fehlt im Katalog Herodots das ZeusHeiligtum von Olympia, dessen bedeutende Rolle als Orakel in früharchaischer Zeit Ulrich Sinn herausgearbeitet hat.5 Andererseits werden einige Kultorte aufgeführt, deren Bedeutung als Orakelstätten in späterer Zeit - soweit das aufgrund der Quellenlage zu beurteilen ist - eher gering war. Das Ensemble der besonders angesehenen Orakelstätten war also keineswegs unveränderbar, sondern scheint konjunkturellen Schwankungen unterworfen gewesen zu sein. Das muß auch nicht verwundern, da sich Erfolg und Mißerfolg hier leicht messen ließen - wie die Probe des Kroisos zeigt. Ganz ähnlich dürfte es sich auch im Fall der Heilkulte verhalten haben. Das Renommee der griechischen Orakel- und Heilkulte konnte jedenfalls tiefgreifenden Veränderungen unterliegen und blieb stets von den unterschiedlichsten Wechselfallen und wohl auch Moden abhängig, deren Ursachen und Hintergründe ich hier aber nicht näher analysieren möchte. Statt dessen möchte ich den Blick auf ein anderes Phänomen lenken. Ich habe im Vorangegangenen versucht, in aller Kürze darzulegen, daß sich im Bereich der griechischen Staatenwelt spätestens im 6. Jahrhundert v. Chr. offenbar so etwas wie eine allgemein gültige Vorstellung von einer Rangliste bestimmter überregionaler Heiligtümer herausgebildet hatte, die allerdings - aus welchen Gründen auch immer - durch diachrone Veränderungen gekennzeichnet war. Daneben aber gab es auch eine Gruppe von Heiligtümern, die in der Auffassung der Griechen einen untrennbaren 4
Zur Bedeutung dieser Orakelstätte vgl. John M. Fossey, Topography and Population of Boiotia, 1-2, Chicago 1988, 271-273; Albert Schachter, Cults of Boiotia, Bd. 1: Acheloos to Hera, London 1981, 52-73; ders., Cults of Boiotia, Bd. 3: Potnia to Zeus, London 1994, 11-21; ders., The Politics of Dedication. Two Athenian Dedications of the Sanctuary of Apollo Ptoieus in Boiotia, in: Simon Hornblower, Robin Osborne (Hg.), Ritual, Finance, Politics. Athenian Democratic Accounts. Presented to David M. Lewis, Oxford 1994,291 306. 5 Vgl. Strab. 8,3,30. - Ulrich Sinn, Olympia. Die Stellung der Wettkämpfe im Kult des Zeus Olympios, Nikephoros 4, 1991, 38 ff.; ders., Die Entwicklung des Zeuskultes von Olympia bei Strabo (VIII 3,30 p. 353 f.), in: Anna Maria Biraschi (Hg.), Strabone e la Grecia, Neapel 1994, 153 ff.; Ulrich Sinn, Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike, München 1996, 22 ff.; s.a. schon Herbert W. Parke, The Oracles of Zeus. Dodona, Olympia, Ammon, Oxford 1967, 183 ff.
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und unveränderbaren Verbund bildeten und die in ihrer Zusammensetzung eine erstaunliche Konstanz aufwiesen. Gemeint sind hier Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea. Was diesen vier Plätzen - jenseits auch aller Verschiedenartigkeit in den Kulten - gemeinsam war, das war ihre ganz spezifische Funktion als Zentren der Begegnung für alle Griechen - und zwar durchaus mit einer ausdrücklichen Exklusivität, da nur den Griechen allein die aktive Teilnahme an den „panhellenischen" Spielen erlaubt war, die in regelmäßigen Abständen an diesen Orten veranstaltet wurden.6 Daß diese Orte zugleich auch über die griechische Staatenwelt hinaus ein hohes internationales Ansehen genossen und daher auch von vielen nichtgriechischen Besuchern aufgesucht wurden, steht dabei auf einem anderen Blatt. Die Internationalität dürfte zwar in nicht geringem Maße durch die panhellenischen Spiele bedingt gewesen sein, sie ist aber nicht konstituierend für die gemeinsame Besonderheit der genannten vier Kultplätze, zumal das internationale Renommee von Olympia und Delphi wohl weitaus ausgeprägter gewesen sein dürfte als das von Isthmia und Nemea. Das Spezifische, das diese vier Kultorte miteinander verband, war ihre panhellenische Verfügbarkeit. Unbeschadet der administrativen Zuständigkeit amphiktyonischer Verbände oder einzelner Poleis wie Elis, Argos oder Korinth waren diese Heiligtümer in den Augen der Griechen in gewisser Weise panhellenisches Gemeingut. Diese Auffassung ist schon in einer bei Herodot überlieferten Rede zu greifen, in der die Athener im Winter 480/79 angesichts der persischen Bedrohung die Einheit der Griechen beschworen.7 Nachdrücklich beteuerten sie gegenüber den damals in Athen weilenden spartanischen Gesandten, daß sie nicht zu Verrätern der gemeinsamen griechischen Sache - t ò Έλληνικόν - werden wollten. Tò Έλληνικόν wird dann von den Athenern näher bestimmt. Neben dem gleichen Blut und der gemeinsamen Sprache (δμαιμόν τε και όμόγλωσσον) werden vor allem die gemeinsamen Heiligtümer und Opfer
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Zur Geschichte der panhellenischen Spiele sei hier nur auf einige wenige Überblickswerke hingewiesen, in denen sich aber weiterführende Literaturangaben finden: Christoph Ulf, Ingomar Weiler, Der Ursprung der antiken Olympischen Spiele in der Forschung, Stadion 6, 1980, 1-38; Ingomar Weiler, Der Sport bei den Völkern der Alten Welt. Eine Einführung, Darmstadt 21988, 103-139; Nicholas J.Richardson, Panhellenic Cults and Panhellenic Poets, CAH 5, 2 1992, 223-244; Wolfgang Decker, Sport in der griechischen Antike. Vom minoischen Wettkampf bis zu den Olympischen Spielen, München 1995,3959; ders., Sportfeste, DNP 11, 2001, 849-855. 7 Hdt. 8,144.
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(θεών ιδρύματα τε κοινά και θυσίαι) als gesamtgriechisches Merkmal hervorgehoben.8 Auf die gleichen Heiligtümer dürfte auch die erste Klausel des Nikiasfriedens von 421 v.Chr. zu beziehen sein, in der es heißt: „Bezüglich der gemeinsamen Heiligtümer (περί μέν των ιερών τών κοινών): Wegen der Opfer, Orakelbefragungen und Festfeiern (θύειν, μαντεύεσθαι, θεωρεΐν) soll nach altem Brauch (κατά τά πάτρια) jedem, der es wolle, freier Zugang zu Wasser und zu Lande garantiert werden."9 Auch wenn diese Regelung vor dem Hintergrund der damaligen athenisch-spartanischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle Delphis gesehen werden muß, legt es die Formulierung περί μέν τών ιερών τών κοινών doch nahe, daß sie sich auf einen größeren Kreis von Heiligtümern bezogen haben muß.10 Es handelte sich hierbei ganz offensichtlich um nichts anderes als um eine Garantieerklärung für den besonderen Schutz der Heiligtümer, die nach allgemeiner Auffassung für alle Griechen von besonderer Bedeutung waren. Dabei ist es bemerkenswert, daß es hier ebenso wie schon in der zitierten Rede der Athener keiner weiteren Erläuterungen bedurfte, um welche Heiligtümer es sich konkret bei τα ιερά τα κοινά handelte, obgleich die Vertragsklausel eigentlich eine entsprechende Präzisierung erfordert hätte. In dieser Frage bestand aber offenbar ein common sense, der für die griechischen Zeitgenossen selbstverständlich und unumstößlich war. Das läßt sich anhand einer Passage aus den sogenannten „Dissoi Logoi", einem anonymen Traktat aus dem frühen 4. Jahrhundert v. Chr. noch näher ausführen. In einer systematischen Gegenüberstellung werden hier Argumente für und gegen die Identität scheinbarer Gegensätze vorgebracht.11 In dem Abschnitt Περί δικαίου και άδικου wird unter anderem die Frage des Tempelraubs (τό ίεροσυλέν) erörtert. Unter dem Stichwort Tempelraub heißt es: „Das Eigentum der Poleis (τά ϊδια τών πόλεων) lasse ich beiseite. Aber ist es nicht gerecht, das gemeinsame Eigentum 8
Hdt. 8,144,2. - Diese Textstelle ist auch im Rahmen der jüngsten Forschungsdiskussion über Fragen der Ethnogenese und der Ethnizität von zentraler Bedeutung; vgl. dazu zuletzt: David Konstan, To Hellenikon ethnos. Ethnicity and the Construction of Ancient Greek Identity, in: Irad Malkin (Hg.), Ancient Perceptions of Greek Ethnicity, Cambridge (Mass.) u.a. 2001, 29-50; Jonathan M. Hall, Hellenicity. Between Ethnicity and Culture, Chicago u.a. 2002,189 ff. 9 Thuk. 5,18,2. 10 Simon Hornblower, A Commentary on Thucydides, 2 Bde., Oxford 1991-1996, Bd. 2, 471 f. " Vgl. hierzu zuletzt Klaus Bringmann, Rhetorik, Philosophie und Politik um 400 v. Chr. Gorgias, Antiphon und die Dissoi Logoi, Chiron 30,2000, 489-503, 495 ff.
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Griechenlands (τα κοινά τάς Ελλάδος) aus Delphi und aus Olympia ... zu nehmen und es im Krieg zu verwenden, wenn der Barbar Griechenland bedroht?"12 Diese Gegenüberstellung von τά ϊδια των πόλεων und τα κοινά τάς Ελλάδος bestätigt aufs beste die im Denken der Griechen fest verankerte Vorstellung von der Existenz einer besonderen Gruppe von Heiligtümern, die als gesamtgriechisch galten und die ganz bewußt von der großen Menge der Poliskulte getrennt wurden. Indem der Autor der „Dissoi Logoi" mit τα κοινά ... τά έκ Δελφών και τά εξ 'Ολυμπίας ausdrücklich auf Delphi und Olympia verweist, wird aber zugleich auch der Kreis der Kultplätze präzisiert, die er im Blick hatte. Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß hier Delphi und Olympia genannt wurden, weil sie die beiden prominentesten der vier großen panhellenischen Festspielorte waren. Die beiden übrigen - Isthmia und Nemea - dürften aber assoziiert und „mitgedacht" und ebenfalls den τα κοινά τάς Ελλάδος zugerechnet worden seien. Ich bin auf diese Quellenzeugnisse näher eingegangen, um deutlich zu machen, daß die Vorstellungen über τά ιερά τά κοινά im klassischen Griechenland keineswegs bloß auf einem eher unspezifischen emotionalen Empfinden beruhten, sondern durchaus sehr konkret mit bestimmten Heiligtümern verbunden waren. Es mag auf den ersten Blick nicht sehr erstaunlich sein, daß es sich hierbei um die vier Kultplätze handelte, die als traditionelle Austragungsorte der panhellenischen Wettkämpfe fungierten. Aber was für uns heute ebenso selbstverständlich zu sein scheint wie offenbar auch schon für die Griechen der klassischen Zeit, verbindet sich bei näherer Betrachtung mit einem historischen Problem, für das eine sichere Lösung kaum zu finden ist. Die Frage ist sehr einfach gestellt: Warum waren es diese vier Kultorte, die als Zentren einer panhellenischen Begegnung bei allen Griechen Akzeptanz fanden und bis in die römische Zeit hinein diese Stellung unangefochten behaupten konnten? Es gab in archaischer Zeit - und zum Teil schon früher - ja auch andere Heiligtümer, denen als kultischen Zentren eine überregionale Bedeutung zugekommen war und die ebenfalls Austragungsorte von Wettkämpfen waren, die allen Griechen offenstanden. Warum also bildete sich der Kanon gerade dieser vier Orte heraus? Daß Delphi und Olympia diesem Ensemble angehörten, verwundert weniger angesichts der schon früh in den archäologischen und auch lite12 DK 90,3,8; s. a. Thomas M. Robinson, Contrasting Arguments. An Edition of the Dissoi Logoi, New York 1979, 118f.; 183.
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rarischen Quellen zu greifenden großen Attraktivität dieser Kultorte, die in einem engen Zusammenhang mit der Ausbreitung des Griechentums in der Zeit der Kolonisation gesehen werden muß.13 Die Frage aber, warum diesen beiden Kultplätzen auch Isthmia und Nemea zur Seite gestellt wurden und warum es nur diese vier waren, hat bisher keine wirklich überzeugende Antwort gefunden. Und ich möchte gleich hinzufügen, daß auch ich keine endgültige Lösung für diese Frage bieten kann. Es scheint mir aber dennoch lohnend zu sein, dieses Phänomen einmal stärker in den Blick zu nehmen, als dies normalerweise in der Forschung geschieht. In der Regel wird nämlich die Existenz dieser Quadrupelallianz panhellenischer Heiligtümer einfach als ein Faktum konstatiert und nicht näher analysiert. Jüngst hat allerdings Christoph Ulf den Versuch unternommen, die Ursprünge dieser panhellenischen Feste zu verorten.14 Er knüpft dabei an Untersuchungen von Catherine Morgan an, die die Anfänge dieser Feste in die Zeit der Dark Ages verlagert.15 Damals hätten die Feste im Rahmen einer vielleicht schon zyklisch wiederkehrenden „conspicuous consumption" dem lokalen Adel dazu gedient, den eigenen Reichtum 13
Delphi in den frühen literarischen Quellen: Horn. II. 2,519 ff.; 9,404 ff.; Od. l,79ff.; 11,581; Horn. h. 3, passim, bes. 282 ff. - Vgl. im übrigen: William G. Forrest, Colonization and the Rise of Delphi, Historia 6, 1957, 160-175; Imma Kilian-Dirlmeier, Fremde Weihungen in griechischen Heiligtümern vom 8. bis zum Beginn des 7. Jahrhunderts v.Chr., JRGZ 32,1985, 215-254; Irad Malkin, Religion and Colonization in Ancient Greece, Leiden u. a. 1987; Peter Londey, Greek Colonists and Delphi, in: Jean-Paul Descoeudres (Hg.), Greek Colonists and Native Populations. Proceedings of the First Australian Congress of Classical Archaeology Held in Honor of Emeritus Professor Arthur D. Trendall. Sydney 9 14 July 1985, Oxford u.a. 1990,117-127; Michael Maass, Frühe Weihgaben in Delphi und Olympia als Zeugnisse für die Geschichte der Heiligtümer, in: Jean-François Bommelaer (Hg.), Delphes. Centenaire de la „Grande fouille" realisée par l'Ecole française d'Athènes 1892-1903. Actes du colloque Paul Perdrizet. Strasbourg 6 - 9 novembre 1991, Leiden u.a. 1992, 85-93; Catherine Morgan, The Origins of Pan-Hellenism, in: Robin Hägg, Nanno Marinatos (Hg.), Greek Sanctuaries. New Approaches, London 1993,18-44; Werner Gauer, Olympia, der Orient und Etrurien, in: Friedhelm Prayon, Wolfgang Röllig (Hg.), Der Orient und Etrurien. Zum Phänomen des „Orientalisierens" im westlichen Mittelmeerraum (10.-6. Jh. v.Chr.). Akten des Kolloquiums. Tübingen 12.-13. Juni 1997, Pisa u.a. 2000, 113-128; Alessandro Naso, Etruskische und italische Weihungen in griechischen Heiligtümern. Altbekannte und neue Funde, in: Friedrich Krinzinger (Hg.), Die Ägäis und das westliche Mittelmeer. Beziehungen und Wechselwirkungen 8. bis 5. Jh. v.Chr. Akten des Symposions. Wien 24.-27. März 1999, Wien 2000, 157-163. 14 Christoph Ulf, Überlegungen zur Funktion überregionaler Feste in der frühgriechischen Staatenwelt, in: Walter Eder, Karl-Joachim Hölkeskamp (Hg.), Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. Beiträge auf dem Symposium zu Ehren von Karl-Wilhelm Welwei in Bochum, 1.-2. März 1996, Stuttgart 1997, 37-61. 15 Catherine Morgan, Athletes and Oracles. The Transformation of Olympia and Delphi in the Eighth Century B.C., Cambridge u.a. 1990.
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und wohl auch die athletische Stärke an einem neutralen Platz öffentlich zu repräsentieren, um auf diese Weise den persönlichen Status in der eigenen Gruppe abzusichern. Catherine Morgan legt ihrer Interpretation der archäologischen Befunde Analogieschlüsse zugrunde, die sich an Erscheinungsformen prä- und frühstaatlicher Gesellschaften orientieren. Christoph Ulf folgt ihr zwar auf diesem Weg, kann aber aufgrund eines verfeinerten Interpretationsinstrumentariums die möglichen Formen und Funktionen überregionaler Feste im frühen Griechenland differenzierter darstellen. Er betont in diesem Zusammenhang zu Recht die besondere Bedeutung der gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Kommunikationsfunktionen dieser Feste, die wenigstens ebenso wichtig waren wie deren religiöse Motivationen. Ulf thematisiert dann in einem zweiten Schritt auch den Wandel dieser überregionalen Feste in der archaischen Zeit. Grundsätzlich seien die Feste in ihrer Existenz tendenziell gefährdet gewesen, da sie der Zentrierung von Macht durch die neu entstehenden Staaten entgegengestanden hätten. Dieser Konkurrenz mit den zentralistischen Ansprüchen der neuen Poleis hätten sich nur diejenigen Kultorte entziehen können, denen es gelang, „die Attraktivität der Heiligtümer zu steigern, ohne selbst über besondere politische Macht zu verfugen" 16 . Von den am Ende der Dark Ages existierenden Festorten hätten schließlich nur noch Olympia, Delphi, Nemea und Isthmia im Laufe der archaischen Zeit ihren Einflußbereich kontinuierlich vergrößern können. Warum es aber gerade diese vier Heiligtümer und nicht andere oder mehr gewesen waren, das vermag auch diese Argumentation nicht zu erklären. Es bleibt darüber hinaus aber auch sehr fraglich, ob das von Ulf postulierte politische Ungleichgewicht zwischen neuen Poleis und alten überregionalen Kultorten wirklich in der von ihm skizzierten Weise wirksam geworden ist. Ich möchte gar nicht in Abrede stellen, daß die Verstaatlichung der griechischen Welt auch ihre religiösen Landschaften nachhaltig verändert hatte. Daß aber überregionale Kultorte einen panhellenischen Charakter nur dort hätten behaupten oder auch erst durchsetzen können, wo sie nicht dem Einfluß einzelner mächtiger Staaten ausgesetzt gewesen seien, kann man zumindest angesichts des korinthischen Einflusses in Isthmia nicht ausnahmslos konstatieren.17 Die Veränderungen der
Ulf, Überlegungen (wie Anm. 14) 51. " Korinth hat seinen Einfluß auf das Heiligtum und die Festspiele in Isthmia immer behaupten können; zu den Anfängen vgl. Catherine Morgan, The Evolution of a Sacral ,Landscape'. Isthmia, Perachora, and the Early Corinthian State, in: Susan E. Alcock, 16
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überregionalen Beziehungssysteme in archaischer Zeit waren zweifellos von einem Spannungsgefìige zwischen einem wachsenden Selbstbewußtsein der einzelnen Poleis und einem ebenfalls zunehmenden panhellenischen Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt. Hieraus dürften sich dann hochkomplexe Wandlungsprozesse ergeben haben, deren Kräftespiel im einzelnen aber nicht mehr nachzuvollziehen ist. Wenden wir uns jedoch noch einmal der Tatsache zu, daß sich vor dem Hintergrund dieser Vorgänge auch der panhellenische Verbund der Festorte Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea herauskristallisierte. Auch wenn es auf die Frage nach den Gründen für die Auswahl dieser vier Orte wohl nie eine schlüssige Antwort geben wird, bleibt aber doch das Faktum der Kanonisierung, auf das ich nun die Aufmerksamkeit lenken möchte. Eine nähere, wenn auch nur zeitliche Bestimmung der Anfange dieser Kanonisierung kann nämlich durchaus Einblick gewähren in die erwähnten politischen Wandlungsprozesse der griechischen Staatenwelt in archaischer Zeit. Auffällig ist zunächst einmal, daß es eigentlich so gut wie keine gemeinsamen Kriterien gibt, aufgrund derer sich die enge Verbindung der genannten vier Kultplätze erklären ließe. Weder die kultischen Funktionen der Heiligtümer noch die jeweils dort verehrten Götter und Heroen lassen sich in ein enger aufeinander bezogenes Beziehungssystem einfügen. Man hatte sich offenbar noch nicht einmal die Mühe gegeben, zumindest ex eventu diese vier Festorte durch eine gemeinsame mythologische Tradition miteinander zu verbinden. Das einzige Bindeglied war der Sport, die regelmäßige Durchführung panhellenischer Wettkämpfe. Hier ergibt sich aber zugleich auch eine bemerkenswerte Differenz. Folgen wir der literarischen Tradition, so reichen bekanntlich die Anfange der panhellenischen Wettkämpfe in Olympia bis in das Jahr 776 v. Chr. Robin Osborne (Hg.), Placing the Gods. Sanctuaries and Sacred Space in Ancient Greece, Oxford u.a. 1994, 105-142; auch die Leitung der Nemeischen Spiele blieb bekanntlich stets ein Zankapfel zwischen Kleonai und dem mächtigen Argos; vgl. auch Stella G. Miller, Excavations at the Panhellenic Site of Nemea. Cults, Politics and Games, in: Wendy J. Raschke (Hg.), The Archaeology of the Olympics. The Olympics and Other Festivals in Antiquity, London u.a. 1988, 141-151, 144f. Zur politischen Stellung Delphis s. Anne Jacquemin, Die Heilige Stadt. Die politische Balance zwischen den großen Mächten, in: Michael Maass (Hg.), Delphi. Orakel am Nabel der Welt. Ausstellung des Badischen Landesmuseums. Karlsruhe 24. Februar bis 2. Juni 1996, Sigmaringen 1996, 75-78. Bezeichnend für das Problem der Anfälligkeit der panhellenischen Spiele für Einflußnahmen ist auch eine bei Hdt. 2,160 überlieferte Erzählung, derzufolge die Ägypter den Eleem den Rat erteilt haben sollen, selber nicht an den Spielen teilzunehmen, um einen gerechten Ablauf zu gewährleisten.
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zurück, während die Gründungen beziehungsweise die panhellenische Ausgestaltung der drei anderen Festspiele in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts datiert werden. Diese chronologischen Fixdaten sind zwar - zumindest bezüglich Olympias - fiktiv;18 sie spiegeln aber dennoch eine relative zeitliche Diskrepanz in der Entwicklung der Festorte wider, die sich auch im archäologischen Befund niedergeschlagen hat. Während in Olympia das Gelände des Heiligtums bereits um 700 v. Chr. stark vergrößert und ausgebaut wurde,19 scheint sich eine vergleichbare Entwicklung in den anderen Heiligtümern - zumindest in Isthmia und Nemea 20 - erst einige Zeit später vollzogen zu haben. Dieser Befund indiziert eine Vorreiterrolle und damit auch Vorbildfunktion Olympias. Es bedarf allerdings noch genauerer vergleichender Untersuchungen des entsprechenden archäologischen Materials, um das hier Behauptete abzusichern. Meines Erachtens liegt aber hier die Vorrangstellung begründet, die Olympia auch später noch unter den panhellenischen Festspielorten einnahm. Es sei nur auf die unterschiedliche materielle Belohnung verwiesen, die in Athen - angeblich schon seit solonischer Zeit - den Siegern bei den großen Festagonen zugesprochen wurde: Während die Olympioniken 500 Drachmen erhielten, wurden die Sieger an den Isthmien und den übrigen großen Spielen nur mit 100 Drachmen entlohnt. Ganz unabhängig von der 18
Zum legendären Gründungsdatum der Olympischen Spiele (776 v. Chr.) und zur Authentizität der olympischen Siegerlisten vgl. Felix Jacoby, Elis und Olympia, FGrHist 3b, 221-228; Hans-Volkmar Herrmann, Olympia. Heiligtum und Wettkampfstätte, München 1972, 216, Anm. 14; Nigel Β. Crowther, Studies in Greek Athletics 1, CW 72, 1985, 497558; 520; Sinn, Olympia (wie Anm. 5) 51-54; ders., Entwicklung (wie Anm. 5) 149 ff.; ders., Kult (wie Anm. 5) 43 f.; Benny J. Peiser, The Crime of Hippias of Elis. Zur Kontroverse um die Olympionikenliste, Stadion 16, 1990, 37-65; Christoph Ulf, Die Mythen um Olympia. Politischer Gehalt und politische Intention, Nikephoros 10, 1997, 9-51, 12, Anm. 8. - Zum Gründungsdatum der Pythischen Agone in Delphi (586 oder 582 v. Chr.) vgl. Stephen G. Miller, The Date of the First Pythiad, CSCA 11, 1978, 127-158; Kai Brodersen, Zur Datierung der ersten Pythien, ZPE 82, 1990, 25-31. - Der Beginn der Isthmia wird auf 582 oder 580 v. Chr. und der Beginn der Nemea auf 573 v. Chr. datiert; vgl. dazu auch die in Anm. 6 genannte Literatur. " Alfred Mallwitz, Cult and Competition Locations at Olympia, in: Raschke, Archaeology (wie Anm. 17) 79-109; ders., Ergebnisse und Folgerungen, in: Klaus Herrmann, Alfred Mallwitz (Hg.), 11. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia. Frühjahr 1977 bis Herbst 1981, Berlin u.a. 1999, 181-284, 193 ff.; vgl. auch Sinn, Kult (wie Anm. 5) 30ff. 20 Elizabeth R. Gebhard, The Early Stadium of Isthmia and the Founding of the Isthmian Games, in: William Coulson, Helmut Kyrieleis (Hg.), Proceedings of an International Symposium on the Olympian Games, Athen 1992, 73-79; Elizabeth R. Gebhard, The Evolution of a Pan-Hellenic Sanctuary. From Archaeology Towards History at Isthmia, in: Hägg, Marinatos, Greek Sanctuaries (wie Anm. 14) 154-177; Miller, Excavations (wie Anm. 17); Stephen G. Miller, The Stadium at Nemea and the Nemean Games, in: Coulson, Kyrieleis, Proceedings (wie oben) 81-86.
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Frage der Authentizität dieser späten, bei Plutarch und Diogenes Laertios überlieferten Notiz,21 kommt hier jedenfalls eine deutliche Bevorzugung der olympischen Spiele gegenüber den anderen panhellenischen Spielen zum Ausdruck, die sich auch in der übrigen literarischen Überlieferung immer wieder greifen läßt. Damit bleibt aber immer noch ungeklärt, wann und auf welche Weise sich der Kanon der vier Festspielorte herausgebildet hatte. Stella Miller, die Ausgräberin von Nemea, hat in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen: „Among the many questions which could be posed in this connection is why, after the beginning of the sixth century, there were no more Panhellenic festivals founded throughout the rest of antiquity, despite an abundance of local games."22 Diese Frage ist aber meines Erachtens falsch gestellt. Miller geht - wie übrigens fast alle Gelehrten - von der Voraussetzung aus, daß die Festlegung der Pythien, Isthmien und Nemeen als quasi kanonisierte panhellenische Festspiele bereits mit ihrer Gründung beziehungsweise ihrer Neugestaltung in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts erfolgte. Dafür fehlt uns allerdings jeder Beweis. Festzustellen ist nur, daß der Sport im frühen 6. Jahrhundert im gesamten gesellschaftlichen und politischen Umfeld Griechenlands sehr schnell an Bedeutung zunahm.23 Vor diesem Hintergrund kam es aber eben nicht nur in Delphi, Isthmia und Nemea, sondern auch an vielen anderen Orten der griechischen Staatenwelt zur Etablierung neuer sportlicher Agone. Auch diese Agone erhoben durchaus einen überregionalen Anspruch und versuchten, sich einen panhellenischen Zuschnitt zu geben. Ich möchte hier nicht näher auf die zahlreichen Festspiele eingehen, die vor allem im Verlaufe der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts an jeweils ganz unterschiedlichen Kultstätten und Heiligtümern eingerichtet wurden und dem Vorbild Olympias nacheiferten. Es mag hier genügen, auf die frühen Siegesepigramme und die Epinikien vor allem des Pindar hinzuweisen, in denen vielfach Siege aneinandergereiht werden, die außer an den vier genannten auch an vielen anderen Plätzen in Griechenland errungen worden waren. Neben zahlreichen Orten auf der Peloponnes wie Argos, Tegea, Kleitor, Pellana, Epidauros etc. werden hier zum Beispiel auch Athen, Aigina und Theben genannt.24 21
Plut. Solon 23,3; Diog. Laert. 1,55. Miller, Excavations (wie Anm. 17) 142. 23 Vgl. hierzu zuletzt Christian Mann, Athlet und Polis im archaischen und klassischen Griechenland, Göttingen 2001. 24 Vgl. z.B. Pind. O. 7,77 ff.; 9 passim; 13 passim; Ν. 10,22ff.; 32; I. 1 passim; s. dazu Klaus Kramer, Studien zur griechischen Agonistik nach den Epinikien Pindars, Diss. Köln 22
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Diese Quellenzeugnisse sind ein klarer Erweis für die Vielfalt der Festagone, deren Ausstrahlung auch schon im 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr. weit über den engeren lokalen Rahmen hinausreichte. Diese Texte sind zugleich aber auch Indikatoren für die Kanonisierung der vier großen panhellenischen Wettkämpfe, denen eine deutliche Vorrangstellung vor allen anderen zugesprochen wurde. Das führte oft sogar dazu, daß in den Epigrammen nur noch die Siege eine ausdrückliche Erwähnung fanden, die an einem oder mehreren dieser vier Festorte errungen worden waren.25 Auf die übrigen Erfolge wurde dann nur noch pauschal verwiesen mit Formeln wie: „Nicht leicht ist es, seine übrigen Siege zu zählen."26 Oder: „Es ist nicht leicht, die übrigen Kränze nach ihrer Zahl zu bestimmen."27 Oder es heißt ganz lapidar: και τους λοιπούς αγώνας („und die übrigen Agone").28 In der Ehreninschrift fur Theagenes aus Thasos, der im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. zu den berühmtesten Athleten seiner Zeit zählte, werden dessen Siege in Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea ausfuhrlich beschrieben; im übrigen heißt es dann aber nur noch: „Deine persönlichen Siege beliefen sich auf 1.300" (αί δέ ϊδιαι νϊκαι τρίς τε εκατόν καί χίλιαι).29 Die außerordentliche Hervorhebung der immer gleichen vier Festspiele in einer quasi kanonisierten Form, die sich auch in der Werkordnung Pindars widerspiegelt, ist also schon für die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. festzustellen. Dennoch wird die Vorstellung von der besonderen Bedeutung der Siege bei diesen vier Spielen erst sehr viel später auf einen Begriff gebracht und als periodos bezeichnet. Der Grammatiker Festus schreibt im 2. Jahrhundert n.Chr.: In gymnicis certaminibus perihodon vicisse dicitur, qui Pythia, Isthmia, Nemea, Olympia vicit.30 Die literarischen und epigraphischen Belege für die Bezeichnung periodos als Ausdruck für den Sieg bei allen vier großen panhellenischen Spielen setzen erst im 3.Jahrhundert v.Chr. ein; und die Bezeichnung Periodon(e)ikes
1970; vgl. auch die entsprechenden Beispiele bei Joachim Ebert, Griechische Epigramme auf Sieger an gymnischen und hippischen Agonen, Berlin 1972. 25 Vgl. Egon Maróti, Periodonikes. Anmerkungen zum Begriff Perioden-Sieger bei den panhellenischen Spielen, AAntHung 31, 1985-88, 335-355, 341, Anm. 34. 26 Ebert, Epigramme (wie Anm. 24) 66 ff. (= Nr. 15). 27 Ebd., 129 ff. (= Nr. 39). 28 IvDidyma 97a, 5 f. 29 Luigi Moretti, Iscrizioni agonistici greche, Rom 1953, Nr.21 (= Ebert, Epigramme [wie Anm. 24] 118 ff. [=Nr.37]). 30 Festus p. 236 (Lindsay), s. v. perihodos.
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läßt sich sogar erst in der römischen Kaiserzeit literarisch und epigraphisch nachweisen.31 Die Sache selbst existierte also weitaus früher als der Begriff, den man ihr gab. So wird in der „Kranzrede" des Demosthenes ein Psephisma zitiert, in dem die Rede ist von den αί έν τςί Ελλάδι παναγύριαι "Ισθμια και Νέμεα και 'Ολύμπια καί Πύθια.32 Allerdings bleibt hier zu bedenken, ob es sich bei dieser Passage nicht um einen späteren Einschub handelt. Es gibt aber auch noch andere und zeitlich frühere Hinweise darauf, daß die Vorstellung einer periodos und die damit untrennbar verbundene panhellenische Idee nicht allein in den frühen Siegerinschriften und Epinikien propagiert wurde,33 sondern auch ganz allgemein im damaligen Denken und Handeln der Griechen bereits fest verwurzelt war. So wird in einem athenischen Volksbeschluß aus dem zweiten Drittel des 5. Jahrhunderts v.Chr. der Kreis derjenigen bestimmt, die regelmäßig an der Speisung im Prytaneion teilnehmen durften. Diese außerordentliche Ehrung wurde neben den eleusinischen Priestern und den Nachkommen der Tyrannenmörder auch denen zugestanden, die bei den Olympiaden, den Pythien, den Isthmien oder den Nemeen gesiegt hatten.34 Dieser Beschluß hat ganz offensichtlich die Vorstellung von dem kanonisierten Ensemblecharakter der vier großen panhellenischen Festspiele bereits zur Voraussetzung; und er läßt zugleich erkennen, in welchem starken Maße diese Vorstellung sich auch in politicis auswirkte. Aber auf die enge Verflechtung von Sport und Politik möchte ich hier gar nicht näher eingehen. Das ist - zuletzt wieder von Christian Mann35 - hinreichend diskutiert worden und darf als bekannt gelten. Die Kanonisierung der vier panhellenischen Festspiele bedeutete zugleich auch eine Kanonisierung der zugehörigen Festorte (nicht aber einzelner spezifischer Kulte). Die politische und gesellschaftliche Wirksamkeit dieser Verknüpfung zeigt sich besonders klar in dem Verhalten der Griechen, spätestens seit dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. bevorzugt an diesen Orten staatliche Weihgaben, Ehrungen und auch internationale 31
Rudolf Knab, Die Periodoniken. Ein Beitrag zur Geschichte der gymnischen Agone an den 4 griechischen Hauptfesten, Chicago 1980 (= Diss. Gießen 1934); Maróti, Periodonikes (wie Anm. 25); zur Entwicklung der períodos in der römischen Kaiserzeit s. jetzt auch Peter Frisch, Der erste vollkommene Periodonike, EA 18, 1991, 71-73. 32 Demosth. or. 18, 91. 33 Zur Bedeutung der Epinikien flir die Ausgestaltung und Verfestigung vgl. jetzt Mann, Athlet (wie Anm. 23) 40 ff. 34 IG I3131,11-13. 35 Mann, Athlet (wie Anm. 23).
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Verträge aufzustellen. Dies geschah zum Teil selektiv, zum Teil aber auch mit Wunsch, an allen panhellenischen Kultorten gleichzeitig präsent zu sein. Allerdings ist hier eine sehr auffällige Abweichung festzustellen. Während in römischer Zeit mit der Formel εν τε τοις πανηγυριστηρίοις των ιερών άγώνων36 offensichtlich die Aufstellung an allen vier Kultplätzen veranlaßt wurde, erfolgte in klassischer und hellenistischer Zeit eine gemeinsame Aufstellung nur an dreien der vier Kultorte - zumindest soweit dies den Quellen zu entnehmen ist. Dies waren Olympia, Delphi und Isthmia; Nemea scheint hingegen zunächst stets ausgespart worden zu sein. Ich verweise exemplarisch auf die Beuteweihungen fur den Sieg bei Plataiai, die in Olympia, Delphi und Isthmia, nicht aber in Nemea errichtet wurden.37 Und im athenisch-spartanischen Friedensvertrag von 421 v. Chr. - dem „Nikias-Frieden" - wurde vereinbart, in Delphi, Olympia und Isthmia Abschriften der Urkunde auf steinernen Stelen aufzustellen; auch hier blieb Nemea unberücksichtigt.38 Eine schlüssige Erklärung für das Fehlen von Nemea ist kaum zu finden. Die prinzipielle Orientierung an der periodos ist nicht in Zweifel zu ziehen. Man könnte aber vermuten, daß die Griechen innerhalb der periodos den einzelnen Festorten doch eine unterschiedliche Attraktivität zumaßen. Für Olympia steht dies - wie bereits gezeigt - sowieso außer Frage; aber möglicherweise gab es auch hinsichtlich der übrigen drei Plätze noch eine Rangfolge, bei der Nemea auf der letzten Position rangierte. Dem könnte auch die Aufzählung der vier Festspiele in dem erwähnten athenischen Dekret über die Speisung im Prytaneion entsprochen haben.39 Hier lautet die Reihung: Olympiaden, Pythien, Isthmien und Nemeen. Möglicherweise spielte auch die Tatsache eine Rolle, daß die Isthmien und Nemeen - im Gegensatz zu den penteterischen Olympiaden und Pythien - in einem zweijährigen Rhythmus abgehalten wurden; hinzu kam, daß die Nemeen und Isthmien nach der griechischen Zeitrechnung jeweils im gleichen Jahr stattfanden, da die Nemeen im Juli/August (Jahresanfang) und die Isthmien im folgenden April/Mai (kurz vor Jahresende) gefeiert wurden.40 Inwieweit diese Gegebenheiten ursächlich mit der Rangstellung Nemeas zu verbinden sind, muß allerdings Vermutung und
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SEG 35,1985 (1990), 304,15. Hdt. 9,81,1. 38 Thuk. 5,18,10. 39 Vgl.Anm.34. 40 Vgl. Stephen G. Miller (Hg.), Nemea. A Guide to the Site and the Museum, Berkley u. a. 1990, 2 f. 37
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Spekulation bleiben. Jedenfalls indiziert die Praxis der Griechen, u. a. bei staatlichen Weihungen Olympia, Delphi und Isthmia zu bevorzugen, eine gewisse Minderstellung von Nemea, die möglicherweise auf eine - wie auch immer begründete - geringere Attraktivität schließen läßt. Dennoch bildeten die vier Festspiele und entsprechend auch die vier Festspielorte ein kanonisiertes Ensemble, das auch schon im frühen 5.Jahrhundert v.Chr. nicht nur in der Epinikien-Dichtung präsent war, sondern ganz allgemein als ein festes Denk- und Deutungsmuster in den Köpfen der Griechen vorhanden war. Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea waren mit ihren Festspielen zu Fixpunkten panhellenischen Denkens und Handelns geworden. Mit dieser Feststellung ist die Frage nach den Ursprüngen allerdings immer noch nicht geklärt. Und angesichts der Quellenlage wird hier auch keine Antwort möglich sein.41 Was sich aber noch näher präzisieren läßt, das sind die Anfange der Kanonisierung. Wenn man die zeitgenössischen epigraphischen und dichterischen Quellentexte zu den großen Festspielen insgesamt in den Blick nimmt und deren Aussagen kritisch mit den überlieferten Daten der Siegerlisten42 vergleicht, so kristallisiert sich das letzte Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. als die Zeit heraus, in der es zur panhellenischen Kanonisierung der vier Festorte gekommen war. Erst damals wurden also Isthmia und Nemea - in einer Welt konkurrierender Festorte - Olympia und Delphi zur Seite gestellt. Seitdem bildeten diese vier Kultorte einen festgefugten Verbund, dessen Agone an Ansehen alle anderen übertrafen und zu panhellenischen Kulminationspunkten geworden waren. Diese Kanonisierung war aber nicht nur eine Frage des Ansehens. Vielmehr muß sie auch einem allgemeinen Bedürfnis entsprochen haben und auf gesamtgriechischer Ebene akzeptiert worden sein. Sie hatte also einen panhellenischen common sense zur Voraussetzung. Daher ist der Vorgang dieser Kanonisierung ein Indikator dafür, daß im Verlaufe des 6. Jahrhunderts v. Chr. das Zusammengehörigkeitsbewußtsein bei den Griechen in starkem Maße anwuchs und daß ein Bedürfnis bestand, diesem Gemeinschaftsgefühl auch einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. 41
Auffällig bleibt allerdings die regionale Konzentration der vier Festspielorte auf die dorische bzw. nordwestgriechische Welt, die an einen dorischen Ursprung denken läßt. Um so bemerkenswerter ist aber dann die große Akzeptanz, die diese vier Kultplätze auch bei den übrigen griechischen Staaten fanden, so daß diese zu panhellenischen Zentren wurden. 42 Luigi Moretti, Olympionikai. I vincitori negli antichi agoni olimpici, Rom 1957; ders., Supplemento al catalogo degli Olympionikai, Klio 52, 1970, 295-303; ders., Nuovo supplemento al catalogo degli Olympionikai, in: Coulson, Kyrieleis, Proceedings (wie Anm. 20) 119-128.
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Schon seit der Frühzeit der Kolonisation waren die griechischen Siedler bestrebt gewesen, den Kontakt zum Mutterland nicht abbrechen zu lassen. Dabei wurden in einer zunehmend disparater werdenden Poliswelt u. a. Olympia und Delphi zu frühen panhellenischen Bindegliedern. Im 7. und 6. Jahrhundert v.Chr. eröffnete dann die wachsende Attraktivität sportlicher Wettbewerbe ein weiteres Feld panhellenischer Aktivitäten. Die Kanonisierung der vier Festorte am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. dürfte dann dem Wunsch entsprochen haben, einen stärker formalisierten Rahmen fur eine gesamtgriechische Begegnung zu schaffen. Dem entsprach auch die - wahrscheinlich am olympischen Vorbild orientierte - Reglementierung der großen Festspiele: Die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme an den Wettbewerben blieb strikt auf die Griechen beschränkt, und die Durchführung der vier Festfeiern - und zwar anfangs nur dieser - wurde unter den Schutz der ekecheiria gestellt. So wurden Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea zu den τα ιερά τα κοινά, die in ihrer kanonisierten Form zum Fokus panhellenischer Selbstvergewisserung wurden. Die Erfahrungen der Perserkriegszeit dürften das Ihre dazu beigetragen haben, diese Funktion noch zu stärken. Und als Titus Quinctius Flamininus an den Isthmien des Jahres 196 v. Chr. den dort versammelten Griechen die römische Freiheitserklärung verlesen ließ,43 konnte er immer noch an den panhellenischen Charakter anknüpfen, der diesem Ort zu eigen war.44
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Pol. 18,46,4 ff.;Liv. 33,32; Plut. Titus Quinctius Flamininus 10,3ff; App. Mac. 9,4. Erst nach Fertigstellung meines Manuskripts wurden mir aus dem von Helmut Kyrieleis herausgegebenen Kolloquiumsband ,Olympia 1875-2000.125 Jahre Deutsche Ausgrabungen, Mainz 2002' die folgenden, für meine Thematik zentralen Aufsätze zugänglich, die ich leider nicht mehr für meine Ausführungen verwerten konnte: Elizabeth R. Gebhard, The Beginnings of Panhellenic Games at the Isthmus (221-237), Catherine Morgan, The Origins of the Isthmian Festival. Points of Comparison and Contrast (251-271), und Claude Rolley, Delphes de 1500 à 575 av. J.-C. Nouvelles données sur le problème „ruptures et continuité" (273-279). Darüber hinaus sei hier auch noch auf den ebenfalls unberücksichtigten Artikel von Francis Cairas, Some Reflections on the Ranking of the Major Games in Fifth Centuries B. C. Epinician Poetry, in: Athanasios D. Rizakis (Hg.), Achaia und Elis in der Antike, Athen 1991, 95-98, hingewiesen. 44
Zur elischen Ethnizität Von
Hans-Joachim Gehrke Die Erforschung der Geschichte des frühen Elis hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht.* In diesem Rahmen wirkten sich besonders die Veröffentlichungen wichtiger neuer Dokumente (vor allem durch Peter Siewert1), die Arbeiten an der Kommentierung der Pausanias-Bücher 5 und 62 (an der Universität Perugia) und die Untersuchungen im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Kopenhagener Polis-Zentrums3 aus. Mit den beiden letztgenannten Forschergruppen bin ich in freundschaftlich-kollegialer Kooperation verbunden. Deshalb scheint es mir sinnvoll zu sein, zu der intensiven Debatte zur elischen Geschichte besonders der archaischen und klassischen Zeit aus der Arbeit meines eige* Für wichtige Hinweise danke ich Helmut Kyrieleis, Nino Luraghi, Astrid Möller, Massimo Nafissi und Matthias Steinhart. Sie haben die Dokumentation und Argumentation sehr gefördert. ' Peter Siewert, Die neue Bürgerrechtsverleihung der Triphylier aus Mási bei Olympia, Tyche 2, 1987, 275-277; ders., Eine archaische Rechtsaufzeichnung aus der antiken Stadt Elis, in: Gerhard Thür (Hg.), Symposion 1993. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, Graz/Andritz, 12.-16. September 1993, Köln u.a. 1994, 17-32; Joachim Ebert, Peter Siewert, Eine archaische Bronzeurkunde aus Olympia mit Vorschriften für Ringkämpfer und Kampfrichter, in: Joachim Ebert (Hg.), Agonismata. Kleine philologische Schriften zur Literatur, Geschichte und Kultur der Antike, Stuttgart u. a. 1997, 200-236 (auch in: Alfred Mallwitz, Klaus Herrmann [Hg.], 11. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia. Frühjahr 1977 bis Herbst 1981, Berlin 1999, 391-412). 2 Gianfranco Maddoli, L'Elide in età arcaica. Il processo di formazione dell'unità regionale, in: Francesco Prontera (Hg.), Geografia storica della Grecia antica. Tradizioni e problemi, Rom u. a. 1991,150-173 ; Gianfranco Maddoli, Vicenzo Saladino (Hg. / Übers. / Kom.), Pausania. Guida della Grecia, 5 u. 6: L'Elide e Olimpia, Rom 1995 u. 1999 (unter Mitwirkung von Massimo Nafissi); Massimo Nafissi, La prospettiva di Pausania sulla storia dell'Elide. La questione pisate, in: Denis Rnoepfler, Marcel Piérart (Hg.), Editer, traduire, commenter Pausanias en l'an 2000. Actes du colloque de Neuchâtel et de Fribourg 18-22 septembre 1998, Genf 2001, 301-321. 3 Thomas H. Nielsen, Triphylia. An Experiment in Ethnie Construction and Political Organisation, in: ders. (Hg.), Yet More Studies in the Ancient Greek Polis, Stuttgart 1997, 129-162; James Roy, The Perioikoi of Elis, in: Mogens H. Hansen (Hg.), The Polis As an Urban Centre and As a Political Community. Symposium August 29-31 1996 (CPCActs 4), Kopenhagen 1997, 282-320.
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nen Projektes am Freiburger Sonderforschungsbereich „Identitäten und Alteritäten" beizutragen. Bei uns ging es, in interdisziplinärem Verbund geschichts-, literatur- und sozialwissenschaftlicher Fächer, um die Erforschung kollektiver Identitäten, sowohl in theoretisch-konzeptioneller wie in historisch-empirischer Hinsicht.4 Von unseren Überlegungen und Untersuchungen her könnten die oben erwähnten und weitere Forschungen flankiert werden; damit würde vielleicht die elische Geschichte ein schärferes Profil erhalten. Im Sinne der doppelten Orientierung unseres Sonderforschungsbereiches ist mein Beitrag in zwei Teile gegliedert: Auf methodologische Vorklärungen folgt eine Analyse des einschlägigen Quellenmaterials, das für die Bedeutung des elischen Verbandes relevant ist. Es geht insbesondere um die Elemente, die für die soziopolitische Formierung von Elis in der archaischen Zeit wesentlich sind, letztlich also um das, was die elische Identität ausmachte.
I. Ausgangspunkt für die Frage nach der Identität kollektiver Einheiten, von politisch-sozialen Gruppen, Gemeinschaften und Verbänden, also nach dem, was deren Kohärenz und Zusammengehörigkeitsgefühl ausmacht, ist der intentionale Charakter der Gemeinschaftsbildung. Dies ist in der Sozialanthropologie schon vor längerer Zeit, besonders deutlich von Wilhelm E. Mühlmann, herausgearbeitet worden.5 Auch in der Geschichtswissenschaft und in der Archäologie haben sich diese Ansätze als fruchtbar erwiesen. Sie spielen auch in der neueren Ethnizitäts- und
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Zum Konzept des Freiburger Sonderforschungsbereiches vgl. Monika Fludernik, HansJoachim Gehrke (Hg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999,11 ff.; Wolfgang Eßbach (Hg.), wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000, 9ff.; Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, 9ff. 5 Wilhelm E. Mühlmann, Methodik der Völkerkunde, Stuttgart 1938, 108ff.; 124ff; zur neueren Debatte in der Ethnologie vgl. Klaus E. Müller, Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt a.M. u.a. 1987; ders., Ethnicity, Ethnozentrismus und Essentialismus, in: Eßbach, wir/ihr/sie (wie Anm.4) 317-343; generell s.a. Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt a. M. 1998. Eine gute Übersicht über den Stand der Debatte (am Beispiel des Nahen Ostens) geben Philip S. Khoury, Joseph Kostiner (Hg.), Tribes and State Formation in the Middle East, London u.a. 1990, bes. in der „Introduction" (4 ff., mit weiteren Hinweisen).
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Nationalismusforschung eine wichtige Rolle.6 Intentionalität bedeutet, daß die hier erwähnten Kollektive nicht als feste Größen verstanden werden, als objektiv gegebene oder geradezu physisch bestimmte Einheiten. Vielmehr handelt es sich um Konstrukte, die Ergebnis zum Teil lang wirkender Prozesse sind. Dabei verbinden sich konkrete politische, ökonomische und soziale Gegebenheiten und Vorgänge mit Ritualen und Diskursen vornehmlich religiöser, symbolischer und intellektueller Natur, welche für den „sens pratique" bzw. den sozialen Sinn einer Gemeinschaft charakteristisch sind.7 Ethnische Identitäten sind also Ergebnisse von Prozessen der Ethnogenese und des nation building, in denen reale Lebensumstände und Praktiken mit Deutungen und Reflexionen auf vielfältige Weise verschlungen sind. In diesem Rahmen ist besonders der Blick auf die Vergangenheit der jeweiligen Gruppe wichtig, die mit der Gegenwart ebenfalls vielfach verquickt, sozusagen rückgekoppelt ist. Sie hat einen „Sitz im Leben" oder, anders gesagt, eine „soziale Oberfläche". Sofern die Vergangen6
Zur Mediävistik und Archäologie s. bes. Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln u. a. 1961,1 ff. (grundlegend); Reinhard Bernbeck, Susan Pollock, Ayodhya, Archaeology, and Identity, Current Anthropology 37,1996,138-142; Catherine Morgan, The Archeology of Ethnicity in the Colonial World of the Eighth to Sixth Centuries B. C. Approaches and Prospects, in: Confini e frontiera nella Grecità d'Occidente. Atti del trentasettimo convegno di studi sulla Magna Grecia, Taranto, 3-6 ottobre 1997, Tarent 1999, 85-145; Ton Derks, Gods, Temples and Ritual Practices. The Transformation of Religious Ideas and Values in Roman Gaul, Amsterdam 1998; Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie, Germania 78, 2000,139-178; ders., Ethnische Interpretationen in der frühgriechischen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin u.a. 2004; Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002. Zur neueren Nationalismusforschung vgl. vor allem Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983; Eric J. Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge u.a. 1983; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M. u.a. 21992; Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986; Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 1 ), Frankfurt a. M. 1991 ; Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2), Frankfurt a.M. 1994; Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München u.a. 1998; Kathrin Mayer, Herfried Münkler, Die Konstruktion sekundärer Fremdheit. Zur Stiftung nationaler Identität in den Schriften italienischer Humanisten von Dante bis Machiavelli, in: Herfried Münkler (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998, 27-129; Dittmar Dahlmann, Wilfried Potthofif (Hg.), Mythen, Symbole und Rituale. Die Geschichtsmächtigkeit der „Zeichen" in Südosteuropa im 19. und 20.Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2000; Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. 7
Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris 1980.
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heitsvorstellungen als Teil des imaginaire einer Gesellschaft für deren gemeinschaftsstiftende Intentionalität konstitutiv sind, kann man sie auch als intentionale Geschichte bezeichnen.8 Diese hier nur verkürzt und abstrakt präsentierten Zusammenhänge lassen sich - in idealtypischem Sinne - folgendermaßen konkretisieren: Die Bildung von Gemeinschaften beruht auf Wahrnehmungen von Ähnlichkeit bzw. Gleichheit und Differenz und davon ausgehenden Zuschreibungen von Identität und Alterität, die jeweils miteinander korrelieren. In wesentlichen Lebensäußerungen und -bereichen, Aussehen, Gestus und Habitus, Sprache, Sitten und Gebräuchen, Kulten und religiösen Vorstellungen, werden mit teilweise unterschiedlichen Akzentuierungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrgenommen. Zuschreibungen und Zuordnungen machen daraus das „Eigene" und das „Fremde" bzw. „Andere". Damit werden die Wahrnehmungen klassifiziert und bewertet, zugleich verstärkt.9 Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Abgrenzung von anderen Einheiten wird gleichsam stilisiert und durch „acts of identity"10 immer wieder bestätigt und eingeschärft. Durch bestimmte Traditionen, Deutungen und symbolische Repräsentationen wird sie narrativ überhöht. Solche Selbst- und Fremdzuschreibungen können, insbesondere unter bestimmten machtpolitischen Voraussetzungen, eine große Dynamik entfalten. Entscheidend aber ist, daß sie im Kern als statisch wahrgenommen werden. Identität kann man einer kollektiven Einheit ja nur dann zuerkennen, wenn sie über die Lebenszeiten der ihr angehörenden Individuen hinaus Bestand hat. Sie erscheint dann wie ein Fluß, der auch dann derselbe bleibt, wenn das in ihm fließende Wasser ständig wechselt. Das bedeutet, 8
Zu diesem Konzept s. Hans-Joachim Gehrke, Mythos, Geschichte, Politik - antik und modern, Saeculum 45,1994, 239-264; ders., Mythos, Geschichte und kollektive Identität. Antike exempla und ihr Nachleben, in: Dahlmann, Potthoff, Mythen (wie Arm. 6) 1-24 (engl.: Myth, History, and Collective Identity. Uses of the Past in Ancient Greece and Beyond, in: Nino Luraghi [Hg.], The Historian's Craft in the Age of Herodotus, Oxford 2001, 286-313); vgl. auch Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Assmann, Friese, Identitäten (wie Anm. 5). 9 Hierzu vgl. die Zusammenfassung (auf der Grundlage der Diskussion im o. a. Sonderforschungsbereich) bei Hans-Joachim Gehrke, Zwischen Identität und Abgrenzung, in: Brockhaus-Bibliothek „Mensch-Natur-Technik", Bd. 6: Die Zukunft des Planeten Erde, Leipzig u. a. 2000, 608-639, 611 ff.; ein vergleichbarer Ansatz auf kultursemiotischer Ebene findet sich bei Derks, Gods (wie Anm. 6) 19 ff. 10 Der Begriff stammt aus der linguistischen Sprechakttheorie (s.v.a. Robert B. Le Page, Andrée Tabouret-Keller, Acts of Identity. Creole-Based Approaches to Language and Ethnicity, Cambridge 1985; Charles Antaki, Sue Widdicombe (Hg.), Identities in Talk, London u.a. 1998), läßt sich aber gut auf andere Bereiche übertragen.
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daß die in Prozessen der Ethnogenese vorherrschende Dynamik und Intentionalität nicht mehr sichtbar wird. Gerade sie wird in den verschiedenen Ritualen der Gemeinschaftsstiftung und -Stärkung nicht repetiert und erinnert, im Gegenteil. Die Gemeinschaften erscheinen als feste Größen, nicht mehr als Konstrukte. Es geschieht mit und in ihnen genau das, was die Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann „Verdinglichung" 0reification) nennen. Konstrukte werden essentialisiert." Sie erscheinen nicht mehr als Ergebnis von Prozessen und teilweise durchaus bewußt vollzogenen Entscheidungen, also als intentionale Größen, und sie sind insofern auch unverfügbar. Ein Individuum wächst im Zuge seiner Sozialisation in eine fixe Gemeinschaft hinein und vollzieht in der Regel fraglos die verschiedenen „acts of identity". Es glaubt an ihre Überlieferung und Tradition und nimmt sich selbst, seine Gruppe und die Anderen entsprechend wahr. Die Zuschreibungen nimmt es als gegeben an, und seine Vorstellungen von Alterität sind vorgeprägt durch die Bilder, die ihm von diesen Zuschreibungen übermittelt werden und die oft - ethnozentrisch - in unmittelbarem Bezug zu den Selbstbildern (als Gegenbilder) stehen. Ein sehr spezifischer Modus der Verdinglichung ist der biologisch-physische Zusammenhalt des Kollektivs. Die Einheit versteht sich in besonderer Weise als eine Gemeinschaft von Verwandten,12 und das ist unabhängig davon, ob sie das realiter ist oder nicht. Gerade hierin kommt die Verfestigung des Intentionalen zum Ausdruck. Dies äußert sich u.a. in den vielfaltigen Regeln der Endogamie, gilt aber auch dort - als Reflex - , wo diese gelockert oder verschwunden sind. Gerade für die Bestimmung der Ethnizität ist diese Vorstellung von Verwandtschaft konstitutiv, wie schon der Begriff „Stamm" signalisiert. Ein ethnos versteht sich als Abstammungsgemeinschaft, und neben den oben skizzierten allgemeinen Elementen der Identitätskonstruktion ist gerade dies spezifisch. Diese Gemeinschaft beruht in der Regel auf gedachter Blutsverwandtschaft, aber auch auf verschiedenen Formen kognatischer Verbindungen. Es gibt die Überzeugung einer gemeinsamen Deszendenz (die Figur des Stammvaters), verbunden mit Beziehungen, die durch Heirat, Adoption o. ä. gestiftet werden. Damit kommt nun massiv die intentionale Geschichte ins Spiel, die hier im Kern genealogisch ist und mit Stemmata operiert sowie in der Regel - nach unseren Kate' ' Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980 (engl.: 1966), 94ff.; 185 f.; 199. 12 Vgl. Müller, Universum (wie Anm. 5).
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gorien - im Mythos repräsentiert ist, der als Geschichte verstanden wird. In Stammbäumen und Genealogien lassen sich Zusammengehörigkeit und Abgrenzung, Identitäten und Alteritäten, aber auch unterschiedliche Grade von Nähe und Ferne markieren. So erscheinen die Makedonen (in Gestalt des,Kunst-Heros' Makedon) im pseudo-hesiodeischen Frauenkatalog als Vettern der Abkömmlinge des Hellen; sie stehen den Griechen nahe, ohne zu ihnen zu gehören. Bei Hellanikos hingegen ist Makedon ein Sohn des Aiolos und damit Nachkomme Hellens, und dadurch erscheinen die Makedonen als Griechen.13 Methodologisch bedeutet das, daß wir mit der Analyse der Stemmata einen Zugang zum ethnischen Selbst- und Fremdverständnis gewinnen, wenn wir zeigen können, daß sie nicht bloße gelehrte Spekulation oder ästhetische Figur, sondern im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Die wissenschaftliche Analyse von Ethnizität hat also von der Analyse solcher Verwandtschaftsvorstellungen auszugehen und diese immer wieder auf ihren „Sitz im Leben" hin zu überprüfen. Genau dies soll hier geschehen. Dabei bietet die griechische Geschichte, d. h. der spezifisch griechische Modus der Identitäts- und Vergangenheitskonstruktion, günstige Voraussetzungen. Sie erlaubt es sehr oft noch, den konkreten Umständen der Entstehung von intentionaler Geschichte nahezukommen. Das liegt vor allem daran, daß die „Arbeit am Mythos" und die Kreation von Traditionen nicht Sache einer Funktionärsschicht oder Priesterklasse war, sondern Angelegenheit von Dichtern, Künstlern und Intellektuellen, die untereinander in einem - generationenübergreifenden - Konkurrenzkampf um Prestige, Weisheit und Originalität standen und auf diesen hohe Kreativität verwendeten.14 Natürlich waren sie nicht objektiv, sie hatten Erwartungen zu genügen oder waren von mehr oder weniger starkem Lokalpatriotismus geprägt. Gerade deshalb haben sie auf die verschiedensten Interessen Rücksicht genommen, und diese waren in der pluralistischen griechischen Staatenwelt sehr unterschiedlich. So verfugen wir über zahlreiche, schier unübersehbare Varianten und Versionen von Erzählungen, die immer wieder demonstrieren, wie an der intentionalen Geschichte ,weitergestrickt' wurde. Generell zeichnet sich eine deutliche Typologie ab. Da sich etwa auf Grund von älteren Traditionen, die sich nicht mehr umgehen ließen, nicht immer mit der Figur des 13
Hes. fr. 7 M.-W.; Hellan. FGrHist 4 F4. Hiergegen richtet sich zum Teil auch die Kritik bei Flavius Iosephus, Contra Apionem; vgl. Astrid Möller, Genealogien, Listen, Synchronismen. Studien zur griechischen Chronographie, Habil. Freiburg i.Br. 2002, 89 ff. Assmann spricht in diesem Zusammenhang von „Hypolepse" (Assmann, Gedächtnis [wie Anm.8] 280 ff.). 14
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Stammvaters operieren ließ, nutzten die Griechen als dessen Äquivalent den heros eponymos, dessen Name sich leicht, wie der des Urahnen, aus dem Namen einer Gruppe konstruieren ließ, so Aitolos aus den Aitolern usw. Ferner konnten die Griechen die ihnen bekannten Formen politischer Neugründung, etwa die Einrichtung einer apoikia oder den Synoikismos als Modell verwenden und mit hoher Plausibilität in die Vergangenheit projizieren. Sie mußten dann den Urahnen nicht konkret als Vorfahren genealogisch verorten, sondern konnten auch entsprechend mit Gestalten operieren, die eine bereits bewohnte Region als Gründerheroen oder Synoikisten neu strukturierten. Gelegentlich lassen sich sogar noch die politischen Umstände feststellen, unter denen die Neuformierung eines Mythos bzw. einer Abstammungslinie erfolgte, so bei der Integration des eponymen Heros der Triphylier, des Triphylos, in die arkadische Genealogie.15 Man kann sie unmittelbar mit der ausgreifenden Politik der Arkader nach der Schlacht von Leuktra verbinden. Diese Charakteristika der griechischen Erinnerungspflege bieten nun einen großen heuristischen Vorteil. Sie erlauben uns, eine Archäologie des Mythos zu betreiben. Wie ein Ausgräber können wir - wenigstens partiell - die unterschiedlichen Schichten der mythistorischen Tradition voneinander trennen und zu einer Art von Stratigraphie gelangen. Im günstigsten Falle können wir die verschiedenen Lagen sogar noch mit bestimmten politischen Vorgängen korrelieren. Wir können sie damit nicht nur datieren, sondern auch den historischen Ort der Konstruktion von intentionaler Geschichte bestimmen. Da gerade diese aus den genannten Gründen für die Ethnizität konstitutiv ist, soll eine solche Stratigraphie auch hier versucht werden. Vor dem Hintergrund des althistorischen Forschungsstandes bietet ein solches Verfahren noch einen besonderen Vorteil. Gerade wenn es um die frühe Geschichte von Elis geht, stehen immer wieder Fragen nach der Kontinuität mit der bzw. nach dem Bezug zur mykenischen Epoche oder Vorstellungen von Einwanderung im Vordergrund. Das ist durchaus verständlich, handelt es sich doch dabei um wichtige Themen der Frühgeschichte. Nicht selten wird aber dabei etwas vorausgesetzt und dann in die Deutung des Mythos bzw. der späteren Quellen hineingetragen. So erscheinen dann spätere Erzählungen von Wanderungen oder Autochthonie als Indizien für Bevölkerungsverschiebungen oder Kontinuitäten, obgleich sie diese schon auf Grund des großen zeitlichen Abstandes kaum
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CEG II 824,7; vgl. Nielsen, Triphylia (wie Anm. 3) 145 f.
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belegen können. Demgegenüber soll hier der Mythos in seinen verschiedenen Schichten freigelegt werden. Erst von da aus, also, um im Bild zu bleiben, wenn man hier auf den gewachsenen Boden stößt, läßt sich fragen, was der ermittelte Befund voraussetzt bzw. was hinter ihm steckt. Dann lassen sich etwa zum Thema der Kontinuität bzw. Diskontinuität bezüglich der mykenischen Zeit oder in der Frage möglicher Immigration die Spielräume wissenschaftlicher Hypothesenbildung eingrenzen. Es wird sich zeigen - auch wenn dies hier wegen unserer anders gearteten Zielsetzung nicht im Vordergrund steht - , daß man in diesen Problemfeldern mittels der archäologischen Arbeit am Mythos durchaus weiterkommt. Darüber hinaus ist freilich noch auf die Ergebnisse der ,richtigen' Archäologie und der Sprachgeschichte Rücksicht zu nehmen. Diese sind aber auch für unsere mythistorische Analyse selbst wichtig. Da es in der Ethnizität nicht allein um die Vergangenheitsvorstellungen geht, sondern auch um Wahrnehmungen und Zuschreibungen sowie um diverse „acts of identity", ist auch das relevant, was sich von diesen in der materiellen Kultur und in der Sprache abgelagert hat. Besonders wichtig sind darüber hinaus auch die religiösen Kulte und politischen Organisationsformen, für die wir neben archäologischen Relikten und sprachhistorischen Formen auch Schriftquellen, darunter zum Teil ältere Dokumente haben. Die Konfrontation der mythischen Vorstellungen mit den anderen Realien und Zeugnissen kann darüber hinaus auch die konkrete Verortung der verschiedenen Traditionen ermöglichen bzw. erleichtern und das Bild einer politisch-sozialen Einheit mit ihrem ethnischen Charakter deutlich machen.
II. Wendet man sich im Sinne dieser Vorüberlegungen Elis zu, so muß man auch hier mit Homer beginnen. Das Land oder zumindest das Kerngebiet der Eleier erscheint in der Ilias an zwei Stellen, die genau zueinander passen, im Schiffskatalog sowie im Nestorbericht des 11. Gesanges.16 In der Odyssee begegnet es an mehreren Stellen.17 Für uns besonders aussa16
Horn. II. 2,615-624; 11,670-762; vgl. femer 15,518f. (wo Kyllene schon von antiken Kommentatoren auch auf das arkadische Gebirge bezogen wurde, Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 6 , 4 0 1 ; vgl. auch u.). 17 Horn. Od. 4,634ff.; 13,275; 15,296ff.; 21,347; 24,431.
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gekräftig sind die Passagen in der Ilias. Die Bevölkerung des genannten Landes waren die Epeier. In der Generation vor den Trojakämpfen (in Nestors Erzählung) hatten sie einen König, Augeias, der in Elis residierte. Am trojanischen Krieg nahmen sie unter vier Anführern mit nur kleinen Kontingenten (jeweils zehn Schiffe) teil. In seiner umsichtigen Analyse des Schiffskatalogs hat Edzard Visser überzeugend dargelegt, daß es sich bei den Epeiern um ein altes Sagenvolk handelt und daß die Präsentation des Landes dort einige Auffälligkeiten zeigt:18 Homer nennt nur zwei Orte im spezifischen Sinn als Wohnsitze (Buprasion und Elis), von denen einer (Elis selbst) wohl eher als Platz, aber möglicherweise auch als Gebiet gedacht ist - als solches erscheint Elis jedenfalls in der Odyssee und wenig später im Schiffskatalog zur Lokalisierung Dulichions und der Echinaden (2,626: πέρην άλός "Ηλιδος αντα). Von den vier anderen Orten, die genannt werden, lassen sich nur zwei als Siedlungsplätze verstehen (Hyrmine und Myrsinos), während die beiden anderen (der Olenische Fels und der Hügel Alision) eindeutig Landmarken sind. Alle vier zusammen sind, wie auch die auffällige grammatische Einordnung zeigt (sie sind eingeschlossen in die Formulierung δσσον ... εντός έέργει, 2,616f.), als Begrenzungspunkte verstanden. Myrsinos ist durch das Adjektiv έσχατόωσα sogar direkt so qualifiziert; der Olenische Felsen und Alision erscheinen in dieser Gestalt in der Nestorerzählung, in der übrigens auch Buprasion eine vergleichbare Funktion hat. Es gibt also für Homer, völlig konsistent, ein Volk der Epeier, das Buprasion und Elis bewohnt, ein Gebiet, das auch als ein von vier Plätzen umgrenztes beschrieben werden kann. Beides ist für die Ethnizität bzw. die Ethnogenese der Eleier höchst bedeutsam. Die Eleier haben den Namen der Epeier nicht weitergeführt. Sie können ihn auch nicht erfunden haben (sonst hätten sie natürlich ihren eigenen Namen gewählt), vielmehr müssen sie ihn vorgefunden haben - in einem alten Mythenbestand. Andererseits konnten sie ihn offenbar nicht ohne weiteres selber tragen, weil sie schon einen eigenen Namen hatten. Dieser ist uns ja bekannt, und er leitet sich direkt von den geographischen Gegebenheiten her: Elis = Γαλις = vallis, d. h., das Talland. Die ^αλειοι = Ηλείοι sind „die Leute aus dem Tal(land)".19 Der Name war zur Zeit der Abfassung der Ilias jedenfalls schon so bekannt, daß er dort - neben der Bezeichnung des Landes - ein-
18
Edzard Visser, Homers Katalog der Schiffe, Stuttgart u.a. 1997, 555-573. Hierzu s. - statt vieler - Fritz Gschnitzer, Stammes- und Ortsgemeinden im alten Griechenland, in: ders. (Hg.), Zur griechischen Staatskunde, Darmstadt 1969,271-297, 277. 19
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mal als Synonym für Epeier begegnet. 20 Auch für das Land selbst sind Homers Angaben wichtig: Alle dort genannten Orte, mag sie Homer nun als Polis gedacht haben oder nicht, hatten kein eigenes Profil (man konnte sie entsprechend auch später nicht mehr klar lokalisieren), außer - allenfalls - als im älteren Mythos verankerte Plätze. Bei Elis selbst liegt das anders. Es war nicht nur im Mythos verankert (als Heimat des Augeias), sondern auch später der zentrale Ort. Zugleich kann mit Elis als Gebietsname aber auch das Land selbst bezeichnet werden. Visser hat zu Recht daraufhingewiesen, daß diese Beschreibung einen Zustand sehr loser Besiedlung in Elis widerspiegelt.21 Man kann aber noch weiter gehen. Der Orts- oder Gebietsname Elis ist bei Homer in besonderer Weise privilegiert: Es ist neben Buprasion hervorgehoben (übrigens unter Weglassung von Kyllene 22 ), mit dem Adjektiv δια qualifiziert und Sitz des Königs Augeias. 23 Außerdem kann das gesamte Gebiet genauso genannt werden wie der Ort selbst. Das läßt folgende Schlüsse zu: Die Bewohner dieses Landes, die sich schon in homerischer Zeit nach dem Gebiet 20
Horn. II. 11,671. - Auf das komplexe Problem der Datierung der Ilias kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei aber nicht verschwiegen, daß ich die von Walter Burkert, Das hunderttorige Theben und die Datierung der Ilias, WS 89, 1976, 5-21, und neuerdings von Martin L. West, The Date of the Iliad, ΜΗ 52, 1995, 203-219, vorgebrachten Beobachtungen und Argumente für eine Datierung in das frühe bzw. in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts für gewichtig halte (weiteres bei Kurt A. Raaflaub, A Historian's Headache. How to Read ,Homeric Society'?, in: Nicolas Fisher, Hans van Wees [Hg.], Archaic Greece. New Approaches and New Evidence, London 1998, 169-193, 193, Anm. 71). Das bedeutet aber nicht, daß man die in der Ilias dominierenden eher zeitgenössischen Elemente alle herunterzudatieren hat. Gerade die jüngere Forschung hat gezeigt, daß man grosso modo an die Zustände des 8. und frühen 7. Jahrhunderts denken kann, also an die Zeit, die man auch als griechische Renaissance (Robin Hägg [Hg.], The Greek Renaissance of the Eighth Century Β. C. Tradition and Invention. Proceedings of the Second International Symposium at the Swedish Institute in Athens, 1-5 June 1981, Stockholm 1983) bezeichnet hat (Ian Morris, Use and Abuse of Homer, ClAnt 5, 1986, 81-138; Christoph Ulf, Die homerische Gesellschaft. Materialien zur analytischen Beschreibung und historischen Lokalisierung, München 1990; Barbara Patzek, Homer und Mykene. Mündliche Dichtung und Geschichtsschreibung, München 1992; Hans van Wees, Status Warriors. War, Violence, and Society in Homer and History, Amsterdam 1992; ders., The Homeric Way of War. The Iliad and the Hoplite Phalanx I, G&R 41, 1994, 1-18; ders., The Homeric Way of War. The Iliad and the Hoplite Phalanx II, G & R 41, 1994, 131-155; Jan P. Crielaard [Hg.], Homeric Questions. Essays in Philology, Ancient History, Archaeology. Including the Papers of a Conference Organised by the Netherlands Institute at Athens, 15 May 1993, Amsterdam 1995; Kurt A. Raaflaub, Homer und die Geschichte des 8. Jahrhunderts v. Chr., in: Joachim Latacz [Hg.], Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart u.a. 1991, 205-256; Raaflaub, Headache [wie oben]). 21 22 23
Visser, Katalog (wie Anm. 18) 563. Das ist II. 15,518 f. in Verbindung mit dem Epeier Otos genannt; vgl. u. Horn. II. 11,698 ff.
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nannten, lebten in einer losen Siedlungsstruktur. Sie bildeten aber keine getrennten Einheiten, sondern hatten durchaus schon eine ,Identität', da unter ihren Dörfern und Weilern dem markanten Platz im Talland des Peneios, eben Elis, größere Bedeutung zukam. Dies wird durch die archäologische Dokumentation vollauf bestätigt,24 wobei die Frage der möglichen Ausdehnung (in Richtung auf den Alpheios vor allem) zunächst offenbleiben soll. Dieser Kernort war jedoch keine Polis, zu der Elis bekanntlich erst mit dem Synoikismos von 471 wurde.25 Da nun die Griechen ihre politischen Gemeinschaften nach πόλεις und εθνη einteilten,26 waren die Eleier im griechischen Sinne ein ethnos. Daß sie es auch im Sinne unserer Vorstellung von Ethnizität waren, wird sich gleich zeigen. Angesichts der klaren etymologischen Herleitung ihres Namens darf man darüber hinaus vermuten, daß ihre Ethnogenese sich am Orte selbst abspielte, daß die Eleier also, indem sie sich als ethnos formierten, den Namen ihres wichtigsten Siedlungsgebietes annahmen, also nicht als mehr oder weniger geschlossener Verband eingewandert waren - wo immer sie im einzelnen auch herkamen, falls sie überhaupt Immigranten waren. Dafür spricht auch, daß sie sich, wie wir gleich noch näher sehen werden, zwar als eingewanderte Aitoler betrachteten, aber doch keinerlei direkte Elemente des aitolischen ethnos, etwa einen Bezug zu deren alten Teilstämmen, bewahrten: Diese waren bei den Eleiern nicht genealogisch repräsentiert. Jedenfalls waren die Eleier sozusagen neu, denn an die Epeier konnten sie nicht direkt anknüpfen. Zu diesen führte, wer immer sie waren, kein Traditionsstrang zurück. Immerhin konnten sich die Eleier, da ihr Land und Hauptort bei Homer deutlich genannt waren, mit dem alten Sagenvolk der Epeier in Zusammenhang bringen, unter ei-
24
Siehe jetzt v. a. Catherine Morgan, Athletes and Oracles. The Transformation of Olympia and Delphi in the Eighth Century B.C., Cambridge u.a. 1990, 49ff.; 235ff.; 243; Birgitta Eder, Veronika Mitsopoulos-Leon, Zur Geschichte der Stadt Elis vor dem Synoikismos von 471 v. Chr. Die Zeugnisse der geometrischen und archaischen Zeit, JÖAI 68, 1999, 2 39 (mit der älteren Literatur) sowie die Übersicht bei Julia Taita, Gli Αιτωλοί di Olimpia. L'identità etnica delle comunità di vicinato del santuario olimpico, Tyche 15, 2000, 147188, 163 f. 25 Hierzu s. ν. a. Mauro Moggi, I sinecismi interstatali Greci, Bd. 1: Dalle origini al 338 a. C., Pisa 1976, Nr. 25, 157 ff.; vgl. Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., München 1985, 52 f. und jetzt Marta Sordi, Strabone, Pausania e le vicende di Oxilo, in: Anna Maria Biraschi (Hg.), Strabone e la Grecia, Neapel 1994, 137-144, 141 ff. 26 Hdt. 5,2; 7,8; 8,108; vgl. Peter Funke, Polisgenese und Urbanisierung in Aitolien im 5. und 4. Jh. v.Chr., in: Hansen, Polis (wie Anm.3) 145-188, 145; 177 Anm.2.
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nem zweiten Namen. Die ursprüngliche Diskrepanz zu den Epeiern dürfte darauf schließen lassen, daß dieser Vorgang der Ethnogenese nicht lange vor dem zeitlichen Horizont der Ilias, also im oder nicht lange vor dem 8. Jahrhundert, begann. Zu diesen rein aus der Überlieferung zu gewinnenden Daten passen ebenfalls die archäologischen Überreste.27 Mit dem Synonym der Epeier konnten die Eleier gewiß recht gut leben: Als junge Einheit konnten sie sich auf das Prestige eines alten und bekannten Sagenvolkes beziehen. Kritische Historiker konnten das aber auch anders sehen. Für uns erstmals greifbar sind bei Hekataios28 Epeier und Eleier getrennt, ja sie erscheinen sogar als Feinde: Herakles sei mit den Epeiern gegen Augeias und die Eleier gezogen. Auch sonst begegnet eine solche Trennung, obwohl die Gleichsetzung viel verbreiteter war.29 Allem Anschein nach haben die Eleier auf diese Herausforderung dadurch reagiert, daß sie sich einen eponymen Heros, Eleios, schufen und diesen auf zweifache Weise (Pausanias hat deshalb 2 Eleioi), also wohl in zeitlich geschiedenen Versionen, genealogisch verankerten. So erscheint er bei Pausanias an einer Stelle30 als König von Elis und Enkel des epeiischen Trojakämpfers Polyxenos, somit als Ururenkel des Augeias. Er war insofern auch enger in der elischen Mythistorie verankert, als unter seiner Herrschaft die Einwanderung der Dorier unter Führung des Oxylos (s.u.) erfolgte. Ingeniöser ist eine andere Variante, die sich ebenfalls bei Pausanias findet:31 Eleios ist dort Vater des Augeias (was sich leicht durch die Nähe zu dessen ,echtem', d.h. mythischem Vater Helios ['Ηλείος - "Ηλιος] erklären ließ) und damit Herrscher der Epeier bzw. von Elis. Zugleich ist er, über Endymions Tochter Eurykyda, die auch als Tochter Poseidons galt, ein Enkel des bekannten Endymion. Davon weiß Homer noch nichts, denn für das ihm geläufige Volk der Epeier war ein heros eponymos Eleios sinnlos und die Ersetzung des Helios war ein einfacher Schritt der Mythenrationalisierung. Diese Version hatte durchaus einen festen Sitz im elischen Leben. Eurykyda hatte einen Kultplatz, das Εύρυκύδειον άλσος, in der Nähe von Samikon in der triphylischen Küstenzone.32 Damit läßt 27
Vgl. u. S.35 mit Anm. 60-62. - Man muß berücksichtigen, daß es sich um einen eher vagen terminus ante quem handelt, vgl. u. Anm. 79. 28 FGrHist 1 F25 (= Strab. 8,3,9). 29 So F. Jacoby im Kommentar zur Stelle. 30 Paus. 5,3,4f.; zu Polyxenos vgl. auch Wolfgang Kullmann, Die Quellen der Ilias, Wiesbaden 1960, 98. 31 Paus. 5,1,8 f. 32 Strab. 8,3,19; zu Eurykyda als Tochter Endymions s. Paus. 5,1,4, als Tochter Poseidons ebd. 5,1,8.
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sich wahrscheinlich ein terminus post quem für diese Version begründen, denn Triphylien kam erst im Zuge des Ausbaus der elischen Symmachie unter die Kontrolle von Elis,33 und es kann gut sein, daß die Eleier den dortigen Kult danach für sich okkupierten und eine neue Stammutter kreierten. Denn sie wird ja auch als Tochter Poseidons bezeichnet, der gerade im Raum von Samikon besonders verehrt wurde.34 Als Tochter des Endymion war sie aber ganz in die Genealogie der Epeier/Eleier integriert. Mit Endymion aber befinden wir uns bereits an dem zentralen Punkt der elischen Mythistorie, wie sie bei Pausanias in späterer Ausprägung vorliegt.35 Endymion war nicht nur Vater der Eurykyda, sondern auch des Paion, Aitolos und Epeios, und über Aitolos der Ahnherr des Dorier-Führers Oxylos, ein Stammvater der Eleier/Epeier also in mehrfacher Hinsicht. Wir fassen hier das Herzstück der elischen Geschichtsvorstellung, nämlich die Verbindung, d. h. mythische Verwandtschaft mit den Aitolem. Gerade hier lohnt sich die Stratigraphie des Mythos. Wir können gleichsam an zwei Plätzen graben, bei Endymion und Oxylos, beide alte Sagenfiguren, und dann die Befunde nebeneinanderstellen. Daß die Eleier aus Aitolien eingewandert waren, war im 5. Jahrhundert völlig geläufig. Herodot sagt das expressis verbis und bei Pindar und Bakchylides scheint das poetisch reflektiert zu sein.36 Die Geschichte dieser Immigration ist aufs engste verquickt mit der Sage von der Rückkehr der Herakliden bzw. der Landnahme der Dorier auf der Peloponnes. Nach den eingehenden Analysen von Friedrich Prinz37 war diese etwa im dritten Viertel des 7. Jahrhunderts geschaffen worden, um die Diskrepanz zwischen der homerischen Sagenwelt und der Dominanz dorischer Zentren auf der Peloponnes zu erklären. Ein wichtiger Bestandteil dieser Sage war die Geschichte von dem Aitoler Oxylos, der die Herakliden und die Dorier auf die Peloponnes geleitete und zum Dank dafür für sich und seine Leute, also Aitoler, Wohnsitze im Nordwesten der Peloponnes, eben in Elis,
33
Hierzu jetzt Nielsen, Triphylia (wie Anm. 3) 139 ff.; Roy, Perioikoi (wie Anm. 3) 289 ff. Roy, Perioikoi (wie Anm. 3) 289; zum Poseidonkult von Samikon s. Strab. 8,3,13; Raoul Baladié, Le Péloponnèse de Strabon. Étude de géographie historique, Paris 1980, 335; Maddoli, L'Elide (wie Anm. 2) 168 f.; Maddoli, Saladino, Pausania (wie Anm. 2) Bd. 5, 209; Julia Taita, Confini naturali e topografia sacra: i santuari di Kombothékras, Samikon e Olimpia, Orbis Terrarum 7, 2001, 107-142, 111 ff. Damit könnte auch der Transfer der Poseidonstatue nach Elis (Paus. 6,25,6 mit Baladié, Péloponnèse a. O.; Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 5,397) zusammenhängen. 35 Paus. 5,1,4 fr. 36 Hdt. 8,73,2f.; Pind. O. 3,12f.; Bakchyl. epin. 8,28f. 31 Friedrich Prinz, Gründungsmythen und Sagenchronologie, München 1979, 221 -313. 34
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erhielt.38 Dieser Bestandteil ist aber fur die Herakliden-Dorier-Geschichte überflüssig, und Prinz hat deshalb zu Recht geschlossen, daß sich diese „in ihrer endgültigen Ausprägung über ältere Lokalsagen" gelegt hat.39 Damit gewinnen wir einen terminus ante quem für den Mythos von der Einwanderung von Aitolern unter Oxylos nach Elis - wenn auch noch nicht für die damit verbundenen Details. Wir kommen damit mindestens in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts, also einigermaßen dicht an die Zeit heran, die wir für die Ethnogenese der Eleier postuliert haben. Homer freilich scheint diese Verbindung noch nicht gekannt zu haben - oder er hat sie aus Rücksicht auf älteres Sagengut mit den Epeiern in Elis unterdrückt. Jedenfalls stellt er keine Verbindung zwischen Elis und Aitolien her, weder explizit noch durch genealogische Kombinationen. Endymion war nicht nur eine alte, sondern auch durchaus prominente Figur der griechischen Sage, berühmt vor allem als Geliebter der Selene. Schon in der archaischen Poesie, besonders bei Sappho, hat er ein markantes Profil.40 Auch genealogisch war er fest verankert, als Sohn des Aëthlios, der seinerseits ein Kind des Zeus und der Deukalion-Tochter Protogeneia war, also in den Ursprungshorizont gehört. Als Sohn der Kalyke, Tochter des Aiolos, war er auch in das Stemma der Aioliden eingebunden.41 Sagentopographisch war er in verschiedenen Regionen angesiedelt, was so zu verstehen ist, daß sich bestimmte Gruppen im Zuge ihrer Ethnogenese an diese bedeutende Sagenfigur angeschlossen haben. Am deutlichsten greifbar ist seine Verbindung mit dem kleinasiatischen Latmos-Gebirge, aber auch mit Aitolien. Dies war die Basis für die in 38
Die wichtigsten Quellen zu dieser Version sind Apollod. bibl. 2,8,3; Strab. 8,1,2; 3,30; 33 (= Ephoros FGrHist 70 F115); 10,3,2 f. (= Ephoros F122); Konon FGrHist 27 F1, c. 14; Paus. 5,1,3; 3,5 ff.; Tzetz. chil. 12,364ff. Oxylos dürfte auch mit dem Αιτωλός άνηρ bei Pind. O. 3,12 f. gemeint sein. Zur Oxylos-Sage ist immer noch grundlegend Edwin MüllerGraupa, Oxylos, RE 18, 1, 1942, 2034-2040. 39 Prinz, Gründungsmythen (wie Anm. 37) 307; vgl. 309 („sekundäre Einbeziehung älterer lokaler [hier elischer] Sagen in die Heraklidensage"): Ein höheres Alter ergibt sich auch daraus, daß die sicher spätere Version einer Rückwanderung der Aitoler wohl schon in der Mitte des 6. Jahrhunderts vorausgesetzt werden kann, s. das Folgende. Nach Antonetti ist Aitolos („artificiamento creato") jünger als Oxylos (Claudia Antonetti, Strabone e il popolamento originario dell'Etolia, in: Biraschi, Strabone [wie Anm. 25] 119-136, 130). 40 Grundlegend ist Louis Robert, Documents d'Asie Mineure V-XVII, BCH 102, 1978, 395-543, 488ff. Zu den Quellen s. die Zusammenstellungen bei Claudia Antonetti, Les Etoliens. Image et religion, Paris 1990, 58 f.; Taita, Olimpia (wie Anm. 24) 159 f. mit Anm. 34 ff.; 169 mit Anm. 64. 41 Zur Genealogie des Endymion s. Hes. fr. 10a M.-W., 58 ff. (suppl. West e Apollod. bibl. 1,7,5); Akusil. FGrHist 2 F36; Pherek. FGrHist 3 F21; Peisandr. FGrHist 16 F7; Daümachos FGrHist 65 Fl; Apollod. bibl. 1,7,5f.; Konon FGrHist 26 Fl, c. 14; Paus. 5,1,3; vgl. Antonetti, Strabone (wie Anm. 39) 132 f. u. o. Anm. 40.
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hellenistischer Zeit belegte Vorstellung einer Verwandtschaft der Aitoler mit den Bürgern von Herakleia am Latmos, die auch politisch relevant wurde, in der Verleihung der Isopolitie an die Herakleoten durch die Aitoler am Ende des 3. Jahrhunderts, unter Hinweis auf die Verwandtschaft. Louis Robert hat gezeigt, daß diese auf Endymion fußte, der als Gründer von Herakleia und zugleich als Vater des aitolischen Eponymen Aitolos galt.42 Diese Verbindung ist bereits relativ früh belegt, denn in einem Papyrus-Fragment des pseudo-hesiodeischen Frauenkatalogs konnte Martin West überzeugend, aus Apollodors ,Bibliothek', Aitolos als EndymionSohn ergänzen.43 Damit sind wir bereits im 6. Jahrhundert, dürfen aber mit Wests Überlegungen zur Genese der Stemmata im Katalog noch weiter zurückgehen.44 Schon damit aber sind die Eleier als Nachkommen von auf die Peloponnes eingewanderten Aitolern unter dem Aitolos-Nachfahren Oxylos auch Abkömmlinge des Endymion. Diese Verbindung wurde allerdings noch enger geknüpft. Bereits bei Ibykos, also etwa in der Mitte des 6. Jahrhunderts, erscheint Endymion als König in Elis.45 Im Stadion von Olympia, wo man sein Grab zeigte, genoß er kultische Verehrung, ohne daß wir deren Ursprung zeitlich fixieren können.46 Immerhin gab es bereits im Schatzhaus von Metapont eine Statue des Endymion, in der man wohl (mit Maurizio Giangiulio) ein Ehrengeschenk der Metapontiner vermuten darf.47 Mit dem elischen Endymion gewinnt aber auch ein wichtiges Ereignis der elischen Mythistorie, das erst später belegt ist (erstmals in dem bei Ephoros48 zitierten Epigramm 42
Robert, Documents (wie Anm.40) 477ff., bes. 489f.; zur Datierung s. jetzt Peter Funke, Zur Datierung der aitolischen Bürgerrechtsverleihung an die Bürger von Herakleia am Latmos (IG IX l 2 , 1, 173), Chiron 30, 2000, 505-517. 43 Fr. 10a, 63. 44 Martin L. West, The Hesiodic Catalogue of Women. Its Nature, Structure, and Origins, Oxford 1985, 136 ff.; 141 ff; 166. 45 Schol. Apoll. Rhod. 4,57 f. (vgl. Taita, Olimpia [wie Anm.24] 159): "Ιβυκος δέ èv α' Ή λ ι δ ο ς αύτόν (sc. Endymion) βασιλεϋσαί φησιν, vgl. ansonsten vor allem Paus. 5,1,3 ff. 46 Paus. 5,1,5; 6,20,9 mit Taita, Olimpia (wie Anm.24) 183f. Ein Bezug zur Umstrukturierung ca. 465-450 (zu dieser Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm.2] Bd. 6, 343 mit Hinweisen) scheint denkbar. 47 Paus. 6,19,11 ; vgl. Taita, Olimpia (wie Anm. 24) 185 f. mit Anm. 11, dort der Hinweis auf Maurizio Giangiulio, Le città di Magna Grecia e Olimpia in età arcaica. Aspetti della documentazione e della problematica storica, in: Attilio Mastrocinque (Hg.), I grandi santuari della Grecia e l'occidente, Trento 1993, 93-118, 105 ff. Auch wenn man mit dem Schatzhaus selbst in das 6. Jahrhundert kommt (vgl. Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 6, 325 f.), gibt das keine zeitliche Fixierung, weil die Statue natürlich später dort aufgestellt worden sein kann. 48 FGrHist 70 F122.
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aus Thermos), ein höheres Alter: die ursprüngliche Heimat des Aitolos in Elis und die erstmals bei Daïmachos im 4. Jahrhundert bezeugte Variante, daß Aitolos wegen eines Totschlag-Deliktes diese Heimat verlassen mußte.49 Er sei dann - wie wir vor allem von Ephoros erfahren - nach Aitolien gegangen, habe dieses Land erobert und nach sich benannt.50 Damit ist - der Widerspruch wurde schon in der Antike wahrgenommen51 - neben die aitolische Herkunft der Eleier die elische Deszendenz der Aitoler getreten.52 Es ist - aus gleichsam mythistorischer Logik - offensichtlich (und wird auch durch das von West erschlossene hohe Alter der Endymion-Variante des Frauenkatalogs nahegelegt), daß diese komplizierte Version (Auswanderung des Aitolos aus Elis, Rückkehr seiner Nachkommen aus Aitolien nach Elis) jünger ist. Diese Doppelung in der intentionalen Geschichte von Elis, die man gemeinhin erst später datiert und mit der elisch-aitolischen Waffenbrüderschaft im Krieg zwischen Elis und Sparta (402-400) verbunden hat, reicht also wegen Ibykos mindestens ins 6. Jahrhundert zurück, denn ein elischer Endymion, wie er dort bezeugt ist, ergibt nur Sinn, wenn man seinen Sohn Aitolos eben dort verankern wollte. Details der Besiedlung Aitoliens mögen erst später weiter ausgesponnen sein (vgl. u.). Daß die Doppelung dieser Verbindung im elischen Interesse lag, ist jedenfalls offenkundig. Die Eleier konnten damit einen unangenehmen Punkt in ihrer Frühgeschichte, die problematische Beziehung zu dem alten Sagenvolk der Epeier, elegant beseitigen. Indem sie auf der Gleich49
Daïmachos FGrHist 65 Fl; Apollod. bibl. 1,7,6; Paus. 5,1,8. Ephor. 70 F122 (= Strab. 10,3,2), mit Epigrammen aus Thermos und Elis, vgl. [Skymn.] GGM I 215,473 f. Epeier in Aitolien sind schon bei Hellanikos (FGrHist 4 F195) und Damastes (FGrHist 5 F 3) belegt. 51 Strab. 10,3,3 zu Ephoros F122; dahinter könnte nach Antonetti, Strabone (wie Anm.39) 130, eine Widerlegung Herodots (8,73,2 f.) stecken. 52 Diese hat andere Varianten nicht völlig verdrängt: So ist Aitolos bei Hekataios (FGrHist 1 F14) mit einer „genealogia razzionalizzata" (Antonetti, Strabone [wie Anm.39] 133) als Sohn des Oineus in Kalydon, also dem aitolischen Kernland der alten Heldensage und der frühen Epik (vgl. Antonetti, Strabone [wie Anm.39] 130), verankert, also keineswegs ein Epeier bzw. Eleier. Diese Variante weist nach Aitolien und zeigt, daß die Verbindungen zwischen Aitolern und Eleiern auch nicht zu eng gezogen werden können (vgl. u. S. 38). Das Nebeneinander beider Versionen hat manche Gelehrte (bes. Sordi, Strabone [wie Anm.25] 140f.; vgl. aber auch Jacoby zu Daïmachos FGrHist 65 F l ) dazu gebracht, die ,Verdoppelung' der Beziehungen (Aitolos als Einwanderer aus Elis und spätere Rückwanderung von Aitolern unter Oxylos) erst mit der aitolischen Unterstützung von Elis in dessen Krieg gegen Sparta (402-400, zum Datum s. Gehrke, Stasis [wie Anm. 25] 53 Anm. 7) in Verbindung zu bringen. Doch die Kombination der Endymion-Deszendenz des Aitolos und der Herrschaft Endymions in Elis weisen auf ein höheres Alter. 50
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setzung beharrten, konnten sie Aitolos mit seinen Landsleuten, eben den Epeiern/Eleiern, nach Aitolien auswandern lassen, waren also in Elis nicht nur zu den alten Epeiern hinzugekommene Immigranten. Darüber hinaus, und das war noch wichtiger, war der Anspruch auf das elische Land dadurch besser begründet: Die Eleier waren nicht eingewanderte Aitoler, sondern letztlich identisch mit den ältesten bekannten Besiedlern des Landes, also autochthon. Die Figur der Rückwanderung hatte hier also dieselbe Funktion wie die Sage von der Rückkehr der Herakliden neben der der dorischen Immigration für die Frühgeschichte der dorischen Staaten auf der Peloponnes53 (oder später die in der römischen Mythistorie vorgenommene Lokalisierung des an sich troischen Dardanos in Italien54). Bei Strabon heißt es dann auch von Oxylos und seinen Leuten, sie seien συγκατελΟόντες τοις Ήρακλείδαις. 55 Entsprechend emphatisch wird die Autochthonie der Eleier bzw. der elische Ursprung der Aitoler in den bei Ephoros zitierten Epigrammen auf den Statuenbasen der Gründerheroen Aitolos und Oxylos formuliert (wohl im ausgehenden 5. Jahrhundert): In Thermos evozierten die Aitoler plastisch die Jugend des Aitolos am Alpheios, „nahe den Stadionläufen von Olympia", während in Elis von ihm expressis verbis gesagt wird, er habe das „autochthone Volk", d.h. die Eleier, verlassen.56 Diese Zusammenhänge zeigen - über ihre Bedeutung für das Selbstverständnis und die intentionale Geschichte der Eleier hinaus - , daß die Eleier neben der durch Homer,besiegelten' Existenz der Epeier noch um ein zweites Element nicht herumkamen, nämlich um die Einwanderung. Es war ihnen unmöglich, diese zu umgehen, sie hatten da keinen Spielraum. Hätten sie ihre Frühgeschichte frei konstruieren können, hätten sie schlicht die Autochthonie behaupten können. Ich sehe hierin kein unbedeutendes Argument für die tatsächliche Herkunft mindestens bestimmter Gruppen bzw. sogenannter „Traditionskerne"57 aus Nordwestgriechenland. Jedenfalls ist die Nähe zu den Aitolern, die in der alten Oxylos-Geschichte und der wenig späteren Lokalisierung des Endymion in Elis zum Ausdruck gebracht wurde, mit dem Selbstverständnis der Eleier und mit 53
Prinz, Gründungsmythen (wie Anm. 37) 222 f. Verg. Aen. 3, 94ff.; 7,195 ff.; vgl. Timothy P. Wiseman, Legendary Genealogies in Late Republican Rome, G & R 21,1974,153-164; Pierre Grimal, Le retour des Dardanides. Une légitimité pour Rome, JS, 1982, 267-282. 55 Strab. 8,3,30. 56 Ephor. FGrHist 70 F122. 57 Zum Begriffs, bes. Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 6) 75 f f ; 140ff
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ihrer Ethnogenese aufs engste verquickt. Betrachten wir dies im Lichte der im ersten Teil gegebenen Überlegungen zur Identitätsbildung, so werden weitere Beobachtungen und Schlußfolgerungen wichtig. Wir haben auf Wahrnehmungen und Zuschreibungen zu achten, die Nähe und Differenz in wesentlichen Bereichen des Lebens betreffen, z.B. in Sprache, Habitus und Kultus, und von da her das uns greifbare Material zu mustern. Dabei wird man von vornherein zu berücksichtigen haben, daß wir auf Grund von dessen Dürftigkeit gerade in der frühen Zeit aller Voraussicht nach kaum werden unterscheiden können, was ursprüngliche Selbst- und Fremdwahrnehmung war und was sich erst als Ergebnis von Zuschreibungen und,gepflegten' Formen der Identitätsrepräsentation im Sinne von „acts of identity" herausbildete. Diese können die originären Wahrnehmungen entscheidend überformt und verstärkt haben; sie sind demnach im Zweifelsfalle auch für uns viel deutlicher greifbar - ohne daß wir sie deshalb gleich mit der Ausgangssituation der Stilisierung verbinden können. Das Ergebnis der sprachhistorischen Analyse gibt ein ziemlich einheitliches Bild, das in einer deutlichen communis opinio der Forschung zum Ausdruck kommt.58 Der elische Dialekt, in sich relativ einheitlich und klar definierbar, steht den in Nordwestgriechenland gesprochenen Dialekten sehr nahe. Dies könnte, wie gerade die neuere linguistische Forschung zeigt, durchaus auf „acts of identity" zurückgehen, zumal die Hauptquelle für die sprachliche Struktur offizielle elische Texte sind. Andererseits kann man sich nicht ohne weiteres die für solche gemeinsamen sprachlichen Vereinheitlichungstendenzen innerhalb wie außerhalb von Elis verantwortlichen Instanzen, Institutionen oder Kommunikationsstrukturen vorstellen, die auf eine bewußte Angleichung gezielt hingewirkt hätten. Es spricht also einiges dafür, hier an eine ursprüngliche Nähe zu denken. Sollte die von Strabon vorgenommene Identifizierung des homerischen Myrsinos mit dem späteren Myrtuntion zutreffen, dann könnte man an ein ursprünglich dorisch-nordwestgriechisches Myrtinos denken, das dann episch,ionisiert' wurde,59 und hätte einen frühen Beleg in der für die Ethnogenese der Eleier vorgeschlagenen Zeit. Aber das bleibt unsicher. 58
Siehe vor allem Franz Kiechle, Das Verhältnis von Elis, Triphylien und der Pisatis im Spiegel der Dialektunterschiede, RhM 103, 1960, 336-366; Siewert, Bürgerrechtsverleihung (wie Anm. 1); Annie Thévenot-Warelle, Le dialecte grec d'Elide. Phonétique et phonologie, Nancy 1988, 19; Rüdiger Schmitt, Einführung in die griechischen Dialekte, Darmstadt 2 1991, 62ff., weiteres bei Taita, Olimpia (wie Anm.24) 164 Anm.46. - Ob die politische Bezeichnung διαιτατέρ ebenfalls nach Nordwestgriechenland verweist (so Taita, Olimpia [wie Anm. 24] 165 f.), muß m. E. unsicher bleiben. 59 Visser, Katalog (wie Anm. 18) 564.
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Die materielle Kultur, die jüngst von Catherine Morgan zusammenfassend für die frühe (protogeometrisch-geometrische) Zeit analysiert und in bezug auf die Stadt Elis von Birgitta Eder und Veronika Mitsopoulos-Leon gemustert wurde, hilft nicht viel weiter. Abgesehen davon, daß nicht jede Form und Ware etwa der Keramik Relikt und Ausdruck von identitätsrelevantem Habitus oder ethnischer Zuordnung ist, machen auch die Dürftigkeit der Zeugnisse und das Fehlen systematischer und großflächiger Untersuchungen alle Aussagen mehr oder weniger hypothetisch. Immerhin gibt es Indizien fur einen deutlichen Bevölkerungsrückgang in protogeometrischer Zeit und für einen Zuwachs in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, zunächst vor allem in den Tal-Zonen von Peneios und Alpheios. Morgan spricht sogar von einem „resettlement",60 was fur ein Einsickern von neuen Gruppen sprechen würde. Nach den Beobachtungen von Eder und Mitsopoulos-Leon existierte im Bereich des späteren Elis eine submykenisch-protogeometrische Siedlung (Ende 11. und 10. Jahrhundert), die im 9. Jahrhundert offenbar ,ausdünnte' (jedenfalls sind die Befunde bisher sehr „spärlich"), aber bereits in den beiden folgenden Jahrhunderten Spuren deutlich stärkerer Besiedlungsaktivität zeigt.61 Auch dies könnte daraufhindeuten, daß mit dem 8. Jahrhundert, durchaus infolge eines Zuzugs neuer Siedler, eine neue Entwicklung einsetzte. Die Herkunft solcher Siedler ist allerdings mit archäologischen Mitteln nicht zu bestimmen, da sich in der Keramik stilistische Nähe zu verschiedenen Regionen (Achaia, Aitolien, Ithaka) nachweisen läßt, die aber nicht „straightforward" ist.62 Diese Beobachtungen passen jedoch nicht schlecht zu den aus der mythistorischen und sprachlichen Analyse gewonnenen Schlußfolgerungen; auf keinen Fall widersprechen sie ihnen. Die Interpretation der Kulte, einschließlich der des elischen Kalenders, gibt gewisse Hinweise, doch lassen sich diese leider nicht mit Sicherheit in die frühe Zeit zurückfuhren - sieht man von Olympia einmal ab, dessen zentraler Kult aber nichts über die religiösen Beziehungen von Elis zu Aitolien aussagt. Diese sind lediglich in der intentionalen Geschichte repräsentiert, worauf wir noch zurückkommen werden. Von dem Grabmal des Endymion in Olympia war bereits die Rede, desgleichen von dem Kultplatz seiner Tochter in Triphylien. Wie weit ein Heroenkult für Endymion zurückreicht, muß offenbleiben. Die Beziehung der Eurykyda 60
Morgan, Athletes (wie Anm. 24) 50. " Eder, Mitsopoulos-Leon, Geschichte (wie Anm. 24) 10; 35. 62 Morgan, Athletes (wie Anm. 24) 52.
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auf Endymion scheint, wie wir sahen, eher spät zu sein. Das gilt auch für den Totenkult des Oxylos-Sohnes Aitolos (sozusagen Aitolos' II.), dessen Grab sich in einem Stadttor von Elis befand.63 Da Elis bei Xenophon, bezogen auf den elisch-spartanischen Krieg, noch als unbefestigt erscheint,64 dürfte mindestens dieser Platz nicht vor 400 eingerichtet worden sein. Denkbar ist freilich (auch wegen der auffälligen Lokalisierung), daß hier ein älteres Kultmal integriert wurde. Für ein Grabmal des Oxylos selbst fand schon Pausanias keinen eindeutigen Hinweis.65 Der Bezug der im Alpheios-Gebiet verehrten Artemis Elaphiaia auf die aus Kalydon, Naupaktos und Patrai bekannte Artemis Laphria, den Julia Taita66 ins Spiel bringt, ist unsicher, ebenfalls die Deutung des ApollonThermios-Altars beim olympischen Heraion.67 Ansonsten bleibt meines Wissens nur der allgemeine Hinweis auf Kulte in Olympia, die sowohl den im elischen Gebiet wie bei den Aitolern verehrten Heroen und Heroinen galten.68 Auch er ist zeitlich nicht zu spezifizieren, unterstreicht aber, was wir auch aus der Mythistorie und der politischen Geschichte wissen, daß die Beziehung zwischen Elis und Aitolien .gepflegt' wurde, bis in die römische Kaiserzeit hinein. Die Vorstellung der Verwandtschaft hatte also einen festen „Sitz im Leben".69 Darauf könnte auch der Kalender verweisen. Nach Catherine Trümpys Untersuchungen sind zwei der acht epigraphisch belegten elischen Monatsnamen70 auch im aitolischen Kalender zu finden (Athanaios, Dios) und weist ein anderer (Elaphios) nach Nordwestgriechenland. Ob das allerdings wirklich aussagekräftig ist, kann man auch bezweifeln, führen 63
Paus. 5,4,4. Xen. hell. 3,2,27. 65 Paus. 6,24,9. 66 Taita, Olimpia (wie Anm. 24) 185 f.; vgl. Paus. 6,22,8 ff. 67 Paus. 5,15,7, von Taita, Olimpia (wie Anm.24) 183 mit Anm. 106 auf Thermos bezogen; aber das ist ganz unsicher, man kann mit Pausanias mindestens ebensogut an einen Apollon Thesmios denken (Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 5, 276 f.). 68 Paus. 5,15,12. 69 Demgegenüber weisen die aitiologische Erklärung eines wichtigen Herakultes (Paus. 6,16,1 ff.; vgl. dazu Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm.2] Bd.5, 286ff.) sowie die Thyiai (für Dionysos) (Paus. 6,26,1; Plut. mul. virt. 2 5 l e mit Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm.2] Bd.5, 287 f.) auf die Beziehungen von Elis und Pisa. Umberto Bultrighini (Pausania e le tradizioni democratiche. Argo ed Elide, Padua 1990, 165 ff.; 179 ff.) sieht in ihr eine ältere pisatische Tradition, die von einer elischen überlagert wurde. Aber angesichts der Problematik der pisatischen Überlieferung (s.u. S.41 ff.) kommen wir damit nicht in eine frühe Zeit. 70 Catherine Trümpy, Untersuchungen zu altgriechischen Monatsnamen und Monatsfolgen, Heidelberg 1997, 199 ff. 64
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doch zwei weitere Namen (Thyios, Apollonios) in den thessalisch-boiotischen Bereich. Halten wir also fest: Wie schon der Name signalisiert, fand die Ethnogenese der Eleier vor Ort statt. Andererseits ist ihre Herkunft aus Aitolien bereits der frühesten uns greifbaren lokalen Mythistorie eingeschrieben. Diese Vorstellung wurde entweder von eingewanderten Gruppen, sogenannten Traditionskernen, die den Vollzug der Ethnogenese prägten, mitgebracht oder sie hat sich am Ort bei der ansässigen Bevölkerung herausgebildet. Erstere Annahme ist nach Lage der Dinge wahrscheinlicher, die zweite aber nicht ausgeschlossen. Sie ist allerdings voraussetzungsreicher, denn wir müßten in diesem Fall unterstellen, daß die Wahrnehmung von Nähe zu den Leuten jenseits des Meeres so groß war, daß man sie zu einer Vorstellung von Verwandtschaft verdichtete und mit dem in mancher Hinsicht unangenehmen Einwanderungsmythos beschrieb. Es müßte also enge und in gewisser Weise etablierte Kontakte zwischen Elis und Aitolien bzw. den dort jeweils ansässigen Bevölkerungen über das Meer hinweg gegeben haben. Daß wir dafür - abgesehen von der Mythistorie selbst und den wenig spezifischen archäologischen Materialien - keine direkten Belege haben, mag angesichts unserer dürftigen Überlieferungslage wenig ins Gewicht fallen. Immerhin ergeben sich aus Homer transmarine Bezüge, die auch in der frühen Sage verankert waren, nämlich zu Meges, dem Trojakämpfer und Herrscher über die Echinaden und Dulichion:71 Meges galt als Sohn des Phyleus, der aus Zorn über die Ungerechtigkeit seines Vaters Augeias aus Elis nach Dulichion emigriert war. Zudem ist - außerhalb des Schiffskataloges und der Nestorerzählung - Kyllene, der wichtigste Hafenort von Elis, dem Gebiet der Epeier-Eleier zuzurechnen. Im 15. Gesang der Ilias (518 f.) erscheint der Kyllenier Otos, bezeichnenderweise ein Gefahrte des Meges, als άρχος Έπειών. Eine maritime Außenbeziehung von Elis ist damit bereits in einem frühen Horizont greifbar, deutlich auch in der Odyssee.72 Auf diesem Wege können Kontakte existiert haben. Allerdings fuhren sie noch nicht in den epischen ,Kernraum' der Aitoler um Kalydon und Pleuron, aus dessen Nähe (Naupaktos) in der Mythistorie der Übergang der Herakliden unter Oxylos' Führung erfolgte. Überdies würden solche Bezüge eher auf den Bereich von Achaia (etwa das Gebiet von Patrai) als wesentliche Kontaktzone weisen, was auf Grund der geographischen Gegebenheiten überaus naheliegt. Demgegenüber sind die 71 72
Horn. II. 2,625 ff. Horn. Od. 4,634ff.; 15,296ff.; 21,347.
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Eleier - man denke auch hier an ihren Namen - deutlich binnenländisch orientiert und durch agrarische Lebensweise geprägt, zudem, abgesehen von Kyllene, nahezu hafenlos.73 Die über das Meer weisenden Beziehungen von Elis und die im frühen Epos erkennbare maritime Perspektive lassen sich überdies sehr gut aus der Sicht der Epik erklären, die ja im Schiffskatalog deutliche Elemente eines Periplus-Schemas verrät. Dies gilt auch für die Perspektive der Odyssee, für die das Festland geradezu auch wie eine Peraia erscheint, von Ithaka aus.74 Dieses wird im homerischen Apollon-Hymnos,75 wenn auch in eigenwilliger Anordnung, die der Bemühung um episch-gelehrte Reminiszenzen geschuldet ist, überaus deutlich. Es handelt sich aber um eine eindeutige Außenwahrnehmung. Der Bezug der Eleier auf Aitolien drängt sich also keineswegs auf, und man kann sich deshalb nur schwer vorstellen, daß sich die Idee mythistorischer Verwandtschaft gleichsam autochthon herausgebildet hat. Man wird sich also den Beginn der elischen Ethnogenese hypothetisch etwa so vorzustellen haben: Von dem nordwestgriechischen Festland wanderten womöglich recht kleine Gruppen in das sehr dünn besiedelte Elis ein, möglicherweise im 8. Jahrhundert, zunehmend in dessen zweiter Hälfte. Zusammen mit anderen, teils eingewanderten und teils zuvor schon dort ansässigen Gruppen siedelten sie vor allem in den fruchtbaren Talauen des Peneios und Alpheios. Den Traditionskern bildeten aber jene Leute aus dem aitolischen Raum, die sich um die spätere Akropolis von Elis festsetzten und sich „Talleute" nannten. Sie bewahrten ein Bewußtsein ihrer Herkunft, suchten aber auch Anschluß an die Bevölkerung (Epeier), die in alten, in der Ilias panhellenisch verbindlich' formulierten Sagen (mit womöglich mykenischen Reminiszenzen) dort lokalisiert war. Die Macht der mitgebrachten Tradition war allerdings nicht so stark, daß sich die Siedler als Bestandteil des aitolischen ethnos verstanden. An dessen Ethnogenese, die ihre eigenen Probleme aufwirft,76 hatten sie keinen Anteil, wie nicht zuletzt das Fehlen einer Verbindung zu den älteren Teilstämmen der Aitoler beweist. Man verstand sich eben als verwandt, aber nicht als identisch.
73
Julius Beloch, Sulla costituzione dell'Elide, Rivista di filologia 4, 1876, 225-238, 236; Nikolaos Yalouris, The City State of Elis, Ekistics 33, 1972, 95 f., 95. 74 Horn. Od. 4,634 ff., vgl. Anm. 72. 75 Horn. h. 3,418 ff., bes. 426. 76 Hierzu grundlegend Antonetti, Étoliens (wie Anm. 40); dies., Strabone (wie Anm. 39).
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Die Traditionsbildung hatte eine beträchtliche ethnogenetische Dynamik. Sie verdichtete sich relativ schnell von der Vorstellung der Immigration zu der der Rückwanderung. Darüber hinaus war sie ziemlich kohärent, denn für die frühe Zeit lassen sich so gut wie keine konkurrierenden Überlieferungen mehr nachweisen. Sollte es solche gegeben haben, wurden sie durch die des Traditionskerns schnell überlagert bzw. verdrängt.77 Außerdem hatte die Ethnogenese trotz der losen Besiedlung " Wir finden zwar noch Indizien für Bezüge in andere Landschaften, jedoch läßt sich für diese kein hohes Alter in Anspruch nehmen oder gar plausibel machen. Einige Verbindungen weisen nach Achaia: Die Hinzuziehung von Leuten aus Helike beim mythischen Synoikismos unter Oxylos (Paus. 5,4,3) läßt sich nach Sordi, Strabone (wie Anm.25) 141 f., aus dessen anachronistischer Gestaltung nach dem Vorbild des megalopolitischen heraus verstehen, scheint also im Kern ein jüngeres Produkt zu sein. - Im achaiischen Olenos (dazu Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 5, 194) ist Dexamenos verankert, der als Vater zweier Zwillingstöchter, die als Frauen der Aktorionen Mütter der epeiischen Trojakämpfer Amphimachos und Thalpios waren (Paus. 5,3,3), sowie der Lapithe Phorbas, auf den deren väterliche Linie (über den Phorbas-Sohn Aktor) zurückgeht (Diod. 4,69,2 f.; Eustath. in Horn. II. 303,8 ff.). Das Alter dieser Traditionen ist nicht zu klären, sie könnten aber, wegen eines aitolischen Olenos (Strab. 8,3,11; Steph. Byz. s.v. "Ωλενος, beides in Relation zu Hes. fr. 13 M.-W.; zum Bezug des zugehörigen Flußnamens [Peiros] s. Baladié, Péloponnèse [wie Anm. 34] 72 f.), eine Verstärkung der aitolisch-elischen Verbindung darstellen, mit Ausdehnung auf das westliche Achaia, was von der geographischen Situation her nahelag (vgl. Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] a. a. O.). Gerade wegen der Bezeichnung Ώ λ ε ν ί η πέτρη bei Hes. a. a. O. ist es aber am plausibelsten, daß dieser Bezug aus der im SchifTskatalog und in der Nestorerzählung erwähnten Landmarke herausgesponnen ist, also ursprünglich gar nicht nach Achaia weist. Auch dann hätten wir eine frühe Übertragung auf Aitolien, also ein Indiz für die genannte Beziehung. Sie gewinnt ein gewisses Relief, weil sie über Phorbas mit der thessalischen Variante (s.u.) verknüpft ist. Die Achaier, die gemäß Ephor. FGrHist 70 F115 (= Strab. 8,3,33) vor Oxylos Olympia kontrollierten, wird man am ehesten mit den Achaiern der alten Sage verbinden (Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 5,198 denken demzufolge auch an Reminiszenzen an ein mykenisches Olympia), so wie die Pylier in der Nestorerzählung ja einmal auch als Achaier bezeichnet werden (Horn. II. 11,759 f.). Es ist gut denkbar, daß die - spätere (s.u.) - pisatische Traditionsbildung hier angeknüpft hat. - Nach der Zerstreuung der Pelopiden sollen die Olympischen Spiele durch Amythaon, den Sohn des Aioliden Kretheus, gemeinsam mit Neleus und Pelias neugeordnet worden sein (Paus. 5,8,2). Dies ist in durchsichtiger Weise an den ethnisch zunächst unspezifischen (s.u.) Oinomaos-Pelops-Sagenkreis angeschlossen und mag auch mit pisatischen Intrusionen verbunden werden. Auf das aiolische Element verweist Kiechle, Verhältnis (wie Anm. 58) 337 f., aber der von ihm in diesem Zusammenhang herangezogene Passus Strab. 8,1,2 sagt in dieser Hinsicht gar nichts aus: Die dortigen linguistischen Spekulationen sind in evidenter Weise das Resultat ethnographischer Konstruktion mit den bekannten griechischen ,Kunststämmen'. Strabon geht von vier Gruppen aus (Athener, Ioner, Aioler, Dotier), die er auch zu zweien (die beiden ersten und die beiden letzten) zusammenfassen kann (vgl. auch 14,5,26). Dabei ist das aiolische Element auf der Peloponnes das ursprünglich autochthone; die Eleier, die dann die Leute um Oxylos aufnehmen, sind nur in dieser Hinsicht Aioler (und entsprechen dann den Eleiern/Epeiern Homers). Im übrigen müßten nach Strabon auch die Aitoler aiolisch sprechen, da alle Griechen außerhalb des Isthmos - außer Athenern, Megarem und
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und der großen Ausdehnung des Raumes, eine beachtliche Reichweite; denn sie erstreckte sich bis in das zweite Gebiet verdichteter Besiedlung, den Dörfern der Doris - „auch heute noch Aioler genannt werden". Es ist offensichtlich, daß dies mit modernen dialektologischen Beobachtungen nichts zu tun hat und für die Rekonstruktion spezifisch lokaler bzw. regionaler Identitäten nicht nutzbar ist. - Eine der Gemahlinnen des Endymion war die Arkas-Tochter Hyperippe (Paus. 5,1,4), was den Aitolos zu einem Enkel des Arkas mütterlicherseits machte und auch eine Erklärung für seine Teilnahme an den Leichenspielen des Arkas-Sohnes Azan gibt, bei denen er den Totschlag (an Apis aus Pallantion) beging, der ihn in die Verbannung nach Aitolien zwang (Paus. 5,1,8). Diese konkrete Begründung muß nicht so alt sein, wie die Sache selbst, sondern scheint erst später aus dem konfliktreichen Verhältnis zwischen Elis und Arkadien herausgesponnen zu sein. - Interessanter sind die thessalischen Bezüge, wenn man sie nicht lediglich als Weiterungen der aiolischen verstehen will. Das gilt weniger fur Amarynkeus (immerhin „eine alte legendarische Figur", Kullmann, Quellen [wie Anm. 30] 161), dessen Sohn Diores einer der vier epeiischen Trojakämpfer war (nach Kullmann, Quellen [wie Anm. 30] 98 „wahrscheinlich" erst von Homer eingeführt, vgl. auch ebd. 161 f.) und d e r jedenfalls nach späterer Überlieferung - als Sohn des Thessalers Pyttios nach Elis kam und Anteil an Augeias' Herrschaft erhielt (Paus. 5,1,11; anders s. u.). Möglicherweise fuhrt eine andere Deszendenz, die des Aktor, weiter. Dieser erscheint statt Poseidon (so noch Horn. II. ll,709f.; 750ff.) als Vater der Aktorionen, des Kteatos und des Eurytos (Paus. 5,1,11). Aktor und seine Söhne hatten als Ortsansässige Anteil am Königtum des Augeias (Paus.a.a.O.; nach Eustath. in Horn. II. 305,5 war Aktor Bruder des Augeias, der bereits bei Apollod. bibl. 2,5,5 und später bei Eustath. in Horn. II. 303,8 ff. [Diod. 4,69,3 hat Aigeus, doch vgl. Wilhelm H. Roscher (Hg.), Ausführliches Lexikon der griechisch-römischen Mythologie, 6 Bde., Leipzig 1894-1897, Bd. 2,2,1853] in einer Variante konsequenterweise auch als Sohn des Phorbas erscheint). Aktors Vater Phorbas heiratete die Hyrmina (eine Epeios-Tochter, Paus. 5,1,6, vgl. Eustath. in Horn. II. 303,8 ff.) und nach seiner Mutter nannte Aktor eine von ihm gegründete Stadt (Paus. 5,1,11). Wir kennen sie schon aus dem Schiffskatalog, ohne daß sie richtiges Profil gewinnt. Phorbas allerdings (vgl. auch Johanna Schmidt, Phorbas (Nr. 1), RE 20,1,1960, 528 f.) ist eine interessante Figur. Er wurde als Helfer gegen Pelops von Alektor, dem Sohn des Epeios, aus Olenos nach Elis geholt, erhielt die Hälfte der dortigen Königsherrschaft (Diod. 4,69,2; Eustath. in Horn. II. 303,8 ff.) und verschwägerte sich auf doppelte Weise mit Alektor: Er heiratete dessen Schwester Hyrmine, mit der er, wie wir sahen, Augeias und Aktor zeugte, während sich Alektor mit Phorbas' Tochter Diogeneia vermählte, von der er den Sohn Amarynkeus hatte (Eustath. a.a.O.). Phorbas war also mit der elischen Frühgeschichte aufs engste verzahnt. Hinter seiner Herkunft aus Olenos steckt aber noch mehr, denn er war Sohn des Lapithes (Paus.a.a.O.; Diod. 4,69,2; Eustath. a.a.O.; Diod. 5,58,5 erzählt von Phorbas eine andere Geschichte, die von Thessalien nach Rhodos führt, während er bei Diod. 4,69,2 nach Olenos gelangte); Lapithes seinerseits erscheint auch als Sohn des Apollon und der Stilbe, der Tochter des Flußgottes Peneios (Diod. 4,69,1). So mag hinter dem thessalischen Bezug wohl nur die Namensgleichheit des elischen und thessalischen Hauptflusses stehen (und dann gelehrt ausgesponnen sein) - oder soll man die Geschichte ernster nehmen und einen Reflex von ihr im Westgiebel des Zeustempels (hierzu vgl. die Hinweise bei Maddoli, Saladino, Pausania [wie Anm. 2] Bd. 5, 234) erkennen, eine Anspielung an eine - wenn auch sekundäre - Gründerfigur, den Lapithen Phorbas? Apollon, der im Giebel so markant erscheint, war sein Großvater, und bei Ovid (Met. 12,322) ist er als Teilnehmer der Kentauromachie bezeugt. Wir hätten dann in den beiden Giebeln eine ingeniös gestaltete Erinnerung an bekannte Mythen (die Kentauromachie ist literarisch wie ikonographisch seit dem
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in das Alpheios-Tal mit dem wichtigen älteren Kultzentrum Olympia, 7 8 u m das auch - mit der Oinomaos- und Pelops-Geschichte - andere Sagen kreisten. Man darf w o h l sagen, daß die Kontrolle über dieses Heiligtum, für die es auch archäologische Indizien gibt, 79 die weiträumige Integration, die bereits für das ausgehende 8. und frühe 7. Jahrhundert erkennbar ist, wesentlich gefordert hat. A n dieser Stelle müssen einige Bemerkungen zu den Traditionen v o n Pisa bzw. zum pisatischen Olympia eingeschaltet werden. D i e Skepsis gegenüber dem Alter dieser Traditionen und damit gegenüber einer frühen Kontrolle Olympias durch die Pisaten, die bereits vor Jahrzehnten Benedikt N i e s e artikulierte, ist in jüngster Zeit vor allem durch Massimo Nafissi und Astrid Möller erhärtet worden. 8 0 Deren Beobachtungen gewinnen angesichts der schon früh deutlich ausgeprägten und recht kohärenten elischen Mythistorie noch ein besonderes Relief. D e n n dieser läßt sich auch nur halbwegs Adäquates v o n pisatischer Seite nicht entgegenstellen. Die
7. Jahrhundert belegt, s. LIMC VIII 1 s. v.), die der elischen intentionalen Geschichte ursprünglich nicht angehörten, aber nun monumental in sie integriert wurden. Die elische Mythistorie hätte damit - passend zu dem Auftrumpfen der neuen Polis Elis (s.u.) und dem gewachsenen panhellenischen Zuschnitt der Olympischen Spiele - einen weiteren Horizont erhalten. - Die triphylischen Traditionen können hier außer acht bleiben, sie sind jüngst von Nielsen (Triphylia [wie Anm.3] 133 ff.) überzeugend analysiert worden. - Zu den pisatischen Überlieferungen s.u. 78 Vgl. Siewert, Bürgerrechtsverleihung (wie Anm. 1 ) 276; zur Dynamik generell vgl. auch Maddoli, L'Elide (wie Anm. 2) 158. 79 Morgan, Athletes (wie Anm. 24) 53. Für diesen Zusammenhang sind nunmehr die von Helmut Kyrieleis im älteren Bereich des Heiligtums von Olympia geleiteten Ausgrabungen höchst bedeutsam. Sie haben wichtige Indizien für einen Beginn des Kultes um 1000 v. Chr., in Anknüpfung an markante Punkte aus älterer Zeit, aber ohne Kontinuität, gebracht (ich danke H. Kyrieleis dafür, daß er mir eine Version seines Grabungsberichtes, die sich jetzt im Druck befindet, vorab zur Verfügung gestellt hat; vgl. im übrigen auch Birgitta Eder, Continuity of Bronze Age Cult at Olympia? The Evidence of the Late Bronze Age and Early Iron Age Pottery, in: Robert Laffineur, Robin Hägg (Hg.), Potnia. Deities and Religion in the Aegean Bronze Age. Proceedings of the 8th International Aegean Conference/ 8e Rencontre égéenne internationale Göteborg, Göteborg University, 12-15 April 2000, Liège-Austin 2001, 201-209). Ähnlich wie im Verhältnis der sagenhaften Epeier zu den Eleiem hat man auch hier den Eindruck eines späteren Anknüpfens, und man mag auch dies als Indiz für eine Immigration nehmen. Es bleiben allerdings chronologische Differenzen, die jedoch nicht überbewertet werden müssen, weil es bei uns immer nur um einen terminus ante quem geht, der zudem vage bleibt. Auf jeden Fall lohnen m. E. die unabhängig gewonnenen Ergebnisse eine weitere Diskussion. 80 Benedikt Niese, Drei Kapitel eleischer Geschichte, in: Genethliakon. Carl Robert zum 8.März 1910, Berlin 1910, 1-47, 26ff.; Nafissi, Prospettiva (wie Anm.2); Möller, Genealogien (wie Anm. 14) 201 ff.; dies., Elis, Olympia und das Jahr 580 v.Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis, in: Robert Rollinger, Christoph Ulf (Hg.), Griechische Archaik. Interne Entwicklungen - Externe Impulse, Berlin 2004, 249-270.
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ältere Sage von Oinomaos, den Freiern der Hippodameia und Pelops war eher griechisches Allgemeingut - wie schon die Herkunft der Freier zeigt - , das wohl mit der ,Panhellenisierung' der Olympischen Spiele zusammenhängt. Sie hat zunächst offensichtlich keine lokale ethnogenetische Dynamisierung erfahren und steht insofern im Gegensatz zu den Oxylos-, Endymion- und Aitolos-Geschichten. Außerdem fuhrt auch von ihr aus eine Brücke nach Aitolien: Bereits in den „großen Ehoien" erscheint Alkathoos, der Sohn des Porthaon, Herrscher von Pleuron und Kalydon, als Freier der Hippodameia.81 Darüber hinaus läßt sich die später greifbare pisatische Eigentradition82 nicht über das 4. Jahrhundert zurückverfolgen, d. h. die Stratigraphie des Mythos liefert hier einen Negativbefund. Daß der Aiolos-Sohn Salmoneus als König der Epeier und Pisaten den Aitolos von Elis nach Aitolien vertrieben hat, ist erst bei Ephoros83 bezeugt und setzt die Herkunft des Aitolos aus Elis, also ein älteres Element elischer intentionaler Geschichte, bereits voraus, in der der Weggang des Aitolos anders erklärt wurde. Die Tradition über den pisatischen Eponymen ist darüber hinaus nicht so fest wie die der elisch-aitolischen Gründerfigur, überdies auch nicht nachweislich alt: Pisos erscheint als Sohn des Aphareus84 oder ist an das alte, pseudo-hesiodeische Stemma der Aioliden als Sohn des Perieres85 lediglich angehängt.86 Ähnliches gilt auch für eine eponyme Heroine, Pise, die als Tochter Endymions erscheint.87 Es fehlt darüber hinaus auch eine durchgehende Genealogisierung von deren möglichen Nachkommen, wie man sie gerade in der frühen Mythenbildung ansonsten beobachten kann. Gegen ein hohes Alter pisatischer Überlieferungen spricht auch das völlige Fehlen dieses Elements im Schiffskatalog und in der Nestor-Erzählung der Ilias. Dort reicht der ganz einheitlich gefaßte epeiisch-elische Bereich, wie wir gesehen haben, bis an den Alpheios, die Grenze zu Pylos. Man wird also, mit den genannten Forschern, die Ausarbeitung der pisatischen Eigentradition mit der zeitweisen, von Arkadien gestützten88 Existenz eines pisatischen Staates im 4. Jahrhundert zu verbinden haben.
81 82 83 84 85 86 87 88
Hes. fr. 259 M.-W. Bes. Strab. 8,3,31; Paus. 5,1,6f.; 6,21,5f.; 1 0 f . ; 2 2 , l f f . FGrHist 70 Fl 15. Schol. Theokr. 4,29-30b. Hes.fr. 10 M.-W. Paus. 6,22,2. Schol. Theokr. a.a.O.; Schol. Pind. O. 1,28b. Vgl. Xen. hell. 7,4,28.
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Damit unterliegen auch die Berichte von frühen Auseinandersetzungen zwischen Elis und Pisa dem Verdikt späterer „Geschichtsklitterung".89 Auch die Annahme einer frühen Amphiktyonie um Olympia, die von Ulrich Kahrstedt begründet und neuerdings von Peter Siewert und seiner Schülerin Julia Taita vertreten wurde,90 hilft in der Frage nach dem Verhältnis von Elis, Pisa und Olympia nicht weiter. Sie bleibt ganz unsicher.91 Das aitolische Element, das jetzt Taita mit zahlreichen gelehrten Beobachtungen herausgearbeitet hat, läßt sich auch viel weniger voraussetzungsreich mit der elischen Mythistorie erklären und belegt elische Kontrolle über Olympia, aber keineswegs die Existenz einer Amphiktyonie. Wir dürfen also konstatieren, daß die von dem in und um den Ort Elis siedelnden „Traditionskern" ausgehende Ethnogenese nicht nur intensiv und relativ kohärent war, sondern sich auch ziemlich früh bis an den Alpheios, jedenfalls bis zu dem wichtigen Kultzentrum Olympia, ausdehnte. Schon das zeugt von einer beachtlichen Entwicklung und Integrationskraft des neuen elischen ethnos. Das ist um so bemerkenswerter, als die Besiedlung des Landes nach wie vor sehr lose blieb, wir also mit zahlreichen Dörfern und Weilern zu rechnen haben. Dennoch hatten zwei Plätze gewisse Zentralortfunktion: die Siedlung Elis selbst, wo es wohl schon recht früh einen Versammlungsplatz gab, und das Zeusheiligtum von Olympia. Wie der Prozeß der Ethnogenese von seiner kommunikativen Seite her, im Kontakt zwischen Sängern, Dichtern und Eliten, konkret ablief, entzieht sich unserer Kenntnis. Darbietungen bei Symposien und im Zusammenhang mit Kulthandlungen und Siegerfesten werden dabei eine Rolle gespielt haben. In solchen und ähnlichen Kommunikationszusammenhängen wurde am Mythos ,weitergestrickt', und das konnte enorme soziale Bedeutung haben. Immer wieder vergewisserte sich eine Gemeinschaft ihrer selbst, ihrer Identität und Bedeutung im Kontext der weiteren Gruppen und Gemeinschaften. Dies geschah immer mit dem Blick auf die eigene Vergangenheit, die nicht nur wieder und wieder memoriert, sondern auch im Sinne der intentionalen Geschichte um- und weitergeschrieben wurde, in Anpassung an neue Situationen und Gegebenheiten - aber letzt-
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Möller, Genealogien (wie Anm. 14) 190; dies., Eroberung (wie Anm. 80). Ulrich Kahrstedt, Zur Geschichte von Elis und Olympia, NGG 1927, 157-176, 160ff.; Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 29f.; Ebert, Siewert, Bronzeurkunde (wie Anm. 1) 221; bes. Taita, Olimpia (wie Anm. 24). " Philippe Gauthier, Symbola. Les étrangers et la justice dans les cités grecques, Nancy 1972, 43 ff.
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endlich „verdinglicht", als wahre und wirkliche Geschichte angenommen wurde. In Elis zeigt das vor allem die Geschichte des Oxylos, die in einer zum Teil kaum noch durchschaubaren Verquickung von alten und neuen Elementen fortentwickelt wurde. Oxylos gewann damit die Statur eines veritablen Gründervaters. Gerade die Zusammenfuhrung der ältesten Traditionen (der Epeier- und der Aitoler-Linie) wird zunächst mit ihm verbunden. So setzte sich die Vorstellung einer friedlichen Landnahme gegenüber einer (wohl älteren und gegebenenfalls lediglich die Immigration, nicht die Rückkehr akzentuierenden) Variante der Vertreibung der Epeier92 durch: Über die Beherrschung des Landes wurde gemäß Absprache durch einen Zweikampf zwischen einem Eleier und einem Aitoler entschieden. Oxylos bewahrte die alten kultischen Traditionen, insbesondere das Totenritual des Augeias,93 und vor allem bewirkte er eine friedliche Teilung des Landes zwischen Eingesessenen und Zuwanderern, zwischen Epeiern und Aitolern,94 und gründete mittels Synoikismos ein neues städtisches Zentrum.95 Hiermit läßt sich relativ zwanglos auch die im 4. Jahrhundert belegte Vorstellung von Oxylos als Gesetzgeber verbinden.96 Außerdem zog er auf Grund eines Orakels andere Bewohner pelopidischer Herkunft aus dem achaiischen Helike hinzu und richtete Olympische Spiele aus.97 Nachdem einer seiner Söhne, Aitolos, frühzeitig verstorben und im nach Olympia fuhrenden Stadttor der neugegründeten Stadt bestattet worden war (s.o.), ging die Herrschaft über Elis auf seinen anderen Sohn Laios über. Dessen Nachkommen, die Pausanias gekannt zu haben scheint, aber nicht erwähnte, weil sie nicht mehr als Herrscher fungierten, reichten bis auf Iphitos,98 der die seit Oxylos unterbrochenen Olympischen Spiele wieder aufnahm - der Beginn der historischen Olympien nach griechischer Geschichtsvorstellung. Dies war das Bild der elischen Vergangenheit, das spätestens im Hellenismus ausgeprägt war und weitgehend akzeptiert sowie regelmäßig auch in Verbindung mit Kultpraktiken - gepflegt wurde, mindestens bis in Pausanias' Zeit hinein. Eine Stratigraphie dieses Mythos ist nur noch 92
Ephor. FGrHist F115. Paus. 5,4,2. 94 Strab. 8,3,30; Paus. 5,4,2. 95 Paus. 5,4,3; vgl. auch das Oxylos-Epigramm auf der Agora von Elis bei Ephor. FGrHist 70 F122 (εκτισε τήνδε πόλιν). 96 Aristot. pol. 1319 a 12. 97 Paus. 5,4,3; 8,5. 98 Paus. 5,4,4f. 93
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bedingt möglich. Doch scheint etwa der Abbruch der Herrscher in der Generation nach Oxylos ein Reflex der aristokratischen Dominanz bzw. der .republikanischen' Struktur des archaischen Elis und entsprechend alt zu sein." Anachronistisch ist auf jeden Fall, wie man schon längst gesehen hat, der frühe Synoikismos, der mindestens den ,echten' des Jahres 471 voraussetzt, womöglich aber sogar den von Megalopolis im Jahre 369, wie unlängst Marta Sordi vorgeschlagen hat.100 Jedenfalls werden die über lange Zeit hinweg laufenden Linien der intentionalen Geschichte sehr plastisch. Was spätestens im 8. Jahrhundert begonnen hatte, setzte sich über die Jahrhunderte hinweg fort, die elische Identität wurde immer wieder bewahrt und bestätigt, erinnert und verstärkt, fest und flexibel zugleich. Das epeiisch-elisch-aitolische Mischvolk bildete eine perfekte Einheit. Es ist ein besonders glücklicher Umstand, daß wir ihre Entwicklung durch archäologische und vor allem epigraphische Zeugnisse auch nach der Zeit der forcierten Ethnogenese und vor dem Synoikismos verfolgen können. Daß sich in Elis selbst, ohne daß dieses bereits als Polis angesprochen werden kann, ein Versammlungsplatz, eine Agora mit entsprechenden Elementen (Kultplätzen, Gerichtsstätte) und auch bedeutenderen Bauten befand, läßt sich aus verschiedenen Funden und Beobachtungen erschließen.101 Bereits im frühen 6. Jahrhundert wurden dort auch schriftlich fixierte Regeln, also Gesetze, aufbewahrt, wie ein vor einiger Zeit von Peter Siewert veröffentlichtes Fragment demonstriert.102 Das ethnos der Eleier hatte mithin einen Organisationsgrad, den wir üblicherweise mit der Entwicklung einer Polis verbinden.103 Der Schriftgebrauch für die Veröffentlichung von Gesetzen und Beschlüssen des ethnos intensivierte sich rasch, allerdings wurde der Publikationsort offenbar gegen die Mitte
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Zur elischen Verfassung vgl. u. Sordi, Stratone (wie Anm.25) 141 f. "" Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 26; Eder, Mitsopoulos-Leon, Geschichte (wie Anm. 24) 24 ff. 102 Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1). 103 Deshalb gibt es auch Schwierigkeiten mit der Nomenklatur; zu „Großpolis" und „Stammstaat" s. Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 30. Wie im Falle von ,Polis' sollten wir besser bei dem antiken Begriff bleiben. Ich würde deshalb „ethnos" vorziehen, aber angesichts der Ethnizität und der politischen Organisationsform von Elis trotz der Skepsis von Siewert a. a. O. im Zweifelsfalle eher von einem „Stammstaat" sprechen. Daß Simonides von πόλις Δίος spricht (fr. 589 Page, mit Siewert a. a. O.), besagt nicht viel: Abgesehen davon, daß die Zeilen nach dem Synoikismos verfaßt worden sein können, handelt es sich um poetische Ausdrucksweise. Der Daimon Sosipolis (Paus. 6,20,2-6; 6,25,4) ist nicht aussagekräftig, da die Einführung des Kultes zeitlich nicht fixiert werden kann. 100
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des ó.Jahrhunderts nach Olympia verlegt.104 Diese zunehmend auf die Schrift rekurrierende Entwicklung der politischen Organisation,105 also die rechtlich formalisierte Seite der Ethnizität, läßt sich durchaus, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, mit späteren Angaben zur Verfassungsgeschichte von Elis, insbesondere zum Wechsel von einer exklusiven zu einer weiteren Oligarchie bzw. Aristokratie, verbinden,106 was hier nicht weiter verfolgt werden kann. Sie sei nur als Indiz für den relativ komplexen Organisationsgrad des ethnos erwähnt, denn sie beweist die hohe Kohärenz und Kompetenz zur Konfliktlösung innerhalb dieser Einheit trotz relativ hoher Eigenständigkeit ihrer Subzentren.107 Die materiell auf den Ressourcen des fruchtbaren Landes108 und organisatorisch auf dem Geschick der dominierenden Eliten beruhende, von einem klar ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl getragene Bedeutung des elischen ethnos wird im Verlauf des 6. Jahrhunderts auch in der weiteren Expansion in Richtung Süden faßbar.109 Die Eleier schlossen ihrem Verband auch weitere Gebiete am Alpheios und darüber hinaus an. Sie begegnen in der literarischen Überlieferung als Perioiken von Elis, waren aber offiziell, wie eine jüngst von Joachim Ebert und Peter Siewert veröffentlichte Urkunde aus Olympia zeigt, als symmachia dem elischen ethnos angelagert, schon geraume Zeit vor dem Synoikismos.110 Mit diesem Rückgriff auf das Konzept der hegemonialen Symmachie zeigte der Stammesverband nicht nur eine Tendenz zur regionalen Machtbildung, sondern wiederum auch eine bedeutende Organisationskompetenz, zu der 104
Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 27. Hans-Joachim Gehrke, Gesetz und Konflikt. Überlegungen zur frühen Polis, in: Jochen Bleicken (Hg.), Colloquium aus Anlaß des 80. Geburtstages von Alfred Heuß, Kallmünz 1993, 49-67, bes. 58; Uwe Walter, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland, Stuttgart 1993, 116 fF.; Karl-Joachim Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, Stuttgart 1999, 97 ff. 106 Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 28; vgl. generell Gehrke, Stasis (wie Anm. 25) 52; 365 ff. 107 Robin Osbome, Classical Landscape with Figures. The Ancient Greek City and its Countryside, London 1987, 126; Siewert, Rechtsaufzeichnung (wie Anm. 1) 29 f.; zum Prozeß der sich verdichtenden Formation vgl. auch Bultrighini, Pausania (wie Anm. 69) 174; 179. 108 Vgl. bes. Hans-Joachim Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Griechenland und seine Staatenwelt, München 1986,103. ,M Schlußfolgerungen auf ein außenpolitisches Handicap einer solchen Ordnung, wie sie Osborne (Landscape [wie Anm. 107] 127 f.) zieht, ist also mit Zurückhaltung zu begegnen. 110 Ebert, Siewert, Bronzeurkunde (wie Anm. 1), zur historischen Analyse und zu den Details s. Roy, Perioikoi (wie Anm. 3). 105
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naturgemäß auch die Erfahrung mit der Verwaltung des panhellenisch gewordenen Heiligtums in Olympia beitrug. Darin, daß man sich ganz offenkundig an dem nur wenig älteren, wohl erstmals von den Spartanern entwickelten Ordnungskonzept der hegemonialen Symmachie orientierte, kommt auch ein gesteigertes politisches Selbstbewußtsein zum Ausdruck. So waren die Eleier schon weit gediehen, als sie mit ihrer Teilnahme an den Perserkriegen, dem Bau des Zeus-Tempels, der politischen Neuorganisation, also der Umwandlung in einen Polisstaat und der Demokratisierung ihrer politischen Ordnung, sowie ihrer weiteren Expansion nach Süden, tief nach Triphylien hinein, in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu neuen Ufern strebten. Die Basis dafür war die kohärente und effiziente Ausgestaltung des ethnos spätestens seit dem 8. Jahrhundert. So mögen die hier vorgestellten und recht verschlungenen Überlegungen nicht nur für die Thematik der Ethnizität generell, sondern auch für griechische Organisationsformen jenseits' der Polis instruktiv sein.
Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs Eine Nachlese Von
Christian Meier Wann kam der Begriff Demokratie auf? Seit wann ist es unter den Griechen überhaupt möglich, politische Ordnungen nach dem Kriterium der Herrschaft zu unterscheiden, genau gesagt: unter der Frage, ob dort einer, wenige oder viele respektive alle herrschen? Von diesen Problemen bin ich in meinen begriffsgeschichtlichen Studien Mitte der 1960er Jahre ausgegangen.1 Sie führten mich rasch dazu, nach den vorangegangenen Weisen des Bezeichnens und Begreifens politischer Ordnungen zu fragen. Daß die herkömmliche, schon bei Aristoteles anzutreffende2 Weise, eine Abfolge von der Monarchie über die Oligarchie zur Demokratie (eventuell mit den Zwischenstufen Aristokratie und Tyrannie) zu konstruieren, ein späteres Merkmal - nämlich die Bestimmung der Verfassung von der Zahl der Herrschaftsinhaber her - falschlich auf die frühere Zeit übertrug, daß damals also Herrschaft nur ein Faktor unter anderen und nicht unbedingt der wichtigste fur die Verfassung sein konnte, schien sich mir rasch zu erweisen. Eben damit war klar, wie wenig 1 Christian Meier, Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, in: Marc Sieber (Hg.), Discordia Concors. Festschrift für Edgar Bonjour zu seinem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968, Bd. 1 : Allgemeine Geschichte, Basel u. a. 1968, 3-29 (wieder abgedruckt in: Konrad H. Kinzl [Hg.], Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995, 125-159); Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie, in: ders., Entstehung des Begriffs Demokratie. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 7-69 (= ders., Die Entstehung des Begriffs „Demokratie", Politische Vierteljahrsschrift 10, 1969, 535-575); ders., Demokratie I. Einleitung. Antike Grundlagen, Geschichtliche Grundbegriffe 1, 1972, 821-835. Dazu: ders., Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im fünften Jahrhundert v.Chr., in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1980, 275-326 (auch in: ABG 21, 1977, 7-41; auch in: Reinhart Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978,193-227). 2 Aristot. pol. 1286 b 8 ff.; 1297 b 16 ff. Dazu: Victor Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich u.a. 21965, 58; Peter Spahn, Mittelschicht und Polisbildung, Frankfurt a.M. u.a. 1977, 15 ff.
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selbstverständlich die Prägung etwa des Oligarchie- und des DemokratieBegriffs war. Doch schienen sie mir, als sie einmal da waren, das Feld zu beherrschen (auch wenn nachträglich andere Begreifensweisen zumal in der Theorie hinzukamen, etwa Basileia-Dynasteia-Politeia). Vermutlich ist damit die Schwierigkeit (und Allmählichkeit) speziell des Begreifens von Demokratie und die Problematik des Begriffs zu gering veranschlagt. Was zugleich einige weitere Konsequenzen hat. Im folgenden möchte ich, eingebettet in einen kurzen, stellenweise frühere Annahmen korrigierenden, begriffsgeschichtlichen Überblick eine Nachlese unternehmen, um weitere Beobachtungen und Fragen zur Sache vorzubringen.
I. Der Begriff Demokratie ist in unseren Quellen nicht vor dem letzten Drittel des fünften Jahrhunderts (genauer: vor etwa 430/425) bezeugt.3 Doch spricht einige Wahrscheinlichkeit dafür, daß er schon in den 60er Jahren des fünften Jahrhunderts geprägt wurde. Um 470, spätestens jedenfalls in der ersten Hälfte der 60er Jahre hat Pindar seine zweite Pythie gedichtet, in der drei Nomoi nebeneinander erscheinen: έν πάντα δε νόμον ... παρά τυραννίδι, χώπόταν ό λάβρος στρατός, χώταν πάλιν οί σοφοί τηρέωντι (86 ff.) Jochen Bleicken meinte, hier handele es sich nur um die „verschiedenen traditionellen (gegebenen) Möglichkeiten (νόμος) des machtpolitischen Übergewichts dieser oder jener Gruppe innerhalb ein und derselben Stadt" (wenn diese Worte nicht überhaupt nur „die rivalisierenden Kräfte der Stadt registrieren" sollten).4 Daran ist gewiß richtig, daß hier nicht von verschiedenen Städten (also etwa, wo das ungestüme Heer oder wo die Weisen herrschen), sondern von potentiellen Wandlungen innerhalb ein und derselben Stadt die Rede ist. Im Falle der „Volks5-Herrschaft" müßten also gewisse Kreise, gestützt auf die Volksversammlung, die Politik bestimmt (und sich Vorteile verschafft) haben, ganz ähnlich wie etwa Theognis das einige 3
Hdt. 6,43,3; 6,131,1; vgl. 4,137,2. Xen. Ath. pol. 1,4f.; 1,8; 2,20; 3,1; 3,8 f.; 3,12. Aristoph. Ach. 618; vgl. 642. Dazu das zwar später niedergeschriebene, aber doch wohl schon für 429 gültige Zeugnis des Thuk. 2,37,1. Zum Kolophon-Dekret (IG I3 37) Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 127, Anm. 3. 4 Jochen Bleicken, Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v.Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), Historia 28,1979, 148-172, 150. 5 Griechisch στρατός. Dazu Detlef Lotze, Zum Begriff der Demokratie in Aischylos' ,Hiketiden', in: ders., Bürger und Unfreie im vorhellenistischen Griechenland. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Walter Ameling u. Klaus Zimmermann, Stuttgart 2000, 207-218, 210.
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Jahrzehnte zuvor schildert (Thgn. 45 f.; 53 ff.; 675 ff.)6· An eine, und sei es kurzfristige, Verstetigung solcher Herrschaft durch Institutionalisierung wäre dann kaum zu denken. Auffallig bliebe jedoch Pindars Gebrauch von νόμος in diesem Zusammenhang. Das Wort bezeichnet bei ihm zwar in aller Regel „Brauch, Sitte", und die sind als herkömmlich (oder göttlich) gegeben gedacht. Wenn hier aber nun, wie die Formulierung έν πάντα δέ νόμον zeigt, drei Nomoi unterschieden werden, so ist es in einer weiteren Bedeutung zu verstehen, nämlich im Sinne von „Ordnung". Daher ist anzunehmen, daß Pindar mit mehr als verschiedenen Möglichkeiten machtpolitischen Übergewichts rechnet, also drei verschiedene Formen von Herrschaft (πόλιν τη ρέω, „der Stadt walten") voneinander abhebt. Folglich begegnet uns hier erstmals die Beobachtung, daß nicht nur Tyrann oder Adel, sondern auch „das Volk" herrschen, ja seine Herrschaft in einer entsprechenden Ordnung begründen kann. Ein „spezifisches Verfassungsdenken" (Bleicken) muß man bei Pindar deswegen nicht voraussetzen. Es ist die Frage, wie (und wie weit) damals die Polisordnungen überhaupt schon verstanden oder gar „begriffen" und nach Typen unterschieden worden sind; wie weit die Herrschaftsverhältnisse schon als zentrales Merkmal der „Verfassung" der Stadt angesehen werden konnten. Unterschiede in der Ordnung wird es zwischen den verschiedenen Städten genug gegeben haben; vermutlich einen ganzen Fächer von Möglichkeiten. Speziell bei der Macht des Volkes lag der Fall schwierig. Denn Volksversammlungen muß es auch in vielen Adelsherrschaften gegeben haben, und nirgends konnten sie allein „herrschen". Was alles hing da davon ab, wie man die Akzente zwischen dem einen und dem andern verteilte; wie viel Raum blieb da fiir höchst subjektive, auch situationsbedingte Einschätzungen! Zwischen 465 und 460 (zumeist vermutet man das Datum 463)7 sodann findet sich die Herrschaft des Volkes in zwei Sätzen in Aischylos' Hiketiden bezeugt. Dieses Stück bietet in unserm Zusammenhang eine ganze Reihe von Problemen. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Doch eines ist jedenfalls unverkennbar: Es war Aischylos in auffalliger Weise 6
Dort auch schon das Problem des Sich-Verhaltens in einer politischen Ordnung, etwa Thgn. 53 ff. 7 Richard Kannicht, Bruno Snell (Hg.), Tragicorum Graecorum Fragmenta, Bd. 1 : Didascaliae tragicae. Catalogi tragicorum et tragoediarum. Testimonia et fragmenta tragicorum minorum, Göttingen 1986, 44. Das Jahr 459 scheidet jedoch mit ziemlicher Sicherheit aus, da Aischylos da mit den Vorbereitungen der Orestie beschäftigt war. Zum vermuteten Datum von 463: Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1972, 79 f.
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wichtig, für das frühe Argos, wo die Handlung spielt, vornehmlich aber für das gegenwärtige Athen, wo sie aufgeführt wurde, herauszustreichen, daß das Volk herrscht. Wenn der Chor fragen will, wie eine Abstimmung der Volksversammlung ausgefallen ist, verbindet er das - an sich unnötigerweise - mit der Feststellung, daß diese Versammlung „herrscht"; man könnte freilich auch8 übersetzen „den Ausschlag gibt": δήμου κρατούσα χειρ οπτ| πληθύνεται (604). Vor allem spricht er im folgenden vom „Damion", das die Stadt beherrsche: το δάμιον, το πτόλιν κρατύνει, προμαθίς εύκοινόμητις άρχά (699 f.). Man kann sich fragen, was mit το δάμιον und mit άρχά gemeint ist und wie sich das eine auf das andere bezieht, um von allem weiteren abzusehen. Aber daß hier (wie sonst im Stück) dem κρατείν respektive dem κράτος viel Aufmerksamkeit gewidmet ist und daß das κρατείν stolz, also mit durchaus positivem Akzent, dem Volk zugesprochen wird, ist deutlich. Wenn aber Pindar und Aischylos nur bezeugen, daß man sich um diese Zeit der „Volks-Herrschaft" als solcher bewußt geworden war, so gibt es ein weiteres Argument dafür, daß auch der Begriff Demokratie schon aufgekommen war. Damals nämlich sind, wie wir wissen, zwei Männer geboren worden, die den Namen Demokrates erhielten.9 Anders als etwa „Aristokrates" (das schon für den Anfang des Jahrhunderts, lange vor Aufkommen des Begriffs Aristokratie belegt ist) kann der Eigenname Demokrates kaum direkt aus seinen beiden Bestandteilen gebildet worden sein; oder hätten die Kinder „volksbeherrschend" sein sollen? Der Name scheint also den Begriff Demokratie vorauszusetzen, womit freilich weder über dessen Bedeutung noch gar darüber etwas ausgesagt wäre, daß dieser Begriff damals schon ein Monopol beim Begreifen einer neuen respektive neuverstandenen politischen Ordnung gehabt hätte.
II. Die Erkenntnis, daß auch das Volk „herrschen" kann, war zugleich die Voraussetzung dafür, daß man die Adelsherrschaft als „Oligarchie" begreifen konnte. Denn erst, wenn viele oder alle herrschen können, kann 8
In dieser Bedeutung ist das Wort κράτος in der spartanischen Rhetra bezeugt (δήμου ôè πλήθει νίκην και κάρτος επεσθαι, Tyrtaios 3a 9 D.). ' Mogens Herman Hansen, The Origin of the Term „democratia", LCM 2, 1986, 35 f.; zusätzlich Kurt A. Raaflaub, Einleitung und Bilanz. Kleisthenes, Ephialtes und die Begründung der Demokratie, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 1-54, 46ff.; vgl. Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 159.
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auffallen, daß es in andern Ordnungen nur wenige sind. Homer bezeichnet die Herrschaft etwa gleich großer Kreise - von der Monarchie aus - noch als πολυκοιρανία, was ganz buchstäblich als die Vielheit von Herren (κοίρανοι) zu verstehen ist.10 So ist zwar, wie Albert Debrunner" bemerkt, die Oligarchie älter als die Demokratie, doch müssen die Begriffe nicht in gleicher Reihenfolge aufgekommen sein. 'Ολιγαρχία ist nicht vor etwa 430 bezeugt. Auffallig ist allerdings, daß das Wort Oligarchie an das voraufgehende ,Monarchie" anschließt, nicht an Demokratie, welches Ausgangspunkt ist für eine lange Reihe weiterer Verfassungsbegriffe wie etwa Aristokratie, Timokratie, Theatrokratie, Ochlokratie. Aber mit Oligarchie wird nicht nur eine politische Ordnung, sondern zugleich die herrschende Gruppe bezeichnet, wie etwa in der Aufzählung bei Herodot 3,82,1: δήμος, ολιγαρχία, μόναρχος. Dies letztere könnte im Anschluß an ältere Bezeichnungen für Herrschaftsverteilungen innerhalb des Adels12 die ursprüngliche Bedeutung gewesen sein. Zudem ist die Art der Herrschaft unterschiedlich: Während die ολίγοι sowohl die Stadt beherrschen wie die führenden Positionen besetzen (αρχειν), kann der Demos zunächst nur jenes, nicht dieses. Und es gibt, wie Debrunner gezeigt hat, andere Gründe, aus denen sich ein Wort wie *Demarchia ausschloß.13 Umgekehrt mag aus den dargelegten Gründen das gleiche von *01igokratia gelten.
III. Alle Termini, mit denen in früherer Zeit, also vor 500, die Herrschaftsverteilung in einer Stadt bezeichnet wurde (polykoiranie, tyrannis, monarchia), beziehen sich ausschließlich auf die Herrschaftsverteilung selbst. Nichts spricht dafür, daß man gemeint hätte, von dort her sei auch die „Verfassung", also ganz allgemein gesagt: der Zustand der Polis, bestimmt gewesen. Interessant ist ja auch, daß für die Herrschaft des Adels aus der damaligen Zeit kein eigener Begriff bezeugt ist; vermutlich ist das kein Zufall der Überlieferung. 10
Horn. II. 2,204. DazuAristot. pol. 1292a 13. " Albert Debrunner, Δημοκρατία, in: Festschrift fur Edouard Tièche zum 70. Geburtstag am 21. März 1947, Bern 1947, 11-24 (wieder abgedruckt in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 55-69, 62 ff.) Falsch: Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 24 (151). Das Fehlen von „Demokratie" im Verfassungsdialog besagt in diesem Zusammenhang nichts, da der Begriff seit den 460er Jahren da ist. 12 Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1 ) 9 ( 132 f.). 13 Debrunner, Δημοκρατία (wie Anm. 11) 65.
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Als Begriff für die „Verfassung" einer Stadt begegnet im sechsten Jahrhundert vielmehr nur Eunomie (sowie deren Gegenteil Dysnomie), woran später der jüngere Begriff Isonomie anschloß (bevor es zu den Unterscheidungen nach dem Kriterium der Herrschaft kam, die es schließlich ermöglichten, in einem genaueren Sinne Verfassungen zu begreifen, zu unterscheiden und zu typologisieren). Angesichts dieses Tatbestands schien es mir gut, eine „nomistische" von einer „kratistischen" Phase des Verfassungsbegreifens zu unterscheiden.14 Die nomistische wäre dadurch ausgezeichnet, daß man damals vor allem nach der Weise fragte, in der in einer Stadt der eine vorgegebene Nomos verwirklicht war, sei es gut, sei es schlecht, so daß man es mit Eunomie oder Dysnomie zu tun hatte. Beide Begriffe mußten den gesamten Zustand der Stadt im Auge haben, wie man es bei Solon auch greifen kann. Dazu gehörte die Organisation der Herrschaft (oder Führung) ebenso wie die Art, in der sie - mehr oder weniger willkürlich, eigensüchtig oder auch rechtschaffen etc. - ausgeübt wurde, ferner die wirtschaftliche Lage, Eigentums- und Vermögensverhältnisse, Ausbeutung und Verschuldung der Bauern sowie Moral, Rechtsprechung und der Respekt vor den Göttern. Die Unterscheidung zwischen Tyrannis und Adelsoligarchie dagegen war zwar für die Konkurrenten um die Herrschaft von Bedeutung, fur weitere Kreise aber zählte zunächst viel weniger die Verteilung der Herrschaftsfunktionen als die Art der Herrschaftsausübung, welche nämlich in beiden Fällen sowohl gut wie recht schlecht sein konnte. Freilich wissen wir, daß die Tyrannis seit Solon aus grundsätzlichen Erwägungen fur illegitim gehalten werden konnte. Und vermutlich hat der Adel seine Herrschaft als Teil der Eunomie angesehen, so daß es dafür keinen besonderen Begriff brauchte. Erst später, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse konsolidiert hatten und als breitere Schichten in verschiedenen Städten große Möglichkeiten der Mitwirkung und der Kontrolle erhielten (und institutionell sicherten), konnte man beim Verständnis von Ordnungen von der wirtschaftlichen Lage absehen, und die Art der Herrschaftsausübung wurde relativ unwichtig angesichts neuer Möglichkeiten politischer Organisation. Etwa in der Isonomie, die auf der Gleichheit der politischen Rechte aller oder doch wenigstens der meisten Bürger basierte. Seitdem kam es wesentlich darauf an, inwieweit die Bürgerschaft an der Politik teilhatte. Schließlich
14 Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 14 f. (140 f.); ders., Entstehung des Begriffs (wieAnm. 1) 15 ff.
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entstand die Möglichkeit der Unterscheidung von (drei) Verfassungen nach dem Kriterium der Herrschaftsverteilung. Insofern ergaben sich mit dem politischen Aufstieg breiterer Schichten ganz neue Möglichkeiten von Verfassung, Möglichkeiten aber auch des Begreifens politischer Ordnung. Es kann, wie ich weiterhin annehmen möchte, sehr sinnvoll sein, eine nomistische von einer kratistischen Weise des Verfassungsverständnisses wie vor allem des Ausmaßes zu unterscheiden, in dem Verfassungen geprägt und verändert werden konnten. Gewiß, die enge Orientierung an einem Nomos, etwa im sechsten Jahrhundert, Schloß nicht aus, daß gewisse Spielräume entdeckt und genutzt wurden (etwa von den καταρτιστήρες, den Wieder-ins-Lot-Bringern), um durch Veränderung im einzelnen den rechten Zustand wiederherzustellen.15 Und man konnte andererseits auch die Demokratie, wie Herodot es tat, als Wahrerin gerade der νόμαια πάτρια verstehen (3,80,5). Und doch eröffnete sich ein grundlegend neuer Horizont, als man über die politische Ordnung im ganzen nach Gutdünken und Interesse verfugen konnte, frei vom vorgegebenen Nomos. Eben dies setzte voraus, daß „Ordnung" nicht mehr im alten, umfassenden Sinn, sondern enger verstanden wurde, grob gesagt nämlich: als Verhältnis zwischen den Bürgern als Bürgern, also von der Form politischer Organisation her. Erst in Folge davon - und nach einiger Zeit vermutlich - konnte die Herrschaftsverteilung maßgebend fur die „Verfassung" werden. Und sie wurde es gleich im Sinne der äußersten Möglichkeit: Daß nämlich auch der Demos herrschen konnte, die Regierten also, Leute, die sich auf Politik nicht spezialisieren konnten, die auch die Vorzüge adliger Bildung nicht genossen hatten. Es ist kaum zu ermessen, welche Möglichkeiten menschlichen Entwerfens, Verfugens, Handelns eben damit freigesetzt wurden, auch in der Kunst und der intellektuellen Weltbemächtigung.16 Allein, die so diagnostizierte einschneidende Veränderung vom Nomistischen zum Kratistischen hat sich, wenn der Quellenbefund nicht trügt, gerade in der Verfassungsterminologie so bald nicht niedergeschlagen. Damit, daß nicht nur der Anspruch auf und die Erfahrung von Volksherrschaft, sondern auch der Begriff Demokratie aufgekommen war, wurde, soweit wir sehen können, keineswegs gleich die Verfassungsterminolo15
Dazu Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 21994, 69 ff. Dazu: Tonio Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr., Würzburg 1973, 205 ff.; ders., Die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia. Kunst und Geschichte im späten 5. Jahrhundert v.Chr., JDAI 89, 1974, 70-111,101; 142. 16
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gie auf eine neue Basis gestellt. „Demokratie" scheint vielmehr zunächst neben einen andern Begriff getreten zu sein, der den Übergang von der nomistischen zur kratistischen Phase markiert; der offenkundig der erste war, der die Mitsprache der breiten Schichten und die Forderung danach formulierte; und dem von daher (wie von seinem primären Aussagewert) lange Zeit eine besondere Dignität zukam: Isonomie. Daneben gab es weitere Bezeichnungen für das, was sich da als neue Form politischer Ordnung heranbildete. „Demokratia" könnte also zunächst nur einen Aspekt (und eine Erfahrung) dieser Ordnung neben andern bezeichnet haben, und die Meinungen darüber, also das Verständnis und der Gebrauch des Wortes, mögen weit auseinandergegangen sein. Möglicherweise hat die Erfahrung der Volks-Herrschaft zunächst überhaupt nur im Sonderfall Athen, seit etwa den 460er Jahren, eine größere, dauernde Bedeutung gehabt17 - sofern überhaupt das Bedürfnis nach genauerer typologischer Unterscheidung vorhanden war (s. u.). Athen freilich war allen andern weit voraus. Vieles, was man dem kratistischen Zeitalter an neuen Möglichkeiten zuweisen kann, wurde dort zuerst entfaltet oder jedenfalls zum ersten Mal zur Geltung gebracht. Nur eben, in der Verfassungsterminologie ist eine längere Phase des Übergangs zu beobachten, die sich über das mittlere Drittel des fünften Jahrhunderts und vielleicht noch darüber hinaus erstreckt. Das scheint sich mir zu ergeben, wenn man die Terminologie für die neuen Ordnungen studiert, wie sie sich uns vor allem bei Herodot und älteren Quellen im Unterschied zu Thukydides darbietet.
IV. Der Begriff Isonomie ging, wie allgemein angenommen wird, dem der Demokratie vorauf. Er bezeichnete zunächst vermutlich eine, wie man ex eventu sagen kann, Vorform von „Volksherrschaft", eine politische Ordnung also, in der breiten Schichten stärkere Mitspracherechte eingeräumt wurden. Wann er aufkam, ist nicht auszumachen. Die ersten sicheren Zeugnisse dafür finden wir bei Herodot etwa in der Zeit um 430 oder
17
So auch Bleicken, Verfassungstypologie (wie Anm. 4) 164 f.
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etwas eher.18 Freilich spricht vieles dafür, daß zwei andere Belege älter sind. Ein Skolion, das sogenannte Harmodios-Lied, in dem die Tyrannenmörder von 514 dafür gepriesen werden, daß sie Athen ( Αθήνας) ίσονόμους machten, könnte sehr gut noch aus den letzten Jahren des sechsten oder dem Anfang des fünften Jahrhunderts stammen.19 In die gleiche Zeit (oder um einiges später) könnte ein Fragment des Philosophen und Arztes Alkmaion von Kroton20 gehören. Dort ist davon die Rede, daß die Ausgewogenheit zwischen Feuchtem, Trockenem, Kaltem, Warmem, Bitterem, Süßem etc. gut, das Vorwalten des je einen über das andere dagegen schlecht ist. Was ich hier als Ausgewogenheit übersetze, heißt griechisch Isonomia, mit Vorwalten ist Monarchia wiedergegeben. Zwei verschiedene Dinge sind also in den beiden ältesten Belegen ausgedrückt. Zum einen die Gleichheit der politischen Rechte der einzelnen Bürger, zum andern das Gleichgewicht verschiedener, ja gegensätzlicher großer Elemente. Dieses könnte etwa im sechsten und frühen fünften Jahrhundert aktuell gewesen sein. Denn wenn die politischen Denker darauf sannen, das willkürliche Regiment führender Aristokraten einzuschränken (und eventuell Tyrannis auszuschließen), mußten sie über kurz oder lang daraufkommen, daß das nur möglich war, wenn man dem Volk, also breiteren Schichten mehr Rechte verschaffte (und Ansprüche weckte), das heißt: wenn man sie zum Gegengewicht gegen den Adel machte. Da das von irgendeinem Zeitpunkt an auf die Gleichheit der politischen Rechte der Bürger, genauer: auf die Möglichkeit für viele, diese Rechte auch wirklich gleichermaßen wahrzunehmen, zielen mußte, erweisen sich die beiden Bedeutungen des frühen Gebrauchs von Isonomia als zwei Seiten einer Sache: Was von den einzelnen Bürgern her gesehen politische Gleichheit war, mochte im Blick auf das Verhältnis zwischen aristokratischer Führung und Volk als Gleichgewicht erscheinen - so lan18
Hdt. 3,80,6; 3,83,1; 3,142,3; 5,37,2; vgl. 6,5,1. Zur Isonomie immer noch grundlegend: Gregory Vlastos, 'Ισονομία πολιτική, in: Jürgen Mau u. a. (Hg.), Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, Berlin 1964, 1-35. Zur Wortbildung: Peter Frei, ΙΣΟΝΟΜΙΑ. Politik im Spiegel griechischer Wortbildungslehre, MH 38, 1981, 205-219. " Scolia Anonyma 10,4 D. 20 DK 24 Β 4. Dazu Charlotte Triebel-Schubert, Der Begriff der Isonomie bei Alkmaion, Klio 66, 1984, 40-50, der ich freilich nicht in jedem Punkt zu folgen vermag. Μοναρχία έκατέρου kann nach meinem Urteil nur die Alleinherrschaft je des einen von beiden bedeuten. Was dort weiterhin zur Mischung gesagt wird, hat mich nicht überzeugt. - Die Betrachtung muß sich anschließend, man weiß wegen der Lücke nicht recht wie, ausgeweitet haben auf κράσις.
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ge wirklich „der Adel" (solonisch gesprochen, aber auch bei Theognis steht es ähnlich: die ηγεμόνες του δήμου)21 einen Gegenpol gegenüber der breiten Bürgerschaft darzustellen vermochte. Später, in den Demokratien, verlor sich das. Es ist nicht auszumachen, ob das Verständnis der Isonomie im Sinne eines solchen Gleichgewichts ursprünglich war. Doch war der Begriff offen für eine solche Bedeutung. Daß er sie schon früh, spätestens also etwa im frühen fünften Jahrhundert annahm, ist zu vermuten. Die Problematik eines (halbwegs) gleichgewichtigen Verhältnisses zwischen verschiedenen Teilen (μέρη) des Volkes stellte sich aber auch weiterhin, wie etwa Thukydides 6,39,1 zeigt, wo freilich statt von Isonomie von Isomoirie22 die Rede ist: φύλακας μέν άριστους είναι χρημάτων τους πλουσίους, βουλεΰσαι δ' αν βέλτιστα τους ξυνετούς, κρΐναι δ' αν άκούσαντας άριστα τους πολλούς, καΐ ταΰτα ομοίως καί κατά μέρη και ξύμπαντα έν δημοκρατία ίσομοιρεΐν. Verschiedentlich ist vermutet worden, daß Isonomie ursprünglich als adliger Kampfbegriff gegen den Tyrannen aufgebracht worden ist.23 Das ist nicht auszuschließen, scheint mir aber nicht mehr wahrscheinlich zu sein. Wenn es aber so gewesen wäre, konnte jedenfalls der Anspruch auf Gleichheit relativ mühelos und unvermittelt von breiten Schichten übernommen werden, sobald sie einmal auf entsprechende Forderungen kamen, was in Athen spätestens zur Zeit des Kleisthenes der Fall war.24 Im Isonomie-Begriff ist erstmals, soweit wir sehen können, ein bestimmtes Merkmal als konstitutiv für eine Form von Verfassung akzen21
Sol. 3,7 D; 5,7 D; Thgn. 41. Dies ist übrigens der bei den Medizinern bevorzugte Begriff für das Gleichgewicht mehrerer Elemente. Triebel-Schubert, Alkmaion (wie Anm.20) 41, Anm. 8. Zur Sache: Christian Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers. Drei Überlegungen, Berlin 1989, 91 if. Im Hinblick auf die im Begriff mitgedachten Gleichgewichtsvorstellungen, aber auch angesichts der Problematik der Gleichsetzung von Demokratie und Isonomie scheint es mir notwendig, die These von Vlastos in diesem Punkt zu modifizieren. 23 Dazu Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 10, Anm. 27 (135, Anm. 28) mit weiterer Literatur. Ferner: Pierre Lévêque, Pierre Vidal-Naquet, Clisthène l'Athénien. Essai sur la représentation de l'espace et du temps dans la pensée politique grecque de la fin du VIe siècle à la mort de Platon, Paris 1964, 30 f.; 41; Alfred Heuß, Vom Anfang und Ende ,archaischer' Politik bei den Griechen, in: Gebhard Kurz, Dietram Mueller, Walter Nicolai (Hg.), Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur. Festschrift für Walter Marg zum 70. Geburtstag, München 1981, 1-29, 26 f. (wieder abgedruckt in: Alfred Heuß, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Stuttgart 1995, Bd. 1, 39-67, 64 f.). 24 Christian Meier, Kleisthenes und die Institutionalisierung der bürgerlichen Gegenwärtigkeit in Athen, in: ders., Die Entstehung des Politischen (wie Anm. 1) 91-143. Ferner: Ders., Paul Veyne, Kannten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien, Berlin 1988,51 ff. 22
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tuiert worden. Der Begriff steht an der Schwelle zwischen nomistischem und kratistischem Verständnis von Polisordnung; worauf schon sein zweiter Bestandteil -nomia weist. Wir haben freilich keine Mittel, um festzustellen, ob man Isonomie als Forderung dem alten Ideal der Eunomie entgegensetzte oder die Forderung nach Gleichheit gleichsam in das alte, hochangesehene Wort hineinprojizierte (um die Eunomia auf diese Weise zu modifizieren und - zu verwirklichen). Jedenfalls bewegt sich der Begriff doch wohl noch im Horizont des einen rechten Nomos. Indem die Gleichheit aber Konsequenzen für die Herrschaftsstrukturen nach sich ziehen konnte, weist er auf das neue Verfassungsverständnis nach dem Kriterium der Herrschaft voraus. Und offensichtlich spiegelt sich in ihm der Anspruch, über den sich breitere Bürgerschichten eine maßgebende Rolle in der Polis erwarben. Es ging nicht - oder genauer: nicht gleich respektive nicht so bald - um Herrschaft (des Volkes an Stelle des Adels). Davon konnte zunächst vermutlich gar keine Rede sein. Es muß vielmehr ausgesprochen schwierig gewesen sein, sich das Volk als herrschendes vorzustellen.25 Es ging übrigens auch nicht um Freiheit,26 sondern eben um Gleichheit. Gleichheit nämlich der politischen Rechte, griechisch: des μετέχειν. Sie bestand vermutlich mehr oder weniger darin, daß die Volksversammlung aufgewertet wurde, die Bürger das Gefühl hatten, respektiert zu werden und in irgendeinem nicht geringen Ausmaß auch mitsprechen konnten. In diesen Poleis, in diesen Bürgerschaften war Teilhabe an der Politik nicht Mittel zum Zweck (um die eigenen, primär unpolitischen Interessen zu befördern), sondern der Zweck selbst. Denn was einer war, bestimmte sich von seinem Rang innerhalb der Polis, innerhalb ihrer Öffentlichkeit her.27 Diese Poleis tendierten (in unterschiedlichem Ausmaß) dazu, in ihren Bürgern zu bestehen, und zwar ziemlich unmittelbar. Eben in dieser nicht nur: Auffassung, sondern - strukturellen Gegebenheit gründete die Bereitschaft dieser Bürger zum regelmäßigen Engagement in der Politik. Sie konnten sich nicht - oder jedenfalls nur im unumgehbaren Mindestmaß - vertreten lassen.28 25
Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 39; ders., Wandel (wie Anm. 1) 284. Heuß, Anfang (wie Anm. 23) 23 (61). 27 Meier, Veyne, Griechen (wie Anm. 24) 74 f.; 79; 82; 84; Meier, Athen (wie Anm. 15) 700: Öffentlichkeit. Ferner: Ders., Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit: Praxis. Ideologie. Philosophie. Weiterer Zusammenhang, in: Manfred Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, Berlin 2003, 19-76, 37f., Anm. 50. 28 Dazu Aristot. pol. 1317 b 3 0 f f ; auch: 1 2 9 9 b 3 2 ; 1 2 9 9 b 3 8 f f . ; 1323a9.
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Welche Rolle die Partizipation bei den Griechen spielte, läßt sich gut an Aristoteles illustrieren, der es fur die Demokratie nicht nur kennzeichnend fand, daß dort der Demos im eigenen Interesse herrschte,29 sondern daß alle an der Polis teilhatten. „Gleichgültig, ob das Regieren (αρχειν) etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, wenn alle Bürger von Natur gleich sind, ist es gerecht, daß alle daran teilhaben" (pol. 1260 a 39). Gleichheit mußte sich nicht nur in Möglichkeiten, sondern in der Wirklichkeit der Teilhabe manifestieren. Entsprechend hat Aristoteles auch Freiheit (als sie endlich zu den Merkmalen der Demokratie gehörte) im Wechsel von αρχειν und αρχεσθαι (wohl am besten mit: regieren und regiert werden wiederzugeben; ebd., 1317 b 2) realisiert gesehen. Doch dies nur nebenbei. Mit solch einem weitgetriebenen Wechsel, überhaupt einer so breiten Teilhabe am Regieren, ist für die frühen Zeiten der Isonomie bis in die 450er Jahre (in Athen) und sonst zumeist wohl auch darüber hinaus kaum zu rechnen. Wie sich der in Isonomie enthaltene Gleichheitsanspruch in den Anfangszeiten (also im späten sechsten und frühen fünften Jahrhundert, weit vor den Verhältnissen, von denen Aristoteles ausgeht) mit den Ansprüchen der Adligen vertrug, ist schwer auszumachen. Manch einer von ihnen mag sich dadurch um Vorrechte geprellt gesehen haben. Doch blieben ihnen zunächst die Ämter (deren Bekleidung Abkömmlichkeit voraussetzte), und es erschlossen sich gerade den Ehrgeizigen unter ihnen in der Zusammenarbeit mit der Volksversammlung neue Möglichkeiten. Ein Gegensatz zwischen „dem Adel" und „dem Volk" war mit den Isonomien keineswegs notwendig gegeben. Wenn wir den Begriff Isonomie speziell für Vorstufen der Demokratie gebrauchen, so meinen wir ein Stadium der Verfassungsgeschichte, in dem man noch nicht von Volksherrschaft sprach und sprechen konnte, weil es zunächst nur um Gleichheit ging und bestimmte Ansprüche, die zur Demokratie gehörten, noch nicht erhoben wurden. Denn wenn aus dem Anspruch auf Gleichheit der auf Herrschaft werden oder auch: wenn sich (ob nun affirmativ oder kritisch) statt bloß der Gleichheit eine Herrschaft des Volkes feststellen lassen sollte, so mußte dies vor allem im Willen oder in der Erfahrung der breiten Bürgerschaft zum Ausdruck kommen: daß man nicht nur, eventuell gelegentlich, mitsprach, sondern die Politik, und zwar regelmäßig, mitbestimmte; etwa indem man nach vorangegangenem Meinungsstreit wirklich und nicht zu selten freie Entscheidungen über weite Teile der Politik traf. Und auch: daß man bei der Besetzung 29
Aristot. pol. 1279 b 8; 1284 b 5 ff.; Meier, Demokratie. Antike Grundlagen (wie Anm. 1) 832.
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der Ämter nicht nur unter adligen Kandidaten (und je nach deren Einfluß) wählte, sondern auch Angehörige anderer Schichten bedachte (eventuell gleich losen ließ) und die Amtsführung kontrollierte. Viele institutionelle Veränderungen waren dazu vielleicht gar nicht notwendig. Es mochte mehr um die Nutzung schon vorhandener institutioneller Möglichkeiten gehen, darum, daß man sich einer Rolle bewußt wurde, die man schon zu proben begonnen hatte. Weil dem so war, konnte im Blick auf deren Institutionen der Demokratiebegriff, nachdem er einmal da war, nachträglich auf die frühen „Isonomien" angewandt werden (wie umgekehrt Demokratien gerne den Begriff Isonomie für sich in Anspruch nahmen, in welchem eben Gleichheit, aber nicht Herrschaft [im eigenen Interesse] anklang). Ein Gegensatz zum Adel mußte dazu nicht imbedingt vorausgesetzt werden. In Athen freilich lagen die Dinge ganz anders. Dort hat das Volk nicht nur direkt (in der Versammlung) oder indirekt (durch Rat und Volksgerichte) mitgewirkt, etwa Gesetze beschlossen; es hat vielmehr die Gesamtrichtung der Politik bestimmt und bis ins Detail hinein die einzelnen politischen Entscheidungen gefallt, die Beamten, wenn sie nicht erlost wurden, gewählt, die Tauglichkeit der Amtsträger überprüft und schließlich deren Rechenschaft entgegengenommen.30 Dazu bedurfte es einschneidender Änderungen, angefangen bei der Entmachtung des Areopags.
V. Neben dem Begriff Isonomia begegnet bei Herodot (5,92 a) ein anderer, dessen erster Bestandteil ebenfalls auf Gleichheit zielt: Isokratie. Er findet sich nur einmal, um dort eine Art von Ordnung zu bezeichnen, die den Gegensatz zur Tyrannis bildet. Mit diesem Begriff scheint man einen Schritt weiter zu sein. Man beurteilt Ordnungen danach, wie dort das κράτος respektive das κρατεϊν verteilt ist, nämlich offenbar gleich an alle. Denn es ist doch wohl nicht an irgendein Gleichgewicht zwischen μέρη gedacht. Zu vergleichen wäre etwa eine Formulierung, die Euripides später, in anderm begrifflichen Horizont, für die Macht in der Demokratie gebraucht: δεδήμευται κράτος: die Macht ist „vervolklicht", also im Demos verteilt.31
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Raaflaub, Einleitung (wie Anm. 9) 18. Eur. Cycl. 119.
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Dieser Begriff ist dadurch besonders interessant, daß er die Teilhabe der Bürger am Gemeinwesen als Teilhabe an der Machtausübung in ihm versteht. Er bewegt sich offenkundig in dem durch die Erkenntnis der Herrschaft des Volkes neu erschlossenen Horizont eines kratistischen Verständnisses der Ordnung der Stadt - ohne freilich die Inhaber der Macht, das Volk als politisches Subjekt irgendwie zu kennzeichnen (was Euripides nachher tut); ja ohne daß gar mit besonderen Inhabern der Macht gerechnet werden müßte. Er nimmt die Bürger nur als Einzelne, die zu gleichen Teilen an der Macht respektive Herrschaft partizipieren. Herodot gebraucht daneben, wiederum ein einziges Mal, noch einen weiteren auf Gleichheit zielenden Begriff: Isegorie, die Bezeichnung des gleichen Rede- und Antragsrechts aller in der Volksversammlung.32 Hier also dient eines der wesentlichen Elemente pars pro toto dazu, die neue Ordnung des kleisthenischen Athens zu kennzeichnen. Eine Demokratie, wie Herodot meint (6,131,1 ). Schließlich benutzt Herodot noch einen dritten Begriff fur Demokratie: δήμος, das Wort für Volk und Volksversammlung. Und er tut dies auffalligerweise in einer terminologisch besonders ausgefeilten Passage, dem sogenannten Verfassungsdialog, für den er sich - nach meinem Urteil: mit aller Wahrscheinlichkeit - ziemlich dicht an eine Vorlage hält. Dort fehlt der Begriff Demokratie interessanterweise. Die Sache wird in deutlichen Formulierungen umschrieben. Dann aber heißt es aus dem Mund eines Gegners dieser Form: δήμω μεν νυν, οϊ Πέρσησι κακόν νοέουσι, οΰτοι χράσθων (3,81,3). Und ähnlich wird das Wort bei Thukydides und andern, nicht zuletzt bei Aristoteles, vielfach gebraucht.33 Zumeist in Zusammenhängen wie dem der Einrichtung oder der Abschaffung respektive Zerstörung des Demos. Dabei mag später, besonders bei Aristoteles, die Auffassung mitsprechen, das Wesentliche an einer politischen Ordnung sei, wie dort der Kreis der politisch vollberechtigten Bürger bestimmt ist. Entsprechend gewinnt das Wort Politela, das ursprünglich Bürgerrecht und Bürgerschaft bedeutet, auffalligerweise die Bedeutung „Verfassung" (was in den Übersetzungen zu manchem Mißverständnis fuhrt, da der Sinn des Wortes verschiedent32
Kurt A. Raaflaub, Des freien Bürgers Recht der freien Rede. Ein Beitrag zur Begriffsund Sozialgeschichte der athenischen Demokratie, in: Werner Eck, Hartmut Galsterer, Hartmut Wolff (Hg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte. Festschrift Friedrich Vittinghoff, Köln u.a. 1980, 7-57. 33 Zu den Belegen: Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 18 ff. (144 ff.) (ergänzt; zwei besonders interessante Belege fehlen aber auch dort: Thuk. 8,91,3 ; 8,92,11 ). Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1 ) 40, Anm. 27.
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lieh zwischen „Bürgerschaft" und „Verfassung" oszilliert).34 Doch muß man dieses Verständnis von Verfassung als Bestimmung primär des Kreises der politischen Aktivbürger noch nicht für Herodots Gebrauch von δήμος annehmen. So hat man es hier vermutlich, wenn auch auf ganz andere Weise, wiederum mit einem pars pro toto zu tun: Demos, also, wie man doch wohl sagen muß: die Volksversammlung samt ihren Rechten, etwa dem Recht, regelmäßig zusammenzutreten und verschiedene Entscheidungen zu treffen (vielleicht auch der ihr zugeordneten βουλή), steht für das, was sich schließlich als eine ganze Ordnung erweist. Jene Ordnung nämlich, von der auch gesagt wird, sie bringe die Dinge den Bürgern in die Mitte (und die dann, wie Herodot im Verfassungsdialog zeigt, noch durch weitere Charakteristika ausgezeichnet ist, etwa die Bestimmung der Beamten durch das Los und deren Pflicht zur Rechenschaftsablage). Das Nebeneinander der Termini für Ordnungen mit stärkerer Mitsprache des Volkes ist sehr bemerkenswert. Um so mehr, als es sich bei einem Autor findet, dem der Demokratiebegriff an sich geläufig ist, ja der vermutlich etwa eine Generation nach dessen Aufkommen schreibt. Darin könnte sich die Tatsache spiegeln, daß er auf sehr verschiedene Gewährsmänner, noch dazu aus verschiedensten Teilen Griechenlands zurückgreift und ein weit über Athen hinausreichendes Publikum im Auge hat. Jedenfalls zeigt sich darin, wie wenig der Demokratiebegriff es so bald vermochte, andere Bezeichnungen aus dem Felde zu schlagen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß Herodot gemeint hätte, mit den verschiedenen Termini verschiedene Dinge zu bezeichnen. Im Gegenteil. Kleisthenes' Ordnung nennt er sowohl Isegorie wie Demokratie und läßt sie zugleich unter den Isokratien eingeschlossen sein. Die Geschichte der Begriffe interessiert ihn nicht. Vermutlich hätte er an allen zitierten Stellen „Demokratie" einsetzen können, wenn er sich nicht, wie ich vermute, immer wieder auch an die Worte hätte halten wollen, in denen ihm seine Gewährsmänner die Dinge wiedergaben und - wenn für ihn jener Terminus so einfach die andern verdrängt hätte.35 Erklärlich ist dieser - trotz der absolut gesehen relativ geringen Anzahl der Belege - auffällige Tatbestand wohl nur, wenn man annimmt, daß sich bis ins letzte Drittel des fünften Jahrhunderts hinein die „Volks-Herr34
Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 64 ff., bes. Anm. 82; ders., Wandel (wie Anm. 1)299 ff. 35 Ähnlich auch zu den ionischen Städten: Isonomie Hdt. 5,37,2; vgl. 3,142,3. Demokratie 6,43,3; vgl. 4,137,2.
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schaft" als solche erst wenig ausgeprägt hatte.36 So sehr der eine oder andere - oder so sehr man hier oder dort - Demokratien ausmachen konnte: Der Begriff vermochte es, nachdem er einmal da war, nicht gleich, das ganze Verständnis der neuen Form an sich zu ziehen und vor allem eine Vielzahl unterschiedlicher Ordnungen zur Einheit eines Typs zusammenzubringen. Offenbar beobachtete man weithin erst nur die Modifikationen herkömmlicher Ordnung durch Gleichheit (der Rechte wie der Machtverteilung) oder eben die verbesserte Rolle des Demos für sich genommen. Und da die Begriffe auswechselbar waren, stellte auch „Demokratie" zunächst nur eine Möglichkeit, solche Modifikationen zu charakterisieren, neben anderen dar. Auf den Sonderfall Athen wäre gleich zurückzukommen. Besonders interessant scheint in dieser Hinsicht das Pamphlet des Pseudo-Xenophon, wohl aus den 20er Jahren des fünften Jahrhunderts, zu sein. Der Verfasser verficht die These, die attische Demokratie sei zwar schlecht, läge aber durchaus im wohlkalkulierten Interesse des in der Stadt herrschenden niederen Volkes. Es sei in Athen alles auf dessen Herrschaft eingerichtet. Folglich könne man diese Verfassung nicht durch irgendwelche Modifikationen verbessern, sondern nur abschaffen oder eben beibehalten. Dies alles wird mit einer solchen Verve gegenüber Gesinnungsgenossen vorgetragen, daß daraus zu schließen ist, daß selbst in den der Demokratie kritisch gegenüberstehenden Teilen der attischen Oberschicht die Meinung verbreitet war, es komme wesentlich darauf an, durch einzelne Korrekturen die althergebrachten Maßstäbe wieder zur Geltung zu bringen. Hatte man nicht genügend Distanz? War die Wahrnehmung zu sehr in Einzelheiten befangen? War die politische Machtverteilung zwischen Adel und Volk vielfach zu schwer bestimmbar, als daß man so einfach und so durchweg - hätte disponiert sein können, hier klare Alternativen in Hinsicht auf Herrschaft - oder „Obmacht"37 - zu sehen? Was uns so passend und praktisch erscheint - und so selbstverständlich. Und wie kam es, daß Demokratie und Oligarchie sich am Ende durchsetzten? Dahinter steht die weitere Frage, wann sich ein Begriff von Verfassung herausgestellt hat, für den gerade dies, nämlich die Unterscheidung zwischen einer Herrschaft des Volkes und einer Herrschaft (relativ) weniger Männer, das zentrale Kriterium ist. 36
So auch Bleicken, Verfassungstypologie (wie Anm. 4). So nach meinem Dafürhalten die beste Übersetzung von κράτος, sofern es die ausschlaggebende Macht innerhalb einer Verfassung meint. 37
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VI. Bei Thukydides liegen die Dinge anders. Zwar kennt auch er noch die Gleichsetzung von δήμος und δημοκρατία,38 aber aufs ganze gesehen sind bei ihm Demokratie und Oligarchie (respektive Umschreibungen des damit gemeinten Sachverhalts wie πολλοί ολίγων αρχουσι, ... πλεόνων έλάσσους; 4,126,2; vgl. 4,86,4) die üblichen Termini zur Bezeichnung von Verfassungen (πολιτειαι), gelegentlich findet sich auch δυναστεία (3,62,3; 4,78,2; 6,38,3). Will er feinere Unterschiede, sei es der Machtrespektive Herrschaftsausübung, sei es des agitatorischen Anspruchs, ausdrücken, so benutzt er meist Modifizierungen, die von diesen Termini ausgehen.39 Isonomie dagegen war ihm entweder nur noch „schön klingende Benennung", wo es sich in Wirklichkeit um Machtausübung mit Hilfe der Demokratie handelte (3,82,8), oder er bezeichnete damit einfach den Gegenpol zur engen Oligarchie (δυναστεία, 4,78,3), wenn ihm das Wort nicht in der Adjektivform zur Charakterisierung einer Oligarchie mit breiter Beteiligung der Bürgerschaft diente (3,62,3). Die Veränderung in den Auffassungen (und in irgendeiner Weise wohl auch in der Realität verschiedener Polis-Ordnungen respektive der sie tragenden Kräfte), die sich in Thukydides' Wortgebrauch spiegelt, ist vermutlich auf die Verschärfung innenpolitischer Gegensätze zurückzufuhren, welche ihrerseits durch den Krieg zwischen Athen und Sparta mitbedingt war. Dadurch nämlich, daß die Großmächte bereit waren, auf Hilfsgesuche, sei es der των δήμων προστάται, sei es der ολίγοι einzugehen und militärisch zu ihren Gunsten zu intervenieren. Thukydides rechnet überall (έκασταχοϋ) mit Gegensätzen (διαφοραί) zwischen diesen Gruppen (3,82). Stets scheint die eine geherrscht, die andere aber rivalisierend dagegengestanden - und auf einen Verfassungswechsel gedrängt zu haben. Was normalerweise zu vernachlässigen war, jetzt aber an Bedeutung gewann. Thukydides bezeugt weiter, daß die Verfassungen Gegenstand der Agitation gewesen seien. Die einen gaben vor, πλήθους ισονομία πολιτική anzustreben; da wurde also die Demokratie unter dem guten alten, weit weniger zugespitzten, dafür hoch angesehenen Begriff der Isonomie verfochten. Die andern schienen sich für eine άριστοκρατία σώφρων einzusetzen; erstmals taucht der Aristokratie-Begriff für die Ord38
Siehe o. Anm. 33. Zum Beispiel 3,62,3 (ολιγαρχία Ισόνομος); 4,74,3 (ολιγαρχία τα μάλιστα); 8,53,3 (ές ολίγους μάλλον ...); 89,2; 97,2. Dazu Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in antiker und früher Neuzeit, Stuttgart 1980,44 f. 39
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nung auf, die uns zuvor nur als „Oligarchie" begegnet.40 In Wirklichkeit sei es beiden Seiten nur um die eigene Macht zu tun gewesen. Damals, genauer: spätestens in den 420er Jahren, hatte sich die innenpolitische Problematik also vielerorts auf den Gegensatz zwischen Demokratie und Oligarchie zugespitzt; das heißt, anders gesagt, die Gegensätze zwischen rivalisierenden Adelsgruppen - die Adligen stellten weiterhin die meisten Politiker - ließen sich nicht mehr so leicht austragen, ohne daß sich daraus nicht immer wieder auch Konsequenzen fur die Ordnung selbst ergeben hätten. So lief es oft darauf hinaus, daß entweder die wenigen über die Mehrheit (το πλέον) oder die Gesamtheit (οί πάντες!) über die Minderzahl (το έλασσον) herrschten.41 Die Entfesselung der Leidenschaften durch den Krieg scheint die Gegensätze vielfach unüberbrückbar gemacht zu haben. In dieser Polarisierung und der dazugehörigen Agitation mußte die Herrschaft entweder der einen oder der anderen zum ausschlaggebenden Unterschied zwischen den politischen Ordnungen werden; und das wird sich - wie weit, wissen wir nicht - zugleich in der institutionellen Prägung der Gemeinwesen ausgewirkt haben. Für Pseudo-Xenophon herrschten in der attischen Demokratie die unteren Schichten. Und sie scheinen damals auch in andern Orten stärker mobilisiert worden zu sein. Jedenfalls finden wir seit Thukydides, daß der Begriff Oligarchie - der sich in den älteren Belegen auf die Herrschaft kleinerer Adelskreise bezog - jetzt auch auf Verfassungen angewandt wird, in denen größere Teile der Bürgerschaft, vielleicht die knappe Mehrheit, volle politische Rechte besaßen. Deswegen konnte man von ολιγαρχία ισόνομος sprechen. Es muß sich dabei um jene Verschiebung der Begrifflichkeit handeln, von der Aristoteles spricht, ohne für sie ein Datum zu nennen. Danach seien die Hoplitenverfassungen, die zu seiner Zeit zu den Oligarchien (oder der Mischform der sogenannten Politie) gezählt wurden, zuvor Demokratien genannt worden.42 In manchen Städten könnte die Schicht der Vermögenden relativ breit gewesen sein. In andern könnte man versucht haben, durch Beschränkung der Aktivbürgerschaft nach Maßgabe etwa des Zensus die Majorisierung durch die Angehörigen breiterer Schichten auszuschließen, wie es 411 in Athen versucht wird43 und für das vierte Jahrhundert mehrfach bezeugt ist. 40
Sofern sie sich nicht als Eunomie gibt (Xen. Ath. pol. 1,9). Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1)6(129). 41 Thuk. 4,86,4; 4,126,2. 42 Aristot. pol. 1297 b 24. 43 Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 39) 75 ff.
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In die gleiche Richtung weist das Aufkommen erster Mischverfassungskonzepte, wohl auch des Ideals der πάτριος πολιτεία sowie die besondere Hochschätzung der μέσοι, der „Mittleren" also, die bei Euripides im Peloponnesischen Krieg zu greifen ist.44 Was zuvor alles in einem weniger zugespitzten Sinne Demokratie (oder auch Isonomie etc.) genannt worden sein mochte, wurde jetzt unterteilt in Demokratie im engeren Sinne und andere Verfassungen, die man als Oligarchie begreifen mochte. Später konnte Aristoteles dann formulieren, Demokratie bedeute die Herrschaft der Armen, selbst wenn sie in der Minderheit seien. Im Laufe der Abhandlung schränkte er dies freilich ein und kam dazu, Demokratie als die Verfassung zu definieren, in der „die Freien und Armen, in der Mehrheit befindlich, die oberste Gewalt besitzen".45 Im Peloponnesischen Krieg also, um insoweit zusammenzufassen, ist der Demokratie-Begriff im Unterschied und Gegensatz zu dem der Oligarchie mehr oder weniger klar zu fassen. Angesichts der Polarisierung durch die extreme (und extrem sich gebärdende) Demokratie Athens hatten sich die Maßstäbe verschoben. Jochen Bleicken mag Recht haben, wenn er das Aufkommen der Verfassungstheorie in die gleiche Zeit datiert. Daß ein Wort, das gerade erst zur Bezeichnung von Bürgerrecht und Bürgerschaft gebildet worden war, πολιτεία, künftig für „Verfassung" gebraucht wurde, war insofern konsequent, als es jetzt offensichtlich war, daß die Verfassungen wesentlich davon abhingen, wie die Aktivbürgerschaft bestimmt war. Umfaßt sie alle oder die meisten, ist es eine Demokratie, umfaßt sie nur etwa die knappe Mehrheit der Bürger, ist es nach neuem Verständnis eine Oligarchie. Und diese Unterschiede waren um so bedeutender, als von ihnen oft genug auch die Politik der Stadt abhing. Die Frage ist, ob der Begriff Demokratie, auch wenn er sich im ganzen so rasch nicht hatte durchsetzen können, nicht wenigstens in Athen und dessen Machtbereich schon zuvor eine größere Rolle gespielt hat.
44
Hierzu und zum folgenden Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 54. Zu den μέσοι Spahn, Mittelschicht (wie Anm. 2). Zu den verschiedenen Oligarchien auch Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 4 Bde., Darmstadt 1962, Bd. 1, 247. Insgesamt ist das Buch von Nippel hier mit heranzuziehen. 45 Aristot. pol. 1279 b 8; 1290 b 17; 1317 b 8. Meier, Demokratie. Antike Grundlagen (wie Anm. 1) 826.
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VII. Gewisse Gegensätze zwischen Volk und Adel sowie zwischen Ordnungen, die zugunsten sei es des Adels, sei es des Volkes geordnet waren, müssen zumindest in verschiedenen Seebundsstädten schon vor dem Peloponnesischen Krieg vorhanden oder aufgrund athenischer Einwirkung hervorgerufen worden sein.46 Denn in verschiedenen Städten hat Athen, wenn es sie nach deren Abfall wiederum unterwarf, das „Volk" an die Macht gebracht. In Samos etwa, Kolophon, Erythrai, Chalkis und anderen. Man hat zumindest Institutionen der eigenen Verfassung dorthin übertragen. Freilich ist nicht unbedingt gesagt, daß der Demos dort stärker gewesen wäre als die bis dahin herrschende Oberschicht. Aber je mehr er zur Behauptung seiner Macht auf Athen angewiesen war, um so besser war es fur die Befestigung des Bündnisses. Außerdem hat Athen schon in den 450er Jahren auf die innere Ordnung in Megara und Böotien eingewirkt. Ob man die entsprechenden Ordnungen Demokratien genannt hat, ist nicht bezeugt. Angesichts der Gegensätze zwischen dem Demos und der bis dahin herrschenden Schicht, die dabei vorausgesetzt oder erzeugt wurden, könnte es jedenfalls nahegelegen haben. Doch muß von den - insgesamt doch vereinzelten - Fällen und im Hinblick auf sie die Karriere des Begriffs nicht sonderlich gefordert worden sein. Eine andere Frage ist, wie es sich mit den von Eric W. Robinson47 in seiner jüngst erschienenen Arbeit so genannten first democracies in verschiedenen Städten seit dem sechsten Jahrhundert verhält. In den Berichten darüber wird zwar der Terminus Demokratie öfters gebraucht, doch nur in Quellen, deren älteste ins vierte Jahrhundert gehören. Sie können nicht als Zeugnisse für ein früheres Vorkommen des Begriffs in Anspruch genommen werden. Aber vielleicht für das Vorkommen von Demokratien avant la lettre? Denn so müßten es Aristoteles und andere doch verstanden haben, wenn sie den ihnen geläufigen Begriff dorthin übertrugen. Für einige dieser sogenannten Demokratien dient auch Herodot als Quelle, und er benutzt in diesem Zusammenhang zur Charakterisierung ihrer Ent46
Zum folgenden vgl. den Überblick von Wolfgang Schuller, Zur Entstehung der griechischen Demokratie außerhalb Athens, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 302-323, mit weiteren Hinweisen. Dazu Wolfgang Schuller, Die Herrschaft der Athener im Ersten Attischen Seebund, Berlin 1974. Femer: Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr., München 1985, der nur einen etwas lässigen Umgang mit dem Begriff Demokratie treibt. 47 Eric W. Robinson, The First Democracies. Early Popular Government outside Athens, Stuttgart 1997. Dazu die Rezension Uwe Walters in Gnomon 72, 2000, 320-324.
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stehung zumindest eine Wendung, mit der er (nach seinem Verständnis) auch die von Demokratien bezeichnet: zum Beispiel ές μέσον Κφοισι καταθείς τήν άρχήν (7,164,1). Unklar ist, nach welchen Kriterien verschiedenen Städten (es sind, je nach Zählung, etwa 15) eine demokratische Ordnung zugewiesen wird. In keinem dieser Fälle sind die Quellenaussagen detailliert oder umfassend genug, um eindeutige Schlüsse auf demokratische Institutionen zuzulassen. In der Inschrift zum Beispiel, welche für Chios eine βουλή δημοσίη bezeugt, ist damit zwar für die Rechte und Funktionsmöglichkeiten der Volksversammlung einiges gesagt, über ihre Stellung im Ganzen der Verfassung jedoch nichts, was eindeutig wäre. Im Fall Mantineas macht Aristoteles ganz deutlich, daß es sich bei der sogenannten Demokratie um eine Ordnung handelte, in der der (bäuerliche) Demos damit zufrieden war, die Beamten zu wählen (oder genauer: durch Wahlmänner bestellen zu lassen), ihnen Rechenschaft abzunehmen und in der Volksversammlung Entscheidungen zu treffen. Er hätte aber nichts dagegen gehabt, daß die Wohlhabenden die Ämter bekleideten. Derartige Ordnungen rangieren bei Aristoteles sonst eher als gemischte Verfassungen oder Politeiai respektive als solche, in denen aristokratische und demokratische Konzepte gleichermaßen zur Geltung kämen. In manchen Fällen steht „Demokratie" (wie sonst Isonomie) einfach fur den Gegensatz zur Tyrannis.48 Da bleibt denn offen, wie sich Adel und Volk die Macht teilten. In andern mag eine Zeitlang eine Adelsclique mit Hilfe der Volksversammlung die Dinge in die Hand genommen haben, wobei überhaupt nicht zu sehen ist, wie das institutionell (und eventuell zugunsten des Volkes) abgesichert war. Insgesamt gibt es kein irgend zuverlässiges Indiz dafür, daß es sich hier um mehr als Modifikationen herkömmlicher Ordnung gehandelt hätte, wie sie in Athen etwa schon von Solon und dann vor allem von Kleisthenes vorgenommen worden sind, ohne daß man Grund hätte anzunehmen, daß mehr als eine Aufwertung der Volksversammlung, eine stärkere Mitsprache als Gegengewicht gegen den herrschenden Adel eingeführt worden wäre. Die betreffenden Verfassungen sind, scheint mir, aufgrund solcher Züge nachträglich als Demokratien verbucht worden, obwohl es sich in der Regel, dem genaueren Verständnis von heute entsprechend, um Isonomien gehandelt haben wird. Eine klare Alternative zwischen Volksund Adelsherrschaft ist in diesen Städten nicht auszumachen.
48
Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1)13 (138). Vgl. noch Thuk. 6,89,5-6.
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VIII. In Athen könnten sich die Dinge am Ende der 460er Jahre auf einen tiefen Gegensatz zwischen Adelsmehrheit und Demos zugespitzt haben. Die Entmachtung des Areopags 462/1 weist jedenfalls darauf hin, daß dort ein Kreis von Politikern und eine Mehrheit der Volksversammlung dem Adel die Möglichkeit nehmen wollten, sich politisch durch diesen Rat geschlossen zur Geltung zu bringen. Dabei ist es gleichgültig, ob die damit verknüpfte Veränderung der politischen Ordnung das eigentliche Ziel der Reform oder eher Mittel zum Zweck der Ermöglichung einer neuen Außenpolitik war; gerade im letzteren Falle würde sich erweisen, wie mächtig der Rat zuvor gewesen ist. Möglicherweise kann man aber die innenpolitische von der außenpolitischen Zielsetzung kaum trennen. Aus der - nicht lange darauf verfaßten und aufgeführten - Orestie des Aischylos ist zu entnehmen, wie tief und wie erschütternd der Einschnitt empfunden worden ist, den Athen damit erfuhr.49 Oder sollte diese die ganze Welt und deren Veränderung auf ungeheuer eindrucksvolle Weise einfangende Trilogie bloß einem beliebigen dichterischen Einfall entsprungen sein? Relativ glaubwürdig bezeugt ist zudem, daß Ephialtes, der Anfuhrer der Reformer, die Entmachtung des Areopags durch Gerichtsverfahren vorbereitet hat, daß also dem Volksbeschluß eine Phase der Auseinandersetzungen voraufgegangen ist. Wir wissen nur nicht, wie lange sie gedauert hat.50 Überliefert ist auch, daß der Areopag nach Salamis relativ mächtig gewesen sei und zwar durch Autorität (αξίωμα). Nur in den letzten Jahren vor seiner Entmachtung sei dieser Einfluß abgebröckelt." Der Quellenwert dieser Aussage wird allerdings vielfach bezweifelt. Doch muß man hier vielleicht eine Unterscheidung treffen: Wenn die Verdienste des 49
Christian Meier, Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen, in: ders., Die Entstehung des Politischen (wie Anm. 1) 144-246. Sowie: ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, 117 ff. 50 Dazu wie zu diesen Jahren überhaupt Christian Meier, Der Umbruch zur Demokratie in Athen (462/1 v. Chr.). Eine Epoche der Weltgeschichte und was Zeitgenossen daran wahrnahmen, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987,353-380. Daß der Entmachtung des Areopags eine gewisse Phase der Agitation voraufging (ebd. 358 ff.), scheint mir nach wie vor sicher zu sein. Nur kann man die Hiketiden, wie sich gleich zeigen wird, in diesem Zusammenhang nicht zitieren. Ephialtes hat sich eher an ein schon vorhandenes Bewußtsein von Volks-Herrschaft angeschlossen (und es eventuell nachträglich verstärkt). 51 Aristot. Ath. pol. 23,1 f.; 25,1.
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Areopags - angeblich hat er erst die Voraussetzung für den Sieg bei Salamis geschaffen - vermutlich stark übertrieben, also die Ursachen seines damals begründeten Einflusses tendenziös dargestellt worden sind, so muß doch nicht gleich das Zeugnis über den Einfluß selbst falsch sein. Zudem scheint mir vor allem eines sehr stark für eine einflußreiche Position, also für die große Autorität des Adelsrats in den eineinhalb Jahrzehnten nach Salamis zu sprechen: Athen sah sich damals schlagartig und gänzlich unvorbereitet vor die Notwendigkeit gestellt, in großem Stil und mit bedeutender Reichweite Außenpolitik zu treiben. Es ist schlechterdings nicht zu sehen, wie die Volksversammlung und der ihr zugeordnete Rat der Fünfhundert das so rasch hätten leisten wollen. Folglich lag es nur allzu nahe, daß der Areopag, in dem die mächtigsten und vor allem die erfahrensten, auch diplomatisch geschulten, zum Teil weitgereisten Politiker saßen, in dieser Situation in hohem Maße zur Beratung der Politik wie zur Politik selbst herangezogen wurden. Und es ist nach allem, was wir von ihm wissen, durchaus wahrscheinlich, daß der führende Politiker der Zeit, Kimon, sich auf den Areopag stützte, ja sich auf dessen Autorität vor der Volksversammlung berufen hat.52 Eben diese Autorität - und nicht nur, vielleicht nicht einmal so sehr die Kompetenz, den Beamten die Rechenschaft abzunehmen - muß die Macht des Adelsrats ausgemacht haben. Eben deswegen war es fur die Reformer so wichtig, ihm seine politischen Funktionen zu nehmen. Positiv bedeutete das die Stärkung der Volksversammlung und des Rats der Fünfhundert; nicht nur, indem diese Funktionen vom Adelsrat übernahmen, sondern auch, weil sie nun frei von Autorität und Bevormundung durch ihn entscheiden konnten. Eben dieses - positive - Ziel könnten (oder: müßten) die Herren um Ephialtes, die künftig, gestützt auf die Volksversammlung, ihre Politik durchsetzen wollten, offen verfochten und begründet haben. Das stolze Bewußtsein von der Herrschaft des Demos, das sich in Aischylos' Hiketiden bezeugt, müßte ihnen dabei zugute gekommen sein. In 52
Zur Macht des Areopags in dieser Zeit auch Jochen Martin, Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 160212,193 ff. Über Kimons rhetorische Fähigkeiten, die mir (Meier, Umbruch [wie Anm. 50] 356) als Argument für die Autorität des Areopags dienten, gibt es ein etwas abweichendes Zeugnis bei Nep. Cimon 2,1: habebat satis eloquentiae. Aber vielleicht sollte man doch dem Zeugnis des Stesimbrotos bei Plutarch mehr trauen. Ob Ephialtes wirklich befürchtet hat, beim Rechenschaftsverfahren vor dem Areopag eine Niederlage zu erleiden, ist durchaus unklar. Doch könnte eben die Kompetenz, den Beamten Rechenschaft abzunehmen, für diese ein Grund gewesen sein, sich vor größeren Unternehmen mit dem Areopag abzustimmen.
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der Konfrontation zur Zeit der Entmachtung des Areopags müßte das Verständnis von Volksherrschaft zumindest verstärkt worden sein. Da könnten beide Seiten das Parteiische daran deutlich empfunden haben. Wenn es in den Eumeniden heißt: παντί μέσφ το κράτος θεός ώπασεν (530), könnte das eine direkte Reaktion darauf sein: Nicht das Volk, als Teil der Polis verstanden, soll die Obmacht (κράτος) haben, sondern πάν μέσον, alles, was in der Mitte, was gemäßigt ist.53 Allein, nach den heftigen Spannungen, der Furcht vor dem Bürgerkrieg, welche auf die Entmachtung des Areopags folgten, scheinen sich die Dinge mit der Zeit wieder eingerenkt zu haben. Was an Gegensätzen blieb oder neu aufkam, ließ sich innerhalb der demokratischen Ordnung austragen. Die Stadt mit all ihren Erfolgen bot auch den Adligen - trotz manchen Ärgernisses, trotz schwerer Konflikte- genügend Möglichkeiten, um sie mit dem Neuen zu versöhnen. Von einer grundsätzlichen Feindschaft gegen die bestehende Ordnung, von einem Gedanken an Oligarchie als Alternative zur Demokratie, findet sich nach Abflauen der Spannungen keine Spur.54 Wenn es Ressentiments gab, so blieb das vereinzelt. Erst im Laufe des Peloponnesischen Krieges sollte sich dies wenden. Da spitzten sich die Gegensätze erheblich zu, und vor allem: Da hatten nicht zuletzt die Angehörigen der Oberschicht unter dem Krieg und bald auch unter höchst problematischen Beschlüssen der Volksversammlung zu leiden. Wenn man sich - wie Perikles in seiner Gefallenenrede bei Thukydides - in der Vorkriegszeit der attischen δημοκρατία respektive der άρχή des δήμος (2,37,1; 65,9) stolz bewußt war, so wird darin also nicht die Gegnerschaft zum Adel, sondern etwas ganz Anderes im Vordergrund gestanden haben: Die attische Bürgerschaft konnte wirklich - weit mehr als alle andern - die Erfahrung ihrer Herrschaft tagtäglich und in hohem Grade machen, weil sie wirklich in Volksversammlung, Volksgericht und Rat der Fünfhundert wie in zahlreichen, auch von Kleinbürgern besetzten 53
Dazu vor allem auch die Beschwörungen, daß eine Stadt nicht unbeherrscht und nicht allzu beherrscht sein sollte (aus dem Mund der Erinyen, Eumeniden 526 wie auffalligerweise ein zweites Mal, jetzt aus dem Mund der Athene: 696; wobei eine alte Devise Solons [5,8 D] unter neuen Machtverhältnissen wieder aufgenommen wird). Aber die Einschränkung der Freiheit (Willkür) des Volkes wird nur auf einem Umweg über abstrakte Kräfte wie φόβος, σέβας, το δεινόν mit Blick auf den Areopag angemahnt. 54 Auch Plut. Perikles 11,3 behauptet nur einen Riß zwischen dem Demos und den Wenigen, nicht den zwischen Anhängern verschiedener Verfassungen. Doch auch das mag übertrieben sein. Dazu: Ekkehard Meinhardt, Perikles bei Plutarch, Diss. Frankfurt 1957, 37 f.; Karl-Joachim Hölkeskamp, Parteiungen und politische Willensbildung im demokratischen Athen. Perikles und Thukydides, Sohn des Melesias, HZ 267, 1998, 1-27.
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Ämtern, sowohl eine Unmenge von Entscheidungen zu treffen, wie über vieles zu verfugen hatte. Die Herrschaft über den Seebund war wesentlich die Herrschaft des Volkes, und zwar des ganzen Volkes.55 Möglicherweise hat diese Erfahrung dem Begriff der Demokratie besonderes Gewicht verliehen; zunächst freilich nur fur Athen. Welche andere Stadt wäre damit auch vergleichbar gewesen? Zu fragen ist, was aus dem Zeugnis der Hiketiden für die 60er Jahre des fünften Jahrhunderts in Athen entnommen werden könnte.
IX. Die Hervorhebung der Herrschaft des Volkes durch die Schutzflehenden ist so auffällig, daß sie es zumindest nahelegt, daran zu denken, diese Herrschaft sei gerade damals bewußt geworden. Wie es dazu kam, ist eine andere Frage. Wird hier eine Parole damaliger Agitation, vielleicht gar ein Programm zitiert? Oder ist man im Laufe der Zeit, eben indem man die Rolle der Volksversammlung in der damaligen Politik immer neu erfuhr, darauf gekommen, daß hier nicht nur eine Gleichheitsordnung, sondern eben eine Demokratie am Werk war? Stolz könnte sich darin äußern und sei es, daß er auf die Bedenken anderer antwortete, welche fanden, die Menge sei zu mächtig geworden. Wohl wäre es denkbar, daß Ephialtes der Autorität des Areopags auch dadurch den Boden zu entziehen versuchte, daß er dem Volk einhämmerte, es selbst habe die ausschlaggebende Macht in der Polis und solle seine Entscheidungen ohne Rücksicht auf den Adelsrat treffen respektive diesem seine (wie Ephialtes meinte) angemaßten politischen Rechte nehmen. Aber gerade dann wäre es äußerst unwahrscheinlich, daß Aischylos diese Wendung zitiert hätte. So direkt konnte sich eine Tragödie nicht in die Politik einmischen. Übrigens wissen wir nicht einmal, wann genau die Hiketiden aufgeführt worden sind. Es könnte in jedem der Jahre von 465 bis 460 gewesen sein. Das heißt sowohl vor wie nach der Entmachtung des Areopags. Die übliche Datierung auf 463 beruht auf einer unsicheren Vermutung (Vgl. o. Anm. 7). Ebensowenig ist, entgegen meiner früheren Annahme, Zeile 370 als Anspielung auf die Agitation des Ephialtes zu verstehen. Der König Pe-
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Respektive der ganzen Stadt, vgl. u. Anm. 63.
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lasgos bedeutet den um Asyl nachsuchenden Ägypterinnen, wenn die Stadt (πόλις) gemeinsam (το κοινόν) betroffen sei, müsse das Volk (λαός) gemeinsam (ξυνη) auf Abhilfe sinnen. Er, Pelasgos, könne die Entscheidung über ihre Aufnahme nicht treffen, bevor er die Sache allen Bürgern unterbreitet habe (άστοΐς δέ πασι τώνδε κοινώσας πέρι). Da antworten sie ihm merkwürdigerweise zunächst (vielleicht in der allerersten Erregung?) mit den Worten: σύ τοι πόλις, σύ δέ το δήμιον, um dann genauer zu werden: du bist doch der Herrscher, άκριτος, keiner Rechenschaft schuldig, Herr über den Altar, den Herd des Landes, alles (χρέος πάν) vollbringst du, ganz allein (μονοψήφοισιν νεύμασιν σέϋεν) entscheidend mit einem Wink, ganz allein dank Szepter und Thron (μονοσκήπτροισι έν θρόνοις). Die Macht, die die Hiketiden dem König zusprechen, ist also hinlänglich umschrieben. Und darum geht es. Denn sie meinen, er habe keinerlei Grund, das Volk zu befragen. Er allein trage die Verantwortung. Warum also setzen sie an mit den Worten: „Du (bist) doch die Stadt, du das Volk" (um τό δήμιον zunächst so zu übersetzen)? Victor Ehrenberg meint, die Macht des Königs erscheine in den Augen der Mädchen aus Ägypten als absolute Monarchie, und erinnert an das Ludwig XIV. zugeschriebene „L'état c'est moi".56 In gewissem Sinne scheint diese Wendung hier, von der ersten in die zweite Person verwandelt, in der Tat wiederzukehren. Aber ein Staat ist etwas anderes als eine Polis. Zum modernen Staat gehört die Vorstellung der Repräsentation, die im (angeblichen) Ausspruch des Sonnenkönigs nur gesteigert erscheint. Wie soll einer dagegen die Polis oder τό δήμιον sein? Mir ist aus der griechischen Literatur keine auch nur annähernd vergleichbare Aussage bekannt. Wenn Ludwigs angebliche Äußerung die Spitze einer Wahrheit bezeichnet, tragen die Hiketiden also nur eine widersinnige Behauptung vor. Will Aischylos durch diese merkwürdige Formulierung auf die Befangenheit der Mädchen in fremden, ägyptischen Vorstellungen anspielen? Wenn denn Pharao nicht nur zugleich den Palast, sondern auch Ägypten bezeichnet (oder wenn man in Athen dergleichen gemeint) hätte. Möglich wäre es, auch wenn man nicht weiß, ob das attische Publikum von der ägyptischen Monarchie 60 Jahre nach deren Ende noch so genaue Vorstellungen gehabt hat. Ich habe dagegen früher gemeint, dieser Vers sei nur als Umkehrung einer richtigen Behauptung zu verstehen, die damals in der Tat hätte vor56
Dazu: Fritz Härtung, L'état c'est moi, HZ 169, 1949, 1-30.
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gebracht werden können, nämlich: Ihr seid (oder wir alle sind) doch die Stadt! Ephialtes hätte damit gleichsam auf die Behauptung von Adligen entgegnen können, sie wüßten besser, was der Stadt fromme. Nein, so hätte sein Einwand gelautet, die Stadt sei nicht mehr Objekt adliger Fürsorge, sondern Subjekt ihrer selbst. Sie könne selbst entscheiden, sie trage ja auch das Risiko. Indes wäre diese Deutung vielleicht doch etwas umwegig, und jedenfalls würde auch hier gelten, daß politische Agitation in der Tragödie nichts zu suchen hatte. Denn wenn die auffallige Formulierung fur die damaligen Zuhörer in dieser Weise entzifferbar hätte sein sollen, dann hätte eben die agitatorische Behauptung durchgeschimmert. Folglich ist diese Deutung falsch. Man kann allenfalls aus dem Vers schließen, daß damals die Frage gestellt wurde, wer die Stadt sei. Die für die Griechen absurde In-eins-Setzung von Herrscher und politischer Einheit muß also anders verstanden werden. Etwa im Sinne einer Antwort, die ungefähr, wie folgt, zu explizieren wäre: Was soll das, was du da sagst? Wieso die ganze Rede vom „Gemeinsamen", von allen Bürgern? Du hast doch die Verantwortung! Von dir hängt doch alles ab! Was heißt hier überhaupt Stadt? Die bist du doch selber! Die Stadt und auch το δήμιον. Diese Äußerung, diese Riesen-Übertreibung gehört in den Rahmen des von einem Extrem zum andern verlaufenden Lernprozesses der Hiketiden. Bruno Snell hat eindrücklich gezeigt, daß in diesem Stück - „neu und ... bedeutungsvoll für die Entwicklung des griechischen, ja des europäischen Geistes" - erstmals eine höchst schwierige Entscheidung zum Thema wird; als „ein Problem, das nur im eigenen Denken zu lösen ist, das zu lösen der Mensch sich aber auch verpflichtet fühlt".57 Man sollte nicht übersehen, daß als ein anderer Faden parallel dazu eben die Reihe der Versuche, griechische politische Wirklichkeit von außen zu verstehen, sich durch eine längere Partie hindurchzieht. Zunächst erfahren die Hiketiden vom König, er sei „dieses Landes άρχηγέτης" (251), der Herrscher (ίίναξ, 252), er beherrsche ein großes Gebiet (254 ff.). Daraus schließen sie, er habe „alle Macht über das Land" (πάν κράτος εχων χθονός, 425). Folglich glauben sie ihm nicht, daß er das Volk befragen müsse, obwohl er herrsche (ουδέ περ κρατών, 399, fugt er selbst hinzu). Sie wissen offensichtlich nicht, daß dies unter frühen griechischen Verhältnissen kein Widerspruch ist.58 Auch die homerischen 57
Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen "1975,103 f. 58 Dazu besonders schön, vielleicht bezugnehmend darauf, Eur. Hiketiden, 349 f.
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Könige pflegten sich an das Volk zu wenden. So kommen sie dazu, nachdem Pelasgos sich in auffälligen Wiederholungen auf das Gemeinsame des Volkes berufen hat, ebenso auffällig die Alleinigkeit seines Verfügungsrechts zu betonen, ja ihn haarsträubend mit der Stadt in eins zu setzen. Dann jedoch, als das Volk einstimmig für die Aufnahme der Schutzflehenden votiert hat, schlägt die Ansicht der Hiketiden radikal um. Zwar hat ihnen ihr Vater erklärt, daß der König die Entscheidung herbeigeführt hat. Er hat den Vater (der sie vor der Volksversammlung vertreten mußte) taktisch instruiert. Und er hat so überzeugend gesprochen, daß das Volk einstimmig und spontan für seinen Antrag war (516 ff.; 605 ff.). Aber davon ist jetzt keine Rede. Jetzt meinen sie in ähnlicher Überspitzung, daß das Volk (τό δήμιον) die Stadt beherrscht; der König scheint gar nicht mehr zu zählen. Sie sehen immer nur die eine Seite, die eine Macht, die sie jeweils weit übertrieben darstellen. Eben das gibt ihnen aber die Gelegenheit, die Herrschaft des Volkes so deutlich zu betonen - und genauer zu bezeichnen. In der Wortwahl des Verses 699 findet sich ein deutlicher Bezug auf Vers 370. Dort stehen Polis und τό δήμιον gleichgeordnet und werden mit dem König identifiziert. Hier ist τό δήμιον zum Subjekt, die Polis zum Objekt der Herrschaft geworden. An sich hätte man τό δάμιον, anders als den König, mit der Stadt durchaus identifizieren können. Doch war Aischylos offenbar daran nicht gelegen. Er wollte vielmehr dessen Herrschaft über die Stadt herausstellen - und vielleicht meinte er, das auf der Folie von Vers 370 um so deutlicher tun zu können. Während dort die Herrschaft als unbeschränkte Macht des Königs erscheint, wird hier die des Demos durch die Vorzüge, die sie aufweise, qualifiziert: προμαθίς εύκοινόμητις άρχά. Die Deutung der Stelle ist trotz der zweifelhaften Überlieferung von Vers 698 aufgrund eines Scholions insoweit klar, als es sich bei άρχά um eine Apposition zu τό δάμιον handeln muß. Man übersetzt es vermutlich am besten mit Regiment: Der Lobpreis der Hiketiden bezieht sich auf das voraussehende und das Gemeinwesen wohlbedenkende Regiment von τό δάμιον, τό πτόλιν κρατύνει. Ich vermute, so sehr habe man die Volks-Herrschaft in der Tragödie nur loben können, wenn sie in Athen eine mehr oder weniger allgemein akzeptierte Tatsache war (und nicht eine agitatorische Parole). Was aber heißt τό δάμιον? Ist es einfach mit dem Demos gleichzusetzen, von dessen „herrschender Hand" (κρατούσα χειρ) in Vers 604 die Rede war? Was sich dort (wie 601 ; vgl. 942) aber eindeutig auf die Volksversammlung bezogen hatte. Oder bedeutet es etwas anderes?
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Tò δήμιον respektive το δάμιον begegnet außerhalb dieser Tragödie in unserer Überlieferung nicht. Die Bezeichnung von Kollektiven durch das Neutrum singularis des vom Eigennamen abgeleiteten Adjektivs ist seit Herodot aber vielfach bezeugt, το Ελληνικόν etwa, το Περσικόν, το Λακωνικόν. Entsprechend finden wir το πολιτικόν, το συμμαχικόν, τό ναυτικόν u. a. Selten begegnet in dieser Form das Adjektiv auf HO, το Πελοποννήσιον zum Beispiel. Fritz Gschnitzer59 hat auf diese Bildungen aufmerksam gemacht und festgestellt, daß sie „anscheinend namentlich dann" gebraucht werden, „wenn es hervorzuheben gilt, daß es sich um die Gesamtheit des Volkes handelt", gegebenenfalls auch des Heeres, der Bundesgenossenschaft oder der ganzen Menschheit (άπαν τό άνθρώπινον, Hdt. 1,86,5). Eben das könnte auch hier der Fall sein (wenn man nicht annehmen will, daß τό δήμιον respektive τό δάμιον nur um des Versmaßes willen für δήμος eingetreten ist). Droysen übersetzt es mit „das gesamte Volk". Es hätte, wie sich gleich zeigen wird, seinen guten Sinn im Kontext einer Vielfalt gleichzeitiger Versuche, die Gesamtheit des Volkes mit umfassenden Termini zu begreifen respektive das Volk mit der Stadt in eins zu setzen. Wollte man den König mit der Polis identifizieren, so hätte es sich zweifellos nicht empfohlen, das gleiche mit δήμος zu tun. Aber vielleicht ist auch an der zweiten Stelle der Begriff τό δάμιον ganz bewußt gesetzt um mehr zu bezeichnen als nur δήμος, nämlich die Gesamtheit, die alle einschloß? Um über allen Zweifel deutlich zu machen, daß es eben nicht nur das (möglicherweise niedere) Volk (die Mehrheit in der Volksversammlung) war, die hier herrschte? Wenn man so fragt, könnte man den Eindruck erwecken, Haare spalten zu wollen. Indes spielt das Ganze der Polis, soweit wir sehen können, in den Diskussionen im zweiten Drittel des fünften Jahrhunderts eine höchst auffällige Rolle.
59
Fritz Gschnitzer, To Έλληνικόν neben oí "Ελληνες. Eine vorläufige Umschau, in: Robert Muth, Johann Knobloch (Hg.), Natalicium Carolo Jax septuagenario a. d. VII. Kai. Dec. MCMLV oblatum, 2 Bde. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 3), Innsbruck 1955, Bd. 1,261-267,262 (wieder abgedruckt in: ders., Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum, Bd. 1 : Frühes Griechentum. Historische und sprachwissenschaftliche Beiträge, hrsg. v. Tassilo Schmitt u. Catherine Trümpy, Stuttgart 2001, 75-81, dort 76).
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X. In der Verfassungsdebatte bei Herodot zieht der Verfechter der Demokratie, nachdem er verschiedene Argumente zu deren Gunsten vorgetragen hat, die Summe, man solle το πλήθος άέξειν (3,80,6). Begriffsgeschichtlich ist daran zunächst interessant, daß im ganzen Plädoyer nicht von δήμος, sondern von πλήθος gesprochen wird; πλήθος δέ αρχον heißt es zu Beginn des Passus, in dem die Eigenheiten dieser Ordnung charakterisiert werden. Den eigentlichen Gegensatz dazu bildet die Tyrannis. Der Adel könnte in πλήθος eingeschlossen sein, leichter als in δήμος. Studiert man den Wortgebrauch bei Herodot, so zeigt sich jedenfalls die Tendenz, mit πλήθος mehr zu bezeichnen als nur den δήμος. Das Wort zielt damals offenkundig auf die Gesamtheit der Bürgerschaft, während δήμος in diesem Sinn zumindest zweifelhaft ist.60 Und so ist es auch bei Thukydides, der gar fur die Verfechter der Demokratie die Parole (ονομα ευπρεπές): πλήθους ισονομία πολιτική bezeugt. Auffallig ist, daß πλήθος einmal sogar in die offizielle Sprache der Volksbeschlüsse eingedrungen ist, im Erythrai-Dekret, das in die 460er oder 450er Jahre gehört, vermutlich 453/2 beschlossen wurde.61 Jedenfalls läßt sich am Gebrauch von πλήθος belegen, wie man terminologisch damals versucht hat, die Gesamtheit der Bürgerschaft anders als mit (dem zugleich die Volksversammlung und damit deren Mehrheit meinenden) δήμος zu bezeichnen. Aischylos' τό δήμιον könnte genau parallel dazu verwandt worden sein, das bei Herodot (7,103,1) bezeugte τό πολιτικόν - Thukydides spricht einmal von τό πάν πολιτικόν (8,93,3) - in ähnliche Richtung weisen. Die sehr viel treffendere Bezeichnung der gesamten Bürgerschaft als πολιτεία kommt erst später auf. In gewissem Widerspruch zu diesem Befund steht die summarische Begründung, die der Verfechter der Demokratie bei Herodot fur seine Empfehlung gibt: έν γαρ τφ πολλφ ενι τα πάντα. Denn wenn in der Mehrheit das Ganze drin ist, dann entspricht dem πλήθος gerade nicht τά πάντα, sondern τό πολλόν. Indes scheint Herodot (oder seine Vorlage) hier ein60
Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 25 ff. (154 ff.). Ergänzend wäre daraufhinzuweisen, daß man eine Ausnahme zu verzeichnen hat, nämlich die Wendung τ φ δήμω τά πράγματα ές μέσον τιθεναι (vgl. Hdt. 4,161,3). Doch abgesehen davon, daß hier an die Volksversammlung gedacht sein könnte, könnte es sich um eine formelhafte Wendung handeln. Für einen späteren Gebrauch von πλήθος im Sinne von Vielfalt der Bürger: Michel B. Sakellariou, The Polis-State. Definition and Origin, Athen 1989, 229f. 61 IG I3 14 (und 15?) = David Lewis, Russell Meiggs (Hg.), A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fifth Century B.C., Oxford 1971, 89 ff. (Nr. 40).
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fach eine gängige, möglicherweise formelhafte Begründung für die das Ganze bindende Kraft von Mehrheitsentscheidungen (gleichgültig ob in kleineren oder größeren Gremien, eventuell also auch in der Oligarchie) auf die politische Ordnung der Volks-Herrschaft übertragen zu haben. Besonders interessant ist, was sich aus dieser Übertragung ergibt: Daß nämlich als zentrales Argument für das πλήθος αρχον angeführt wird, es enthalte das Ganze. Das Ganze, alias: die Polis - oder die Bürgerschaft? - , erscheint also als eine Instanz, die gleichsam in concreto politisch präsent gemacht werden muß. Womit eine Ordnung legitimiert wird, in der dies am besten möglich ist. Geht es zu weit, wenn man auch hier die Frage, wer die Polis ist, im Hintergrund am Werk sieht? In die gleiche Richtung zielt es, wenn sich Haimon in Sophokles' Antigone auf das „stadtgleiche Volk von Theben hier" (Θήβης τήσδ' όμόπτολις λεώς) beruft. Όμόπτολις kann in diesem Falle nicht (wie es der Regel bei den mit όμο- zusammengesetzten Worten, όμαίμων oder όμογάλαξ zum Beispiel, entspräche) „von der gleichen Stadt" heißen. Mit wem sollte der λεώς das sein? Nein, die Wendung behauptet die Gleichheit von λεώς und πόλις, wie auch der anschließende Vers zeigt. Kreon antwortet Haimon nämlich mit der Gegenfrage: Die Polis will mir sagen, was ich zu tun habe? Das Volk also ist der Polis gleich, oder genauer: Haimon nimmt es als deren Stimme, indem er beides in eins setzt. Hier wird folglich die Polis vom Volk nicht nur beherrscht wie bei Aischylos. Es ist kaum zu beschreiben, aber offenkundig sollte das Volk, dessen Urteil Haimon hier vorbringt, mehr sein als es selbst, es sollte zur Polis überhöht oder zumindest der Polis als etwas Umfassenderem angenähert werden. Das ist etwas anderes als die später von Thukydides für einen Redner bezeugte Aussage, δήμος bezeichne (anders als Oligarchie) ein Ganzes (ξύμπαν). Die Reichen nämlich seien die besten Wächter über die Mittel der Stadt, Rat gäben am besten die Verständigen, die Vielen schließlich urteilten am besten, nachdem sie den Rat gehört hätten (6,39,1). Denn da geht es um die verschiedenen Bestandteile, die nach Meinung des Redners zusammenwirken (und das Ganze ausmachen). Hier dagegen bleibt offen, wer alles im Demos wie zur Geltung kommt. Wesentlich ist, daß der δήμος respektive λεώς das Ganze ist. Der Dialog zwischen Vater und Sohn stellt eines der großartigsten Dokumente griechischer Besinnung auf das Wesen der Polis, wie auf die Größe und die Grenzen menschlicher Vernunft dar, eingebettet in eine Tragödie, in der wie in kaum einer anderen die ganze (so furcht- wie fruchtbare) Gebrochenheit der Politikerfahrung der perikleischen Zeit
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zum Ausdruck kommt. Was sich hier also äußert, muß weit über den Zusammenhang des Stückes hinaus von Bedeutung sein. Ich möchte vermuten, daß wir in den genannten Zeugnissen Spuren einer Neubestimmung der Polis fassen, wie sie mit dem Aufkommen und der Frühgeschichte der Demokratie, zumal in Athen also, notwendig wurde. Einer Neubestimmung, die in den uns bekannten Fällen im Sinne der Demokratie vorgenommen wurde; eventuell in Abwehr abfalliger Äußerungen über die Herrschaft der - „blinden", „anarchischen"62 - Menge, welche die Mehrheit in der Volksversammlung ausmachte. Daß die Tragiker davon nur spiegeln konnten, was auf breite Zustimmung stieß, sollte nicht wundernehmen. Offenkundig ist die Polis also, wie sich hier erweist, doch um einiges mehr gewesen als die Summe der Bürger, die sie ausmachte. Gerade im Athen des Perikles, der das Ganze der Stadt, der Herrscherin über ein ganzes Reich, weit über die Gesamtheit der Bürger hinaushob, als προστάτης nicht nur des δήμος, sondern der πόλις, der gesamten Polis (ξύμπασα πόλις), der übrigens auch die Menge zu moderieren wußte.63 Man kann hier die Beobachtungen anschließen, die Nicole Loraux an den attischen Gefallenenreden gemacht hat.64 Freilich - die Polis konnte sich nicht wie der Staat in einem Zentrum versammeln, ihre „Mitte" war bezeichnenderweise leer (so daß man „dem Volk die Dinge in die Mitte legen" konnte). Sie konnte von keinem „repräsentiert" werden, keinem Monarchen, keinem Präsidenten, keinem Parlament und keiner Regierung. Ihre Macht konnte sich in keinen von der Bevölkerung abgehobenen Apparaten versammeln. Sie tendierte vielmehr dazu, von der Gesamtheit - oder denen, die sich mit gutem Grund dafür halten konnten - präsent gemacht zu werden. Und das Problem, ihre Gesamtheit, das Ganze also der Polis zu bestimmen, ergab sich erst, als der Demos in die Lage kam, sie zu beherrschen. Oder anders: Als die Gesamtheit der Bürger behaupten konnte, in der Volksversammlung und andern Institutionen die Polis zu Wort zu bringen, als die Polis in ihr zum Subjekt der Politik werden konnte. Als 62
Dazu Jacqueline de Romilly, Problèmes de la démocratie grecque, Paris 1975, 19ff.; 73 ff. 63 Thuk. 2,62; vgl. Peter Spahn (in diesem Band). Zu προύστη τής πόλεως (2,65,5) vgl. Alkibiades' Darlegungen zur politischen Stellung der Alkmeoniden: προστασία του πλήθους (offensichtlich der Gesamtheit!) und: ήμεΐς του ξύμπαντος προέστημεν (6,89,4; 6,89,5). Auch: Meier, Athen (wie Anm. 15) 530. 64 Nicole Loraux, L'invention d'Athènes. Histoire de l'oraison funèbre dans la cité classique, Paris 1981, 274 ff.
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sich folglich, nicht zuletzt von Seiten der alten Führungsschicht, die Frage stellen konnte, ob der δήμος wirklich das Ganze sei und was ihn befähige (oder berechtige), für das Ganze die rechten Beschlüsse zu fassen. Oder war er nur die breite Masse, die alles parteiisch in ihrem eigenen Interesse und gerade nicht im Sinne des Ganzen regierte? Wir wissen nicht, wie weit diese Dinge Mitte des fünften Jahrhunderts grundsätzlich diskutiert worden sind. Aber daß man sich auf das Ganze der Polis berufen, daß man es beschwören, daß man die Frage stellen konnte, wer (nicht am besten dafür sorgen, sondern:) es am besten darstellen konnte - und in welcher Form - , dafür scheinen die vorgebrachten Belege entschieden zu sprechen. Im Peloponnesischen Krieg, in den damals vielerorts aufbrechenden Parteiungen, stellte sich die Frage nach dem Ganzen dann wesentlich dringender - und provozierte neue Überlegungen über das Ganze, ja Beschwörungen des Ganzen,65 neue Konzepte, wie das der Mischverfassung und der Patrios Politela, κοινοτάτη τοις πολίταις οΰσα πάσι,66 sowie neue institutionelle Auskünfte - und schließlich neue theoretische Ansätze wie die Piatons und des Aristoteles.
XI. Insgesamt scheint sich mir zu ergeben: Der Begriff Demokratie kam in den 460er Jahren auf, vermutlich in Athen. Daß die Entmachtung des Areopags oder deren unmittelbare Vorgeschichte dafür Anlaß geboten hätte, ist nicht zu erweisen, aufgrund des Zeugnisses der Hiketiden eher unwahrscheinlich. Jedenfalls wird das Bewußtsein von einer „Herrschaft des Volkes" dort, wenn nicht erstmals aufgekommen, so doch erstmals Bedeutung und Konsequenz bekommen haben. Es kann kaum leicht gewesen sein, eine Ordnung als Demokratie zu verstehen, bevor man auf den Begriff gekommen war. Nicht unbedingt oder nicht nur - weil sich „Herrschen" oder „Regieren" herkömmlich auf Amtsinhaber (oder Tyrannen) bezog, sondern vor allem, weil sich die Tatsache, daß der Demos in der Politik nennenswert mitsprach, über Krieg und Frieden (wie seit alters) sowie über Gesetze und anderes entschied, die Amtsinhaber wählte und - vielleicht auch - zur Rechenschaft
65 66
Romilly, Problèmes (wie Anm. 62) 131 ff. Thrasymachos, DK 85 Β 1.
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zog, nicht einfach zu einer Volks-Herrschaft verallgemeinern und steigern ließ. Entsprechend hat der Begriff, auch nachdem er da war, nicht gleich das ganze politische Feld respektive dessen Verstehen derart einschneidend verändert, daß andere Charakterisierungen von Ordnung obsolet geworden wären. Das geschah vielmehr erst, als der Gegensatz zwischen Oligarchie und Demokratie in den heftigen innenpolitischen Kämpfen (und vielerlei Verfassungsumstürzen!) während des Peloponnesischen Kriegs ins Zentrum der Politik rückte und auch in der Agitation eine wesentliche Rolle zu spielen begann. Seitdem nimmt man, wie Aristoteles es ausdrückt, gewöhnlich zwei Verfassungen an „gleich wie zwei Hauptwinde, Nord und Süd, indem man alle andern Winde nur als Abarten von diesen betrachtet", entsprechendes gelte von den Tonarten (1290 a 13 ff.). Im Gegensatz zur Oligarchie (und zumal zu den Oligarchien im weiteren Sinne) ließ sich der Begriff Demokratie enger und schärfer fassen.67 Es wurde angesichts der vielfältigen Möglichkeiten notwendig, feinere Unterscheidungen zwischen Demokratie und Oligarchie vorzunehmen, wie sie uns (außer bei Thukydides) vor allem in Aristoteles' Politik begegnen. Möglicherweise hat das (außer Thukydides) vor allem die Theorie beschäftigt. Denn seit dem vierten Jahrhundert (und gelegentlich selbst bei - dem keineswegs immer konsequenten - Aristoteles) wird der Demokratie-Begriff zugleich in einem weiteren Sinne rückwirkend auf frühere politische Ordnungen angewandt, welche Institutionen aufwiesen, die später als demokratisch galten, ursprünglich so aber nicht verstanden worden sein müssen; solche mit relativ breiter Aktivbürgerschaft etwa, stärkeren Mitspracherechten der Volksversammlung sowie Kontrolle der Beamten. Solche Ordnungen sind in Athen seit Kleisthenes, anderswo möglicherweise schon früher geschaffen worden. In einem weiteren Sinne kann man sie natürlich auch als Demokratie bezeichnen, wie es schon Herodot tat, zumeist übrigens im Gegensatz zur Tyrannis. Doch scheint es mir wichtig zu sein, daß sie ursprünglich nicht so verstanden wurden (und werden konnten). Es fehlte ihnen an etwas, das sie zu mehr 67
Die Unterscheidung zwischen einem ersten und einem zweiten Begriff ist so, wie ich sie in Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 49 ff. vorgenommen habe, nicht haltbar. Auch scheint es mir nicht mehr sinnvoll, die frühe Form als „liberal" oder „konstitutionell" zu bezeichnen (vgl. dagegen schon Nippel, Mischverfassungstheorie [wie Anm. 39] 35, Anm. 19). Nein, der frühe Gebrauch von „Demokratia", vor dem Peloponnesischen Krieg scheint mir dadurch bestimmt, daß das Wort zunächst in einem umfassenderen Sinne verwendet wurde (was gelegentliche Zuspitzungen gegen den Adel nicht ausschloß), später in einem engeren, im Gegensatz zur Oligarchie.
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als Modifikationen überkommener Ordnung hätte machen können, nämlich am nachhaltigen Bewußtsein der Herrschaft des Volkes und an deren Verwirklichung in der Nutzung vorhandener Institutionen und/oder in der Einführung neuer. So daß etwa nicht nur Adlige, sondern auch Angehörige breiterer Schichten - und in nicht geringem Ausmaß - Ämter bekleiden konnten, daß die Ämter nicht aufgrund von Wahl an die Einflußreichsten, sondern aufgrund von Losung auch an viele andere gelangen konnten, daß die Volksversammlung nicht nur gelegentlich über dies oder jenes, sondern regelmäßig und derart Entscheidungen treffen konnte, daß sie sich nicht nur ihrer Mitsprache, sondern eben ihrer Herrschaft bewußt wurde. In Athen war das in sehr starkem Maße seit den 460er Jahren gegeben, wenn auch zeitweise als (demokratisches) Regiment unter dem Ersten Mann, wie Thukydides bemerkt (2,65,9: έγίγνετό τε λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός αρχή). Daß die Herrschaft des Volkes dort frühzeitig (und wahrscheinlich zum ersten Mal) bewußt wurde, hängt wesentlich mit dem Seebund und der langen Reihe von Verhandlungsgegenständen zusammen, die er mit sich brachte und über die es vermutlich auch vor der Volksversammlung zu heftigen Disputen gekommen ist. Da war „das Volk" ununterbrochen gefragt, gewann es eine außerordentliche Bedeutung. Ein besonderes Hochgefühl und ein eigenartiges Könnens-Bewußtsein verbanden sich damit (und es folgten daraus ungeheure Erschütterungen, deren Niederschlag uns in der klassischen Kunst der Griechen begegnet). So sollte man annehmen, daß das Bewußtsein von Demokratie erst in Athen Bedeutung und Gewicht erhielt, aber nicht gleich auf andere Städte übertragen werden konnte. Sofern sich Pindars Unterscheidung von drei Ordnungen im Falle der Herrschaft des Volkes nicht auf Athen bezog, so wird er vermutlich eher an Einzelfalle gedacht haben, manches daran mag Übertreibung gewesen sein, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, daß hier oder dort schon einmal die Gewichte so sehr zugunsten des breiteren Volkes verschoben worden waren, daß man, und sei es kritisch oder abfallig, von seiner Herrschaft hätte sprechen können. Korrekturnachtrag zum Staat: Könige sind in der Antike zwar Völkerrechtssubjekte (vgl. die Aufzählung bei Polybios 7,9,16: βασιλείς, πόλεις καί εθνη), aber deswegen doch keine Staaten. Ja, gerade weil sie Völkerrechtssubjekte sind, können sie Staaten weder sein noch repräsentieren (oder umgekehrt).
„Dem Namen nach eine Demokratie" was aber „in Wirklichkeit"? (Zu Thuk. 2,65,9) Von
Peter Spahn Die Verfassung Athens und die Stellung des Perikles hat Thukydides in dem oft zitierten Satz aufeinander bezogen: έγίγνετό τε λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή (2,65,9). Die einprägsame Formulierung erscheint leicht verständlich. Ihre modernen Übersetzungen weichen in der Hauptsache nur wenig voneinander ab. Am ehesten stritten Interpreten noch über die Bedeutung des Imperfekts beim Prädikat, ob nämlich mit έγίγνετό lediglich gemeint ist: „es war" beziehungsweise „es wurde" oder das nicht Vollendete betonend: „es war auf dem Weg zu werden". Läßt man diese Nuance einmal beiseite, lautet die landläufige Übersetzung etwa so: „Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes" (Landmann). Unterschiedliche Wiedergaben findet in den modernen europäischen Sprachen das Wort άρχή an dieser Stelle. Im Deutschen meist „Herrschaft" (Landmann, Horneffer, Regenbogen) oder etwas schwächer: „Regiment" (Weinstock) oder „die Stadt regieren" (Braun). - Im Englischen: „a government of the principal man" (Hobbes), „a government ruled by its foremost citizen" (Smith), „government by the first citizen" (Gavase), „a rule by the first man" (Hornblower und ebenso: Rhodes). - Auf Französisch: „le premier citoyen qui gouvernait" (de Romilly), „l'État était gouverné par le premier citoyen de la cité" (Roussel). - Und auf Italienisch zum Beispiel: „un potere affidato al primo cittadino" (Ferrari), „governo del primo cittadino" (Moggi), „il governo era saldo nel pugno del primo cittadino" (Savino), „il governo era nelle mani del primo cittadino" (Annibaletto). Gemeinsam ist all diesen Übersetzungen, daß der „Erste Mann" als das Subjekt der άρχή verstanden wird, somit als der Regierende bzw. Herrschende. Merkwürdigerweise wird die Präposition ύπό, die Thukydides
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an dieser Stelle mit άρχή verbindet, in den meisten Übersetzungen nicht eigens ausgedrückt. Ganz selten findet sich in der Forschung ein Hinweis wie der von Erich Bayer, der moniert: „Vielfach scheint es so, als würde in dem bekannten Satz έγίγνετό τε λόγφ μέν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου ανδρός άρχή das Wörtchen ύπό nur zu gerne übersehen".1 Das ist um so erstaunlicher, als die Kombination von άρχή mit ύπό und Genitiv von Thukydides nur an dieser Stelle verwendet wird. Er dürfte sie also wahrscheinlich sehr bewußt benutzt haben, um eine bestimmte Nuance auszudrücken, oder auch um eine mißverständliche Aussage zu vermeiden. Eine wörtliche Übersetzung, welche die „nur zu gern übersehene" Präposition explizit berücksichtigt, findet sich in der Übersetzung von Weinstock: „So war es dem Namen nach Volksherrschaft, tatsächlich doch ein Regiment unter der Führung des ersten Mannes"2 - und noch deutlicher in Christian Meiers „Athen". Dort heißt es: „Dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit eine Herrschaft unter dem ersten Mann".3 Im Gegensatz zu Thukydides sieht Meier jedoch in der Herrschaft unter Perikles keinen Widerspruch zur Demokratie. Deren forcierter Ausbau sei vielmehr die Kehrseite für Macht und Einfluß einzelner Persönlichkeiten und zumal von Perikles gewesen. Zwischen diesem und dem demokratischen Athen habe es eine Identifikation gegeben: das perikleïsche Athen, das „eben deswegen - und nicht nur dem Namen nach - eine Demokratie gewesen ist".4 Ob Thukydides mit seiner Formel eine zutreffende, die historische Realität erfassende Beschreibung der athenischen Verfassung und von Perikles' Position gelungen ist, soll nicht die Ausgangsfrage für die folgenden Überlegungen sein. Vielmehr geht es um das speziellere, noch davor liegende Problem, was denn der Ausdruck ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bedeutet. Ist damit wirklich eine faktische Alleinherrschaft des Perikles in einer bloß nominellen Demokratie gemeint, oder läßt sich die Stelle auch anders verstehen? Generelle Zweifel an der vorherrschenden Übersetzung „Herrschaft des Ersten Mannes" ergeben sich aus mehreren Gründen. So ist zu fragen, ob Thukydides mit der Behauptung einer tatsächlichen Monarchie nicht allzu sehr in die Nähe jener zeitgenössischen Kritiker des Perikles geraten 1
Erich Bayer, Thukydides und Perikles, in: Hans Herter (Hg.), Thukydides, Darmstadt 1968, 171-259, 257,Anm.l96 (zuerst in: WJA 3, 1948, 1-57). 2 Heinrich Weinstock (Hg.), Thukydides. Der Grosse Krieg, Stuttgart 1938,49. 3 Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, 494. 4 Ebd., 497.
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wäre, die diesem eine Art Tyrannis vorwarfen. Dagegen spricht aus der gesamten Passage 2,65 eine vorbehaltlose Bewunderung des Historikers sowohl für die innenpolitische Stellung des Perikles als auch fiir dessen Kriegsplanung, die Thukydides selbst im nachhinein noch ausdrücklich rechtfertigt (2,65,13). Diese durchweg positive Charakterisierung des Staatsmannes läßt sich schwerlich mit der Annahme oder gar Wertschätzung seiner Alleinherrschaft vereinbaren. Denn obwohl Thukydides der attischen Demokratie mit Vorbehalten begegnete, sah er eine gute Verfassung nicht in der Stärkung des monarchischen Elementes, sondern in der „maßvollen Mischung zwischen den Wenigen und den Vielen" (8,97,2). Auch die im Imperfekt des έγίγνετό möglicherweise ausgedrückte Abschwächung der Feststellung (im Sinne einer bloßen Tendenz zu einer Alleinherrschaft hin) erledigt diese Problematik noch keineswegs. Denn angesichts der allgemeinen Ablehnung und Diskreditierung einer Tyrannis - darin waren sich Demokraten und Aristokraten einig - konnte Thukydides seinen Favoriten wohl nicht dadurch in Schutz nehmen, daß er andeutete, dieser sei lediglich auf dem Wege zu einer Alleinherrschaft gewesen; nur sein vorzeitiger Tod hätte ihn dann von diesem Ziel abgehalten. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß Thukydides Perikles offenbar zu einem konkurrenzlosen politischen Führer stilisiert. Das zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: in der Darstellung der Ereignisse, in den Reden und in auktorialen Partien des Werkes, vor allem in 2,65. Auch Thukydides' Schweigen über bestimmte Vorgänge deutet in diese Richtung. So erwähnt er zum Beispiel nicht die Anklagen und Prozesse gegen Perikles' Freunde und nennt auch deren innenpolitische Gegner nicht mit Namen.5 Er erweckt also insgesamt den Eindruck einer Dominanz des Perikles. Und in diese Richtung scheint auch die Formel ύπό του πρώτου άνδρός άρχή zu weisen. Dennoch bleibt zu fragen, ob man darunter eine „Herrschaft des Ersten Mannes" zu verstehen hat, zumal wenn ,Herrschaft' streng genommen eine Relation von Befehl und Gehorsam beinhaltet. Die in Frage stehende Formel hat in den vorausgehenden Partien des Werkes zwei enge Entsprechungen, die zu ihrem Verständnis beitragen könnten. In 1,127,3 heißt es im Zusammenhang der spartanischen Forderungen wegen des Kylonischen Frevels, die in erster Linie auf Perikles zielten: ών γαρ δυνατότατος των καθ' εαυτόν και αγων την πολιτείαν. 5
Dazu im einzelnen Arnold W. Gomme, A Historical Commentary on Thucydides, 5 Bde., Oxford 1945-1981, Bd. 2, 184 ff.
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Diese Charakterisierung wird - nach einem längeren Exkurs über Pausanias und Themistokles - in 1,139,4 noch einmal aufgegriffen und abgewandelt: Περικλής ό Ξανθίππου, άνήρ κατ' εκείνον τον χρόνον πρώτος 'Αθηναίων, λέγειν τε και πράσσειν δυνατότατος. Beide Sätze ergeben eine ähnliche Aussage, und zwar in der für Thukydides typischen zyklischen Argumentationsform. Der am Anfang stehende Leitbegriff δυνατότατος wird am Ende der Passage wiederholt und konkretisiert: Perikles wird als deijenige eingeführt, der sowohl im Reden wie im Handeln am meisten vermag. In diesem Sinne ist er der „Erste der Athener". Der „Titel" eines πρώτος άνήρ, den Thukydides bereits hier für Perikles reserviert, wird dann im zentralen Satz des Nachrufs (2,65,9) wieder verwendet. Dieser Satz enthält somit mehrere Besonderheiten: Neben der ungewöhnlichen Kombination von άρχή und ύπό mit Genitiv benutzt Thukydides offenbar auch den Ausdruck πρώτος άνήρ speziell zur Kennzeichnung von Perikles' politischer Stellung. Dabei scheint es sich nicht um einen fest eingeführten politischen Begriff oder um einen terminus technicus im Vokabular der damaligen Demokratie gehandelt zu haben. Möglicherweise wollte Thukydides mit dieser singulären Ausdrucksweise nicht nur das Einzigartige und Überragende an Perikles hervorheben, sondern sich damit auch von bestimmten negativen Urteilen der Zeitgenossen über Perikles distanzieren und seine eigene Bewertung dagegensetzen. Jedenfalls ist die scheinbar so eingängige Formel ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bereits im Kontext des thukydideischen Werkes durchaus auffällig und problematisch. Insbesondere ist zu fragen, was άρχή in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet. Dieses Problem soll nun in drei Schritten angegangen werden. Zunächst ist die Vorbereitung der Formel im 1. Buch, nämlich im Zusammenhang mit den Exkursen über Pausanias und Themistokles, genauer in den Blick zu nehmen. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Funktion und Bedeutung diese in Thukydides' Werk exzeptionellen Porträts möglicherweise für sein Periklesbild haben. Dann ist in einem weiteren Kapitel vor allem die dritte Periklesrede zu berücksichtigen, die dem sogenannten Nachruf unmittelbar vorausgeht. Denn sie enthält eine Reihe von direkten Entsprechungen und geradezu Vorformulierungen für die folgende Charakterisierung und Beurteilung durch den Historiker. Und schließlich ist die fragliche Formel im Kontext dieses Nachrufs zu untersuchen und mit den zuvor genannten Passagen in Beziehung zu setzen.
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I. Perikles und die „Glänzendsten der Hellenen" Perikles wird im 1. Buch an mehreren Stellen erwähnt. Zunächst ist für die Zeit der Pentekontaëtie von seinem militärischen Kommando bei verschiedenen Unternehmungen die Rede: der Expedition gegen Sikyon und Oiniadai in Akarnanien (1,111), der Unterwerfung von Euböa und Megara (1,114) und dem Krieg gegen das abgefallene Samos (1,116 f.). Die erste Aussage über seine politische Position folgt dann im Zusammenhang der spartanischen Beschwerden und Forderungen vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (1,126 ff.). Diese geben Thukydides Anlaß für seine Exkurse über die Kylon-Affäre und über das Schicksal von Pausanias und Themistokles. Perikles' innenpolitische Stellung ist erzähltechnisch die Verbindung für diese drei Geschichten. Die Vorwürfe wegen des Kylonischen Frevels, heißt es da, sollten Perikles schwächen. „Denn er war der mächtigste Mann seiner Zeit, und als Führer des Staates wirkte er überall Sparta entgegen, ließ keine Nachgiebigkeit zu und trieb in Athen zum Kriege" (1,127,3 - Übers. Landmann). Dieser Satz und seine ergänzende Wiederholung am Ende des Pausanias-Themistokles-Exkurses enthalten die Grundlinien von Thukydides' Periklesbild, die später in 2,65 weiter ausgeführt werden. Aus der engen Verknüpfung der beiden auf Perikles bezogenen „Rahmensätze" des Exkurses (1,127,3 und 1,139,4) mit dem „Nachruf (2,65) ergeben sich in mehrfacher Hinsicht implizite Bewertungen. Thukydides' Aussagen über die drei herausragenden Politiker und Führer aus Athen und Sparta beleuchten sich wechselseitig. Sie informieren nicht nur durch eine ungewöhnliche Vielfalt von historischen Fakten, wörtlich zitierten Briefen, Spekulationen der Zeitgenossen sowie Erklärungen und Bewertungen des Historikers. Diese Exkurse, die sich stilistisch so auffällig vom Gesamtwerk abheben, führen letztlich auch zu einem Vergleich der dargestellten Staatsmänner. Es ist ein komplexer historischer Vergleich, den Thukydides dem Leser bietet. Er bezieht sich auf zwei unterschiedliche Zeiten bzw. Generationen: die der Perserkriege und die des Peloponnesischen Krieges; auf zwei verschiedene Poleis: Sparta und Athen; und auf drei Persönlichkeiten, von denen wiederum zwei als Zeitgenossen einander direkt gegenübergestellt, aber zugleich eingerahmt werden durch die erwähnten Kernsätze der Charakterisierung des dritten, also des Perikles. Außerdem schließt sich dann unmittelbar dessen erste Rede an (1,140-144), die das andere wichtige Element der Persönlichkeitsdarstellung bildet und die hier in
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gewisser Weise auch als Gegenstück zur Präsentation von Pausanias und Themistokles fungiert. Dies zur formalen Struktur des Vergleichs. Seine inhaltlichen Elemente brauchen hier nicht im Detail analysiert zu werden, zumal sie sich zum größten Teil auf die frühe Geschichte der Pentekontaëtie beziehen. Dem Exkurs 1,128-138 geht nämlich in 1,93-96 bereits eine erste Gegenüberstellung der Politik von Themistokles und Pausanias voraus. Da zeigt Thukydides die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta: Themistokles, der den Ausbau des Piräus forcierte, der die Grundlagen des attischen Reiches schuf mit seinem „kühnen Rat, sich ganz aufs Meer zu verlegen" (1,93,4). Das wird später in Perikles' letzter Rede (2,62) nachklingen, der Themistokles' Erbe insofern kongenial fortführte. Pausanias dagegen begann zwar als „Feldherr der Hellenen" (1,94,1), aber durch sein gewalttätiges Wesen brachte er sie bald gegen sich auf und ähnelte nun eher einem Tyrannen als einem Feldherrn (1,95,1-3). So trieb er die Bundesgenossen Athen in die Arme und trug unfreiwillig zu dessen Hegemonie bei (1,96,1). Was Thukydides dann im Exkurs 1,128-138 berichtet, nämlich das weitere Schicksal und die parallele Katastrophe der beiden einstigen Protagonisten, hätte sich inhaltlich und chronologisch eher an die erste Gegenüberstellung anschließen lassen. Statt dessen behandelt er dies nun im Kontext der unmittelbaren Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges. Als Grund gibt er die gegenseitigen Forderungen nach Sühnung der Frevel an (1,126,1 und 128,2). Das trifft zwar für Kylon und Pausanias zu, aber nicht für Themistokles. Vor allem erklärt es nicht die Ausführlichkeit und die Art der Exkurse.6 Am ehesten läßt sich deren Funktion wohl aus der Rahmenthematik und damit aus dem impliziten Vergleich mit Perikles verstehen. Zunächst ist aber ein Binnenvergleich zwischen Pausanias und Themistokles angelegt: Beide waren die fuhrenden und siegreichen Strategen der Perserkriege, die zu ihrer Zeit „Glänzendsten der Hellenen" (1,138,6). Bei Pausanias schlug das hohe Ansehen in Anklagen um, weil er die Normen der Bürgergemeinde in jeder Hinsicht sprengte. Er nahm persische Sitten an, zeigte despotisches Verhalten und konspirierte mit den Helo6
Die einschlägigen Kommentare bieten hierzu auch keine Erklärung, z. B. Gomme, HCT (wie Anm.5) Bd.l, 446f.: „The whole excursus on Themistokles is irrelevant to the narrative, and so is the greater part of those on Kylon and Pausanias." Zur neueren Literatur s. Simon Hornblower, A Commentary on Thucydides, 2 Bde., Oxford 1991-1996, Bd. 1, 211 f. - Vgl. aber Bayer, Thukydides (wie Anm. 1) 243: „... so daß es keinen Zweifel gibt, daß Pausanias und Themistokles nur um des Perikles willen hier herausgestellt werden."
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ten. Themistokles schneidet im Vergleich zu ihm besser ab. Er war durch Ostrakismos verbannt worden, was noch nicht den endgültigen Bruch mit Athen bedeuten mußte. Erst die weitere Verdächtigung und Verfolgung trieb ihn dann auf die Seite des Perserkönigs, wo er von dessen Gnaden zum Herrscher über mehrere Städte wurde. In diese Darstellung schiebt Thukydides seine bekannte Würdigung der besonderen analytischen Begabung des Themistokles ein (1,138,3). Dazu rechnet er unter anderem dessen Fähigkeit, das Gegenwärtige schnell und sicher zu beurteilen und das Künftige soweit wie möglich vorauszusehen. In dieser Passage sind die Parallelen zur folgenden Charakterisierung des Perikles am deutlichsten.7 Aber dem folgt wiederum der Kontrast, insofern Themistokles als Landesverräter und zugleich als Herrscher und Vasall sein Leben unter dubiosen Umständen, vielleicht durch Selbstmord, beendete. Insgesamt dienen diese Porträts der Führenden der Vätergeneration auch als Folien für die Darstellung und Beurteilung ihrer Nachfolger. Das Schicksal der λαμπρότατοι der Perserkriegszeit, der großen Sieger, die persönlich am Ende kläglich scheiterten, evoziert die Frage nach Entsprechungen im Peloponnesischen Krieg: Müssen überragende Fähigkeiten Einzelner notwendig den Rahmen der Polis sprengen und letztlich zu tyrannischer Macht fuhren? Wieviel Loyalität verdient die eigene Polis, und wieviel Sorge dürfen der eigene Oikos, die Verwandtschaft und die Freunde beanspruchen? Welche Rolle spielen jeweils Geld, Aufwand, persönliche Abhängigkeiten, Intrigen oder Bestechung? Solche Probleme, die in den biographischen Exkursen des 1. Buches explizit und implizit enthalten sind, tauchen gewiß in manchen Partien des übrigen Werkes immer wieder als Gesichtspunkte auf. Aber der Bezug auf die Darstellung und Beurteilung des Perikles ist besonders eng. Und das gilt für dessen Präsentation in seinen Reden ebenso wie für den Nachruf.
II. Perikles' Rede über die άρχή der Athener Unter den drei Reden des Perikles ist die letzte (2,60-64) für den folgenden Nachruf von besonderem Interesse. Denn hier zeigen sich mehrere ausdrückliche Entsprechungen zwischen Äußerungen, die der Historiker Perikles in den Mund legt, und seinen eigenen nachfolgenden Feststel7
Das wurde in der Forschung schon mehrfach festgestellt; s. etwa Hornblower, Commentary (wie Anm.6) Bd. 1, 223: „The praise of Themistokles forms a natural bridge to Pericles".
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lungen und Bewertungen. Insbesondere spielt der Begriff άρχή in beiden Texten eine wesentliche Rolle. Und es werden von Perikles in dieser Rede Qualitätsmerkmale für die Beurteilung eines Politikers formuliert und fur sich in Anspruch genommen, die Thukydides dann wiederum im Nachruf auf Perikles anwendet. Die Rede gehört in das zweite Kriegsjahr, als in der attischen Bürgerschaft die Stimmung umgeschlagen war und Vorwürfe gegen Perikles wegen seiner Kriegspolitik erhoben wurden. Wie bereits zu Beginn seiner ersten Rede (1,140,1) betont er auch jetzt, noch immer der gleiche zu sein, während die Zuhörer sich verändert hätten (2,61,2). Tatsächlich habe er mit dieser Möglichkeit damals schon gerechnet und versucht, dem Stimmungswechsel vorzubauen (1,140,1); nun käme ihr Zorn fur ihn nicht unerwartet (2,60,1). Ein Grundgedanke, der die Rede durchzieht und abgewandelt auch im Nachruf auftaucht, betrifft das Verhältnis zwischen dem einzelnen Bürger bzw. Privatmann und der Polis im ganzen. So betont Perikles, alles hänge letztlich vom Bestand der Polis ab, denn „ein Staat, der insgesamt aufrecht steht, sei für den Bürger eine größere Hilfe, als wenn es im einzelnen jedem darin wohl ergeht, das Ganze aber zerbricht" (2,60,2 - Übers. Landmann). Daher appelliert Perikles an die Athener, ihren Kummer um die ϊδια zu verschmerzen und sich auf die Rettung des κοινόν zu konzentrieren (2,61,4). Und so heißt es noch im letzten Satz, daß diejenigen die stärksten seien, die sich durch Unglück am wenigsten bedrücken ließen und am meisten dagegen hielten, und zwar sowohl πόλεις als auch ίδιώται (2,64,6). Die Konsequenz aus dieser Sicht der Korrelation zwischen den Einzelnen und der Gesamtheit ist nach Perikles' Auffassung die überragende Bedeutung der athenischen άρχή fur die Bürger. So sagt er, sie hätten „an ihrem Reich etwas Großes" (62,1: μεγέθους περί ές την άρχήν). Denn sie herrschten nicht nur über ihre Bundesgenossen (62,2: των ξυμμάχων μόνων αρχειν), sondern über „zwei Teile" (δύο μερών) nämlich Erde und Meer. Im Vergleich zu dieser Macht sei der Nutzwert ihrer privaten Besitzungen an Häusern und Land zu vernachlässigen (62,3: την των οικιών και της γης χρείαν). Das nimmt Thukydides' folgende Kritik in 2,65,7 an den ϊδια κέρδη, also an den rein privaten Gewinnen, voraus. Perikles geht in seiner Analyse der athenischen Herrschaft noch einen Schritt weiter. Die Polis werde wegen des Herrschens (63,1: άπό του αρχειν) geehrt, und die Bürger könnten stolz darauf sein. Sie müßten aber zugleich damit rechnen, daß eine Niederlage in diesem Krieg nicht nur den Verlust der άρχή mit sich bringen würde, sondern auch „die Gefahr,
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gehaßt zu werden wegen dieser άρχή" (63,1). Deswegen gäbe es für sie jetzt kein Zurück mehr, denn diese Herrschaft sei schon jetzt „wie eine Tyrannis" (63,2: ώς τυραννίδα γαρ ήδη εχετε αύτήν). Der Demagoge Kleon wird diese Aussage später in seiner Rede noch verschärfen, indem er das „wie" wegläßt und dem Volk in der MytileneDebatte vorhält: „als eine Tyrannis übt ihr die Herrschaft aus über hinterhältige und unfreiwillig Beherrschte". Er setzt damit die athenische άρχή völlig mit einer Tyrannis über die Bundesgenossen gleich. Perikles macht noch einen feinen Unterschied. Aber auch er sieht für die Polis nur die Alternative von Herrschaft oder Knechtschaft. Risikofreies Dienen sei „in einer herrschenden Stadt" (έν άρχούση πόλει) nicht zuträglich, sondern nur in einer untertänigen (63,3). Athens Ruhm bei allen Menschen resultiere aus der Unbeugsamkeit seiner Bürger und seiner größten Macht, „weil keine andern Hellenen über so viele Hellenen geherrscht haben wie wir" (64,3). „Doch Haß und Anfeindung für den Augenblick blieb noch keinem erspart, wo einer den andern zu beherrschen wagt" (64,5 - Übers. Landmann). Die Anhäufung und Intensität der sprachlichen Ausdrücke für die Herrschaft der demokratischen Polis Athen über ihre Bundesgenossen wird noch dadurch verstärkt, daß Thukydides den Superlativ der Größe innerhalb weniger Zeilen fünfmal wiederholt:8 Athen hat den „größten Namen" (όνομα μέγιστον - 2,64,3) bei allen Menschen und die „größte Macht" (δύναμιν μεγίστην - ebd.); die Athener haben die „größten Kriege" (πολέμοις μεγίστοις - ebd.) ausgehalten und sie bewohnen die „wohlhabendste und größte Stadt" (πόλιν ... εύπορωτάτην καί μεγίστην - ebd.). Wer infolgedessen und wegen seiner Herrschaft Neid auf sich zieht „um der größten Dinge willen (επί μεγίστοις), der ist richtig beraten" (2,64,5). Was man herkömmlicherweise dem individuellen Herrscher, Tyrannen oder Machthaber zuschrieb, bezieht Perikles in dieser Rede auf die kollektive Herrschaft der Polis Athen, also der athenischen Bürgerschaft. Bezeichnenderweise spricht er dann auch im Resümee der Rede vom „gegenwärtigen Glanz" (παραυτίκα λαμπρότης - 2,64,5) und vom künftigen Ruhm, den die Athener auf diese Weise für immer erlangten. Während früher die einzelnen Führer, nämlich Pausanias und Themistokles, als λαμπρότατοι der Hellenen galten, läßt Thukydides jetzt Perikles einer ganzen Bürgerschaft „Glanz" zusprechen. Aber dieser Glanz und Ruhm ist „immer denkwürdig" (αίείμνηστος - 2,64,5), während jene in Thuky8
Dazu Homblower, Commentary (wie Anm. 6) Bd. 1,339 mit weiterer Literatur.
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dides' Sicht nur die „Glänzendsten ihrer Zeit" (1,138,6) waren. Übrigens verwendet der Historiker die Kategorie des augenfälligen Glanzes später noch in einem anderen Zusammenhang, der sich auf Athen bezieht, nämlich in seiner Beschreibung der Ausfahrt der athenischen Flotte nach Sizilien (6,31,6: όψεως λαμπρότητι), während sie in seinem PeriklesNachruf bezeichnenderweise nicht vorkommt. Der politische Einsatz von Reichtum und persönlichem Aufwand, der in jedem Fall zur λαμπρότης gehört, wird Perikles von Thukydides nirgends nachgesagt. Vielmehr will ihn der Historiker auch in dieser Hinsicht von anderen Führern abheben. Das zeigt sich nicht zuletzt im Nachruf, der nun näher betrachtet werden soll. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Bedeutung der Wendung ύπό του πρώτου άνδρός αρχή.
III. Thukydides' Würdigung des Perikles (2,65) Thukydides beschreibt eingangs die unmittelbare Wirkung der vorausgehenden Rede: daß es Perikles damals in der Volksversammlung zunächst gelungen sei, die Athener umzustimmen, also keine Verhandlungen mit Sparta zu fuhren, sondern den Krieg entschiedener fortzusetzen. Aber diese Stimmung habe nicht lange angehalten; „alle" - nämlich δήμος und δυνατοί - hätten in ihrem Zorn auf Perikles nicht eher geruht, als bis sie ihn zu einer Geldstrafe verurteilt hätten. Nicht viel später habe das Volk ihn aber wiederum zum Strategen gewählt9 und ihm „alle wichtigen Angelegenheiten übertragen" (πάντα τα πράγματα επέτρεψαν - 65,4). Aus dieser Formulierung ist nicht zu schließen, daß Perikles eine förmlich herausgehobene Position als ein στρατηγός αυτοκράτωρ erhalten hat, wie die ältere Forschung annahm.10 Vielmehr beruhte seine fuhrende Stellung primär auf seinem Ansehen beim Volk und seiner Überzeugungskraft in der Volksversammlung. Thukydides fugt als Erklärung hinzu, daß die Athener einerseits „bereits abgestumpfter waren, da jeder unter seinen häuslichen Verhältnissen ® Dabei ist nicht klar, ob für das neue Strategenkollegium (von 429/28), oder ob es sich um die Wiedereinsetzung für das Amtsjahr 430/29 handelte; Thukydides schreibt nämlich nicht explizit von einer vorausgegangenen Absetzung. Vgl. dazu Hornblower, Commentary (wie Anm. 6) Bd. 1,341. 10 Vgl. dagegen schon zu Recht Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2, 183: „And Thucydides here probably means no more than that Athenians ,entrusted him with everything', as before, in the sense of being prepared always to follow his advice". S.auch neuerdings Peter J. Rhodes, The Athenean Revolution, CAH 5, 2 1992, 62-95, 86 f.
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litt"; und daß sie andererseits „für die Bedürfnisse der gesamten Stadt Perikles für den am meisten geeigneten hielten" (65,4). Mit dieser Gegenüberstellung von τα οικεία und ή ξύμπασα πόλις greift er die zuvor von Perikles benutzte Antithese auf. Allerdings hatte dieser die Bürger im Gegenteil dazu aufgefordert, „ihren häuslichen Kummer zu verschmerzen" (άπαλγήσαντας δέ τα ίδια) und „die Rettung des Gemeinwesens anzupacken" (του κοινού της σωτηρίας άντιλαμβάνεσθαι - 2,61,4). Thukydides' Replik in 2,65,4 enthält also offenbar einen Schuß Ironie, indem er feststellt, daß die Athener Perikles' Aufforderung auf ganz andere Weise umsetzten: daß sie ihn nämlich rehabilitierten gerade wegen ihrer privaten Leiden und daß ihr Anpacken, ihr Beitrag zur Rettung der Polis just darin bestand, Perikles die Grundlinien der Politik (πάντα τα πράγματα) bestimmen zu lassen. Dabei dürfte es sich vor allem um die Außenpolitik und die militärische Führung gehandelt haben. Warum Perikles als der geeignetste erschien, wird außerdem durch einen historischen Rückblick erklärt: Für seine leitende Stellung in der Vorkriegszeit verwendet Thukydides hier den Ausdruck προύστη της πόλεως (65,5) und will damit wohl sagen: Im Unterschied zu einem προστάτης τοϋ δήμου habe Perikles „der (gesamten) Polis vorgestanden". Weiter heißt es, er habe sie „in maßvoller Weise gefuhrt und so ihre Sicherheit bewahrt" (μετρίως έξηγεΐτο καί ασφαλώς διεφύλαξεν αύτήν - 65,5). Das bezieht sich wiederum primär auf die Außenpolitik, die unter Perikles' Führung vorsichtig agierte und im wesentlichen auf Bestandssicherung ausgerichtet war." Und auf diese Weise sei „unter ihm die Stadt die größte geworden" (έγένετο έπ' εκείνου μεγίστη - 65,5). Auch mit diesem Satz schließt sich Thukydides eng an Perikles' fünffach wiederholte Redewendung von der alles überragenden Größe Athens an. Als der Krieg ausbrach, heißt es weiter, habe Perikles auch in diesem Punkt „die Macht (der Polis) im Voraus erkannt" (προγνούς την δύναμιν - 65,5), und nach seinem Tode sei seine Voraussicht (πρόνοια - 65,6) auf den Krieg noch mehr erkennbar geworden. Diese Eigenschaft von Perikles wird auch im Schlußsatz des Nachrufs (65,13) noch einmal betont - mit der kontrafaktischen Argumentation, die Athener hätten den Krieg sogar sehr leicht gewinnen können, wenn sie Perikles' Strategie gefolgt wären. Hinsichtlich der Prognosefahigkeit stellt Thukydides ihn in eine Linie mit Themistokles (1,138,3). Nur: Der Erfolg von dessen
" Vgl. hierzu den Kommentar von Gomme, HCT (wie Anm.5) Bd. 2, 189, der darauf hinweist, daß die athenische Politik etwa unter Kimon expansiver und risikobereiter war.
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strategischem Kalkül war unbestritten und durch die historischen Fakten bewiesen. So muß Thukydides - gemäß der impliziten Logik des Vergleichs - darauf bestehen, daß auch Perikles' Berechnung an sich richtig war und zum Sieg geführt hätte. Seine Strategie sah vor, sich ruhig - also defensiv12 - zu verhalten, für die Flotte zu sorgen, den Herrschaftsbereich (άρχήν) während des Krieges nicht zu vergrößern und die Stadt nicht zu gefährden (65,7). Thukydides lobt Perikles, indem er ihn mit anderen (οί δέ - 65,7) kontrastiert, die eine gegenteilige Politik betrieben. Wer ist damit gemeint? Die Kontrahenten von Perikles wechseln nämlich im Laufe von Thukydides' Darstellung im Kapitel 65. Am Anfang schreibt er von den Athenern insgesamt (65,1). Dann unterscheidet er zwischen dem δήμος und den δυνατοί, den Mächtigen, die schöne Besitzungen auf dem Lande mit Gebäuden und kostbaren Ausstattungen durch den Krieg verloren haben (65,2). Alle zusammen sind an Perikles' Sturz beteiligt (65,3). Die Menge ist es, die ihn bald wieder rehabilitiert (65,4). Der Adressat von Perikles' Kriegsplan (nämlich: sich ruhig zu verhalten, für die Flotte zu sorgen etc.) wird nicht ausdrücklich genannt. Die implizit in den Partizipien ησυχάζοντας, θεραπεύοντας etc. (65,7) Angesprochenen sind prinzipiell alle Bürger in der Volksversammlung und im Rat, also in den politischen Entscheidungsgremien. Mit den im folgenden explizit als οί δέ Bezeichneten sind logischerweise zunächst einmal eben diese gemeint. Das heißt: Die athenischen Bürger hielten sich nach Perikles' Tod nicht mehr an dessen Plan, sondern „taten von allem das Gegenteil und anderes, was außerhalb, ohne Zusammenhang mit dem Krieg zu sein schien" (65,7). Was dann folgt, nämlich die Spezifizierung dieser dem periklei'schen Plan widersprechenden Politik, ist zwar von den Athenern insgesamt beschlossen worden; diese neue Politik diente aber gerade nicht der Gesamtheit, sondern privaten Zwecken. Es heißt hier (in der Übersetzung von Landmann): „Sie aber taten von allem das Gegenteil und rissen außerdem aus persönlichem Ehrgeiz und zu persönlichem Gewinn (κατά τάς ίδιας φιλοτιμίας και ϊδια κέρδη) den Staat in Unternehmungen, die mit dem Krieg ohne Zusammenhang schienen und die falsch für Athen selbst und seinen Bund, solange es gut ging, eher einzelnen Bürgern Ehre und Vorteil brachten (τοις ίδιώταις τιμή και ώφελία), im Fehlschlag aber die Stadt für den Krieg schwächten" (65,7). 12 Man muß das ησυχάζοντας (65,7) nicht - wie Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2,190 — auf das (zu ergänzende) Hoplitenheer beziehen, sondern das Wort gilt auch für die Flotte, insofern sie nicht zu einer Expansion der αρχή während des Krieges dienen sollte.
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Man könnte sagen, daß sich in diesem langen Satz das Subjekt zwar nicht grammatikalisch, aber inhaltlich verschiebt. Ol δε waren zunächst die Bürger in ihrer großen Mehrheit, welche die politische Linie nach Perikles' Tod festlegten. Die Nutznießer dieser Politik jedoch waren jeweils einzelne. Thukydides verwendet hier das Wort ίδιώταις, das auf den ersten Blick nicht zu passen scheint.13 Er meint damit offenbar nicht Privatleute im Unterschied zu Amtspersonen, sondern tatsächlich einzelne Bürger im Gegensatz zur Gesamtheit der Polis (65,7: ίδιώταις - πόλει). Das waren also durchaus auch politische Akteure, denn primär auf der politischen Bühne konnte man τιμή und ώφελία gewinnen. Thukydides hat das Wort ίδιώταις hier wohl ganz bewußt benutzt, weil es auf das ϊδιον verweist, auf partikuläre Interessen, die denen der Polis und der Gemeinschaft zuwiderlaufen. Ähnlich spricht auch Perikles zuvor am Beginn seiner Rede vom Nutzen für die ίδιώται im Gegensatz zur πόλις ξύμπασα (2,60,2). Und dieser spezifische Sprachgebrauch klingt wiederum im Nachruf an. Thukydides schreibt an dieser Stelle bereits von den nachperikleïschen Zuständen. Es bedarf eines kleinen Gedankensprunges, daß er in 65,8 wieder auf Perikles zurückkommt. Dieser war mächtig, heißt es nun, durch sein Ansehen (άξίωμα) und seine Einsicht (γνώμη) sowie durch seine offensichtliche Unbestechlichkeit in Geldsachen (χρημάτων τε διαφανώς άδωρότατος). Darin unterschied er sich, suggeriert Thukydides hier, von den im vorigen Satz angesprochenen Profiteuren und Kriegsgewinnlern. Zugleich könnte der Historiker damit implizit auf Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten replizieren, die möglicherweise zu Perikles' Verurteilung geführt hatten.14 Die komprimierte Charakterisierung von Perikles' Hauptvorzügen Ansehen, intellektuelle Fähigkeiten und Unbestechlichkeit - ist einmal mehr in enger Anlehnung an die Periklesrede (2,60,5) formuliert. Hier wird die starke Identifizierung des Historikers mit Perikles besonders deutlich, insofern er diesem eine Selbstcharakterisierung in den Mund legt, die er dann wiederum weitgehend in seinen Nachruf übernimmt. Perikles beansprucht, keinem nachzustehen „in der Erkenntnis des Nötigen und der Fähigkeit es auszudrücken". Damit korrespondiert in 2,65,8 der Begriff γνώμη. Seine Selbstbeschreibung als φιλόπολις hat im Nachruf
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Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2, 192: „Not the word one expects", weil es sich hier durchaus auf Amtsträger und politische Funktionäre bezieht. Gomme schlägt daher als andere Lesart αύτοΐς ϊδια vor. 14 Von einer solchen Anklage ist bei Thukydides nicht die Rede, sondern nur bei Plat. Gorg. 516 a: κλοπή.
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kein direktes begriffliches Äquivalent; aber sie entspricht dem gesamten Tenor von 2,65 und vor allem der Negativbeschreibung von Perikles' Gegnern und Nachfolgern, die primär eigene Interessen verfolgten und es an Polisliebe fehlen ließen. Die dritte Qualität schließlich, sein Verhältnis zum Geld, zeigt dann in der Formulierung die deutlichsten Entsprechungen: Perikles behauptet, „dem Geld überlegen" (χρημάτων κρείσσων) zu sein. Thukydides bestätigt ihm das mit der Wendung „durch Geld offensichtlich am meisten unbeschenkbar" (χρημάτων τε διαφανώς άδωρότατος - 2,65,8). Die genannten Eigenschaften befähigten Perikles, „die Menge in Freiheit niederzuhalten" (κατείχε τό πλήθος ελευθέρως - 65,8). Diese Formulierung erinnert an Verse Solons, der in zwei Gedichten betont, ein anderer wäre nicht (wie er) in der Lage gewesen, das Volk „niederzuhalten". In 24 D, 21 f. spricht er von einem „übelgesinnten und besitzliebenden Mann" (κακοφράδης τε και φιλοκτήμων άνηρ), der dies nicht vermocht hätte (ούκ αν κατέσχε δήμον). Und ähnlich heißt es im Gedicht 25D, 6f.: ούκ αν κατέσχε δήμον ούδ' έπαύσατο πριν άνταράξας πΐαρ έξεΐλεν γάλα, also mit der uns immer noch verständlichen Metapher des Rahmabschöpfens für unrechtmäßige Profite korrupter politischer Führer. Κατέχειν δήμον scheint eine traditionelle Ausdrucksweise gewesen zu sein. Sie impliziert eine Vorstellung vom Volk als einem an sich unruhigen, ungestümen Element,15 das es zu bändigen gilt. Nur ein uneigennütziger Führer mit unbestrittener Autorität ist dazu in der Lage. Denn andere wiegeln das Volk selber auf, um es für ihre Zwecke zu benutzen, oder sie werden seiner nicht Herr. Denkbar ist schließlich noch die Möglichkeit, das Volk mit Gewalt niederzuhalten. Dagegen steht Thukydides' Formulierung, Perikles habe die Menge in freiheitlicher Weise (έλευθέρως) gebändigt, nämlich unter den Bedingungen der Demokratie, fur die ,Freiheit' der wichtigste Leitbegriff war.16 „In freiheitlicher Weise niederhalten" ist im Grunde eine paradoxe Formulierung, die bereits auf die Antinomie der Demokratie unter Perikles hindeutet. Darauf folgt eine nähere Bestimmung von dessen Führungsfahigkeit: Er habe nämlich eher die Menge gefuhrt, als daß er von ihr ge-
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Ähnlich dem λάβρος στρατός bei Pindar 2. P. 87. Davon wollte Solon bezeichnenderweise noch nichts wissen. Das Volk, sagt er in 5 D,7 f., folgt am besten seinen Führern, weder zu sehr losgelassen noch gezwungenermaßen (μήτε λίαν άνεθείς μήτε βιαζόμενος). Die Freiheit erscheint da noch nicht als positiver Begriff, sondern wird eher negativ umschrieben. 16
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fuhrt worden wäre (65,8).17 Das läßt zumindest erkennen, daß Perikles als demokratischer προστάτης auch von Meinungen im Volk abhängig war. Aber aufgrund seines hohen Ansehens war er in der Lage, dem Volkszorn zu widersprechen (όργήν τι άντειπεΐν - 65,8) und die Stimmungen im Volk auszubalancieren (65,9) - wie das Thukydides besonders mit der vorausgehenden „Trostrede" gezeigt hat. Als Resümee dieser Charakterisierung folgt dann der zentrale Satz des Nachrufs: έγίγνετό τε λόγφ μέν δημοκρατία, έργω δε ύπό του πρώτου ανδρός άρχή. Sein erster Teil leuchtet nach dem Vorangegangenen unmittelbar ein. Es war nur dem Wort nach eine Demokratie, da der Demos Perikles das politische Handeln (πάντα τα πράγματα) übertragen hatte. Aber es wurde damit keine Einherrschaft. Es blieb sogar weiterhin eine Demokratie, in der das Volk seinen Führer - wie gerade vorexerziert absetzen konnte und die letzte Entscheidung behielt, ganz abgesehen vom Fortbestand der gesamten Maschinerie demokratischer Ämter und Institutionen. Der zweite Teil ist problematischer, allerdings nicht hinsichtlich der Rolle des „Ersten Mannes". Dieser informelle Titel paßt vielmehr genau zu der Funktion und Position, die Thukydides zuvor Perikles im einzelnen zugeschrieben hat. Ihr Hauptmerkmal ist persönliches Ansehen und Autorität, was allein dreimal betont wird (65,4: πλείστου άξιον; 65,8: δυνατός άξιώματι; έπ' αξιώσει). Perikles' herausgehobene Stellung machte ihn nicht unangreifbar, aber sie enthob ihn der alltäglichen Konkurrenz mit anderen Politikern. Das führt Thukydides im folgenden näher aus: „Die aber später, da sie selbst untereinander eher gleich waren und bestrebt, jeder der erste zu werden, überließen den Launen des Volkes sogar die Politik" (65,10: τφ δήμφ και τά πράγματα ένδιδόναι). Es geschah dies - nach Thukydides' Auffassung - weniger aus demokratischer Überzeugung, sondern aus politischer Schwäche und Berechnung, nämlich um die jeweiligen Konkurrenten auszustechen. Das Ergebnis war die Demokratie nicht nur dem Worte nach, sondern auch in der Tat, sogar bis hin zum Bürgerkrieg, der στάσις (65,12) des Jahres 411. Vorausgegangen waren die Anschläge der Einzelnen im Kampf um die Volksfuhrerschaft (65,11: κατά τάς ιδίας διαβολάς περί της του δήμου προστασίας). Das ist fur Thukydides gewissermaßen der schlechte Normalzustand der Demokratie, in der jeweils die „eigenen" Zwecke, Interessen und Streitigkeiten der Bürger, 17 Thukydides drückt es noch mehr untertreibend aus: και ούκ ηγετο μάλλον ύπ' αύτοϋ ή αύτός ήγε.
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zumal der Politiker dominieren. Mit der wiederholten Rede von den ϊδια wird ein Leitthema dieses Kapitels angesprochen: Es beginnt mit den je eigenen Leiden (65,2), dann folgen Ehrgeiz und Gewinne (65,7), schließlich die Ränke (65,11) und Zerwürfhisse (65,12). Dazwischen aber steht der Satz, der die entgegengesetzten Verhältnisse unter Perikles beschreibt (65,9). War das nun in Thukydides' Augen „eine Herrschaft des Ersten Mannes"? Gerade durch die Gegenüberstellung von Perikles mit all den anderen, die jeweils nur ihre „eigenen" Ziele verfolgten, wird deutlich, daß dies auf die αρχή unter seiner Ägide nicht zutrifft. Es ist diese αρχή fur Thukydides auch das Gegenteil von einer monarchischen Herrschaft im Sinne einer Tyrannis.18 Denn die typische Politik von Tyrannen ist nach seinem Urteil derjenigen Athens unter Perikles genau entgegengesetzt. Von jenen heißt es in der Archäologie·. „In ihrer engen Sorge bloß fur die eigene Person und die Mehrung ihres Hauses, lenkten (sie) ihre Städte so vorsichtig sie irgend konnten, und keine nennenswerte Tat ward von ihnen vollbracht als höchstens gegen ihre nächsten Nachbarn" (1,17- Übers. Landmann). Perikles dagegen wendet sich nach Thukydides' Darstellung nicht nur als Redner gegen eine zu ängstliche Sorge um die ϊδια. Es liegt ihm auch selbst nichts daran, wie den Tyrannen, τον ίδιον οίκον αΰξειν (1,17). Sondern er bietet im Gegenteil „seine Häuser und Felder, falls der Feind sie nicht wie die der anderen zerstöre, dem Volk als Gemeingut an" (2,13,1). Perikles redet und handelt also hinsichtlich seiner eigenen Interessen gerade umgekehrt wie ein typischer Tyrann. Und ebenso ist die Außenpolitik Athens unter seiner Führung konträr zu derjenigen unter der Tyrannis. Sie vollbrachte in dieser Hinsicht ουδέν έργον άξιόλογον (1,17). Dagegen preist Perikles in seiner letzten Rede gerade die Größe, den Glanz und den immerwährenden Ruhm der άρχή Athens. Und Thukydides übernimmt diese Zielsetzung zustimmend in den Nachruf als Grundlage für die Beurteilung der Politik Athens unter Perikles, sogar angesichts scheinbar gegenläufiger Fakten.
18 Siehe dagegen Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.Chr., Berlin 1999, 153: „Die so verstandene Dominanz des Perikles ist bis zu einem gewissen Grade vergleichbar mit der Tyrannis des Peisistratos, wie Thukydides sie zeichnet." Abgesehen davon, daß Thukydides kaum etwas über die Tyrannis des Peisistratos sagt, sondern fast nur über die seiner Söhne, scheint mir jene Analogie bei Thukydides nicht angelegt. Allerdings will auch Leppin nicht suggerieren, „daß Thukydides seinen Lesern Perikles als Tyrannen habe vorführen wollen" (ebd.).
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Die Formel der ύπό του πρώτου άνδρός άρχή besagt also nicht „eine Herrschaft des Ersten Mannes", erst recht nicht im Sinne einer Art von Tyrannis. άρχή meint in diesem Zusammenhang vielmehr die Regierung und Herrschaft Athens, und zwar die „unter Führung des Ersten Mannes". Thukydides fugt in diesem Begriff der άρχή den innen- und außenpolitischen Aspekt zusammen: also einerseits das demokratische Regierungssystem Athens unter der maßgeblichen Autorität des Perikles und andererseits die Herrschaft Athens über die Bundesgenossen, die ebenso unter dessen Führung erfolgte. Von diesem Aspekt der athenischen άρχή, der Perikles' letzte Rede durchgehend bestimmt, ist auch im Nachruf an zwei Stellen ausdrücklich die Rede: einmal in bezug auf Perikles' Rat, die άρχή wahrend des Krieges nicht zu vergrößern (2,65,7); und zum anderen im Hinblick auf die Fehler, wie sie „in einer großen Stadt, die eine άρχή innehat" (2,65,11) begangen werden. In dem dazwischenstehenden Satz (2,65,9) schwingt diese außenpolitische Bedeutung der άρχή Athens zumindest mit; wenn man auch zunächst durch die Antithese von λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή an die innenpolitische Seite der άρχή denkt. Aber nicht nur Perikles geht es in seiner vorausgehenden Rede allein um die άρχή Athens nach außen, sondern auch Thukydides interessiert sich primär fur diese Seite der άρχή und identifiziert sich mit ihr selbst noch in Kenntnis ihrer katastrophalen Entwicklung unter Perikles' Nachfolgern.
IV. Fazit Der zentrale Satz im Nachruf auf Perikles: έγίγνετό τε λόγφ μέν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine von Thukydides sehr bewußt gewählte und komplexe Formulierung. Sie wird im Werk in mehreren Schritten vorbereitet und durch explizite und implizite Vergleiche verdeutlicht. Die vorherrschende Übersetzung des Satzes, die auf eine Gegenüberstellung von nomineller Demokratie und faktischer Herrschaft des Perikles abhebt, läßt die ungewöhnliche Ausdrucksweise, die Nuanciertheit der Aussage sowie die verschiedenen Kontextbezüge und Anspielungen außer acht. Eine simple Entgegensetzung von nomineller Demokratie und tatsächlicher Monarchie wäre bei Thukydides an sich schon verwunderlich, weil sie weder seinem Denk- und Argumentationsstil noch seiner politischen Haltung entspräche. Thukydides argumentiert zwar gern mit Antithesen; aber die-
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se sind in der Regel komplexer und differenzierter, außerdem enthalten sie zuweilen überraschende gedankliche Sprünge. Als Beispiel sei hier auf die bekannte, allerdings nicht leicht verständliche Definition der athenischen Verfassung im Epitaphios (2,37,1) verwiesen. Dort ist auch im ersten Teil von „der Demokratie dem Namen nach" die Rede. Der zweite Teil bildet dazu aber keinen einfachen Gegensatz, sondern ist in sich wiederum mehrfach antithetisch konstruiert. So komplex ist die Aussage der Formel in 2,65,9 schon ihrer Kürze wegen zwar nicht, aber sie ist doch problematischer und beziehungsreicher, als die üblichen Übersetzungen erkennen lassen. Thukydides charakterisiert den „Ersten Mann" und die von ihm ausgehende αρχή Athens von mehreren Bezugspunkten aus sowie durch verschiedene Vergleiche und Stilmittel: erstens mit einem auffälligen biographischen Exkurs (1,127-139) und durch den impliziten Vergleich mit den fuhrenden Männern der Perserkriegszeit; zweitens aus der Perspektive der Periklesreden, hier vor allem der letzten (2,60-64) mit dem Hauptthema der αρχή Athens; und drittens im Nachruf auf Perikles (2,65). Dort findet sich einerseits ein expliziter Vergleich mit „den Späteren" (2,65,10) und andererseits - was oft übersehen wird - die Wiederaufnahme der zuvor im 1. Buch (besonders in 1,127-139) und in den Reden vorgegebenen Begriffe, Bewertungen und Relationierungsmöglichkeiten. Aus jenen drei Textzusammenhängen lassen sich folgende Ergebnisse ableiten: 1. Es ist bedeutsam, daß Thukydides die Bezeichnung πρώτος άνήρ fur Perikles reserviert und mit der Variante πρώτος Αθηναίων (in 1,139,4) im abschließenden „Rahmensatz" des Pausanias-Themistokles-Exkurses einfuhrt. Durch diese semantische und inhaltliche Verklammerung wird zwischen den Zeilen ein Vergleich des „Ersten der Athener" mit den „zu ihrer Zeit Glänzendsten der Hellenen" nahegelegt. Verfolgt man diese Spur dann von 2,65 aus wieder zurück, erhalten die Aussagen des Nachrufs noch ein ganz anderes Gewicht. Der „Erste Mann" war zwar „der mächtigste", aber er hat sich nicht auf den Abweg zu einer Tyrannis hin begeben: weder in Richtung einer auf seine Person bezogenen Ελληνική άρχή wie Pausanias (1,128,3), noch einer despotischen Herrschaft über mehrere Städte mit entsprechenden Einkünften wie Themistokles (1,138,5). Perikles' Macht beruhte dagegen Thukydides zufolge auf seinem Ansehen in der Bürgerschaft, seiner intellektuellen und rhetorischen Kompetenz, seiner materiellen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit sowie seinem freiheitlichen Führungsstil. Er besaß ähnlich überragende politische und strategische Fähigkeiten wie Themistokles, aber er war
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eben außerdem - ganz anders als dieser - bis zum Ende der eigenen Stadt zugetan und verpflichtet (φιλόπολις) und von keiner auswärtigen Macht zu beschenken und zu beeinflussen. 2. Diese vier Hauptzüge des Periklesbildes werden indirekt durch die Kontrastierung mit dem Doppelporträt Pausanias-Themistokles und ausdrücklich durch die aus der letzten Periklesrede von Thukydides übernommenen Beurteilungsmaßstäbe bestätigt. Darüber hinaus überträgt der Historiker aber auch die zentrale Thematik dieser Rede auf den Nachruf, nämlich das Verhältnis der „eigenen" Interessen (τα ϊδια) zu denen der Polis sowie die Bedeutung und die Erfordernisse der άρχή Athens. Perikles verlangt von den Bürgern, ihre ϊδια zurückzustellen zugunsten der Notwendigkeiten und der Vorteile ihrer kollektiven άρχή. Und er lebt diese Haltung, die in seinen (und in Thukydides') Augen einen guten Politiker und einen guten Bürger auszeichnen, auch tatsächlich selbst vor, indem er im Ernstfall seine ϊδια demonstrativ dem Volk überträgt. Er spricht folglich nirgends von seiner άρχή, sondern immer nur von der Athens und der Athener. Eine solche Redeweise ist eigentlich nicht überraschend, sondern entspricht den Erfordernissen (τα δέοντα) der Situation, wie im Methodenkapitel (1,22,1) angekündigt. Eine Besonderheit im gesamten Werk besteht jedoch darin, daß Thukydides die Selbstdarstellung des Perikles aus dessen Rede nahezu vollständig in seinen Nachruf übernimmt. Die zunächst nur subjektive, situativ bedingte Aussage wird so zu einer objektiven, auktorialen Feststellung. 3. Das Verständnis der in Frage stehenden Formulierung in 2,65,9 hat sich also auch an all den genannten Bezugspunkten zu orientieren. Von einer „Regierung" oder gar von einer „Herrschaft des Ersten Mannes" wollte Thukydides in diesem Zusammenhang offenbar nicht sprechen. Eine solche Ausdrucksweise, die den Besitzer oder Urheber einer άρχή mit dem bloßen Genitiv bezeichnet, benutzt er in der Regel fur nichtgriechische Herrscher19 oder aber für Polisbürgerschaften20. Perikles erscheint an dieser Stelle genau betrachtet nicht als das Subjekt der άρχή. Sowohl der sprachliche Befund als auch der Kontext und nicht zuletzt Thukydides' politische Haltung aufgrund seiner Identifikation mit Perikles weisen in eine andere Richtung: Mit seiner gesamten Darstellung des Perikles, die in der Wendung ύπό του πρώτου άνδρός άρχή kulminiert, formuliert der Historiker eine subtile Widerlegung der von verschiedenen Seiten gegen seinen Favoriten gerichteten Vorwürfe, die sich gegen dessen Finanzge19 20
Zum Beispiel 4,78,6: της Περδίκκου αρχής. Zum Beispiel 1,67,4: έν τη Αθηναίων άρχη oder 6,90,2: της Καρχδονίων αρχής.
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baren und sein angeblich tyrannengleiches Auftreten richteten. Perikles ist fur Thukydides kein Herrscher, sondern πρώτος άνήρ bzw. πρώτος Αθηναίων. Er schreibt deswegen auch nicht von dessen Herrschaft oder Regierung, also nicht von einer άρχή im Besitz des Perikles, wie es der bloße Genitiv ausdrücken würde. Das wollte Thukydides nämlich gerade nicht sagen oder auch nur andeuten. Mit ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bezeichnet er vielmehr „eine Regierung unter dem Ersten Mann" - das heißt die von Perikles geführte demokratische Regierung Athens, die zugleich nach außen hin Herrschaft ausübte.
Altersklassen in Sparta? Von
Winfried Schmitz Sparta unterschied sich fundamental von den anderen griechischen Poleis dadurch, daß die Häuser keine grundlegende soziale Einheit des Gemeinwesens waren. Zumindest für die Jungen begann mit sieben Jahren eine außerhäusliche Erziehung, die Agogé, die in einer ersten Phase bis zum zwölften Lebensjahr, in einer zweiten Phase bis etwa zum 18. Lebensjahr reichte.1 Anschließend leiteten die jungen Männer als Eirénes Kinder- und Jugendgruppen, wobei sie aber aus der Aufsicht der Alten nicht entlassen waren. Denn ein spezieller Amtsträger, der Paidonömos, und alle Älteren konnten die Erzieher zurechtweisen, wenn sie die ihnen anvertrauten Kinder oder Heranwachsenden zu milde oder zu hart bestraft hatten.2 In der Zeit nach dieser Ausbildung traten die jungen Männer den 1 C. M. Tazelaar, Παίδες και εφη βοι. Some Notes on the Spartan Stages of Youth, Mnemosyne 20, 1967, 127-153, hat nachgewiesen, daß bei den Jahresangaben mit γίγνομαι im Partizip Perfekt exklusiv zu zählen ist, beim Partizip Aorist aber eine inklusive oder exklusive Zählung möglich ist. Das in Plut. Lykurgos 16,7 (εύόύς επταετείς γενόμενοι) hinzugefügte ευθύς mache aber deutlich, daß die außerhäusliche Erziehung im Alter von sieben Jahren, also im achten Lebensjahr, begonnen habe. Die Eirenen seien 20 Jahre alt gewesen, hätten also im 21. Lebensjahr gestanden (ebd. 127-129). Demgegenüber weist Douglas M. MacDowell, Spartan Law, Edinburgh 1986, 160, daraufhin, daß das genaue Alter wegen fehlender Geburtsregister sowieso nicht bestimmbar gewesen sei. An einem bestimmten Tag im Jahr seien also die etwa sieben Jahre alten Kinder in die Agogé aufgenommen worden. 2 Zur außerhäuslichen Erziehung in Sparta: Henri-Irénée Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg i.Br. u.a. 1957, 31-46 (frz.: Paris 31955); Humfrey Micheli, Sparta. Tò κρυπτόν της πολιτείας των Λακεδαιμονίων, Cambridge 1964, 165-174; Stephen Hodkinson, Social Order and the Conflict of Values in Classical Sparta, Chiron 13, 1983, 239-281, hier 241-243; 245-251; Vasiliki Siurla-Theodoridou, Die Familie in der griechischen Kunst und Literatur des 8. bis 6. Jahrhunderts v.Chr., München 1989, 379-385; Nigel M. Kennell, The Gymnasium of Virtue. Education and Culture in Ancient Sparta, Chapel Hill u.a. 1995; Jean Ducat, Perspectives on Spartan Education in the Classical Period, in: Stephen Hodkinson, Anton Powell (Hg.), Sparta. New Perspectives, London 1999,43-66. Zur spartanischen Erziehung im Vergleich zu Kreta siehe Stefan Link, Der geliebte Bürger. Paideia und paidika in Sparta und auf Kreta, Philologus 143, 1999, 3-25; im Vergleich zu Athen siehe Paul Cartledge, A Spartan Education, in: ders. (Hg.), Spartan Reflections, London 2001, 79-90. Einen knappen Überblick gibt Arnold
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Tischgemeinschaften bei, die eine gemischte Altersstruktur hatten und in denen sie sich den jeweils Älteren unterordnen mußten. Eine solche gemischte Altersstruktur bestand wahrscheinlich auch in den militärischen Einheiten, den Mor ai, Lóchoi und Enomoüai? Die Eheschließung stellte in Sparta keinen entscheidenden Einschnitt im Leben der jungen Spartaner und Spartanerinnen dar. Folgt man der Darstellung des Plutarch in der „Vita des Lykurgos", wurde die ,Braut' in der Brautnacht geraubt; man schor ihr die Haare bis auf den Kopf, zog ihr ein Männergewand an und legte sie auf eine Streu. Der junge Mann kam heimlich zu ihr und ging nach dem Geschlechtsverkehr zu seinen Altersgenossen zurück. Bei diesem ,HochzeitsrituaP wurde der gleichgeschlechtliche Verkehr zwischen einem Erastés und einem Eremenos imitiert, so wie er während der Erziehung der Heranwachsenden zwischen einem etwa 20-30jährigen Spartiaten und einem zwölf- bis 18jährigen Jugendlichen üblich war.4 In Sparta H.M. Jones, Sparta, Oxford 1968, 34-39. Vgl. allgemein Valerie French, The Spartan Family and the Spartan Decline. Changes in Child-Rearing Practices and Failure to Reform, in: Charles D. Hamilton, Peter Krentz (Hg.), Polis and Polemos. Essays on Politics, War, and History in Ancient Greece in Honor of Donald Kagan, Claremont 1997, 241-274. Als unergiebig erweist sich T. Rutherford Harley, The Public School of Sparta, G & R 3,1934, 129-139. 3 Zu den Syssitien in Sparta: Stefan Link, Der Kosmos Sparta. Recht und Sitte in klassischer Zeit, Darmstadt 1994, 48 f.; ders., „Durch diese Tür geht kein Wort hinaus!" (Plut. Lykurgos 12,8). Bürgergemeinschaft und Syssitien in Sparta, Laverna 9, 1998, 82-112; Nick R. E. Fisher, Drink, Hybris and the Promotion of Harmony in Sparta, in: Anton Powell (Hg.), Classical Sparta. Techniques behind Her Success, London 1989,26-50. Zur militärischen Organisation Henk W. Singor, Admission to the Syssitia in Fifth-Century Sparta, in: Hodkinson, Powell (Hg.), Sparta (wie Anm.2) 67-89. 4 Auch den zwölfjährigen Spartiaten wurden die Haare kurz geschoren und sie schliefen auf Streuschütten, für die sie das am Eurotas wachsende Schilf mit bloßen Händen abreißen mußten. Marcello Lupi hat in einer detaillierten Erörterung eines bei Athenaios (13,602 D-Ε) überlieferten Fragments des Hagnon gezeigt, daß sich diese Bemerkung auf heterosexuelle Beziehungen zwischen einem Spartiaten und einer Parthenos bezieht, die einer homosexuellen, päderastischen Beziehung an die Seite gestellt ist (Marcello Lupi, L'ordine delle generazioni. Classi di età e costumi matrimoniali nell'antica Sparta [Pragmateiai 4], Bari 2000, 65-94). Aufbauend auf einer Interpretation von Kenneth Dover übersetzt er den Satz: παρά δε Σπαρτιάταις, ώς "Αγνών φησίν ό 'Ακαδημαϊκός, προ των γάμων ταΐς παρθένοις ώς παιδικοΐς νόμος εστίν όμιλεΐν folgendermaßen: „presso gli Spartiati è costume, prima del matrimonio, unirsi sessualmente [cioè: è costume che gli Spartiati, maschi adulti, si uniscano sessualmente] alle parthenoi alla maniera in cui si usa farlo con i paidika" (69). Die sexuellen Beziehungen zwischen einem Spartiaten und einem spartanischen Mädchen entsprachen also in der Form päderastischen Beziehungen. Lupi verbindet diese Bemerkung m. E. zu Recht mit der Beschreibung des spartanischen Hochzeitsbrauchs bei Plutarch, die gleichfalls auf eine Imitation einer gleichgeschlechtlichen Beziehung hinweise (73-75). Es habe also eine Phase gegeben, in der ein vorehelicher Verkehr gesellschaftlich legitim gewesen sei, und diese Phase habe beim Mann mit etwa 30 geendet, bei der Frau mit etwa 20 Jahren (90-94). Seiner Interpretation des Hagnon-
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erfolgte also die,Eheschließung' ohne ein Einverständnis des Brautvaters bzw. des Kyrios, ohne eine förmliche Übergabe der Braut an den Brautwerber, und der Geschlechtsverkehr in der Brautnacht begründete auch nicht das Zusammenleben der Brautleute. In Athen waren es genau diese Merkmale, die Engye, die Ekdosis und das Synoikein, die eine rechtmäßige Ehe konstituierten. In Sparta hingegen wurde all dies regelrecht umgangen, was bedeutet, daß eine rechtmäßige Ehe nicht zustande kam und damit auch keine patrilineare Linie zwischen Vater und Sohn hergestellt wurde.5 So wie in anderen griechischen Gemeinwesen der Hausvater bei einer kinderlosen Ehe eine Nebenfrau ins Haus holen konnte, um mit ihr Kinder zu zeugen und so die Nachfolge im Haus zu sichern, so konnten in Sparta Frauen mit verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr eingehen, um eine matrilineare Kontinuität sicherzustellen. Aus all dem wird deutlich, daß die Positionen des Mannes, der Frau und der Kinder in Sparta ganz anders ausgestaltet waren als in den anderen griechischen Städten.6 Wenn es im lykurgischen Kosmos eine rechtswirksame Eheschließung nicht gab, die Kinder die längste Zeit außerhalb des Hauses in Kinderund Jugendgruppen erzogen wurden, dann konnten die Häuser in Sparta nicht die grundlegenden Bausteine darstellen, auf denen die Gesellschaft aufbaute. Wenn aber das Haus als zentrales organisatorisches Element der Gesellschaft weitgehend ausfiel, dann ist zu fragen, was in Sparta an die Stelle dieser Einheiten trat. Statt nach Häusern war die spartanische Gesellschaft nach Alter strukturiert.7 Waren die Alten in Athen und in anderen griechischen Poleis eher fragments stimme ich zu, doch ich zweifle daran, ob es nach dieser Phase eine offizielle' Hochzeit und damit eine legitime Ehe gab. 5 Zu dieser These im einzelnen Winfried Schmitz, Die geschorene Braut. Kommunitäre Lebensformen in Sparta?, HZ 274, 2002, 561-602. Allerdings hat Jane B. Carter auf Terrakotta-, Elfenbein- und Steinreliefs hingewiesen, auf denen ein Mann und eine Frau einen Kranz halten, der - dies ist aus anderen Hinweisen zu erschließen - als Hochzeitskranz verstanden werden kann. Auch unter den Bleivotiven aus dem Artemis-Orthia-Heiligtum und dem Menelaos-und-Helena-Heiligtum in Therapne sind weibliche Figurinen belegt, die einen Kranz halten. Carter bringt dies mit einer .heiligen Hochzeit' in Verbindung (Masks and Poetry in Early Sparta, in: Robin Hägg, Nanno Marinatos, Gullög C. Nordquist [Hg.], Early Greek Cult Practice. Proceedings of the Fifth International Symposium at the Swedish Institute at Athens 26-29 June 1986, Stockholm 1988, 89-98). 6 Zur Zurückdrängung der Familien und der Position des konkreten Vaters gegenüber einer gestärkten öffentlichen Position der Alten siehe Jochen Martin, Zur Stellung des Vaters in antiken Gesellschaften, in: Hans Süßmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, 84-109. 7 Ähnlich urteilte bereits Wolfgang Knauth, Die spartanische Knabenerziehung im Lichte der Völkerkunde, Zeitschrift fur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 23, 1933, 151-185, 155.
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an den Rand gedrängt und wichtiger sozialer und familialer Funktionen beraubt, so hatten sie in Sparta eine dominierende Position. Zunehmendes Alter vermittelte unmittelbar höhere Autorität. Die Alten wachten über das Erziehungssystem der Kinder und Jugendlichen.8 Jeder Ältere konnte ein Kind, einen Jugendlichen oder einen jungen Mann zurechtweisen oder ihn fragen, wohin er gehe und was er dort zu tun gedenke. Die Mitgliedschaft im Rat, in der Gerusia, war an ein Mindestalter von 60 Jahren geknüpft. Nicht nur in der Erziehung und im Sport, sondern auch bei den religiösen Festen organisierten sich die Spartaner nach Alter. So wetteiferte der Chor der Kinder mit dem der in der Reife stehenden Männer und mit dem der Alten. Auch in symbolischer Form mußte den Alten gegenüber Respekt und Gehorsam entgegengebracht werden. Ein Spartaner hatte, wenn ein Älterer herbeitrat, von seinem Sitz aufzustehen, ihm auf der Straße Platz zu machen. Kritik an den Alten war nur zu bestimmten Gelegenheiten und nur in der gebrochenen Form des Spotts möglich. Wurde der Spott zu arg, konnte der betroffene Alte ihn unterbinden. Selbst die Gespräche waren strengen Regeln unterworfen. Eingeübt wurden kurze, schlagkräftige Sprüche, die stets die Normen der spartanischen Gesellschaft in Erinnerung riefen und bestätigten. Sprichwörter mahnender Form sind eine autoritative Form der Kommunikation, da deijenige mit höherer Autorität einen solchen zurechtweist, der weniger - oder allenfalls gleiche - Autorität genießt. Diese Form der Kommunikation galt ebenso in den Syssitien, in denen der jeweils Älteste den Ton angab, und auch im politischen Bereich. Eine Diskussion, ein Hinterfragen der Normen wurde so verhindert und damit die normsetzende Macht der Alten abgesichert. In Sparta waren die Alten die Garanten der sozialen und politischen Ordnung, und die Ausrichtung auf einen Älteren prägte den Habitus eines Spartaners.9 8
Siehe dazu eingehend Ephraim David, Old Age in Sparta, Amsterdam 1991; Winfried Schmitz, Nicht,altes Eisen', sondern Garant der Ordnung. Die Macht der Alten in Sparta, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (Hg.), Am schlimmen Rand des Lebens? Altersbilder in der Antike, Köln u. a. 2003, 87-112. Zur Stellung der Alten in Athen Ernst Baltrusch, An den Rand gedrängt. Altersbilder im klassischen Athen, in: ebd. 57-86. Zum Alter und dessen Wertungen im archaischen und klassischen Griechenland Hartwin Brandt, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike, München 2002,17-85. 9 Auch Hodkinson, Social Order (wie Anm.2) 244, hebt Seniorität als eines der vier wichtigsten Prinzipien der sozialen Ordnung Spartas hervor. „Fourthly, seniority. This fundamental factor in Greek aristocratic society was enshrined in classical Sparta in the prominence of the gerousia, the complex system of age-classes and the deference of leadership habitually accorded to the eldest of any group". - Zur normativen Kraft und autoritativen Wirkung der Sprüche Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004,42-46.
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Ich möchte mich im folgenden den Altersgruppen innerhalb des spartanischen Erziehungswesens zuwenden, denn mir scheint, daß sie ein wesentliches Element der spartanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Messenischen Krieg bildeten. Andere strukturierende Einheiten wie die Syskenien oder die Syssitien sollen hingegen ausgeklammert bleiben. Die Ehrfurcht vor dem Alter wurde in Sparta in der Kindheit und in der Zeit der Jugend systematisch eingeübt. Die besondere Art der Erziehung hat schon immer die Aufmerksamkeit der antiken Berichterstatter und der Forschung auf sich gelenkt, und ein Zeugnis des Simonides macht wahrscheinlich, daß eine außerhäusliche Erziehung in Sparta bereits auf eine frühe Zeit zurückgeht. Simonides nämlich bezeichnet Sparta als „menschenbezwingend"; es „domestiziert die Menschen (wie Pferde)" (δαμασίμβροτος), weil es durch seine Sitten die Politai gehorsam und gefugig gegenüber den Gesetzen mache. Dies wird von Plutarch auf die spartanische Erziehung bezogen, die hart und strapazenreich sei, aber die jungen Leute zum Gehorsam (αρχεσθαι) erziehe.10 In der Forschung gibt es einen lang andauernden und bis heute nicht entschiedenen Streit darüber, in welcher Weise die außerhäusliche Erziehung organisiert war. Dabei geht es auch um die Frage, ob die für das spartanische Erziehungswesen belegten Altersgruppen Altersklassen waren, etwa in der Form, wie sie Ethnologen fur viele afrikanische Gesellschaften nachgewiesen haben. Solche Altersklassen im ethnologischen Sinne zeichnen sich dadurch aus, daß alle männlichen Angehörigen der Gesellschaft eine feste Abfolge zeitlich begrenzter Intervalle von Altersgraden durchlaufen. Markiert ist der Übergang von einem zum anderen Altersgrad häufig durch eine Initiation, bei der die Mitglieder eines Altersgrads gemeinsam in den nächsten Altersgrad aufsteigen." Durch die feste Abfolge von Altersgraden wird in diesen Gesellschaften ein Senioritätsprinzip, also ein Vorrang nach Alter, etabliert und abgesichert.12 10
Sim. fr. 111 Page (= Plut. Agesilaos 1,3). Die Söhne der Könige, die die Nachfolge im Königtum antreten sollten, blieben von der harten Agogé ausgenommen. Als jüngerer Sohn des Archidamos durchlief indes Agesilaos als ιδιώτης die Agogé (Plut. Agesilaos 1). " Zu Altersklassengesellschaften Bernardo Bernardi, Age Class Systems. Social Institutions and Polities Based on Age, Cambridge u.a. 1985; Gunter Minker, Altersklassen, in: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Matthias S. Laubscher (Hg.), Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe, 5 Bde., Stuttgart 1988, Bd. 1,439-446; Andreas Sagner, Alter und Altern in einfachen Gesellschaften. Ethnologische Perspektiven, in: Gutsfeld, Schmitz, Altersbilder (wie Anm. 8) 31 -53,44. 12 Zum Senioritätsprinzip Sagner, Alter (wie Anm. 11) 35-44: Beim Senioritätsprinzip wird „ein bemerkenswerter Teil der gesellschaftlichen Positionen durch genealogisch abgeleitete Identitäten bestimmt" (36).
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Altersklassensysteme finden sich vor allem in akephalen Gesellschaften, „und zwar in solchen, in denen die verwandtschaftlichen Abstammungsgruppen nur vergleichsweise schwach ausgeprägt sind".13 Für das antike Sparta ist die Überlieferung bruchstückhaft. Die Quellen gehören unterschiedlichen Epochen an, so daß zum Teil stark voneinander abweichende Interpretationsvorschläge unterbreitet wurden. Diese möchte ich zunächst vorstellen, um dann eine eigene These vorzuschlagen. In der althistorischen Forschung wurden zur Frage, ob es in Sparta Altersgruppen gegeben hat und welche Altersstufen diese umfaßten, ganz unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen. Um diese nachvollziehen zu können, sei zuvor auf einige wichtige Quellenzeugnisse hingewiesen, die im Mittelpunkt der Diskussion stehen.14 Im 9. Buch seiner „Historien" berichtet Herodot, daß die Lakedaimonier fur ihre in der Schlacht Gefallenen drei Gräber errichteten. In dem einen begruben sie die ίρέες, in dem zweiten „die anderen Spartiatai" (οί άλλοι Σπαρτιήται) und in dem dritten die Heloten (οί είλωτες). In einer Glosse zu diesem Bericht findet sich zum Wort ίρέες, das zu είρένες verbessert wird, folgende Erläuterung: είρήν παρά Αακεδαιμονίοις έν τφ πρώτφ ένιαυτω ό παις ρωβίδας καλείται, τω δευτέρα) προμικιζόμενος (cod. προκομιζόμενος), τω τρίτφ μικιζόμενος, τφ τετάρτω πρόπαις, τω πέμπτα) παις, τω εκτω μελείρην. έφηβεύει δέ παρ' αύτοΐς ό παις άπό έτών δεκατεσσάρων μέχρι (και) ει'κοσιν. βαρυτόνως δέ το μελείρην, ώσπερ πυθμήν άπύΟμην, αύχήν ύπαύχην. - ,Jïirén: Bei den Lakedaimoniern wird das Kind im ersten Jahr Rhobidas genannt, im zweiten Promikidsömenos, im dritten Mikidsómenos, im vierten Pröpais, im fünften País, im sechsten Melleiren. In die (körperliche) Reife kommt das Kind bei ihnen (im Alter) von 14 bis 20 Jahren. Das (Wort) Melleiren ist βαρυτόνως, so wie zu pythmén (Fuß, Boden) apythmen (ohne Boden, ohne Basis) und zu auchén (Hals, Nakken) hypaúchen (unterer Teil des Nackens; Kopfkissen)".15 Βαρυτόνως bedeutet ,νοΐΐ-tönend', ,stark-tönend' und bezeichnet in der Sprachleh13
Sagner, Alter (wie Anm. 11) 45. Zu Altersklassen und zum Senioritätsprinzip siehe auch kurz Hiltrud Marzi, Ethnologische Altersforschung im Wandel, in: Dorle Dracklé (Hg.), Alt und zahm? Alter und Älterwerden in unterschiedlichen Kulturen, Berlin u. a. 1998,1331. 14 Eine systematische Darstellung der Quellen zu den Altersgruppen bietet Henri-Irénée Marrou, Les classes d'âge de la jeunesse spartiate, REA 48,1946,216-230. Eine Übersicht gibt auch Kennell, Gymnasium (wie Anm. 2) 14-27, an die sich eine ausführliche Diskussion in den folgenden, auf einzelne Epochen konzentrierten Kapiteln anschließt. 15 Hdt. 9,85,2. Die Glosse findet sich in den Λεξεΐς Η ρ ο δ ό τ ο υ in der Editio maior von Heinrich Stein (Hg.), Herodotos, 2 Bde., Berlin 1868, Bd.2, 465; wiederabgedruckt in Kurt Latte, Léxica graeca minora, Hildesheim 1965, 213; ebenso in: Ludwig Bachmann,
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re Wörter, die den Ton auf der vorletzten Silbe haben, im Gegensatz zu όξυτόνως, womit Wörter bezeichnet werden, die auf der letzten Silbe betont werden. Im Jahre 1941 wurde ein ähnlich lautender Text bekannt. In einer Handschrift der „Geographika" Strabons in der Pariser Nationalbibliothek aus dem 10. Jahrhundert war im 14. oder 15. Jahrhundert folgende Glosse als Erklärung hinzugesetzt worden: Τα εις -ην λήγοντα σύνθετα, δτε από ρητών τουτέστιν ϊδια λεγομένων των εις -ην έστί, βαρύνεταιρήν πολύρρην, έλλήν φιλέλλην, πυθμήν άπύθμην, αύχήν έριαύχην και βυσσαύχην, ό τον αυχένα συστέλλων εις έαυτόν και τους ώμους άνέχων, είρήν μελλείρην, παρά Λακεδαιμονίοις ô μέλλων είρήν εσεσθαι. Έφηβεύει μεν γαρ παρά Λακεδαιμονίοις ό παις έπ' έτων ιδ' μέχρι κ'- καλείται δέ τω μεν πρώτφ ένιαυτφ ρωβίδας, τφ δε δευτέρφ προκομιζόμενος, τφ τρίτφ μικιζόμενος, τφ δ' πρόπαις, τφ ε' παις, τφ /τ' μελλείρην, τφ ζ είρήν. - „Die auf -ην endenden zusammengesetzten Wörter sind auf der vorletzten Silbe betont, weil sie so von der Aussprache her von den auf -ην endenden (Grund-)Wörtern zu unterscheiden sind; so: rhén (Schaf, Lamm) und polyrrhen (schafreich, herdenreich), Hellén und Philéllen, pythmén und apythmen, auchén und eriaúchen (hochnackig) und byssaüchen (kurznackig), d.h. derjenige, der den Kopf einzieht und die Schultern in die Höhe zieht, Eirén und Melleiren, d. h. derjenige, der bei den Lakedaimoniern zukünftig Eirén sein wird. In die (körperliche) Reife kommt nämlich bei den Lakedaimoniern das Kind (im Alter) von 14 bis 20 Jahren; es wird im ersten Jahr Rhobidas, im zweiten Prokomidsómenos, im dritten Mikidsómenos, im 4. Própais, im 5. País, im 6. Melleiren, im 7. Eirén genannt".16 Die spezifischen Namen für die heranwachsenden Knaben in Sparta werden teilweise bestätigt durch Weiheinschriften, in denen einzelne bzw. Gruppen von Kindern für
Anecdota graeca, 2 Bde., Leipzig 1828 (ND 1965), Bd.2, 355, Z.32ff. s.v. εϊρην (sic): παρά Λακεδαιμονίοις εν τφ πρώτω ένιαυτφ ό παις ρωβίδας καλείται, τφ δευτέρω προμικιζόμενος (cod. προκομιζόμενος) τφ τρίτω μικιζόμενος, τφ τετάρτφ πρόπαις, τφ πέμπτφ παις, τφ εκτφ μελείρην. Zur strittigen Deutung des Wortes ίρέες als Eirénes oder als Priester (ίρεύς / ιερεύς) Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 14-16. Bereits in der Ausgabe der Λεξεΐς Ηροδότου von 1868 hat Heinrich Stein vorgeschlagen, daß die Quelle für diese Randnotiz eine Schrift von Aristophanes von Byzanz (περί ονομασίας ηλικιών - „Über die Namen der Alter") sein könnte, also auf das Ende des 3. oder den Anfang des 2. Jahrhunderts v.Chr. zurückgeht. 16 Aubrey Diller, A New Source on the Spartan Ephebia, AJPh 62, 1941,499-501 (Glosse des 14./15. Jahrhunderts zu den fol. 225 v -226 r des ältesten Strabonmanuskripts in der Nationalbibliothek Paris [Nr. 1397] aus dem 10. Jahrhundert).
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ihren Sieg im musischen oder sportlichen Agon geehrt werden. Die Inschriften stammen weitgehend aus römischer Zeit.17 Die in der Forschung diskutierten Lösungen zur Deutung der Altersbezeichnungen lassen sich drei Gruppen zuordnen: Im „Greek-English Lexicon" von Henry G. Liddell und Robert Scott sind Rhobídas, Promikidsömenos, Mikidsómenos und Própais als die Namen derjenigen Kinder in Sparta angesehen, die im ersten, zweiten, dritten und vierten Lebensjahr stehen.18 Diese These geht auf eine Zeit zurück, in der allein die Herodotglosse bekannt war. Nach der Auffindung zahlreicher Inschriften bei den Ausgrabungen im Artemis-Orthia-Heiligtum am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde klar, daß diese Deutung nicht mehr zu halten war. Denn auf den Inschriften wurden Kinder von den Mikidsômenoi an für einen Sieg in Wettkämpfen geehrt. Zweijährige Kinder können aber nicht an solchen Wettkämpfen teilgenommen haben.19 Von der gesamten neueren Forschung wird daher diese These einhellig abgelehnt. Um die in der Herodotglosse enthaltenen Nachrichten mit den inschriftlichen Zeugnissen in Einklang zu bringen, wurde nun die Deutung vertreten, daß mit diesen Namen die Kinder im ersten, zweiten, dritten etc. Jahr der außerhäuslichen Erziehung, der Agogé, gemeint sind, also die Kinder, die im achten, neunten, zehnten usw. Lebensjahr stehen. Die Informationen in der Herodotglosse seien also als logische, nämlich zeitliche Abfolge zu lesen: Die Kinder in der ersten Phase der Erziehung vom achten bis zum 13. Lebensjahr seien nach Altersjahrgängen benannt 17
IG V 1,256-341. Henry J. W. Tillyard, Inscriptions from the Artemisium, AB SA 12, 1905-1906, 351-393; ders., Inscriptions from the Artemisium, ABSA 13, 1906-1907, 174-196; Arthur M. Woodward, Inscriptions from the Artemisium, ABS A 14,1907-1908, 74-103; ders., Inscriptions from the Artemisium, ABSA 15, 1908-1909, 40-52; ders., Inscriptions from the Artemisium, in: Richard M. Dawkins (Hg.), The Sanctuary of Artemis Orthia at Sparta. Excavated and Described by Members of the British School at Athens 1906-1910 (JHS Suppl. 5), London 1929, 285-377. 18 Τωβίδας: „At Sparta, boy of less than one year old". - προμικκιχιδδόμενος: „boy in his second year". - μικιχιζόμενος: „Lacon. μικκιχιδδόμενος, in athletic contests at Sparta, boy under age,..., a male child in his third year". - πρόπαις: „at Sparta, boy in his fourth year". - μελλείρην: „at Sparta, youth about to become an εϊρην". Vgl. πρατοπάμπαις: „chief of the πάμπαιδες". 19 Zurückgewiesen als Möglichkeit bei Albert Billheimer, Age-Classes in Spartan Education, TAPhA 78, 1947, 99-104, 99. Korrigiert sind diese Deutungen im Nachtrag zu LSJ von E.A. Barker aus dem Jahr 1968: ρωβίδας: „for ,of less .. old' read ,in first year of public education, i.e. seven years old'"; πρόπαις: „for ,boy .. year' read ,in fourth year of public education, i.e. ten years old'"; παις: „V. at Sparta, boy in fifth year of public education, i. e. eleven years old" usw. - πρατοπάμπαις: ,= πρόπαις'; πάμπαιδες: „in athletic contests, juniors" mit Verweis auf IG XII 9,952.5 aus Chalkis (2. Jh. v. Chr.) und IG VII 1764.13 aus Thespiai (2. /1. Jh. v. Chr.).
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und darauf folge die Zeit der Ephebie vom 14. bis 20. Lebensjahr, also die Zeit, die zur vollen körperlichen Reife, der Hébe, hinfuhrt. Diese Ansicht vertraten - jeweils leicht modifiziert - Wolfgang Knauth in einem Aufsatz von 1933, Henri-Irénée Marrou in einem Aufsatz aus dem Jahre 1946 und in seiner „Geschichte der Erziehung", Albert Billheimer in einem Aufsatz aus dem Jahre 1947 und Richard Meister in einem Beitrag noch aus dem Jahre 1963.20 Die letztgenannten Autoren vertraten nach Bekanntwerden der Strabonglosse die Ansicht, daß diese Glosse gegenüber der Herodotglosse als unlogisch aufgebaut anzusehen sei und daher nicht auf eine unabhängige Überlieferung zurückgehe.21 Henri-Irénée Marrou faßt jeweils vier bzw. fünf Jahrgänge zu einer Gruppe zusammen, wohl um die Nachrichten der Glossen mit den Informationen in der „Vita des Lykurgos" Plutarchs und in Xenophons „Verfassung der Lakedaimonier" in Einklang zu bringen, die von zwei Phasen der Erziehung sprechen. Die erste Gruppe der kleinen Kinder vom achten bis zum elften Lebensjahr umfasse den Rhobidas, Promikkidsómenos, Mikkidsómenos und Própais, die zweite Gruppe der Kinder im zwölften bis zum 15. Jahr den Pratopámpais, Hatropámpais und zwei Jahrgänge der Melleirenes. Eine dritte Gruppe hätten die Jugendlichen im 16. bis 20. Jahr mit vier Jahrgängen der Eirénes und dem des Proteires gebildet. Nach Richard Meister standen die Melleirenes im 13. Lebensjahr. Mit dem 15. Lebensjahr habe dann die Ephebie begonnen, so daß sich fur Meister (wie bereits vorher für Knauth) eine Zwischenzeit von einem Jahr ergibt. Dies sei die Zeit der Krypteia gewesen. Die Zeit als Eirén habe vom 15. bis zum 20. Lebensjahr gereicht, bis zum Ende der Ephebie.22 Eine dritte Position ging von einer Neubewertung der Strabonglosse aus. Bereits Aubrey Diller hatte in der Erstpublikation der Strabonglosse auf den logischen Aufbau des Textes hingewiesen. In einer Erläuterung zur Betonung der Wörter, die auf -ην enden, sei auch das Begriffspaar 20
Knauth, Knabenerziehung (wie Anm.7) 160-165; der Beitrag ist allerdings geprägt von völkischem und rassistischem Gedankengut. So 185: „Alle Maßnahmen dieser Erziehung sind bestimmt von dem völkischen Selbsterhaltungstrieb eines zwar primitiven, aber körperlich und seelisch kerngesunden Stammes"; Marrou, Classes d'âge (wie Anm. 14); ders., Erziehung (wie Anm. 2) 31 -46. - Billheimer, Age-Classes (wie Anm. 19). - Richard Meister, Die spartanischen Altersklassen vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie betrachtet (Sitzungsber. d. Österr. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 241,5), Wien u. a. 1963, 6. 21 So hat Billheimer, Age-classes (wie Anm. 19) 102, die Strabonglosse ausdrücklich verworfen. Da sich die Bezeichnungen der Jahrgänge auf die Zeit vor der Ephebie beziehen müßten, komme der Herodotglosse die größere Glaubwürdigkeit zu. 22 Meister, Altersklassen (wie Anm.20) 9f.; 12. Ebenso Knauth, Knabenerziehung (wie Anm.7) 162 f.; 179.
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είρήν und μελλείρην einbezogen worden. So wie der Autor der Glosse das Wort βυσσαύχην mit wenigen Worten erläutere, so in gleicher Weise das Wort μελλείρην. Dann verweise der Kommentator auf die Zeit der Ephebie von 14 bis 20 Jahren, da in diese Zeitspanne Melleiren und Eirén gehören. Daran schlösse sich die Aufzählung der Altersgruppen in Sparta an. Aus dem Aufbau der Glosse und der Reihung mit μεν - δέ sei zu folgern, daß die Zeit der Ephebie mit den anschließend genannten sieben Altersstufen identisch ist. Dieser These folgten Kathleen M. T. Chrimes und - ebenfalls mit Berufung auf die Strabonglosse - Douglas MacDowell.23 C.M. Tazelaar baut darauf eine kompliziertere Rekonstruktion auf, indem er versucht, die Angaben der Strabonglosse mit den Angaben bei Plutarch in Einklang zu bringen. Er rechnet dabei vom Eirén zurück. Da der Eirén nach Plutarch 20 Jahre alt gewesen und im zweiten Jahr aus den Paides herausgewachsen sei, müsse Rhobidas der zwölf Jahre alte Junge gewesen sein (d.h. er stand im 13.Lebensjahr). Die speziellen Namen der Glossen würden also mit der von Plutarch bezeichneten zweiten Phase der Erziehung, also mit zwölf Jahren, einsetzen. Im 19. Lebensjahr habe nach der Zeit als Melleiren die Agogé und die Zeit der Ephebie geendet; die Heranwachsenden seien nun Ex-paides gewesen. Der Autor der Strabonglosse hätte fälschlicherweise nach dem Melleiren den Eirén noch angefügt, obwohl dieser kein Ephebe mehr gewesen sei. Zwischen dem Ende der Erziehung im 19. Lebensjahr und der vollen körperlichen Reife mit 20 Jahren liege ein Zeitraum von etwa zwei Jahren (nämlich der Rest des 19. und das volle 20. Lebensjahr). Die aus dem Erziehungssystem herausgetretenen E x-paides seien zwar grundsätzlich heeresdienstpflichtig gewesen, gehörten aber noch nicht zu den kämpfenden Truppen. Sie seien die νεώτεροι gewesen, die deswegen πρωτείραι hießen. Erst im dritten Jahr, also mit 20 Jahren, seien sie zu den Kombattanten gekommen und hätten als Anführer die Leitung einer Kinderoder Jugendgruppe übernommen. Aufgrund dieser neuen Aufgaben sei dieses dritte Jahr begrifflich hervorgehoben worden; der Eirén sei dann τριτίρην, ,JEirén im dritten Jahr", gewesen, ein Begriff, der inschriftlich
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MacDowell, Spartan Law (wie Anm. 1 ) 162 (der Rhobidas war 14, der Eirén 20 Jahre alt). Ebenso Claude Caíame, Choruses of Young Women in Ancient Greece. Their Morphology, Religious Role, and Social Function, Lanham u. a. 1997 (frz. Originalausgabe: Rom 1977), 158 und mit einigen Modifikationen Link, Kosmos Sparta (wie Anm. 3)111 Anm. 23. Nach Meinung von Link sind die Eirénes zwischen 20 und 30 Jahre alt (ebd. 30).
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bezeugt ist. D i e jungen Männer blieben dann bis zum 30. Lebensjahr Eirénes.24 Soweit die Rekonstruktion v o n Tazelaar. In einer neueren Monographie hat sich N i g e l M. Kenneil nochmals ausführlich mit den spartanischen Altersklassen auseinandergesetzt. Es sei methodisch fragwürdig, aus literarischen Quellen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. und des 1. und 2. Jahrhunderts n.Chr. sowie aus Inschriften unterschiedlicher Epochen ein geschlossenes Gesamtbild zusammenfugen zu wollen. D i e Reformen Kleomenes' III. 2 2 7 - 2 2 5 v.Chr., die Zugehörigkeit Spartas z u m Achäischen Bund und die römische Herrschaft nach 146 v.Chr. hätten zu Brüchen gefuhrt, die sich sicherlich auch im Erziehungswesen niedergeschlagen hätten. Eine Rückkehr zu angeblich lykurgischen Traditionen müsse nicht bedeuten, daß das in der Archaik und Klassik bestehende Erziehungssystem in derselben Form wiederhergestellt worden sei. Dieser Einwand, daß Zeugnisse unterschiedlicher Epochen miteinander kombiniert werden, ist sicherlich grundsätzlich berechtigt. Kenneil trennt daher chronologisch strikt in drei Phasen, die Phase der klassischen Agogé bis etwa 255 v. Chr, die Phase von ca. 225 bis 188 v.Chr. und die Agogé
in römischer Zeit v o n 146 v.Chr. bis ins
4.Jahrhundert n.Chr., und weist die Quellen diesen unterschiedlichen 24
Tazelaar, Paides (wie Anm. 1) 131-137; 140-144; 148. Tazelaar vertritt also nicht die Ansicht, daß die Begriffe der Altersgruppen genau die der Ephebie, also des 14. bis 20. Lebensjahres, sind: „Hence it follows that the information in the glosses about the nomenclature of the year-classes and the ages of the epheboi are not so closely related to each other as the word-order in the sentence would suggest" (150). Dirk-Achim Kukofka, Die παιδίσκοι im System der spartanischen Altersklassen, Philologus 137,1993,197-205, folgt weitgehend Tazelaar: Im Zwischenjahr des 19. und 20. Lebensjahres seien die Heranwachsenden paidiskoi gewesen und hätten als solche die Krypteia absolviert. Micheli, Sparta (wie Anm. 2) 169-171, vertritt eine ähnliche Rekonstruktion wie Tazelaar, geht aber nicht von einem Zwischenjahr aus, sondern setzt für das 19. Jahr den Eirén an, fur das 20. den πρωτείρης, für das 21. den (nicht bezeugten) διείρης usw. Ausdrücklich bezieht sich auch Lupi (Generazioni [wie Anm. 4] 30) auf die These von Tazelaar. Die Begriffe der Glossen bezögen sich auf die Heranwachsenden vom 14.-20. Lebensjahr, und Eirén heiße der junge Mann zwischen 20 und 30 Jahren. 25 Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 6-27. Für die klassische Zeit seien Herodot und Xenophon heranzuziehen, bei denen die Lesungen Eirén aber moderne Konjekturen darstellen, außerdem die verlorenen Verfassungen der Lakedaimonier von Kritias, Dikaiarch und Aristoteles, sowie Piaton, der die spartanische Ordnung für sein Modell heranzog (14-19). Zustimmung findet Kenneil bei Ducat, Spartan Education (wie Anm. 2), der es für nahezu unmöglich hält, aus den verstreuten und späteren Hinweisen das klassische Erziehungssystem Spartas zu rekonstruieren, wie die Publikation von Kenneil deutlich gemacht habe (44). Auch Michael Lipka, Xenophon's Spartan Constitution. Introduction, Text, Commentary (Texte und Kommentare 24), Berlin u. a. 2002,131, akzeptiert die Rekonstruktion von Kennell. Martin Dreher folgt Kennell darin, daß „Plutarch (...) im wesentlichen das nach Jahrgängen gegliederte Erziehungswesen der römischen Zeit beschreibt, wie es erst in den
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Phasen zu.25 Die Glossen mit den Namen der Altersklassen weist Kennell der hellenistischen, zweiten Phase zu, die Inschriften und die Nachrichten bei Pausanias der dritten Phase.26 Nach Meinung von Kennell besagten die Glossen, daß ein Junge mit 14 Jahren zum Rhobidas geworden sei. Er folgt also dem Ansatz von Diller, Chrimes und MacDowell. Als Rhobidas habe für den spartanischen Jungen die Zeit der Ephebie begonnen, die er bis zum Alter von 20 Jahren durchlaufen habe. Da eine Zählweise im Griechischen mit μέχρι exklusiv oder inklusiv verstanden werden könne, sei auch der bereits 20jährige Eirén noch als Ephebe zu bezeichnen.27 Nach Kenneil beziehen sich die Glossen also allein auf die Zeit des Heranwachsens. In einer letzten ausführlicheren Behandlung der spartanischen Erziehung übernimmt Jean Ducat diese Rekonstruktion von Kenneil.28 Ducat akzeptiert die These, daß die Namen der Jahrgänge mit 14 Jahren einsetzten und somit die auf hellenistische Zeit zurückgehenden Glossen ein Erziehungssystem präsentierten, das sich von dem der klassischen Zeit grundsätzlich unterscheide, wie es uns in Xenophons „Verfassung der Lakedaimonier" entgegentrete. Also: Statt der Unterteilung in eine frühere und eine spätere Erziehungsphase habe es in hellenistischer Zeit nach Auskunft der Glossen eine eher kontinuierliche Abfolge von Jahrgängen gegeben. In römischer Zeit seien - so Kenneil - die beiden ersten Altersgruppen entfallen. Deswegen ließen sie sich in den kaiserzeitlichen Inschriften nicht belegen. Da die Mikidsòmenoi jetzt zum ersten Jahrgang geworden seien, sei das Suffix -χι- hinzugefügt worden, so daß der Begriff μικκιχιζόμενος nun „den ganz Kleinen" bezeichne. Bei all diesen Überlegungen zur Deutung der Altersbezeichnungen bleiben aber Schwierigkeiten bestehen. Bei den früheren Erklärungen lassen sich die Begriffe nicht problemlos auf je einen Jahrgang beziehen, so daß Zwischenzeiten' angenommen oder einzelne Begriffe wie der des Melleiren oder des Eirén auf mehrere Jahre gestreckt werden müssen.29 Dies wird allein vermieden, wenn man die erste Altersstufe erst mit 14 Jahren beginnen läßt, so wie dies von Diller, Chrimes, MacDowell und Kennell Reformen des 3. Jahrhunderts v. Chr. begründet wurde", zweifelt aber daran, „daß der Staat bereits im 6. Jahrhundert die Form der Erziehung vorgeschrieben und dafür Amtsträger bestellt hat" (Martin Dreher, Athen und Sparta, München 2001, 55). 26 Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 20-27. 27 Ebd. 36-39. 28 Ducat, Spartan Education (wie Anm. 2) 48 f. Ebenso Stephen Hodkinson, The Development of Spartan Society and Institutions in the Archaic Period, in: Lynette G. Mitchell, Peter J. Rhodes (Hg.), The Development of the Polis in Archaic Greece, London u.a. 1997, 83-102, 97 f. 29 So etwa bei der These von Billheimer, Age-Classes (wie Anm. 19) 104.
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postuliert wird, was aber zur Folge hat, daß sich für die 15, 16 und 17 Jahre alten heranwachsenden Jugendlichen mit den Bezeichnungen die ,Vor-Kleinen', die ,Kleinen' und die ,Vor-Kinder' Begriffe ergeben, die für diese Altersgruppe kaum angemessen sind. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, warum allein fur eine zweite Phase der Agogé Namen für jede Jahrgangsstufe existierten, aber keine für die erste Phase, wenn es eine solche in hellenistischer und römischer Zeit denn noch gab. Bei meinen eigenen Überlegungen möchte ich von den Bezeichnungen der Altersgruppen ausgehen. Charakteristisch für sie ist, daß jeweils zwei Begriffe aufeinander Bezug nehmen: Promikidsömenos auf Mikidsómenos, Própais auf País und Melleiren auf Eirén. Vor jede dieser Altersphasen ist also eine ,Vor-Phase' vorgeschaltet. Aus den ,Vorkleinen' werden ,Kleine', aus den ,Vorkindern',Kinder', aus dem ,zukünftigen Eirén' ein ,Eirén'. Es ergeben sich so drei Hauptphasen (,Kleine', ,Kinder', ,Eirén'), auf die jeweils eine Vorbereitungsphase hinführt. Die aufeinander bezogenen Begriffe werden aber keine Einheit gebildet haben, sondern umrahmen die entscheidenden Augenblicke der Initiation in eine neue Phase des Lebens, so wie bei uns die Begriffe ,Vorschulkind' und .Schulkind' den Tag der Einschulung als den entscheidenden Wendepunkt. Die bisherigen Interpretationsversuche berücksichtigen diese Einschnitte, die sich in der Terminologie deutlich abzeichnen, nicht. Warum ist - folgt man etwa der These von Billheimer - der Übergang vom neunten zum zehnten und vom elften zum zwölften Lebensjahr in einer bestimmten Weise herausgehoben? Warum haben wir keinerlei Indizien dafür, daß folgt man der These von Tazelaar - der Übergang vom 15. zum 16. und vom 17. zum 18. Lebensjahr ein besonderer Einschnitt in der Erziehung oder im Prozeß der körperlichen und geistigen Reifung war? Meines Erachtens findet das Puzzlespiel eine elegantere Lösung, wenn man nicht, wie bisher die meisten Interpretationsversuche, einem Altersbegriff genau ein Lebensjahr zuweist, sondern einen Altersgrad. Ένιαυτός in den Glossen sollte nicht als Synonym für ετος - ,Jahr' verstanden, sondern auf diejenigen bezogen werden, die ,in derselben (Altersstufe)' standen.30 30
Die früheren Lösungen gingen in der Regel von je einem Jahr aus; so ζ. B. Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 6: „6 Klassen in der Dauer je eines Jahres"; MacDowell, Spartan Law(wieAnm. 1) 159: „different names were given to boys in each individual year"; Lupi, Generazioni (wie Anm.4) 30: „una durata annuale"; ebd.45: „il principio dell'annualità dei gradi". Offener beurteilte Marrou, Classes d'âges (wie Anm. 14) 226, die Angaben: „Je ne crois pas que les classes énumérées aient été des classes rigoureusement annuelles comme semble le suggérer le terme ένιαυτόν employé par nos scoliastes byzantins". Da man πρατοπάμπαις und άτροπάμπαις nicht mit πρόπαις und παις gleichsetzen könne
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So lassen sich die überlieferten Namen von der Wortbedeutung her weitaus zwangloser mit den verschiedenen Altern verbinden. Geht man also zum Beispiel davon aus, daß jeweils etwa drei Jahrgänge zu einer Altersgruppe zusammengefaßt waren, wäre Rhobidas das Kind von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr, Promikidsómenos (der ,Vorkleine') das Kind vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr.31 Die , Vorkleinen' wären dann diejenigen, die bei der Mutter aufgezogen werden und noch nicht in die Agogé eingetreten sind, also die Vorschulkinder'.32 Dann folgt der entscheidende Schritt, der Eintritt in die außerhäusliche Erziehung, wodurch aus dem Promikidsómenos zunächst ein Mikidsómenos (ein ,i-Dötzchen') wird, ein Junge im Alter von etwa sechs bis acht Jahren. Es folgt dann eine weitere Vorbereitungszeit als Própais, bei denen die Knaben im Alter von etwa neun bis elf Jahren auf eine zweite Phase der außerhäuslichen Erziehung hingeführt werden. Mit zwölf Jahren sind sie dann Paides und werden mit 15 bis 17 Jahren, in einer Zeit, in denen sie den Paides noch angehören, wie Plutarch sagt, als Melleirenes auf die Zeit vorbereitet, in der sie selbst Gruppen von Kindern und Heranwachsenden leiten. Diese Aufgabe erfüllen sie mit etwa 18, 19 und 20 Jahren.33 Damit sind wir bei (πάμπαις ist ein .voller Knabe', der deswegen nicht πρόπαις sein könne), sprächen die Begriffe für eine Aufteilung der παΐς-Phase, die also länger als ein Jahr gedauert habe. Ein weiteres Indiz für solch längere Phasen sei das Fehlen des Begriffs πρόπαις in den Inschriften: „La conséquence s'impose: comme celle de παις, la classe de μικιζόμενος durait plus d'un an, πρόπαις étant le nom particulier du μικιζόμενος de dernière année" (227). Rhobidas, Promikidsómenos und Própais könnten nach Marrou Spitznamen sein, die nie offiziell gebraucht wurden und nur begrenzte Zeit existierten. 31 Rhobidas ist etymologisch nicht geklärt. Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 7 f., leitet es von ρωρδας zu homerisch ρώομαι (*ρώρομαι) - „sich heftig bewegen" ab. Rhobidas wäre demnach „der sich heftig bewegende Knabe". Zur Etymologie vgl. auch Billheimer, Age-Classes (wie Anm. 19). 32 Für Mikidsómenos bzw. Mikichidsómenos sind verschiedene Schreibweisen überliefert: mit -κ- und -κκ-, mit -δ-, -δδ-, -ζ-, -ττ-. Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 8, vermutet als ,korrekte' Schreibweise μικκιχιζόμενος, wobei dorisch μικκός für μικρός steht und -ιχ- eine deminutive Nuancierung darstellt, also ,ganz Kleiner',,Kleinchen'. Ebenso Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 93. 33 Έφηβεύω und έφηβος können sowohl den Prozeß der Reifung (in den Glossen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren), als auch die Zeit der erreichten Reife bezeichnen. Nach einer Notiz des Hesychios, der den Melleiren mit dem Melléphebos gleichsetzt, wären in Sparta Epheben im engeren Sinne erst die Eirénes (Hesych. s.v. μελίρην μελλέφηβος). Nach Xen. Kyrop. 1,2,8 lernten die paides bis zum Alter von 16 oder 17 Jahren das Bogenschießen. Anschließend würden sie zu Epheben (nach Meister, Altersklassen [wie Anm. 20] 10, orientiert sich diese Äußerung an der Erziehung in Sparta). Nach Censorinus hätten die Griechen für den dritten Lebensabschnitt, den des Heranwachsens, drei,Grade' angesetzt. Die Zeit der Reife sei bei einem Alter von 16 Jahren erreicht (Cens. 14,8: De tertia autem aetate adulescentulorum tres gradus esse factos in Graecia priusquam ad viros perveniatur, quod vocent annorum quattuordecim παιδα, μελλέφη ßov autem quindecim,
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dem von Plutarch angegebenen Fixpunkt, wonach der Eirén als Gruppenleiter etwa 20 Jahre alt war und die Spartaner diejenigen Eirénes nennen, die im zweiten Jahr aus dem Knabenalter heraus sind, Melleirenes hingegen diejenigen, die von den Knaben die ältesten sind.34 Kathleen M. T. Chrimes hatte bereits die These vertreten, daß bei Plutarch (wie bei der römischen Kaienderzählung) eine inklusive Zählung gemeint sein wird, also die Zeit als Eirén unmittelbar an die als Melleiren anschließt.35 Damit ergeben sich aus den wahrscheinlich auf einer hellenistischen Quelle beruhenden Bezeichnungen vier Phasen im spartanischen Erziehungswesen, wobei Rhobidas und Promikidsómenos die Phase vor Eintritt in die Agogé bezeichneten, Mikidsómenos und Própais eine erste Phase der Agogé, Pais und Melleiren eine zweite Phase der Agogé und Eirén die Phase, in der die Herangewachsenen selbst die Leitung einer Gruppe übernahmen.36 Dies ließe sich weitgehend mit den Angaben Plutarchs in seiner „Vita des Lykurgos" verbinden. Danach begann die außerhäusliche Erziehung mit sieben Jahren. Bei einem Alter von zwölf Jahren - das wäre nach der hier vorgelegten These der Übergang von den ,Kleinen' zu den ,Kindern' - wurde die Ausbildung härter. Äußerlich wurde der Übergang in die zweite Phase durch die kurzgeschorenen Haare betont.37 Ge-
dein sedecim εφηβον, tunc septendecim έξέφηβον). Zur changierenden Bedeutung von έφηβεύειν und ήβησαι als Prozeß der Reifung und erreichte Reife Tazelaar, Paides (wie Anm. 1) 144-147. 34 Plut. Lykurgos 17,4; 17,3. 35 Plut. Lykurgos 17,2: εϊρενας δέ καλοϋσι τους έ'τος ήδη δεύτερον έκ παίδων γεγονότας, μελλείρενας δέ των παίδων τους πρεσβυτάτους. Zu δεύτερος im Sinne von nächster' LSJ s.v. δεύτερος 1,2. Kathleen M.T. Chrimes, Ancient Sparta. A Re-Examination of the Evidence, Manchester 1949, 86 ff.; 247 u. add. Eine ausfuhrliche Diskussion dieser These bei Tazelaar, Paides (wie Anm. 1) 136-139, der sie aber verwirft, m.E. mit nicht überzeugenden Argumenten. Auch MacDowell, Spartan Law (wie Anm. 1) 162, hält Tazelaars Überlegungen in diesem Punkt für eine „incredible theory". Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 36 f., greift wieder auf die Interpretation von Chrimes zurück und übersetzt: „Eirenes they call those, who left the boy's class the year before and melleirenes the eldest of the boys". Kenneil lehnt eine .Zwischenzeit', die eine militärische Vorbereitungszeit hätte sein können, ausdrücklich ab. 36 Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 7; 8 f., faßte hingegen den Pais und den Própais zusammen. Vgl. insbesondere 15: Bei den Benennungen der Jahrgänge „wurden das 9. und 10. und das 11. und 12. Jahr als näher zusammengehörig betrachtet, während das 8. [Rhobidas] gleichsam als eine Art Vorbereitungsjahr fur sich stand". 37 Plut. Lykurgos 16,11. Nach Meinung Kennells, Gymnasium (wie Anm.2) 32-35, bestehe zwischen der Angabe in Plut. Lykurgos und Xen. Lak. pol. 3,1 (έκ παίδων εις τό μειρακιοΰσθαι έκβαίνωσι) ein Widerspruch, da ein meirakion 14 oder 15 Jahre alt sein dürfte.
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hörten die Melleirenes noch zu den Ρaides ^ so hatten die etwa 20 Jahre alten jungen Männer die Altersgruppe der Paides verlassen und konnten ihre Haare wieder lang wachsen lassen.39 Meines Erachtens sprechen einige weitere Hinweise für diese Lösung. Es fallt auf, daß bei den Weiheinschriften, die anläßlich eines Sieges bei den Agonen im Artemis-Orthia-Heiligtum aufgestellt wurden, keine dabei sind, die sich auf die Altersgruppe des Rhobidas oder des Promikidsómenos beziehen. Wenn dies aber die Bezeichnungen deijenigen kleinen Kinder sind, die noch vor dem Eintritt in die Agogé stehen, erklärt sich dieses Fehlen in den Siegerinschriften zwanglos. Erst die Mikidsómenoi und die älteren Knaben haben mit Eintritt in die Agogé an den Agonen teilgenommen und konnten ihre Siege in einer Weiheinschrift feiern.40 Da auch die Stufen πρόπαις und παις in den Inschriften fehlen, hat man vermutet, daß in der Kaiserzeit die Bezeichnungen Pratopámpais und Hatropâmpais an deren Stelle getreten sind.41 Da der Begriff πάμπαις aber den ,ganzen País', den .vollen País' bezeichnet, halte ich eine Gleichsetzung einer dieser Begriffe mit Prôpais fur unwahrscheinlich. Auch Henri-Irénée Marrou hatte sich bereits gegen diese Gleichsetzung ausgesprochen.42 Die Própaides könnten im inschriftlichen Material des38
Auch nach Suda s. ν. μελείρηνες waren die Melleirenes die älteren Knaben, gehörten also noch zu den Paides (των παίδων πρεσβύτεροι)· In IG V 1,296 ist für diese Phase der Begriff μελλειρονεία bezeugt. 39 Xen. Lak. pol. 11,3: υπέρ την ήβητιχήν ήλικίαν; Plut. Lykurgos 22,2: εύθύς έκ τ ή ς των έφηβων ήλικίας. Siehe dazu MacDowell, Spartan Law (wie Anm. 1) 167, und Lipka, Spartan Constitution (wie Anm. 25) 193 f. Link (Kosmos Sparta [wie Anm. 23] 111, Anm. 23) glaubt, daß sich die Jugendlichen „sofort von der Altersstufe der Epheben an", also mit 14 Jahren, die Haare wieder lang wachsen lassen konnten. Meines Erachtens kann der Begriff der Ephebie aber nicht so eindeutig gefaßt werden. In der Sache folge ich daher MacDowell und Lipka. 40 Siehe oben Anm. 17 und insbesondere den Kommentar von Woodward, Inscriptions [1929] (wie Anm. 17) 285-296. Auf das Fehlen der ersten beiden Altersstufen ist häufig hingewiesen worden (Meister, Altersklassen [wie Anm. 20] 7; Tazelaar, Paides [wie Anm. 1] 130). Tazelaar (Paides [wie Anm. 1] 151) erklärt das Fehlen damit, daß erst mit der Ephebie, nach seiner Rekonstruktion also mit dem 15. Lebensjahr, die Knaben an den Wettkämpfen teilgenommen hätten. Er verweist dabei auf Paus. 3,11,2, wo von των έφηβων αγώνες die Rede ist. Zu den Inschriften siehe auch Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 28 f. 41 So Kennell, Gymnasium (wie Anm. 2) 29. Außerdem sei in römischer Zeit der Begriff mikizomenos zu mikkichizomenos verändert worden. 42 Meister, Altersklassen (wie Anm.20) 8f.: άδροπάμπαις sei „der reife, ausgewachsene πάμπαις gegenüber dem im ersten Stadium befindlichen πρατοπάμπαις. Es entspricht also πρατοπάμπαις dem πρόπαις (11. Lebensjahr), άτροπάμπαις dem παις (12. Lebensjahr)". Ebenso Lupi, Generazioni (wie Anm. 5) 30 Anm. 16: „πρατοπάμπαις e άτροπάμπαις in luogo di πρόπαις e παις". Siehe dazu den Einwand von Marrou (Classes d'âge [wie
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wegen fehlen, weil sie sich noch in der Phase der ,Kleinen', der Mikidsómenoi befanden, die unter dieser Bezeichnung an den Wettkämpfen teilnahmen. Die Begriffe πρατοπάμπαις und άτροπάμπαις stellen entweder eine Differenzierung der Pais-Phase dar oder haben die Begriffe Pais und Melleiren ersetzt. Dies könnte dann erklären, warum - von einer Ausnahme abgesehen - auch inschriftliche Belege für Melleirenes fehlen.43 Wenn die Vermutung zutrifft, daß die Begriffe πρατοπάμπαις und άτροπάμπαις eine Differenzierung der Paw-Phase widerspiegeln und den Stufen der Paides und Melleirenes entsprechen, dann könnte dies mit der Nachricht des Plutarch in Verbindung gebracht werden, daß sich die Eirénes fur die Zubereitung ihrer Mahlzeiten der Knaben bedienten, wobei sie „den reiferen Knaben" (τοις άδροΐς) auftrugen, Holz zu bringen, „den kleineren" (τοις μικροτέροις), Gemüse zu besorgen. Hinter diesen Begriffen könnten sich entweder die ,Kleinen' (die Mikidsómenoi) und die ,Kinder' (die Paides) oder die Paides und die Melleirenes verbergen.44 Zur Unterstützung der hier vorgelegten These lassen sich weitere verstreute Notizen beibringen. Nach einer Erklärung des Hesychios ist μελλόπαις, also ,der zukünftige Pais\ „der im Alter fortgeschrittene Junge von zehn Jahren an" (ό από δέκα έτων, προκόπτων παις τη ηλικία).45 Dies würde sich vom Begriff her mit dem Própais der Glossen decken, der nach meiner These im Alter von etwa neun bis elf Jahren stand. Nach einem Lemma des Photios sei Synéphebos „derjenige, der zusammen mit einem Altersgenossen zur Reife kommt. Die Eleier nennen ihre Epheben Skythai, die Spartiaten hingegen Sideünai. Sie haben sie nämlich nach der Reife unterschieden, also die um 15 und weitere Jahre alten (JugendAnm. 14] 226: „Le πάμπαις est celui qui est devenu pleinement παις: wholly child, in complete boyhood, commente très bien Woodward; il me paraît dès lors inadmissible de confondre propais et pampais de première année"). 43 Auch die Bezeichnung πάμπαις - der „volle Knabe" - setzt eine Vorstufe eines noch nicht zum vollen Knaben Herangewachsenen voraus. Es wird dies die Stufe der k l e i nen' sein. Άτρο- kann von ατερο- (= ετερο-) oder von άδρός („stark, herangewachsen") abgeleitet werden. Πρατοπάμπαις (das dorische Wort fur πρωτοπάμπαις) bezeichnet also den „ersten (im Sinne von ,Leitenden') der vollen Knaben" oder den „vollen Knaben im ersten Jahr", άτρο- oder άτροπάμπαις (auch άδροπάμπαις) den „vollen Knaben im nächsten, zweiten Jahr" oder den „reifen vollen Knaben". Zur Etymologie Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 8 f. Einige der erhaltenen Inschriften lassen aufsteigende Reihungen erkennen, so in IG V 1,279 (= Woodward, Inscriptions (1929) [wie Anm. 17] Nr. 31) Pratopampaides, Hatropampaides und Eirenes und in IG V 1,296 (= Woodward Nr. 41): άπό μικιχιζομένων μέχρι μελλειρονείας. Nach Kennell, Gymnasium (wie Anm. 2) 93, bedeuten Prato- und Hatropampais „first and second years of full boyhood". 44 Plut. Lykurgos 17,4. 45 Hesych. s. v. μελλόπαις.
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liehen) von den jüngeren Knaben, und sie übten sie darin, Männer nach ihrem eigenen Vorbild zu werden". In dieser Notiz sind zwei bzw. drei Altersstufen genannt. Die jüngeren Knaben standen noch vor dem Prozeß des Heranreifens und waren keine Epheben. Die Sideúnai genannten Epheben befanden sich in einem Zwischenstadium, an das sich die Zeit als ,Männer' anschloß.46 Der darüber hinaus bei Photios belegte Begriff des πρωτείρης (,der erste Eirén'Y7 und der inschriftlich belegte Begriff τριτίρης (ein ,Eirén im dritten Jahr') sprechen für eine Binnendifferenzierung einer länger als ein Jahr andauernden Altersphase.48 Möglicherweise wurden die herangewachsenen Spartaner nach der Zeit als Eirénes unter die Sphaireis aufgenommen.49 Die Sphaireis, eine Bezeichnung, die sich eher von einem mit dem Ball ausgetragenen Mannschaftswettkampf herleiten dürfte als von einer Art Boxsport, traten in Mannschaften nach Obai getrennt gegeneinander an. Nach Pausanias sind die Sphaireis die-
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Phot. s.v. συνέφηβος· ό μετά τίνος των ήλικιωτών έφηβεύσας· τούς δέ εφήβους Η λ ε ί ο ι μεν σκύΟας καλοΰσιν. Σπαρτιάται δέ οιδεύνας. διέκρινον δέ αυτούς αρα Tfl ήβη, τουτέστιν περί πεντεκαίδεκα και έξης δεκα έ'τη (Konjekturen: εξ και δέκα; έκκαίδεκα; και έξης έ'τη; έ ξ ή σ δ ε κ α - „um 15 usw. Jahre" bzw. „die 15 und weitere 10 Jahre", so Meister, Altersklassen [wie Anm. 20]) γεγονότος των νεωτέρων παίδων και καθ' έαυτούς ήσκουν άνδροϋσθαι. Auffällig ist die Formulierung περί πεντεκαίδεκα etc., was nahelegt, daß es keine starren Altersgrenzen waren, sondern Phasen, die sich an körperlicher und geistiger Reife orientierten. 47 Phot. s.v. κατά πρωτείρας· πρωτεΐραι oi περί εϊκοσιν έ'τη παρά Λάκωσι; vgl. Hesych. s.v. κατά πρωτείρας· ηλικίας όνομα οί προτεΐρες παρά Λακεδαιμονίοις. Vom Begriff her könnten die πρωτείραι die .ersten', also die jüngeren' der Eirénes gegenüber den älteren sein oder die führenden Eirénes. Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 11, erläutert: „,Der junge Mann von zwanzig', der eine Befehlsstellung über die Jüngeren zu erhalten befähigt war, hieß πρωτείρης." Auch für Nilsson sind die Proteirai die 19 Jahre alten Eirenesanführer, die ältesten der Eirénes. Zur umstrittenen Etymologie von ε'ιρήν Meister, Altersklassen (wie Anm. 20) 14 f. 48 I G V 1,1386 (2. Jh. n. Chr.) aus dem messenischen Thuria ist eine Namensliste mit Siegern im Agon unter der Rubrik ΤΡΙΤΙΡΕΝΕΣ. Kenneil, Gymnasium (wie Anm. 2) 20, verweist außerdem auf I G V 1,1120 aus dem späten 5.Jahrhundert mit der Lesung ΤΡΙΕΤΙΡΗΣ. Auch Marrou, Classes d'âge (wie Anm. 14) 230, versteht unter den Triteirenes „les éphèbes de troisième année". Auch MacDowell, Spartan Law (wie Anm. 1) 164, akzeptiert, daß die Phase des Eirén länger als ein Jahr währte. „Perhaps a man was an εϊρην from twenty to thirty, and in the first year of that period was called πρωτείρης (or, if we emend Photios, πρωτείρην), in the third year τριτείρην, and so on." 49 Nach Hesychios sind die Eirenen oí άρχοντες ήλικιώται, also „die ersten, führenden Altersgenossen". Dies ist entweder so zu verstehen, daß Personen dieser Altersgruppe die Führung (der Knabengruppen) übernommen haben oder daß die Eirénes die abschließende Altersgruppe bilden (Hesych. ι 872 s.v. ϊρανες· oí εϊρενες· οί άρχοντες ήλικιώται· Λάκωνες (cod. διώκοντες).
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jenigen, „die aus den Epheben herausgetreten sind und zu den Männern zu gehören beginnen". 50 Es ging mir bei meinen Überlegungen darum zu zeigen, daß sich die Nachrichten über die spartanischen Altersgruppen in hellenistischer und römischer Zeit mit denen bei Xenophon und Plutarch in ihren Grundzügen in Übereinstimmung bringen lassen. Das muß und soll nicht bedeuten, daß wir bereits für die klassische Zeit oder gar die archaische Zeit ein festgefügtes und wohlorganisiertes Erziehungssystem vor uns haben, in dem die Altersstufen exakt voneinander abgegrenzt waren. Ich gehe vielmehr davon aus, daß es zunächst eine gröbere Einteilung gab, eine außerhäusliche Erziehung in zwei Stufen, die der ,Kleinen' und die der ,Kinder', auf die die Zeit als Gruppenführer folgte. Entscheidend für den Aufstieg in die nächste Altersklasse dürften Merkmale körperlicher Reife gewesen sein, so daß das tatsächliche Alter der in die nächste Stufe Beförderten erheblich differiert haben mag. Erst in späterer Zeit wird diese Einteilung stärker strukturiert worden sein, jeweils mit einer Vorbereitungszeit auf die nächste Stufe. Entgegen der Meinung von Nigel M. Kenneil vertrete ich aber die Ansicht, daß die für die hellenistische und römische Zeit nachgewiesenen Namen der Altersgruppen auf eine vierphasige Erziehung zurückschließen lassen und sich daher mit einer dreiphasigen oder, wenn man die Zeit vor der Agogé mitrechnet, einer vierphasigen Erziehung, von der Xenophon und Plutarch berichten, in Einklang bringen lassen. Man mag die Meinung vertreten, bei dem Streit um die Benennung der spartanischen Altersgruppen handle es sich um eine althistorische Quisquilie. Was bedeutet es schon, ob die Begriffe in den Glossen die Kinder vom ersten, vom siebten, vom zwölften oder vom vierzehnten Jahr an bezeichnen und ob sie für ein oder drei Lebensjahre gelten? Ich möchte daher am Schluß auf die Relevanz dieser Frage hinweisen. Alle bisherigen Deutungen gehen davon aus, daß die genannten Altersstufen nur eine begrenzte Phase der Erziehung strukturieren, die davorliegende und die darauffolgende Phase hingegen nicht. Wenn aber die Kinder und Jugendlichen in Sparta von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr, vielleicht sogar 50 Paus. 3,14,6: ... οί αφαιρείς- oí δέ είσιν έκ των εφήβων ές ανδρας αρχόμενοι συντελεΐν. IG V 1, 674-688. Anders als die Siegesinschriften anläßlich der Paidiká sind die Sp/¡a¡>ew-Inschriften über die Stadt verstreut gefunden worden. Vgl. Athen. 1,25 (14 E). Siehe Tazelaar, Paides (wie Anm. 1) 149f., wonach die Sphaireis „certainly are 20 years old. ... How long the period was during which one belonged to these Σφαιρεϊς is not known." Vgl. Meister, Altersklassen (wie Anm.20) 13f.; Kenneil, Gymnasium (wie Anm.2) 38-41.
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noch darüber hinaus, einer festen Altersgruppe zugewiesen waren und gemeinsam in ihrer Gruppe die Altersgrade durchliefen, dann verdichten sich die Hinweise, daß es in Sparta ein Altersklassensystem gegeben hat, das mit solchen, von der ethnologischen Forschung beschriebenen Altersklassensystemen vergleichbar ist.51 In der jüngsten Publikation zur spartanischen Erziehung von 1999 hat Jean Ducat die Existenz eines Altersklassensystems verneint. Dessen Existenz sei allenfalls in den späteren Quellen zu belegen. Xenophon hingegen kannte für die klassische Zeit nur drei Gruppen, Paídes, Paidiskoi und Heböntes. Eine solche Abgrenzung von Altersgruppen habe es aber in allen griechischen Städten, ja in Erziehungssystemen aller Epochen gegeben und stelle kein Spezifikum der spartanischen Erziehung dar.52 Ich bin in diesem Punkt anderer Ansicht. Es ist allein schon bemerkenswert, daß Xenophon seine „Verfassung der Lakedaimonier" im ersten Teil nach Altersphasen gliedert. Auf die Phase der Schwangerschaft und Geburt folgt die Phase der Kindheit, dann die der Jugend, der in der Reife Stehenden und der in der Blüte Stehenden. Auch Plutarchs „Vita des Lykurgos", die eher eine Beschreibung der sog. lykurgischen Ordnung als eine Biographie ist, ist nach Altersstufen aufgebaut: die Zeit als παιδάριον, eine erste und eine zweite Phase der παίδες, schließlich die der Eirénes, des Erwachsenseins und des Alters.53 Wenn zusätzlich auch im Kult, in den sportlichen Wettkämpfen, in den
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Henry Fosbrooke beschreibt die bei den ostafrikanischen Maasai bestehenden Altersgrade. Dabei wird unterschieden zwischen Kindheit, früher Jugend, jüngerer und älterer Kriegerschaft und jüngeren und älteren .Älteren'. Mit seinen Altersgenossen ist der einzelne unter einem gemeinsamen Namen in einer Alterskohorte zusammengefaßt, die als Einheit jeweils ihren Status wechselt (Henry Fosbrooke, Die Altersgliederung als gesellschaftliches Grundprinzip. Eine Untersuchung am Beispiel des Hirtenvolkes der Maasai in Ostafrika, in: Leopold Rosenmayr [Hg.], Die menschlichen Lebensalter. Kontinuität und Krisen, München u.a. 1978, 80-104, 84). 52 Ducat, Spartan Education (wie Anm. 2) 50; 53. Demgegenüber hatte Knauth, Knabenerziehung (wie Anm. 7) 151 ; 160-165, in Anlehnung an Martin P. Nilsson und ethnologische Parallelen von einem spartanischen Altersklassensystem gesprochen. 53 Xen. Lak. pol. 1,3-10: Schwangerschaft und Geburt (τεκνοποιία); 2,2: Phase der Kindheit (παίδες); 3: Phase der Jugend (μειράκια; παιδίσκοι); 4: Phase der in der Reife Stehenden (ήβώντες); 1,6 u. 4,3: Phase der in der Blüte (ακμή) Stehenden, die heiraten und selbst Kinder zeugen. Zu dieser Gliederung MacDowell, Spartan Law (wie Anm. 1) 166, der das ε'ις TO μειρακιοΰσθαι in Xen. Lak. pol. 3,1 verteidigt. Nach MacDowell widmet sich Kapitel 3 den Epheben zwischen 14 und 20 und Kapitel 4 den ήβώντες, den jungen Männern zwischen 20 und 30. Vgl. Stefan Rebenich, Xenophon. Die Verfassung der Spartaner (Texte der Forschung 70), Darmstadt 1998,94-102; Lipka, Spartan Constitution (wie Anm. 25) 135 f. - P l u t . Lykurgos 16,1-6: Zeit als παιδάριον; 16,7-10: erste Phase der παίδες; 16,11 -17,3 : zweite Phase der παίδες; 17,3 -18,7 : Phase der Eirénes·, 24-25 : Phase des Erwachsenseins; 26: Phase des Alters.
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Speisegemeinschaften und in der politischen Institution der Gerusia die Altersgruppen getrennt voneinander waren bzw. die Alten einen Vorrang vor den Jüngeren genossen, dann gewinnt ein Erziehungswesen, in dem die Kinder außerhalb des Hauses und in altersspezifischen Gruppen erzogen wurden, eine besondere Bedeutung. Während der Erziehung lernte jeder, wer einer anderen, einer höheren Altersgruppe zugehörte und wem somit Respekt entgegenzubringen war. In der Erziehung wurde also die Grundlage gelegt für ein Senioritätsprinzip, das alle Lebensbereiche des spartanischen Gemeinwesens durchdrang. In einem Beitrag über die ethnologische Altersforschung hebt Hiltrud Marzi hervor, daß in Gesellschaften mit strengem Senioritätsprinzip den Alten Status und Macht zukamen und es ein formales Ausscheiden der Alten aus der privilegierten Stellung nicht gab. „Die Jüngeren hatten zumeist keine Möglichkeit dagegen aufzubegehren, denn sie standen unter Integrationsdruck in ein System, das es den Alten ermöglichte, Generationskonflikte zu unterbinden."54 Die höhere Autorität der jeweils Älteren sei durch das spezifische Altersklassensystem gesichert worden. Die Charakteristika, die bei Altersklassensystemen in afrikanischen Gesellschaften zu beobachten sind, dürften auch für das antike Sparta gelten. Nach Andreas Sagner „stabilisiert das Altersklassensystem die Macht der Alten, indem es intergenerationelle Bruchlinien als öffentliche Angelegenheiten thematisiert, aber auch indem es eine eindeutige und klar sichtbare Statusordnung etabliert. So wird in vielen Altersklassenordnungen die Klassenzugehörigkeit eines Mannes auch durch äußerliche Attribute wie Haartracht, Kleidung und Körperschmuck, aber auch durch spezifische Verhaltensweisen öffentlich markiert."55 Die Mitglieder eines Altersgrades durchlaufen als porporate body' soziale Positionen, denen bestimmte Aufgaben und Rechte, Macht und Ansehen zugeschrieben sind. Dies erschwert es, persönliche Macht zu akkumulieren, denn keiner kann aus der jeweiligen Altersgruppe ausgeschlossen werden.56 Generationelle Konflikte im Haus werden durch das Altersklassensystem abgefedert.57 54
Marzi, Altersforschung (wie Anm. 13) 15. Sagner, Alter (wie Anm. 10)48. 56 Zum Funktionieren und zu den weitreichenden sozialen und familialen Konsequenzen eines Altersklassensystems siehe auch Fosbrooke, Altersgliederung (wie Anm. 51) 83-97. Zur Vermeidung einer überragenden Stellung von einzelnen oder von einer Gruppe ebd. 95 f. 57 Dazu Sagner, Alter (wie Anm. 10) 37; 46: „Trotz oder gerade wegen dieser institutionellen Ausdifferenzierung des politisch-rechtlichen Bereichs jenseits von Verwandtschaft und Familie tragen Altersklassenordnungen zur nachhaltigen Entlastung von Familien bei. Denn sie heben die häufig äußerst spannungsreichen Beziehungen zwischen Vater und Sohn von der familialen auf die politisch öffentliche Ebene und definieren sie damit um". 55
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Durch das gemeinsame Fortschreiten in den nächsten Altersgrad und durch die ständige Aufsicht von Erziehern, Erastai, des Paidonómos und eines jeden Älteren wurden Respekt und Gehorsam gegenüber dem jeweils Älteren über lange Zeit hin eingeübt, so daß bis ins Erwachsenenalter nachvollziehbar blieb, wer einer höheren Altersklasse angehörte. Damit konnte das Altersklassensystem als wesentliches Strukturprinzip der spartanischen Gesellschaft wirken.58 Hinzu kommt, daß die feste Einbindung in eine Altersgruppe und die strenge Disziplinierung eine Geschlossenheit hervorgerufen haben dürfte, die ein militärisches Übergewicht zu sichern half.59 Nach meiner Ansicht hängen in Sparta die Auflösung bzw. starke Zurückdrängung des Hauses und das auf Altersgruppen aufbauende Senioritätsprinzip eng zusammen. Weil das Haus in Sparta nicht das grundlegende Strukturelement der Gesellschaft bilden konnte, war es notwendig, ein anderes Strukturprinzip an seine Stelle zu setzen, das die Integration der einzelnen in die Gesellschaft gewährleistete. Diesem Zweck diente die streng hierarchische Ordnung der Altersgruppen.
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Vgl. Bernardi, Age Class Systems (wie Anm. 11 ) XIII f.; 3-6. „In the most typical cases, it is age class systems themselves that form the principal element of the social structure" (6); „The particularity of age class systems consists in using age as a principle of social organization" (8). 59 Vgl. dazu Fosbrooke, Altersgliederung (wie Anm. 51) 80 f.: „Einer der Hauptgründe flir ihren [der Maasai] militärischen Erfolg lag zweifellos in ihrer sozialen Organisation nach Kohorten, in ihrem ,age-set-system'. Dieses System brachte disziplinierte, militärisch geschulte Einheiten hervor, welche ihrerseits einer starken politischen Kontrolle unterstellt waren" (80). Die institutionalisierte Gliederung nach Alter erübrigte eine strenge Befehlshierarchie. Zur Einfuhrung von Alterskohorten als Antwort auf eine militärische Bedrohung siehe auch ebd. 103.
Die Geschworenengerichte der späten römischen Republik Kontrafaktische Überlegungen Von
Wilfried Nippel Jede historische Behandlung der römischen Geschworenengerichte steht vor dem Problem einer völlig unzureichenden Überlieferung zur Entwicklung der römischen Strafrechtspflege - Theodor Mommsen hat einmal der Vorstellung von der Vollkommenheit des römischen Rechts mit dem Hinweis auf das „ganz schlechte und zum Theil wirklich niederträchtige römische Criminalrecht" widersprochen.1 Weil die in Strafsachen tätigen Geschworenengerichte der späten Republik eine grundlegende Neuerung darstellen, verbietet sich auch die Möglichkeit des Rückschlusses von besser dokumentierten auf frühere Epochen.2 Indem er endgültig der Mommsenschen Theorie vom zweistufigen magistratisch-comitialen Prozeß3 den Boden entzogen zu haben schien,4 hat Wolfgang Kunkel (1962) für die Zeit bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. tabula rasa geschaffen.5 1
Theodor Mommsen, Die Bedeutung des römischen Rechts (1852), in: ders., Gesammelte Schriften, 8 Bde., Berlin 1905-1913 (ND 1965), Bd.3, 591-600, 595. 2 Jochen Bleicken, Ursprung und Bedeutung der Provocation, ZRG Rom. Abt. 76, 1959, 324-377, 324. 3 Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899. Diese Konzeption hatte Mommsen schon in einer These für seine Doktordisputation 1843 (Omnia populi iudicia capitalia fitìsse ex provocartene) und dann ausführlich 1844 in seiner Besprechung von Gustav Geib, Geschichte des römischen Criminalprocesses (1844), entwickelt; Mommsen, Gesammelte Schriften (wie Anm.l) Bd. 3, 466; 469-494. 4 Vorausgegangen war die Kritik an Mommsens Theorie v. a. bei Christoph H. Brecht, Zum römischen Komitialverfahren, ZRG Rom. Abt. 59, 1939,261-314; Alfred Heuß, Zur Entwicklung des Imperiums der römischen Oberbeamten, ZRG Rom. Abt. 64, 1944, 57133, und Bleicken, Provocation (wie Anm.2). - Eine Rückkehr zu Mommsens Position findet sich aber bei Arnold H. M. Jones, The Criminal Courts of the Roman Republic and Principate, Oxford 1972, und neuerdings u.a. auch bei T. Corey Brennan, The Praetorship in the Roman Republic, 2 Bde., Oxford u. a. 2000, Bd. 1, 125 ff. 5 Wolfgang Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962. - In seiner Rezension sprach Peter A. Brunt von
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Aber auch Kunkel ist es - entgegen seiner Behauptung - nicht wirklich gelungen, das System der Geschworenengerichte in einen „organischen" Zusammenhang mit den vorausgegangenen Prozeßformen zu bringen, die „Geschworenenhöfe der späten Republik" aus der „Linie altrömischer Tradition" zu verstehen.6 Sowohl dem von ihm postulierten alten privaten Anklageprozeß wie den in der modernen Forschung sogenannten quaestiones extraordinariae7 des 2. Jahrhunderts v.Chr. kann man höchstens jeweils einzelne Entsprechungen zum späteren Quaestionenprozeß zuschreiben; daß das Verfahren in seiner wesentlichen Kombination von Popularanklage, magistratischem Vorsitz und Parteienprozeß vor einer Urteilsjury vorgeprägt gewesen sei, läßt sich schwerlich sagen; das gilt auch für andere mögliche Vorbilder aus dem Zivilverfahren, sei es das Verfahren vor Rekuperatoren, sei es dasjenige vor einem Einzelrichter mit consilium. Auch hinsichtlich der spätrepublikanischen Geschworenengerichte gibt es eine Reihe von offenen, immer wieder kontrovers diskutierten Fragen. So hinsichtlich des Repetundenprozesses, der eine Vorreiterrolle für die spätere Praxis aller Geschworenengerichte gespielt hat.8 Die Frage nach Identität und Datierung des wichtigsten Zeugnisses für das strafrechtliche Verfahren in Repetundensachen, nämlich des inschriftlich auf der Tabula Bembina überlieferten Gesetzes,9 wird immer wieder einmal neu aufgeder Einleitung einer „kopernikanischen Wende"; Peter A. Brunt, RHD 32,1964,440-449, 440; in derjenigen von M. Joseph Costelloe, AJPh 86, 1965, 193-197, 193, heißt es: „it seems that Roman criminal law is at last arising from the tortorous bed on which it has been laid [durch Mommsen;~W.N.] and is assuming a more comfortable position". 6 Diese Formulierungen bei Kunkel, Untersuchungen (wie Anm.5) 17; 131, sind allerdings jeweils mit gewissen Einschränkungen verbunden; vgl. aber die Behauptung der strukturellen Gleichheit der Verfahren bei Wolfgang Kunkel, Prinzipien des römischen Strafverfahrens, in: ders., Kleine Schriften. Zum römischen Strafverfahren und zur römischen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Hubert Niederländer, Weimar 1974, 11-31, die auf der Annahme beruht, daß in jedem Verfahren der Spruch des magistratischen Consiliums ausschlaggebend gewesen sei. Dazu Manfred Fuhrmann, GGA 219, 1967, 81-98,91: „Die Lehre vom bindenden Votum der Geschworenen ist somit im Bereich der Justiz eine Art Surrogat der Provokation: Kunkel findet dort ein Analogon der Garantien, welche die bisherige Meinung aus den Provokationsgesetzen abgeleitet hatte." Der Quellenbefund stützt Kunkels These nicht; Fuhrmann, ebd. 94 f. 7 Den Hinweis, daß es sich nicht um einen terminus technicus der Quellensprache handelt, gibt schon Mommsen, Rez. Geib (wie Anm. 3) 483; vgl. Wolfgang Kunkel, Quaestio, in: ders., Kleine Schriften (wie Anm.6) 33-110 (zuerst in: RE 24,1, 1963, 720-786), 35f. 8 Vgl. Walter Eder, Das vorsullanische Repetundenverfahren, Diss. München 1969. 9 Text und Kommentar in: Andrew W. Lintott, Judicial Reform and Land Reform in the Roman Republic. A New Edition with Translation and Commentary of the Laws from Urbino, Cambridge u.a. 1992, sowie in: Michael H. Crawford (Hg.), Roman Statutes, 2 Bde., London 1996, Bd. 1, 65 ff.
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worfen, wenngleich die Mehrheit der Forschung an der Gleichsetzung mit der bei Cicero (Verr. 1,51) erwähnten lex Acilia bzw. mit einem politisch dem Gaius Gracchus zuzurechnenden Gesetz festhält. Viel umstrittener ist, ob schon durch Gaius Gracchus nicht allein die Zusammensetzung der Richterbänke des Repetundengerichts, sondern aller Geschworenengerichte geändert wurde; entsprechend ist auch notwendig umstritten, ob spätere leges iudiciariae der vorsullanischen Zeit jeweils nur die Repetunden- oder alle Geschworenengerichte betrafen; 10 dies alles ist wiederum nicht von der Frage zu trennen, seit wann man überhaupt (schon vor, durch oder erst nach Gaius Gracchus) die Einrichtung solcher ständigen Quaestionen für diverse Delikte ansetzen kann." Weiter ist wohl nicht definitiv zu klären, wer die Ritter sind, die auf der Geschworenenliste stehen; werden sie nur aus dem Kreis der 1800 Staatspferdinhaber genommen12 oder sind grundsätzlich auch diejenigen qualifiziert, die nur den Rittercencus erfüllen? Wer sind schließlich die (prosopographisch nicht zu erfassenden) Aerartribunen, die seit der lex Aurelia des Jahres 70 neben Senatoren und Rittern die Geschworenen stellen?13 Angesichts dieser vielen offenen Fragen, angesichts der Einbettung der Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung der Geschworenengerichte in unterschiedliche politische Konfliktlagen, schließlich eingedenk der Bedeutung der Strafprozesse insgesamt14 bzw. einzelner spektakulärer Fälle für die politische Geschichte der späten Republik gibt es eine kaum noch zu überschauende Literatur. Bei der Fülle von Arbeiten ist jede Behauptung, eine bestimmte Frage sei in der Literatur nicht angemessen behandelt worden, mit dem Risiko der Unseriösität belastet. Die Maxi10 Vgl. für die Annahme der Existenz ständiger Gerichtshöfe vor 123 und einer umfassenden Regelung durch C. Gracchus z.B. Peter A. Brunt, Judiciary Rights in the Roman Republic, in: ders., The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988, 194-239; Dario Mantovani, Gaio Graccho e i dikastai di Plut. C.Gr.3.7, Athenaeum 82, 1994, 13-29; dagegen u.a. Claude Nicolet, Les lois judiciaires et les tribunaux de concussion. Travaux récents et directions de recherche, ANRW 1, 2, 1972, 197-214; Miriam Griffin, The „Leges Iudiciariae" of the Pre-Sullan Era, CQ 23, 1973, 108-126. 11 Vgl. Duncan Cloud, The Constitution and the Public Criminal Law, CAH 9, 2 1994,491 530, 515 ff. 12 So die These von Claude Nicolet, L'ordre équestre à l'époque républicaine (312-43 av. J.-C.), 2 Bde., Paris 1966-1974, Bd. 1; vgl. die Einwände in der Rezension von Jochen Martin, Gnomon 39,1967, 795-803. 13 Vgl. Jochen Bleicken, Cicero und die Ritter, Göttingen 1995, 12 f. 14 Siehe die Zusammenstellung der Daten bei Michael C. Alexander, Trials in the Roman Republic, 149 B.C. to 50 B.C., Toronto u.a. 1990; zum Prozeßrisiko für Senatoren vgl. ders., How Many Roman Senators Were Ever Prosecuted? The Evidence from the Late Republic, Phoenix 47, 1993,238-255.
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me: „Lesen schützt vor Neuentdeckungen", kann man nur in Grenzen beherzigen, wenn man einen solchen Beitrag nicht auf eine jahrelange Spezialisierung auf das Thema und eine entsprechende Beherrschung der Forschungsliteratur gründen kann. Auch wenn ich demnach das Risiko eingehen muß, daß mir Äußerungen in der Literatur entgegengehalten werden könnten, die ich übersehen habe, möchte ich doch die Behauptung aufstellen, daß bestimmte Aspekte bezüglich der grundlegenden Umgestaltung des römischen Strafprozeßrechtes in einschlägigen Arbeiten jedenfalls nicht umfassend diskutiert worden sind. Der erste Anstoß zur Nachfrage kommt von vergleichenden Überlegungen. Für die Antike liegt zunächst der Vergleich mit den Gerichten der attischen Demokratie nahe. Hier ist der Einsatz großer, nach dem Zufallsprinzip aus der gesamten Bürgerschaft ausgewählter Jurys, die nach dem Parteienvortrag ohne Beratung zugleich über Tatbestand wie rechtliche Würdigung entscheiden, Ausdruck der Souveränität des Demos bzw. der Vorstellung, daß sich das Bürgerrecht des einzelnen auch in der Teilhabe am Richten manifestiert. In der Literatur wird auch gern der Vergleich des römischen mit dem angelsächsischen Jurysystem gezogen.15 Die Parallele besteht in der Durchführung des Verfahrens als reinem Parteienprozeß; der Unterschied darin, daß der angelsächsische Prozeß von einem Richter geleitet wird, der während der Verhandlung auf die Einhaltung der Beweisregeln achtet und auch die Jury juristisch instruiert, die nach eingehender Beratung über die Tatfrage zu entscheiden hat. Schließlich kann man auf das Geschworenengericht der französischen Revolution hinweisen, das für die deutsche Diskussion des Vormärz richtungsweisend war, wobei in der zeitgenössischen Diskussion auch auf das römische Vorbild (neben dem englischen) rekurriert wurde.16 Die Forderung nach Geschworenengerichten gehört hier in den Kontext der Abkehr vom Inquisitionsprinzip, also in ein Paket 15 So ζ. B. bei James L. Strachan-Davidson, Problems of the Roman Criminal Law, 2 Bde., Oxford 1912, Bd. 1, 112ff.; Kunkel, Quaestio (wie Anm.7) 80f. (zum Parteienverfahren) und Kunkel, Prinzipien (wie Anm. 6) 20 (zur Selbstverurteilung durch Geständnis bei der förmlichen Befragung durch den Gerichtsmagistraten). 16 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Grundrechte" im Strafprozeß der römischen Republik und ihr Widerhall im 18. und 19. Jahrhundert, in: Okko Behrends (Hg.), Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1991, 9 7 - 1 1 2 . - Den athenischen Geschworenengerichten wurde dagegen kaum einmal Gegenwartsrelevanz zugesprochen; vgl. Gerhard Thür, Juristische Gräzistik im frühen 19. Jahrhundert, in: Michael Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Sten Gagnér, München 1991, 521-534.
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von Forderungen, zu dem Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung, Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion (durch Einführung der Staatsanwaltschaft) gehören.17 Bei allen Unterschieden geht es sowohl beim angelsächsischen wie beim deutschen Geschworenensystem um die Beteiligung von Laien neben rechtsgelehrten Staatsrichtern. Das Laienelement soll einerseits Staatsferne garantieren und andererseits eine Vertrautheit mit den Lebensumständen des Angeklagten herstellen, die dem subjektiven Schuldmoment gerecht werden soll. Das kann mit der Akzentuierung versehen werden, daß hier eine „Rechtsprechung durch Gleiche" erfolge, was wiederum die Akzeptanz des Urteilsspruchs erhöhe. Die Rolle des oder der Berufsrichter liegt vor allem in der Überwachung der Beweisregeln während des Verfahrens und der rechtlichen Würdigung der Beweisaufnahme gegenüber der Jury.18 Im Vergleich zu diesen Beispielen liegt nun die Besonderheit des römischen Geschworenensystems darin, daß der Vorsitzende nur für den korrekten Ablauf zu sorgen hat, ein Laiengremium ohne vorherige juristische Instruktion und ohne Beratung untereinander zugleich über Tat- und Rechtsfrage entscheidet, diese Laien aber aus der gesellschaftlichen Elite kamen bzw. im Falle der Senatoren sogar dem zentralen Regierungsorgan der Republik angehörten. Unter dem Gesichtspunkt der römischen Verfassungsentwicklung kommt hinzu, daß erst zu einem späten Zeitpunkt ein völlig neues System eingeführt worden ist, das Funktionen der Volksversammlungen auf eine eng begrenzte soziale Schicht übertrug. Angesichts dessen scheinen mir die üblichen Erklärungsmuster für die Etablierung des neuen Systems nicht ohne weiteres einleuchtend. Jedenfalls ist es angebracht, sie noch einmal, und sei es mit Hilfe kontrafaktischer Spekulationen, auf ihre Plausibilität durchzuspielen. Die gängige Auffassung besagt, für die Einfuhrung des Geschworenensystems habe auf Grund der evidenten Mängel des Comitialverfahrens eine sachliche Notwendigkeit bestanden. So heißt es bei Kunkel: „Ab17 Der klassische Text ist: Carl J. A. Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht in ihrer Durchführung in den verschiedenen Gesetzgebungen. Dargestellt und nach den Forderungen des Rechts und der Zweckmäßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrung der verschiedenen Länder geprüft, Stuttgart 1845 (ND 1970). 18 Vgl. u. a. Dirk Blasius, Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz, in: HansUlrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, 148-161; Peter Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: Antonio Padoa Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France, Germany 1700-1900, Berlin 1987, 242-304.
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gesehen von der Umständlichkeit und den formellen Erschwernissen, die damit verbunden waren, war die Verhandlung vor dem Volk an und für sich schon kein sehr taugliches Mittel, verwickelte und problematische Sachverhalte aufzuklären und zu einer einigermaßen gerechten Beurteilung zu bringen. Diese konstitutionelle Schwäche des Komitialverfahrens mußte aber gerade unter den sozialen und politischen Verhältnissen des zweiten Jahrhunderts in ihrer ganzen Tragweite sichtbar werden. Je mehr nämlich die Bürgergemeinde von einer unruhigen, urteilslosen und darum jeder Beeinflussung zugänglichen Masse beherrscht wurde, und je komplizierter und weitläufiger die Staatsgeschäfte wurden, desto sinnloser und schädlicher mußte die komitiale Behandlung politischer Anklagen erscheinen. Die Mehrzahl der Komitialprozesse von der Wende des zweiten Jahrhunderts an, insbesondere diejenigen, die kurz vor Sullas Diktatur von den Popularen durchgeführt worden sind, waren denn auch Akte reiner Demagogie, ja des politischen Terrors. Darum war die Verdrängung der Volksjustiz, die zunächst von Fall zu Fall durch Einsetzung außerordentlicher Quästionen erfolgte, eine klare Notwendigkeit. Das Ziel aber, dem die Entwicklung zusteuerte, konnte nur die Schaffung permanenter Gerichtshöfe für politische Vergehen sein."19 Ähnlich liest man bei Bernardo Santalucia: Die „exorbitant hohe Anzahl der dem Volksgericht unterbreiteten Prozesse, die exzessive Länge des Verfahrens, die Schwierigkeit, in angemessener Weise Streitfragen von gewisser Komplexität abzuhandeln, und im besonderen das Mißtrauen der regierenden Schicht, die im indicium populi eine immer leichter durch demagogischen Druck beherrschbare Prozeßform sah, bewirkten den langsamen, aber unaufhaltsamen Untergang der rechtsprechenden Funktion der Komitien".20 Duncan Cloud verweist auf die Umständlichkeit und Langsamkeit der Verfahren, ferner darauf, daß die Volksversammlung mit zahlreichen Entscheidungen überlastet gewesen sei, Bürger, die keine Diäten erhielten, für zusätzliche Termine keine Zeit gehabt hätten, und zudem nach der Ausdehnung des Bürgerrechts auf ganz Italien die Teilnahme für das Gros der Bürger faktisch unmöglich gewesen sei.21 (Letzteres Argument kann man gleich auf sich beruhen lassen, denn die " Kunkel, Untersuchungen (wie Anm. 5) 61. - Auf einer ähnlichen Prämisse einer sachlichen Notwendigkeit beruht auch Runkels Postulat einer „Polizeijustiz" der tresviri capitales-, vgl. Wilfried Nippel, Aufruhr und „Polizei" in der römischen Republik, Stuttgart 1988, 36 ff. 20 Bernardo Santalucia, Verbrechen und ihre Verfolgung im antiken Rom, Lecce 1997, 48 f. 21 Cloud, Constitution (wie Anm. 11 ) 503.
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Tatsache, daß jeweils nur ein höchst geringer Anteil der Bürgerschaft an den Volksversammlungen teilnahm, hat nie dazu gefuhrt, die Kompetenz der Comitien für Wahlen und Gesetzgebung in Frage zu stellen). Ähnliche Äußerungen lassen sich in alter wie neuerer Literatur unschwer finden.22 Jochen Bleicken schreibt, die „große Vermehrung der politischen Prozeßtätigkeit" habe „eine klarere und einfachere Prozeßform" erzwungen. „Alis ihr folgt die Ablösung des Volksgerichts durch das Geschworenengericht [...]. Das Volk hört damit auf, Richter zu sein."23 An anderer Stelle findet sich bei Bleicken diese Feststellung um einen zusätzlichen Punkt erweitert: „Als wegen der gewaltigen Zunahme des römischen Staatsgebietes das Volk nicht mehr sämtliche politische Delikte aburteilen konnte, wurde das Volksgericht von .Untersuchungshöfen' (quaestiones) abgelöst, aber dabei das Prinzip des Laienrichters aufrechterhalten."24 Dies steht in einer eher populären Darstellung, aber Bleicken hatte schon früher in seiner Rezension von Kunkels Werk gemeint, daß mit dem „Geschworenensystem ... als ein[em] Gericht mit einer größeren Anzahl von Laienrichtern der Idee der Provocation Genüge" getan worden sei.25 Man fragt sich, was ein Verweis auf Laienrichter soll, da es etwas anderes im Sinne von rechtsgelehrten und/oder beamteten Richtern in republikanischer Zeit nie gegeben hat. Die Bemerkungen sind dann wohl so zu verstehen, daß erstens keine Magistrate Untersuchungen führen und Urteile fallen und daß zweitens mit der Urteilsfindung durch amtlose Bürger (ungeachtet welchen sozialen Ranges) das Prinzip der Rechtsprechung durch das Volk gewährleistet worden sei. Bleickens Äußerungen spiegeln damit immerhin wider, daß man bezüglich der Eta22
Chr. F. M. Eisenlohr, Die Provocatio ad Populum zur Zeit der Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Strafrechts und Strafverfahrens, Schwerin 1858 (ND 1970), 188: Nach den Gracchen war „die mit Gunst, Geld und Gewalt bearbeitete Masse, wie ihre Führer, alles Rechtsgefühls, aller Achtung vor dem Gesetz ledig, in den Comitien Meister [...]. Es war eine Wendung zum Besseren, als neben den Comitialgerichten die stellvertretenden Ausschüsse, die Quästionen, aufkamen, die, anders zusammengesetzt und mit anderem Gerichtsgang, doch einige Garantie fur die Gerechtigkeit ihrer Urtheile darboten". - „Mit der Vergrößerung des römischen Gemeinwesens vergrößerte sich auch die Zahl der Delikte, so daß das schwerfällige Organ der Volksversammlung der Zahl der anfallenden Verfahren je später desto weniger gewachsen war"; Manfred Fuhrmann, Gerichtswesen und Prozeßformen in Rom. Der Prozeß gegen Verres, Ianus 18,1997, 7-17, 11. 23 Jochen Bleicken, Lex Publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin 1975,149. 24 Jochen Bleicken, Das römische Recht, in: Jochen Martin (Hg.), Das Alte Rom. Geschichte und Kultur des Imperium Romanum, München 1994,145-165, 157. 25 Jochen Bleicken, Rez. Wolfgang Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, Gnomon 36, 1964, 696-710, 709.
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blierung der Geschworenengerichte ein Problem der politischen Legitimierung sehen kann. Ich möchte diese Frage zunächst erörtern, bevor ich auf den Punkt der vermeintlichen praktischen Vorzüge des Quaestionenprozesses zu sprechen komme. Mir scheint sich dieses Problem zumal im Hinblick darauf zu stellen, daß die entscheidenden Schritte zur Etablierung der ständigen Geschworenengerichte im Kontext der sogenannten popularen Politik gemacht worden sind. Gaius Gracchus ist zweifellos der politisch Verantwortliche für die Übertragung der Geschworenenfunktion an die Ritter, zumindest in den Repetundengerichten, gewesen. Er hat mit seinem Provokationsgesetz ausgeschlossen, daß es künftig noch vom Senat eingesetzte Ad-hoc-Gerichte geben konnte, bei der ein Magistrat Untersuchungs-, Anklage- und Urteilsfunktion zugleich wahrnehmen konnte; er hat mit seiner lex ne quis iudicio circumveniatur weitere, wenngleich im einzelnen nicht eindeutig rekonstruierbare Vorkehrungen gegen den Mißbrauch von Strafverfahren durch Senatoren getroffen. 26 Dies alles steht im Kontext einer Kritik an der Handhabung von Strafverfahren durch Senat und Magistrate einerseits, einer emphatischen Betonung der Rechte des Volkes andererseits, so daß die Assoziation mit libertas topisch wurde.27 Den Prozeß, mit dem Gaius Gracchus rückwirkend die alleinige Zuständigkeit des Volkes demonstrieren wollte, nämlich die Anklage gegen Popillius Laenas (den Consul von 132, der im magistratischen Verfahren Anhänger von Tiberius Gracchus verurteilt hatte), hätte er wahrscheinlich vor der Volksversammlung (und nicht einer durch Volksbeschluß konstituierten quaestio) geführt. 28 Die Bedeutung der Verfahren in der Volksversammlung, speziell gegenüber Ex-Magistraten, hat nach Polybios (6,14,4) auch Cicero betont. Im dritten Buch von De Legibus fuhrt Cicero nur diese Verfahren an (die aber in die Centuriat-, nicht die Tributcomitien gehörten) und ignoriert die Quaestionen, auch wenn dies wohl kein Plädoyer für die Abschaffung der Geschworenengerichte bedeuten muß.29 26 Vgl. Ursula Ewins, Ne quis iudicio circumveniatur, JRS 50,1960,94-107; David Stockton, The Gracchi, Oxford u.a. 1979, 122ff. 27 Cie. Verr. 2,5,163. 28 Vgl. Erich S. Gruen, Roman Politics and the Criminal Courts, 149-78 Β. C., Cambridge (Mass.) 1968, 83. 29 Vgl. die Argumente von Richard A. Bauman, Did Cicero Want to Abolish the JuryCourts?, Latomus 59, 2000, 842-849, gegen die weitreichenden Schlußfolgerungen von Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 3 f., und Elizabeth Rawson, The Interpretation of Cicero's „De Legibus", ANRW 1,4, 1973, 334-356, 355 f.
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Es heißt meines Erachtens nicht, in die (eigentlich überholt geglaubte, nunmehr aber wieder verfochtene) Gleichsetzung von „populär" mit „demokratisch" zu verfallen,30 wenn man die Frage stellt, wie es sich denn mit dem Grundzug populärer Politik vereinbaren läßt, erstens für solche Verfahren nicht die Zuständigkeiten der Volksversammlung festzuschreiben bzw. zweitens, wenn man ein anderes, durch Volksbeschluß zu legitimierendes Verfahren wählt, als Urteilsfinder nur Mitglieder aus dem Ritterstand und nicht aus einer größeren sozialen Basis auszuwählen. Eine Übertragung an das Volk hätte der Tendenz der popularen Gesetzgebung einer Zeit entsprochen, in der mit der lex Cassia von 137 die geheime Abstimmung bei indicia populi eingeführt und mit der lex Caelia von 107 dies auch noch für Perduellionsprozesse vor der Volksversammlung geregelt worden war und diese Tabellargesetze als Sicherungen der Freiheitsrechte des Volkes galten.31 Ausdrückliche Verwunderung darüber, daß die Einführung der Geschworenengerichte nicht mit den „demokratischen" Tendenzen der Epoche vereinbar scheint, ist selten artikuliert worden; am deutlichsten noch, wenn ich recht sehe, von Zumpt im 19. Jahrhundert. Zumpt wendet sich gegen die Annahme, die „Unbehülflichkeit und Unzuverlässigkeit des früheren Verfahrens" habe „Veranlassung zur Gründung der Schwurgerichte gegeben", welche die „Stelle des Volkes als obersten Richters" eingenommen hätten. „Eine so starke Vergrößerung seines [des Senats] Einflusses, wie sie in der Übertragung auch nur eines Theiles der dem Volke zustehenden Richtergewalt" liege würde, passe nicht zu einer Zeit „der tribunicischefn] Aufreizungen, welche nicht lange nachher den Staat in eine Demokratie verwandelten und die Macht des Senats brachen." Das Volk „würde eine wunderbare Entäusserung seiner eigenen Macht geübt haben, wenn es bei der Gründung derselben [der Schwurgerichte] an einen Ersatz für diejenigen Gerichte, welche den Comitien zustanden, gedacht hätte."32 30 So Fergus Millar in diversen Aufsätzen (jetzt gesammelt in: Fergus Miliar, Rome, the Greek World and the East, Bd. 1 : The Roman Republic and the Augustan Revolution, Chapel Hill 2002), ferner ders., The Crowd in Rome in the Late Republic, Ann Arbor 1998; ders., The Roman Republic in Political Thought, Hanover u. a. 2002. 31 Cie. leg. 3,35 f.; 39; Sest. 103; vgl. Bruce A. Marshall, Libertas populi. The Introduction of Secret Ballot at Rome and Its Depiction on Coinage, Antichthon 31,1997, 54-73. 32 August W. Zumpt, Das Criminalrecht der Römischen Republik, Berlin 1865-1869, Bd. 2,1: Die Schwurgerichte der Römischen Republik. Bis zur sullanischen Gesetzgebung, 4 - 6 (Reihenfolge der Zitate umgestellt). Zumpts These, die Repetundenverfahren seien durch den Senat kraft der ihm „gesetzlich zustehenden Gewalt" eingeführt worden, bedarf keiner Erörterung. - Vgl. aus der neueren Literatur Lukas Thommen, Das Volkstribunat
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Nun könnte man sagen, daß die Schwächen des Verfahrens vor dem Volksgericht auch von populärer Seite erkannt worden sind. Dazu gehörten die Notwendigkeit, einen Volkstribun oder Aedil als Ankläger zu finden, die Bereitschaft des praetor urbanus zur Kooperation,33 die Gefahr des Abbruchs aufgrund tribunizischer Intercession34 oder der Meldung ungünstiger Vorzeichen.35 Unabhängig davon mußte der Ausgang eines Kapitalprozesses vor den Centuriatcomitien als ungewiß gelten.36 So ist Opimius, der Consul von 121, wegen der Verfolgung der Gracchaner von einem Volkstribun vor den Comitien angeklagt und freigesprochen worden.37 Die Einsetzung eines ständigen Gerichtshofs de maiestate durch Saturninus dürfte damit zusammenhängen, daß der Ausgang von Verfahren in der Volksversammlung, mit denen Versagen im Kimbernkrieg hatte verfolgt werden sollen, sich als unvorhersehbar erwiesen hatte38 und der späten römischen Republik, Stuttgart 1989, 112: Es sei „bemerkenswert, [...] dass Saturninus als populärer Volkstribun einen festen Gerichtshof einrichten liess, der das tribunizische Volksgericht im Prinzip überflüssig machte". Ferner Walter Eder, Strafsachen in Geschworenengerichten. Die Prozesse wegen Erpressung römischer Untertanen und Verbündeter (Repetundenprozesse), in: Ulrich Manthe, Jürgen von Ungern-Sternberg (Hg.), Große Prozesse der römischen Antike, München 1997, 13-27, 24, zu Gaius Gracchus' Reform des Repetundengerichts: „Erstaunlich ist nur, daß der so angelegentlich um die Rechte und Kompetenzen des Volkes bemühte Tribun die Form des Geschworenenverfahrens beibehielt und damit die Ausschaltung des Volkes aus der Reichsverwaltung bestätigte. Offensichtlich war er nicht mehr frei in der Entscheidung über die Form, sondern mußte auf ein Verfahren zurückgreifen, das schon zum Symbol des Untertanenschutzes geworden war." - Verwunderung in anderer Hinsicht bei Fuhrmann, Gerichtswesen (wie Anm. 22) 11 : „Man muß sich geradezu wundern, dass das Senatsregiment auf dem Gebiet der Justiz eine derart tiefgreifende Neuerung hervorgebracht hat; in anderen Bereichen hat man auf die enorme Zunahme der Aufgaben wenn überhaupt, dann mit viel dürftigeren Maßnahmen reagiert." 33 Nach herkömmlicher Lehre in Form der „Auspicienleihe" (Mommsen, Strafrecht [wie Anm. 3] 168; Jochen Bleicken, Das Volkstribunat der klassischen Republik. Studien zu seiner Entwicklung zwischen 287 und 133 v. Chr., München 2 1968, 112 f.; Jones, Criminal Courts [wie Anm. 4] 12), Zweifel daran bei Lily R. Taylor, Roman Voting Assemblies from the Hannibalic War to the Dictatorship of Caesar, Ann Arbor 1966, lOOf. Nach der Rekonstruktion von Adalberto Giovannini, Volkstribunat und Volksgericht, Chiron 13, 1983, 545-566, übernahm der Praetor in der entscheidenden Verhandlung selbst den Vorsitz. Dagegen wiederum Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 148 f. 34 Belege bei Jones, Criminal Courts (wie Anm.4) 13, der annimmt, daß davon nur Gebrauch gemacht wurde, wenn eine Verletzung von Verfassungskonventionen gegeben schien. 35 Cic.dom.45. 36 Zu den ungeklärten Fragen gehört auch, ob Volkstribune in der späten Republik diese Regel durchbrochen und auch Kapitalprozesse vor das concilium plebis gebracht haben; Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 149 f. 37 Liv.per.61. 38 Gruen, Roman Politics (wie Anm. 28) 167 f.; Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 366 f.
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die Verurteilung des Servilius Caepio erst möglich geworden war, nachdem die Intercession zweier Volkstribunen gewaltsam gebrochen worden war.39 Repetundenfalle könnte man ferner insofern als anders gelagert ansehen, als sie auch vorher nicht in der Volksversammlung verhandelt worden waren, so daß sich die Frage einer jedenfalls partiellen Beschneidung und Umgehung traditioneller Volksrechte nicht stellte. Schließlich könnte man fragen, ob die Bürgerschaft als Ganze diese Verfahren überhaupt als sie unmittelbar angehend betrachtet hat. Denn eine Argumentation, daß mit dem skandalösen Verhalten von Amtsträgern in den Provinzen das Ansehen der römischen Herrschaft und damit auch unmittelbare Interessen des populus berührt gewesen seien, könnte zu abstrakt sein. Kurz, es ließe sich annehmen, daß bei den Repetundenprozessen für die Einsetzung der Ritter das Argument ausgereicht habe, daß man für solche Fälle Geschworene brauchte, die jedenfalls nicht wie Magistrate und Senatoren zu der potentiellen Tätergruppe gehörten, die für solche Verfahren ökonomisch abkömmlich waren und über eine Erfahrung verfügten, die sie befähigte, komplizierte Fragen mit Sachverstand behandeln zu können. Daß sie dabei eigene materielle Interessen verfolgen könnten, wird man zu diesem Augenblick nicht unbedingt vorausgesehen haben und schwerlich als zynisches Kalkül von Gaius Gracchus unterstellen können - im übrigen ist das Bild, die Ritter hätten generell ihre Geschworenentätigkeit skrupellos ausgenutzt, um ihre eigenen finanziellen Interessen in den Provinzen durchzusetzen, auch fur die spätere Zeit eine so nicht haltbare Verallgemeinerung einzelner skandalöser Entscheidungen.40 Wenn sich möglicherweise die Frage im Hinblick auf die Repetundengerichte gar nicht gestellt hat, dann müßte man sie immer noch in bezug auf die weiteren Gerichtshöfe stellen. Es kann für diesen Zweck offenbleiben, ob man deren Existenz schon für die gracchische Zeit ansetzt oder eine sukzessive Entstehung bis zu Sulla unterstellt. Die Einrichtung einer ständigen quaestio de maiestate durch Saturninus ist ziemlich sicher;41 in die gleiche Zeit fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Etablierung eines ständigen Gerichtshofs de peculatu, für die dann als terminus ante quem das Jahr 86 (mit dem entsprechenden Prozeß gegen Pompeius) angesetzt 39
Cic.de orat. 2,197. Vgl. Christian Meier, Res Publica Amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, Wiesbaden 1966, 71 f.; 77-79. 41 Das Verfahren gegen Norbanus im Jahre 95 fand unter dem maiestas-Gesetz des Saturninus statt (Cie. de orat. 2,107), in einer publica quaestio (Val. Max. 8,5,2) mit einer Jury aus Rittern (Cic.de orat. 2, 199); vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 518. 40
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werden kann.42 Für ambitus- Verfahren läßt sich der Prozeß gegen Marius im Jahre 116, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, als terminus ante quem ansehen.43 Bei ambitus mag man sagen, eine Bekämpfung habe gerade nicht im Interesse der kleinen Leute gelegen, die schließlich von den Aufwendungen der Kandidaten profitiert hätten.44 Aber beim Verfahren de maiestate war doch der emphatische Bezug auf die Rechte des Volkes evident, wie auslegungsfahig dies auch immer war. Unterschlagung öffentlicher Gelder berührte das öffentliche Interesse sicher unmittelbarer, als dies bei unrechtmäßiger Bereicherung in den Provinzen erschienen sein mag. Von diesen Verfahren waren nicht nur hochmögende Herren betroffen; zu den typischen Angeklagten muß man hier die Schreiber zählen,45 so daß man sich fragen kann, warum denn hier nicht die Ausweitung der Jury jedenfalls auf einige Mitglieder der gleichen sozialen Gruppe angemessen erschienen ist. Dies gilt dann noch mehr im Hinblick auf die quaestiones de sicariis et veneficis spätestens seit Sulla. Wir wissen zwar nicht, wie hoch der Anteil von Bürgern war, die nicht zum Senatoren- oder Ritterstand zählten und wegen gemeiner Verbrechen vor diesen Gerichtshöfen angeklagt wurden, daß es aber vorgekommen sein muß, ist ziemlich sicher, sonst hätte man dafür schwerlich drei ständige Quaestionen eingerichtet.46 Bei den ständigen Gerichtshöfen - ebenso wie bei den häufig durch Volksbeschluß konstituierten Sondergerichten - kreiste die Frage der Zusammensetzung der Jury immer nur um das Problem Senatoren- und/ oder Ritterstand. Sowohl bei der Art der Delikte wie bei dem Kreis der potentiellen Angeklagten hätte doch von Seiten populärer Politiker erwartet werden können, daß für ein Gericht, das de facto die Stelle der Volksversammlung einnahm, nicht ein solch eklatanter Unterschied hinsichtlich der Zusammensetzung und damit der Ausschluß der Beteiligungsmöglichkeit für einfache Bürger hingenommen worden wäre. Das heißt nicht zu verkennen, daß alle Rede von libertas und bürgerlicher Gleichheit in 42
Plut. Pompeius 4; vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 515; zur Alternative, daß es sich um eine außerordentliche quaestio gehandelt haben könnte, vgl. aber Thomas P. Hillman, Notes on the Trial of Pompeius at Plutarch, Pomp. 4. 1-6, RhM 141, 1998, 176193, 183 ff. - Ein alternatives Datum wäre der Prozeß gegen C. Curtius um 83; Cie. Rab. perd. 8. 43 Plut. Marius 5,5; da Marius mit Stimmengleichheit freigesprochen wurde, muß das Verfahren vor einer quaestio stattgefunden haben; die Frage ist nur, ob es sich schon um einen ständigen Gerichtshof handelte; vgl. Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 515. 44 Cie. Mur. 47. 45 Cie. Mur. 42; vgl. Liv. 30,39,7. 46 Cie. Cluent. 147; Cloud, Constitution (wie Anm. 11) 523.
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Rom mit dem Vorbehalt einer Gewichtung der individuellen Stimme nach dignitas versehen worden ist. Aber die politische Logik sowohl der Centuriat- wie der Tributcomitien beruhte ja gerade darauf, daß jedem Bürger das Recht der Teilnahme offenstand, auch wenn im Ergebnis seine Stimme wegen des korporativen Stimmsystems vergleichsweise wenig wog.47 Man mag unter den Bedingungen der römischen politischen Kultur ausschließen oder jedenfalls für höchst unwahrscheinlich halten, daß jemand die Einrichtung eines Geschworenensystems nach athenischem oder auch rhodischem Muster, das jedem Bürger die Teilnahme an der Auslosung zugestand, gefordert hätte, obwohl dies nicht notwendig (wie auch in Rhodos)48 mit der Einführung von Diätenzahlungen hätte verbunden sein müssen. Aber dafür, daß durchaus Alternativen zu einer Besetzung der Gerichte ausschließlich mit Rittern und/oder Senatoren denkbar waren, gibt es Anhaltspunkte. Eine eigentlich naheliegende Möglichkeit wäre die Wahl der Geschworenen durch die Volksversammlung gewesen.49 So hat ein Bestellungsmodus nach Tribus ursprünglich für das Centumviratsgericht gegolten, wir können aber nicht sicher sein, ob dies ein echtes Wahlverfahren implizierte.50 Ein tatsächliches Wahlverfahren nach Tribus ist für Geschworenengerichte nur einmal (und nie wieder), nämlich mit der lex Plautia des Jahres 89 eingeführt worden, mit der bestimmt wurde, daß jede Tribus fünfzehn Geschworene für die Richterliste wählte. Ob es sich um ein Gesetz handelte, das die Zusammensetzung der Geschworenenliste für sämtliche Quaestionen regelte, oder ob es speziell nur jene maieito-Prozesse betraf, die wegen der angeblichen Schuld von Senatoren am Ausbruch des Bundesgenossenkriegs zuvor nach einer lex Varia vor einem mit Rittern besetzten Gerichtshof stattfanden," ist für die grundsätzliche Bedeutung dieser Variante nicht entscheidend. Nach unserer einzigen Quelle, Asconius (p. 79C), geschah die Gesetzgebung im Sinne der Nobilität. Das Ergebnis sei gewesen, daß neben Senatoren auch Männer ex plebe gewählt worden seien. Nun weiß man natürlich nicht, was
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Cic.rep. 2,39 f.; Liv. 1,43,10. Cic.rep. 3,48; Ps.-Sall. rep. 2,7,12; Dion Chrys. 31,4; vgl. Peter M. Fraser, Notes on Two Rhodian Institutions, ABSA 67, 1972,113-124. 49 Vgl. Zumpt, Schwurgerichte (wie Anm. 32) 259 (im Zusammenhang mit der lex Plautia): „Man muss sich wundern, dass die Römischen Tribunen nicht früher darauf gekommen sind, die Richter durch das Volk erwählen zu lassen." 50 Fest. p. 47L; Brunt, Judiciary Rights (wie Anm. 10) 234 f. 51 Strachan-Davidson, Problems (wie Anm. 15) Bd. 2,96; Griffin, „Leges Iudiciariae" (wie Anm. 10) 120. 48
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die Zugehörigkeit zur Plebs hier sozial bedeutet.52 Wenn man unterstellt, daß dieses Verfahren der Nobilität auf dem Wege der Beeinflussung der Wahlen durch ihre Patronagemacht zugute kam,53 dann mag einerseits die Antizipation dieser Möglichkeit dem Rekurs auf dieses Verfahren durch populare Volkstribune im Wege gestanden haben. Andererseits hätten doch vielleicht Verfechter der Senatsautorität darauf kommen können, den Streit über die Zusammensetzung der Gerichtshöfe mit der generellen Einführung der Volkswahl auf eine elegante, öffentlich schwer angreifbare Art zu beenden. Für den Einsatz populärer Argumente und Methoden sozusagen „von rechts"54 gibt es ja in der späten Republik, beginnend mit dem älteren Livius Drusus, verschiedene Beispiele. Für die legitimatorische Funktion, die man der Volkswahl zuschreibt, kann auch an die lex Domitia des Jahres 104 erinnert werden, die die Bestellung der Priester einer Tribusversammlung übertrug und die Cicero als Beispiel dafür anführt, wie man das Prinzip der Bestellung von Funktionsträgern durch Volkswahl selbst in einem Punkt demonstrativ bekräftigt hatte, in dem die volle Verwirklichung aufgrund religiöser Bedenken nicht möglich schien.55 Auf das Prinzip der Volkswahl ist man - abgesehen von der Wahl des Gerichtsvorsitzenden nach dem Gesetz des Pompeius aus dem Jahre 5256 - nicht mehr zurückgegangen. Jedoch begegnen Überlegungen, daß man die Zulassungshürde für die Juroren senken sollte, aus der Spätzeit der Republik. So schlägt Sallust (?) im Sendschreiben an Caesar (2,7,11) vor, den Census der ersten Klasse zu nehmen und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die in seinen Augen gute Bilanz der Volksgerichte in Rhodos. Durch ein Gesetz des Antonius von 44 sollte die dritte Richterdekurie aus ehemaligen Offizieren und Soldaten einschließ-
52 Ernst Badian, Quaestiones Variae, Historia 18, 1969, 447-491, 470, Anm.66, denkt an Personen mit einem Vermögen knapp unterhalb des Rittercensus. 53 „Offenbar suchte der Senat im Volke einen Bundesgenossen gegen die Ritter und scheint seinen Zweck erreicht zu haben"; Theodor Mommsen, Über die leges iudiciariae des VII. Jahrhunderts bis zur lex Aurelia (1843), in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 1) Bd. 3, 339-355,354. 54 Vgl. Zumpt, Schwurgerichte (wie Anm. 32) 260: „Plautius mag keinen anderen Ausweg gefunden haben, als mit dem Vorwande, auch die Schwurgerichte vom Volke ausgehen zu lassen, sein Streben nach Veränderung in der Richtergewalt zu verdecken. Sein Gesetz passte in die damals herrschende demokratische Strömung." Ferner Erich S. Gruen, The Lex Varia, JRS 55, 1969, 59-73, 69: „democratic appearance" der lex Plautia\ Badian, Quaestiones (wie Anm. 52) 475 f.: „a calculated piece of democratic machinery". 55 Cie. leg. agr. 2,18. 56 Ascon. p.38C.
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lieh solcher mit einem niedrigen Census gebildet werden." Augustus hat schließlich 17 v.Chr. eine vierte Richterdekurie eingerichtet, für die ein Census von 200 000 Sesterzen, also die Hälfte des Rittercensus bzw. das Doppelte des Census der 1. Klasse, galt, wenngleich diese 4.Dekurie nur für Bagatellfälle, nicht für die Quaestionen zuständig war.58 Es ist schließlich auch noch darauf zu verweisen, daß fur Rekuperatoren ausweislich der auf der Tabula Bembina überlieferten lex agraria der Census der ersten Klasse gefordert war. Wenn dies auch ein sehr spezieller, anders gelagerter Fall ist, so könnte man doch in den Kyrene-Edikten des Augustus, wonach jedem Griechen das Recht auf eine (ganz oder zur Hälfte) mit Griechen besetzte Geschworenenbank eingeräumt wurde,59 so etwas wie eine grundsätzliche Anerkennung des Prinzips einer Rechtsprechung durch „peers" sehen. Indizien dafür, daß man sich eine andere Zusammensetzung der Geschworenenbänke hätte vorstellen können, gibt es also. Aber offensichtlich ist dies nie zu einem wirklich politisch relevanten Thema, von welcher Seite und mit welchen politischen Absichten auch immer, gemacht worden. Selbst als sich im Jahre 70 die alte Frage Ritter und/oder Senatoren neu stellte und man schließlich mit der Heranziehung der Aerartribunen einen Kompromiß fand, von dem beachtliche Stabilitätswirkung ausging,60 hat sich ja an der sozialen Rekrutierung der Geschworenen kaum etwas geändert, zumal wenn man unterstellen kann, daß auch die Aerartribunen den Rittercensus erfüllten.61 Insofern muß man wohl feststellen, daß sich die Legitimitätsfrage hinsichtlich der Geschworenengerichte jedenfalls nicht in der Virulenz stellte, daß es sich gelohnt hätte, sie mittels eines Gesetzgebungsvorschlags aufzugreifen, obwohl die Zahl der Gesetze, die sich mit Strafrecht bzw. Strafprozeßrecht in der späten Repu-
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Cie. Phil. 1,20; 5,12 f. Suet. Aug. 32,3; vgl. Klaus Bringmann, Zur Gerichtsreform des Kaisers Augustus, Chiron 3, 1973, 235-244. 59 Vgl. Jochen Bleicken, Senatsgericht und Kaisergericht. Eine Studie zur Entwicklung des Prozeßrechtes im frühen Prinzipat, Göttingen 1962,168 ff. 60 Vgl. Hinnerk Bruhns, Ein politischer Kompromiß im Jahr 70 v. Chr. Die lex Aurelia iudiciaria, Chiron 10, 1980, 263-272. - Die Aerartribunen sind von Caesar im Jahre 46 von den Geschworenenbänken wieder ausgeschlossen worden; Suet. Caes. 41,2. 61 Bleicken, Cicero (wie Anm. 13) 13. - Aber selbst wenn man mit einem Census von 300000 Sesterzen rechnet (Hartmut Galsterer, Rez. Okko Behrends, Die römische Geschworenenverfassung. Ein Rekonstruktionsversuch, GGA 225,1973,29-46,39, Anm. 12), ist die soziale Exklusivität weiterhin gegeben. 58
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blik befassen, mit dreiundvierzig die größte sachliche Gruppe innerhalb der Volksgesetze dieser Zeit ausmacht.62 Einen Grund könnte man darin sehen, daß auch nach der Einrichtung ständiger Quaestionen die Möglichkeit des Verfahrens vor der Volksversammlung nicht aufgehoben war und in der Zeit bis auf Sulla verschiedentlich davon Gebrauch gemacht wurde.63 Daß Volksgericht und Geschworenengerichte konkurrierende Instanzen waren,64 geht besonders daraus hervor, daß Cicero (als Aedil) Verres vor der Volksversammlung anklagen wollte, sollte er vom Repetundengerichtshof freigesprochen werden.65 Die Möglichkeit, daß ein Aedil oder Volkstribun als Ankläger vor die Volksversammlung geht, bleibt grundsätzlich erhalten, auch wenn es bei der Drohung bleibt (so Clodius als Aedil gegen Cicero im Jahre 56)66 oder das Verfahren nicht zu Ende geführt wird (wie bei Clodius' Anklage gegen Milo im gleichen Jahr)67 und es nach dem Jahre 70 nicht mehr zu einer Verurteilung in einem solchen Verfahren gekommen sein dürfte, dies jedenfalls nicht überliefert ist.68 Dafür, daß man das Volksgericht als die eigentlich zuständige Instanz darstellen konnte, zeugt auch, daß Antonius im Jahre 44 in Fällen einer Verurteilung de vi oder de molestate eine Berufung an das Volk einführen wollte und seinen Vorschlag als res popularis dargestellt hat.69 Dieser Vorgang wäre im übrigen noch von 62
Bleicken, Lex Publica (wie Anm. 23) 150. - Zur Eigenart dieser Gesetzgebung, durch die neue Verfahren geschaffen wurden, ohne daß die alten aufgehoben worden wären, vgl. John S. Richardson, Old Statutes Never Die. A Brief History of Abrogation, in: Michel Austin u. a. (Hg.), Modus Operandi. Essays in Honour of Geoffrey Rickman, London 1998,47-61. 63 Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 4 ff.; Thommen, Volkstribunat (wie Anm. 32) 155 f f ; Brennan, Praetorship (wie Anm.4) Bd.2, 370. 64 Cie. Cluent. 93 zu einem Volkstribun, der beide Verfahrensmöglichkeiten parallel nutzt. 65 Cic.Verr. 2,1,11-14; 2,5,173; Giovannini, Volkstribunat (wie Anm.33) 562. 66 Cie. har. resp. 7. Ferner die Androhungen von Volkstribunen im Jahre 52, Cicero vor der Volksversammlung anzuklagen; Ascon. p. 38C. 67 Nach Ascon. p. 48C fand das Verfahren apud populum statt; nach den üblichen Anhörungsterminen war schließlich der Tag der Abstimmung festgelegt worden (Cie. Q. fr. 2,3,1 f.; 2,6,4), die dann aber nicht mehr stattgefunden hat. - Für Wolfgang Kunkel, Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik, Bd. 2: Die Magistratur, hrsg. v. Robert Wittmann, München 1995, 503 f., liegt - angesichts der Zuständigkeit einer quaestio de vi - ein Mißbrauch vor: „Erst als in der Spätzeit der Republik die bindende Kraft der Verfassungstradition versagte, konnte es vorkommen, daß ein Mann vom Schlage des Clodius das längst verrostete Instrument des ädilizischen Komitialprozesses wieder hervorholte, um damit, jedem Herkommen zuwider, auf seine Weise Politik zu machen." Man sollte eher von der Fortdauer eines alten Verfassungsprinzips (vgl. Richard A. Bauman, Criminal Prosecutions by the Aediles, Latomus 33, 1974, 245-264) sprechen, das auch durch die Einfuhrung der neuen Verfahren nicht grundsätzlich aufgehoben worden war. 68 Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 371. 69 Cie. Phil. 1,21 f.
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weit größerer Bedeutung, wenn Antonius auf die Wiederherstellung der unmittelbaren Zuständigkeit der Volksversammlung gezielt hätte.70 Als weitere Überlegung ist durchzuspielen, wieweit in der Verfahrensweise der Quaestionen selbst ein Element der Legitimierung liegt. Ich glaube, daß dies im Grundsatz richtig ist, die Akzentuierung aber anders gesetzt werden sollte, als dies in der Forschung gängig ist. Das Argument, die vermehrte Zahl der Prozesse habe ein einfacheres Verfahren erzwungen, kann nicht gelten. Eine Feststellung über die Zunahme objektiv verfolgungsbedürftiger politischer Delikte kann man nicht treffen. Sicher wächst mit der Einführung einer allgemeinen Anklagebefugnis die Chance zur Verfolgung, aber wenn daraus eine Zunahme der Prozeßfrequenz folgt, dann ist dies ja Folge und nicht Ursache der neuen Verfahren. Daß die Verfahren zügiger und einfacher im Vergleich zu dem „schwerfälligen Instrument des Volksprozesses"71 gewesen seien, trifft schlichtweg nicht zu. Das Verfahren vor der Volksversammlung erforderte vier Termine von jeweils einem Tag; zwischen den ersten dreien mußte jeweils ein Intervall von mindestens einem Tag liegen, der abschließende Termin, bei dem die Entscheidung fiel, war nach einer Zwischenzeit von drei Wochen anzusetzen.72 Bei Zustimmung des Angeklagten war es aber möglich, das Verfahren deutlich zu verkürzen, auf einen Termin zu beschränken.73 In den Quaestionenprozessen74 wurden nach der Anklageerhebung bzw. nach einem möglichen Vorverfahren zur Bestimmung des Anklägers ausgedehnte Fristen für die Beweiserhebung durch den Ankläger eingeräumt; beim eigentlichen Verfahren folgten auf die Besetzung der konkreten Richterbank (durch Auslosung und nach Ablehnung eines Teils der Juroren durch die Prozeßparteien) ausgedehnte Zeugenvernehmungen von oft mehreren Tagen sowie die ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmenden Plädoyers. Hinzu kamen weitere Verschleppungsmöglichkeiten durch die Verteidigung bzw. Verzögerungen, wenn sich ein Teil der Geschworenen noch nicht zu einer Entscheidung in der Lage sah. Daß dies nicht nur auf Repetundenprozesse zutraf - im Verres-Prozeß dauer70
So Bleicken, Provocation (wie Anm.2) 367 f., der meint, es sei nicht um die Etablierung einer zweiten Instanz gegangen, sondern das Gesetz „sollte eine Entwicklung, die das Volksgericht durch die Quaestion ersetzt hatte, wieder rückgängig machen, weil er [Antonius] sich von dem Pöbel in der Volksversammlung mehr versprach als von den Senatoren und Rittern der Geschworenenhöfe." 71 Klaus Bringmann, Geschichte der römischen Republik. Von den Anfangen bis Augustus, München 2002, 275. 72 Cic.dom.45. 73 Cie. har. resp. 7; Jones, Criminal Courts (wie Anm. 4) 25 f. 74 Zu den Einzelheiten siehe Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7).
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ten die Zeugenvernehmungen acht Tage75 - , zeigt das von Pompeius 52 durchgesetzte Spezialgesetz fur Verfahren de vi und de ambitu, mit dem das Zeugenverhör auf drei Tage und die Plädoyers auf einen Tag begrenzt wurden sowie eine Vertagung der Entscheidung ausgeschlossen wurde.76 Kürzer und einfacher sind also die Verfahren vor den Quaestionen keineswegs gewesen. Diesen Verfahren kann man aber größere Sachgemäßheit zuschreiben wegen der amtlichen Unterstützung des Anklägers bei der Beweissicherung und wegen der festgeschriebenen Rechte beider Prozeßparteien, d. h. hier v. a. der Verteidigung. Man könnte den Vorzug eines reinen Parteienprozesses, in dem es keine Beweisregeln gibt, so daß auch der Vorsitzende nicht eingreifen kann, um sachfremde bzw. rechtsunerhebliche Aussagen zu unterbinden, darin sehen, daß damit die größtmögliche Chance gegeben wird, wirklich alle be- wie entlastenden Gesichtspunkte vor der Jury zur Sprache zu bringen.77 Die daraus in der römischen Republik in Verbindung mit dem System der Richterbestellung folgenden Konsequenzen lagen aber zunächst einmal darin, daß die Geschworenen während der Dauer des Verfahrens Einflüssen von außen ausgesetzt waren. Die Geschworenenbänke waren mit 50 bis 75 Mitgliedern - zur Zeit der rein senatorischen Gerichte mit noch weniger - zu klein, um dies auszuschließen; die Aufteilung auf einen bestimmten Gerichtshof zu Beginn des Amtsjahres bedingte, daß man zumindest den größeren Kreis, aus dem durch Auslosung und Ablehnung die aktuelle Richterbank zusammengesetzt wurde, einigermaßen abschätzen konnte.78 Die Dauer der Verfahren, während der die Geschworenen ja nicht irgendwie in Klausur waren, machte sie Ratschlägen, Angeboten, Drohungen zugänglich. Dies gilt auch für den praetor urbanus, der die Geschworenenliste aufzustellen hatte, und die jeweiligen Gerichtsvorsitzenden, die ihrerseits ein Verfahren verschleppen oder durch informelle Einflußnahme auf die Geschworenen für den Ausgang des Verfahrens wichtig sein konnten.79 Man vergleiche damit die ungeheure institutionelle Phantasie, die die Athener im 4. Jahrhundert darauf verwandten, um 75
Cie. Verr. 2,1,156; Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 84. Ascon. pp. 36; 39C; Tac. dial. 38,1 f. 77 Vgl. John A. Crook, Legal Advocacy in the Roman World, London 1995. 7 ? Cie. Verr. 1,16. 79 Belege bei Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 72; 81 f.; Brennan, Praetorship (wie Anm. 4) Bd. 2, 418; 772, Anm. 80-81. - Das bedeutet allerdings nicht, daß er doch eine juristische Instruktion der Juroren vornähme; siehe gegen diese These von Richard A. Bauman, Crime and Punishment in Ancient Rome, London u. a. 1996,25 f., die Argumente von Andrew M. Riggsby, Crime and Community in Ciceronian Rome, Austin 1999, 15 f. 76
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die Jury jedes einzelnen Prozesses erst am Verhandlungstag nach dem Zufallsprinzip zusammenzusetzen - und dies bei ungleich größeren Geschworenenbänken (im Regelfall 500 Richter bei Strafprozessen) und einer Prozeßdauer von nur einem Tag. Vergleicht man die römische Jury mit der angelsächsischen Zwölferbank und der athenischen Massenjury, dann war sie zu groß, um wie im ersten Fall eingehende Beratung zuzulassen, und zu klein, um wie im zweiten Fall Einflußnahmen von außen auszuschließen. Weder die Verfahrensregeln noch der hohe soziale Status der Geschworenen80 haben bekanntlich in Rom vor Bestechungsversuchen und Bestechlichkeit gefeit. Es bleibt die Frage, wieweit man ihnen trotz allem aufgrund ihrer sozialen Stellung höhere Sachlichkeit und Urteilsfähigkeit hätte unterstellen können. Das Argument leuchtet, wie schon gesagt, am ehesten noch bei den Repetundenverfahren ein. Aber sollte ζ. B. bei einem Verfahren de peculato gegen einen scriba ein Angehöriger der Apparitoren nicht mindestens genauso, ja nicht noch eher sachkundig sein als ein Senator oder Ritter?81 Welche Sachkunde ist erforderlich, um ein so sehr der politischen Bewertung unterliegendes Delikt wie einen Fall de maiestate*2 zu beurteilen oder bei einem Verfahren de vi, bei dem es zumindest einige klare Straftatbestände gibt,83 festzustellen, ob diese wie die Besetzung eines öffentlichen Platzes mit bewaffneten Männern erfüllt sind oder nicht? Wenn man ungeachtet dessen annimmt, daß Geschworene dieses Typs zu einer sachlichen und gerechten Urteilsfindung grundsätzlich eher in der Lage seien als die „urteilslose und jeder Beeinflussung zugängliche Masse" (Kunkel - s. o.), warum stimmt dann eine Jury, die über Rechts- wie Tatsachenfragen zugleich entscheidet, nicht nur geheim,84 sondern auch ohne jede vorherige Beratung untereinander ab, d. h. nach einem Verfahren, das gerade ausschließt, daß sachliche Argumente ausgetauscht werden können? Spricht es für eine an der Sache orientierte Rechtsprechung, wenn (so seit dem Jahre 59 gesetzlich gere-
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Fortuna und dignitas als notwendige Voraussetzungen: Cie. Phil. 1,20. " Vgl. Cie. leg. 3,46; 48; Plut. Cato minor 16,2 zum Sachwissen des Hilfspersonals, das dem der Magistrate überlegen war. 82 Vgl. zuletzt Robin Seager, „Maiestas" in the Late Republic. Some Observations, in: John W. Cairns, Olivia F. Robinson (Hg.), Critical Studies in Ancient Law, Comparative Law and Legal History, Oxford 2001,143-153. 83 Vgl. Nippel, Aufruhr (wie Anm. 19) 62; 66. 84 Nach den Regeln Sullas konnte der Angeklagte entscheiden, ob geheim oder öffentlich abgestimmt wurde (Cie. Cluent. 55; 75); dies ist nach 70 wieder aufgehoben worden; Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 86 f.
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gelt)85 die Stimmen nach den Ständen - Senatoren, Ritter, Aerartribunen getrennt ausgezählt werden und dieses Ergebnis bekannt gegeben wird?86 Warum wurde in der Zeit nach 70 die Regel aufgehoben, daß Magistrate während ihrer Amtszeit nicht zugleich als Geschworene tätig sein durften?87 Es war auch nicht durchsetzbar, die durch den Gang der Gesetzgebung entstandene Gesetzeslücke zu schließen, die bedingte, daß ritterliche Geschworene (im Gegensatz zu senatorischen) nicht wegen Bestechlichkeit belangt werden konnten;88 Cicero (Rab. Post. 18 f.) begründet dies damit, daß sie sonst ihre persönliche Unabhängigkeit verlören. (Und die aktive Bestechung der Geschworenen war anscheinend überhaupt nicht strafbar). Eine weitere Frage betrifft den Geschworeneneid. Zwar wird wiederholt darauf verwiesen, daß die Geschworenen vereidigt seien.89 Der einzige Text, der inhaltlich etwas dazu sagt, ist die inschriftliche lex repetundarum. Danach ist aber nur gesichert, daß die Geschworenen zu beeiden hatten, bei der Zeugenvernehmung anwesend zu sein und ihr Abstimmungsergebnis geheim zu halten. Das heißt, wir wissen nicht, inwieweit ihr Eid eine inhaltliche Verpflichtung auf die Bindung an Recht und Gesetz wie im Falle des athenischen Geschworeneneids enthielt.90 In den Plädoyers wurde oft noch nicht einmal der Schein gewahrt, daß es um die rechtliche Bewertung von Tatsachen gehe. Cicero kann nicht nur sagen, daß eine Entscheidung die (durch Zeugenaussagen belegte) Reputation und die gesamte Lebensführung eines Angeklagten zu berücksichtigen und gegenüber dem Leumund der Gegenseite abzuwägen habe,91 sondern auch ganz offen die Staatsräson als das Kriterium aus85
Cass. Dio 38,8,1. Brennan, Praetorship (wie Anm.4) Bd. 2, 474, nimmt an, der Praetor Q. Fufius Calenus habe dieses Gesetz als Maßnahme gegen Richterbestechung initiiert. 86 Ascon. pp. 28C; 53C; 55C. 87 Cie. Verr. 1,29 f. zum Ausschluß der Magistrate. Im Jahre 56 fungieren zwei amtierende Praetoren als Geschworene im Prozeß gegen Sestius, Cic.Vat. 16; Schol. Bob. p. 146St; dazu Brennan, Praetorship (wie Anm . 4 ) B d . 2 , 4 1 6 f . ; 4 1 8 f . 88 Vgl. Jean-Michel David, Le patronat judiciaire au dernier siècle de la république romaine, Paris 1992, 248ff.; Bleicken, Cicero (wie Anm. 13)33 ff; 84f. 89 Mommsen, Strafrecht (wie Anm. 3) 219; 395; Kunkel, Quaestio (wie Anm. 7) 80. 90 Cie. inv. 1,70; 2,131, wo diese Verpflichtung auf die Gesetze formuliert ist, dürfte eine Adaptation aus einem griechischen Rhetorik-Lehrbuch sein. - Zum Eid der Geschworenen in Athen vgl. Max Fränkel, Der attische Heliasteneid, Hermes 13, 1878,452-466. " Cie. Cluent. 195 ff.; Plane. 3; Mur. 11; Sull. 69; 79; vgl. Paul R. Swarney, Social Status and Social Behaviour as Criteria in Judicial Proceedings in the Late Republic, in: Baruch Halpem, Deborah W. Hobson (Hg.), Law, Politics and Society in the Ancient Mediterranean World, Sheffield 1993, 137-155. - Pompeius hat mit seinem Gesetz fur die Prozesse de vi und de ambitu im Jahre 52 das Aufbieten von Leumundszeugen untersagt, sich dann aber später nicht an seine eigene Regel gehalten (Val. Max. 6,2,5; Plut. Cato minor 48,4; Cass. Dio 40,52,2; 40,55,1 f.).
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geben, nach dem sich verständige Geschworene zu richten hätten.92 Die „Demagogie", die Kunkel (s. o.) an den Verfahren in der Volksversammlung kritisiert hat, läßt sich unschwer (auch wenn es sich um ein feineres Publikum handelt) auch für die Reden in den Quaestionen konstatieren. In puncto Rabulistik halten die römischen Gerichtsreden im übrigen auch jeden Vergleich mit den vielgescholtenen athenischen aus. Den Gewinn an Sachgemäßheit, der durch die Quaestionen eingetreten sein soll, wird man somit doch ganz erheblich relativieren müssen. Angesichts der vielfaltigen Änderungen, die man immer wieder durch Gesetzgebung vollzogen hat, stellt sich damit erneut die Frage, warum an der Zusammensetzung der Gerichte allein mit Geschworenen aus den oberen Ständen grundsätzlich nicht gerüttelt wurde. Meine Vermutung wäre, daß ein entscheidendes Element, das den Verfahren Legitimation verlieh, die spezifische Art von Öffentlichkeit war, in der die Prozesse stattfanden. Die Prozesse fanden mitten auf dem Forum statt, sie konnten von jedermann beobachtet werden.93 Das inschriftliche Repetundengesetz zeichnet sich dadurch aus, daß großer Nachdruck auf Transparenz gelegt wird. Die Verfahren von der Aufstellung der allgemeinen Richterliste die der Praetor in einer Volksversammlung laut verlesen und anschließend öffentlich aushängen muß - bis zur Art und Weise der Stimmabgabe der Juroren, die ihr Stimmtäfelchen mit der Hand verdecken müssen, sind genau geregelt, und zwar so, daß die Einhaltung der Regeln von jedermann überwacht werden konnte.94 Die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit hinsichtlich der formalen Verfahrensschritte wie der Festlegung der Geschworenenbank betont z.B. auch Cicero im Verres-Prozeß, wobei er einen zurückliegenden Fall von Bestechung gerade deshalb als besonders verwerflich darstellt, weil man hier präparierte Stimmtäfelchen verwendet hatte, mit denen sich beweisen ließ, daß die bestochenen Juroren ihr Geld wert gewesen waren.95 Bei den Prozessen ging es immer auch um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Darauf zielten die Trauerdemonstrationen von Angeklagten, deren Verwandten und Freunden.96 Unter Umständen schlossen 92
Cic.Flacc.98. Vgl. Christine Döbler, Politische Agitation und Öffentlichkeit in der späten Republik, Frankfurt a. M. u. a. 1999, 118 ff. 94 Vgl. Adrian N. Sherwin-White, The Lex Repetundarum and the Political Ideas of Gaius Gracchus, JRS 72, 1982, 18-31, 21. 95 Cic.div. Caec. 24; Verr. 1,17; 40; Verr. 2,2,79; vgl. Cluent. 130. Es ging um die von Hortensius organisierte Bestechung der Geschworenen im Repetundenprozeß gegen Varrò im Jahre 74; Ps.-Ascon. p. 193St. % Val. Max. 6,4,4; Cie.de orat. 1, 229f.; Plane. 29. 93
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sich sogar Geschworene den Trauerbekundungen an.97 Die Gerichtsredner beziehen sich darüber hinaus immer auch auf die angebliche Meinung des römischen Volkes. Cicero betont in seinen Gerichtsreden, daß die Juroren ihrerseits unter den Augen und Ohren der Bürgerschaft zu entscheiden haben.98 Massiv ist dies in den Verres-Reden, wenn das römische Volk als quasi über den Geschworenen zu Gericht sitzend apostrophiert wird. Das ist sicherlich durch die besondere Konstellation des Jahres 70 bedingt, als die Frage der Zusammensetzung der Geschworenenbänke erneut auf der Tagesordnung stand.99 Aber das Argument setzt doch voraus, daß man den Einfluß der öffentlichen Meinung, und das heißt hier immer konkret der tatsächlichen Zuhörerschaft auf dem Forum, grundsätzlich als bedeutsam akzeptierte. In diesem Sinne - und nicht als Ausdruck einer Mandatstheorie100 - ist es wohl auch zu verstehen, wenn die Geschworenen als Vertreter des Volkes angesprochen werden.101 Diesen legitimatorischen Bezug der Öffentlichkeit betont Cicero auch in seiner Rede für den König Deiotarus, als er Anlaß sah, die Verletzung dieses Prinzips durch Caesar anzugreifen.102 Im Rückblick auf die republikanischen Verhältnisse stellt Tacitus (dial. 39,4) später fest, angesichts der Mobilisierung großer Zuhörerzahlen habe das römische Volk geglaubt, den Ausgang eines Prozesses zu entscheiden. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß der Druck der Öffentlichkeit, der sich in massiven Unmutsbekundungen auf dem Forum,103 Demonstrationen gegen Gerichtsredner im Theater104 und gegebenenfalls auch in einer Gewaltandrohung gegen die Geschworenen Luft machen konnte, als Korrektiv akzeptiert wurde. So wurde der Freispruch für Gabinius in einem Verfahren de maiestate im Herbst 54 von solch heftigen Protesten, einschließlich einer Lynchdrohung gegen die Geschworenen, begleitet, daß die Verurteilung in einem anschließenden Repetundenverfahren auf diesen massiven Druck zurückgeführt wurde.105 97
So bei der Anklage gegen Scipio Nasica, den Schwiegervater des Pompeius im Jahre 52; App. civ. 2,24,94. 98 Cie. S. Rose. 11. 99 Cie. Verr. 1,47; Verr. 2,1,23; Verr. 2,5,177. 100 So Stimmen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, zitiert bei Hermann F. Hitzig, Die Herkunft des Schwurgerichts im römischen Strafprozess, Zürich 1909, 38. 101 Cie. Flacc. 4. 102 Vgl. Fuhrmann, „Grundrechte" (wie Anm. 16) 103 f. 103 Cie. Cluent. 79. 104 Cie. fam. 8,2,1 (massive Proteste gegen Hortensius im Jahre 51, nachdem er einen Freispruch erreicht hatte). 105 Cic.Q. fr. 3,1,24; 3,4,1; Cass. Dio 39,62,1-63,1.
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Beim Prozeß gegen Milo im Jahre 52 forderte der Volkstribun Munatius Plancus in einer contio die Menge auf, am Schlußtag des Prozesses in großer Zahl zu erscheinen und den Geschworenen deutlich zu machen, daß Milo unter keinen Umständen davonkommen dürfe. Die Menge sollte, so der Aufruf des Tribunen laut Asconius (p.40C), den Geschworenen gegenüber ihr eigenes iudicium bekunden. Weitere Drohungen dieser Art kennen wir nicht nur aus der Republik, sondern auch anläßlich von Prozessen im Senat während des Principáis.106 Das heißt sicherlich nicht, daß man eine Bedrohung des Gerichts in jedem Fall hingenommen107 oder gar Lynchjustiz als legitim angesehen hätte, wohl aber, daß man einen Versuch der Einflußnahme durch Massenproteste nicht generell als unzulässigen „Druck der Straße" abtun konnte und wollte.108 Möglicherweise war es diese Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, die die Frage der Zusammensetzung der Geschworenengerichte als weniger anstößig erscheinen ließ, als man hätte erwarten können. Aber auch wenn die Frage nach dem Legitimitätsgrund der Geschworenengerichte eine anachronistische Spekulation sein sollte, das Problem sich also in dieser Form für die Römer gar nicht gestellt hätte - Gründe, die communis opinio der Forschung zur sachlichen Notwendigkeit dieser Institution in Zweifel zu ziehen, gibt es genug.
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Vgl. Wilfried Nippel, Public Order in Ancient Rome, Cambridge 1995, 42ff.; Susan Treggiari, Roman Social History, London u. a. 2002, 95 ff. 107 In bestimmten Fällen sind (bewaffnete) Mannschaffen zum Schutz von Prozessen aufgeboten worden; vgl. Nippel, Aufruhr (wie Anm. 19) 63; 139. 108 Siehe die ambivalente Stellungnahme des Senats zum Verhalten der Plebs beim Prozeß gegen Piso, den angeblichen Mörder des Germanicus, im Jahre 20 n.Chr.; die massiven Bedrohungen (Tac.ann. 3,14f.; Suet.Cal. 2) werden heruntergespielt, die Plebs dafür gelobt, daß sie auf eigenmächtige Vollziehung der Strafe verzichtet habe. Zeilen 155 ff. des Senatsbeschlusses (Werner Eck u. a. [Hg.], Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996).
Tacitus und der Bataveraufstand Von
Dieter Timpe I. Der Aufstand der Bataver im Rheindelta und die damit irgendwie zusammenhängenden Erhebungen gallischer Stämme und Auxilien bilden einen Nebenschauplatz im bewegten Geschehen der römischen Reichsund Herrschaftskrise der Jahre 69/70 n. Chr. Galliae nutantes zählt Tacitus (hist. 1,2,1) zu den Schicksalsschlägen dieser Zeit in der westlichen Reichshälfte und deutet damit auf die Darstellung voraus, die er den Ereignissen in den ersten Historien-Büchern gewidmet hat, unsere im wesentlichen alleinige Information darüber. Sie beschreibt ein verwirrendes Geflecht aus Truppenmeuterei, Stammesrebellion und Bürgerkrieg, aus begrenzten Konflikten im nördlichen Vorfeld des Reiches und weitreichenden grundsätzlichen Problemen der imperialen Ordnung, aus vorgeschützten Interessen und verborgenen Motiven. Trotz ihrer Ausführlichkeit ist der taciteischen Schilderung ein klares, umfassendes und eindeutiges Bild der Vorgänge kaum zu entnehmen; selbst nach wiederholter Lektüre läßt sie vieles einzelne im Unklaren und erlaubt vielleicht auch im ganzen kein sicheres Urteil über Charakter und Bedeutung des beschriebenen Geschehens. Die bekannten Schwierigkeiten des Autors Brüche im gedanklichen Zusammenhang, anspruchsvoller, aber nicht offengelegter Reflexionshintergrund, eine oft änigmatische Ausdrucksweise, undurchsichtige Voraussetzungen, häufiger Wechsel des Erzähltempos und scheinbar willkürliche Stoffauswahl - begegnen auch hier und verquicken sich mit schwerwiegenden Sachfragen. Aus dem methodischen Zirkel, daß der Ereigniszusammenhang aus der taciteischen Gestaltung erschlossen werden muß, diese aber ohne Kenntnis der historischen Realität (die nur aus dem Vergleich mit anderen Quellen gewonnen werden könnte) kaum zu beurteilen ist, ergeben sich deshalb die meisten der Pro-
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bleme, die in der modernen Forschung in diesem Zusammenhang verhandelt worden sind.1 Dazu kommt eine seltsame Ungunst der Überlieferung: Die Rebellion scheint nach einem höchst wechselhaften und teilweise ganz undurchsichtigen Verlauf ein völlig unerwartbares Ende genommen zu haben. Aber gerade da, wo sich das abzeichnet und vielleicht das Ganze dem Verständnis näher gekommen ist, bricht der erhaltene Text ab, wie ein Fortsetzungsroman, der den Leser an der spannendsten Stelle entläßt. Hier gibt es jedoch keine Fortsetzung: Offenbar ist der Bataveraufstand im Herbst 70 mit der Dedition des Civilis und der Flucht der gallischen (treverischen) Führer erloschen, aber wir wissen nicht genau, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen das geschah, vor allem auch nicht, was danach passierte, und sind zur Einschätzung der Vorgänge, ihrer Bedeutung und Folgen von Kombinationen abhängig und auf Hypothesen angewiesen. 1
Die im folgenden - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - benutzten und abgekürzt zitierten Untersuchungen zum Thema sind, außer den Kommentaren zu Tacitus' Historien von Heinz Heubner, P. Cornelius Tacitus. Die Historien. Kommentar, 5 Bde., Heidelberg 1963-1982; Guy E.F. Chilver, A Historical Commentary on Tacitus' Histories, 2 Bde., Oxford 1979-1985: Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 5: Die Provinzen von Caesar bis Diocletian, Berlin Ί 9 2 1 , 119ff.; Friedrich Münzer, Die Quelle des Tacitus für die Germanenkriege, BJ 104, 1899, 67-111; Erich Swoboda, Petillius Cerialis, RE 19, 1937, 1138-1150; Gerold Walser, Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiserzeit. Studien zur Glaubwürdigkeit des Tacitus, Baden-Baden 1951, 86-128; Franz Altheim, Rez. Gerold Walser, Rom, das Reich und die fremden Völker, Gnomon 23, 1951, 428-434; Willem Sprey, Tacitus over de opstand de Bataven (Hist. IV, 12-37; 54-79; V, 14-26), Groningen 1953; Adalbert Briessmann, Tacitus und das flavische Geschichtsbild, Wiesbaden 1955, 86-105; Ronald Syme, Tacitus, 2 Bde., Oxford 1958, Bd. 1,172-75; Bd. 2,461-63; Peter A. Brunt, Tacitus on the Batavian Revolt, Latomus 19,1960, 494-517 (Nachtrag in: ders., Roman Imperial Themes, Oxford 1990,481 ff.); Ettore Paratore, Tacito, Rom 21962, 511-555; Eduard Merkel, Der Bataveraufstand bei Tacitus, Diss. Heidelberg 1966; Stefan Borzsák, P. Cornelius Tacitus, RE 11, 1968, 442-462; Christoph Β. Rüger, Germania inferior. Untersuchungen zur Territorialund Verwaltungsgeschichte Niedergermaniens in der Prinzipatszeit, Köln u.a. 1968; Géza Alföldy, Die Hilfstruppen der römischen Provinz Germania inferior, Düsseldorf 1968,4548; P. G. van Soesbergen, The Phases of the Batavian Revolt, Helinium 11,1971,238-256; Stephen L. Dyson, Native Revolts in the Roman Empire, Historia 20, 1971, 239-274 (zu Civilis 264 f.); Luigi Bessone, La rivolta batavica e la crisis del 69 d. C., Turin 1972; Harald von Petrikovits, Rheinische Geschichte 1,1: Altertum, Düsseldorf 1978, 70-76; Ralf Urban, Der „Bataveraufstand" und die Erhebung des Iulius Classicus, Trier 1985; Heinz Heinen, Trier und das Trevererland in römischer Zeit, Trier 1985, 70-81; Kenneth Wellesley, The Long Year A. D. 69, Bristol 21989, 168-83; Oliver Schmitt, Anmerkungen zum Bataveraufstand, BJ 193, 1993, 141-160; Dieter Timpe, Der Namensatz der taciteischen Germania (1993), in: ders., Romano-Germanica. Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus, Stuttgart u.a. 1995, 61-92; Martin Hose, Libertas an pax. Eine Beobachtung zu Tacitus' Darstellung des Bataveraufstandes, Hermes 126, 1998,297-309.
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Quellenkritik bot hier wie anderswo den ersten Ausweg aus den aporetischen Ergebnissen genauerer Textanalyse. Wo ein klares Bild der Dinge von einem historischen Autor nicht vermittelt werde, erklärte Friedrich Münzer,2 liege das daran, daß voneinander abweichende Berichte ungenügend zusammengearbeitet worden seien; die Feststellung der Fugen erlaube aber, die Genese des Textes zu rekonstruieren und die Tendenzen seiner Quellen zu erschließen. Münzer führte demgemäß den Häuptbericht über die Aufstandsgeschichte im 4. und 5. Buch der taciteischen Historien (im Gegensatz zu den Ankündigungen in den früheren Büchern, die er einem unbekannten senatorischen Historiker zuschrieb) mit guten Gründen auf den älteren Plinius zurück. Dieser Autor habe eine genaue Kenntnis der Vorgänge besessen, sein Wissen jedoch in den Dienst einer einseitig apologetischen Darstellung gestellt: Um Vespasian gegen den Vorwurf zu verteidigen, er hätte nicht gezögert, barbarische Reichsfeinde gegen den Rivalen Vitellius und seine rheinischen Legionen aufzubieten,3 habe Plinius den energischsten Heerführer der Flavianer, den später kaltgestellten Antonius Primus, für die Mobilisierung der Bataver im Bürgerkrieg verantwortlich gemacht. Tacitus habe aus seiner späteren Sicht zwar die grob proflavische Tendenz seiner Hauptquelle korrigiert, aber die eingehende Beschreibung des Geschehens durch Plinius doch der eigenen Darstellung zugrunde legen können. Erst Gerold Walsers Kritik (1951) richtete sich gegen die taciteische Erzählung selber: Sie folge zwar in den Hauptzügen dem Bericht des Plinius, aber dessen Absicht sei es, anders als Münzer meinte, einmal mehr gewesen, innerrömische Auseinandersetzungen entschuldigend als Kampf mit äußeren Feinden hinzustellen und die gallischen Ereignisse deshalb als Barbarenkrieg zu stilisieren. Um die Flavier vom Odium des Bürgerkrieges zu entlasten, habe Plinius den unrühmlichen Sieg über Mitbürger als Triumph über Germanen gefeiert und die gens Flavia, obscura illa quidem (Suet. Vesp. 1,1), mit dem Ruhm des Drusus, Tiberius und Germanicus umgeben. Diese Tendenz habe Tacitus mit Hilfe von Schablonen der literarischen Rhetorik und ethnographischen Topik noch verstärkt, indem er seine Vorlage mit .rhetorischen Partien' versetzte, nämlich Reden, Erklärungen und psychologischen Motivationen. So sei aus Ereignissen
2
Münzer, Quelle (wie Anm. 1)91; 102; Münzer fuhrt Heinrich Nissen, Die Historien des Plinius, RhM 2 6 , 1 8 7 1 , 4 9 7 - 5 4 8 , 544 ff. weiter; vgl. Hans G. Gundel, Plinius d.Ä., RE 21, 1951,292-294. 3 Tacitus erhebt den gleichen Vorwurf (hist. 4,13,2 f.), scheint aber seine Tragweite abzuschwächen.
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am Rande des Bürgerkrieges das wirklichkeitsfremde und unglaubwürdige Bild eines Krieges gegen auswärtige Feinde entstanden. Einen Schlüssel zum richtigen Verständnis der batavischen Rebellion liefere Tacitus dagegen selbst, erklärte Walser, durch die Hinweise auf Status, militärischen Rang und flavische Parteistellung des römischen Bürgers Civilis; denn das Verhalten eines solchen Mannes lasse sich typischerweise nur im Rahmen innerrömischer Verhältnisse und Interessen verstehen. Was an der literarisch überlieferten Geschichte des Bataverkrieges auch mit dieser Erklärung schlecht vereinbar blieb, schrieb Walser der politischen Tendenz (bereits bei Plinius) oder rhetorischer Barbarentopik (bei Tacitus) zu. Aber fur solche Scheidung zwischen Pragmatik und Rhetorik reichen die Instrumente der Quellenkritik in diesem Falle nicht aus: Die plinianische Vorlage ist aus der taciteischen Darstellung nicht sicher zu rekonstruieren, ihre Tendenz und das Verhältnis des Tacitus dazu sind nicht genau zu bestimmen. Die innerrömischen Aspekte des Civilisaufstandes verschweigt Tacitus nicht, und mit dem subjektiven Maßstab der Glaubwürdigkeit' lassen sich die Unstimmigkeiten der taciteischen Aufstandsgeschichte nicht befriedigend aufklären, so berechtigt und notwendig es ist, ihnen aufmerksam nachzugehen. Deshalb hat die Walser'sehe Interpretation entgegengesetzte Wirkungen gehabt: Die kritische Analyse wurde auf der einen Seite noch vertieft, auf der anderen als unbegründet verworfen; zu einem Ausgleich sind die beiden Betrachtungsweisen bisher nicht gebracht worden. An der Voraussetzung, daß Tacitus in der Beschreibung des Bataveraufstandes der Sachkenntnis, aber auch der proflavischen Tendenz des Plinius verpflichtet sei, hält auch Luigi Bessones eingehende Darstellung (1972) fest. Statt eines Freiheitskampfes reichsangehöriger und transrhenanischer Stämme, bekräftigt der Autor, sei es im Gallien der Jahre 69-70 um Begleiterscheinungen des Bürgerkrieges gegangen, und die Aufgabe der historischen Analyse bestehe in der Feststellung und Korrektur der Verzeichnungen und Übertreibungen des taciteischen Bildes. Den offenkundigen Schwierigkeiten, die der Text dem Verständnis bietet, begegnet Bessone mit der (im einzelnen ausgeführten) Erklärung, daß Civilis vom anfanglichen Kampf gegen die vitellianischen Rheinlegionen nach dem Untergang des Vitellius zur Schaffung einer antiflavianischen Front aus Legionen, Auxilien und Stämmen gelangt sei. Was dabei die Interpretation des einzelnen an Sachnähe gewinnt, verliert freilich der Generalschlüssel an Erkenntniswert: Wenn die Beteiligung von Stämmen an der Revolte
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deren antirömisches Gepräge erklärt,4 bestätigt dies in gewissem Grade die taciteische Sicht; stellte Tacitus die äußeren Gefahren als Folge der inneren Krise hin,5 dann hat er den Aufstand eben nicht, seiner Quelle folgend, als bellum externum verfälscht; wenn Tacitus trotz stofflicher Abhängigkeit von Plinius als selbständig urteilend gelten muß, 6 so kann die Tendenz des Vorgängers fur ihn nicht bestimmend gewesen sein. Ralf Urban, der (1985) Bessones kritische Argumentation zu vertiefen und zu erweitern unternahm, 7 ist einigen dieser Bedenken nachgegangen und betont zu Recht, daß die notwendigerweise geringere Sachkenntnis des modernen Beurteilers ihm nicht die Möglichkeit der Kritik der antiken Quelle nehme, Plausibilitätserwägungen und Einwänden der Sachlogik also ihr Recht auch dort bleibe, wo eine zuverlässige positive Rekonstruktion des Sachverhalts nach Lage unserer Information nicht möglich ist. Urban hat unter dieser Voraussetzung besonders das Verständnis der taciteischen Darstellungsabsicht gefordert, indem er zeigt, daß der Historiker zwar in mancher Hinsicht die flavische Sicht der Ereignisse und Akteure teilt, aber andererseits auch Kritik am Verhalten der Flavianer und der Darstellung ihrer historiographischen Propagandisten übt und so aus Zustimmung, Widerspruch und eigenem Urteil ein selbständiges Bild der Vorgänge gewinnt.8 Danach wäre Civilis bis ins Jahr 70 hinein von den Flavianern als Parteigänger betrachtet und benutzt worden, hätte aber dabei seine Auftraggeber überspielt und wäre so zur ernsthaften politischen Gefahr geworden; daß ihr von den neuen Herren (als ,betrogenen Betrügern') aus Fahrlässigkeit und Unfähigkeit nicht angemessen begegnet wurde, erkläre den schwer verständlichen Ausgang der Civilis-Geschichte. Wo diese Deutung zur Verwerfung eindeutiger taciteischer Angaben wie der Eidleistung auf Vespasian im Herbst 69 (Tac. hist. 4,31) oder der frühen Kooperation zwischen Civilis und Classicus (hist. 4,55,1) nötigt, dominiert freilich wieder die innere Logik der Rekonstruktion über die Interpretation der Quelle statt sich an ihr zu bewähren. Der Autor verkennt denn auch den hypothetischen Charakter seines Ergebnisses nicht.9 Wenn weder Quellenscheidung noch Glaubwürdigkeitskriterien die erwünschte historische Evidenz gewährleisten und weder auf dem Weg über die Genese noch dem über eine Tendenz des Textes eine sichere Be4 5 6 7 8 9
Bessone, Rivolta (wie Anm. 1 ) 25 ff. Bessone, Rivolta (wie Anm. 1 ) 28. Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 35; 42. Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 6. Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1 ) 94 ff. Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 97.
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wertung seiner inhaltlichen Aussagen zu erreichen ist, kann die pragmatische Position, die neben anderen besonders Peter A. Brunt vertreten hat, ein begrenztes Recht behaupten. Sie hält aus Zutrauen in die überlegene Kenntnis und das vernünftige Urteil des Autors Tacitus, von denen auch unser Wissen abhängig ist, bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils an der Richtigkeit und Zuverlässigkeit seiner Darstellung fest. Daraus ergeben sich zurückhaltend-nüchterne Erwägungen (etwa zum Freiheitsstreben' und Einheitsbewußtsein der gallisch-germanischen Rebellen, zum römischen dilectus oder zur Quellenfrage)10 und berechtigte Antikritik an manchen Argumenten der Vorgänger (z.B. der vermeintlichen Betonung eines bellum externum - und der unterstellten Bedeutung dieses Begriffes - bei Plinius und Tacitus)", ohne daß doch der grundsätzliche Anstoß der Kritiker auf diesem Wege zu beheben wäre: die Abhängigkeit von einer Quelle, deren offensichtlich autoritatives Vorverständnis des historischen Sachverhalts in der Selektion der behandelten Vorgänge und der behaupteten Motivation der Handelnden deutlich zum Ausdruck kommt, aber nicht überwunden werden kann. Die (wahrscheinlich verschiedenen) Ziele der rebellischen Auxiliaroffiziere, der Zusammenhang der lingonisch-treverischen Aufstandsbewegung des Classicus mit der batavischen des Civilis, die Einschätzung der politischen Haltung der rheinischen Legionen (vor und nach dem Ende des Vitellius) und ihres Verhältnisses zu den Auxilien des exercitus Germanicus, schließlich und vor allem das Verhalten und die Bewertung des Civilis in den einzelnen Phasen der flavischen Machtgewinnung im Zusammenhang mit den verschiedenen Eidesleistungen: Diese nach der taciteischen Darstellung zentralen Punkte des Bataveraufstandes können trotz intensiver Diskussion nicht als befriedigend geklärt gelten. Ist es auch ohne weitläufige Erörterungen (die den Rahmen eines Aufsatzes übersteigen würden) nicht möglich, in diesen Fragen weiterzukommen, so erlaubt doch vielleicht eine einfache Beobachtung, die taciteische Position im ganzen besser zu verstehen.
II. Der römische Historiker hat den Vorgängen in Gallien und an der Rheingrenze fast ein Viertel der Geschichte des Vierkaiseijahres gewidmet, die ihrerseits einen ganz unverhältnismäßig großen Teil der Historien, näm10 11
Brunt, Batavian Revolt (wie Anm. 1) 498 ff.; 509 f. Brunt, Batavian Revolt (wie Anm. 1) 506 f.
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lieh etwa ein Drittel, eingenommen hat. Der Aufstandsgeschichte kommt also im taciteischen Werk ein außerordentliches quantitatives Gewicht zu, für das es in den spärlichen erhaltenen Parallelquellen nichts Vergleichbares gibt. Cassius Dio ist für die Aufstandsgeschichte nur im Auszug des Xiphilinos erhalten;12 aber auch die Verkürzung gibt noch zu erkennen, daß der Autor den Ereignissen nur geringe Bedeutung beigemessen hat. Unter den Anfängen Vespasians werden Stammesrebellionen in Gallien erwähnt,13 die Petilius Cerialis in mehreren blutigen Schlachten14 niedergeworfen habe; als denkwürdiges θαΰμα wird nur die Geschichte des Lingonen Iulius Sabinus15 hervorgehoben, im übrigen betont, daß die Vorgänge nach Auffassung des Autors nicht bemerkenswert seien.16 - Flavius Iosephus billigt den Vorgängen um den Bataveraufstand größere Bedeutung zu: Er stellt sie bereits einleitend in Parallele zum jüdischen Krieg und anderen Krisensymptomen der Zeit, im 7. Buch mit dem Einfall der Sar-
12 Cass. Dio 66,3,1-3 (Xiphilinos 204 Boiss.); 66,16,1-2 (Sabinusgeschichte aus Xiphilinos z.J. 76). Vgl. Fergus Millar, A Study of Cassius Dio, Oxford 1964, 2f.; Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 6, führt die Dürftigkeit des dionischen Berichtes auf die Benutzung der plinianischen Historien zurück. 13 Έν δέ Tfj Γερμανία αλλαι τε κατά Τωμαίων έπαναστάσεις έγενοντο. Truppenmeuterei heißt eher στάσις (στασιάζειν), z.B. 56,12,2; θόρυβος (θορυβεΐν), z.B. Cass. Dio 56,13,1; 57,4,1 (Boissevain, Index Graec.s.w.); die Mehrzahl von Aufständen und die folgende Nennung des Lingonen Iulius Sabinus sprechen dagegen, daß Dio die taciteische Vorstellung teilte, Civilis und die Bataver seien Führer und Hauptträger der Rebellion gewesen. Zum Begriff Germania s. Cass. Dio 53,12,6. Germania als Bezeichnung der von Legaten verwalteten germanischen Heeresbezirke z.B. Cass. Dio 56,24,1; 57,5,1; 59,22,5; Cass. Dio (Xiphilinos) 61,30,4; 63,24,1; 64,5,3; 67,11,1 (vgl. Boissevain, Index histor. s. w . Germani, Germania). 14 Unklar ist, welche gemeint sind; der,vorbeifließende, durch die Leichen der Gefallenen gestaute Fluß' (Cass. Dio 63,3,3) ist mit keiner taciteischen Schlachtschilderung sicher zu verbinden, am ehesten dem in Tac. hist. 4,77 beschriebenen Gefecht um die Moselbrücke zuzuweisen. 15 Vgl. Tac.hist. 4,67; Plut. am. 25, p.770f.; Cass. Dio 66,16,1 f. 16 (έπαναστάσεις, s. Anm. 12) ουδέν ές μνήμην έμοί γοΰν όφελος φέρουσαι. Das persönliche Urteil ist m. E. (anders Boissevain z. St.) aus Dio entnommen: Bei der „spasmodic and often barely intelligible narrative" des Xiphilinos (Fergus Millar) wäre es merkwürdig, wenn der Exzerptor zu dieser Einschätzung aus eigener Einsicht gekommen wäre, bei Dio ist das persönliche Urteil dagegen häufig (vgl. nur aus dem 54. Buch: 1,2; 15,3; 28,4; 35,3; Gebrauch der 1. Person bei Xiphilinos offensichtlich aus Dio übernommen z.B. 63,26,4; 65,14,1; 65,14,3-4; 66,17,4; 67,15,3; 67,18,1). Aber auch wenn Xiphilinos selbst in 1. Person spräche, müßte er dafür einen Anhaltspunkt in der Vorlage gehabt haben. - Die Quelle Dios kann, wie die Domitian zugeschriebene Rolle, die blutige Schlacht und der gestaute Fluß (Mosel oder Rhein?) und die Beschreibung des Sabinus (anders Tac. hist. 4,67) zeigen, nicht die des Tacitus gewesen sein.
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maten nach Moesien, zusammen; 17 der Abfall vieler reichsangehöriger Germanen und benachbarter Gallier habe das Ziel gehabt, bei günstig scheinender Gelegenheit das Joch der römischen Herrschaft (ή "Ρωμαίων δεσποτεία) abzuschütteln. Classicus und Civilis (?) werden als Anführer der Bewegung genannt, die unter Cerialis' Führung und dank Domitians hervorragender Autorität besiegt wurde. Aber neben der geringen historiographischen Qualität des Berichts18 unterscheiden die Beurteilung der Ereignisse als reiner Stammesrebellion und ihre zeitliche Festlegung in den Anfang der flavischen Herrschaft auch die Darstellung im Bellum Judaicum grundsätzlich von der Sicht des Tacitus. - Die wenigen Bemerkungen in anderen Quellen bestätigen dieses Bild: Sueton erwähnt den Bataverkrieg in der Vespasianvita nicht, beurteilt aber Domitians expeditio in Galliam Germaniamque eindeutig als überflüssig und allein durch persönlichen Ehrgeiz veranlaßt.19 Eine kurze Bemerkung Frontins verrät Kenntnis militärischer Details, die hier, ohne einen allgemeinen Zusammenhang anzudeuten, im Sinne einer Huldigung an Domitian verwendet werden (Frontin. strat. 4,3,14). Plutarch beschreibt die Erhebung der Rheinlegionen gegen Galba, ohne aber auf die Haltung der Auxilien einzugehen, und erwähnt in der Beschreibung der Schlacht von Bedriacum die batavischen Reiter; sein besonderes Interesse am Schicksal des Lingonen Sabinus ist durch die Beziehung von dessen gleichnamigem Sohn zu Delphi motiviert;20 ohne historischen Bezug sind die Anspielungen der flavischen Dichter auf die gallischen Ereignisse. 2 ' Keine der in Geschichtsschreibung oder Kaiserbiographie erhaltenen Mitteilungen über die gallisch-germanischen Aufstände läßt also vermuten, daß es eine Behandlung dieses Stoffes gab, die sich nach Umfang und Gewicht auch nur annähernd mit dem taciteischen Bericht vergleichen ließe. So bleibt die Frage, ob die Proportionen, in denen Tacitus den Bataverkrieg darstellt, in Plinius' Historien, der vermutlichen Hauptquelle, vorgezeichnet waren. Das ist zwar nicht auszuschließen, aber auch dann würde man Tacitus zubilligen dürfen, daß er die Gewichtung des Vor17
los. bell. lud. 7,75-88 (mit unerklärter Konfusion der Namen); 1,5; Moesien-Parallele 7,89-95. - Der jüdische Krieg ist aber natürlich ,der größte Krieg' (1,1,1). 18 Neben den topischen Zügen des irrationalen Barbarenbildes sprechen dafür die fehlerhaften Namen, die Konfusion der Ereignisschilderung und die flavische Tendenz (Domitianhuldigung); s. Swoboda, Petillius Cerialis (wie Anm. 1) 1140; Briessmann, Tacitus (wie Anm. 1) 89 f. 19 Suet. Dom. 2,1; vgl. Briessmann, Tacitus (wie Anm. 1) 90. 20 Plut. Galba 18; 22,1-23,1; Plut. Otho 12,7f. - Sabinus: Plut. am. 25, p.770f.; vgl. Friedrich Münzer, Iulius Sabinus, RE 10, 1919, 795-796. 21 Mart. 2,2,3 f.; Sil. 3,607f.
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gängers nicht mechanisch übernahm, sondern auf ihre Berechtigung hin durchdachte und ihr nur folgte, wenn und weil sie auch seiner eigenen Einschätzung des historischen Sachverhalts und den Fluchtlinien seines eigenen Werkes entsprach. Auch bedeutet überdurchschnittliche Ausführlichkeit in der Beschreibung selbsterlebter Operationen, die Plinius (ähnlich wie bei Velleius Paterculus) wohl zu unterstellen ist, noch nicht, daß sie dem gleichen Verständnis des Gesamtzusammenhanges diente wie bei Tacitus, eine Unterscheidung, die in der bisherigen Forschung auch schon öfter betont worden ist. In dem Gewicht, das Tacitus der Geschichte des Bataverkrieges beimißt, spricht sich offensichtlich ein Urteil des Autors über die historische Tragweite des behandelten Geschehens aus, das aller Gestaltung des einzelnen vorausging und von dem nicht anzunehmen ist, daß er es mechanisch Plinius entlehnt hat. Die wenigen Notizen in der erhaltenen außertaciteischen Überlieferung lassen weiter vermuten, daß andere Autoren dem Stoff jeweils nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt Aufmerksamkeit schenkten, sei es nun die Rolle Domitians, die Bedrohung des Imperiums durch regionale Aufstände, die Leistungsfähigkeit der Bataver im Kriege, das Interesse an dem seltsamen Schicksal des Sabinus oder anderes. Von der chronologischen, räumlichen und thematischen Komplexität der taciteischen Darstellung scheinen sie jedoch alle weit entfernt geblieben zu sein. Vieles spricht dafür, daß auch Plinius davon keine Ausnahme gemacht hat, obwohl er zweifellos über detaillierte militärische und geographische Kenntnisse, spezielles Interesse am Gegenstand und die Bereitschaft, breit über Selbsterlebtes zu berichten, verfügte. Mit großer Wahrscheinlichkeit schrieb er über den Bataveraufstand in seiner Zeitgeschichte a fine Aufidii Bassi22 und behandelte ihn dort zusammenhängend als militärisches Geschehen im Rahmen des flavischen Machtkampfes nach der Entscheidung von Bedriacum. Kenntnis der äußeren Vorgänge und besonders der Schauplätze in der Germania inferior hieß nicht notwendig (wie wiederholt behauptet worden ist), die Ereignisse tendenziös als bellum externum zu gestalten, bedeutete aber auch nicht, daß der Autor Einblick in heikle politische Hintergründe gehabt oder sie gar kritisch erörtert haben muß. Da das Werk unter Vespasian in relativer zeitlicher
22
Siehe Münzer, Quelle (wie Anm. 1) 67ff.; Walser, Rom (wie Anm. 1) 126f.; Gundel, Plinius d.Ä. (wie Anm.2) 293; Syme, Tacitus (wie Anm. 1) 288ff.; Brunt, Batavian Revolt (wie Anm. 1) 495; Paratore, Tacito (wie Aran. 1) 513; Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 27; Klaus Sallmann, Der Traum des Historikers. Zu den „Bella Germaniae" des Plinius und zur iulisch-claudischen Geschichtsschreibung, ANRW 2, 32, 1, 1984, 578-601.
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Nähe zu den Ereignissen und in positiver Einstellung dem Princeps gegenüber geschrieben wurde, ist zweifellos und im Sinne der communis opinio der Forschung eine herrschaftsloyale Darstellung vorauszusetzen, deren Ausführlichkeit eher auf Verlebendigung von Details als auf distanzierte historische Bewertung des Ganzen oder Auslotung allgemeiner Zusammenhänge ausgerichtet war. Tacitus wird allen Grund gehabt haben, die Informationen des älteren Plinius zu schätzen und ihn im übrigen den hist. 2,101,1 charakterisierten scriptores temporum, qui ... monimenta huiusce belli composuerunt zuzurechnen. Tacitus folgte also offenbar weder in quantitativer Hinsicht noch im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung einfach dem scheinbar evidenten Gewicht der Ereignisse oder unreflektiert den vorgegebenen Akzentuierungen seiner Quellen. Um so mehr ist die all dies bestätigende Erklärung ernst und beim Wort zu nehmen, mit der der Historiker die zeitlich zurückgreifende Hauptdarstellung beginnt (hist. 4,12,1, ähnlich bereits in der Ankündigung 3,46,1); er nimmt hier ausdrücklich eine ganz eigenständige Sicht und Behandlung der Vorgänge in Gallien für sich in Anspruch: Die politische Tragweite der römischen Niederlagen sei zu ihrer Zeit im Banne des Parteifurors sträflich verkannt worden,23 er werde (deshalb) die Ereignisse des Bataverkrieges ausfuhrlich (und, so ist wohl gemeint, nunmehr erstmals in ihrem wahren Zusammenhang) darstellen {altius expediatri). Die Verflechtung und Interdependenz der Probleme deutlich zu machen, gehört also zu seinem historiographischen Programm, das auch erst in nachflavischer Zeit verwirklicht werden konnte. Wiederholt betont denn Tacitus auch, das Besondere der Vorgänge in Gallien bestehe darin - und die Schlüsselfunktion dieser Auffassung ist längst gesehen - , daß dieser Krieg zugleich ein äußerer und innerer gewesen sei;24 das ist so deutlich formuliert, daß sich alle Versuche erledigen sollten, Tacitus eine tendenziöse Verengung der Aufstandsgeschichte auf ein bellum externum zuzuschreiben. Vielmehr weist er mit seiner programmatischen Erklärung die Geringschätzung zurück, mit der so viele Vorgänger den Bataverauf23
Cladis Germanicae famam nequaquam maesta civitas excipiebat; caesos exercitus, capta legionum hiberna, descivisse Gallias non ut mala loquebantur (vgl. Tac. hist. 4,14,4). Der Gedanke, der eine Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung zu enthalten scheint, wird also sogar zweimal ausgedrückt. 24 Tac. hist. 1,2,1 trina bella civiltà, plura extema ac plerumque permixta; 2,69,1 principium interno simul externoque bello parantibus fatis; 4,12,1; 4,22,2 mixta belli civilis externique facie. Vgl. Münzer, Quelle (wie Anm. 1) 91; Walser, Rom (wie Anm. 1) 123 ff.; zuletzt Hose, Libertas (wie Anm. 1) 299 f.; dagegen mit Recht schon Brunt, Batavian Revolt (wie Anm. 1) 507 f.
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stand auf eine Randerscheinung der römischen Herrschaftskrise reduzieren wollten, die wie andere mit der Durchsetzung Vespasians und der wiederhergestellten Schlagkraft der Legionen von selbst ihre folgenlose Erledigung fand. Er übergeht die aus adulatio oder odium stammende, unsachgemäße Sicht der Ereignisse unter der beschränkten Perspektive der Domitian-Biographie und er verwirft auch jene kurzsichtige Auffassung, die bei den Konflikten zwischen rheinischen Legionen und gallischen Stämmen seit Vindex nur Gewinn oder Verlust der Bürgerkriegsparteien verzeichnete. Weder die Reduktion des Civilis auf einen innerrömischen Parteigänger der Flavier noch die Annahme, daß Tacitus den Bataverkrieg als bellum externum stilisiert habe, kann deshalb zutreffen. Tacitus diagnostiziert in der Rebellion und ihren Folgen geradezu eine Existenzgefahrdung Roms25 und will sich mit seiner - vom tatsächlichen Ergebnis her gesehen- eher paradoxen Bewertung anscheinend auch polemisch gegen Vorgänger absetzen, die darüber ganz anders urteilten. Diese Bewertung ist es also offenbar, die die Ausführlichkeit seiner Darstellung der Ereignisse (hist. 4,12,1) begründet. Sein emphatisches - und wohl auch provokatives - Urteil rechtfertigt er des näheren mit dem unglücklichen und verwirrenden Zusammenwirken von vier Faktoren: dem Versagen der römischen Führung, der Insurrektion der (rheinischen) Legionen, der Gefährdung von außen (durch rechtsrheinische Germanen) und der Treulosigkeit (gallischer) socii.26 - Erst am Ende läßt auch er die geschlagenen und ruinierten Bataver sich gleichsam ernüchtert die Augen reiben und fragen: Ja, der wievielte Teil der Menschheit sind wir denn, daß wir uns herausnehmen könnten, die Welt zu ändern, wie sie nun einmal ist!27 In solcher Spannung zwischen einer höchsten, das Imperium bedrohenden Gefährdung und dem klaren - wenn auch an Unfällen und Rückschlägen reichen - römischen Sieg am Ende, der auf der anderen Seite der Kontrast zwischen dem Übermut von Weltbefreiern und dem fast mitleidheischenden Katzenjammer der letzten Verlierer in ihrem holländischen Morast entspricht, steht die dramatische taciteische Geschichte der gallischen Geschehnisse. 25
Mit Symes Worten (Tacitus [wie Anm. 1] Bd. 1, 172): „The rebellion on the Rhine that threatend the whole fabric of Empire." 26 Tac. hist. 3,46,1 socordia ducum, seditione legionum, externa vi, perfidia sociali prope adflicta Romana res; vgl. aus der Sicht des Gegners: 4,14,4 (Civilis-Rede); Heubner, Kommentar (wie Anm. 1) Bd. 3, 115, verweist auf das Livius-Vorbild der Formel adflicta Romana res (Liv. 23,11,11 ); daß sich diese Stelle auf Cannae bezieht, illustriert die taciteische Einstellung der historischen Situation auch mit Stilmitteln. 27 Tac. hist. 5,25,1 quotam partem generis humani Batavos esse?; vgl. die prahlerische Umkehrung 4,32,3.
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Sie strebt jedoch trotz ihrer Ausführlichkeit und Komplexität nicht monographische Verselbständigung der um Civilis zentrierten Vorgänge an, wie sie etwa biographisches Interesse an einem Hauptakteur hätten nahelegen können oder die Tendenz der rhetorischen Historiographie zur Gestaltung farbiger Ereignisse und jäher Wendungen oder die Neigung zur ausmalenden Veranschaulichung denkwürdiger Details (wie bei Cassius Dio und Plutarch). Im Gegenteil wirkt Tacitus solcher thematischen Zusammenfassung und Isolierung, wie sie wohl von den Vorgängern und vermutlich auch von Plinius betrieben wurde, gerade entgegen. Zwar sind das vierte Historienbuch und der erhaltene Rest des fünften zum größten Teil den Vorgängen in Gallien gewidmet, und der Aufstandsbericht beginnt (hist. 4,13,1) und endet (hist. 5,26) mit den Aktionen und Entschlüssen des Civilis, womit Tacitus wohl der ihm vorliegenden Tradition gefolgt ist. Aber die Geschichte des Bataverkrieges gerät bei ihm deshalb doch nicht zu einem großen, losgelösten, in den Anfangen der flavischen Herrschaft lokalisierten kriegsgeschichtlichen Exkurs mit einer vereinfachten, aber klaren Handlungslinie. Charakteristisch und aufschlußreich ist vielmehr, daß die Aufstandsgeschichte mit dem verwickelten Gesamtgeschehen der Zeit verzahnt bleibt und - zumindest nach der Anschauung und Darstellungsabsicht des Autors - immer auch mit anderen Schauplätzen und Handlungsfaden synchronisiert, ja, in die weitesten zeitgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen Perspektiven eingelassen ist. Die taciteische Gestaltung der Bataverrebellion tendiert nicht zur selbständigen Episode, sondern bleibt in der Mitte der Zeitgeschichte. Dazu hat Tacitus die Einheit der Aufstandsgeschichte aufgegeben und sie zunächst phasenweise, zum Teil retrospektiv und in drei großen Blökken eingeschoben, in die verschlungenen Abläufe und Motivgeflechte des Bürgerkrieges mit seinen Prätendentenkämpfen, Intrigen und Schlachtentscheidungen, dem kraftvollen oder kläglichen Verhalten von Legaten, denen das Schicksal eine unerwartete Rolle zuspielte, den Stimmungen und Parteinahmen von Heeren und der Rivalität benachbarter civitates, den stadtrömischen Ereignissen und außenpolitischen Verwicklungen. Das vierte Buch der Historien beginnt nach dem Untergang des Vitellius mit den verworrenen Anfängen der flavischen Herrschaft und wenig konsequenten Abrechnungen mit dem alten Regime, bis Mucian alle Macht in Rom an sich zieht. Gerüchtweise, aber sich immer mehr verdichtend, gelangt „in diesen Tagen" (Ende Dezember 69) angeblich die Nachricht von schweren Niederlagen der Rheinarmee (caesos exercitus, capta legionum hiberna, descivisse Gallias) nach Rom. Die der Fama
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zugeschriebene Übertreibung antizipiert die Katastrophe, die dann tatsächlich kommen sollte, wohl um die .Größenordnung' des Geschehens28 zu charakterisieren und seine Verkennung (nequaquam maesta civitas) als verhängnisvolle parteipolitische Verblendung bloßzustellen (hist. 4, 12,1). Der damit eingeleitete Erzählblock (hist. 4,12-37) beschreibt die der Haupthandlung vorausliegenden Ereignisse und endet hist. 4,3 8,1, als sie diese (mit dem Beginn des neuen Jahres) wieder erreichen. Diese Retrospektive umfaßt also die Vorgeschichte und die ersten, von Hordeonius Flaccus gedeckten Aktionen des Civilis, den Anschluß der batavischen Auxilien und den Kampf gegen die niedergermanischen Legionen bis zur zweiten Belagerung von Vetera; Binnenzäsur und einzige absolute Zeitangabe ist die Synchronisierung der (ersten) Belagerung mit der Schlacht von Bedriacum (hist. 4,38,1). - In umgekehrter Richtung, aber wiederum zeitlich versetzt (interim),29 begründet die nach Gallien gelangte Nachricht vom Ende des Vitellius (hist. 4,54,1), daß der Krieg - nicht etwa erlischt, sondern - an Heftigkeit noch zunimmt, der Legat Hordeonius Flaccus ermordet wird und Civilis seine dissimulatio aufgibt. Damit setzt der zweite Erzählblock ein (hist. 4,54-78), in dessen Zentrum die Verbindung des Civilis mit der coniuratio der Treverer- und Lingonen-Präfekten steht, die zum Untergang der Rheinlager und zur Ermordung des Legaten Vocula fuhrt. Mucians Entschluß, Annius Gallus und Petilius Cerialis an den Rhein zu schicken (hist. 4,68,1), verknüpft die Aufstandsgeschichte wieder mit der gleichzeitigen flavischen Herrschaftskonsolidierung in Rom und leitet den Umschlag ein, der doch nicht schnell und eindeutig zum römischen Sieg führt: Ambivalent wie das Urteil über Cerialis' Führung (hist. 4,78,2) lautet das Ergebnis über den an Rückschlägen reichen Feldzug (hist. 4,79,4). Am Ende stehen den Schlachterfolgen im Trevererland retardierend die weiterhin ungewisse Lage in Nordgallien und der ungebändigte Ehrgeiz Domitians gegenüber. - In der dritten Sequenz (hist. 5,14-26), die, anders als die vorigen, unvermittelt und nicht zeitlich versetzt beginnt, folgt einer erneuten Steigerung der Anstrengungen beider Parteien (hist. 5,14,1) der Endkampf in der rheinischen Heimat der Bataver, nun aus der Sicht eindeutiger römischer Überlegenheit, aber auch mit viel Kritik an der römischen Führung beschrieben und unerwartet in die Friedensbereitschaft beider Seiten einmündend. Civilis kommt der Gefahr, ihr Opfer zu werden, zuvor (hist. 5,26,1) und erklärt sich dem 28
Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 12. Heubner, Kommentar (wie Anm. 1) Bd. 4, 128; Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 11, etwa ein halbes Jahr nachhinkend.
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siegreichen römischen Legaten gegenüber unter Berufung auf Briefe und Aufträge der Anhänger Vespasians zum Flavianer und Opfer des Bürgerkrieges. Was diese Entschuldigung bewirkt haben mag, verrät der Text nicht mehr. Hohe Bewertung der gallischen Ereignisse, die sich in der ungewöhnlichen Umfangszumessung ausdrückt, große Komplexität des Geschehens, die Tacitus explizit und nachdrücklich betont, und kompositionelle Verflechtung der Aufstandsgeschichte in die allgemeine römische Zeitgeschichte sind also die besonderen Merkmale der taciteischen Darstellung des Bataverkrieges, durch die sich der Historiker bewußt und absichtlich von der Auffassung und Stoffbehandlung seiner Vorgänger absetzte. Was den Autor in trajanischer Zeit zu dieser bemerkenswerten Revision bewog, kann man nur vermuten und die allgemeinen Gründe dafür im biographischen Erleben, in der zeitgeschichtlichen Erfahrung und im historischen Nachdenken suchen. Die flavische Zeit mit dem Bürgerkrieg als ihrem Auftakt und folgenreichen Beginn bildete für Tacitus auch noch nach der Bedrückung durch Domitian und durch dessen Beseitigung die Voraussetzung für die rara felicitas temporum, in der er selbst rückschauend zu schreiben behauptet (hist. 1,1,4); in diese Epoche weiß der Autor nicht zuletzt auch seine eigene Lebensgeschichte eingebettet. Sie stellte für ihn einen weiten, unmittelbaren und existentiellen Erfahrungshintergrund dar, der überdies vor dem Sturz der Tyrannis keinen angemessenen öffentlichen Ausdruck hatte finden können. Wer damals als Zeithistoriker ein noch immer wirkungsmächtiges Kriegsgeschehen analysieren wollte und dabei andere als vordergründige, naheliegende und den Mächtigen genehme Deutungen der Ursachen und Zusammenhänge in Betracht gezogen hätte, wäre angesichts der Undurchsichtigkeit, des Informationsmangels und des unvermeidlichen Konflikts mit Machtinteressen rasch in schwieriges Gelände geraten. Der Verfasser der Historien verrät im Proömium sein Bewußtsein dieser Lage, aber auch den Ehrgeiz und die (durch den Machtwechsel gegebene) Chance, sie zu meistern. - Aber über derartige Erwägungen hinaus bleibt die direkte Motivation des Autors für sein Vorhaben unbekannt; wir können jedoch die historiographische Praxis beobachten, in der sich seine Absicht realisierte, und müssen fragen, was sie leistete und nicht leistete.
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III. Tacitus schätzte die historische Relevanz der gallischen Ereignisse anders ein als bisher und brachte das durch die Art seiner Darstellung zum Ausdruck: Sie konstituierte zunächst den Kontext anders und weiter als bisher. Die vortaciteische Anschauung rechnete offenbar den Bataveraufstand zu den Stammesrebellionen der unsicheren Anfangszeit Vespasians. Das war die natürliche und nächstliegende Auffassung des Geschehens, für die offensichtliche Tatsachen sprachen: Der Aufstand begann eindeutig, unvoreingenommen betrachtet, erst zu Beginn des Jahres 7030 und endete bereits im Spätsommer, er fiel also in das erste Jahr des vespasianischen Principáis; als Exponenten ihrer Stämme waren Classicus und Civilis in Erscheinung getreten, und im Trevererland und auf der Bataverinsel hatte sich der Krieg entschieden, er stellte also eine regional begrenzte Revolte dar. Der Vergleich mit anderen Aufstandsbewegungen der Bürgerkriegszeit unterstützte diese in flavischer Zeit wohl herrschende Beurteilung: Verglichen nämlich mit numquam satis quieta Britannia (hist. 2,97,1) oder den Dakern, gens numquam fida (hist. 3,46,2), mit gleichsam natürlichen Feinden der römischen Ordnung, nahmen sich die Erhebungen romanisierter Gallier und Germanen der Belgica eher unscheinbar und untypisch aus.31 Der zeitlich und räumlich geringen Tragweite der Bewegung entsprach ein begrenztes historisches Interesse an den Vorgängen in Gallien. Wohl aus diesem Grunde hielten Dio und seine Quelle die gallischen Ereignisse denn auch nur für eine kaum bemerkenswerte Affare. Abweichungen von dieser Einschätzung erklären sich aus besonderen und begrenzten Interessen. So war Plinius aus persönlichem Erleben an den Ereignissen im einzelnen, besonders den militärischen Operationen, stärker interessiert und beschrieb sie deshalb ausfuhrlicher und kompetenter als alle anderen flavianischen Historiker, eingehender auch als andere (und womöglich wichtigere) Ereignisse in der Geschichtsschreibung gewürdigt wurden. Aber daß Plinius die historische Bedeutung des
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Tac. hist. 3,46,1 turbata per eosdem dies Germania; 4,55,1 ante Flacci Hordeonii caedem nihil prorupit quo coniuratio intellegeretur. Flaccus wurde Januar 70 (Urban, „Bataveraufstand" [wie Anm. 1] 48), frühestens Ende Dezember 69 (von Petrikovits, Rheinische Geschichte [wie Anm. 1 ] 73; Werner Eck, Die Statthalter der germanischen Provinzen vom 1.-3. Jahrhundert, Köln 1985, 31) ermordet. 31 Wenn Tacitus in der Umschau über den Zustand des Imperiums nach dem Zusammenbruch der Vitellianer (hist. 3,44-47) die besondere Aufmerksamkeit fordernde Germania turbata erwähnt, aber ihre Behandlung auf später verschiebt, so wohl nur deshalb, weil er schon hier seine Bewertung der Vorgänge (hist. 4,12,1; s.o.) hineinträgt.
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Aufstands grundsätzlich anders beurteilte, ist damit nicht erwiesen. Anhängern und Lobrednern der Sieger (wie Frontin und vielleicht ebenfalls Plinius) bot das Geschehen Gelegenheit, Domitians angebliche Großtaten zu feiern, was nach dessen Sturz (etwa für Sueton) gerade Anlaß sein mochte, sie herabzusetzen oder mit Stillschweigen zu übergehen. Andere, gleichsam optische Vergrößerungen des Geschehens am Rhein ergaben sich da, wo der Aspekt der Unterstützung durch auswärtige Barbaren bedrohlich ausgemalt wurde, wie bei Iosephus, der damit die Parallele zum jüdischen Krieg verbindet,32 oder wo die seelische Erregung der Zeit Druidenprophezeiungen, Capitolsbrand und Stammesrevolten in einen Zusammenhang brachte, der natürlich nicht zu objektivieren war und es auch für uns nicht ist.33 Tacitus ordnet aber die Aufstandsgeschichte in ganz andere Dimensionen ein und er bedient sich dazu eines gerade zum Verständnis von Kriegen wohlbekannten Verfahrens. Es läuft darauf hinaus, durch Darlegung einer tieferen, allgemeineren und langfristigen Konfliktlage die äußeren, formalen Begrenzungen eines Krieges als bloß vordergründig zu relativieren. Am einfachsten geschieht solche Kontexterweiterung durch zeitliche Extension (vgl. hist. 3,46,1). Der Krieg begann ,eigentlich' viel früher als gewöhnlich angenommen: Vor der Ermordung des Hordeonius Flaccus, also frühestens Ende Dezember 69, gab es nichts, woran von außen eine Verschwörung zu erkennen gewesen wäre, stellt Tacitus sicherlich zu Recht fest (hist. 4,55,1); aber Civilis begann novas res, zum Abfall entschlossen (wenn auch occultato Consilio), schon viel eher, nämlich auf die Briefe des Antonius Primus hin, also im Sommer 69 (hist. 4,14,1). Auf dem Wege über die Motivation des Hauptakteurs und deren Ursachen, seine Verfolgung unter Vitellius und Nero (hist. 1,59,1; 4,13,1; 4,32,2), reicht die unmittelbare Vorgeschichte (causae) dadurch in die Zeit der Vindex-Erhebung (Frühjahr 68) zurück. Tacitus verfugte
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los. bell. lud 1,5 Τωμαίους δέ οϊ τε γείτονες Γαλάται παρεκίνουν καί το Κελτικόν (zum Sprachgebrauch vgl. Cass. Dio 56,18,1) ο ΰ κ ή ρ έ μ ε ι . - Dazu trägt die Verworrenheit bei, daß „Germanen", „Germania" manchmal die Belgica und ihre germanischstämmigen Bewohner, manchmal die Rechtsrheinischen meint und beides terminologisch nicht klar getrennt wird. 33 Tac. hist. 4,54,1 f. - Unergiebig sind deshalb m. E. die modernen Erwägungen über Umfang und Einfluß solcher Prophezeiungen und Stimmungen (z.B. Walser, Rom [wie Anm. 1] 110; Merkel, Bataveraufstand [wie Anm. 1] 73 ff.; Brunt, Batavian Revolt [wie Anm. 1] 497; Bessone, Rivolta [wie Anm. 1] 63; Heubner, Kommentar [wie Anm. 1] Bd. 4, 129 f.).
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hier zwar über mehr Kenntnisse als er in die Darstellung einfließen ließ,34 aber er mußte trotzdem weitreichende Kombinationen anstellen, um über wenige Anhaltspunkte Brücken zu schlagen, und dazu die psychologische Dimension einbeziehen. Er operiert großzügig mit der .Verstellung' {dissimulatici) des Civilis und einem sich daraus ergebenden mehrschichtigen Handlungsverlauf wie mit einer Arbeitshypothese. Sie ist wohl schon logisch nicht immer konsequent konstruiert35 und beruht auf den drei objektiven Gegebenheiten der Civilis-Biographie: Verfolgung unter Nero und Vitellius (s.o.), flavianische Parteinahme (hist. 4,13,2; 4,21,1; 4,32,1) und Fortsetzung des Krieges nach und trotz der Anerkennung Vespasians (hist. 4,32,1). Da Tacitus dem Leser nicht eine Deutung zur Diskussion stellt, sondern seine Sicht der Dinge autoritativ mitteilt und mit den rhetorischen Mitteln der historiographischen Gattung (z.B. Reden) literarisch überzeugend gestalten will, .ist eine methodische Unterscheidung von Fakten und Kombinationen natürlich nicht zu erwarten. Die weitausgreifende Einbeziehung von persönlichen und militärischen causae in die Aufstandsgeschichte fuhrt auf die thematische Kontexterweiterung der taciteischen Darstellung. Für gewöhnlich genügten zur Erklärung von Stammesrevolten der Hinweis auf Freiheitsliebe und gentile Traditionen, die ein einflußreicher und verschlagener, aber - oft durch römische Schuld - tief verletzter und rachsüchtiger Verfuhrer zu mobilisieren verstand. Tacitus folgt zwar diesem Muster (hist. 4,12-15), aber die Bedeutung der batavischen und anderen Auxilien aus einheimischer Konskription einerseits und der Parteienkonstellation der Bürgerkriegszeit andererseits (die aus den Parallelquellen nicht zu erkennen ist) verändert doch das Bild der Stammesrebellion erheblich. Denn es ist der Auxiliaroffizier Civilis, der den Haß der vitellianischen Rheinlegionen auf sich gezogen hat (hist. 4,13,1), es ist die römische Aushebungspraxis, die angeblich oder wirklich die Bataver in den Aufstand treibt, und es ist die militärische Macht des batavischen Führers, die ihn zum Ziel flavianischer Werbungen macht, mit allen Folgen, die sie hatten. Entgegen 34
Zum Beispiel Tac. hist. 4,13,1 falso rebellionis crimine: Die Formulierung setzt ein Urteil oder Wissen über die realen Hintergründe der Anklage voraus; hist. 4,14,3 quando legatum... cum imperio venire? Der merkwürdige, mit dem angeblichen Unabhängigkeitsstreben der Bataver unvereinbare, deshalb kaum erfundene Vorwurf scheint interne Kenntnisse anzudeuten; ebenso die Anspielung auf das Verhalten des Vaters des Canninefaten Brinno Tac. hist. 4,15,2 (vgl. Cass. Dio 59,30,1b). Eine sehr merkwürdige Mischung aus Hintergrundwissen und Kombination scheint die kaum durchschaubare Geschichte der Brüder Alpinii zu verraten (Tac.hist. 3,35,2; 4,31 f.; 5,19,3). 35 Dazu Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 12 ff., aber vielleicht mit übertriebenen Ansprüchen an logische Konsequenz.
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einer öfters geäußerten Ansicht bestimmt nicht die Stilisierung des Civilis als Barbarenhäuptling und die Betonung des bellum externum die taciteische Darstellung primär, sondern es ist die Truppengeschichte, die den roten Faden der Handlung abgibt, wenn sie auch dank honos et antiquae societatis insigne (Tac. Germ. 29,1; vgl. Tac. hist. 4,12,3) eng mit der Stammesgeschichte verflochten ist. Nur die militärische Sonderstellung des Stammes und die Bedeutung der batavischen Auxilien erklären den Verlauf des Aufstandes durchgehend. Diese selbstbewußte und renitente Truppe spielt aber wiederholt im dramatischen Hin und Her des Bürgerkrieges auch an anderen Orten und in anderen Zusammenhängen eine wichtige Rolle.36 Dadurch wird die Aufstandsgeschichte zu einem Aspekt der Zeit- und Reichsgeschichte weit über das Maß hinaus, das einer bloßen Stammesrebellion zukäme.37 Beispielhaft dafür ist die Anfangsphase des Bürgerkrieges, in der dem offenbar heftig umstrittenen niedergermanischen Legaten Fonteius Capito eine folgenreiche Funktion zufiel: 67 von Nero in das Kommando am Rhein berufen, wurde er im Herbst 68 als Feind Galbas ermordet, was die galbafeindliche Stimmung, die ihrerseits eine Voraussetzung der Erhebung des Vitellius wurde, wesentlich bestimmte.38 Capito aber war es, der die Verfolgung der batavischen Brüder Civilis und Paulus veranlaßt hatte (hist. 4,13,1); zu seinen Denunzianten und Mördern gehörte andererseits Fabius Valens, der als Legionslegat zu Vitellius überging, dessen Legionen nach Italien führte und dabei die Insurrektion der batavischen Cohorten unterdrückte (hist. 1,64,2). Wenn Tacitus hist. 1,59,1 die Rettung des Civilis mit vielsagender Begründung39 bei dieser Gelegenheit erstmals erwähnt und seinen Civilis wiederholt (hist. 4,13,2; 4,32,2; vgl. 5,25,3) seinen Abfall mit der erlittenen Gefahr begründen läßt, wird die militärgeschichtlich begründete Verflechtung der Batavergeschichte in die allgemeine Reichsgeschichte deutlich.
36
Tac. hist. 1,59,1; 1,64,2; 2,27,2; 2,66; 2,69,1. Die Beobachtung, daß dieser Aspekt in den ersten Historienbüchern stärker hervortritt, ist der richtige Kern der Münzerschen Quellenscheidung, wenn auch die Folgerung m. E. zweifelhaft ist, vgl. Briessmann, Tacitus (wie Anm. 1) 85; Borzsák, P. Cornelius Tacitus (wie Anm. 1) 450. 38 Tac.hist. 1,7,1; 1,8,1; 1,37,3; 1,52,1; l,58,2f.; Suet. Galba 11; Plut. Galba 15,3. Vgl. Eck, Statthalter (wie Anm. 30) 129 f. 39 Die ferox gens sollte nicht durch die Hinrichtung eines praepotens inter Batavos zum Abfall gebracht werden; das opportunistische Argument geht auf die Berechtigung der Anklage nicht ein und blieb nicht unangefochten: Tac. hist. 4,13,1 exercitus supplicium flagitans. 37
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Mit der primär militärischen Funktion des Civilis hängt auch die Bedeutung, die Tacitus den Hilfsleistungen rechtsrheinischer Germanen für den Aufstand zuschreibt, triftig zusammen. Germanische Stammesverwandtschaft und Nachbarschaft konnten die Kooperation mit den nächstwohnenden Rheinanwohnern begründen; die chattische Herkunft der Bataver wird deshalb auffallig ausholend berichtet (hist. 4,12,2) oder die nicht recht durchschaubaren Feindseligkeiten der Canninefaten und Friesen als Beginn der Machenschaften des Civilis dargestellt.40 Die societas der Tenkterer und Brukterer mit Civilis und insbesondere die - scheinbar zwischen aggressiver Kriegspatronage und Verständigungsbereitschaft schwankende - Haltung der brukterischen Seherin Veleda findet mehrfach (bes. hist. 4,61), die Belagerung von Mogontiacum durch Chatten, Usipeter und Mattiaker gelegentlich (hist. 4,37,3) Erwähnung. Von solchen konkreten und kriegsgeschichtlich verständlichen Vorgängen unterscheiden sich die pauschalen Allgemeinheiten, mit denen Tacitus die angebliche Teilnahme (ganz) Germaniens am Civilis-Aufstand charakterisiert: Schon der erste Erfolg des Civilis auf der Insel verbreitet angeblich den Ruhm der Freiheitskämpfer in Germanien und veranlaßt nicht näher bestimmte Hilfsangebote;41 Civilis lädt umgekehrt nach dem Anschluß der Kohorten .Germanien' ein, Beute und Ruhm zu gewinnen (hist. 4,21,1); als die Meuterei gegen Hordeonius Flaccus die Kraft der Legionen lähmt, ermutigt universa Germania den Civilis durch ^ g e h e u re Verstärkungen'.42 Die vage Vorstellung, daß ,ganz Germanien' hinter Civilis stehe, ist eine wenig brauchbare Verallgemeinerung, die aber doch nicht als ,rhetorisch' abgetan, sondern nach ihrem Grund befragt werden sollte. Neben dem Zulauf rechtsrheinischer Söldner zu Civilis dürfte dessen besondere Beziehung zu Tenkterern und Brukterern dahinterstehen.43 ,Er vertraute auf die Streitkräfte der Germanen', heißt es von Civilis nach dem Fall Veteras (hist. 4,61,1). Als Cerialis Trier genommen hat, plädiert Tutor für eine sofortige Gegenoffensive, während Civilis rechtsrheini-
40
Zu den vielverhandelten Überfällen der Friesen (Tac.hist. 4,15-16), denen durch L.A. Venmans das Faszinosum moderner archäologischer Objektivation (und Korrektur) zuteil zu werden schien, s. nur Brunt, Batavian Revolt (wie Anm. 1) 513; Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 13 if.; van Soesbergen, Phases (wie Anm. 1) 239 ff.; Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 19 f.; Heinen, Trier (wie Anm. 1)71. 41 Tac.hist. 4,17,1 Germaniae statim misere legatos auxilia offerentes; zu .Germaniae' s. Sprey, Tacitus (wie Anm. 1) 47; Heubner, Kommentar (wie Anm. 1) Bd. 4,48 z. St. 42 Tac. hist. 4,28,1 ; 4,28,4 immensi auctus ist ein seltsam unbestimmter, unklassischer und halb dichterischer Ausdruck. 43 Siehe Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 27.
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sehe Hilfe abwarten will (hist. 4,76); nach der Niederlage betreibt der Bataverführer erneut Werbungen in Germanien (hist. 5,14,1). Dementsprechend mahnt Cerialis zuletzt Veleda und die Brukterer zum Einlenken (hist. 5,24,1), und ,die erschütterte Treue der Rechtsrheinischen' ist es, was am Ende auch die Bataver ernüchtert, womit Civilis der Boden entzogen ist (hist. 5,25,1). Offensichtlich wird hier einer naheliegenden und begrenzten Einbeziehung rechtsrheinisch-germanischer Kräfte (die von seiten der Vitellianer ebenso betrieben wurde) eine für Civilis' Unternehmen entscheidende Bedeutung beigemessen und diese Unterstützung zu einem Schreckensszenario gesteigert. Danach konnte ein abtrünniger Auxiliaroffizier die konfuse Situation und seine ethnische Verwandtschaft benutzen, um mit womöglich unabsehbaren Konsequenzen eine Lawine der kriegs- und raublustigen rechtsrheinischen Stammeswelt gegen das Imperium in Bewegung zu setzen. Damit wieder wird die Dimension des Konflikts verdeutlicht, der nach Tacitus' Verständnis eben keine periphere Affäre darstellt, sondern eine Existenzbedrohung (prope adflicta Romana res, hist. 3,46,1, s. Anm. 26). Die römische Herrschaftskrise und die Erschütterung der Loyalität trafen auf unfähige duces und undisziplinierte Legionen, die der Verschlagenheit und Entschlossenheit rebellischer Auxiliarpräfekten die unerwartete Chance einer selbständigen Machtbildung boten, durch die wieder die ihnen eng verbundenen gallisch-germanischen Stämme in Aufruhr versetzt und alle rechtsrheinischen Begehrlichkeiten gegen die römische Wacht am Rhein entfesselt wurden. Neben der Erweiterung des historischen Kontextes des Bataveraufstandes bringt Tacitus seine Sicht der Dinge durch kompositionelle Mittel zum Ausdruck, am auffälligsten mit der Stoffverteilung im 4. und 5. Historienbuch. Der erste Abschnitt der Erzählung (hist. 4,12-38,1; s.o. S. 162 f.) behandelt die Ereignisse bis zum Ende des Jahres 69; mit ihnen beginnt das bellum, das deshalb hist. 4,12 f. ausführlich begründet und eingeleitet wird, obwohl in dieser Zeit nach hist. 4,55,1 die Verschwörung noch gar nicht zu erkennen war. Diese Paradoxie entspricht der Doppelbödigkeit von Verstellung und wahrem Verhalten, flavischer Parteinahme im militärischen Apparat und antirömischem Aufstand. Was der Parteihaß leichtfertig verkennt, enthüllt das übertreibende Gerücht in seinen katastrophalen Ausmaßen (hist. 4,12,1); aber weil erst die Entschlüsse Mucians die Wendung einleiten, werden die Geschehnisse in Gallien scheinbar reichspolitisch erst aktuell, als sie in Rom bekannt werden. Die Zäsur wird durch die reichsgeschichtliche Entscheidung in Rom bestimmt,
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nicht durch ein einschneidendes Ereignis im Aufstandsgebiet (wie etwa die Ermordung des Hordeonius Flaccus). Das scheint die Retrospektive auszudrücken, mit der Tacitus vermutlich der Auffassung seiner Vorgänger, daß der offene Aufstand Anfang 70 mit dem Bündnis zwischen Civilis und Classicus begann, in gewissem Grade Rechnung trägt, aber ihr einen anderen Sinn gibt. - Der zweite Teil der taciteischen Erzählung (hist. 4,54-79) schließt zeitlich an den ersten an, ist aber durch eine Fülle zumeist stadtrömischer Vorgänge und Senatsbeschlüsse von ihm getrennt. Sie betreffen durchgehend Maßnahmen zur Befriedung der Truppen und zur Wiederherstellung der Ordnung, am deutlichsten ausgesprochen in den Worten (hist. 4,39,4) rediit urbi sua forma legesque et munia magistratuum, kein Sammelsurium von Unerheblichkeiten, sondern Bausteine des Wiederaufbaus. Doch davon wissen die Empörer am Rhein nichts, bei denen Kräfte und Einsicht der Größe der Gefahr nicht entsprechen (hist. 4,70,1), wohl aber vergrößert die Nachricht von Vitellius' Ende ihre sinnlose Erbitterung: Civilis gibt seine dissimulatio auf, die Legionäre geben den Gehorsam, die Gallier ihre Romtreue (hist. 4,54,1) auf, Haltungen, die eindeutig illusionär sind44 oder durch das vorausgehende Bild der römischen Konsolidierung zumindest als aussichtslos gekennzeichnet sind. Während sich also der rebellische Furor bis zur Ermordung von Legaten und zum Fall von Legionslagern steigert, die coniuratio der Präfekten, ihrer Stämme und rechtsrheinischen Verbündeten von der Weltrevolution träumen läßt, wächst trotz aller Rückschläge und Zweifel die Chance zur Wiederherstellung der römischen Ordnung. Das erinnert an die Erleichterung, mit der der Autor schon hist. 3,46,3 bemerkt hat: adfuit, utsaepe alias, fortuna populi R. Doch läuft diese Phase in einem Ritardando aus, vielleicht, um das lange und gefahrliche Weiterwirken der Krisenfaktoren zu veranschaulichen: Am Schluß des Abschnitts (hist. 4,79,4) stehen dem römischen Sieg crebra damna gegenüber, und bei diesem ungewissen Stand der Dinge bleibt es dank der hier einsetzenden zweiten Unterbrechung auf scheinbar lange Zeit. - In Wirklichkeit knüpft der letzte Abschnitt (hist. 5,14 bis zum Abbruch des Textes c.26) unmittelbar und diesmal in realer Zeit berichtend an hist. 4,79,4 an, nur die beiderseitige Intensivierung der Kräfte (hist. 5,14,1) markiert Einsatz und Steigerung. Die Einrahmung des batavischen Endkampfes durch Belagerung und Er-
44
Tac. hist. 4,54,1 rati, volgato rumore, fingebantur: Im Lichte dieser Ausdrücke ist auch die superstitio vana der Druiden zu sehen, der von Modernen viel zu viel Gewicht beigelegt worden ist, für Tacitus wahrscheinlich eher der superstitiösen Deutung der Wasserstände (hist. 4,26,2) vergleichbar.
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stürmung Jerusalems (angekündigt hist. 5,13,4) betont wahrscheinlich die Parallele der beiden, nun besiegten Rebellionen, vielleicht auch den Gegensatz der glimpflichen Unterwerfung des Civilis zum Untergang von Stadt und Tempel der Juden. Damit ist keineswegs gesagt, daß wir alle Bezüge dieser komplizierten Komposition sicher erkennen und richtig einschätzen können, wohl aber, daß hier mit einer sehr absichtsvollen und artifiziellen Gestaltung der Aufstandsgeschichte zu rechnen ist, die als unvollkommene Kompilation verschiedener Quellen nicht befriedigend gedeutet werden kann. Zu ihr gehören auch die Ankündigungen und Querverweise, durch die zusätzliche Verbindungen zur Zeitgeschichte hergestellt werden, die sich bei der Vielzahl gleichzeitiger Ereignisse der Darstellung in chronologischer Folge naturgemäß entzieht. Die allgemeinste Einordnung bietet bereits das Proömium (hist. 1,2,1; s.o. S. 151), den wichtigsten Vorverweis enthält die Aufzählung der Krisenherde, mit der die Lage des Imperiums nach der Entscheidung von Bedriacum beschrieben wird (hist. 3,46,1; vgl. 3,49,1). Hier steht die turbata Germania neben dem Abfall der britannischen Briganten, dem Einfall der Daker in Moesien und dem Sklavenkrieg in Pontus45 (diesen Vorgängen gegenüber jedoch in ihrer singulären Gefährlichkeit eindrücklich und unübersehbar - und im Gegensatz zur irrigen Meinung hist. 4,12,1 - charakterisiert), wenn auch die detaillierte Beschreibung des Krieges auf später verschoben wird, doch wohl, weil Höhepunkt und Hauptwirkung ins folgende Jahr fielen und die Tradition diese zeitliche Einordnung vorgab. - Entsprechend der truppengeschichtlichen Hauptlinie der Aufstandsgeschichte gelten aber die meisten Ankündigungen und Vorverweise den batavischen Auxilien, dem „glimmenden Funken", der einen „gewaltigen Brand entflammen sollte" (Friedrich Münzer). Sie werden hist. 1,59,1 eingeführt, wobei die (zunächst nur assoziative) Verknüpfung mit Civilis, der Konflikt mit ihrer Legion und der Hinweis auf das Gewicht, das ihnen im Bürgerkrieg zufallen mußte, sogleich als bestimmende Momente benannt sind. Ihr Weg wird zurückverfolgt in die Zeit Neros (hist. 2,27,2), fuhrt über ihre Eingliederung in die Valens-Armee (hist. 1,64,2), ihre Schicksale in Italien46 bis zur endgültigen Rücksendung nach Germanien, womit das principium
45
Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 10f., über Tac. hist. 3,40-48 als „Reaktionen in den europäischen (!) Provinzen auf den Sieg der Flavier bei Cremona". 46 Tac. hist. 2,17,2; (hist. 2,22,3 der gegnerische Alenpräfekt Julius Briganticus); hist. 2,27; 2,28,2; 2,35; 2,43,2; versuchte Rücksendung mit der 14. Legion nach Britannien: hist. 2,66.
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interno simul externoque bello angelegt ist (hist. 2,69,1), schließlich zu ihrem Aufenthalt in Mainz bis zum nicht verhinderten Anschluß an Civilis, der diesen zum iusti exercitus ductor macht (hist. 2,97,1; 4,15,1; 4,19-21,1). Ähnlich weitreichende und allgemeine Beziehungen können dem Aspekt der regional begrenzten Stammesrebellion nicht zukommen, dennoch ist auch er durch Verweise und Verknüpfungen mit dem Gesamtgeschehen verbunden, zunächst wiederum in der Ankündigung Galliae nutantes des Proömiums (hist. 1,2,1); hist. 1,59,1 begründet das politische Interesse am Wohlverhalten des Bataverstammes die Schonung des Civilis, die Rücksendung der batavischen Kohorten in ihre germanische Heimat gilt als der schicksalhafte Anfang eines großen Krieges (hist. 2,69,1), hist. 4,12 f. wird die Sonderstellung der Bataver (viros tantum armaque imperio ministrant, hist. 4,12,3) weitausholend historisch und sachlich expliziert. Vor allem spielt im 1. Buch das Verhältnis der gallischen civitates zu den Rheinlegionen anläßlich der Erhebung und Heeresbildung des Vitellius eine zentrale politische Rolle, die auch entsprechend gewürdigt wird. Während die meisten Gallier in Nachwirkung des Vindex-Aufstandes Galba-Anhänger und Feinde der siegreichen (und bald vitellianischen) Rheinlegionen waren (hist. 1,8; 1,51), standen die ostgallischen Stämme, besonders die Lingonen und Treverer, auf der Seite der Legionen und somit der Vitellianer (hist. 1,53,3-1,54; 1,64): die Ausgangslage der gallischen Erhebung unter den treverischen und lingonischen Präfekten Classicus, Tutor und Sabinus (hist. 4,55). - Auch die persönliche Geschichte und damit die Motivation des Civilis wurzelt durch seine Verfolgung unter Nero und Capito, die Rehabilitierung durch Galba und die erneute Gefährdung unter Vitellius (hist. 1,59,1; 4,13,1; 5,25,1) in der Bürgerkriegssituation im ganzen. Schließlich ist die Geschichte des Aufstandes bei Tacitus durch korrespondierende Motive gekennzeichnet, die vor allem in den eingelegten Reden47 formuliert sind und durch solche gedankliche Strukturierung die für den Autor grundsätzliche Bedeutung des Konflikts belegen. Die Reden sind also gewiß keine authentischen Zeugnisse, aber auch nicht als rhetorische Einlagen' zu vernachlässigen, sondern als Interpretation des Historikers zu würdigen, die dem Aufstand geschichtlichen Rang zuweist und seinen Stellenwert für die Darstellung begründet. Diese Interpretation kreist um Rechtfertigung, Gefährdung und Zukunft der römischen 47
Elizabeth Keitel, Speech and Narrative in Tacitus' Hist. 4, in: Torrey J. Luce, Anthony J. Woodman (Hg.), Tacitus and the Tacitean Tradition, Princeton 1993, 39-58.
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Herrschaft an der Grenze des nördlichen Barbaricum unter den Bedingungen des Principats. Civilis und weit entschiedener noch Classicus und die Gallier wollen die Freiheit erringen, und ihre Anhänger feiern sie als auctores libertatis,48 Freiheit bedeutet Beseitigung des falschlich pax genannten servitium der römischen Herrschaft mit ihren Tributen, Aushebungen und der damit verbundenen Willkür und Erniedrigung durch römische Funktionäre (hist. 4,14; 4,17; 4,32; 4,54 f.). Sie ist damit negativ und romfeindlich bestimmt, aber bedeutet positiv jedem etwas anderes: für die Bataver Wahrung der alten societas, ihrer Privilegien unter römischem Regiment (hist. 4,14,2), denn ihre Tributfreiheit kommt der Freiheit nahe (hist. 5,25,2), für die Gallier das Ende des Imperiums (hist. 4,54 f.), für die Rechtsrheinischen die Chance zu Raub- und Beutezügen im Rahmen ihrer Gentilgesellschaft. Wie derferocissimus unter den Tenkterern den benachbarten Ubier-Agrippinensem erklärt, würden sie liberi inter liberes durch Vernichtung ihrer Stadt und Freigabe der Rheingrenze, Ermordung der cives Romani unter ihnen, Verzicht auf die Zivilisationsund Rechtserrungenschaften und Rückkehr in die Stammesgesellschaft der rechtsrheinischen Germanen (hist. 4,64). Auch die Gallier orientieren sich (hist. 4,54,1) an der Freiheit der Sarmaten, Daker und Britannier, begrüßen den Brand des Capitols als finis imperii und erhoffen von der römischen discordia ihre Freiheit, die die wildesten Schreier durch die Ermordung der übriggebliebenen Legionäre zu besiegeln gedenken.49 Diesem haltlosen50 Freiheitsanspruch gegenüber formuliert die programmatische Rede51 des Cerialis (hist. 4,73-74) Recht und Wert der römischen Herrschaft. Sie ist danach historisch legitimiert durch gallische 48
Tac. hist. 4,32,2 (Civilis); 4,78,1 (Tutor et Classicus et Sabinus ... Gallos pro liberiate, Batavos pro gloria, Germanos adpraedam instigantes); 4,17,1 ([Botavi] auctores libertatis celebrabantur); 4,17,5: naturrechtlicher Freiheitsbegriff, Freiheit schon im Tierreich; vgl. Adrian N. Sherwin-White, Racial Prejudice in Imperial Rome, Cambridge 1967,42f.; Timpe, Namensatz (wie Anm. 1) 74 ff. 49 Ironischerweise werden sie als túrbidos, infidos sanguine ducum pollutos (hist. 4,56,1) verurteilt, wohl um die intellektuelle Verwirrung der Rebellen zu charakterisieren. 50 Nur darin unbestreitbar, daß römische Herrschaft nicht unbeschränkte libertas erlaubt: obsequium cum securitate sagt Cerialis Tac. hist. 4,74,4, Civilis dagegen stellt hist. 4,32,3 die erhoffte libertas dem bisherigen imperialen Zustand gegenüber. Nach hist. 5,25,1 erkennen gerade die friedenswilligen Bataver an, daß sie nicht das servitium totius orbis beseitigen können: Auch bei nichtpolemischer Betrachtung bleibt die römische Herrschaft ein, wenn auch unterschiedliches servitium (s. a. hist. 4,25,3). 51 Den programmatischen, aber unhistorischen Charakter unterstreicht die Absurdität, daß der siegreiche römische Legat eine Feldherrenrede an die besiegten Treverer und Lingonen (ad contionem vocatos) richtet: Zur Topik des Einganges s. Heubner, Kommentar (wie Anm. 1) Bd. 4, 163 z.St.
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Hilfegesuche und den notwendigen Schutz des Landes gegen die alte, aber mit dem Kulturgefalle noch wachsende Begehrlichkeit der rechtsrheinischen Nachbarn und liegt so im eigensten Interesse der Gallier. Sie bindet ehemalige Sieger und Besiegte in der Frieden und Zivilisation sichernden Rechts- und Interessengemeinschaft der Reichsgesellschaft zusammen,52 die nur um den Preis des exitium aller beseitigt werden kann. Ohne die römische Ordnung, deren Mißstände wie Unwetter (naturae mala) angesehen werden sollten (hist. 4,74,2), wäre der Rückfall in Häuptlingsdespotie, Stammeskriege und Germaneneinfalle unausweichlich; deshalb ist die libertas-Parole Illusion oder ein Vorwand der Habgier und Herrschsucht (hist. 4,73,3). Ausfuhrlich entlarvt die Cerialis-Rede die auf ethnische Verwandtschaft sich berufende societas der gallischen Rebellen mit rechtsrheinischen Verbündeten als gefahrliche Täuschung, der die Ausbeutung und Verknechtung durch die, denen socii und hostes gleich sind (hist. 4,73,2), folgen muß und korrespondiert damit dem Appell der Tenkterer-Rede. In den Koordinaten dieser Gedanken kann das taciteische Verständnis des Bataverkrieges und seines Hauptakteurs genauer bestimmt werden. Auch Civilis will libertas und beklagt servitium, allerdings viel eingeschränkter und unbestimmter als die Treverer und Lingonen; seine dissimulatio läßt bis zuletzt (hist. 5,26) den Rückweg auf den innerrömischen Parteistandpunkt zu, und es ist in Gerüchte (ferebatur, hist. 4,61,1), geheime Botschaften und zeugenlose Gespräche verlegte, rekonstruierende Deutung des Historikers, wenn es anders aussieht.53 Civilis regrediert angeblich äußerlich zum germanischen Barbaren (hist. 4,14,2; 4,15,1; 4,61,1), während Classicus Legaten ermorden läßt und sich anmaßt, als römischer Imperator aufzutreten (hist. 4,59,2; vgl. 4,67,1); Civilis sucht das Bündnis mit der colonia Agrippinensis und schützt die ihm persönlich verbundene Stadt, während die Gallier wie die Rechtsrheinischen sie vernichten wollen (hist. 4,63; 4,66,1); Civilis leistet keinen Eid auf ein ,imperium Galliarum' (hist. 4,61,1), beschwert sich angeblich über germanische Vertragsbrüchigkeit (hist. 4,60,2), und noch seine brutalsten Töne (hist. 5,17,1) lassen sich zur Not aus antivitellianischer Frontstellung erklären, dagegen ist Classicus von Anfang an erklärter ,Feind des 52
Im Gegensatz zu Cerialis zieht Vocula brutale Folgerungen aus der Geschichte der römisch-gallischen Beziehungen (Tac. hist. 4,57,2); aber Tacitus beurteilt ihn als ferociter locutus und der Effekt seiner Rede spricht gegen ihn (hist. 4,57,3 perstare in perfidia, gegen hist. 4,74,4 erexit [von Cerialis]). 53 In der Programmrede Tac. hist. 4,14 läßt er ihn nicht den Freiheitsanspruch erheben, sondern den Verfall der Stammesprivilegien beklagen.
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römischen Volkes' (hist. 4,55,1; vgl. 4,68,5 zu Valentinus). Die batavischen Kohorten, Civilis' wichtigste militärische Basis, behaupten, nur aus Notwehr gegen römische Truppen die Waffen erhoben zu haben und betonen ihre grundsätzliche Romtreue (hist. 4,20). Am Ende sind es die Bataver selbst, die Civilis die Loyalität aufkündigen, ihm vorwerfen, in seiner rabies aus persönlicher Rachsucht das Gemeinwohl mißachtet zu haben, und die die Vorteile ihrer (bisherigen) Lage unter römischer Herrschaft zu schätzen wissen (hist. 5,25).54 Selbst das volgus der Bataver macht sich den naheliegenden Einwand des Hordeonius Flaccus gegenüber Civilis, si Vespasianum adiuvare adgressus foret, satis factum coeptis (hist. 4,32,1), zu eigen (hist. 5,25,1). Schließlich wird Civilis venia in Aussicht gestellt, während die gallischen Präfekten auf verschiedene Weise gewaltsam enden. Doch kann aus all dem nicht geschlossen werden, daß Civilis nur ein unglücklich agierender Flavianer gewesen wäre, den Tacitus oder seine Quelle ohne sachliche Berechtigung zum Romfeind stilisiert hätte, der Classicus tatsächlich in viel höherem Grade war. Die Dominanz des Batavers ist zunächst darin begründet, daß Civilis bei Tacitus unzweifelhaft der Initiant des Aufstandes ist: Sein Vorbild ermutigt die Gallier zur Erhebung, er betreibt die Verbindung mit den batavischen Kohorten (hist. 4,15,1; 4,19,1) und das Bündnis mit den gallischen Präfekten (hist. 4,17,1; 4,55,1), er ist auch der letzte Rückhalt der Besiegten (hist. 5,19,3). Weiter verfugt Civilis über das entscheidende militärische Potential: Während die Gallier unter dem Trauma des zusammengebrochenen Vindex-Aufstandes stehen (hist. 4,17,3) und militärisch von Freund und Feind gering geschätzt werden,55 entspricht dem langen Ruhm der batavischen Tapferkeit das Selbstbewußtsein des Civilis, der nach dem Zuzug von acht Veteranenkohorten über ein achtunggebietendes Heer verfugt und sich brüsten kann, Legionen bezwungen zu haben.56 Diese Macht54
Tac. hist. 5,25,2 sibi non tributa, sed virtutem et viros indici korrespondiert hist. 4,12,3 und Tac. Germ. 29,1 : Das (in der modernen Literatur meist zur Gewißheit gesteigerte) Vertrauen (ebenso hist. 4,32,3), daß es nach der Dedition so bleiben werde, gründet sich offenbar auf Tac. Germ. 29,1 manet honos et antiquae societatis insigne und die später noch bezeugten Bataverkohorten (AlfÖldy, Hilfstruppen [wie Anm. 1] 47). - Kaum beachtet scheint zu sein, daß die den Batavern zugeschriebenen Gedanken in ausführlichen Reden expliziert werden, der Standpunkt der Gallier dagegen nur summarisch (und eher ironisierend) dargestellt wird (Classicus hält keine Rede); auch dies ein Indiz für die in Tacitus' Augen fuhrende Rolle der Bataver. 55 Tac. hist. 4,76,1 Gallos quid aliud quam praedam victoribus? (Civilis); 4,57,2 nuper Vindicem Galliasque singulisproeliis concidisse... (Vocula). 56 Tac. hist. 4,14,4; 4,20,3; 4,28,3; 4,32,3; 4,61,1; 4,66,3; 5,17,1; 5,25,1; in der Umkehrung: 5,24,1.
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Stellung beruhte auf der militärischen Sonderstellung des Stammes: der ungewöhnlich starken Heranziehung der als Spezialtruppe geschätzten Stammesiuventus zur Konskription und der landsmannschaftlichen Geschlossenheit der von eigenen, aus dem Stammesadel stammenden Führern kommandierten Auxilien. Die Doppelstellung ihrer Präfekten als mächtige Stammesautoritäten und römische Offiziere ergab sich daraus notwendigerweise ebenso wie die Gefahr der Übertragung persönlicher Gegensätze auf den militärischen Bereich - mit allen Folgen, die das in einer Bürgerkriegssituation haben konnte. Freilich sind auch die gallischen Anfuhrer römische Auxiliaroffiziere, aber wichtiger als die gleiche Rechts- und Dienststellung sind die Unterschiede der tatsächlichen Macht und der Gesinnung. Schließlich ist bei Tacitus die - als geradezu symbiotisch angesehene - Verbindung mit seinen rechtsrheinischen Verbündeten für Civilis und seine Pläne konstitutiv (s.o. S. 169). Mit germanischer Unterstützung rechnet der Bataver von Anfang an (hist. 4,14,4; 4,17,1), und erst am Ende versagt sie (hist. 5,25,1); die Habgier und Kriegslust der Rechtsrheinischen (hist. 4,21,2; 4,78,1) erklärt, daß solcher Zuzug leicht zu mobilisieren ist (hist. 4,21,2; 4,27,1; 4,28,1; 5,14,1; 5,19,1), und Cerialis sieht deshalb in ihr die historische Verteidigungsaufgabe der Römer in Gallien begründet. Für Civilis ist germanische Hilfe nicht nur ein entscheidender strategischer Faktor (hist. 4,76,1), auf die vertrauend er auch den gallischen Eid, also die Unterordnung unter den Befehl seiner treverisch-lingonischen Bundesgenossen, 57 verweigert (hist. 4,61,1), er betrachtet sie als consanguinei, ist ihnen emotional verbunden (hist. 4,14,4; 4,65,1; 5,17,2) und taucht selber in das barbarische Milieu zwanglos zurück (hist. 4,18,2f.; 4,61,1), während sein treverischer Mitstreiter Tutor von den unlenkbaren Germanen keine entscheidende Hilfe erwartet (hist. 4,76,2). Dem entspricht, daß Tacitus die rechtsrheinische Herkunft der Bataver hervorhebt (hist. 4,12,2) und verwirrenderweise zwischen rechts- und linksrheinischem Germanien terminologisch nicht unterscheidet.58 Über das nachbarschaftliche Bündnis mit Friesen (hist. 4,15,2), vor allem aber Brukterern und Tenkterern (hist. 4,21,2; 4,61,2; 4,77,1; 5,22,3; 5,24,1) und den gelegentlich erwähnten Chatten, Usipetern und Mattiakern (hist. 4,37,3) hinaus erweckt die taciteische Darstellung die Vorstellung eines allgemeinen Westdruckes der rechtsrheinischen Stammeswelt. Genau dies wird als Bedrohung in der Cerialis-Rede ausgemalt und liefert 57
Sachlich ist das Verhältnis der Alliierten zueinander nicht klar (vgl. u. S. 183 f.): In der Schlacht bei Trier fugt sich Civilis der Entscheidung des Classicus (Tac. hist. 4,76,4). 58 In Tac. Germ. 29,1 werden die Bataver bekanntlich der Germania zugerechnet.
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dort die historische Berechtigung der römischen Kultur- und Machtgrenze am Rhein. In der Gestalt seines Civilis verbindet Tacitus also den Auxiliaroffizier batavischer Herkunft, dem der römische Bürgerkrieg nach persönlicher Gefahrdung eine unerwartete Machtchance zuspielt, mit dem rebellischen Stammeshonoratioren, der in römischen Kategorien und Ansprüchen eines sozial begünstigten Reichsbürgers denkt, aber in einer Ausnahmesituation auf seine Herkunft zurückfallt, zum romfeindlichen, germanischen Anführer wird,59 gleichwohl sein Doppelspiel als Flavianer durchhält. Dieses Psychogramm ist weniger einseitig als oft angenommen und nicht geradezu irreal, aber vielleicht doch mehr typisch gedacht als individuell begründet. Civilis' subjektives Ziel schwankt zwischen Behauptung der privilegierten provinzialen Rechtsstellung, Verlangen nach persönlicher Genugtuung, Befreiung von römischer Herrschaft und nebulosen Herrschaftsträumen (hist. 4,17,6; vgl. 54,2); objektives Ergebnis des von ihm entfesselten Krieges ist aber die Zerstörung der römischen Rheinfront (mit den bekannten Gefahren), mit der die Durchsetzung Vespasians immer verquickt bleibt. Die Verstellung, Nähe und Kontrast zu den gallischen Führern und seine militärische Macht geben dem Bataver sein besonderes (v. a. zwielichtiges) Profil; vielfaches römisches Verschulden ermöglicht sein verhängnisvolles Handeln (ohne es deshalb zu entschuldigen), das bei all seiner historischen Kontingenz zugleich typologisch auf elementare Probleme der römischen Herrschaft und des römischen Selbstverständnisses bezogen wird. Die weiten Zusammenhänge, in die die Aufstandsgeschichte und ihr Protagonist dabei faktisch und gedanklich eingeordnet werden, machen die taciteische Darstellung zu einer eindrucksvollen historiographischen Leistung. Es fragt sich indessen, was sie begründet und rechtfertigt, wie sich Konstruktion und Interpretation der Wirklichkeit darin zueinander verhalten. Dabei stößt das Rezept, die Deutung an den mit ihr vermittelten Fakten zu messen, schnell an die Grenzen, die die Auswahl und Beleuchtung dieser Fakten ziehen.
IV. Anlaß und Stoff für eine kritische Überprüfung der konventionellen Sicht der gallischen Ereignisse boten Tacitus - abgesehen von faktischen und chronologischen Einzelfragen - die Beurteilung der militärischen Vor59
Dyson, Native Revolts (wie Anm. 1) 264.
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gänge, die Schachzüge der Parteiführer und höheren Offiziere der Rheinarmee, die schwer zu erfassende Stimmung und Haltung der Legionen,60 das Verhältnis der Auxilien zu den Legionen und zu den rebellischen Stämmen, aus denen sie vorzugsweise kamen. Den Verdächtigungen und Entschuldigungen, Gerüchten und offiziösen Erklärungen, mehrdeutigen Indizien und schwerwiegenden Tatsachen, die dafür - nach Domitian wahrscheinlich leichter, aber immer noch mühsam genug - zu prüfen waren, begegnete Tacitus mit rationalen Überlegungen, psychologischen Konstruktionen oder autoritären Entscheidungen, nicht mit wissenschaftlicher Methodik und ohne Interesse daran, den Leser an seiner Urteilsbildung teilnehmen zu lassen. Dazu legte er seiner Aufstandsgeschichte offenbar die anschauliche und stoöreiche, aber auch begrenzte plinianische Erzählung (mit ihren Schwerpunkten und Einseitigkeiten) und die überlieferte Einschätzung der Rebellion als eines regionalen Konflikts der flavischen Anfangszeit zugrunde, aber verknüpfte sie mit anderen zeitgeschichtlichen Nachrichten zu einem weiter gespannten (freilich deshalb noch nicht notwendig richtigeren) historischen Kontext und organisierte ihn mit Hilfe von Vorgriffen, Retrospektiven, Synchronismen und motivischen Beziehungen zu einem neuen, vielschichtigen Gedankengefüge. Deshalb lesen wir die Batavergeschichte im 4. und 5. Buch der Historien und erfahren von Belagerungsmaschinen, Marschüberfällen, Rheinwasserständen und vielen anderen realistischen Details, aber hören auch von erschlossenen Seelenregungen, geheimen Botschaften und angeblich weitreichenden Zusammenhängen, die sich oft dem eindeutigen Nachvollzug entziehen, weil dafür nötige Informationen und schlüssige Argumente nicht geboten oder die autoritative Deutung und die Faktenbasis nicht getrennt werden. Daß der Darstellung der Bericht eines Offiziers der Germania inferior zugrunde liegt, beweisen der sachliche und räumliche Horizont, die primär militärische Sicht im ganzen und zahlreiche Details. Viele genaue und anschauliche, oft dramatische Szenen, v. a. Kampfschilderungen wie z. B. die Belagerungen von castra Vetera (hist. 4,22-23; 4,29-30), das Gefecht der Batavercohorten vor Bonn (hist. 4,20) oder der Überfall auf Gelduba (hist. 4,33), sowie Geländebeschreibungen wie die von Novaesium, dem Moselland oder der insula Batavorum verraten oder suggerieren Augenzeugenschaft. Zahlreiche Situationen, wie z. B. der niedere Wasserstand des Rheins und seine wiederholt beschriebenen Folgen, die innere Situa60
Charakteristische Beispiele für die Schwierigkeit, ein sicheres Urteil zu finden: Tac. hist. 4,24,1; 4,27,2 f.; 4,34,4; 4,59,1.
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tion in der colonia Agrippinensis (hist. 4,55,2 f.; 4,63), die Verpflegungszüge von und nach Vetera, sind anders als durch Miterlebende vermittelt nicht zu verstehen. Andere Details, die zu dieser Erklärung nötigen, sind nicht erwartbare Namen (z.B. Marcodurum hist. 4,28,2; Claudius Sanctus hist. 4,62,2; Claudia Sacrata hist. 5,22,3) oder Curiosa wie die brukterische Seherin Veleda in ihrem unzugänglichen Turm (hist. 4,61,2, vielleicht nach einer Gesandtschaft). Dagegen werden die Verhältnisse in Germania superior nur beiläufig oder summarisch erwähnt,61 offensichtlich, weil sie nicht im Blickfeld des Beobachters lagen. - Die Sicht des Offiziers läßt ferner die Art der Kritik an der Führung der Legaten Herennius, Vocula, Cerialis oder Lob und Tadel für Einzelleistungen (z. B. hist. 4,25,4; 4,34; 4,77 f.) erkennen. Demgegenüber scheint aber der politische Durchblick begrenzt zu sein: Daß der bei einem Aufruhr abgeführte miles geheimer Bote des Herennius Flaccus an Civilis gewesen sein will (hist. 4,25,2), bleibt unkommentiert, wohl aus Unkenntnis des wahren Sachverhalts; ob Flaccus zutreffend beurteilt wird, ist fraglich62 und ebenso, was unter dem,Schein eines tumultus Germanicust zu verstehen ist.63 Die Motive der Gegner (teilweise vielleicht aus Verhören von Gefangenen und Überläufern erschlossen) bleiben naturgemäß weitgehend unbekannt und werden durch barbarenpsychologische Topoi ersetzt. Es scheint, daß der Gewährsmann des Tacitus die Dinge aus der Nähe, aber von außen beobachtete und die eigentlichen politischen Interna oft nicht zuverlässig beurteilen konnte. Die Einseitigkeiten und Begrenzungen seiner Quellen sind der unmittelbare Grund für die Disproportionen der taciteischen Darstellung. Der Autor blieb hier wie in anderen Kriegsdarstellungen bei aller geistigen Überlegenheit und größerem historischen Abstand vom Wissensstand seiner Quelle abhängig; er konnte Informationslücken nur übergehen oder 61
Auffällig etwa die Behandlung des Mainzer Lagers (Tac.hist. 4,37,2; 59,3; 61,3; 70,1; 70,4) gegenüber der Breite, mit der Veteras Schicksal beschrieben wird; die Trennung der obergermanischen Heeresangehörigen hist. 4,37,2 wird vom Standpunkt eines niedergermanischen Beobachters beschrieben. Vgl. Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 44 f. 62 Zu Flaccus s. gegensätzlich von Petrikovits, Rheinische Geschichte (wie Anm. 1) 72 f.; Schmitt, Anmerkungen (wie Anm. 1) 155 ff. 63 Heubner, Kommentar (wie Anm. 1) Bd. 4, 41, scheint (nicht überzeugend) an die Abwertung der Auxilien der niedergermanischen Legionen, Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 15, an vorgespiegelte Überfälle Rechtsrheinischer zu denken. Zum Wortsinn s. Adolf Gerber, Arnold Greef, Lexicon Taciteum, 2 Bde., Leipzig 1891-1903, s.v. tumultus. Meines Erachtens ist nur mit inhaltlichen Argumenten zu entscheiden, ob der offenbar unspezifisch gebrauchte Ausdruck auf Links- oder Rechtsrheinische, Militär- oder Stammesangehörige zu beziehen ist.
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durch Kombinationen und Hypothesen überbrücken, aber nicht füllen. Das hinderte ihn nicht an weitreichenden synthetischen Urteilen. Denn der Historiker spielt zwar gelegentlich auf ein reiches, uns oft unbekanntes Hintergrundwissen an (s. Anm. 34) und wußte meist mehr als er sagt, aber manchmal auch weniger als er tiefgründig zu durchschauen beansprucht. In solchem Überschuß denkender, deutender oder spekulativer Kombination über die nacherzählbare, ereignishafte Realität, auf der sie doch beruht und die sie voraussetzt, liegt der tiefere Grund für die Schwierigkeiten, der Darstellung des Tacitus zu folgen. Sie sind um so größer, je mehr der postulierte Deutungszusammenhang die Grundlage bezeugter und überlieferter Faktizität übersteigt und die Ereignisse die Deutung eher veranschaulichen als begründen, deshalb auch ganz selektiv berichtet werden können. Tacitus interpretiert nicht die jeweilige, verworrene Situation aus sich heraus, sondern deutet sie aus einem feststehenden Grundverständnis, das aus anderen, zeitlich späteren Ereignissen und Eindrücken in Verbindung mit axiomatischen Vorannahmen gewonnen ist. Aber dieser Umgang mit der historischen Realität erlaubt auch, das eigentliche Erkenntnisinteresse und Darstellungsziel des Autors besser zu verstehen. Bedeutendstes personales Beispiel dafür ist die Civilis-Gestalt: Fortschreitend den verschlagenen germanischen Barbaren enthüllend zeigt sie doch keine Entwicklung (darin dem taciteischen Tiberius vergleichbar), wird durch eigene Energie, die militärische Verwendung und soziale Verwurzelung im Herkunftsland sowie die Zeitumstände zum Zentrum der Aufstandsbewegung, aber endet dank der schlau durchgehaltenen Doppelrolle (und wahrscheinlich dem Opportunismus seines Gegenspielers Cerialis) gänzlich untragisch.64 Der scheinbar anschaulich und lebensnah gezeichnete Civilis wird doch nach seiner tatsächlichen Stellung nicht exakt bestimmt,65 sei es, daß schon Tacitus' Quelle darüber nicht genau 64
Man vergleiche (sicherlich in Tacitus' Sinne) die aus taedium malorum und spes vitae geborene Kapitulationsbereitschaft des Civilis (Tac. hist. 5,26,1) mit der tapferen Haltung des Treverers Valentinus (hist. 4,85,1). 65 Civilis ist und nennt sich Präfekt einer Bataverkohorte (Tac. hist. 4,16,1 se cum cohorte, cui praeerat...; 4,32,3 ego praefectus unius cohortis) mit 25 Dienstjahren (hist. 4,32,2); welcher Art seine Einheit war und wo sie stand, wird nicht gesagt. Seine Stellung muß er als Angeklagter (hist. 4,13,1) natürlich verloren haben; ob er von Galba (hist. 4,13,1 a Galba absolutus) auch als Präfekt restituiert (oder später) und unter Vitellius (sub Vitellius rursus discrimen adit) seine Stellung erneut verlor und wiedererhielt (1,52,1 redditi plerisque ordines) oder anders rehabilitiert wurde (hist. 1,59,1 Civilis periculo exemptus), das alles ist nicht klar; Ernst Stein, Iulius Civilis, RE 10,1919, 551, und Alföldy, Hilfstruppen (wie Anm. 1) 46, gehen auf diese Schwierigkeiten nicht ein.
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informiert war, oder, eher, daß Tacitus selber diese Voraussetzung vernachlässigte, weil er den abtrünnigen Präfekten vor allem als Stammesführer charakterisieren wollte. Den entscheidenden Kräftezuwachs, der Civilis zum ernsthaften Machtfaktor werden läßt, bringt die Vereinigung mit den acht batavischen Veteranenkohorten zuwege, von deren Stärke, aber auch Renitenz - der Ursache sowohl ihrer Rücksendung wie auch des erneuten Marschbefehls (hist. 1,59,1; 4,15,1; 4,19,1) - vorher so viel die Rede war. Um so merkwürdiger ist es, daß sie fortan fügsam, anonym und einheitlich unter Civilis' Kommando agiert haben sollen;66 aber wir erfahren von internen Beziehungen des Civilis zu ihren Führungskräften ebensowenig, wie von solchen zu den Batavern in Rom, während doch die zur äußeren Kriegsgeschichte gehörenden Konflikte mit seinem Landsmann Labeo und seinem Neffen Briganticus mehrfach Erwähnung finden. Auch das zweifellos aufschlußreiche Verhältnis der Präfekten zu ihren Heimatstämmen wird genauerer Erwägung nicht gewürdigt.67 Civilis soll aus Rücksicht auf die Bataver begnadigt worden sein (hist. 1,59,1), und der Zustimmung seiner Landsleute am Anfang (hist. 4,15,1) steht angeblich, wenn auch plausiblerweise, am Ende die Kritik an seiner rabies gegenüber (hist. 5,25); aber bei den Galliern muß das Verhältnis der Präfekten zur civitas anders gewesen sein,68 und solche strukturellen Hintergründe interessieren Tacitus, der immerhin oppidana certamina (hist. 4,18,4) wie selbstverständlich voraussetzt, offenbar weniger als das personale Geschehen, in dem sich die barbarische Reaktion gegen das Imperium verdichtet. So diskreditiert Civilis die römische Ordnung mit den typischen Argumenten der Romfeinde, die Cerialis in seiner Recht66
Es werden keine Präfekten oder Repräsentanten der acht Kohorten genannt, obwohl nach ihrem früheren Verhalten mit erheblichem Selbstbewußtsein auch gegenüber Civilis zu rechnen sein müßte, dem sie andererseits durch Herkunft und Laufbahn vielfach verbunden gewesen sein müssen. Hier ist offenbar viel ausgeblendet. 67 Es muß bei den Batavern, wo für die große Truppenzahl viele Offiziere gebraucht wurden, zu einer weitgehenden Aufsaugung der Stammesprimores ins Offizierkorps bei entsprechender Schwächung eigenständiger Stammesautoritäten und - im Gegenzug - großem Einfluß der Bataver im Militär gekommen sein. Erst beim militärischen Zusammenbruch des Civilis (Tac. hist. 5,25 f.) tauchen unabhängige Stammesrepräsentanten plötzlich auf (im Gegensatz zu hist. 4,12ff., wo sie faktisch fehlen). Ein peregriner summus magistrates ist damit als unabhängige Institution schwer zu verbinden (zu Flaus, Virimatis f., der Inschrift von Ruimel, CIL XIII 8771, s. Julianus E. Bogaers, Civitas en stad van de Bataven en Canninefaten, Nijmegen u. a. 1960, 5 f.). 68 Der Offiziersverschwörung am Anfang (Tac. hist. 4,55,1) steht das Massenexil der primores der Treverer am Ende (hist. 5,19,3) gegenüber (vgl. Heinen, Trier [wie Anm. 1] 80); selbständige Initiative der principes der Remer: hist. 4,67,2; 4,68,5; vgl. Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1 ) 77 f.
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fertigungsrede zurückweist,69 die Verstärkung durch rechtsrheinischen Zuzug wird als Entfesselung der Germania gegen die römische Wacht am Rhein interpretiert, die Verbindung mit Stammesnachbarn, die ihre römischen Besatzungen attackierten, als atavistischer Appell an den Gentilismus (hist. 4,15-16; 4,66). Das wichtigste Exempel fur selektive Behandlung politischer Zusammenhänge ist das schwer erklärliche Bündnis des Batavers Civilis mit den Lingonen und Treverern unter Classicus und Tutor.70 Beide von rebellischen Präfekten geführten Bewegungen weisen ja allenfalls eine strukturelle Verwandtschaft auf, aber politisch hatten die obstinaten Vitellianer und die sich flavianisch zumindest ausgebenden Bataver, die sich kurz zuvor als Feinde gegenüber gestanden hatten (hist. 4,28,1), entgegengesetzte und unvereinbare Interessen. Die angeblich bereits in die Zeit nach der Entscheidung von Bedriacum zurückreichende Verbindung des Civilis mit den Treverern ist deshalb unglaubhaft; sie wird auch als bloße Kombination des Autors gekennzeichnet.71 Da aber auch die treverischen Führer Auxiliarofïïziere waren, ist es wahrscheinlich, daß die Annäherung ihren Ausgangspunkt im militärischen Apparat hatte; daneben muß die vitellianisch gesinnte und der Rheinarmee verpflichtete, jedoch ambivalent agierende und auch batavische Beziehungen pflegende colonia Agrippinensis eine wichtige Vermittlerrolle gespielt haben.72 Konkrete gemeinsame Ziele und strategische Absichten der Koalition sind schwer zu erkennen und auch von der Elementarfrage nicht zu trennen, ob prinzipielle Romfeindschaft den Aufständischen von Tacitus zu Recht unterstellt wird. Classicus hatte das strategische Ziel (und erreichte es nach der Ermordung der flavianisch gesinnten Legaten und der Einnahme von Vetera), die Rheinlager unter seine Kontrolle und die Legionen unter seinen Befehl zu bringen. Wenn danach noch im Januar 70 in den Lagern und " Tac. hist. 4,17,2 miseram servitutem falso pacem vocarent; 4,17,3 provinciarum sanguine provincias vinci. 70 Moderne Erklärung bei Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 46 ff. (Notkoalition der Bedrängten ungeachtet früherer Gegensätze: kompromißlose Haltung des Cerialis zwingt alte Gegner zum Bündnis; dagegen spricht das Ende des Aufstandes). 71 Tac. hist. 4,32,2; die Konstruktion hängt sicherlich mit der dubiosen Geschichte des Alpinius Montanus und dessen Exil zusammen; sie ist durch Geheimverhandlung und dissimulatio (hist. 4,32,2) als Spekulation des Historikers gekennzeichnet. Vgl. Bessone, Rivolta (wie Anm. 1) 34 f.; Urban, „Bataveraufstand" (wie Anm. 1) 35 f.; Heinen, Trier (wie Anm. 1)72 f. 72 Tac. hist. 4,20,4; 4,25,3; 4,28; 4,55-56 (Treffen in Köln); 4,59,3; 4,64 (Tenkterer-Rede); 4,65 (Antwort der Agrippinenser); 4,66,1; 4,79,1. - Die Tenkterer-Rede, obwohl natürlich nicht authentisch, ist nicht zufällig an die Agrippinenser gerichtet. Vgl. van Soesbergen, Phases (wie Anm. 1) 242 ff.
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rheinnahen belgischen civitates die imagines des Vitellius wiederaufgestellt wurden (hist. 4,37,2) und Civilis und Classicus dem im Trevererland siegreichen Cerialis - anscheinend ähnlich wie Vindex dem Galba - das Imperium anboten,73 kann Classicus mit der Führung von insignia imperii Romani nur eine Stellung beansprucht haben, die etwa der Galbas entsprach, als der sich legatus SPQR nannte (Suet. Galba 10,1; Cass. Dio 63,23). In diesem Zusammenhang muß er jenen ominösen, angeblichen Eid auf ein imperium Galliarum, das es doch nicht gab, gefordert haben: Gemeint ist offenbar eine Verpflichtung auf sich oder seine Partei, die aus der verächtlichen Sicht der Gegner so genannt wurde.74 Civilis, der nach Tacitus in der Bekämpfung des römischen servitium mit Classicus einig war, leistete für sich und seine Bataver - angeblich fisus Germanorum opibus- aber jenen Eid auf das ,imperium Galliarum' nicht (Tac. hist. 4.61.1), blieb also formell Vespasian verpflichtet (worauf er sich Cerialis gegenüber hist. 5,26,2 beruft), ließ die Legionen von Vetera ihn jedoch nach ihrer, von ihm entgegengenommenen Kapitulation schwören (hist. 4.60.2) und zu Classicus abziehen. Danach kämpften die Verbündeten auf verschiedenen Schauplätzen, vereinigten ihre Truppen aber, als Cerialis seinen Vormarsch begann (hist. 4,71,3; 4,75,2 ff.). Aus diesen Angaben muß wohl auf eine begrenzte militärische Allianz bei politischer Selbständigkeit der Partner geschlossen werden; das zugrundeliegende Arrangement der Verbündeten bleibt aber völlig unbekannt. Erst Sieg und Vormarsch des Cerialis nach Köln und Vetera nahmen den Galliern mit der Heimatbasis die Handlungsfreiheit und zwangen sie in die Gefolgschaft des Civilis (hist. 4,79,4) und schließlich ins Exil (hist. 5,19,3). Die taciteische Darstellung erklärt das Bündnis zwischen Batavern und Treverer-Lingonen wie auch vieles andere nicht, aber unterstellt, daß konvergierende Gesinnung, die offene, wiederholt karikierte75 und angeblich eidlich bekräftigte Romfeindschaft der einen Seite und die verborgene, aber angeblich dann offen zutage tretende der anderen, die Koalition zusammenband. Man sollte danach erwarten, daß der kompromißloseren Haltung der Gallier, ihrer entschiedeneren antirömischen Energie, die in73
Tac. hist. 4,75,1 si Cerialis imperium Galliarum velit, ipsos finibus civitatium suarum contentos·, das ,Angebot' ist absurd und ist kaum anders denn als Kopie des Vindex-Angebotes zu verstehen (Walser, Rom [wie Anm. 1] 120; Urban, „Bataveraufstand" [wie Anm. 1] 85; Heinen, Trier [wie Anm. 1] 79). 74 Sabinus, der Caesar genannt werden wollte (Tac. hist. 4,55,2; 4,67), hat damit vielleicht gar nichts zu tun. 75 Tac.hist. 4,55,1-2; 56,1; 59,2; 67,1; 69,3; 71,2 (Bereitschaft, Steuern zu zahlen, um keine iuventus stellen zu müssen, im Gegensatz zu den Batavern: hist. 4,12,3; 5,25,2).
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tellektuelle und militärische Führung des Aufstandes zugeschrieben wird. Tatsächlich beginnt und endet die Bewegung aber mit den Aktivitäten des weniger eindeutigen Civilis, dem freilich zum beträchtlichen eigenen militärischen Potential die Mobilisierung unerschöpflicher romfeindlicher germanischer Kräfte zugetraut wird. Dies machte ihn in Tacitus' Augen offenbar unabhängig von den Galliern, erlaubte, die Machtverhältnisse in der Endphase der Aufstandsgeschichte zu durchschauen, und begründete die keineswegs selbstverständliche Anschauung, daß die politisch-militärische Führung bei Civilis und den Batavern lag, die Gallier nur einen Nebenschauplatz abgaben. Denn die Rebellion der beiden vitellianisch engagierten Stämme der östlichen Belgica, die doch zu einem gesamtgallischen Aufstand gegen die imperiale Ordnung emporgesteigert wird, wächst sich zur schwerwiegenden Bedrohung erst durch die Verbindung mit den Batavern und ihrem germanischen Hintergrund aus. Aber eine konkrete und verständliche politische Zielsetzung des taciteischen (also grundsätzlich romfeindlichen) Civilis ist weder auf der Ebene der Verstellung noch der vermeintlich wahren Intention zu erkennen. Die taciteische Deutung der gallischen Vorgänge und ihrer Protagonisten hatte nicht nur mit tendenziösen und vielleicht unzulänglichen Überlieferungen zu tun, sondern auch mit ihrer eigenen Logik und inneren Stimmigkeit zu ringen. Hier sollte es deshalb nicht um die ,Glaubwürdigkeit' des Tacitus gehen, also darum, mit taciteischen Fakten die taciteische Deutung zu prüfen, zu korrigieren oder zu widerlegen, sondern deren Motiv und Ausgangspunkt besser zu verstehen. Denn die Antwort auf die Frage, was den Historiker an den Geschehnissen in Gallien so faszinierte, daß er ihnen soviel Raum ließ, was sein Urteil, hier hätte es sich um etwas geschichtlich höchst Bedeutsames gehandelt, eigentlich veranlaßte, also welche Interessen, Vorannahmen und kompositioneilen Entscheidungen den Autor leiteten, ist die Voraussetzung, um schon die Auswahl und Beleuchtung der Fakten richtig einzuschätzen. Civilis wird als germanischer Barbar charakterisiert, der seine römische Maske fallen läßt; seine Landsleute stimmen ihm aus Überzeugung zu, solange nicht Opportunitätserwägungen dagegen sprechen, und die nahen rechtsrheinischen Verwandten und Bundesgenossen sind immer bereit zu Hilfe (und Bereicherung). Denn die libertas, die alle Aufstandsführer im Munde fuhren, ist in der vorrömischen Gentilgesellschaft mit ihrer Aggressivität, Labilität und Häuptlingswillkür zu Hause und verweist damit auf eine tiefreichende Verbundenheit; römische Herrschaft gewährleistet dagegen zivilisatorische Ordnung, sie ist historisch gerecht-
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fertigt und versöhnt historische Gegner in der solidarischen Gemeinschaft des Imperiums. Die Kulturgrenze, an der sie endet, trennt nicht Völker, sondern Zivilisation und Barbaricum und ist deshalb steter Gefahrdung ausgesetzt. Dieser Herrschaftsideologie entspricht bei Tacitus ein überraschend einheitlicher und weiter historischer Erfahrungsraum; die konstitutiven außenpolitischen Erfahrungen sind seit Generationen die gleichen, sie erfordern und rechtfertigen deshalb gleiche Verhaltensweisen. In den Reden der Protagonisten ist die Erinnerung an Kimbern und Ariovist, an Arminius und Varus, an Caesar und Augustus präsent, unmittelbare Beziehungen verbinden die Beteiligten mit Caligula oder Caesar, während vermeintlich so wichtige Zäsuren einer geschichtlichen Entwicklung wie Beginn und Abbruch der germanischen Okkupationsfeldzüge keine Rolle spielen. Dieses geschichtliche Weltbild leitet offensichtlich auch das taciteische Verständnis der Situation des Vierkaiserjahres. Hier hatten nun nicht nur die römische seditio und der Fall der Legionsfestungen am Rhein den Rechtsrheinischen einmal mehr alle Schleusen geöffnet; die römischen Bürgerkriegsparteien selbst wetteiferten, die militärischen Kräfte des germanischen Barbaricum fur sich in Dienst zu nehmen. Vor allem offenbarte sich die höchste und dramatischste Gefahrdung aber da, wo reichsangehörige Stammesfursten, die gleichzeitig römische Auxiliaroffiziere waren und über römisch geschulte Truppenverbände geboten, sich die Freiheitsforderung der Romfeinde zu eigen machten. Denn damit verfugten potentielle Feinde nun gleichsam über die innere Linie der römischen Macht und Abwehr. Diese Anschauung, die vor allem frei komponierte Reden und Situationsausmalungen in den Historien immer wieder bewußt machen, und die natürlich ganz unabhängig von ihrem Realitätsgehalt Beachtung verlangt, ist der entscheidende gedankliche Hintergrund, der die historische Beurteilung des Bataverkrieges und die Ausführlichkeit seiner Beschreibung bei Tacitus, aber auch deren Lücken und Mängel an Kohärenz, erklärt. Ein Vergleich kann das noch verdeutlichen: Beim Angriff auf Italien nahmen die Flavianer, sagt Tacitus (hist. 3,5,1), auch Stammeshäuptlinge der Jazygen in das römische commilitium auf; sie hatten angeboten, Fußvolk und Reiterei zu stellen. Doch verzichtete die römische Führung dann darauf, damit die Bundesgenossen nicht in den innerrömischen Auseinandersetzungen ihren eigenen Vorteil suchen möchten. Das Problem ist selbst in unvergleichlich kleineren Dimensionen also bewußt und mahnt zur Vorsicht. Umgekehrt fand bei Tacitus der jüdische Krieg anscheinend
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eine relativ kurze und gehässige, auf den militärischen Verlauf abstellende Schilderung. Der aus diesem Anlaß eingeschaltete Exkurs strotzt von Ignoranz und antijüdischen Klischees, aber zeigt die krasse Ablehnung eines Gegners, der immerhin den jahrelangen Einsatz eines Mehrlegionenheeres forderte und einen Krieg nötig machte, der mit der Zerstörung einer der berühmtesten Kultstätten der alten Welt (Plin. nat. 5,70) und zahllosen Opfern an Toten und Versklavten endete. Doch hier fehlte eben jene Verquickung von innen und außen, jüdische Auxilien gab es ja nicht. Deshalb ist fur Tacitus der Bataveraufstand - für die Nachwelt eine Fußnote! - von zentraler Bedeutung, der Untergang Jerusalems dagegen, eine weltgeschichtliche Katastrophe ersten Ranges, nur eine gleichmütig registrierte militärische Strafaktion. Das taciteische Geschichtsbild und seine ereignisgeschichtliche Konkretisierung verlangten jedoch nach genauer Überprüfung an der erforschbaren Realität nur in geringem Maße. Der Autor meinte zu wissen, worauf es im Kern ankam und wo der Schlüssel zur richtigen Einschätzung der Vorgänge lag, um Kenntnislücken unbesorgt auf sich beruhen lassen oder sie überspringen zu können, wenn er sie nicht durch eigene Kombinationen überbrückte. Seine kritischen Spitzen richteten sich allenfalls gegen Vorgänger, deren Urteile und Anschauungen allzu starke Abhängigkeit von der parteiischen Sicht der Bürgerkriegssieger zu verraten schienen, der er doch selbst vielleicht mehr verbunden blieb als ihm bewußt war. Um so unbeirrter ist sein autoritärer Anspruch: Nirgendwo läßt Tacitus gelassen die Relativität eines standortgebundenen Urteils gelten, aber auf Schritt und Tritt leitet er seine eigene Bewertung der dramatischen Geschehnisse aus scheinbar zeitlosen römischen, politisch-ethischen Grundsätzen oder unstrittigen Maximen der Lebenserfahrung ab. Das führte zu jener eigentümlich rigiden und herrischen, polarisierenden, deutungsfreudigen und so vieles gewaltsam zurechtbiegenden Betrachtung der historischen Realität, die ihrer suggestiven gedanklichen Geschlossenheit wegen nicht aufhört, Leser zu faszinieren, aber der verqueren eigenen Gegenwart nur mit viel melancholischer Distanz begegnen konnte und deshalb auch Nachfolger nicht gefunden hat.
Provincia Cilicia Kilikien im Imperium Romanum von Caesar bis Vespasian Von
Tassilo Schmitt Über die provincia Cilicia in der Zeit der späten römischen Republik und der frühen Kaiserzeit hat Ronald Syme 1934 einen klassischen Aufsatz geschrieben. Darin hat er unter anderem die seither allgemein akzeptierte These aufgestellt, daß im Jahr 43 v. Chr. „the province of Cilicia has come to an end"1. Die weitere Entwicklung sei dann so verlaufen, daß die einzelnen Territorien dieser Provinz an - wechselnde - sogenannte Klientelherrscher gefallen seien. Das sei das Schicksal vor allem der gebirgigen Länder im Tauros und Amanos gewesen. Die fruchtbare, vor allem von Pyramos und Saros gebildete Schwemmlandebene - man spricht in Anlehnung an eine Formulierung bei Strabon vom „Ebenen Kilikien" oder von der „Pedias"2 - aber sei mit der Provinz Syrien zusammengefaßt worden. Erst Kaiser Vespasian habe die Gegend neu geordnet. Die Klientelherrschaften seien - bis auf marginale Reste wie das schwer zu fassende Minikönigreich des Iulius Alexander3 - nun aufgelöst und mit der wieder verselbständigten Pedias zur kaiserzeitlichen prätorischen Provinz Cilicia zusammengefaßt worden.
1 Ronald Syme, Observations on the Province of Cilicia (1939), in: ders., Roman Papers I, Oxford 1979, 120-148, 140. Ebenso wieder etwa ders., Hadrian and Antioch, in: Johannes Straub (Hg.), Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1979/1981, Bonn 1983, 321-331, 323. Jüngst in diesem Sinne ζ. Β. Hans Täuber, Die syrisch-kilikische Grenze während der Prinzipatszeit, Tyche 6,1991, 201-210, 207 u. 209; grundsätzlich ähnlich Axel Gebhardt, Imperiale Politik und provinziale Entwicklung. Untersuchungen zum Verhältnis von Kaiser, Heer und Städten im Syrien der vorseverischen Zeit, München 2002, 26, zur Provinz Syrien: „Unter den Triumvim oder sogar schon zur Zeit Caesars wurde ihr noch das Flache Kilikien zugeschlagen." Zu Vorläufern der von Syme kanonisierten Auffassung vgl. Elias J. Bickerman, Syria and Cilicia, AJPh 68, 1947, 353-362, 356. 2 Strab. 14,5,1p. 668. 3 Vgl. los. ant. lud. 18,140; OGIS 429 u. 544.
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Ist das richtig, hat es eine provincia Cilicia während des im Titel genannten Zeitraumes nicht gegeben. Zweifel an dieser Rekonstruktion werden nur selten,4 noch seltener explizit geäußert.5 Eine systematische Prüfung fehlt. Immerhin hatte noch Syme selbst es nicht für ausgeschlossen gehalten, daß Antonius nach dem Sieg bei Philippi „might have revived a separate province of Cilicia (i. e. Pedias and Lycaonia)", den Gedanken aber verworfen, weil es dafür keinerlei Zeugnisse gebe.6 Dem Forschungskonsens soll im folgenden widersprochen werden. Dabei geht es zunächst um eine Skizze der Herrschafts- und Verwaltungsgeschichte dieses Gebietes in der Zeit von der Ermordung Caesars bis in die frühflavische Epoche, nicht allerdings um antiquarische Details. Es werden nur solche Einzelheiten zur Debatte gestellt, die entweder bereits in der bisherigen Forschung für das Verständnis dieser Phase der Geschichte Kilikiens herangezogen wurden oder die die hier vorzutragende Deutungshypothese stützen können. Die Kontextualisierung kann umgekehrt in mehreren Fällen zu einem vertieften Verständnis dieser Quellen beitragen. Allgemein sollen diese Überlegungen als Ergänzung der Erwägungen verstanden werden, die Kai Trampedach und Ulrich Gotter im Anschluß an eine neue systematische Analyse des archäologischen, epigraphischen und numismatischen Befundes aus Olba und Diokaisareia, also aus einem Gebiet im weiter westlich gelegenen Rauhen Kilikien, vorgetragen und zur Grundlage wichtiger Erkenntnisse über die Bedeutung Roms für die Geschichte der Gegend gemacht haben.7 Anders als die beiden eben Genannten, die insbesondere die lokale und regionale Situation in den Blick genommen haben, soll hier allerdings eine Interpretation vorgelegt wer4
Implizit ist Widerspruch dann zu konstatieren, wenn man Cossutianus Capito als kilikischen Statthalter identifiziert. Vgl. unten S.201 mit Anm.56. 5 Wichtig in diesem Sinne ist vor allem Bickerman, Syria and Cilicia (wie Anm. 1), der allerdings erheblich andere als die oben zu begründenden Rekonstruktionen vorlegt. Ihm teilweise zustimmend Jürgen Deininger, Die Provinziallandtage der Römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zum Ende des 3. Jahrhunderts, München 1965, 62. Vgl. auch die Überlegungen bei Matthäus Heil, Die orientalische Außenpolitik des Kaisers Nero, München 1997, 203-205, zur Existenz einer provincia Cilicia in neronischer Zeit. 6 Syme, Observations (wie Anm. 1) 142. 7 Kai Trampedach, Teukros und Teukriden. Zur Gründungslegende des Zeus OlbiosHeiligtums in Kilikien, Olba 2, 1999, 94-110; ders., Tempel und Großmacht I. Olba in hellenistischer Zeit, in: Eric Jean u.a. (Hg.), La Cilicie. Espaces et pouvoirs locaux (24™ millénaire av. J.-C. - 4ème siècle ap. J.-C.) - Actes de la table ronde internationale d'Istanbul, 2-5 Novembre 1999, Paris 2001, 269-288; Ulrich Gotter, Tempel und Großmacht. Olba/Diokaisareia und das Imperium Romanum, in: ebd. 289-325.
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den, die die Neuordnung des Raumes eng mit der politischen Situation in Rom selbst verknüpft.8 Die Argumentation gliedert sich in drei Teile. Zunächst ist darzulegen, daß die eben angedeutete Vorstellung, wonach die nicht an Klientelherrschaften abgetretenen Landschaften der republikanischen provincia Cilicio, d. h. die Pedias, Teil der Provinz Syrien geworden sei, durch den Quellenbefund nicht bestätigt wird. Die Betrachtung der Überlieferung wird vielmehr ergeben, daß die Pedias als eigene provincia wahrscheinlich prätorischen Ranges fortbestanden hat. Im zweiten Teil ist die Einrichtung der neuen, dann größeren Provinz Kilikien unter Vespasian zu rekonstruieren, die neben der Pedias auch die westlich anschließenden Gebirge des Rauhen Kilikien umfaßte. Schließlich sollen im dritten Teil Hypothesen formuliert werden, warum Vespasian die traditionelle Ordnung dieser Gegend entscheidend verändert hat. Vorauszuschicken sind zwei terminologische Bemerkungen: (1) Spätrepublikanische Provinzen, und so auch Cilicia, haben strukturell ein wesentlich uneinheitlicheres Gepräge als die späteren der Hohen Kaiserzeit. Exemplarisch sei auf Caesars Reise durch diesen Raum verwiesen. Zwar werden Einzelheiten im Bellum Alexandrinum nur für die Verhältnisse des Jahres 47 v. Chr. in Syrien ausführlicher beschrieben. Aber die Beobachtungen dürfen wohl ohne weiteres auf das Nachbarland übertragen werden. Caesar hat demnach reges, tyrannos, dynastas provinciae finitimosque, also „Könige, Tyrannen und Dynasten aus der Provinz und aus der Nachbarschaft", empfangen.9 Somit gab es also auch innerhalb der Provinz Gebiete, die unter der wie immer gefaßten Herrschaft von einzelnen standen.10 In Kilikien kann man für die Zeit kurz zuvor auf Herren wie den aus Ciceros Korrespondenz bekannten Antipatros von Derbe als Beispiel verweisen." Die Provinz erscheint hier als der Aufsichtsbereich eines römischen Magistraten oder Promagistraten, der nicht überall eine direkte Kontrolle über die Untertanen ausübte. Grenzen dürften allein da scharf gezogen worden sein, wo Kollisionen mit einer anderen provincia
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In einer ähnlichen Perspektive hat jüngst Thomas Schrapel, Das Reich der Kleopatra. Quellenkritische Untersuchungen zu den „Landschenkungen" Mark Antons, Trier 1996, 89-104, die Übertragung kilikischer Territorien an Kleopatra untersucht. 9 Bell. Alex. 65,4. 10 Matthias Geizer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden 6 1960,238, Anm. 308, hat mit Nachdruck und mit Recht darauf bestanden, daß diese wichtige Quelle für die Eigenart spätrepublikanischer Provinzen nicht durch Veränderungen des Textes verunklärt werden dürfe. " Cie.fam. 13,73,2; Strab. 12,1,4 p.535; 6,3 p.569; 14,5,25 p.679.
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vermieden oder die harmonische Zusammenarbeit mit einer Lokalgewalt nicht gefährdet werden sollte. Die von Vespasian geschaffene provincia Cilicio hatte eine forma}1 Damit ist - auch wenn man Einzelheiten nicht kennte - eine höhere Stufe der Durchsetzung eines übergeordneten Ordnungswillens verbunden. Die provincia Cilicia unterschied sich also am Anfang und am Ende des Betrachtungszeitraumes nicht nur in ihrer Extension, sondern auch in der Intensität der Prägung durch das römische Imperium. Das bedeutet allerdings nicht, daß sich hier eine Entwicklung nach den Gesetzen historischer Schicklichkeit vollzogen hätte. Vielmehr muß man damit rechnen, daß die Bedingungen und die Vorstellungen der römischen Macht ganz ebenso wie die Lage in der Region sich jeweils eigenständig wandeln konnten und daß dann das Herrschaftsgefuge wieder neu adaptiert werden mußte. Deswegen verbieten sich Kurzschlüsse, wie der, daß sich Veränderungen jeweils im einzelnen genau so ergeben hätten, wie dies Strabon im allgemeinen skizziert. Dieser hatte in frühtiberischer Zeit die bisher praktizierte Vergabe von Klientelherrschaften als eine im Hinblick auf den eigenen Aufwand günstige Methode charakterisiert, von Räubern und Seeräubern heimgesuchte abgelegene Regionen zu pazifizieren.13 Das ist sicher nicht ganz falsch, darf aber nicht zu der Vermutung verleiten, daß Vespasian gleichsam nur die reife Frucht einer von Antonius und Augustus ausgeworfenen Saat geerntet habe. Vielmehr ist nach den konkreten Anlässen und Umständen der einzelnen Entwicklungsschritte zu fragen. (2) Cilicia als Region läßt sich für diese Zeit nicht mit scharfen Konturen auf einer Karte eintragen. Der Name war spätestens seit der Zeit des neuassyrischen Reiches auf Gebiete unterschiedlicher Größe angewandt worden und hat dabei nicht ausschließlich administrative Einheiten bezeichnet.14 Als Bezeichnung eines römischen Seeräuberkommandos seit dem späten zweiten vorchristlichen Jahrhundert, das erst allmählich Kontinuität und territoriale Festigkeit gewann, setzt Cilicia wohl die Eigenbezeichnung der Gegner als Cilices voraus, die damit an eine glanzvolle Tradition des sechsten bis vierten vorchristlichen Jahrhunderts anzuknüpfen trachteten. Schon daran kann man erkennen, daß der Name Cilicia mit Prestige verbunden war. Deswegen gibt es zeitweise nebeneinander Kilikien als Provinz, als Teil des Reiches von Antiochos IV. von Kommagene 12
Zu Suet. Vesp. 8,4 vgl. ausfuhrlich unten Abschnitt II. Strab. 14,5,6 p. 671. 14 Dazu demnächst Tassilo Schmitt, Weder rauh noch eben (erscheint 2005); Gabriele Mietke u.a., Kilikien (Cilicia, Isauria), RAC 20, 2003, 803-864, Abschnitt A. 1. 13
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und die Herrschaft des Königs M. Antonius Polemo, den Josephus wohl nur deswegen als „König von Kilikien" bezeichnet,15 weil dieser sich auch selbst so stilisierte. Strabons geographische Unterscheidung des Rauhen und des Ebenen Kilikien ist eine aus solchen Verhältnissen gewonnene Abstraktion.
I. Das bekannteste Zeugnis mit Bezug auf den kilikischen Raum, das aus der Zeit kurz nach Caesars Ermordung stammt, ist die Bürgerrechtsverleihung an Seleukos von Rhosos.16 Der Text der Urkunde war für das Archiv der Heimatstadt des Neurömers bestimmt. Kopien sollten jeweils an Rat und Volk von Tarsos, Antiocheia und einer weiteren Polis gesandt werden, die in der Forschung meist mit Seleukeia identifiziert wird. Die beiden bekannten Städte liegen in der Nähe von Rhosos. Sie zu informieren, lag sicher in Seleukos' Interesse. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß die Reihenfolge ihrer Nennung in einem offiziellen Rechtsdokument römischen Gepflogenheiten folgt. Dann aber kann die Aufzählung nicht beliebig erfolgt, sondern muß vom Rang der Städte bestimmt sein.17 Unter dieser Perspektive fallt auf, daß Tarsos vor Antiocheia genannt ist. Der nächstliegende Grund fur diese Abfolge besteht darin, daß Tarsos in derselben römischen Provinz lag wie das vor allem betroffene Rhosos und deswegen vor dem zu einer anderen Provinz gehörenden Antiocheia aufzufuhren war.18 15 los. ant. lud. 20,145; zu den verschiedenen Polemones der Zeit vgl. die Überlegungen bei Gotter, Olba/Diokaisareia (wie Anm. 7) 301 -303; 315-319. 16 FIRAI2 55. Hartmut Wolff, Die Entwicklung der Veteranenprivilegien vom Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis auf Konstantin d. Gr., in: Werner Eck, Hartmut Wolff (Hg.), Heer und Integrationspolitik. Die römischen Militärdiplome als historische Quelle, Köln 1986, 44-115, 75, datiert den Text ins Jahr 40 v. Chr. 17 Zum Rangdenken der Römer vgl. Rolf Rilinger, Moderne und zeitgenössische Vorstellungen von der Gesellschaftsordnung der römischen Kaiserzeit, Saeculum 36, 1985, 299325; prägnant ders., Ordo und dignitas als soziale Kategorien der römischen Republik, in: Manfred Hettling u. a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag, München, 1991, 81-90, 82: „Es handelt sich bei ordo also um ein Konzept, dessen wichtigstes Merkmal die Strukturierung einer geschlossenen Gruppe durch Reihung bzw. Subordination darstellt." 18 Ist das richtig, müßte es später - im Zusammenhang mit der Rehabilitierung der Tarkondimotiden? (vgl. unten S. 195-198) - zu einer Grenzverschiebung gekommen sein. Täuber, Grenze (wie Anm. 1) 207-210, hat es nämlich wahrscheinlich gemacht, daß Rhosos im ersten nachchristlichen Jahrhundert zu Syria gehörte. Die von ihm vorgelegten Quellen machen zudem deutlich, daß es bei den Autoren erhebliche Unsicherheiten über die genauen
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Als Beleg für die Vereinigung der Pedias mit der Provinz Syrien werden gelegentlich die Angaben über den Aufgabenbereich des Sosius Senecio herangezogen.19 Dieser war, wie Cassius Dio berichtet, im Jahre 38 v. Chr. von M. Antonius mit der Befehlsgewalt über Syrien und Kilikien ausgestattet worden: [sc. Senecio] την άρχήν της τε Συρίας και της Κιλικίας παρ' αύτοΰ λαβών.20 Seine Tätigkeit dort ist außerdem indirekt dadurch belegt, daß er Kunstschätze für den Tempel des Apollo Sosianus aus Seleukeia am Kalykadnos nach Rom transportieren ließ.21 Dennoch dürfen aus diesem Quellenbefund keine voreiligen verwaltungsgeschichtlichen Schlüsse gezogen werden. Denn Sosius war seine „Herrschaft" von Antonius delegiert worden, der damit eine der Lage entsprechende Personalentscheidung traf, aber eine grundsätzliche Reform von Zuständigkeiten weder intendiert haben muß noch ohne weiteres präjudizielle. Wenn der Triumvir also gelegentlich kilikische Gebiete und Syrien zusammengefaßt hat, ist das nicht ausreichend fur die Hypothese, daß die späteren Festlegungen des Siegers Oktavian Augustus daran anknüpfen mußten. Zwar ist es evident, daß dieser grundsätzlich die von Antonius geschaffene Situation übernahm, aber gerade im kilikischen Raum hat er erst nach einigem Experimentieren festere Zustände etabliert. Das erhellt etwa der Umgang mit dem Dynastengeschlecht der Tarkondimotiden, die zunächst ihres Königreiches entsetzt, zehn Jahre später aber - nicht ohne territoriale Umgruppierungen! - wieder rehabilitiert wurden.22 Keineswegs entsprach demnach „the extent and character of Syria under the Principate ... simply the Antonian province of Syria".23 Zu beachten ist auch, daß Senecios Befehlsbereich nach der Formulierung bei Cassius Dio als ein zusammengesetzter erscheint und damit auf Verhältnisse gab. Offensichtlich waren sie nicht in der Lage, vermeintlich widersprüchliche Angaben in ihren Vorlagen als jeweilige Spiegelung der Lage zu verschiedenen Zeiten zu erkennen, und haben so zu der verwirrten Überlieferung beigetragen. 19 Ruprecht Ziegler, Das Koinon der drei Eparchien Kilikien, Isaurien und Lykaonien im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr., Studien zum antiken Kleinasien 4 (Asia Minor Studien 34), Bonn 1999, 137-153, 137 mit Anm.2. 20 Cass. Dio 49,22,3; vgl. auch los. ant. lud. 14,447. 21 Plin. nat. 13,53; 36,28. 22 Dazu gleich unten, S. 195-198. 23 So aber Syme, Observations (wie Anm. 1) 143. In diesem Zusammenhang verweist er außerdem darauf, daß M. Valerius Messalla Corvinus Statthalter in Syria gewesen sei und daß sich die Verse seines Schützlings Tibull, der vom Kydnos, von den Kilikern und vom Taurus spricht (Tib. 1,7,13-16), wenn man sie überhaupt heranziehen dürfe, „indicate that Pedias belonged to his province" (ebd.). Doch ist im selben Kontext bei Tibull auch vom Nil die Rede, der gewiß nicht zum Zuständigkeitsbereich des Patrons gehört hat: Das Gedicht ist für verwaltungsgeschichtliche Fragen ohne Bedeutung.
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die Existenz der beiden Provinzen Syria und Cilicia hinweist, die in dieser Situation lediglich unter ein gemeinsames Kommando gestellt wurden.24 Im Jahr 1915 publizierten Adolf Wilhelm und Josef Keil eine Inschrift aus Hierapolis-Kastabala, die in der Forschung gelegentlich als ein Beleg für die Zugehörigkeit des Ebenen Kilikien zu Syrien gilt. Der Text lautet: Ό δήμος ό Ίεροπολιτών Λεύκιον Κ[α]λπόρνιον Πείσωνα, πρεσβευτήν και άντιστράτηγον, τον εύεργέτην και πάτρωνα της πόλεως, αρετής ενεκα και εύνοιας της εις αυτόν.25 Die Stadt Hierapolis-Kastabala ehrt hier L. Calpurnius Piso, einen legatos pro praetore, den man zumeist mit dem Konsul von 15 v. Chr. identifiziert.26 Dann gehört die Statthalterschaft in die Zeit des Augustus, in der Kastabala-Hierapolis im Herrschaftsbereich der Tarkondimotiden lag.27 Was aber Pisos Amtsbereich war, bleibt völlig im dunkeln. Er könnte als Statthalter von Cilicia oder auch von Syria im Sinne der eben genannten spätrepublikanischen Verhältnisse eine Art Kontrolle über die Tarkondimotiden ausgeübt haben, aber auch im Rahmen eines Spezialauftrages nach Kastabala gekommen sein.28 Es ist nicht einmal auszuschließen, daß sein Aufenthalt dort in keinem inneren Zusammenhang mit der Stellung als legatus pro praetore stand. Für den Status Kilikiens darf man aus diesen dürftigen Informationen so oder so gar keine Schlüsse ziehen. Als Tiberius im Jahre 17n.Chr. vor dem Senat die Entsendung des Germanicus in den Osten und die dafür notwendigen Sondervollmachten begründete, verwies er unter anderem auf die Unruhen, die der Tod
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Der Artikel vor Κιλικία macht es unwahrscheinlich, daß Cassius Dio eine Samtprovinz Syria et Cilicia meint. 25 Josef Keil, Adolf Wilhelm, Vorläufiger Bericht über eine Reise in Kilikien, ÖJh 18 Beiblatt, 1915,49-52; vgl. AE 1920, 71; André Dupont-Sommer, Louis Robert, La déesse de Hiérapolis-Castabala (Cilicie), Paris 1964, 40 mit Anm.4; Bengt Thomasson, Laterculi praesidum I, Göteborg 1984, 305, Nr.33.13. 26 PIR2 C 289. 27 Zu dieser Familie jetzt grundlegend Gilbert Dagron, Denis Feissel, Inscriptions de Cilicie, Paris 1987, 67-71; zu ihrer Rolle als lokale und regionale Kleinkönige Richard D. Sullivan, Near Eastern Royalty and Rome, 100-30 BC, Toronto 1990, 185-192; Mustafa H. Sayar, Tarkondimotos. Seine Dynastie, seine Politik und sein Reich, in: Jean u. a., La Cilicie (wie Anm. 7) 373-380, mit der Edition neuer Inschriften Tarkondimotos' II. aus Anazarbos und Umgebung (377-378); Jennifer Tobin, The Tarkondimotid Dynasty in Smooth Cilicia, in: ebd 381-387. 28 Vgl. auch die verschiedenen Erwägungen bei Ronald Syme, The Titulus Tiburtinus (1973), in: ders., Roman Papers III, Oxford 1984, 869-884, 880-881; ders., Anatolica. Studies in Strabo, hrsg. v. Antony R. Birley, Oxford 1995, 164-165, die zu keinem sicheren Ergebnis führen. Seiner allgemeinen Vorstellung folgend hat Syme dabei noch gar nicht berücksichtigt, daß der Geehrte durchaus einer Provinz Cilicia vorgestanden haben könnte.
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der Könige Antiochos und Philopator ausgelöst hätten: per idem tempus Antiocho Commagenorum, Philopatore Cilicum regibus defunctis turbabantur naílones, plerisque Romanorum, aliis regium imperium cupientibus.29 Welche Regelungen Germanicus eventuell für das Königreich der Cilices getroffen hat, ist nicht sicher überliefert. Immerhin wandte sich unmittelbar nach dessen Tod der verdrängte Statthalter von Syrien, Cn. Calpurnius Piso, bei seinem Versuch, in die Provinz zurückzukehren, mit der Bitte um militärische Unterstützung brieflich an reguli Cilicum, an „Kleinkönige der Kiliker". Dieser Beistand wurde ihm gewährt.30 Damit steht fest, daß es auch am Ende der Mission des Germanicus noch Könige der Kiliker gab. Demnach ist die Ansicht, die zuletzt wieder Ruprecht Ziegler vertreten hat, zu modifizieren, wonach die Römer im Gebiet des verstorbenen Tarkondimotos Philopator eine direkte Herrschaft errichtet hätten:31 Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Teile seines Territoriums nun der Provinzialverwaltung unterstellt wurden, aber gewiß existierten dort auch nach Germanicus' Neuordnung einheimische Klientelherrschaften fort.32 Wahrscheinlich war die politische Geographie 29
Tac.ann. 2,42,5: „Zur selben Zeit erschütterten nach dem Tod der Könige der Kommagener Antiochos und der Kiliker Philopator Unruhen deren Völker: Die meisten wollten zur Herrschaft der Römer, die anderen zu Königreichen gehören." Der Kontext verrät, daß diese Entwicklungen von Tiberius zur Rechtfertigung der Ostmission seines Neffen genannt wurden. 30 Tac. ann. 2,78,2: regulis Cilicum ut se auxiliis iuvarent scribit („Er schreibt den Kleinkönigen der Kiliker, daß sie ihm mit Hilfstruppen beistehen"); 2,80,1: auxilia Cilicum, quae reguli miseront („Hilfstruppen der Kiliker, die die Kleinkönige geschickt hatten"). 31 Ruprecht Ziegler, Kaiser, Heer und städtisches Geld. Untersuchungen zur Münzprägung von Anazarbos und anderer ostkilikischer Städte, Wien 1993, 22. 32 Zu ihnen dürfte auch der Ignotus gehören, dessen schändliches Liebesleben, dessen erfolglose Versuche, den Schutz des Asklepios zu erhalten, und dessen Rebellion gegen die Römer eine Anekdote aus der Jugend des Apollonios von Tyana erhellt, die Philostrat erzählt (vita Apoll. 1,12). Der Mann wird zumeist (so etwa Vroni Mumprecht [Hg./Übers.], Philostratos, Leben des Apollonios von Tyana, München 1983,1029) als Statthalter identifiziert, weil von einer άρχή über Kiliker und von seinem άγοράν αγειν in Tarsos die Rede ist, was man als statthalterliche (Gerichts-)Tätigkeit deutet. Nun kann aber mit der άρχή über Kiliker auch eine Königs- oder Dynastenherrschaft wie die des Polemon gemeint sein; außerdem ist άγοράν αγειν mit „(Lebensmittel-)Handel treiben" zu übersetzen (vgl. Xen. an. 5,7,33). Der Unbekannte hat also in Tarsos nicht seines Amtes gewaltet, sondern Geschäfte gemacht, als er auf die Nachricht von Apollonios' Wirken überstürzt von dort aufbrach. Überdies hätte man von einem Statthalter oder von einem anderen Legaten wohl kaum ohne weitere Erklärungen einfach sagen können, daß er „gegen die Römer aktiv war"; auf einen treulosen Klientelherrscher hingegen paßt diese Formulierung ebenso gut wie eine Absprache mit Archelaos. Sein Ende fand der Unbekannte, als ihn Sicherheitskräfte (δήμιοι) auf der Rückreise von der Begegnung mit Apollonios wenige Tage später aufspürten. Diese vollstreckten gewiß kein Urteil, zu dem es ohne Prozeß nicht gekommen
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grundsätzlich wieder so gestaltet wie in der Zeit vor dem (nicht zuletzt mit römischer Hilfe möglichen) Aufstieg der Tarkondimotiden-Dynastie, als die Gegend in viele Klein- und Kleinstherrschaften zerfallen war.33 Unter ihnen werden die Nachkommen des im Jahre 17 n. Chr. als verstorben genannten (Tarkondimotos II.) Philopator gewesen sein.34 Nach Philopators Tod bestand nach Tacitus, wie eben zitiert, die Alternative zwischen einem regium imperium oder dem direkten imperium Romanorum. Zumindest damals hat die Amtsgewalt der Statthalter sich also nicht über diese reguli erstreckt. Von Änderungen hören wir nichts, so daß man davon ausgehen kann, daß sich an dieser Grundkonstellation nichts änderte. Nach der für die Zeit Caesars bestehenden, oben erwähnten Taxonomie der Abhängigkeiten gehörten diese Gebilde damals also zu den Gebieten außerhalb der Provinz.35 Wie lange die kilikischen Könige ihre Herrschaft halten konnten und ob diese sich jeweils fortwährend über dasselbe Gebiet erstreckte, läßt sich nicht mit Sicherheit erweisen. Man kann aber wahrscheinlich machen, daß König Tarkondimotos II. Philopator neben Territorien im Amanos auch einen Streifen Land in der Gegend von Issos besessen haben muß.36 sein kann; vielmehr muß man annehmen, daß es zu einem Handgemenge kam, als der Beschuldigte sich seiner Festnahme entziehen wollte. Wiewohl sich Philostrat für diese Episode auf das in der Forschung vielfach als fiktiv angesehene Werk des Máximos von Aigeai beruft, gibt es keinen Grund, die Geschehnisse nicht zumindest für plausibel erfunden zu halten. Man erkennt dann, daß diese Dynasten aus dem Hinterland eher als (Groß-)Grundbesitzer anzusprechen sind, die zwar auf ihrem Gut Herrschaftsrechte ausüben, außerhalb aber darauf angewiesen sind, ihre Produkte in Städten wie Tarsos selbst feilzubieten. 33 Strab. 14,5,18 p. 766. 34 Vgl. oben S. 196 mit Anm. 29; außerdem Sullivan, Royalty (wie Anm. 27) 403; Olivier Casabonne, Notes ciliciennes 7-9, Anatolia antiqua/Eski Anadolu 8,2000, 89-113,98 mit Anm. 20. 35 Vgl. oben S. 191. Treffend hat Noel Lenski, Assimilation and Revolt in the Territory of Isauria from the 1st Century B.C. to the 6th Century A.D., JESHO 42, 1999,413-465, 419-420, eine allgemeine Aussage Strabons (14,5,6 p. 671) präzisierend, den Charakter der römischen Kontrolle beschrieben: „In the early empire ... Rome adopted the policy ... of asserting control only indirectly through the agency of regional rulers. Even so, the Isaurians frequently overtaxed the military resources of the dynasts charged with their control. This forced Rome to commit outside forces regularity to bring them under heel. The period between the mid-first century BC and the mid-first century AD thus witnessed a joint effort by Rome and its client kings to gain hegemony over the hinterland." Syme, Anatolica (wie Anm. 28) 163, hat vermutet, daß nach Philopators Tod „a part, but not the whole principality was probably annexed and added to Cilicia Pedias, which at this time belonged to the province of Syria." Unter Bezug darauf erklärt Sayar, Tarkondimotos (wie Anm. 27) 378, daß „das Gebiet des Tarkondimotos unter Kaiser Tiberius von Germanicus der römischen Provinz Syrien zugeteilt wurde." Das bleibt alles ganz unsicher, wenn man auch zugestehen muß, daß die späteren Tarkondimotiden gerade nicht in ihrem angestammten Herrschaftsraum bezeugt sind; vgl. zuletzt Tobin, Tarkondimotid Dynasty (wie Anm. 27) 385.
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Damit lag es wie ein Riegel zwischen der Provinz Syrien und dem dem König nicht unterstehenden Teil der Pedias. Zumindest so lange das so war, war diese letztgenannte Region eher selbständig als dem Statthalter von Syrien zugeordnet. Im Jahre 18 n. Chr. kam Germanicus den Wünschen des Artabanos entgegen, der darum gebeten hatte, ne Vonones in Syria habere tur?1 Der Römer erfüllte diese Bitte und überstellte den exilierten früheren Partherkönig nach Soloi/Pompeiopolis. Tacitus nennt diese Stadt Ciliciae maritima urbs,38 Obwohl weit im Westen gelegen, gehörte sie unzweifelhaft zum Ebenen Kilikien, das hier also mit Cilicia gemeint sein muß. Daraus ergibt sich, daß Cilicia damals nicht Teil von Syria gewesen sein kann.39 Aus Aigeai in Kilikien stammt eine Münze, die durch Stil und Gewicht, insbesondere aber durch das Porträt des Tiberius auf der Vorderseite in die Regierungszeit dieses Kaisers datiert ist. Auf der Rückseite findet sich folgende Aufschrift: έπΐ Κουλεώνος Αίγεαίων Δημαν.40 Die beiden 36
Tassilo Schmitt, Die drei Bögen für Germanicus und die römische Politik in frühtiberischer Zeit nach dem Zeugnis der tabula Siarensis, RSA 27, 1997 [1998], 73-137, 111— 112. Sayar, Tarkondimotos (wie Anm. 27) 376, glaubt zwar, daß Tarkondimotos II. „keine direkte Verbindung zum Meer" mehr gehabt habe, übersieht aber, daß ihm Augustus bei der Restitution der Herrschaft seines Vaters „einige" Ankerplätze vorenthielt, also andere durchaus zugestand (Cass. Dio 54,9,2). Tobin, Tarkondimotid Dynasty (wie Anm. 27) 385386, führt neuerdings beachtliche Gründe dafür an, daß der Zugang zum Meer in der Nähe von Issos gesucht werden muß. 37 Tac. ann. 2,58,1 : „daß Vonones nicht in Syrien belassen würde". Zu Vonones'Aufenthalt in Syrien - wahrscheinlich in Antiocheia - vgl. Tac. ann. 2,4,3. 38 Tac. ann. 2,58,2: „eine Seestadt Kilikiens". 39 Vonones hatte, als er das Partherreich verließ, einen Teil des Königsschatzes (gaza) mitgenommen. Dieser wurde, allerdings erst viel später, zurückgefordert. Artabanos legte in seinem Schreiben dar, daß man Vonones' Hinterlassenschaft in Syria Ciliciaque (Tac. ann. 6,31,1 : „in Syrien und Kilikien") finden könne. Bickerman, Syria and Cilicia (wie Anm. 1 ) 354, entnimmt dieser Angabe, daß die beiden Provinzen damals, d.h. im Jahre 35 n.Chr. oder kurz zuvor, miteinander vereinigt gewesen seien. Dabei setzt er voraus, daß Vonones die gaza als Einheit und nicht an verschiedenen Orten deponiert hatte, daß die Parther dieses Versteck erkundet und den Ort entsprechend der römischen Amtssprache identifiziert hatten und daß Tacitus ihre Formulierung unverändert übernahm. Der Historiker hätte dabei von seinem Publikum, das in seiner Zeit nur zwei voneinander verschiedene Provinzen Syrien und Kilikien kannte, präzise verwaltungsgeschichtliche Kenntnisse erwartet. Wahrscheinlich ist das nicht: Zuhörer und Leser werden den Text vielmehr so verstanden haben, daß Vonones die gaza sowohl in Syrien also auch in Kilikien hatte verwahren lassen. In Syrien, wo sich Vonones mit dem Statthalter Piso gut verstanden hatte (Tac. ann. 2,58,2), wurden Gelder auch nach seinem Weggang für Wühlarbeiten im Partherreich gebraucht. Nach Kilikien mußte sich der Exulant hinreichend Mittel für die eigene Lebensführung mitnehmen. 40 Andrew Burnett u. a., Roman Provincial Coinage, Bd. 1 : From the Death of Caesar to the Death of Vitellius. 44 BC-AD 69, London 1992, 593 Nr. 4030.
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letzten Wörter lassen erkennen, woher die Münze stammt (Αίγεαίων), und nennen - in einer Abkürzung - den für die Prägung am Ort Verantwortlichen (Δημαν). Davor findet sich eine Angabe, die das Geldstück in die Amtszeit eines Cul(l)eo datiert. Das ist ein lateinischer Name. Demnach ist hier mit höchster Wahrscheinlichkeit ein Vertreter der römischen Obergewalt genannt. Folgt man der communis opinio, wonach das Ebene Kilikien und so auch Aigeai in der vorflavischen Kaiserzeit zu Syria gehört habe, müßte es sich um den syrischen Legaten handeln. Dieser war regelmäßig ein Konsular. Nun ist aber für den fraglichen Zeitraum weder ein Konsul, noch ein konsularer Amtsträger Cul(l)eo bekannt. Umgekehrt ist freilich ein Mann belegt, der erst im Jahre 40 n. Chr. den SufFektkonsulat erreichen sollte: Q. Terentius Culleo.41 Zu diesem Konsulat würde eine prätorische Statthalterschaft in spättiberischer Zeit gut passen. Eine Identifikation mit dem auf der Münze genannten Römer liegt auch wegen des seltenen Beinamens näher als das Gegenteil. Zugleich ist es aus methodischen und aus chronologischen Gründen nicht wahrscheinlich, daß dieser Culleo einer der syrischen Legaten mit eigentlich irregulärem prätorischem Rang gewesen ist:42 Solche Ausnahmen sind unter Tiberius in den 20er Jahren n. Chr. bekannt und damit recht früh, um mit einem Konsulat im Jahre 40 kombinierbar zu sein. Das gilt besonders deswegen, weil auch die wenigen prätorischen Statthalter in dieser Provinz eine schwierige und angesehene Aufgabe übernommen hatten, die ihrer Karriere eher Schub verleihen mußte als sie zu verzögern. Im übrigen sollte man zur Deutung von Einzelbefunden eher die allgemeinen als besondere Verhältnisse postulieren. Daraus ergibt sich, daß die aus Aigeai bekannte Münze dort geprägt wurde, als Q. Terentius Culleo in spättiberischer Zeit als Statthalter einer Provinz Cilicia im prätorischen Rang fungiert hat. Er ist der früheste bislang bekannte Amtsinhaber aus der Kaiserzeit.43 Den Befürwortern der traditionellen Auffassung von der politischen Gliederung dieses Raumes gilt wohl besonders die Beobachtung als wichtig, daß immer dann, wenn auch im Rauhen Kilikien die epichoren Herrscher mit den Unruhen nicht mehr fertig wurden, regelmäßig syri-
41
Max Fluß, Q. Terentius Culleo, RE 29, 1934, 655; PIR Τ 54; Antony R. Birley, Q. Terentius Culleo, DNP 12, 2002,148. 42 So aber Ronald Syme, Juvenal, Pliny, Tacitus (1979), in: ders., Roman Papers III (wie Anm.28) 1135-1157, 1151, Anm.59. 43 Anders noch Schmitt, Bögen für Germanicus (wie Anm. 36) 111, Anm. 138.
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sches Militär eingegriffen hat.44 Natürlich lag hier so etwas wie Nachbarschaftshilfe vor. Aber fur die Zugehörigkeit der Pedias läßt sich daraus nichts folgern, wenn man mit der Möglichkeit rechnet, daß dieses Gebiet wie später auch als provincia inermis konstituiert war.45 Brauchte man also Truppen gegen Kieten oder andere Bergler, galt es, sich an den syrischen Statthalter zu wenden. Der kilikische konnte nicht helfen. Paulus spricht davon, daß er τα κλίματα της Συρίας και (της46) Κιλικίας47 bereist habe. Nach der Apostelgeschichte durchzieht er την Συρίαν και (την48) Κιλικίαν.49 Das in derselben Schrift zitierte sogenannte Aposteldekret ist an die Brüder aus den Heiden κατά Άντιόχειαν και Συρίαν και Κιλικίαν adressiert.50 Zumindest im letztgenannten Zeugnis, wahrscheinlich aber auch in den beiden anderen ist „Syrien und Kilikien" kein rein geographischer, sondern im weitesten Sinne ein administrativer Begriff. Als solcher gehört er in den Bereich der kirchlichen Selbstorganisation. Diese knüpfte schon aus praktischen Gründen an die politische Gliederung des Reiches an. Die Junktur „Syrien und Kilikien" spiegelt deswegen die römische Provinzialordnung. Nicht zufallig diente Antiocheia als Relais für die Brüder dort. Keineswegs ist aber gesichert, daß die Urkirche das Schema des Imperium ohne Modifikation übernommen haben muß. Wenn man berücksichtigt, daß hier zunächst nur wenige und auch nur wenig zahlreiche Ortskirchen anzusprechen waren, ist es durchaus vorstellbar, daß zwei oder mehr der Reichsprovinzen zu einem „Kirchensprengel" zusammengefaßt und gemeinsam betreut wurden.51 Es ist also nicht möglich, auf der Basis der zu rekonstruierenden embryonalen Ordnung der Kirche auf den exakten Zustand der zeitgenössischen Ordnung des Imperium zu schließen.
44
Tac.ann. 3,48,1 (vor 21 n.Chr.); 6,41,1 (36 n.Chr.); 12,55 (52 n.Chr.). Robert K. Sherk, The „inermes provinciae" of Asia Minor, AJPh 76, 1955, 400-413, 411-412. 46 Der Artikel ist nicht sicher überliefert. Gehört er in den ursprünglichen Text, wird ohne weiteres deutlich, daß der Apostel κλίματα („Gegenden") in zwei verschiedenen Provinzen meint. 47 Gal. 1,21 : „die Gegenden von Syrien und Kilikien". 48 Auch hier ist unklar, ob der Artikel ursprünglich ist oder nicht. Vgl. Anm. 46. 49 Acta 15,41: „Syrien und Kilikien". 50 Acta 15,23: „in Antiocheia, Syrien und Kilikien". Vgl. Bickerman, Syria and Cilicia (wie Anm. 1) 359-360, der zeigt, daß aus dieser Formulierung lediglich folgt, daß Lukas das an diese Kirchen versandte Exemplar vorlag, nicht aber, daß der Text nicht auch anderswohin geschickt wurde. 51 In diesen urkirchlichen Verhältnissen liegen die Wurzeln für die spätere Zugehörigkeit der kilikischen Diözesen zum Patriarchat von Antiocheia. 45
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Wahrscheinlich im Jahre 55 n. Chr. eilte Ummidius Quadratus, der syrische Statthalter, Corbulo nach Aigeai in Kilikien entgegen. Folgt man Tacitus, wollte er es vermeiden, daß aller Augen sich auf diesen stattlichen Mann und Oberbefehlshaber im Armenienfeldzug richteten, sobald er Syr/a betrete.52 Logisch ergibt sich daraus, daß Corbulo noch nicht in Syria war, als er in Aigeai weilte. Eine solche Formulierung wäre zumindest ungewöhnlich, wenn Aigeai mit dem Ebenen Kilikien Teil der provincia Syria gewesen wäre. Der besondere Rang Corbulos rechtfertigte es wohl, ihm sogar über die eigenen Provinzgrenzen hinaus entgegenzueilen. Im Jahre 57 n.Chr. wurde in Rom Cossutianus Capito von Cilices vor ein Repetundengericht gebracht. Wie Tacitus kommentiert, habe dieser sich in der Provinz dieselben widerlichen Frechheiten erlaubt wie in der Stadt Rom. Die Hartnäckigkeit der Ankläger führte schließlich zu seiner Verurteilung: Cossutianum Capitonem Cilices detulerant, maculosum foedumque et idem ius audaciae in provincia ratum, quod in urbe exercuerat; sed pervicaci accusatione conflictatus postremo defensionem omisit ac lege repetundarum damnatus est." Viel später trägt Tacitus noch nach, daß die „Gesandten der Kiliker" nicht zuletzt wegen der Unterstützung obsiegt hätten, die ihnen Paetus Thrasea gewährt hatte: Capito Cossutianus ... iniquus Thraseae, quod auctoritate eius concidisset, iuvantis Cilicum legatos, dum Capitonem repetundarum interroganti Aus dieser Schilderung scheint sich ohne weiteres zu ergeben, daß sich Cossutianus Capito als Statthalter in einer Provinz Kilikien so viele Übergriffe erlaubt habe, daß nach Ablauf seiner Amtstätigkeit Gesandte dieser Provinz in Rom erfolgreich ein Repetundenverfahren anstrengen konnten. So ist der Sachverhalt auch bisweilen in der älteren Forschung interpretiert worden.55 Weil aber die Neueren voraussetzen, daß es in der neronischen Zeit keine Provinz Kilikien gegeben habe, muß man Cossutianus Capitos Untaten anderswo lokalisieren. Erfolgreich hat Ronald Syme die Ansicht vertreten, daß Tacitus' Aussage, der korrupte Politiker sei durch die Ausführungen von Cilices überführt worden, in literarischer 52
Tac. ann. 13,8,3. Tac. ann. 13,33,2: „Cossutianus Capito zogen die Kiliker vor Gericht, einen rachlosen Dunkelmann, der der Meinung gewesen war, daß er in der Provinz dasselbe Recht auf Frechheit habe, das er in der Stadt für sich beansprucht hatte. Durch die Zähigkeit der Anklage niedergerungen gab er endlich die Verteidigung auf und wurde nach dem Repetundengesetz verurteilt." 54 Tac. ann. 16,21,3: „Capito Cossutianus, der mit Thrasea verfeindet war, weil er durch dessen Parteinahme unterlegen war, als dieser den Gesandten der Kiliker geholfen hatte, wie sie Capito vor ein Repetundengericht zogen." Vgl. Quint, inst. 6,1,14; luv. 8,94. 55 Edmund Groag, Cossutianus Capito, RE 4,2, 1901, 1673. 53
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Verkünstelung den tatsächlichen Hergang verdunkelt habe: Cossutianus Capito sei in Wirklichkeit Statthalter in Lycia-Pamphylia gewesen.56 Ein Beleg für diese Rekonstruktion fehlt. Sie ist nicht einmal wahrscheinlich: Denn Tacitus berichtet doch klar und sogar an zwei verschiedenen Stellen über die Geschehnisse und erzählt im selben Zusammenhang, in dem er die Anklage der Kiliker gegen Cossutianus erwähnt, außerdem kurz vom Prozeß gegen T. Clodius Eprius Marcellus. Dessen Vergehen als Statthalter von Lycia et Pamphylia haben die Vertreter dieser Provinz, die Lycii genannt werden, in Rom angezeigt.57 Hätte Syme recht, müßte man Tacitus zumuten, über zwei Fälle aus derselben Provinz zu berichten, dabei Provinz und Provinziale aber unterschiedlich zu bezeichnen. Wem sollte mit einer solchen „literarischen" Verdrehung gedient, wofür sollte sie gut sein? Es kann nicht darum gehen, Tacitus' Bericht in ein vorgefaßtes Schema zu pressen, sondern dieser hat das Vetorecht der Quellen gegenüber einer auf unzureichend gesicherten Vorannahmen beruhenden Gesamtsicht. Demnach gab es in neronischer Zeit eine provincia, in der Capito wüten und die als Cilices auftretende Gesandte als Kläger eines Repetundenverfahrens nach Rom schicken konnte. Der Auftraggeber war dabei gewiß das κοινόν, der Provinziallandtag, dessen Existenz damit zumindest für die Spätphase der julisch-claudischen Epoche gesichert ist.58 56
Ronald Syme, Tacitus, 2 Bde., Oxford 1958, Bd. 2, 557; ders., Juvenal, Pliny, Tacitus (wie Anm.42) 1150-1152; zurückhaltend zustimmend zuletzt Werner Eck, Cossutianus Capito, DNP 3, 1997, 212. Vgl. auch Erich Koestermann, Cornelius Tacitus, Annalen, 4 Bde., Heidelberg 1963-1968, Bd. 3, 299 u. Bd. 4, 379. 57 Tac.ann. 13,33,3. 58 Die ältere Auffassung, daß der Landtag unter Augustus eingerichtet worden sei, ist nicht zu beweisen. Man stützte sich hierfür auf die Interpretation von Münzen, die - wie längst bekannt ist - vielmehr als „Gepräge des Antoninus Pius und der kindlichen Brüder Commodus und Annius Veras" anzusehen sind. Dazu überzeugend Ruprecht Ziegler, Zur Einrichtung des kilikischen Koinon. Ein Datierungsversuch, Studien zum antiken Kleinasien III (Asia Minor Studien 16), Bonn 1995, 183-186, 183 mit Anm. 1-3. Zieglers eigene Datierung der Einrichtung des Landtages ist durch drei Gesichtspunkte bestimmt: (1) Er bestreitet nebenbei und ohne weiteres die Relevanz des taciteischen Berichtes über die „Gesandten der Kiliker". Dagegen ist darauf hinzuweisen, daß Tacitus' Publikum diese Formulierung, den Erfahrungen seiner Zeit entsprechend, so verstehen mußte, daß die Beschwerdeführer, die für mehr als nur eine einzelne - sonst zu nennende - Stadt sprachen, von einem mit derartigen Angelegenheiten regelmäßig befaßten Gremium beauftragt waren. Für die Annahme, daß nicht ein kilikischer Provinziallandtag, sondern der Landtag einer Teilprovinz der größeren - und von Ziegler vorausgesetzten - Samtprovinz Syria et Cilicia die Klage veranlaßt hätte, spricht nichts. Zwar sind solche concilia gerade im kleinasiatischen Raum, später sogar innerhalb der Provinz Cilicia gut belegt. Aber es fehlen Zeugnisse dafür, daß sie wie die eigentlichen Provinziallandtage ihre Beschwerden in Rom hätten vortragen können. (2) Ziegler hebt hervor, daß in Dion von Prasas 2. Tarsischer
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Ebenfalls unter Nero ist durch j e eine Inschrift aus dem pisidischen Antiocheia und aus Side ein C. Iulius Proculus als procurator Claudi Caesaris
Augusti
Germaniciprovinciae
Cappadociae
Neronis et
Ciliciae
belegt. 5 9 D i e wissenschaftliche Diskussion u m sein Amt versucht zu klären, ob er Präsidialprokurator einer Doppelprovinz Cappadocia
et
Cilicia
oder Finanzprokurator mit einem Aufgabenbereich war, der diese beiden Distrikte umfaßte. 6 0 Eine völlig sichere Lösung ist nicht gefunden worden. 61 Aber unabhängig davon, w a s richtig ist, schließen es beide Varianten aus, daß Cilicia
damals Teil der Provinz Syria g e w e s e n ist. Im Falle der
Präsidialprokuratur versteht sich das v o n selbst. War Proculus aber Finanzprokurator, ist es kaum vorstellbar, daß er lediglich fur einen Distrikt innerhalb der großen Provinz Syria und nicht auch für die anderen zuständig g e w e s e n ist, obwohl er fur Cappadocia
und damit außerhalb v o n
Syria Verantwortung getragen hat. 62
Rede allein Demiurgie und Gymnasiarchie, nicht aber eine Kilikarchie genannt seien (so schon ders., Städtisches Prestige und kaiserliche Politik. Studien zum Festwesen in Ostkilikien im 2. und 3. Jahrhundert n.Chr., Düsseldorf 1985, 58 Anm.213). Angesichts dessen, daß im zweiten Jahrhundert dieses letztgenannte Munus von zentraler Bedeutung ist, erlaube die Nichterwähnung einen Schluß auf die Nichtexistenz. Demgegenüber ist über die allgemeine Feststellung hinaus, daß ein argumentum e silentio, wie Ziegler selbst einräumt, grundsätzlich problematisch ist, hervorzuheben, daß nach seiner Vorstellung regelmäßig tarsische und andere kilikische Bürger am Landtag in Antiocheia teilgenommen haben. Dabei darf ihnen nicht verwehrt geblieben sein, auch den Vorsitz zu übernehmen. Sie hätten also die Rolle des (immerhin später so genannten) Syriarchen spielen können. Gerade für die stolzen und stark hellenisierten Tarser hätte das eine Herausforderung sein müssen. Aber auch davon spricht Dion nicht: Sein Schweigen ist demnach so oder so irrelevant. (3) Ziegler stellt eine neue Silbermünze vor, die die Existenz des Koinon in hadrianischer Zeit erweist und die er mit guten Gründen in die Jahre 129-130 oder 132-135 datiert (vgl. auch ders., Koinon der drei Eparchien [wie Anm. 19] 138, wo er der jüngeren Zeitstellung den Vorzug einräumt). Damit allerdings ist lediglich ein terminus ante quem gewonnen, der es nicht ausschließt, daß der Landtag damals bereits auf eine generationenlange Geschichte zurückblicken konnte. Insgesamt ist somit gegen Ziegler an der Existenz eines kilikischen Landtages in vorflavischer Zeit nicht zu zweifeln, auch wenn offen bleiben muß, wann er eingerichtet wurde. " AE 1914, 128; AE 1966,472 = IvSide I, Nr. 55. Möglicherweise geht auf diesen Proculus das Bürgerrecht eines später in Tarsos bezeugten Mannes zurück, vgl. Dagron, Feissel, Inscriptions (wie Anm. 27) Nr. 72; Johannes Nollé, Side im Altertum. Geschichte und Zeugnisse, Bd. 1 : Geographie, Geschichte, Testimonia. Griechische und lateinische Inschriften, Bonn 1993 (= IvSide I), 335. 61 Heil, Außenpolitik (wie Anm. 5) 203-205; Nollé, Side (wie Anm. 60) ad loc. 62 Das Argument verlöre an Gewicht, wenn sich zeigen ließe, daß Cilicia nur die Bezeichnung einer Region ist, in der sich - obwohl nicht als Provinz organisiert - Besitztümer des Kaisers befanden, für die Proculus zuständig war. Die Formulierung in der Inschrift legt aber nahe, daß sein Amtsbereich auf administrativen Gegebenheiten, also wohl auf „Pro60
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Ein weiteres Zeugnis kann die Verhältnisse unter Nero erhellen. Es handelt sich um eine Notiz der Apostelgeschichte über das Gespräch, das Antonius Felix, der Prokurator für Judäa, mit dem ihm aus Jerusalem überstellten Paulus fuhrt.63 Felix fragt den Angeklagten, έκ ποίας έπαρχείας er sei, und erfahrt, daß Paulus από Κιλικίας stamme.64 Diese Vergewisserung hängt mit der prozeßrechtlichen Möglichkeit zusammen, den Angeklagten an ein forum domicilii zu überweisen.65 Gerade weil aber Lukas diese Zusammenhänge völlig im dunkeln läßt, hatte er keinen Grund, diesen Teil des Gespräches zu erwähnen außer dem, daß er die Einzelheit in seiner Quelle vorfand. Schon diese Vorlage also nannte die επαρχεία Κιλικία als Paulus' domicilium. Zwar kann επαρχεία grundsätzlich nicht nur eine römische provincia, sondern auch einen Teil davon bezeichnen. Aber der Statthalter von Judäa mußte nicht wissen, aus welcher mutmaßlichen Teilprovinz sein Gegenüber kam, sondern nur, ob diesem anderswo als in Judäa der Prozeß gemacht werden konnte.66 In seiner Antwort hat Paulus folglich die Provinz Cilicia gemeint. Eine solche hat es unzweifelhaft natürlich zu der Zeit gegeben, als Lukas die Apostelgeschichte verfaßt hat. Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß seine Quellen nur wenig älter sind, hat man also zu erwägen, ob die Autoren hier nicht die Verhältnisse ihrer Zeit anachronistisch in die vorherige Generation übertragen haben. Voraussetzung dafür wäre, daß vinzen" aufruht: Des Prokurators provincia umfaßte das Gebiet der römischen provinciae Kappadokien und Kilikien. 63 Zu Antonius Felix zuletzt Heike Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, Berlin 2002, 404-406. Zum Amtstitel des Statthalters und zur frühkaiserzeitlichen Geschichte der Provinz mit reicher Literatur vgl. Werner Eck, Rom und die Provinz Iudaea/ Syria Palaestina. Der Beitrag der Epigraphik, in: Aharon Oppenheimer (Hg.), Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit. Wege der Forschung. Vom alten zum neuen Schürer, München 1999, 237-263; Hannah M. Cotton, Some Aspects of the Roman Administration of Judaea/Syria-Palaestina, in: Werner Eck (Hg.), Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert, München 1999, 75-91. 64 Acta 23,34. 65 Theodor Mommsen, Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus, ZNW 2,1901, 81-96, 92; Adrian N. Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament. The Sarum Lectures, Oxford 1963, 28-31; 55-57; Omerzu, Prozeß (wie Anm.63) 413-415. 66 Omerzus Kommentar (ebd., 414), daß „Tarsus zur Zeit der Anklage des Paulus noch zu der vereinten Provinz Syrien-Kilikien [gehört habe] ..., also dem gleichen Legaten unterstellt [war] wie Judäa", setzt zum einen die hier zu kritisierende Ansicht von der Samtprovinz Syrien-Kilikien voraus und ignoriert zum anderen, daß die von Claudius errichtete prokuratorische Provinz Judäa nicht mehr wie früher die Präfektur (etwa des Pontius Pilatus) einfach ein Annex der Provinz Syria gewesen ist.
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noch ältere Überlieferung dazu gar nichts oder doch dem jüngeren Autor Ungenügendes enthalten hätte. Wofür aber haben sich dann Lukas oder sein mutmaßlicher Gewährsmann interessiert, daß sie dieser Prozeßeinleitungsfrage ein derartiges Gewicht beimaßen, wenn sie Paulus' Herkunft - dann auch noch falsch in die Überlieferung einfugten? Für Lukas selbst ist kein Motiv erkennbar, für seine Quelle nicht sinnvoll zu erschließen. Viel einfacher ist die Erklärung, daß hier ein Stück Erinnerung an den tatsächlichen Verlauf der Unterredung zwischen dem Apostel und dem Statthalter vorliegt. Dann hat es also in neronischer Zeit eine Provinz Cilicio gegeben. Der kursorische Überblick ergibt bisher, daß in der julisch-claudischen Zeit das Ebene Kilikien eher selbständig als Teil der großen Provinz Syria gewesen ist. Diese Aussage ist sicherer als eine Einschätzung des Status der Provinz. Er muß nicht immer der gleiche gewesen sein. Die Quellen machen es aber wahrscheinlich, daß Cilicia regelmäßig einen senatorischen Statthalter prätorischen Ranges hatte. Wenn dies die richtige Deutung der Amtsstellung des Terentius Culleo in tiberischer Zeit und des Cossutianus Capito unter Nero ist, muß man für Proculus eher eine Finanzprokuratur annehmen.
II. Ein wesentlicher Stützpfeiler für die These, daß Vespasian in den frühen 70er Jahren n. Chr. aus der vorher zu Syrien gehörigen Pedias und aus zuvor Klientelherrschem unterstellten Gebieten der Tracheia eine neue Provinz Cilicia geformt habe, ist eine Aufzählung in Suetons Lebensbeschreibung dieses Kaisers, die in der Forschung gemeinhin so zitiert wird: Achaiam, Lyciam, Rhodum, Byzantium, Samum liberiate adempia, item Trachiam Ciliciam et Commagenen dicionis regiae usque ad id tempus in provinciarum formam redegit.61 Für Kilikien entnimmt man dieser Notiz, daß Vespasian das „Rauhe" (Trachia = Τραχεία) Kilikien, das bisher wie Kommagene unter einer Königsherrschaft gestanden sei, in eine Provinz umgeformt habe. Kaum mehr Beachtung findet dabei die handschriftliche Überlieferung von Suetons Biographien. Die in den modernen Ausgaben gedruckte Wortfolge Trachiam Ciliciam ist in den Textzeugen nämlich nicht sicher belegt; sie kommt nur im codex Parisinus 6116 aus dem zwölften Jahrhun67
Suet. Vesp. 8,4.
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dert vor, das heißt in einer im übrigen nicht besonders guten Handschrift, von der zudem feststeht, daß sie grundsätzlich in eine Traditionslinie mit weiteren Manuskripten gehört, die alle die Form Thraciam bieten. Die moderne Kritik stützt sich deswegen mit Recht nicht auf diese ihrer Ansicht nach korrekte, aber eben vielleicht zufallig korrekte Version. Es sind inhaltliche Kriterien, die Adrian Turnèbe (Tracheam) und Richard Bentley (Trachiam) zu ihrer Lesart bewogen und die dann auch die jüngeren Editoren überzeugt haben.68 Ohne Eingriff in den Text ist hier von Thrakien die Rede. Thrakien aber sei, so argumentiert man, schon unter Claudius in eine Provinz umgewandelt worden. Vespasian habe deswegen dort kein in formant provinciarum redigere durchführen können. Die Textüberlieferung müsse gestört sein. Um die Korruptel zu heilen, deutet man Thraciam als Mißverständnis des nur transkribierten griechischen Adjektives τραχεΐαν, das Strabon zur Unterscheidung des zerklüfteten Teils Kilikiens von der Ebene verwendet hat. Akzeptiert man diese Konjektur, darf man Suetons Text entnehmen, daß Vespasian etwas am Status einer Trachia Cilicia, am Status des „Rauhen Kilikien", geändert hat. Festzuhalten ist aber, daß damit noch längst nicht dargetan ist, daß damals eine aus dem „Ebenen" und dem „Rauhen Kilikien" zusammengesetzte provincia Cilicia geschaffen worden ist. Turnèbe und Bentley waren Gelehrte von Rang und ihre Autorität hat eine Veränderung des überlieferten Textes sanktioniert, die insofern fatal war, als sie vom zentralen Interpretationsproblem abgelenkt hat. Denn Vespasians in formam provinciarum redigere bezieht sich nach der Grammatik des Satzes ganz ebenso auf Achaia, Lycia, Rhodus, Byzantium und Samus, von denen man ebensowenig wie im Falle Thrakiens sagen kann, daß sie in eine Provinz umgewandelt wurden. Textkritische Operationen versagen bei dieser Liste. Man muß sich entscheiden: Entweder formuliert Sueton hier manifesten Unsinn, wenn er von der Umwandlung von Landschaften in Provinzen spricht, mit denen das nachweislich nicht geschehen ist. Oder in formam provinciarum redigere bedeutet etwas anderes, als die moderne Forschung meist unterstellt, und kann dann korrekt auf alle aufgeführten Regionen bezogen werden. In beiden Fällen verbietet sich allerdings der übliche Eingriff in den Text: Manifesten Unsinn kann man erstens nicht bestimmen. Zweitens 68
Vgl. die Angaben im textkritischen Apparat der von Maximilian Ihm veranstalteten Ausgabe (Suetonius Vitae. Editio minor, Leipzig 1908 [ND Stuttgart 1967], 301): „Trachiam Bentl. (sie casu Π, Tracheam Turn.), thraciam Ω," wobei mit Π der codex Parisinus 6116, mit Ω der Archteypus bezeichnet sind.
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war ja gerade das Vorverständnis von in formarti provinciarum redigere die entscheidende Grundlage für die Neukonstitution des Textes. Diese erscheint aber nicht nur aus sachkritischen, sondern auch aus textkritischen Überlegungen in einem eher trüben Licht. Wie schon gezeigt, bietet die handschriftliche Überlieferung keinen Anlaß für einen Eingriff. Nur orthographische Varianten sind zu beobachten, so daß für den Archetypus ohne jeden Zweifel Thraciam rekonstruiert werden kann. Bedeutsam ist außerdem, daß dieselbe Liste mit Thraciam auch bei Eutropius und Orosius überliefert ist.69 Da zugleich vorausgesetzt werden darf, daß die Textüberlieferungen der verschiedenen Schriften nicht aufeinander eingewirkt haben, ist zu folgern, daß dieser Katalog zumindest in der Spätantike die Namen nannte, die die Texte von Sueton, Eutrop und Orosius in den greifbaren Zeugen heute noch anführen. Da überdies alle Anzeichen dafür fehlen, daß die jüngeren Autoren vorsuetonisches Material herangezogen hätten, ist zu folgern, daß die jeweiligen geringfügigen Varianten in der Formulierung kaum auf besserer Sachkenntnis beruhen. Es ergibt sich, daß für die historische Analyse allein die Nachricht bei Sueton herangezogen werden darf. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß lateinisch trachia nur als griechisches Lehnwort in der Bedeutung „Luftröhre"70, nirgends jedoch sicher als Bezeichnung einer Teilregion Kilikiens bezeugt ist. Denn die beiden Belege, die man allenfalls anführen könnte, erweisen sich bei genauerer Analyse als nicht überzeugend: (1) In einer Inschrift für Q.Veranius ist von dessen Sieg im Gebiet des sogenannten Rauhen Kilikien die Rede. Nur der Schluß ist erhalten [,..]acheotarum expugnatum delevit.71 Wahrscheinlich ist davor castellum und recht sicher ein Ethnonym mit der Spezifikation [Tr]acheotarum zu ergänzen. Daraus ergibt sich, daß Veranius' Gegner XXX Tracheotae hießen. Das Wort Tracheotae ist ein Adjektiv, das die Zugehörigkeit zur Τραχεία bezeichnet. Die Wortbildung aber ist griechisch, nicht lateinisch: Das heißt, daß Tracheotae gerade keine lateinische Trachia voraussetzen. Von dieser Form nämlich hätte man die dort Wohnenden als *Trachici oder *Trachiani abgeleitet. Damit ist nicht gezeigt, daß es keine Trachia gegeben haben kann, aber doch die Möglichkeit abgewiesen, ihre Existenz aufgrund eines Belegs für Tracheotae zu erschließen. 69
Eutr. 7,9,14; Oros. 7,9,10. Macr. sat. 7,15,2. 71 AE 1953, 251 Z. 12: „[das Kastell?] der ... achaeotae zerstörte er nach einer erfolgreichen Belagerung". 70
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(2) In der spätantiken, in der Zeit um die Wende vom vierten zum fünften nachchristlichen Jahrhundert entstandenen Epitome de Caesaribus findet man nach der Standardausgabe von Franz Pichlmayr und Roland Gruendel im Kapitel über Vespasian folgenden Text: Syria, cui Palaestina nomen est, Ciliciaque ac Trachia et Commagene, quam hodieAugustophratensem nominamus, provinciis accessere.n Der anonyme Autor,73 der dabei vielleicht schon seiner unmittelbaren Quelle folgte, ist sichtlich darum bemüht, seinem Leser Verständnishilfen anzubieten. Nicht nur hier erläutert er Begriffe, von denen er annimmt, sie seien unverständlich. Dazu gehört für ihn Commagene, nicht aber Trachia, obwohl er für ein lateinischsprachiges Publikum schrieb, in dem die Griechischkenntnisse schwanden, die für eine Ableitung und Zuordnung nötig gewesen wären. Denn man wird aus dem bisher ausgebreiteten Befund, daß sich lateinisch Trachia sonst nicht nachweisen läßt, immerhin den Schluß ziehen dürfen, daß die Bezeichnung zumindest wenig geläufig war. Außerdem ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß sich der Anonymus hier aus sachlichen Erwägungen und besserer Kenntnis gegen die übrige Überlieferung stellte, aus der er sonst grundsätzlich auch schöpfte.74 Denn gerade wenn die Trachia eigentlich eine τραχεία Κιλικία ist, hätte die ja ebenfalls genannte (dann restliche) Cilicia genauer definiert werden müssen. Das Paradox, daß der Anonymus zugleich sowohl sehr gut als auch nicht so recht Bescheid gewußt hätte, läßt sich allerdings aufheben, wenn man ac nicht als Kopula, sondern epexegetisch auffaßt: „Kilikien und zwar die Tracheia und Kommagene". Der Autor hätte dann allerdings wiederum seinem Publikum zugemutet, ohne weiteres zu verstehen, was die Cilicia Trachia ist, und er hätte hier eine andere Form der genaueren Bestimmung von Cilicia gewählt, als bei der Syria Palaestina und der Commagene Augustophratensis, wo er jeweils Relativsätze anfügt. Stilistische Gründe dafür - etwa Variation oder die Vermeidung von Doppelungen - sind nicht zu erkennen, denn diese Motive gelten für die beiden anderen Beispiele gerade nicht. Die Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten stellen sich gar nicht erst ein, wenn man als einfachste Lösung annimmt, daß Trachia hier nichts anderes ist als eine orthographische Variante zu Thracia, jeden72
Epit. 9,13: „Syria, die Palaestina heißt, ferner Cilicia und Trachia sowie Commagene, die wir heute Augustophratensis nennen, kamen zu den Provinzen hinzu." 73 Die in aller Vorsicht erwogene Hypothese von Jörg Schlumberger, Die Epitome de Caesaribus. Untersuchungen zur heidnischen Geschichtsschreibung des 4. Jahrhunderts n. Chr., München 1976, 233-248, es handle sich um einen Mann aus der Umgebung des Nicomachus Flavianus, soll hier nicht weiter erörtert werden. 74 Ebd., 17-62.
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falls nichts anderes bezeichnet. Insgesamt eignet sich der Befund nicht, um lateinisch Trachia für gesichert bezeugt ansehen zu können. Dies ist besonders zu betonen, weil gerade wenn in der Epitome von der τραχεία Κιλικία die Rede wäre, jeglicher Hinweis auf die Befindlichkeit der übrigen Cilicia oder deren Veränderung fehlte. Die Analyse der mit der Überlieferung bei Sueton verwandten Textzeugen zusammenfassend läßt sich festhalten, daß dort nirgends sicher von der Einrichtung einer Provinz Cilicia die Rede ist. Das übliche Verständnis, daß hier unter anderem eine Bemerkung über das Schicksal des „Rauhen Kilikien" fällt, hält der Nachprüfung nicht stand: Nicht eine Trachia Cilicia, sondern Thracia und Cilicia sind genannt. Suetons Nachricht darf man nicht dadurch einen Sinn abzugewinnen versuchen, daß man den Text verändert. Vielmehr ist es methodisch angezeigt, ihn zu akzeptieren und zugleich zu unterstellen, daß hier eine korrekte Aussage vorliegt. Die Annahme eines Irrtums oder Fehlers ist immer die schlechtere Alternative, zu der man sich erst entschließen sollte, wenn alle Verständnismöglichkeiten ausgeschöpft sind. Die Liste der Regionen, deren Status Vespasian verändert hat, zerfallt in zwei Hauptgruppen: (a) Achaia, Lycia, Rhodus, Byzantium, Samus libertóte adempia (b) Thracia Cilicia et Commagene dicionis regiae usque ad id tempus Der ersten Gruppe nimmt Vespasian die Freiheit, also das „Bündel von jeweils zu bestimmenden Privilegien"75, die bis dahin eine individuelle Sonderstellung dieser Regionen und Städte begründet hatte. Es ist hier nicht zu entfalten, ob dieser Verlust in den genannten Fällen auch anderweitig belegt werden kann und wie er konkret aussah. Denn im Rahmen der hier verfolgten Problematik steht die zweite Gruppe im Zentrum des Interesses. Sie ist ihrerseits in zwei Einheiten gegliedert. Denn Cilicia et Commagene sind durch eine Kopula verbunden, während sonst durchweg eine asyndetische Reihe vorliegt. Diese Gestaltung ist ästhetisch nicht sinnvoll zu begründen. Es ergibt sich, daß nach Sueton Cilicia et Commagene in besonderer Weise aufeinander bezogen sind. Die Eigenart könnte man darin sehen, daß nur für sie zutrifft, wenn der Biograph erklärend hinzufugt dicionis regiae usque ad id tempus. Diese Deutung bietet aber nur scheinbar einen Ausweg aus der Aporie, daß Thrakien seit claudischer Zeit, unter Vespasian also schon längst nicht mehr, von einem König beherrscht wurde. Denn die Logik von Suetons 75
Dieter Nörr, Imperium und Polis in der hohen Prinzipatszeit, München 2 1969, 63.
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Satz besteht darin, die konkrete Auswirkung des in formarti provinciarum redigere zu skizzieren, also (a) Verlust der libertas und (item!) (b) Ablösung der bisherigen dicio regia. Sollte dies für Thracia nicht gelten, verlöre die Nennung dieser Region jeglichen Bezug zur Struktur der Aussage. Es bleibt dabei: Nach Sueton existierte bis in die Zeit der Herrschaft Vespasians in Thrakien eine dicio regia, die der Kaiser durch in formam provinciarum redigere abschaffte. Was das bedeuten soll, vermögen semantische Untersuchungen nicht zu klären: dicio ist kein technisch scharfer Begriff, um den Weg zur historischen Erkenntnis zu bahnen. Vielmehr gilt es umgekehrt zu fragen, ob es in der frühen Geschichte der Provinz Thracia Eigentümlichkeiten gibt, die lateinisch als dicio regia beschrieben werden könnten, d. h. als eine wesentliche Struktureigenschaft dieser Herrschaftseinheit, die irgendwie mit dem schon abgekommenen thrakischen Königtum zusammenhängt. In der Tat zerfiel die Provinz Thrakien, wie Plinius und Ptolemaios bezeugen, in Strategien.76 Das zugrundeliegende Gliederungsschema stammte aus der Zeit, bevor die Römer dort die Herrschaft direkt übernahmen.77 Auf die Einzelheiten dieses Systems und auf die Differenzen in den Beschreibungen der beiden Quellenautoren kommt es hier nicht an. Wie Arnold H. M. Jones überzeugend darlegt, schrieb zum einen Plinius ohne eigene Detailkenntnisse eine Vorlage aus und kompilierte zum anderen Ptolemaios Informationen über die zu seiner Zeit abgekommenen Strategien mit solchen über eine jüngere Binnenordnung.78 76
Plin. nat. 4,40; Ptol. 3,11,6. Vgl. Boris Gerov, Zum Problem der Strategien im römischen Thrakien (1970), in: ders., Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1980, 229-239, 229 mit Anm.4, mit weiterer Literatur. 78 Arnold H.M.Jones, The Cities of the Eastern Roman Provinces, Oxford 21971, ΙΟΙ 8, legt dar, daß die Neugliederung in trajanischer Zeit bestand. Gerov, Strategien (wie Anm. 77) 236-237, versucht, Jones' Datierung der für Ptolemaios vorauszusetzenden Verhältnisse mit dem Hinweis auf eine Inschrift zu entkräften, die beweisen soll, daß das alte Strategiensystem noch bis in hadrianische Zeit existierte. Es handelt sich um IGBulg III (1) 1115, eine Weihung aus trajanischer Zeit ύπέρ τε της εαυτών σωτηρίας καί ΰγιείας tcai δλης της πατρίδος καί στρατηγίας, „für die eigene Existenz und Gesundheit sowie für die des gesamten Heimatortes und der Strategie". Doch dieses Zeugnis ist viel weniger klar, als Gerov meint. Dieser selbst hat gezeigt (Zur inneren Organisation des römischen Thrakien [1978], in: ders., Beiträge [wie Anm. 77] 273-284), daß die Territorien thrakischer Städte zumindest teilweise in sogenannte regiones zerfielen. Gerov ist nun der Ansicht, daß der griechische Terminus für regio χώρα sei (vgl. etwa die Überschrift ebd., 273), bleibt dafür aber einen Quellenbeleg schuldig. Hingegen ist es ganz unzweifelhaft, daß im Lateinischen für jeweils dieselbe Einrichtung sowohl das lateinische Wort regio als auch das Fremdwort strategia erscheint: Plin. nat. 4,40 in strategias L divisa („in 50 Strategien geteilt") sowie ebd. 4,45 Astice regio („die regio Astike") im Vergleich mit IGRI 77
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Zu kurz greift nur Jones' nebenbei formulierte Ansicht, eine Neugliederung sei von Trajan initiiert.79 Denn die bislang so sperrige Stelle aus Suetons Vespasian-Vita gewinnt eine klare Bedeutung, wenn man sie als ebenso kurzen wie präzisen Hinweis darauf versteht, daß schon dieser Kaiser die eigenartige thrakische Gliederung in Strategien aufhob und durch ein System ersetzte, das dem anderer Provinzen entsprach. Hier ist nicht zu verfolgen, wann, aus welchem Grund und wie er das tat und ob seine Nachfolger weitere Justierungen anbrachten, bis das für Ptolemaios vorauszusetzende Schema entstand.80 Vielmehr ist wichtig erstens, daß der zunächst unverständlich erscheinende Satz Suetons eine historische Veränderung widerspiegelt, die wissenschaftlicher Scharfsinn seit dem 16. Jahrhundert verdunkelt hat, und zweitens, daß diese Rekonstruktion den Blick dafür schärft, was damals mit Cilicio et Commagene geschehen ist. Ebenso wie dies schon mit Blick auf die erste Hauptgruppe betont wurde, muß man nämlich zumindest für Thrakien auch hier feststellen, daß in formarti provinciarum redigere nicht mit der Einrichtung einer Provinz verwechselt werden darf, sondern als römische, wie auch immer genauer zu bestimmende Durchgestaltung eines Raumes zu verstehen ist. Welchen Raum aber hat Vespasian in Südost-Anatolien neu geordnet? Nimmt man ernst, daß in Suetons Notiz Cilicia et Commagene absichtlich mit der Kopula et verbunden sind, muß man folgern, daß Vespasians Gebietsreform die genannten Landschaften als Einheit umgestaltet hat. Dann aber ergibt sich zwingend, daß hier von der Reform genau des Gebiets die
677 στρατηγός 'Αστικής της περί Πέρινθον („Stratege der Astike um Perinthos"). Man muß also mit der Möglichkeit rechnen, daß inschriftlich belegte „Strategien" Verwaltungseinheiten entweder außerhalb oder innerhalb von städtischen Gebieten sind. Es ist hier nicht zu überprüfen, ob solche Strukturen gleichzeitig bestanden haben können oder ob die Einrichtung von Strategien auf städtischen Territorien eine Gebietsreform mit der Abschaffung der außerstädtischen voraussetzt. Jedenfalls verliert Gerovs Beleg die Beweiskraft, die er ihr beimißt, so daß Jones' wohlbegründete Überlegungen nicht widerlegt sind. Sie sind nur insofern zu modifizieren, als der Nachweis der Existenz in trajanischer Zeit nicht notwendig impliziert, daß dieser Zustand erst damals herbeigeführt wurde. 79
Ähnlich auch Velizar I. Velkov, Hartmut Wolff, Moesia Inferior und Thrakien, in: Friedrich VittinghofF (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte der römischen Kaiserzeit (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1), Stuttgart 1990, 600-615,603. 80 IGBulg IV 2338 macht es sehr wahrscheinlich, daß das alte System unter Vespasian noch eine Weile bestanden hat. Die spekulative Datierung dieser Inschrift in domitianische Zeit bei Gerov, Strategien (wie Anm. 77) 232-233, hilft nicht weiter. Es liegt nahe, die Reform in einen Zusammenhang mit der Gründung der colonia Flavia Pacensis Deultum zu rücken.
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Rede ist, das bis in die Frühzeit der Regierung Vespasians Antiochos von Kommagene beherrscht hat und das nun insgesamt durch eine Prozedur, die in formarti provinciarum redigere heißt, neu strukturiert wird. Es ist offensichtlich, daß Antiochos' regnum nicht zuvor aufgespaltet worden sein kann. Das aber wäre die Voraussetzung der in der Forschung herrschenden Vorstellung, wo man das Ende von Antiochos' Herrschaft mit der Aufteilung seines Territoriums sowie mit der Angliederung der Teile an die Provinz Syrien einerseits und an die neugeschaffene Provinz Cilicia andererseits gleichsetzt. Auch diesem Aspekt der gängigen Vorstellung von der frühflavischen Neuordnung des südöstlichen Kleinasien muß also widersprochen werden. Die Umwandlung der Cilicia et Commagene könnte im Rahmen einer neuen Provinz oder im Zuge der Eingliederung in eine alte vollzogen worden sein, ganz ebenso wie auch im Rahmen der ersten Hauptgruppe das in formant provinciarum redigere ganze Provinzen (Achaia) oder Teile davon betroffen hatte. Glücklicherweise macht eine in diesen Zusammenhang zu rückende und damit auch neu zu interpretierende Inschrift Spekulationen darüber überflüssig, ob aus dem Fehlen jeglichen Zeugnisses über die Existenz einer selbständigen Provinz Cilicia et Commagene ein statthaftes argumentum e silentio gewonnen werden kann. In Neapel wurde eine Ehreninschrift für den höchst erfolgreichen Wettkämpfer T. Flavius Artemidorus aus Adana gefunden, die eine Liste seiner vielen Siege enthält.81 Dort ist festgehalten, daß Artemidoros in der Klasse der άνδρες zweimal bei den Wettbewerben im Pankration gesiegt hatte, die vom κοινόν Συρίας Κιλικίας Φοινείκης έν Άντιοχείςι, also vom Landtag Syrien-Kilikien-Phoinikien in Antiocheia, veranstaltet worden waren. Die Datierung der Inschrift und damit auch der Siege des Artemidoros läßt sich nicht ganz genau sichern. Glücklicherweise aber ist ihr für den eben genannten Doppelerfolg ein fester terminus ante quem non zu entnehmen. Der Sportler wird nämlich gerühmt, auch in Ephesos zweimal im Pankration gewonnen zu haben, einmal wie in Antiocheia in der Klasse der άνδρες, der Männer, vorher aber schon, als er noch unter den παίδες, den Knaben, gestartet war. Zumindest diesen früheren Erfolg hat er also errungen, bevor er bei der Veranstaltung des κοινόν Συρίας Κιλικίας Φοινείκης unter den άνδρες gesiegt hat. Der Wettbewerb in Ephesos fand nun im Rahmen der Βαλβίλληα statt, die im Jahre 70 n.Chr. einge81
Luigi Moretti, Iscrizioni agonistiche greche, Rom 1953, 183-186, Nr.67.
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richtet worden sind.82 Daraus ergibt sich, daß Artemidoros seine beiden antiochenischen Erfolge frühestens in den Jahren ab 71, aber dann auch schon bald feiern konnte.83 Damals also hat es ein κοινόν Συρίας Κιλικίας Φοινείκης gegeben. Dabei handelt es sich um ein Fest des Provinziallandtages der Provinz Syria. Daß im offiziellen Namen dieses Festes aber auch Κιλικία aufgezählt wird, hält die Forschung für „eine Folge dessen, daß Kilikien zeitweise mit Syrien zu einer Provinz vereinigt war"84: „Das Koinon von Syrien, Kilikien und Phönizien bestand in der Flavierzeit aus den Städten von zwei Provinzen - Syria und Cilicia."85 Nun müssen aber auch diejenigen, die diese Ansicht jüngst wieder vertreten, zugeben, daß der syrische Landtag durch die Inklusion von Vertretern einer selbständigen anderen Provinz eine Gestalt hätte, die sich sonst nirgendwo nachweisen läßt. Gegenteilige Auffassungen hatten sich bislang nicht zuletzt auf die Analyse der Überlieferung aus Pontos und Bithynien gestützt. Jedoch hat Christian Marek zeigen können, daß dort die römische administrative Gliederung die Zusammensetzung der Landtage in der Form durchweg geprägt hat, daß zwar innerhalb einer Provinz mehrere, nirgends aber provinzübergreifende Landtage belegt werden können.86 Angesichts dessen erklärt Ruprecht Ziegler die syrisch-kilikischen Verhältnisse für eine Ausnahme.87 Ausgangspunkt für diese einhellige Überzeugung ist die Annahme, daß mit Κιλικία das sogenannte „Ebene Kilikien" gemeint sei. Niemand hat erwogen, ob die so bezeichnete Region nicht die kilikischen Bestandteile der aufgelösten Herrschaft des Antiochos von Kommagene gewesen ist. Κιλικία stünde dann als pars pro toto für das Gebiet dieses ehemaligen
82
Michael Dräger, Die Städte der Provinz Asia in der Flavierzeit. Studien zur kleinasiatischen Stadt- und Regionalgeschichte, Frankfurt a.M. 1993, 56-65. 83 Die Inschrift führt die zahlreichen Siege des Athleten nicht in chronologischer Reihenfolge auf. Zwar ist die Datierung des Textes in spätflavische Zeit gesichert (Ziegler, Koinon der drei Eparchien [wie Anm. 19] 138 Anm. 5), aber viele der genannten Preise hat er sicher sehr viel früher gewonnen. Es ist also möglich, für die Anfangszeit seiner Karriere mit einem Sieg in Antiocheia zu rechnen. 84 Deininger, Provinziallandtage (wie Anm. 5) 83, mit Literatur. 85 Dräger, Städte (wie Anm. 82) 256-257, das Zitat 257. Dieselbe Ansicht auch bei Ziegler, Einrichtung (wie Anm. 58) 183-186; ders., Koinon der drei Eparchien (wie Anm. 19) 137153, jeweils mit der älteren Literatur. 86 Christian Marek, Stadt, Ära und Territorium in Pontus-Bithynia und Nord-Galatia, Tübingen 1993, 73-81, der damit umfassend die schon bei Franz Cumont, La Galatie maritime de Ptolémée, REG 16,1903,25-27, geäußerte Ansicht neu begründet. 87 Ziegler, Koinon der drei Eparchien (wie Anm. 19) 138, Anm. 5.
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Königreiches insgesamt. Für diese Rekonstruktion spricht, daß sie sich im Einklang mit den sonst zu beobachtenden Üblichkeiten befindet. Nach der Auflösung der Klientelmonarchie des Antiochos ist also Cilicia et Commagene der Provinz Syria zugeordnet und dort einer Verwaltungsreform unterworfen worden, die Sueton in formam provinciarum redigere nennt. Wegen der territorialen Neuordnung nahmen Gesandte aus Cilicia (et Commagene) am syrischen Provinziallandtag teil. Das spiegelt dessen Name in der Inschrift für Artemidoros wider. Um dieses Ergebnis zu sichern, ist daran zu erinnern, daß die Zusammensetzung der Provinz Syria sich in deren offiziellen Namen niederschlug. Zu verweisen ist auf insgesamt vier Inschriften für zwei syrische Statthalter in trajanischer Zeit, in denen der Amtsbereich detailliert umschrieben wird: (1) C. Antius A. Iulius Quadratus,88 Statthalter 7100-103/4 n. Chr.89 (a) πρεσβευτής καί αντιστράτηγος αύτοκράτορος Νέρουα Τραϊανού ΚαίσαροςΣεβαστού Γερμανικού Δακικού έπαρχείας Συρίας Φοινείκης Κομμαγενης90 (b) πρεσβευτής καί αντιστράτηγος αύτοκράτορος Νέρουα Τραϊανού Καίσαρος Σεβαστού Γερμανικού έπαρχείας Συρίας Φοινείκης Κομμαγενης91 (c) πρεσβευτής καί άντιστράτηγος αύτοκράτορος Νέρουα Τραϊανού ΚαίσαροςΣεβαστού Γερμανικού Δακικού ΣυρίαςΦοινείκηςΚομμαγήνης92 (2) C. Iulius Quadratus Bassus,93 Statthalter 114/115-116/117 n.Chr.94 (a) πρεσβευτής καί άντιστράτη[γος έπαρχ]είας Συρίας Φοινίκης Κομμαγή[νης]95 88
PIR2 507; Helmut Halfmann, Die Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum bis zum Ende des 2. Jh. n. Chr., Göttingen 1979, 112-115, Nr. 17. 89 Werner Eck, Jahres- und Provinzialfasten der senatorischen Statthalter von 69/70 bis 138/139 (1), Chiron 12, 1982, 281-362, 334-339 mit Anm.213; ders., Jahres- und Provinzialfasten der senatorischen Statthalter von 69/70 bis 138/139 (2), Chiron 13, 1983, 147-237,227; Thomasson, Laterculi (wie Anm. 25) 309-310, Nr. 33.40; Edward Dabrowa, The Governors of Roman Syria from Augustus to Septimius Severus, Bonn 1998, 79-81. 90 IvEph III 614. " IvDidyma 151 =AE 1929,98. 92 IvPergamon 2,437 = IGRIV 374. 93 PIR2 J508; Halfmann, Senatoren (wie Anm. 88) 119-120, Nr. 26. 94 Eck, Jahres- und Provinzialfasten ( 1 ) (wie Anm. 89) 357-362 mit Anm. 302 u. 318; ders., Jahres- und Provinzialfasten (2) (wie Anm. 89) 227; Thomasson, Laterculi (wie Anm. 25) 310, Nr.33.43; Dabrowa, Governors (wie Anm. 89) 85-88. 95 AE 1933, 268 = 1934, 176 = Pergamon VIII, 3, 21; dazu vielleicht AE 1934, 177: legfatus) propr(aetore) eius[d(em) imp{eratoris) Caes(aris) Nervae Troiani Aug(usti) prov{inciae)] Syriae P[hoenic(es) Commag(enes)].
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Diese Texte belegen, daß die Integration des zuletzt von Antiochos beherrschten Königreiches in die Provinz Syrien offensichtlich auch in deren offiziellem Namen Berücksichtigung fand: In den vier Inschriften erscheint - als relative Neuerwerbung an letzter Stelle aufgeführt - die Kommagene. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß man nach der Eingliederung dieser Territorien gewartet und erst später die Bezeichnung des Amtsbereiches des syrischen Legaten erweitert hätte. Die Ergänzung muß den Namen des eingegliederten Königreiches oder eine daraus gewonnene Abkürzung enthalten haben. Nun nennen die Texte der Statthalter aus dem frühen zweiten Jahrhundert zu diesem Zweck Kommagene, während in der Inschrift fur Artemidoros von Kilikien die Rede ist. Es ist zu fragen, ob κοινόν Συρίας Κιλικίας Φοινείκης wirklich die offizielle Form der Bezeichnung des Landtages und der Provinz gewesen ist. Gegen eine solche Deutung sprechen zwei Indizien: Angesichts der römischen Sensibilität in Rangfragen ist es zum einen nicht leicht vorstellbar,96 daß in den frühen 70er Jahren n. Chr. die gerade erworbene, hier mit „Kilikien" bezeichnete Teilregion im offiziellen Namen der Provinz direkt hinter dem umfassenden Syria erscheint und so das gewiß in diesem Kontext ältere und nicht unbedeutende Phoinikien verdrängt. Zum anderen überraschte es, wenn Antiochos' Königreich nach seiner vollständigen Eingliederung in die Provinz Syria dort unter dem Namen des kleineren und peripheren Landesteiles weitergelebt haben sollte. Das gilt trotz des Prestiges, das mit den Namen Kiliker/Kilikien verbunden war; denn die Hochschätzung, die sich nicht zuletzt aus der jahrhundertealten Tradition Kilikiens speiste und der sich etwa die Piraten im ersten Drittel des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bedient haben, als sie sich insgesamt „Kiliker" nannten, war gewiß nicht allgemein, sondern nur regional verbreitet.97 Für die Voranstellung Kilikiens vor Phoinikien muß es besondere Gründe geben; dies um so mehr, als wenig später Kommagene am erwarteten hinteren Platz erscheint. Die Motive dafür, Kilikien zu bevorzugen, sind nicht schwer zu erraten: Der erfolgreiche Sportler Artemidoros selbst war Bürger von Adana. Diese Stadt liegt zwar im Ebenen Kilikien, aber diese Unterscheidung war - zumal nach der Neukonstitution der größeren, aus den beiden Landesteilen zusammengesetzten Provinz Cilicia kurze Zeit nach den Siegen in Antiocheia98 und lange vor der Aufstellung der 96 97 98
Vgl. oben Anm. 17. Vgl. oben Anm. 14. Dazu gleich unten, S. 217 f.
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Inschrift wohl unter Domitian" - zu unbedeutend, als daß man sie nicht deshalb mißachten konnte, um Artemidoros' Ehre zu steigern:100 Er ließ seine Heimat gleichsam aufrücken!101 Ähnlich könnte man auch die Bevorzugung von Kilikien vor Kommagene deuten. Doch bleibt zu berücksichtigen, daß Sueton von der Umorganisation der Cilicia et Commagene, nicht der Commagene et Cilicia spricht. Was zu Artemidoros' Ehre nahelag, könnte, wenn sich in der Vespasian-Biographie die offizielle Nomenklatur widerspiegelt, durch die Sprache der römischen Verwaltung vorgeprägt worden sein. Ist das richtig, darf man die Diktion dort als ebenso bewußte wie situationsspezifische Akzentuierung interpretieren: Kilikien gehörte seit der Alexanderzeit zur griechisch-hellenistischen Welt; deren kulturelles und symbolisches Repertoire hatte inzwischen, wie die Befunde in Olba oder auch die Repräsentationsformen der Tarkondimotiden zeigen, auch die abgelegeneren Gebiete ergriffen. Das gilt zwar grundsätzlich ebenso fur Kommagene; aber dort legte man offensichtlich überdies viel Wert auf die Pflege von Traditionen, die nach Osten, in den Iran und ins Partherreich verwiesen.102 Die Auflösung dieses Königtums und die Hintanstellung des Namens seines Kerngebietes in der offiziellen Bezeichnung der daraus geformten Region erscheint in dieser Perspektive als Abgrenzung:
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Zur Datierung vgl. oben Anm. 83. ° Keineswegs muß man annehmen, daß das Formular der Inschrift oder gar der hier in Rede stehende Teil erst in Neapel entworfen wurde. Es kann viel älter sein. Wahrscheinlich spiegeln sich in der feinen Nuancierung auch Wünsche des Geehrten selbst. Bickerman, Syria and Cilicia (wie Anm. 1) 355, stellt fest, daß die hier verwendete Formulierung des Provinznamens „exactly the same" sei, wie die des seleukidischen Strategen von Koilesyrien im 4. Makkabäerbuch. Ein Vergleich mit 4 Macc. 4,2 (ό Συρίας και Φοινίκης και Κιλικίας στρατηγόος = „der Stratege von Syrien und Phoinike und Kilikien") zeigt aber, daß die Reihenfolge zwischen Phoinikien und Kilikien in beiden Texten verschieden ist. Damit verlieren die darauf beruhenden Überlegungen zur Datierung dieser Schrift ihr Gewicht. 101 All das war so nur möglich, weil im Katalog von Artemidoros' Erfolgen Siege bei Wettkämpfen fehlten, die anläßlich eines Landtages der aus dem Ebenen Kilikien bestehenden Provinz veranstaltet wurden. An dessen Existenz darf deswegen allerdings nicht gezweifelt werden. Vgl. oben, S.213. Über den Rahmen dieser Veranstaltung, insbesondere über die Agone, ist allerdings keine sichere Aussage möglich. Wenn man es für unwahrscheinlich hält, daß der Supersportier Artemidoros ausgerechnet in seiner Heimat niemals gesiegt hat, wird man folgern, daß er dazu keine Gelegenheit hatte, daß also gymnische Spiele damals noch nicht veranstaltet wurden. Die numismatische Evidenz, die Ziegler (Einrichtung [wie Anm. 58]) für die Einrichtung des Landtages in der Zeit Hadrians anführt, könnte ein Hinweis dafür sein, daß dieser Kaiser den Festcharakter dieses Treffens erheblich gefördert hat, vielleicht durch die Stiftung von Agonen. 102 Dazu Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 53-54 mit Anm. 5. ,0
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Vorrang genießen die, die im Spektrum des Hellenismus die griechischen (und immer mehr die griechisch-römischen) Elemente betonen. Insgesamt hat sich als wahrscheinlich ergeben, daß die Auflösung von Antiochos' Königsherrschaft und die Eingliederung ihrer Gebiete in die Provinz Syria auch im offiziellen Namen ihrer Statthalter und ihres Landtages dokumentiert wurde:103 Die Provinz hieß nun Syria Phoenice Cilicia. Die Gleichheit des letzten Bestandteiles mit dem Namen der benachbarten provincia Cilicia war unproblematisch, weil durch den Kontext eine Verwechslung ausgeschlossen war. Immerhin aber verweist die Wahl von Cilicia statt von Commagene auf hohe Sensibilität auf diesem Feld der Symbolik und kann als Signal verstanden werden, griechische von iranischen Traditionen abgrenzen zu wollen. Lange ist es bei dem aus der Inschrift des Artemidoros ableitbaren Zustand nicht geblieben. Bereits in den Jahren 76-78 ist L. Octavius Memor durch epigraphische Zeugnisse als Statthalter einer prätorischen Provinz Cilicia belegt.104 Eine Inschrift steht im Zusammenhang mit dem Bau eines Tempels für Vespasian in Adanda in Westkilikien,105 eine andere bezeugt die Anlage einer Brücke über den Kalykadnos,106 die offensichtlich Teil des Straßenbauprogrammes war, mit dem der Kaiser das gebirgige Hinterland erschloß.107 Demnach war also ein kilikischer Statthalter für Gebiete zuständig, die zur Erbmasse von Antiochos' IV. Herrschaftsgebiet gehört 103
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß die Provinz und ihr Landtag unterschiedlich geheißen hätten. 104 Ronald Syme, Legates of Cilicia under Trajan (1969), in: ders., Roman Papers II, Oxford 1979, 774-789, 785-786, und Bernd Kreiler, Die Statthalter Kleinasiens unter den Flaviem, Augsburg 1975,120, halten den AE 1966,486, bezeugten Asprenas C[...]anus fur den ersten Statthalter der neuen Provinz, weil dieser einen Grenzstreit entscheiden mußte, wie er mit der Neuzuschneidung von Gebieten verbunden sei. Das ist allerdings kein hinreichendes Argument. Auch prosopographisch gibt es keine Hinweise, die eine eindeutige Zuordnung erlauben. Vgl. Thomasson, Laterculi (wie Anm.25) 292, Nr. 31.29. Man wird nicht einmal ausschließen dürfen, daß Asprenas noch vor der flavischen Neuordnung amtiert hat. 105 AE 1963,11 ; George E. Bean, Terrence B. Mitford, Sites Old and New in Rough Cilicia, AS 12,1962, 185-217, 208-209 Nr. 32. 106 Josef Keil, Adolf Wilhelm (Hg.), Denkmäler aus dem Rauhen Kilikien (MAMA III), Manchester 1931, 6 = IGR III 840. 107 Zum Straßenbau vgl. Mustafa H. Sayar, Straßenbau in Kilikien unter den Flaviem nach einem neugefundenen Meilenstein, EA 20, 1992, 57-62, mit Antony R. Birley, Werner Eck, M. Petronius Umbrinus. Legat von Cilicia, nicht von Lycia-Pamphylia, EA 21, 1993, 45-54; außerdem allgemein Hansgerd Hellenkemper, Friedrich Hild, Kilikien und Isaurien (TIB 5), 2 Bde., Wien 1990, Bd. 1,128-140, und Mustafa H. Sayar, Antike Straßenverbindungen Kilikiens in der römischen Kaiserzeit, in: Eckard Olshausen, Holger Sonnabend (Hg.), Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 7, 1999, Stuttgart 2002,452-473.
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hatten.108 Diese können damals schon wieder nicht mehr Teil von Syria gewesen sein, wie dies noch in der Artemidoros-Inschrift bezeugt ist. Daraus ergibt sich, daß sich bis zur Mitte der 70er Jahre n. Chr. der Kaiser entschlossen hatte, der kurz zuvor durchgeführten redactio in formam provinciae wiederum eine Neugliederung dieses Raumes folgen zu lassen. Diese bestand darin, das landschaftlich westlich abliegende Außenland des Rauhen Kilikien aus Syria auszugliedern und mit der das Ebene Kilikien umfassenden Provinz Cilicia zu vereinen. Was damit erreicht wurde, hätte schon Gegenstand der ersten Umgestaltung sein können. Es sieht so aus, als habe man, als Antiochos IV. und seine Söhne auf den Thron verzichten mußten, noch kein klares Konzept gehabt, was mit den von ihnen bislang beherrschten Gebieten geschehen sollte. Unter diesen Umständen war es sinnvoll, deren Königreich zunächst dem römischen Statthalter zuzuteilen, der über hinreichend Potential verfügte, etwaige Schwierigkeiten oder Unruhen zu bewältigen. Das generelle Ziel hätte dann darin bestanden, die kommagenische Herrschaft zu beenden. Diese Vermutung läßt sich erhärten, wenn man untersucht, unter welchen Umständen und wie das Ende dieses Königtums herbeigeführt wurde.
III. Die Ereignisse um die Ablösung Antiochos' IV. werden von Josephus ausführlich erzählt.109 Danach hat der syrische Statthalter und Vertraute des Kaisers L. Caesennius Paetus den Vorwurf erhoben, die kommagenische 108
Dalisandos und Koropissos benutzen noch drei Generationen später eine mit der Einrichtung der Provinz einsetzende Ära für ihre Zeitrechnung; leider bleibt unklar, ob sie sich damit auf die Errichtung der direkten Herrschaft durch die Römer oder auf die wenig später erfolgte Neukonstitution der Provinz Cilicia beziehen. los. bell. lud. 7,219-243. Inschriftlich ist der Krieg als bellum Commagenicum (CIL III 14387 i+w = ILS 9198) und als bellum Commagenorum (AE 1942/43, 33) bezeugt. Wegen der Bezeichnung bellum möchte Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 54 mit Anm. 3, auf „heftigere militärische Auseinandersetzungen" schließen, die auf eine erhebliche Wehrkraft der Kommagener verwiesen. Überzeugender fuhrt Veit Rosenberger, Bella et expeditiones. Die antike Terminologie der Kriege Roms, Stuttgart 1992,87, aus, daß „diese Begriffe lediglich verwendet wurden, um die Leistungen der in den Inschriften genannten Personen zu unterstreichen". Nur wird man fragen müssen, ob die hier genannten Soldaten der Grund für die Stilisierung des Konflikts zum bellum gewesen sind. Wahrscheinlicher ist doch, daß der erfolgreiche verantwortliche Feldherr Paetus geehrt werden sollte und daß sich deswegen auch seine Truppen als Sieger in einem Krieg fühlen und für ihre Leistungen großzügig ausgezeichnet werden konnten. Damit wird den auch sonst sehr spekulativen Überlegungen bei Edward Dabrowa, The bellum Commagenicum and the ornamenta tri-
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Dynastie konspiriere mit den Parthern. Diese Beschuldigung galt schon den Zeitgenossen als zweifelhaft. Der Fortgang des Geschehens spricht dagegen, daß man ihn zu Recht erhoben hat: Sowohl der alte König, der zu fliehen versuchte, als auch seine Söhne, die zunächst Widerstand leisteten, sich schließlich über den Euphrat zu den Parthern flüchteten und ausgeliefert wurden, fanden rasch Gnade bei Vespasian. Der Kaiser vermied es aber zugleich, der Dynastie ihre Herrschaft zu restituieren. Die Familie ging in den folgenden Generationen im ordo senatorius auf.110 Paetus hat demnach - gewiß in Abstimmung mit dem princeps - ein Verfahren mit dem Ziel eingeleitet, Antiochos und seine Familie ihres Thrones zu berauben. Diese Absicht war früher und elementarer als die ordnungspolitische Neugliederung des östlichen Anatolien. Entscheidend war negativ, daß Antiochos und seine Nachkommen ihre Machtbasis verlören; positive Gestaltungspläne waren eine notwendige Folge, nicht die Voraussetzung dieser Machinationen. Die entscheidende Frage lautet also nicht, warum Vespasian eine größere provincia Cilicia geschaffen, sondern warum er Antiochos IV. vom Thron gestoßen hat. Sein konsequentes Durchgreifen erstaunt dabei um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß eben dieser König durch seine Parteinahme eine wichtige Rolle fur das Gelingen von Vespasians erfolgreicher Usurpation in ihrer ersten Phase gespielt und auch Titus im Jüdischen Krieg loyal unterstützt hatte.1" Auszuschließen ist gewiß, daß Vespasian es vor allem auf das Geld dieses reichsten der dienenden Könige abgesehen hatte. Nicht hinreichend erscheint weiterhin die Begründung, daß der Kaiser ein klar umrissenes Programm zur Reorganisation des Reiches umsetzte, wozu nicht zuletzt ein neues System mit einer klar definierten, direkt von Legionen kontrollierten Verteidigungslinie gehört habe.112 Das Schicksal des kommageniumphalia of M. Ulpius Traianus, in: ders. (Hg.), The Roman and Byzantine Army in the East. Proceedings of a Colloquium Held at the Jagiellonian University Kraków in September 1992, Krakau 1994,19-27,23-24; ders., Governors (wie Anm. 89) 65, ein wesentlicher Stützpfeiler entzogen. 110 Vgl. Halfmann, Senatoren (wie Anm. 88) 45-46. 111 Tac. hist. 2,81; los. bell. lud. 3,68. 112 Die militärischen Aspekte betont Glen W. Bowersock, Syria under Vespasian, JRS 63, 1973,132-140,135; vgl. auch Benjamin J. Isaac, The Limits ofEmpire. The Roman Army in the East, Oxford 21992, 39-42: „It is quite possible that the desire to station a legion at Samosata was one of the reasons for the annexation of Commagene" (39). Für ein umfassendes Konzept vgl. Fergus Millar, The Roman Near East 31 BC-AD 337, Cambridge 1993, 80-84; Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt a. M. 1992,406-407 mit Anm. 177; tendenziell ebenso Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 37, der Vespasian attestiert, die „Dringlichkeit und praktische Durchfuhr-
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sehen Kilikien zeigt doch, daß Vespasian eben gerade noch nicht genau wußte, wie eine neue Ordnung im Osten hätte aussehen können. Antiochos' Schicksal könnte nicht trotz seiner äußerst hilfreichen Unterstützung für den Usurpator Vespasian, sondern paradoxerweise gerade deswegen besiegelt worden sein. Der König hatte damit gezeigt, welches Potential er zu mobilisieren in der Lage war. Vor allem aber waren seither die Abhängigkeitsverhältnisse prekär. Zwar schuldete der König dem Kaiser als Vertreter des römischen Volkes Gehorsam. Zugleich aber war ihm dieser wegen der Dienste verpflichtet, die er ihm während seiner Machtergreifung erwiesen hatte. Neben diesen individuellen Unklarheiten lassen sich auch allgemeine erkennen. Vespasian scheint genau gesehen zu haben, daß etwa von Caligula oder Nero unternommene Versuche, sich eine andere Legitimität von Herrschaft zu verschaffen als die traditionelle der res publica, wesentlich zu ihrem Sturz beigetragen hatten.113 Er konnte sich nur absichern, wenn er das politische System der Rang- und Statuszuweisung manipulierte, nicht wenn er es aus den Angeln hob. Das erklärt etwa sein Handeln gegenüber dem Senat: Vespasian verteilte Privilegien, indem er seine Helfer auf verschiedenen Stufen in den ordo senatorius integrierte. Deren Ehrgeiz war damit ein fester Rahmen gegeben. Aus ihm konnte aber ausbrechen, wer sich mit den unabhängigeren, weil nicht regelmäßig austauschbaren Königen im Osten verband. Diese wiederum brachten den Flaviern nicht die fides eines Klienten entgegen, die die julisch-claudische Dynastie hatte beanspruchen können. Überdies waren die Könige nicht nur vielfach untereinander, sondern eben auch mit dem eben gestürzten Haus verwandt: Niemand konnte wissen, ob „legalistische" Gegenbewegungen fähig sein würden, sie einzubinden. Außerdem darf man wohl nicht unterschätzen, daß der im Stile hellenistischer Wohltäter großzügige Antiochos Zustimmung mobilisieren konnte, die eben erst dem Philhellenen Nero entgegengebracht worden war. Antiochos und seine Söhne wurden als Verräter desavouiert. Ihr Überleben verdankten sie nun der Gnade des Kaisers. Er konnte sie gewähren, barkeit einer überregionalen Sicherheitskonzeption in und um Syrien nicht nur erkannt, sondern auch in konkrete Maßnahmen umgesetzt zu haben." Letzteres ist generell sicher zutreffend beschrieben. Zu fragen bleibt, wann, wodurch und wie sich dieser Erkenntnisprozeß vollzogen hat. Gebhardt selbst hält ein begründetes Mißtrauen Vespasians den Parthern gegenüber (ebd., 37-40) und die militärstrategische Lage Kommagenes (ebd., 53) für entscheidend. 1,3 Zu Caligula jüngst Aloys Winterling, Caligula. Eine Biographie, München 2003; zu den strukturellen Problemen ders., „Staat", „Gesellschaft" und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, Klio 83, 2001, 93-112.
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sobald die ehemaligen Herrscher einer von ihm weitgehend unabhängigen Machtbasis entkleidet waren. Die Schonung hatte wohl auch mit echter Dankbarkeit für Antiochos' Verhalten während der Zeit der eigenen Usurpation zu tun. Zwar hätte Vespasian nun grundsätzlich auch einen anderen Klientelherrscher einsetzen können. Aber die Erinnerung an Antiochos' große politische Selbständigkeit in Zeiten der Krise ließ es vorteilhafter erscheinen, sein Reich direkter römischer Herrschaft unter einem Statthalter zu unterstellen, dessen Amtszeit begrenzt war, der vom Kaiser eingesetzt wurde und der als Senator in das römische Konkurrenz- und Prestigesystem eingebunden war. Offen bleibt, warum Vespasian so rasch handelte. Aber vielleicht muß man auch hier mit einem Paradox rechnen: Der Vorwurf verräterischer Konspiration mit den Parthern konnte gerade dann ohne größere Gefahr erhoben werden, wenn die Chance gering war, daß der Beschuldigte ihn wirklich begehen konnte. Das Verhalten der Parther zeigt, daß sie damals einen Konflikt mit Rom vermeiden wollten. Denn die vor allem von Edward Dabrowa vertretene Ansicht114 eines grundsätzlich gespannten Verhältnisses zwischen Römern und Parthern läßt sich durch Quellen nicht belegen. Dabrowa beruft sich deswegen darauf, daß die arsakidische Ideologie eine Expansion mit Rückgewinnung der Territorien des ehemaligen Perserreiches vorgezeichnet habe. Verstärkend habe es sich im Fall der Kommagene ausgewirkt, daß dieses Gebiet kulturell iranisch geprägt gewesen sei. Nirgends wird allerdings gezeigt, daß und wie Ideologie und Kultur für das konkrete außenpolitische Handeln unmittelbar handlungsleitend sein konnten. Im übrigen ist nicht erkennbar, daß sie in der hellenistischen Mischkultur Ostanatoliens eine unmittelbar wirkende Triebfeder des Handelns gewesen ist.115 Vologaeses' Verhandlungsbereitschaft gilt in dieser Perspektive als Versuch, sich in die römischen Angelegenheiten einzumischen. Der parthische König hatte Vespasian bei seinem Kampf um die Macht Hilfe angeboten. Selbst wenn er sich dazu erst entschlossen haben sollte, als der Sieg des Usurpators sicher erschien,116 zeigt dies gleichwohl, daß er 114
So schon Edward Dabrowa, Les rapports entre Rome et les Parthes sous Vespasien, Syria 58,1981,187-204; dazu neuerdings und vielfach ähnlich Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 39-54, mit weiterer Literatur. 115 Das gilt unbeschadet der oben (vgl. 216 f.) angesprochenen Möglichkeiten, im hellenistischen Erbe griechische und nicht-griechische Elemente zu betonen. Wie man an Antiochos sieht, verstand er es, beide Klaviaturen zu spielen. 116 Vgl. Cass. Dio 65 (66), 11,3 mit Tac. hist. 4,51; Suet. Vesp. 6,4.
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an gutem Einvernehmen interessiert war. Ebenso ist das Geschenk eines goldenen Kranzes an Titus zu verstehen, als dieser den jüdischen Krieg erfolgreich beendet hatte.117 Wenn Barbara Levick dazu anmerkt, daß „relations were to deteriorate", bezieht sie sich auf spätere Entwicklungen, die damals weder erkennbar, noch auch nur geplant gewesen sein müssen.118 Es liegt nahe, mit Axel Gebhardt einen ursächlichen Zusammenhang „zwischen einer deutlichen Eskalation des römisch-parthischen Verhältnisses und der für den Großkönig sicherlich äußerst demütigenden Ablehnung seines Hilfegesuches wohl im Jahre 75" anzunehmen.119 Denn sogar noch während des bellum Commagenicum hat die parthische Seite die Probleme der Römer nicht ausgenutzt, sondern sogar aktiv kooperiert: Die Verhandlungen über das Schicksal der über den Euphrat geflohenen Antiochos-Söhne120 und ihre anschließende Auslieferung121 zeigen hinreichend, daß die kommagenische Krise damals nicht zu einem Konflikt mit den Parthern geführt hat. Hier spiegeln sich friedliche diplomatische Verhältnisse, die es Vologaeses erlaubten, einerseits die Erben des eben gestürzten Nachbarn den Römern zu überlassen, sich ihrer also nicht politisch zu bedienen, andererseits aber auch um deren schonende Behandlung nachzusuchen.122 Sowenig wie das Verhalten des Partherkönigs lassen sich Vespasians Entscheidungen in der ersten Hälfte der 70er Jahre n. Chr. darauf zurückfuhren, daß der Kaiser geheime Expansionspläne der Parther antizipiert oder durchschaut und ein einheitliches Programm militärischer Sicherung entwickelt und ausgeführt hätte. Insbesondere die Truppenverlegungen bringt man mit dem Ziel in Verbindung, eine effektive Vorneverteidigung zu organisieren. Soweit die Quellen darauf eingehen, nennen sie allerdings andere plausible Ziele. Die umfassende Konzeption müßte erwiesen und dürfte nicht vorausgesetzt werden. Nicht in solchen Kontexten hat Vespasian gehandelt. Für ihn galt der Primat der Innenpolitik, genauer der Politik der Sicherung der eigenen Stellung. 1,7
los. bell. lud. 7,105. Barbara Levick, Vespasian, London u.a. 1999, 164. Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 57. 120 Zur Rolle des Primuspilus C. Velius Rufos vgl. ILS 9200. 121 los. bell. lud. 7,242. 122 Vgl. die abgewogene Argumentation bei Gebhardt, Imperiale Politik (wie Anm. 1) 5457, der sich damit gegen die These Dabrowas wendet, daß es im Kontext der Annexion von Antiochos' Königreich zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Römern und Parthem gekommen sei. 118
„Öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen Rom Von
Aloys Winterling I. Problemstellung Neben der Kollektivformel senatus populusque Romanus, die die männliche erwachsene Bürgerschaft als politischen Verband bezeichnete, bildete die Unterscheidung von publicus und privatus das zentrale begriffliche Muster, mittels dessen sich die römische Gesellschaft der republikanischen Zeit als Einheit zweier differenter sozialer Sphären beschrieb. Konkretisiert als Unterscheidung von res publica, dem Bereich des alle betreffenden städtischen Gemeinwesens, und domus, dem häuslichen Bereich des einzelnen Bürgers, nahm es - ähnlich wie im griechischen Sprachgebrauch die Unterscheidung κοινός (δημόσιος)/ίδιος bzw. πόλις/οίκος - Bezug auf realhistorische Sachverhalte, die die Gesellschaft in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sowie in bezug auf die Geschlechterverhältnisse bestimmten: Haushalte, in denen ein pater familias Herrschaft über Frauen, Kinder und Sklaven ausübte, bildeten die Grundstruktur der Gesellschaft. Jenseits der Haushalte verfugte das Gemeinwesen über eine auf der Basis von Ämtern, Institutionen und Verfahren ausdifFerenzierte politische Organisationsstruktur, die auf der Trennung politischer Rollen von den sie jeweils wechselnd und mit zeitlicher Begrenzung bekleidenden Personen basierte. In wirtschaftlicher Hinsicht war das Vermögen des Gemeinwesens, das aerarium, unterschieden von dem jedes einzelnen, seiner res privata. Die städtischen Straßen, Plätze und Gebäude stellten einen von den Häusern unterschiedenen und im Gegensatz zu jenen für alle Bürger zugänglichen, eigenständigen kulturellen Raum dar. Bezogen auf die Geschlechterverhältnisse war relevantes Handeln im städtisch-politischen Bereich ausschließlich Männern vorbehalten, während Lebensräume von Frauen sich auf den Bereich des Hauses konzentrierten.
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Schon seit der späten Republik sind nun jedoch Veränderungen feststellbar, die die Beschreibung der politisch-sozialen Verhältnisse mittels der Unterscheidung publiais /privatus schwierig werden ließen. Vitruv schildert in seiner gegen Ende der dreißiger Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. entstandenen Schrift De architectura, daß man in „privaten" Häusern {privata aedificia) Räume habe, die für alle Besucher offen zugänglich seien (communia loca), daß es andererseits eigene Räume des Hausherrn gebe, zu denen nur geladene Gäste Zutritt hätten {propria loca). Die Häuser von nobiles sollten ähnlich ausgestattet sein wie „öffentliche" Gebäude (publica opera), weil in ihnen häufiger „öffentliche" Beratungen abgehalten und „private" Entscheidungen gefällt würden {publica Consilia et privata iudicia arbitriaque).1 Die Häuser der vornehmsten und politisch bedeutendsten Aristokraten waren demnach „privat", offen zugänglich und - auch im politischen Sinne - „öffentlich" zugleich. In der Kaiserzeit verschärften sich die Probleme einer Unterscheidung von „öffentlichem" und „privatem" Bereich im antiken Rom. Hier sind zunächst auf realhistorischer Ebene grundlegende strukturelle Veränderungen gegenüber den Verhältnissen der republikanischen Zeit feststellbar, die sich aus der Etablierung der kaiserlichen Alleinherrschaft ergaben. Die Kaiser selbst unterliefen in politischer Hinsicht die Trennung von Rolle und Person und damit die alte Unterscheidung von magistratus, dem ein Amt bekleidenden, und privatus, dem amtlosen Bürger. Entsprechend erforderte ein Wechsel im Kaisertum den Tod der kaiserlichen Person: Man konnte einen Kaiser nicht absetzen, sondern nur umbringen. Der kaiserliche Haushalt entwickelte sich von einer domus zu einer aula, einem Hof, der nicht nur aus den der kaiserlichen Hausherrschaft unterworfenen Personen, sondern zunehmend auch aus Mitgliedern der Aristokratie gebildet wurde, Personen also, die der politischen Herrschaft des Kaisers unterstanden, die gleichzeitig aber ihrerseits weiterhin Herrschaft in ihren eigenen Häusern ausübten. Damit wurde zugleich der kaiserliche Palast auf dem Palatin im Gegensatz zu den Häusern der übrigen Bürger ein - zu bestimmten Gelegenheiten wie der salutatio - für nahezu alle Kreise der Bevölkerung frei zugänglicher neuer Raum. Er bekam damit eine Eigenschaft, die vorher nur dem städtischen Bereich zu eigen gewesen war, von dem er aber weiterhin grundsätzlich geschieden war. Auch die kaiserlichen Vermögensmassen {patrimonium und fiscus) veränderten durch Größenwachstum und die politische Rolle des Eigen-
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Vitr. 6,5,1 f.
Öffentlich " und „privat " im kaiserzeitlichen Rom
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tümers ihren Charakter. Sie übernahmen weitgehend die Funktionen, die traditionell dem Gemeindevermögen (aerarium) zugekommen waren. Sie wurden aus Steuereinnahmen des gesamten Reiches gespeist, und es wurden daraus Aufwendungen getätigt, die nicht nur dem Kaiser, sondern tendenziell allen Bürgern zugute kamen. Das kaiserliche Vermögen wurde daher, erstmals erkennbar beim Herrschaftsantritt des Caligula,2 nicht entsprechend den üblichen Erbfolgeregeln im familialen Kontext, sondern stets an den jeweiligen neuen Kaiser als solchen übertragen. Dasselbe galt für die wachsende Zahl der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen - von den Inhabern der zentralen Sekretariatsstellen am Hof über das weitere Palastpersonal, Sklavenfamilien für administrative Zwecke in Rom sowie unfreie oder freigelassene Funktionäre der Finanzverwaltung im Reich bis hin zum Arbeitspersonal in kaiserlichen Bergwerken oder auf kaiserlichen Domänen. Einige von ihnen nahmen wichtige politische und administrative Funktionen wahr, und alle gemeinsam wurden, ebenso wie die kaiserlichen Vermögensmassen insgesamt, nicht mehr im „privaten", hausherrschaftlichen Kontext vererbt, sondern gingen beim Tod eines Kaisers an den jeweils neuen Kaiser als solchen über. Dies ist deutlich sichtbar nach dem Ende Neros, als mit Galba, Otho, Vitellius und Vespasian Kaiser erhoben und vom Senat anerkannt wurden, die in keinem familialen Kontext zu ihren Vorgängern standen. Durch die Sonderstellung des Kaisers konnte schließlich Frauen seiner Familie oder seiner Umgebung reale politische Macht zukommen, zu der ihnen der Zugang im städtisch-politischen Raum traditionell versperrt war. Neben all diesen Veränderungen aber hatten die traditionellen Strukturen, die der Unterscheidung publicus /privatus ihre Plausibilität verliehen hatten, weiterhin Bestand: In ihren Häusern übten Familienväter ihre weitreichende patria potestas aus; die politischen Organisationsstrukturen des städtischen Gemeinwesens fungierten (bis auf die Volksversammlungen) weiter; durch die wechselnde Bekleidung der Magistraturen blieb die Differenz zwischen Amtsträgern und „Privaten" weiterhin bestehen; neben dem Eigentum der einzelnen Bürger existierte nach wie vor das alte Gemeindevermögen; neben den Sklaven im Besitz der einzelnen patres familias gab es nach wie vor Sklaven des Gemeinwesens (servi publici), die öffentliche Aufgaben wahrnahmen; Frauen blieben weiterhin von den
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Heinz Bellen, Die .Verstaatlichung' des Privatvermögens der römischen Kaiser im 1. Jahrhundert n. Chr., ANRW 2,1, 1974,91-112.
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politischen Institutionen ausgeschlossen und rechtlich dem familialen Bereich zugeordnet. Im folgenden soll untersucht werden, wie die römische, die Unterscheidung publicus /privatus verwendende Selbstbeschreibung auf die realhistorischen Veränderungen im kaiserzeitlichen Rom reagiert hat. Diese Fragestellung und die ihr zugrundeliegende theoretische Konzeption weichen von den in der Forschung üblichen deutlich ab. Zunächst sind daher die Forschungsgeschichte zu rekonstruieren (II) und daraus methodische Konsequenzen zu ziehen (III). Danach wird die literarische Überlieferung analysiert (IV). Die Ergebnisse (V), gewonnen am kaiserzeitlichen Quellenbefund, lassen - hier nur angedeutete - allgemeine Rückschlüsse auf den Status der Dichotomie publicus /privatus der Zeit vor der Monarchie zu.
II. Forschungslage Zur Klärung der althistorischen Forschungslage zu dem skizzierten Problem hat man zu den begriffsgeschichtlichen Veränderungen zurückzugehen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts die Entstehung der modernen Gesellschaft begleiteten. Bis in diese Zeit hatte sich, wie Jürgen Habermas hervorgehoben hat, eine „repräsentative Öffentlichkeit" der Feudalzeit erhalten, in der „Staat" und „Gesellschaft", „öffentlich" und „privat" im späteren Sinne noch nicht geschieden waren, sondern in den Personen der Herrschaftsträger zusammenfielen. Öffentlichkeit war noch keine eigenständige Sphäre politischer Kommunikation, sondern Fürst und Landstände „waren" das Land und repräsentierten mit ihrer Herrschaft zugleich auch ihren sozialen Status durch Insignien, Habitus, Gestus und Rhetorik, in Zeremoniell und Ritual öffentlich „vor" dem Volk.3 Für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft im Kontext gelehrter Studien blieben antike Muster aus der Zeit der politisch autonomen städtischen Gemeinwesen im Anschluß an Aristoteles und Cicero verbindlich: Das Gemeinwesen galt als „bürgerlich-politische Gesellschaft", als societas civilis sive politica, der der Bereich des Hauswesens und der Ökonomie entgegengesetzt wurde.4 3
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt u.a. 1962, 17-25; 19f. 4 Vgl. Manfred Riedel, „Gesellschaft, bürgerliche", Geschichtliche Grundbegriffe 2, 1975, 719-800.
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Für den frühneuzeitlichen Prozeß der Entstehung moderner Politik als einem gegenüber anderen gesellschaftlichen Sphären differenzierten Kommunikationsbereich, an dem seit der Zeit der Französischen Revolution immer größere Teile der Bevölkerung beteiligt wurden, ist nun aufschlußreich, daß in den europäischen Sprachen zur Bezeichnung des welthistorisch Neuen weiterhin auf die Semantik der Alten zurückgegriffen wurde: im Englischen, Französischen und Italienischen mit den Unterscheidungen public/private, public/privé und pubblico /privato in vollständiger, im Deutschen mit der Unterscheidung öffentlich/privat in teilweiser Übernahme der antiken römischen Wortkörper. Die dabei entstandenen Unterschiede in den europäischen Sprachen sind nicht unerheblich: Während public, public und pubblico v. a. auf Volk, Staat und Amtlichkeit bezogen sind, sind das deutsche „öffentlich" und der Kollektivsingular „Öffentlichkeit" daneben stärker räumlich-visuell konnotiert im Sinne von Offenkundigkeit, Bekanntheit und allgemeiner Zugänglichkeit.5 Ahnlich der Gegenbegriff „privat",6 der im Deutschen stärker auf Intimität und Innerlichkeit, in den anderen Sprachen stärker auf Partikulares, Nichtstaatliches, Alltägliches bezogen ist. Dies fuhrt selbst gegenwärtig noch zu Verständnisproblemen: z.B. bei der außerdeutschen Diskussion von Habermas' „Strukturwandel der Öffentlichkeit", in dem es um die Entstehung einer sozialen Sphäre des herrschaftsfreien Diskurses im 18. Jahrhundert geht und dessen Übersetzung mit „The Structural Transformation of the Public Sphere"7 mißverständlich ist, oder bei der von Philippe Ariès und Georges Duby herausgegebenen „Histoire de la vie privée"8, deren Titel in der deutschen Übersetzung - „Geschichte des privaten Lebens"9 - den alltagsgeschichtlichen Inhalt nur unzutreffend wiedergibt. Die - wie immer unterschiedlich auch erfolgte - Anreicherung der antiken Semantik mit neuen Bedeutungsinhalten war nun folgenreich für die 5
Lucían Hölscher, „Öffentlichkeit", Geschichtliche Grundbegriffe 4, 1978, 413-467; Peter von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" in der Geschichte und bei den Historikern, Saeculum49,1998, 161-192, 167-169. 6 Zum älteren Gegenbegriff „geheim" vgl. Lucían Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. 7 So der Titel der englischsprachigen Ausgabe Cambridge (Mass.) 1989. Die französische Übersetzung des gleichen Buches versucht demgegenüber, den räumlichen Konnotationen des deutschen „Öffentlichkeit" stärker Rechnung zu tragen: L'espace public. Archéologie de la publicité comme dimension constitutive de la société bourgeoise, Paris 1992. 8 5 Bde., Paris 1985-1987. 9 5 Bde., Frankfurt a. M. 1989-1993.
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im 19. Jahrhundert beginnende wissenschaftliche Erforschung der Antike selbst. Plausibilisiert durch die scheinbar quellennahe moderne Begrifflichkeit wurde der von den Römern als res publica bezeichnete Bereich als eine (letztlich modern gedeutete) Sphäre des Politischen konzeptualisiert, der der Bereich der domus als Sphäre des Unpolitischen entgegengesetzt wurde. Während in den nichtdeutschen Sprachen dazu unmittelbar auf die antike Dichotomie zurückgegriffen werden konnte, wurde im deutschen Sprachbereich der Gegenbegriff „öffentlich" aufgrund seiner weiteren Konnotationen teilweise durch „staatlich" ersetzt, sichtbar an der klassischen Gliederung der Handbücher des 19. Jahrhunderts in antike „Staats-" und „Privataltertümer".10 Gemeint war dasselbe: So lautete der Titel von Mommsens Staatsrecht in der französischen Übersetzung „Le droit public romain".11 Aufschlußreich ist auch die inhaltliche Füllung des Gegenbegriffs „privat" in der Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts.12 Während in den frühen Handbüchern den antiken „Privataltertümern", so bei Joachim Marquardt (1864) und noch bei Hugo Blümner (1911),13 neben der Familie im modernen Sinne auch Sklaven sowie der gesamte Bereich der Haus- und Landwirtschaft und - oft unter dem Titel „bürgerliche Gesellschaft" - schließlich der der Wirtschaft überhaupt zugerechnet wurde, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts die Wirtschaft zunehmend aus dem antiken „Privatbereich" ausgegliedert und als eigenständige Sphäre aufgefaßt. Das Ergebnis ist sichtbar bei Horst Blancks „Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer" (Darmstadt 1976), wo als „privat" nur noch der Bereich der Familie mit Einschluß der Haussklaven gefaßt wird. Es ist somit deutlich zu erkennen, daß die moderne begriffliche Fassung antiker Verhältnisse trotz der dabei benutzten, gleichbleibenden antiken Wortkörper die Veränderung der modernen Verhältnisse und ihrer modernen Beschreibung (mit leichter Verspätung) widerspiegelt: Der dem 10
Vgl. Wilfried Nippel, Von den „Altertümern" zur „Kulturgeschichte", in: François de Polignac, Pauline Schmitt Pantel (Hg.), Public et privé en Grèce ancienne. Lieux, conduites, pratiques (Ktèma 23), Straßburg 1998,17-24. 11 Zuerst Paris 1887; zuletzt Paris 1984. 12 Vgl. zum folgenden Beate Wagner, „Le privé n'existe pas". Quelques remarques sur la construction du privé par ('Altertumswissenschaft au XIXe siècle, in: Polignac, Schmitt Pantel, Public (wie Anm. 10) 25-35; Leonhard Burckhardt, „Zu Hause geht Alles, wie wir wünschen...". Privates und Politisches in den Briefen Ciceros, Klio 85,2003,94-113,9699. 13 Joachim Marquardt, Das Privatleben der Römer, 2 Bde., Leipzig 21886 (zuerst 1864); Hugo Blümner, Die römischen Privataltertümer (HdAW IV 2, 2), München '1911.
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„Staat" gegenübergestellte Bereich von Familie und „bürgerlicher" Wirtschaftsgesellschaft als einem „System der Bedürfnisse" entspricht der Systematik von Hegels Rechtsphilosophie, die zunehmende Ausgliederung der Wirtschaft aus der Privatsphäre dagegen dem Funktionswandel bürgerlicher Haushalte im 19. Jahrhundert von tendenziell noch autarken „ganzen Häusern" zu reinen Stätten des Konsums und Orten kleinfamilialer Intimität. Die terminologisch überdeckte Differenz der antiken von den modernen Sachverhalten läßt sich nun aus heutiger Sicht leicht zeigen: Man denke nur an die bis zum Tötungsrecht seiner Familienmitglieder reichende Strafgewalt des römischen pater familias, die im römischen Sinne dem „privaten" Bereich zugeordnet war, im modernen jedoch nicht denkbar bzw. der „öffentlichen" oder „staatlichen" Gewalt vorbehalten ist. Aber auch weitere Bereiche des römischen „Hauses" haben nichts mit „Privatheit" im modernen Sinne zu tun. Die bei der morgendlichen salutatio in den domus aristokratischer Hausherren zusammenkommenden Personenkreise etwa manifestierten die über das Haus hinausgehenden politischen Machtchancen, die er besaß und die er im Rahmen der politischen Institutionen etwa bei Wahlen in unmittelbarer Weise umsetzen konnte. Ähnlich die im römischen Sinne „privaten" Gastmähler, die die amicitiaBeziehungen innerhalb der Aristokratie dokumentierten und die aufgrund ihrer politischen Relevanz daher Gegenstand aufmerksamer Beobachtung waren. Es zeigt sich somit hinsichtlich des politischen Bereichs, der in der Moderne Staat und Öffentlichkeit zugeordnet wird, in Rom eine Funktionsteilung von domus und res publica. Ähnliches gilt in umgekehrter Hinsicht. Die Funktion, die der einzelne, als Bürger, Magistrat oder Senator, innerhalb der politischen Organisation des römischen Gemeinwesens ausübte, war keine - im modernen Sinne ausschließlich öffentliche Angelegenheit, sondern bestimmte gleichzeitig seine persönliche gesellschaftliche Rangstellung, das also, was man heute dem privaten Bereich zuordnen müßte. Die lateinischen Begriffe honor bzw. bonos bedeuten bekanntlich Amt und Ehre zugleich, und die Stellung des einzelnen in der politischen Hierarchie bestimmte zugleich die Größe und Bedeutung seines Hauses. Pointiert könnte man formulieren: Die römische Unterscheidung publicus /privatus hat mit der modernen Unterscheidung eines öffentlich-politischen Bereichs von einer unpolitischen Privatsphäre wenig gemein. Dem entspricht, daß auch dem römischen Recht, das in differenzierter Weise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Bezug nahm, eine den
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modernen Rechtsverhältnissen vergleichbare Unterscheidung von ius publicum und ius privatum fremd ist. Dies hat Max Käser in einer ausführlichen Untersuchung beider - von ihm in Anfuhrungszeichen gesetzter - Sachverhalte gezeigt, was ihn aber nicht daran gehindert hat, selbst ein umfangreiches „Römisches Privatrecht" zu schreiben, in dem die dem modernen Privatrecht entsprechenden römischen Rechtsmaterien abgehandelt werden.14 Die Probleme, die durch die Wiederanwendung der modernisierten antiken Kategorien auf die Antike in der modernen Forschung entstanden sind, zeigen sich nun in besonderer Weise bei der Behandlung der römischen Kaiserzeit,15 v.a. bei der Bestimmung der Rolle des römischen Kaisers und seiner Handlungsfelder. So mußte Mommsen im „Römischen Staatsrecht" zur Aufrechterhaltung seiner Grundunterscheidung öffentlich-politisch/privat-unpolitisch z.B. die „domus" des Kaisers im Abschnitt über dessen „Hof und Haushalt" in einen staatlichen und einen privaten Bereich unterteilen, was in den Quellen jedoch - sachlich wie terminologisch - keinen Anhaltspunkt findet.16 Die Frage der Einschätzung der kaiserlichen Vermögensmassen ist seit der Kontroverse zwischen Mommsen und Hirschfeld über den „privaten" oder „öffentlichen" Charakter des fiscus bis heute umstritten geblieben. 17 So wird in neueren Forschungen einerseits, z.B. bei Heinz Bellen, der „nicht mehr private" 14
Max Käser, ,Ius publicum' und ,ius privatum', ZRG RA 103, 1986, 1-101. Für die nicht auf die Kaiserzeit bezogene althistorische Forschung lassen sich cum grano salis drei Positionen ausmachen: 1. die anachronistische Kontamination des jeweils gegenwärtigen mit dem antiken Sprachgebrauch und die entsprechende Identifizierung der damit gemeinten Sachverhalte; 2. die Wahrnehmung der Differenz zwischen antiken und modernen Phänomenen mit der Folgerung eines fehlenden Realitätsgehaltes der antiken Semantik; 3. das Bestreben, die wissenschaftlichen Begriffe „öffentlich" und „privat" so offen zu definieren, daß sie auf antike und moderne Sachverhalte anwendbar sind. Vgl. zuletzt z. B. Annapaola Zaccaria Ruggiu, Spazio privato e spazio pubblico nella città Romana, Rom 1995; John H. D'Arms, Between Public and Private. The Epulum Publicum and Caesar's Horti trans Tiberini, in: Maddalena Cima, Eugenio La Rocca (Hg.), Horti Romani. Atti del Convegno Internazionale. Roma, 4-6 maggio 1995, Rom 1998, 33-44; Susan Treggiari, Home and Forum. Cicero between „Public" and „Private", TAPhA 128, 1998, 1-23; Christoph Höcker, Privatheit und Öffentlichkeit, DNP 10, 2001, 352-354; Burckhardt, Privates und Politisches (wie Anm. 12). Die dritte Position wird in der altertumswissenschaftlichen Forschung meist implizit vertreten, explizit bei von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" (wie Anm. 5); vgl. das folgende. 16 Siehe ausführlicher Aloys Winterling, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 ν. Chr.-192 n.Chr.), München 1999, 84-86. " Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3 Bde., Leipzig 3 1887-1888, Bd. 2 , 2 , 9 9 8 1001; Otto Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, Berlin 2 1905, 7-13. 15
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Charakter des kaiserlichen Patrimonium als dessen „Verstaatlichung" gedeutet. Andererseits wird, z.B. bei Michael Alpers, der vom aerarium geschiedene fiscus als kaiserliches „Privateigentum" charakterisiert.18 Dabei bleibt jeweils unklar, was als konstitutiv fìir „Staatlichkeit" bzw. „Privatheit" (im römischen wie im modernen Sinne) angesehen wird, d. h. es wird eine metahistorische Eindeutigkeit der Begriffe unterstellt. Ernst Baltrusch behandelt in seiner Arbeit „Regimen morum" die - so der Untertitel - „Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit".19 Diese Reglementierung erfolgte jedoch in Form von Gesetzen, also staatlichem Ordnungshandeln, was Zweifel an der Privatheit des aristokratischen Privatlebens aufkommen läßt. In einer kürzlich erschienenen Publikation von Alexander Demandi wird das tägliche Leben der Kaiser im Stil der Sittengeschichten des 19. Jahrhunderts als unpolitisches „Privatleben" beschrieben, 20 was der in den Quellen häufig dokumentierten politischen Relevanz gerade der engsten kaiserlichen Umgebung deutlich widerspricht. Ähnliches zeigt sich bei der Behandlung der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen. Die ältere Forschung, z.B. Mommsen und Hirschfeld, konnte sich noch darauf zurückziehen, daß es sich bei der politischen Bedeutung des „privat" gedeuteten kaiserlichen Personals, etwa von cubicularii, um Mißbrauchsphänomene handelte. Den Kaisern wurde gewissermaßen vorgeworfen, daß sie sich nicht an den Dienstweg gehalten hatten.21 In neueren Arbeiten, etwa bei Gérard Boulvert oder Henriette Pavis D'Escurac, heißt es, die kaiserlichen Freigelassenen seien (seit Claudius) mit „affaires publiques et privées" befaßt worden, was die Unterscheidung von domus und res publica diesmal nicht in den Hof, sondern in die einzelnen kaiserlichen Amtsträger hineinverlegt.22 In neueren Überblicken der politischen Organisation des Kaiserreiches, z.B. bei Werner Eck, wird ein Teil der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen - so die 18 Bellen, .Verstaatlichung' des Privatvermögens (wie Anm. 2); Michael Alpers, Das nachrepublikanische Finanzsystem. Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit, Berlin u.a. 1995. 19 München 1989. 20 Alexander Demandt, Das Privatleben der römischen Kaiser, München 2 1997. 21 Mommsen, Staatsrecht (wie Anm. 17) Bd. 2, 2, 838; Hirschfeld, Verwaltungsbeamte (wie Anm. 17) 308 f. 22 Gérard Boulvert, Esclaves et affranchis impériaux sous le Haut-Empire romain. Rôle politique et administratif, Neapel 1970, bes. 370-374; Henriette Pavis D'Escurac, La familia Caesaris et les affaires publiques. Discretam domum et rem publicam, in: Edmont Lévy (Hg.), Le système palatial en Orient, en Grèce et à Rome, Leiden 1987, 393-410, Zit. 399 (Hervorhebung A. W.).
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wichtigen Sekretäre a rationibus, ab epistulis und a libellis - der „staatlichen Administration", das übrige Palastpersonal dagegen der - dann offensichtlich als privat angesehenen - kaiserlichen Hofhaltung zugeordnet.23 Dies bedeutet eine gemeinsame Einordnung kaiserzeitlicher Konsuln und kaiserlicher Freigelassener unter eine Kategorie „öffentlicher Amtsträger", eine Sichtweise, der jeder antike Zeitgenosse widersprochen hätte. In Käsers „Römischem Privatrecht" schließlich wird die Unterscheidung „staatlich/privat" zugleich aufgehoben und fortgeschrieben, indem von Sklaven „eines Privaten oder des Staates oder des Kaisers" gesprochen wird.24 Dabei handelt es sich jedoch um eine Paradoxie: Die Dichotomie „öffentlich/privat" schließt ein Drittes aus. Nur in Ansätzen - und v. a. bezogen auf republikanische bzw. munizipale Verhältnisse - hat sich die althistorische Forschung bislang mit der oben herausgestellten Differenz zwischen der römischen Unterscheidung publicus /privatus und der modernen Unterscheidung öffentlich/privat (public/private etc.) beschäftigt.25 Ausgehend von der zitierten VitruvStelle kommt Andrew Wallace-Hadrill bei seiner Untersuchung römischer Häuser zu dem Schluß, daß eine römische domus privata gar nicht „privat" gewesen sei, sondern in vielen Hinsichten „öffentlichen" Charakter gehabt und „öffentliche" (politische) Funktionen ausgeübt habe.26 Leonhard Burckhardt zeigt anhand von Ciceros Briefwechsel eine „private" und „politische" Bedeutung z.B. des aristokratischen Hauses, der wirtschaftlichen Beziehungen von Senatoren oder der aristokratischen Geselligkeit und schließt daraus auf „Überkreuzungen" und „Überlappungen" der Bereiche „öffentlich" und „privat" im republikanischen Rom.27 Im Gegensatz zu früheren Forschungen fragen beide somit nach dem Realitätsgehalt der antiken Unterscheidung beider Bereiche und bezweifeln denselben. Im Einklang mit der übrigen Forschung steht jedoch die implizite Prämisse, daß die moderne Dichotomie „öffentlich/privat" als invariante, gewissermaßen überzeitlich geltende kategoriale Unterscheidung 23
Werner Eck, Die staatliche Administration des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit. Ihre strukturellen Komponenten (1989), in: ders., Die Verwaltung des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, 2 Bde., Basel u. a. 1995-1997, Bd. 1, 1-28, 17f.; 20. 24 Max Käser, Das römische Privatrecht, 2 Bde., München 2 1971-1975, Bd. 1, 285. 25 Für Griechenland vgl. Polignac, Schmitt Pantel, Public (wie Anm. 10). Zur Kaiserzeit vgl. Mario Pani, Principe e magistrato a Roma fra pubblico e privato. Tracce di un itinerario, in: ders., Potere e valori a Roma fra Augusto e Traiano, Bari 21993, 65-82. 26 Andrew Wallace-Hadrill, The Social Structure of the Roman House (1988), in: ders., Houses and Society in Pompeii and Herculaneum, Princeton 1994, 1-61. 27 Burckhardt, Privates und Politisches (wie Anm. 12) bes. 103-110.
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anzusehen sei, die eine adäquate Beschreibung unterschiedlicher historischer Verhältnisse zulasse. Genau an dieser Prämisse lassen sich jedoch, denkt man an die oben analysierte Geschichte der modernen Begriffe, begründete Zweifel anmelden. Solche Zweifel sind bisher v. a. außerhalb der Altertumswissenschaften geäußert worden. Schon Jürgen Habermas' berühmte Studie aus dem Jahre 1962 war durch einen kontrafaktisch-normativen Begriff von „Öffentlichkeit" im Sinne des Liberalismus des 19. Jahrhunderts geprägt, demgegenüber die historische Entwicklung des 20. Jahrhunderts als Pathogenese dargestellt wurde. Die Öffentlichkeit, die er propagierte, gab es schon in jener Zeit nicht mehr, und die seither beobachtbaren Veränderungen der modernen Gesellschaften lassen die Verbindlichkeit und Tragweite der modernen Unterscheidung „privat/öffentlich" für die Gegenwart - und damit erst recht ihre Übertragung auf vergangene Gesellschaften - problematisch erscheinen.28 Im deutschen Sprachbereich hat in den letzten Jahren v. a. Peter von Moos die Anwendbarkeit der Kategorien „öffentlich/privat" für die historische Erforschung v. a. des Mittelalters problematisiert. Seine These, daß ihr außergewöhnlicher semantischer Erfolg seit der Antike gerade in ihrer „Offenheit" und „Verschwommenheit" begründet sei, fuhrt ihn jedoch nicht zu ihrer Verabschiedung als wissenschaftliche Begriffe, sondern zur Forderung einer formalen Neubestimmung, die überzeitliche Anwendbarkeit garantieren soll. Bei seiner Skizze einer Umsetzung dieser Neubestimmung zeigt sich jedoch die fehlende historische und sachliche Trennschärfe eines solchen Versuchs: Familien- und Freundschaftsbeziehungen z.B. ordnet von Moos generell dem Privatbereich zu, was für vormoderne Adelsgesellschaften - man denke an die Freundschaftsbeziehungen römischer Senatoren oder die dynastischen Erbfolgen im mittelalterlichen Europa - jedoch höchst problematisch erscheint. Die Institution der Ehe wird von ihm als öffentlich und privat zugleich charakterisiert, was wenig Aufschluß verspricht. Demgegenüber hat der amerikanische Soziologe Jeff Weintraub in dem 1997 von ihm herausgegebenen Sammelband über „Public and Private in Thought and Practice" die divergierenden und widersprüchlichen Konnotationen der gegenwärtigen Verwendung des Begriffspaares „public/pri28
Vgl. Dena Goodman, Public Sphere and Private Life. Toward a Synthesis of Current Historiographical Approaches to the Old Regime, History and Theory 31,1992,1-20; von Moos, Die Begriffe „öffentlich" und „privat" (wie Anm.5); vgl. Gert Melville, Peter von Moos (Hg.), Das öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln u. a. 1998.
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vate" im englischsprachigen Raum analysiert: Im politischen Sprachgebrauch wird die Unterscheidung vornehmlich zur Differenzierung der Bereiche „state administration" und „market economy" verwandt; im zivilgesellschaftlichen Diskurs wird der Begriff „public sphere" dem Bereich der politisch-bürgerlichen Gemeinschaft vorbehalten und staatlicher Verwaltung und Marktwirtschaft entgegengesetzt; sozialhistorische und anthropologische Autoren bezeichnen als „public" die Sphäre menschlicher Geselligkeit, die wiederum formalen Organisationsstrukturen sowie dem als „private" bezeichneten Bereich von Intimität und Häuslichkeit gegenübersteht; in geschlechtergeschichtlichen Studien wird dem familialen Raum die Kennzeichnung „private", dem politischen und wirtschaftlichen die Bezeichnung „public" zugeschrieben, wobei gerade die Marktwirtschaft als Paradigma des „Öffentlichen" gilt. Weintraub kommt zu dem Schluß einer Inadäquanz der unterschiedlichen Fassungen der „public/private"-Dichotomie, um die institutionelle und kulturelle Komplexität moderner Gesellschaften zu erfassen.29 Für den deutschen Sprachraum wird man dasselbe konstatieren können - man denke nur an die „privaten" Fernsehsender, die die „Öffentlichkeit" in Talkshows mit „intimen" Informationen versorgen.
III. Methodische Folgerungen Eine Analyse des „Öffentlichen" und des „Privaten" in der römischen Kaiserzeit hat der skizzierten Forschungssituation Rechnung zu tragen. Beide Sachverhalte können nicht länger als beobachterunabhängige universale Kategorien angesehen werden, sondern sind als historische Begriffe zu deuten, die auf bestimmte gesellschaftliche Situationen Bezug nahmen. Damit ist eine neue Unterscheidung in die Untersuchung eingeführt, die in wissenssoziologischen Arbeiten, prominent bei Niklas Luhmann, seit einiger Zeit angewandt wird: die Unterscheidung von „Gesellschaftsstruktur" und „Semantik".30 Sie geht aus von der grundle29
Jeff Weintraub, The Theory and Politics of the Public/Private Distinction, in: Krishan Kumar, Jeff Weintraub (Hg.), Public and Private in Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy, Chicago u.a. 1997, 1-42. 30 Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, 170182; vgl. ders., Die Beobachtung der Beobachter im politischen System. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Jürgen Wilke (Hg.), Öffentliche Meinung. Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, 77-86.
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genden Differenz zwischen aus heutiger Sicht feststellbaren (bzw. unter bestimmten Fragestellungen gegenwärtig konstruierbaren) „realhistorischen" Sachverhalten einerseits und den zeitgenössischen Beschreibungen dieser Sachverhalte andererseits. Hinsichtlich der Relation zwischen gesellschaftlichen Strukturen und der Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst ist davon auszugehen, daß ein semantisches Muster wie die „öffentlich /privat"-Dichotomie - in seiner antiken wie in seiner modernen Ausprägung - weder „falsch" noch „richtig" ist: Es nimmt - wie in den einleitenden Bemerkungen zur Republik zu sehen - Bezug auf „reale" Sachverhalte und bezieht daraus seine Plausibilität, beschreibt diese jedoch in simplifizierender, gegenwärtigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht entsprechender Art und Weise. In umgekehrter Hinsicht ist davon auszugehen, daß einmal etablierte semantische Muster ihrerseits eine „Realität" eigener Art haben und auf die gesellschaftlichen Strukturen, die sie beschreiben, zurückwirken, indem sie die Wirklichkeitssicht und die Handlungsorientierung der Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft bestimmen.31 Analysiert man nun die Quellen der römischen Kaiserzeit mittels der eingeführten Unterscheidung, kann die Frage nicht lauten, was in der römischen Kaiserzeit „öffentlich" und was „privat" war. Zu fragen ist statt dessen: Wie wurden die Kategorien „öffentlich" und „privat" von den Zeitgenossen auf bestimmte Phänomene angewandt? Wie reagierte die zeitgenössische Selbstbeschreibung insbesondere auf die historischen Veränderungen, die sich im Zuge der Etablierung der kaiserlichen Herrschaft ergeben hatten? Und schließlich: Welche Rückwirkungen hatte die - wie zu sehen sein wird - teilweise kontrafaktische, teilweise paradoxe Anwendung des semantischen Musters „öffentlich/privat" auf die politisch-sozialen Strukturen der Kaiserzeit, insbesondere in bezug auf die Legitimität kaiserlicher Herrschaft?
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Vgl. zu dieser theoretischen Konzeption ausführlich Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980-1995, Bd. 1,9-71.
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IV. Quellenanalyse Eine vorläufige Systematisierung der Überlieferung, die noch weiter auszuarbeiten und zu differenzieren wäre, liefert den folgenden Befund: 1. Eine Vielzahl von Belegen vom ersten bis ins dritte Jahrhundert n.Chr., in lateinischen wie in griechischen Quellen, zeigt eine unveränderte Fortfuhrung des traditionellen semantischen Musters, die die strukturellen Veränderungen, also v. a. die Existenz der kaiserlichen Herrschaft, ignoriert. Das politische Gemeinwesen wird dem hausherrschaftlichen Bereich entgegengesetzt (res publica - domus),32 die Interessen der einzelnen der Sorge um das Wohl der Allgemeinheit {privatae spes - publica cura),11 der magistrates dem kein Amt bekleidenden privatus.34 Das Vermögen einzelner wird von dem des Gemeinwesens unterschieden.35 Der abgetrennte häusliche wird dem allgemein zugänglichen städtischen Bereich gegenübergestellt (domi - in publicó)}6 Als publica wird eine allgemein zugängliche Frau, d. h. eine Prostituierte, bezeichnet.37 Der Kaiser, dem, wie in der lex de imperio Vespasiani überliefert, ausdrücklich die Entscheidungsgewalt über alle „öffentlichen" und „privaten" Angelegenheiten zugesprochen wird,38 wird im Rahmen der Fortführung der traditionellen Unterscheidung dieser untergeordnet, d. h. als jemand charakterisiert, der neben seinen Herrschaftsaufgaben auch als privatus handeln kann. Charakteristisch ist eine Schilderung Suetons, wo Augustus' Tätigkeiten in imperis ac magistratibus regendaque ...re publica seiner interior ac familiaris vita ... domi et inter suos entgegengestellt werden.39 Noch bei Cassius Dio wird - bezogen auf die Zeit des Commodus - die Unterscheidung οϊκοι/δημοσίφ bzw. έν τφ κοινφ auf die Differenz von kaiserlichem Palast und städtischem Raum angewandt und ersterer somit wie ein „privates" Haus beschrieben.40 Die Unterordnung des Kaisers unter die Dichotomie zeigt sich nicht nur bei nichtkai32
Zum Beispiel Sen. de ira 3,35,1; Plin. epist. 3,20,10 u. 12 (res publica-privatae res). Tac. hist. 1,19,1. 34 Plin. epist. 1,23,3; paneg. 92,2; Tac.ann. 6,2,4. 35 Plut. Galba 16: Der neue Kaiser beschenkte einen Flötenspieler aus dem Vermögen, das er als privatus vor der Thronbesteigung besaß. 36 Sen. de ira 3,35,5; Tac. ann. 15,59,3 f. 37 Sen. epist. 88,37. 38 CIL VI 930 = ILS 244: Utique quaecunque ex usu reipublicae maiestate divinarum humanarum publicarum privatarumque rerum esse censebit, ei agere facere ius potestasque sit... 39 Suet. Aug. 61,1. 40 Cass. Dio 73 (72) 10,3 u. 17,1 f. (Commodus). 33
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serlichen Beobachtern. Von Tiberius berichtet Tacitus, daß er versuchte, zwischen seinen privatae inimicitiae und der vis principis zu unterscheiden.41 Plinius schreibt, daß Nerva alle beneficia, die Leute privatim vel publice unter früheren Kaisern erlangt hatten, pauschal bestätigt habe.42 Die Unterordnung des Kaisers und seines Handelns unter die Differenz publicus /privatus läßt sich als kontrafaktische Semantik charakterisieren, die daher zum Teil wirkungslos war, zum Teil gravierende Folgen zeitigte. Diejenigen, denen ein Kaiser - wie Tiberius - seine „private" Feindschaft aussprach, nahmen sich bekanntlich meist umgehend das Leben, was den realiter nicht mehr „privaten" Charakter ihrer Beziehung zum Kaiser deutlich zum Ausdruck brachte.43 Andererseits zeigten sich z. B. beim Tode Neros erhebliche Rechtsunsicherheiten, die aus der Unterordnung des Kaisers unter die alte Unterscheidung resultierten. Der neue Kaiser Galba ließ die umfangreichen Schenkungen (liberalitates) Neros durch eine Kommission von 50 römischen Rittern untersuchen und bis auf zehn Prozent zurückfordern,44 was den kaiserlichen Benefizien einen unklaren Status verlieh: Einerseits galten sie damit offensichtlich nicht als im alten Sinne „private" Gaben Neros, andererseits wurden sie aber auch nicht als „öffentliche" Schenkungen, d. h. als Amtshandlungen des Kaisers, angesehen. In beiden Fällen hätte man sie nicht zurückfordern können. Vielmehr wurde eine Art „privater" Mißbrauch „öffentlicher" Mittel seitens des Kaisers unterstellt, der den Nachfolger nicht band. Diese besonders fur die Aristokratie unhaltbare Situation wurde von den Kaisern ab Vitellius durch pauschale Bestätigung der Benefizien ihrer Vorgänger aufgehoben.45 Im Gegenzug gingen, wie ein Edikt des Antoninus Pius belegt, auch testamentarische Schenkungen an den Kaiser nach dessen Ableben automatisch an den Nachfolger über.46 Die kontrafaktische Anwendung der alten Dichotomie hatte nicht nur Folgen fur die Aristokratie, sondern auch für die Kaiser selbst. Der junge Nero soll in seiner ersten, wohl von Seneca verfaßten Senatsrede angekündigt haben, in Zukunft sollten das Haus des Kaisers und das Gemein41
Tac.ann. 3,12,2. Plin. epist. 10,58,9. 43 Robert S. Rogers, The Emperor's Displeasure - amicitiam renuntiare, TAPhA 90,1959, 224-237; Wilhelm Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftsaufkündigung von der Republik zum Prinzipat, in: Gerhard Binder (Hg.), Saeculum Augustum, Bd. 1 : Herrschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1987, 223-245. 44 Suet. Galba 15,1. 45 Cass. Dio 64,6,1; vgl. Suet. Tit. 8,1; Plin. epist. 10,58,9. 46 Dig. 31,56. 42
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wesen wieder voneinander geschiedene Bereiche sein (discretam domum et rem publicam),47 d. h. die fehlende Unterscheidbarkeit beider Bereiche unter seinem Vorgänger Claudius hatte zu einer normativen Aufladung der alten Dichotomie und damit zur Kaiser- und Hofkritik geführt, die sich Nero bzw. Seneca geschickt zu eigen machten. Jedoch: Kein Kaiser hätte diesem Programm folgen können, und Nero selbst schlug bekanntlich genau den entgegengesetzten Weg ein. Als er später in Rom an „öffentlichen" Plätzen (publicis locis) aufwendige Gastmähler abhielt, kommentiert Tacitus sarkastisch mit der alten Begrifflichkeit, Nero habe gewissermaßen die ganze Stadt als sein Haus benutzt {tota urbe quasi domo uti).*s 2. Parallel zur Fortfuhrung der alten Semantik und im Widerspruch zu ihr etablierte sich, greifbar spätestens in den Schriften Senecas,49 die neue Unterscheidung princeps (Imperator)!privatus, die die grundsätzliche Differenz zwischen dem Kaiser und allen anderen zum Ausdruck brachte.50 „Öffentlich" als der mit politischen Konnotationen versehene Gegenbegriff zu „privat" wurde somit durch „kaiserlich" ersetzt. So läßt z.B. Tacitus den verängstigten Claudius anläßlich der Affäre zwischen der Kaiserin Messalina und dem designierten Konsul C. Silius seine Umgebung immer wieder fragen, „ob er selbst noch Herrscher, ob Silius noch Privatmann sei" (an ipse imperii potens, an Silius privatus esset).Si Die privata vita des Kaisers, seine griechische Bezeichnung als ιδιώτης, bezieht sich in diesem Sprachgebrauch auf seine Stellung vor der Thronbesteigung.52 Der Kaiser selbst ist dem privatus begrifflich entgegengesetzt. Die neue Differenz wird auch auf Frauen der kaiserlichen Umgebung angewandt. So unterscheidet der jüngere Plinius Trajans Schwestern von „privaten" Frauen (privatae). Lukian schreibt, Panthea, die Mätresse des Kaisers Verus, habe ein Leben jenseits der Stellung „Privater" gefuhrt (κατά ίδιωτικήν τύχην).53 Ebenso werden, z.B. bei Plinius und Tacitus, der kaiserliche Palast und die kaiserliche aula insgesamt den privatae domus gegenübergestellt.54 Als privata spectacula werden Zirkusspiele 47
Tac. ann. 13,4,2. Tac. ann. 15,37,1. 49 Sen. clem. 1,8,2. 50 Zum Beispiel Tac. hist. 1,37,1; 1,52,4; ann. 11,31,1; 14,52,2; Plin. paneg. 59,6; Suet. Tib. 26,1; Cal. 39,2; Claud. 40,3; 41,3; Dom. 9,1. 51 Tac.ann. 11,31,1. 52 Hist. Aug. Hadr. 17,1; los. ant. lud. 19,213 (Claudius). 53 Plin. paneg. 84,5; Lukian. imag. 2. 54 Plin. paneg. 23,6; Tac. hist. 1,22,1. 48
„ Öffentlich " und „privat " im kaiserzeitlichen Rom
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bezeichnet, die nicht vom Kaiser, sondern von Mitgliedern der Aristokratie veranstaltet werden.55 Die neue Unterscheidung princeps /privatus hatte nun auch Folgen für die Semantik des Begriffs publicus. In der erwähnten Rede Neros läßt Tacitus den Kaiser ankündigen, Italien und die „öffentlichen" Provinzen (publicae provinciae) - gemeint sind offensichtlich die nicht vom Kaiser verwalteten sogenannten Senatsprovinzen - sollten sich fortan wieder an die Konsuln wenden, der Kaiser werde für die ihm anvertrauten Heere sorgen.56 Der Kaiser und sein Handlungsbereich wurden somit nicht nur als nicht „privat", sondern auch als nicht „öffentlich" angesehen. Als Konsequenz dieses Sprachgebrauchs taucht schließlich die Reihung „privat - öffentlich - kaiserlich" auf, so bei Frontins Schilderung der verschiedenen Sklavenfamilien für die Wasserversorgung Roms.57 Die neue Dichotomie princeps /privatus konnte nun auch die alte Dichotomie magistrates/privatus überlagern. Plinius lobt Trajans Verzicht auf das Ordentliche Konsulat in seinem Panegyricus mit den Worten: „Nun hatten also privati die Ehre, das Jahr zu beginnen und die Fasten zu eröffnen."58 Die Cónsules ordinarii werden somit dem Kaiser als „Private" gegenübergestellt. Noch in einer weiteren Hinsicht zeigen sich in der Kaiserzeit semantische Veränderungen der Unterscheidung publicus Iprivatus: Die auf Zugänglichkeit für die Allgemeinheit bezogenen Konnotationen gingen ein in die Unterscheidung „öffentlich/geheim" (palamisecreto", propalami clam; φανερός/λάθρα 59 ). Diese scheint in der Kaiserzeit gegenüber dem republikanischen Sprachgebrauch stärkere Verbreitung zu gewinnen und wird jetzt quer zur alten Unterscheidung „öffentlich/privat" verwandt: Von dem Praefectus Urbi Cossus Cornelius Lentulus, der in einem sehr engen Vertrauensverhältnis zu Tiberius stand, berichtet Seneca, jenem sei „weder ein privates, noch ein öffentliches Geheimnis (des Kaisers)" je entschlüpft (autprivatum secretum autpublicum).60 „Private" Magistrate, „öffentliche" Geheimnisse, „private" Spiele in der städtischen Öffentlichkeit, die Reihung „öffentlich-privat-kaiser55
Suet. Nero 21,1. Tac. ann. 13,4,2. 57 In de aqu. 2,116; 118, beschreibt Frontin, daß bei der Wasserversorgung Roms eine familia publica und eine familia Caesaris zum Einsatz kamen, erstere war ursprünglich eine „private" Sklavenschar des Agrippa gewesen. 58 Plin. paneg. 58,3. 59 Suet. Nero 22,1; Dom. 2,3; Cass. Dio 72,4,1 (Commodus). 60 Sen. epist. 83,15. 56
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lieh", die die Gegenbegriffe zugleich beibehält und aufhebt: Während die Fortführung der alten Dichotomie deutlich kontrafaktischen Charakter hatte, zeitigten die semantischen Neuerungen in ihrer Gleichzeitigkeit mit der alten Terminologie somit Paradoxien. Und paradox waren auch die normativen Forderungen an das kaiserliche Verhalten, die mit den neuen Unterscheidungen princeps /privatus und princeps /publicus einhergingen. Er sollte sich verhalten wie ein privatus, obwohl er ja von diesem grundsätzlich unterschieden wurde. So überschlägt sich Plinius in seinem Panegyricus auf Trajan mit dem Lob, daß bei diesem Kaiser kein Unterschied zwischen princeps und privatus feststellbar sei.61 Marc Aurel betont in seinen „Selbstbetrachtungen", daß man auch als Kaiser am Hof „fast wie ein Privatmann" (έγγυτάτω ίδιώτου) leben könne.62 Cassius Dio lobt Vespasian, weil er nicht wie ein Kaiser, sondern wie ein ιδιώτης seine Gäste empfing.63 3. Etwa ab dem Ende des 1. Jahrhunderts ist der Versuch einer Wiedereinführung der Unterscheidung publicus Iprivatus auf den von beiden Bereichen unterschiedenen Kaiser und seine Handlungsfelder feststellbar, die eine Art Dopplung der alten Kategorien bedeutete. Nerva ließ laut Plinius am Palast die Inschrift „publicae aedes" anbringen, um sich von seinem Vorgänger Domitian zu distanzieren, und schlug somit den Hof insgesamt semantisch dem Bereich der res publica zu.64 Von Trajan berichtet Plinius in diesem Sinne, die salutatio im kaiserlichen Palast laufe ab wie in einem Haus der Allgemeinheit {ut in communi domo).65 Eine wohl unter Antoninus Pius neu entstandene kaiserliche Vermögensmasse, die nicht nur vom alten aerarium, sondern auch vom kaiserlichen fiscus und seinem Patrimonium unterschieden war und in die vermutlich sein Vermögen aus der Zeit vor der Thronbesteigung einging, wurde res privata genannt.66 Der Kaiser Pertinax soll sich, so Herodian, geweigert haben, seinen Namen auf den kaiserlichen Besitztümern anbringen zu lassen, mit der Begründung, diese seien nicht des Kaisers „private", sondern „öffentliche und der römischen Herrschaft zugehörige" Güter (αύτά ούκ ϊδια τοϋ βασιλεύοντος είναι, άλλα κοινά και δημόσια της 'Ρωμαίων αρχής). 67
61
Zum Beispiel Plin. paneg. 43,3. M. Aur. 1,17,5. 63 Cass. Dio 65 (66) 10,1. 64 Plin. paneg. 47,3. 65 Plin. paneg. 48,3. 66 Herbert Nesselhauf, Patrimonium und res privata des römischen Kaisers, Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1963, Bonn 1964, 73-93. 62
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Die Historia Augusta berichtet vom Hof des Antoninus Pius, daß dort privata und publica convivía veranstaltet worden seien, und davon, daß er neben den aulici ministri, also der kaiserlichen Hofdienerschaft, „eigene" Sklaven (proprii servi) zu seiner Bedienung heranzog.68 Auf den ersten Blick erscheint diese semantische Neuerung wie eine Durchsetzung der alten Unterscheidung: Der Kaiser ist eine Art magistratischer Amtsträger, der lediglich über besondere Verwaltungsstrukturen, Vermögensmassen, einen Hof und einen Palast verfügt, ansonsten aber als Privatmann in alter Weise agieren kann - ganz im Sinne von Mommsens Staatsrecht. Die kontrafaktische Kaiser- und Hofkritik scheint Erfolg gehabt und die Realität verändert zu haben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine politisch-instrumentelle, d. h. bewußt eingesetzte Funktion dieser neuerlich veränderten Begriffsverwendung, die sowohl der alten Unterscheidung von res publica und res privata, als auch der neuen von princeps und privatus widersprach. Derselbe Plinius, der Nervas Charakterisierung des Palastes als publicus lobte, tobte bekanntlich in seinen Briefen, als er auf das Grabmahl des Freigelassenen des Claudius, Pallas, stieß, dem vom Senat die Insignien eines Prätors verliehen worden waren, obwohl dies doch tatsächlich die neuentstandene kaiserliche Verwaltung in die alte res publica einbezog.69 Die neue „Öffentlichkeit" des kaiserlichen Palastes hatte somit realiter nichts mit den ja nach wie vor fortbestehenden politischen Organisationsstrukturen der alten res publica zu tun. Daß auch der neue „Privatbereich" des Kaisers nicht im alten Sinne „privat" war, zeigte sich spätestens bei Commodus, wo Kammerdiener niedrigster Herkunft die entscheidenden politischen Machtpositionen besetzten. Daß das Kaisertum nichts mit einem „öffentlichen" Amt im alten Sinne zu tun hatte, dokumentiert schließlich das Fehlen jeglicher Versuche seitens der Aristokratie, dieses in die alten politischen Institutionen und Verfahren einzugliedern oder gar zu kontrollieren, aber ebenso auf Seiten der Kaiser die Unmöglichkeit, von diesem Amt zurückzutreten: Pertinax' Distanzierung von der kaiserlichen Rolle änderte nichts daran, daß er nach dem Verlust seiner Macht nicht abgesetzt, sondern getötet wurde. Bei der dritten kaiserzeitlichen publicus /privatus-Semantik, die die erste, traditionelle, auf den von ihr ausgeschlossenen Kaiser anwandte, handelt es sich somit um eine doppelbödige Redeweise, eine Art realisierter 67 68 69
Herodian. 2,4,7. Hist. Aug. Pius 11,4; 7,5. Plin. epist. 7,29; 8,6.
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Paradoxic, deren erneute Kontrafaktizität Kaiser und Aristokratie der Zeit von Nerva bis Marc Aurel bewußt gewesen sein dürfte. Die Kaiser machten sich, angesichts mittlerweile fest institutionalisierter und irreversibel gewordener kaiserlicher Herrschaftsstrukturen, die andauernde „republikanische" Kaiser- und Hofkritik sprachlich zu eigen, um auf diese Weise ihr fortbestehendes Akzeptanzdefizit innerhalb der Aristokratie zu kompensieren, und die Senatsaristokratie nahm dies dankbar auf, obwohl es ihren Funktionsverlust als tragende Schicht der alten res publica zugleich endgültig festschrieb.70
V. Ergebnis Zur Analyse des „Öffentlichen" und des „Privaten" im kaiserzeitlichen Rom war ein begriffsgeschichtlicher Umweg und ein theoretischer Neuansatz nötig, um einerseits die Differenz der antiken von den - unterschiedlich gefaßten- modernen Dichotomien „öffentlich/privat" herauszustellen, um andererseits die antike wie die modernen Dichotomien zu dekonstruieren: Es handelt sich nicht um metahistorische Kategorien, sondern um simplifizierende Muster gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, die als solche weder „falsch" noch „richtig", weder „subjektiv" noch „objektiv" sind. Die antike Unterscheidung kategorisiert einerseits die historische Realität in einer Weise, die gegenwärtigen wissenschaftlichen Analysen nicht standhält, andererseits ist sie zugleich ihrerseits Teil dieser historischen Realität: Sie spiegelt die Selbstsicht der Gesellschaft, die sinnhafte Konstruktion der Realität seitens der Zeitgenossen wider und als solcher kommt ihr historische Bedeutung eigener Art zu. „Öffentlich" und „privat" sind als wissenschaftliche Begriffe einer gegenwärtigen Analyse damit zu verabschieden. Gleichzeitig werden sie jedoch in den Status eines zentralen Gegenstandes gegenwärtiger historischer Analyse erhoben. Der Wechsel von Was- zu Wie-Fragen und die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik doppelt somit die historische Realität: Die Forschung hat eine Beschreibung der Vergangenheit anzufertigen, die die vergangenen Selbstbeschreibungen miteinbezieht und in ihrer Plausibilität erklärt. Erst mittels dieses komplexeren Theorieansatzes läßt sich das Problem der Unterscheidung von „öffentlich" und „privat" im kaiserzeitlichen 70 Vgl. Alfred Heuß, Verfassungsrecht und Ideologie (1964), in: ders., Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 2: Römische Geschichte, Stuttgart 1995, 1366-1374.
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Rom klären: Die römische Selbstbeschreibung mittels der publicus-privato-Dichotomie war nicht - wie zur Zeit der Republik - durch Einheitlichkeit und Konsistenz, sondern durch Differenzen, Kontrafaktizitäten und Paradoxien gekennzeichnet: Die alte Unterscheidung, die eng mit den politischen Errungenschaften der Republik verknüpft und deren fortbestehende Plausibilität offensichtlich irreversibel war, wurde kontrafaktisch durchgehalten. Daher konnte die gleichzeitige neue semantische Differenz princeps /privatus bzw. princeps /publicus, die den Veränderungen gerecht zu werden suchte, nur die Form der Paradoxie „öffentlich-privat-kaiserlich" annehmen. Während die alte Unterscheidung den Kaiser und seine Handlungsfelder der Differenz kontrafaktisch unterordnete, die neue beide der Differenz paradox überordnete, versuchte die dritte - wiederum kontrafaktisch - einen öffentlichen von einem privaten Kaiser zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund klären sich nun auch die unterschiedlichen Positionen der modernen Forschung, die danach fragt, was im kaiserzeitlichen Rom „öffentlich" bzw. „staatlich" und was „privat" ,war*. Sie beruhen darauf, daß jeweils eins der drei unterschiedlichen antiken Selbstbeschreibungsmuster übernommen wird. Demandi etwa reproduziert bei seiner Beschreibung des kaiserlichen Privatlebens die Semantik Suetons, Käser folgt bei seiner Reihung privat-staatlich-kaiserlich dem Sprachgebrauch Frontins, Eck übernimmt bei seiner Unterscheidung von Privatpersonal und staatlichen Amtsträgern am Hof die Diktion eines „humanitären" Kaisers wie Antoninus Pius. Und alle gemeinsam übernehmen damit die Kontrafaktizitäten bzw. Paradoxien der unterschiedlichen kaiserzeitlichen Selbstbeschreibungen in ihre modernen Analysen der historischen Realität. Die Plausibilität semantischer Muster ist kein Zufallsprodukt. Die Ausgestaltung der publicus-privatus-Dichotomie im kaiserzeitlichen Rom fand ihre Entsprechung in realhistorischen Widersprüchen und Paradoxien, die sich - wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe71 - bei einer Analyse der Strukturen sozialer Ungleichheit und der politischen Organisation aufdecken lassen. Und dieser Gesamtbefund ist weniger verwunderlich, als er auf den ersten Blick erscheint. Handelte es sich doch um ein ursprünglich städtisches Gemeinwesen, dessen aristokratische Gesellschaftsordnung auch dann noch durch die alte republikanische politische Ordnung reproduziert wurde, als die Stadt längst zum Zentrum 71
Aloys Winterling, ,Staat', .Gesellschaft' und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, Klio 83,2001,93-112.
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eines stadtübergreifenden Reiches geworden war, das sich nur noch durch eine monarchische Herrschaftsorganisation integrieren ließ. Die semantischen und realhistorischen Paradoxien waren die Kosten dieser Monarchie in einer Republik, die die aristokratische Oberschicht und die Kaiser gemeinsam zu tragen hatten.
Register 1. Sachen adulatio 161 aerarium 225,231,240 Aerartribun 129,141, 146 Agoge 105,112,114f., 117-120,123 Agon 9,11 f., 15 f., 112, 120,124 Alterität 20-22 ambitus 138, 144 amicitia 229, 233, 237 Amphiktyonie um Olympia 43 Amt - Amtsinhaber 61,63,69,81,83 - s. magistrates, Begriff Apoikia 23 Apollonheiligtum - in Boiotien 3 - in Delphi 1 f. Areopag 61,70-73,81 Aristokratie (Verfassungsform) 46,49, 52 f., 65, 69 Artemis-Orthia-Heiligtum 112,120 Asyl 74 Auxiliartruppe 156,167 f., 170, 172, 177, 179,183, 186 f. Barbarentopik 153 f., 166,185 f. bellum - Commagenicum 222 - externum 155f., 159-161, 166, 168 - Judaicum 157f„ 186f., 219, 222 Bürgerkrieg 151,153 f., 156,162,164, 167 f., 172 f. Centuriatsgericht 139 Cilicia - Königreich der Cilices 196 f. - Region 192 f., 198,208,218 - Statthalterschaft 195 f., 199-202, 214f., 217-219 - s. Klientelmonarchie; Tarkondimotiden coniuratio 171 contio 149 convivium 229, 238, 241 Demokratie (Begriff) 49 f., 55 f., 60-69, 72 f., 78, 80-83, 85-87, 98 f., 101 f., 130
dissimulano 171,175 DissoiLogoi 5 f. domus - aristokratische domus 223 f., 229, 232, 236, 238 - Begriff 223, 228f., 236, 238 - s. Kaiser (römischer), Hof Dysnomie (Begriff) 54 Eheschließung 106 f. Ehre s. honor eiren 105, llOf., 113-117, 119, 121 f., 124 ekdosis 107 ekecheiria 16 Elis, Eleier - Autochthonie 33, 38 - Dialekt 34 f. - ethnos 27 - Etymologie des Namens 24-27, 38 - Kulte 35 f. - materielle Kultur 35 - Stammvater Eleios 28 f. - Verwandtschaft mit Aitolern 29-32, 37 f., 44 Endogamie 21 engye 107 enomotai 106 Ephebie 113f., 116,121-123 Epinikien 13, 15 erastes 106,126 eromenos 106 Ethnizität 18-23,25, 27, 34 f., 46 f. Ethnogenese 19-21,25, 27 f., 30, 34, 37 f., 43,45 ethnos (Begriff) 21,27 Eunomie (Begriff) 54,59 familia Caesaris s. Kaiser (römischer), Sklaven fiscus s. Kaiser (römischer), Vermögen forum 147 Freundschaft s. amicitia
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Register
Gastmahl s. convivium; Speisung im Prytaneion; Syssitien geheim (Begriff) 239 Gerusie 108, 125 Geschworene - Beeinflussung s. Öffentliche Meinung - Bestellung 147 - Eid 146 - Zahl 144 f. Habitus 108 Haus s. domus; Kaiser (römischer), Hof; oikos hebe 113,124 Helotie 110 héros eponymos s. Stammvater Herrschaft 49, 52-54, 59-60, 63-67, 69, 71-76, 79, 81, 83, 85, 87f., 92f., 100f„ 174 f., 186,191,194,210, 221, s. Kaiser (römischer), Herrschaft honor 229 Ilias 25 f. - Datierung 26 A. 20 Immigration 23 f., 27, 29, 32 f., 35, 37-39, 44 Initiation 109 Intentionalität 20, 22, 24, 27, 34 f. Isegorie 62 f. Isokratie 61,63 Isonomie (Begriff) 54, 56-58, 60 f., 65, 67, 69 Isopolitie 31 jüdischer Krieg s. bellum, Judaicum Kaiser (römischer) - Freigelassene 231 f., 241 - Freundschaft s. amicitia - Herrschaft 220, 236, 242 - Hof 224, 230 f., 236-238, 240 f. - Schenkungen 237 - Sklaven 225, 231 f., 239, 241, 243 - Sonderstellung 224 f., 240 - Vermögen 224 f., 230 f., 240 Klientelmonarchie 189, 191 f., 196,205, 214-221, s. Tarkondimotiden; Cilicia, Königreich der Cilices Kolonisation 7, 16 Komitialprozeß 131 f., 134-139, 142f„ 147 Konsulat 239 krypteia 113 Laienrichter 131, 133 Landtag s. Provinziallandtag
leges - lexAcilia 129 - lex agraria 141 - lex Aurelia 129 - lex Caelia 135 - lex Cassia 135 - lex de imperio Vespasiani 236 - lexDomitia 140 - leges iudiciariae 129 - IexPlautia 139 - lex repetundarum 146 f. s Repetundenprozeß - lex Varia 139 lochos 106 magistratus 191 - Begriff 224 f., 239, 241 melleiren 110f„ 113f„ 116-121 Messenische Kriege 109 mikidsomenos 110-113, 116-121 Mischverfassung 67, 69, 81, 87 Monarchie 49, 53, 57, 74, 86f., lOOf. mora 106 Morgenempfang s. salutatio Mykenische Zeit 23 f. Mythos 22-25, 28, 29, 37, 43 Nikiasfrieden 5, 14 nomos 50 f., 54-56, 59 Ochlokratie (Begriff) 53 odium 161 öffentlich/privat-Dichotomie 227-230, 232-235, 242, s. Öffentlichkeit (Begriff); princeps/privatus-Oichotomie; publicus/privatus-Dichotomie Öffentliche Meinung 147-149 Öffentlichkeit (Begriff) 226 f., 233 oikos 100, 105, 107, 125 f. Oligarchie 46 Olympische Spiele s. Panhellenische Spiele, Olympia Orakel 2 f., 5 - von Delphi s. Apollonheiligtum in Delphi - von Dodona s. Zeusheiligtum von Dodona Ostrakismos 91 paidiskos 124 paidonomos 105, 126 pais llOf., 117-121, 124 Panhellenische Spiele 4, 6 f., 9 f. - Belohnung der Sieger 10 - Kanonisierung der panhellenischen Spiele von Olympia, Delphi, Isthmia undNemea 9, 11-13, 15f.
Sachen Minderstellung von Nemea 14 f. Olympia 9-11,14,16,42,44 Rangfolge der Festorte 14 f. Ursprünge 7-9,15 Vorrangstellung der panhellenischen Spiele 12,15 patriapotestas 223, 225, 229 Patrimonium s. Kaiser (römischer), Vermögen Peloponnesischer Krieg 89-92 Pentekontaëtie 89 f. Perduellionsprozeß 135 periodos 12-14 Perserkriege 16,47,89-91,102 Piraten s. Seeräuber Politische Partizipation 59 f., 62 f., 66 f., 70, 82 Populäre Politik 134 f., 140 Prätur 147 pratopampais 113, 120 princeps s. Kaiser (römischer) princeps/privatus-Dichotomie 238-241, 243, s. öffentlich/privat-Dichotomie; publicus/privatus-Dichotomie promikidsomenos 110-113, 117-120 propais 110-113,117-121 proteires 113 provincia - Begriff 191 f., 204, 211 - Cappadocia et Cilicia 203 - Cilicia 189-192,195,204-206,209, 212,215,217-219 - Commagene Augustophratensis 208 - Lycia et Pamphylia 202 - Syria 195, 203,205,213, 215, 217f. - Syria Palaestina 208 - Syria Phoenice Cilicia 217 - Thracia 206-210 Provinziallandtag 202,212-215,217 Provokationsgesetz 134 223-226, publicus/privatus-Dichotomie 229, 232, 236 f., 239-241,243, s. Öffentlich/privat-Dichotomie; princeps/ privatas-Dichotomie -
quaestiones 129, 132, 134, 143f„ 147 - quaestio de maiestate 136 f., 139, 145, 148 - quaestio de peculatu 137,145 - quaestio de sicariis et veneficis 138 - quaestiones extraordinariae 128Í, 132 - s. Geschworene Rat 61, 63, 69, 96 - Rat der Fünfhundert 71 f. - s. Gerusie; Senat
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Recht - Privatrecht 229 f., 232, 243 - Staatsrecht 228,230 - s. Strafprozeßrecht Repetundenprozeß 128f., 134,137,143, 148, 201 f. Repräsentation 74 res publica 220 - Begriff 223, 228 f., 236, 238, 240 f. Rheinlegionen 153 f., 158, 161 f., 167, 173, 179, 183 rhobidas 110-114,116,118-120 salutatio 224,229,240 Seeräuber 192,215 Senat 134 f. Seniorität 109, 125 f. sideunai 121 f. skythai 121 societas 174 f. Sozialanthropologie 18 Sozialisation 21 Speisung im Prytaneion 13 f. Stammvater 23 f., 44 Strafprozeßrecht 127-130 Strategie 210 f. synoikein 107 Synoikismos 23, 27,44-46 Symmachie 29,46 f. Symposion 43 Syskenien 109 Syssitien 106, 108f., 125 Systemtheorie 234 f., 242 tabula Bembina 128,141 Tempelraub 5 Theatrokratie 53 Timokratie (Begriff) 53 Trachia s. provincia, Thracia Trojanischer Krieg 25, 37 Tyrannis 49, 51, 53 f., 57 f., 61, 69, 78, 81 f., 87, 93, 100-102, 104 Verschwörung s. coniuratio Vindex-Aufstand 173, 176,184 Volksgericht 61, 72,130,140, s. Komitialprozeß Volksversammlung 51 f., 59-63, 69-73, 76, 80, 83, 94, 96 Wanderung s. Immigration Zeusheiligtum - in Dodona 2 - in Olympia 43 Zirkusspiele 238 f.
248
Register
2. Personen und Orte Abai 2 AchäischerBund IIS Achaia 35, 37, 39 A. 77, 205 f., 209, 212 Adana 215 Adanda 217 Aëthlios 30 Agesilaos 109 A. 10 Agrippa 239 Α. 57 Ägypten 2, 9 Α. 17,74 Aigeai 198 f., 201 Aigina 11 Aiolos 22, 30,42 Aitoler, Aitolien 23, 27, 29-33, 35-40, 42-45 Aitolos 23, 29, 30-33,40 A. 77,42,44 Aitolos (Sohn des Oxylos) 36 Akarnanien 89 Aktor 39 f. A. 77 Alkibiades 80 A. 63 Alkmeoniden 80 A. 63 Alpinius Montanus 167 A. 34, 183 A. 71 Amphimachos 39 A. 77 Amythaon 39 A. 77 Anazarbos 195 A. 27 Annius Gallus 163 Annius Verus 202 A. 58 Antiocheia 193, 198 A. 37, 200 mit A. 51, 203 A. 58, 212, 213 mit A. 83, 215 Antiocheia (in Pisidien) 203 Antiochos IV. von Kommagene 192, 196 mitA. 29,212-215,217-222 Antipatros von Derbe 191 Antoninus Pius 202 A. 58, 237,240 f., 243 M. Antonius 140, 142f„ 190,192,194 Antonius Felix 204 mit A. 63 M. Antonius Polemo 193 mitA. 15, 196 A. 32 Antonius Primus 153,166 Apollon 1, 3 mit Α. 4, 36 Α. 67,40 Α. 77 Archelaos 196 Α. 32 Argos 4, 9 Α. 17,11,52 Ariovist 186 Arkadien 40 Α. 77,42 Arkas 40 Α. 77 Arminius 186 Artabanos 198 mitA. 39 Artemis 36 Asprenas C[...]anus 217 A. 104 Astike 210f. A. 78 Athen 4 f „ 10f„ 13f., 52, 56f., 60-76, 80-83, 85-104, 105 A. 2, 107f. mitA. 8, 130, 146 A. 90 Augeias 25f., 28, 37, 40 A. 77, 44
Augustus 141,186,192,194,198 Α. 36, 236 Bataver 151-187 Bedriacum 158 f., 163,172,183 Belgica 165,166 Α. 32, 184 f. Bithynien 213 Boiotien 2 f . , 3 7 , 6 8 Bonn/Bonna 179 Branchidai 2 Briganten 172 Brinno 167A. 34 Britannien 165,172 mitA. 46, 174 Bructerer 169 f., 177 Buprasion 25 f. Byzantium 205 f., 209 Caesar 141 A. 60, 148,186, 191 L. Caesennius Paetus 218 Caligula 186, 220 mit Α. 113,225 Cn. Calpurnius Piso 196,198 Α. 39 L. Calpurnius Piso 195 Cannae 161 Α. 26 Canninefaten 167 Α. 34, 169 Chalkis 68,112 Α. 19 Chatten 169,177 Chios 69 Cicero 140,142 mitA. 66,146-148 Cilicia 189-222, s. Sachregister Civilis 152, 154-158, 161-178, 180-185 Classicus 155 f., 158, 165, 171-177,183 f. Claudia Sacrata 180 Claudius 204 A. 66,206, 231,238 Claudius Paulus 168 Claudius Sanctus 180 Clodius 142 mitA. 67 T. Clodius Eprius Marcellus 202 Colonia Agrippinensis 174 f., 180,183 mit A. 72, 184 Colonia Flavia Pacensis Deultum 211 A. 80 Commagene 196, 205, 208 f., 211-222 Commodus 202 Α. 58, 241 Corbulo 201 Cossus Cornelius Lentulus 239 Cossutianus Capito 190 Α. 4, 201 f., 205 Cremona 172 Α. 45 Curiosa 180 Daker 165,172,174 Dalisandos 218 Α. 108 Dardanos 33 Deiotares 148 Delphi 1-16
Personen und Orte Deukalion 30 Diokaisarea 190 Dionysos 36 A. 67 Dios 45 Α. 103 Dodona 2 Domitian 158 f., 163 f., 166, 179, 240 Drususd.Ä. 153 Dulichion 25, 37 Echinaden 25, 37 Eleia 121,122 A. 46 Eleios 28 Elis, Eleier 4, 9 A. 17, 17-47, s. Sachregister Endymion 28-36,40 A. 77, 42 Epeier 27 f., 30, 32 f., 38,44 Epeios 29,40 A. 77 Ephesos 212 Ephialtes 70 f., 73,75 Epidaurus 11 Epirus 2 Erythrai 68,78 Euboia 89 Eurykyda 28 f., 35 Fabius Valens 168 T. Flavius Artemidorus 212-218 Fonteius Capito 168, 173 Friesen 169 mit A. 40,177 Q. Fufius Calenus 146 A. 85 Gabinius 148 Galba 158,168, 173, 181 Α. 65,184, 225, 237 Gallia, Gallier 151-165, 171-177,182185 Gelduba 179 Germanen 157-187 Germanicus 149 A. 108, 153, 195-198 Gaius Gracchus 129 mit A. 10,134,136 A. 32, 137 Tiberius Gracchus 134 Hadrian 216 A. 101 Helike 39 A. 77,44 Helios 28 Hellen 22 Herakleia am Latmos 31 Herakles 28 Herennius Flaccus 180 Hierapolis-Kastabala 195 Hippodameia 42 Hordeonius Flaccus 163,165 A. 30, 166, 169,171,176 Hortensius 147 A. 95, 148 A. 104 Hyrmine 25,40A. 77
249
Iphitos 44 Issos 197,198 A. 36 Isthmia 4-16 Ithaka 35, 38 Iulius Alexander 189 Iulius Briganticus 172 A. 46, 182 C. Iulius Proculus 203 mit A. 60 u. 62, 205 C. Antius A. Iulius Quadratus 214 C. Iulius Quadratus Bassus 214 Iulius Sabinus 157-159,173,174 A. 48, 184A. 74 Jazygen 186 Jerusalem 172,187,204 Judäa 204 mit A. 66 Kalydon 32 A. 52, 36 f., 42 Kalyke 30 Kappadokien 203, 204 A. 62 Kieten 200 Kilikien s. Cilicia Kimbern 186 Kimon 71 mit A. 52,95A. 11 Kleisthenes 63, 69 Kleitor 11 Kleomenes III. 115 Kleon 93 Kleonai 9A. 17 Kleopatra 191 A. 8 Koilesyrien 216 A. 100 Köln s. Colonia Agrippinensis Kolophon 68 Kommagene s. Commagene Korinth 4, 8 mit A. 17 Koropissos 218 A. 108 Kreta 105 A. 2 Kroisos 2 f. Kyllene 24 A. 16, 26, 37 f. Kylon 87, 89 f. Kyros 2 Labeo 182 Laios 44 Leuktra 23 Libyen 2 Lingonen 156-158, 163, 173-175,177, 183 f. Livius Drusus 140 Lycia 202, 205 f., 209 Lykaonien 190 Mainz s. Mogontiacum Makedon 22 Makedonien 22 Mantineia 69
250 Marc Aurel 240 Marcodurum 180 Marius 138 Mattiaker 169, 177 Megalopolis 39 Α. 77, 45 Megara 39 Α. 77, 68, 89 Meges 37 Messalina 238 Metapont 31 Milet 2 Milo 142,149 Moesien 158, 172 Mogontiacum 169, 173, 180 A. 61 Mucian 162 f., 170 Munatius Plancus 149 Myrsinos 25, 34 Myrtuntion 34 Mytilene 93 Naupaktos 36 f. Neleus 39 A. 77 Nemea 4, 6-16 Nero 166-168,173, 220,225, 237-239 Nerva 237, 240 f. Nestor 24f.,37,42 Nicomachus Flavianus 208 A. 73 Norbanus 137 A. 41 Novaesium 179
Register Pelops 39-42 Peneios 40 A. 77 Perikles 72, 80, 85-104 Perinthos 211 A. 78 Pertinax 240 f. Petilius Cerialis 157 f., 163, 169f., 174 mitA. 50, 175, 177, 180-184 Philippi 190 Philopator s. Tarkondimotos Phoinicia 212-217 Phokis 2 Phorbas 39, 40 A. 77 Pisa, Pisates 36 A. 67,41-43 Pise 42 Piso 149 Α. 108 Pisos 42 Plataiai 14 Pleuron 37,42 Polyxenos 28 Pompeius 137, 140, 142 A. 66, 144,146 A. 91 Pontius Pilatus 204 Α. 66 Pontos 172,213 Popillius Laenas 134 Poseidon 28, 29 mit Α. 34, 40 Α. 77 Protogeneia 30 Pylos 39 Α. 77,42 T. Quinctius Flamininus 16
L. Octavius Memor 217 Oineus 32 A. 52 Oiniadai 89 Oinomaos 39 A. 77, 41 f. Olba 190,216 Olenos 39 f. A. 77 Olympia 3-16, 31, 33, 35 f., 39 A. 77, 41-47 Opimius 136 Otho 225 Otos 26 Α. 22,37 Oxylos 28-33, 36-39,42, 44 f. Paetus Thrasea 201 Paion 29 Palaestina 208 Pallantion 40 A. 77 Pallas 241 Pamphylia 202 Panthea 238 Parther 198 mit A. 39,216, 219-222 Patrai 36 f. Paulus (Apostel) 200, 204 f. Pausanias 88ff., 93,102f. Peisistratos 100 A. 18 Pelasgos 73 f., 76 Pelias 39 A. 77 Pellana 11
Remer 182 A. 68 Rhodos 40 A. 77, 139 f., 205 f., 209 Rhosos 193 mitA. 18 Salamis 70 f. Samikon 28, 29 mitA. 34 Samos 68, 89, 205 f., 209 Samosata 219 A. 112 Sarmaten 157f., 174 Saturninus 136 mitA. 32, 137 mitA. 41 Scipio Nasica 148 Α. 97 Selene 30 Seleukeia 193 Seleukeia am Kalykadnos 194 Seleukos von Rhosos 193 Servilius Caepio 137 Sestius 146 A. 87 Side 203 Sikyon 89 C. Silius 238 Siwah 2 Sizilien 94 Soloi (Pompeiopolis) 198 Solon 54, 69, 72 A. 53, 98 mit A. 16 Sosius Senecio 194 Sparta 4f., 14, 32 mitA. 52, 36, 52 A. 8, 47, 65, 87, 89f., 94, 105-126
Personen und Orte Sulla 145 Α. 84 Syria 189-222 Tarkondimotiden 193 Α. 18,194 f., 197 mit Α. 35,216 Tarkondimotos II. Philopator 195 A. 27, 196 mit A. 29,197 mit A. 35, 198 A. 36 Tarsos 193, 196 A. 32, 197 A. 32, 203 A. 58 u. A. 60, 204 A. 66 Tegea 11 Tenkterer 169,174f„ 177 Q. Terentius Culleo 199, 205 TTieagenes aus Thasos 12 Theben (Ägypten) 2 Theben (Griechenland) 11 Themistokles 88-91, 93, 95,102f. Therapne 107 A. 5 Thermos 32 mit A 50, 33, 36 Α. 67 Thespiai 112A. 19 Thessalien 37, 39 f. Α. 77 Thracia 206-211 Thuria 122 A. 48 Tiberius 153, 181, 195, 196 Α. 29,198, 237, 239 Titus 219,222 Trajan 211,214,238-240 Treverer 152, 156, 163, 165, 173-175, 177, 182 Α. 68,183 f.
251
Trier 169,177 A. 57 Triphylien, Triphylier 23, 28 f., 35,41 A. 77,47 Triphylos 23 Tutor 169,173,174 A. 48, 177,183 Ubier 174 Ummidius Quadratus 201 Usipeter 169,177 Valentinus 176,181 A. 64 M. Valerius Messalla Corvinus 194 A. 23 Varrò 147 Α. 95 Varus 186 Veleda 169 f., 180 C. Velius Rufas 222 A. 120 Q. Veranius 207 Verres 142, 147 f. Vespasian 153,155,157,161,164 f., 167, 176, 178, 189-222,225,240 Vetera 163, 169,179f. mitA. 61,183f. Vindex 161, 166,173,184mitA. 73 Vitellius 153 f., 156,162f„ 166-168, 171, 173, 181 A. 65,184, 225 Vocula 163, 175 A. 52,180 Vologaeses 221 f. Vonones 198 mit A. 37 u. 39 Zeus 1-3, 30,40 A. 77,43
252
Register
3. Quellen a) Literarische
Quellen
Aischylos Eum. 526: 72 Α. 53 530: 72 696: 72 Α. 53 Suppl. 251-256: 75 379: 76 399: 75 425: 75 470: 73 ff. 516ff.: 76 601: 76 52; 76 605 ff.: 76 698: 76 699f.: 52 699: 76 942: 76 Akusilaos = FGrHist 2 F36: 30 A. 41 Alkmaion = DK 24 Β 24: 57 mit Α. 20 Apollodoros bibl. 1,7,5ff.:30 A. 41 1,7,6: 32 A. 49 2,5,5:40 A. 77 2,8,3: 30 A. 38 Apollonios Rhodios Scholia 4,57f.: 31 A. 45 Appianos civ. 2,24,94: 148 A. 97 Mac. 9,4: 16 A. 43 Aristophanes Ach. 618: 50 A. 3 642: 50A. 3 Aristoteles Ath. pol. 23,1 f.: 70 A. 51 25,1: 70 A. 51
pol. 1260 a 39: 60 1279 b 8: 60 Α. 29; 67 Α. 45 1284 b 5 ff: 60 A. 29 1286 b 8 f f : 49 A. 2 1290 a 13 ff: 82 1290 b 17: 67 A. 45 1292 a 13: 53 A. 10 1297 b 16ff: 49 A. 2 1297 b 24: 66A.42 1299 b 32: 59 A. 28 1 2 9 9 b 3 8 f f : 59 A. 28 1317 b 2: 60 1317 b 8: 67 A. 45 1317 b 3 0 f f : 59 A. 28 1319 a 12: 44 Α. 96 1323 a 9: 59 Α. 28 Asconius p. 28: p. 36: p. 38: p. 39: p. 40: p. 48: p. 53: p. 55: p. 79:
ed. Clark 146 Α. 86 144 Α. 76 140 Α. 56; 142 Α. 66 144 Α. 76 149 142 Α. 67 146 Α. 86 146 Α. 86 139
(Pseudo-)Asconius ed. Stangl p. 193: 147 Α. 95 Athenaios 1,14 E: 123 Α. 50 13,602 D-Ε: 106 Α. 4 Bakchylides epin. 8,28f.: 29 Α. 36 Caesar bell. Alex. 65,4: 191 mitA. 9 Cassius Dio 38,8,1: 146 Α. 85 39,62,1-63,1: 148 Α. 105 40,52,2: 146 Α. 91 40,55,1 f.: 146 Α. 91 49,22,3: 194 mitA. 20 53,12,6: 157 Α. 13 54,1,2: 157 Α. 16 54,15,3: 157 Α. 16
Quellen 54,28,4: 157 Α. 16 54,35,3: 157 Α. 16 56,12,2: 157 Α. 13 56,13,1: 157 Α. 13 56,18,1: 166 Α. 32 56,24,1: 157 Α. 13 57,4,1: 157 Α. 13 57,5,1: 157 Α. 13 59,22,5: 157 Α. 13 59,30,1b: 167 Α. 34 61,30,4: 157 Α. 13 63,3,3: 157 Α. 14 63,23: 184 63,24,1: 157 Α. 13 63,26,4: 157 Α. 16 64,5,3: 157 Α. 13 64,6,1:237 Α. 45 65,14,1: 157 Α. 16 65,14,3-4: 157 Α. 16 65 (66), 10,1:240 Α. 63 65 (66), 11,3: 221 Α. 116 66,3,1-3: 157 Α. 12 66,16,1-2: 157 Α. 12 66,16,1: 157 Α. 15 66,17,4: 157 Α. 16 67,11,1: 157 Α. 13 67,15,3: 157 Α. 16 67,18,1: 157 Α. 16 72,4,1:239 Α. 59 73 (72),10,3: 236 Α. 40 73 (72),17,If.: 236 Α. 40 Censorinus 14,8: 118Í.A.33 Cicero Cluent. 55: 145 Α. 84 75:145 Α. 84 79:148 Α. 103 93: 142 Α. 64 139: 147 Α. 95 147: 138 Α. 46 195 ff.: 146 Α. 91 de orat. 1,229f.: 147 Α. 96 2,107: 137 Α. 41 2,197: 137 Α. 39 2,199: 137 Α. 41 div. Caec. 24: 147 Α. 95 dom. 45: 136 Α. 35;143 Α. 72 fam. 8,2,1: 148 Α. 104 13,73,2: 191 Α. 11
Flacc. 4:148 Α. 101 98:147 Α. 92 har. resp. 7: 142 Α. 66; 143 Α. 73 inv. 1,70: 146 Α. 90 2,131: 146 Α. 90 leg. agr. 2,18: 140 Α. 55 leg. 3,35 f.: 135 Α. 31 3,46: 145 Α. 81 Mur. 11: 146 Α. 91 42: 138 Α. 45 47: 138 Α. 44 Phil. 1,20: 141 Α. 57; 145 Α. 80 1,21 f.: 142 Α. 69 5,12f.: 141 Α. 57 Plane. 3:146 Α. 91 29: 147 Α. 96 Q.fr. 2,3,1 f.: 142 Α. 67 2,6,4: 142 Α. 67 3,1,24: 148 Α. 105 3,4,1: 148 Α. 105 Rab. perd. 8:138 Α. 42 Rab. Post. 18 f.: 146 rep. 2,40: 139 Α. 47 3,48: 139 Α. 48 Sest. 39:135 Α. 31 S. Rose. 11: 148 Α. 98 Süll. 69: 146 Α. 91 79: 146 Α. 91 Vat. 16: 146 Α. 87 Verr. 1,16: 144 Α. 78 1,17: 147 Α. 95 1,29 f.: 146 Α. 87 1,40: 147 Α. 95 1,47: 148 Α. 99 1,51: 129 2,1,11-14: 142 Α. 65 2,1,23: 148 Α. 99 2,1,156: 144 Α. 75 2,2,79: 147 Α. 95 2,5,163: 134 Α. 27
253
254
Register
2,5,173: 142 Α. 65 2,5,177: 148 Α. 99 Scholia Bobiensia ed. Stangl p. 146: 146 Α. 87 Daïmachos = FGrHist 65 Fl: 30 Α. 41; 32 Α. 49
strat. 4,3,14: 158 Hellanikos = FGrHist 4 F4: 22 A. 13 F195:32 A. 50
Damastes = FGrHist 5 F3: 32 Α. 50
Hekataios = FGrHist 1 F14:32 A. 52 F25:28 A. 28
Demosthenes or. 18,91: 13 mit Α. 32
Herodianos 2,4,7: 241 A. 67
Digesten 31,56: 237 Α. 46 Diodoros Sikulos 4,69,1 ff.: 39f. Α. 77 5,58,5: 40 Α. 77 Diogenes Laertios 1,55: 11 Α. 21 Dion Chrysostomos 31,4: 139 A. 48 Dissoi logoi = DK 90 3,8: 5 f. mit A. 12 Ephoros = FGrHist 70 Fl 15: 30 A. 38; 39 A. 77; 42 A. 83; 44 A. 92 F122: 30 A. 38; 31 A. 48; 32 A. 50 u. 51; 33 mit A. 56; 44 A. 95 Epitome de Caesaribus 9,13: 208 A. 72 Euripides Cycl. 119: 61 Suppl. 349 f.: 75 A. 58
Herodotos 1,46-49: 2 A. 2 1,86,5: 77 2,55: 2 A. 3 2,160: 9 A.17 3,80,5: 55 3,80,6: 57 A. 18; 78 3,81,3: 62 3,82,1:53 3,83,1: 57 A. 18 3,142,3: 57 A. 18; 63 A. 35 4,137,2: 50 A. 3; 63 A. 35 5,2: 27 A. 26 5,37,2: 57 A. 18; 63 A. 35 5,92: 61 6,5,1: 57 A. 18 6,43,3: 50 A. 3; 63 A. 35 6,131,1: 50 A. 3; 62 7,8: 27 A. 26 7,103,1:78 7,164,1:69 8,73,2f.: 29 A. 36; 32 A. 51 8,108: 27 A. 26 8,144: 4 A. 7 8,144,2: 5 A. 8 9,81,1: 14 A. 37 9,85,2: 110 mit A. 15 Λεξεΐς Ηροδότου ed. Stein lip. 465: 110 mit A. 15
Festus ed. Lindsay p. 47: 139 A. 50 p. 236 s.v. perihodos: 12 mit A. 30
Hesiodos fr. ed. M.-W. 7: 22 A. 13 10: 42 A. 85 10a: 30 A. 41; 31 A. 43 13: 39 A. 77 259:42 A. 81
Frontinus de aqu. 2,116: 239 A. 57 2,118: 239 A. 57
Hesychios s.v. ϊρανες: 122 A. 49 s.v. μελίρην: 118 A. 33 s.v. μελλόπαις: 121 mit A. 45
Eutropius 7,9,14:207 A. 69
Quellen Historia Augusta Hadr. 17,1:238 A. 52 Pius 7,5: 241 A. 68 11,4: 214 A. 68 Horneros II. 2,204: 53 mit A. 10 2,519ff.:7A. 13 2,615-624: 24 A. 16 2,616f.: 25 2,625 ff.: 37 A. 71 2,626: 26 9,404 ff.: 7 A. 13 11,670-762: 24 A. 16 11,671: 26 A. 20 11,698 ff.: 26 A. 23 11,709f.: 40 A. 77 ll,750ff.: 40 A. 77 11,759 f.: 39 A. 77 15,518f.: 24 A. 16; 26 A. 22; 37 Od. I,79 ff.: 7 Α. 13 4,634 ff.: 24 Α. 17; 37 Α. 72; 38 Α. 74 II,581: 7 Α. 13 13,275: 24 Α. 17 15,296ff.: 24 Α. 17; 37 Α. 72 21,347: 24 Α. 17; 37 Α. 72 24,431:24 Α. 17 h. 3: 7 Α. 13 3,282 ff.: 7 Α. 13 3,418 fr. 38 Α. 75 Eustathios in Hom. II. 303,8ff.: 39 Α. 77; 40 Α. 77 305,5: 40 Α. 77 losephos ant. lud. 14,447: 194 Α. 20 18,140: 189 Α. 3 19,213: 238 Α. 52 20,145: 193 Α. 15 bell. lud. 1,1,1: 158 Α. 17 1,5: 158 Α. 17; 166 Α. 32 3,68: 219 Α. 111 7,75-88: 158 Α. 17 7,89-95: 158 Α. 17 7,105: 222 Α. 117 7,219-243: 218 Α. 109 7,242: 222 Α. 121 Iuvenalis 8,94: 201 Α. 54
Κοηοη = FGrHist 26 F i e . 14: 30 Α. 38u.41 Livius 2,43,10: 139 Α. 47 23,11,11: 161 Α. 26 30,39,7: 138 Α. 45 33,32: 16 Α. 43 per. 61:136 Α. 37 Lukianos imag. 2: 238 Α. 53 4 Makkabäer 4,2: 216 Α. 100 Macrobius sat. 7,5,2: 207 Α. 70 Marcus Aurelius 1,17,5: 240 Α. 62 Martialis 2,2,3 f.: 158 Α. 21 Cornelius Nepos Cimon 2,1: 71 Α. 52 Neues Testament 15,23: 200 mit Α. 50 15,41: 200 mit Α. 49 23,34: 204 mit Α. 64 Gal. 1,21:200 mit Α. 47 Orosius 7,9,10: 207 Α. 69 Ovidius Met. 12,322: 40 Α. 77 Pausanias 3,14,6: 123 Α. 50 5.1.3 ff. 31 Α. 45 5,1,3: 30 Α. 38u.41 5.1.4 fr.: 29 Α. 35 5,1,4: 28 Α. 32; 40 Α. 77 5,1,5: 31 Α. 46 5,1,6 f.: 42 Α. 82 5,1,6: 40 Α. 77 5,1,8f.: 28 Α. 31
255
256 5,1,8: 32 Α. 49; 40 Α. 77 5,1,11: 40 Α. 77 5,3,3: 39 Α. 77 5,3,4f.: 28 Α. 30 5,3,5: 30 Α. 38 5,4,2: 44 Α. 93 u. 94 5,4,3: 39 Α. 77; 44 Α. 95 u. 97 5,4,4f.: 44 Α. 98 5,4,4: 36 Α. 63 5,8,2: 39 Α. 77 5,8,5: 44 Α. 97 5,15,7: 36 Α. 67 5,15,12: 36 Α. 68 6,16,1 ff.: 36 Α. 69 6,20.2-6: 45 Α. 103 6,21,5 f.: 42 Α. 82 6,21,10f.: 42 Α. 82 6,22,1 ff.: 42 Α. 82 6,22,2: 42 Α. 86 6,25,5: 45 Α. 103 6,26,1: 36 Α. 69 6,19,11: 31 Α. 47 6,20,9: 31 Α. 46 6,22,8ff.: 36 Α. 66 6,24,9: 36 Α. 65 6,25,6: 29 Α. 34 10,16,3: 1 Α. 1 Peisandros = FGrHist 16 F7: 30 Α. 41 Pherekydes = FGrHist 3 F21: 30 Α. 41 Philostratos vita Apoll. 1,12: 196 Α. 32 Photios s.v. κατά πρωτείρας: 122 mit Α. 47 s.v. συνέφηβος: 121 f. mit Α. 46 Pindaros I. 1: 11 Α. 24 Ν. 10,22ff: 11 Α. 24 32:11 Α. 24 Ο. 3,12f.: 29 Α. 36; 30 Α. 38 7,77ff.: 11 Α. 24 13: 11 Α.24 Ρ. 2,86 ff: 50 f. mit Α. 5 2,87: 98 Α. 15 Scholia Pind. O. 1,28b: 42 Α. 87
Register Platon Gorg. 516 a: 97 Plinius maior nat. 4,40: 210 A. 76 u. 78 4,45: 210 A. 78 5,70: 187 13,53: 194 A. 21 36,28: 194 A. 21 Plinius minor epist. 1,23,3: 236 A. 34 3,20,10: 236 A. 32 3,20,12: 236 A. 32 7,29: 241 A. 69 8,6: 241 A. 69 10,58,9: 237 A. 42 u. 45 paneg. 23,6: 238 A. 54 43,3: 240 A. 61 47,3: 240 A. 64 48,3: 240 A. 65 58,3: 239 mit A. 58 59,6: 238 A. 50 84,5: 238 A. 53 92,2: 236 A. 34 Plutarchos Agesilaos 1,3: 109 A. 10 am. 25 p. 770f.: 157 Α. 15; 158 Α. 20 Cat. mi. 16,2: 145 Α. 81 48,4: 146 Α. 91 Flam. 10,3 ff: 16 Α. 43 Galba 16:236 Α. 35 18: 58 Α. 20 22,1-23,1: 158 Α. 20 Lyk. 16,1-6: 124 Α. 53 16,7-10: 124 Α. 53 16,7: 105 Α. 1 16,11-17,3: 124 Α. 53 16,11: 119 Α. 37 17,2: 119 Α. 35 17,3-18,7: 124 Α. 53 17,3 f.: 119 Α. 34 17,4: 121 Α. 44 22,2: 120 Α. 39 24-25: 124 Α. 53 26: 124 Α. 53
257
Quellen Mar. 5,5: 138 Α. 43 muí. virt. 251e: 36 Α. 69 Oth. 12,7f.: 158 Α. 20 Per. 11,3: 72 Α. 54 Pomp. 4: 138 Α. 42 Sol. 23,2: 11 Α. 21 Polybios 6,14,4: 134 18,46,4 ff.: 16 Α. 43 Ptolemaios 3,11,6: 210 Α. 76 Quintiiianus inst. 6,1,14: 201 A. 54 (Pseudo-)Sallustius rep. 2,7,12: 139 A. 48; 140 Scolia Anonyma ed. Diehl 10,4: 57 mit A. 19 Seneca clem. 1,8,2: 238 Α. 49 de ira 3,35,1: 236 Α. 32 3,35,3: 236 Α. 36 epist. 83,15: 239 Α. 60 88,37: 236 Α. 37 Silius Italicus 3,607 f.: 158 Α. 21 Simonides fr. ed. Page 111: 109 mitA. 10 589: 45 A. 103 (Pseudo-)Skymnos = Geographi Graeci Minores I pp. 196-23 7 p. 215,473 f.: 32 Α. 50 Solon ed. Diehl 3,7: 58 mitA. 21 5,7f.: 98 A. 16 5,8: 72 A. 53 24,21 f.: 98
25,6f.: 98 Stephanos von Byzanz s.v. "Ωλενος: 39 Α. 77 Strabon 8,1,2: 30 Α. 38; 39 Α. 77 8,3,9: 28 Α. 28 8,3,11: 39 Α. 77 8,3,13: 29 Α. 34 8,3,19: 28 Α. 32 8,3,30: 3 Α. 5; 30 Α. 38; 33 mit. Α. 55; 44 Α. 94 8,3,31: 42 Α. 82 8,3,33: 30 Α. 38; 39 Α. 77 9,3,6: 1 Α. 1 10,3,2f.: 30 Α. 38; 31 Α. 48; 32 Α. 50 10,3,3: 32 Α. 51 12,1,4: 191 Α. 11 12,6,3: 191 Α. 11 14,5,1: 189 Α. 2 14,5,6: 192 Α. 13 14,5,18: 197 Α. 33 14,5,25: 191 Α. 11 14,5,26: 39 Α. 77 Glosse zu Strab. „Geographika" ed. Diller (AJPh 62,1941,499ίΤ.) 225v-226r: 111 mitA. 16 Suda s.v. μελείρηνες: 120 Α. 38 Suetonius Aug. 32,3: 141 Α. 58 61,1: 236 mit Α. 39 Caes. 41,2: 141 Α. 60 Cal. 2: 149 Α. 108 39,2: 238 Α. 50 Claud. 40,3: 238 Α. 50 41,3: 238 Α. 50 Dom. 2,1: 158 Α. 19 2,3: 239 Α. 59 9,1: 238 Α. 50 Galba 10,1: 184 11: 168 Α. 38 15,1: 237 Α. 44 15,3: 168 Α. 38 Nero 21,1: 239 Α. 55 22,1: 239 Α. 59 Tib. 26,1: 238 Α. 50
258
Register
Tit. 8,1: 237 Α. 45 Vesp. I,1: 153 6,4: 221 Α. 116 8,4: 192 Α. 12; 205-212 mit Α. 67 Tacitus ann. 2,4,3: 198 A. 37 2,42,5: 196 mit A. 29 2,58,1: 198 mit A. 37 2,58,2: 198 mit A. 38 u. 39 2,78,2: 196 A. 30 2,81: 219 A. I l l 3,12,2: 237 A. 41 3,14f.: 149 A. 108 3,48,1:200 A. 44 6,2,4: 236 A. 34 6,31,1: 198 A. 39 6,41,1: 200 A. 44 II,31,1: 238 A. 50 u. 51 12,55: 200 A. 44 13,4,2: 238 A. 47; 239 A. 56 13,8,3: 201 A. 52 13,33,2: 201 mit A. 53 13,33,3: 202 A. 57 14,52,2: 238 A. 50 15,37,1: 238 A. 48 15,59,3 f.: 236 A. 36 16,21,3:201 mit A. 54 dial. 38,1: 144 A. 76 39,4: 148 Germ. 29,1: 168; 176 A. 54; 177 A. 58 hist. 1,1,4: 164 1,2,1: 151; 160 A. 24; 172 f. 1,7,1: 168 A. 38 1,8: 173 1,8,1: 168 A. 38 1,19,1: 236 A. 33 1,22,1: 238 A. 54 1,37,1: 238 A. 50 1,37,3: 168 A. 38 1,51: 173 1,52,1: 168 A. 38; 181 A. 65 1,52,4: 238 A. 50 1,53,3-1,54: 173 1,58,2: 168 A. 38 1,59,1: 166; 168 mit A. 36; 172 f.; 181 A. 65; 182 1,64: 173 1,64,2: 168 mit A. 36; 172 2,17,2: 172 A. 46 2,22,3: 172 A. 46 2,27 172 A. 46
2,27,2: 168 A. 36; 172 2,28,2: 172 A. 46 2,35: 172 A. 46 2,43,2: 172 A. 46 2,66: 168 A. 36; 172 A. 46 2,69,1: 168 A. 36; 173 2,97,1: 165; 173 2,101,1: 160 2,69,1: 160 A. 24 3,5,1: 186 3,35,2: 167 A. 34 3,40-48: 172 A. 45 3 44-47: 165 A. 31 3^46,1: 160; 161 A. 26; 165 A. 30; 166; 170; 172 3,46,2: 165 3,46,3: 171 3,49,1: 172 4,12-38,1: 170 4,12-37: 163 4,12-15: 167 4,12f.: 173; 182 A. 67 4,12,1: 160f. mit A. 24; 163; 165 A. 31; 170; 172 4,12,2: 169; 177 4,12,3: 168; 173; 176 A. 54; 184 A. 75 4,13,1: 162; 166; 167 f. mit A. 34 u. 39; 173; 181 A. 65 4,13,2: 167 f. 4,13,2f.: 153 A. 3 4,14: 174 f. 4,14,1: 166 4,14,2: 174f. 4,14,3: 167 A. 34 4,14,4: 160 A. 23; 161 A. 26; 176 A. 56; 177 4,15-16: 169 A. 40; 183 4,15,1: 173; 175f.; 182 4,15,2: 167 A. 34; 177 4,16,1: 181 A. 65 4,17: 174 4,17,1: 169 A. 41; 174 A. 48; 176f. 4,17,2: 183 A. 69 4,17,3: 176; 183 A. 69 4,17,5: 174 A. 48 4,17,6: 178 4,18,2: 177 4,18,4: 182 4,19-21,1: 173 4,19,1: 176; 182 4,20: 176; 179 4,20,3: 176 A. 56 4,20,4: 183 A. 72 4,21,1: 167; 169 4,21,2: 177 4,22-23: 179 4,22,2: 160 A. 24 4,24,1: 179 A. 60
Quellen 4,25,2: 180 4,25,3: 174 Α. 50; 183 Α. 72 4,25,4: 180 4,26,2: 171 Α. 44 4,27,1: 177 4,27,2f.: 179 Α. 60 4,28: 183 Α. 72 4,28,1: 169 Α. 42; 177; 183 4,28,2: 180 4,28,3: 176 Α. 56 4,28,4: 169 Α. 42 4,29-30: 179 4,3 If.: 167 4,31: 155 4,32: 174 4,32,1: 167; 176 4,32,2: 166; 168; 174 Α. 48; 181 Α. 65; 183 Α. 71 4,32,3: 161 Α. 27; 174 Α. 50; 176 Α. 54 u. 56;181 Α. 65 4,33: 179 4,34: 180 4,34,4: 179 Α. 60 4,37,2: 180 Α. 61; 184 4,37,3: 169; 177 4,38,1: 163 4,39,4: 171 4,51:221 Α. 116 4,54-79: 171 4.54-78: 163 4,54 f.: 174 4,54,1: 163; 166 Α. 33; 171 mit Α. 44; 174 4,54,2: 178 4.55-56: 183 Α. 72 4,55: 173 4,55,1-2: 184 Α. 75 4,55,1: 155; 165 Α. 30; 166; 170; 176; 182 Α. 68 4,55,2 f.: 180 4,55,2: 184 Α. 74 4,56,1: 174 Α. 49; 184 Α. 75 4,57,2 f.: 175 Α. 52 4,57,2: 176 Α. 55 4,59,1: 179 Α. 60 4,59,2: 175; 184 Α. 75 4,59,3: 180 Α. 61; 183 Α. 72 4,60,2: 175; 184 4,61: 169 4,61,1: 175; 176 Α. 56; 177; 184 4,61,2: 177; 180 4,61,3: 180 Α. 61 4,62,2: 180 4,63: 175; 180 4,64: 174; 183 Α. 72 4,65: 183 Α. 72 4,65,1: 177 4,66: 183 4,66,1: 175; 183 Α. 72
259 4,66,3: 176 Α. 56 4,67: 157 Α. 15 u. 16; 184 Α. 74 4,67,1: 175; 184 Α. 75 4,67,2: 182 Α. 68 4,68,1: 163 4,68,5: 176; 182 Α. 68 4,69,3: 184 Α. 75 4,70,1: 171; 180 Α. 61 4,70,4: 180 Α. 61 4,71,2: 184 Α. 75 4,71,3: 184 4,73-74: 174 4,73,2: 175 4,73,3: 175 4,74,2: 175 4,74,4: 174 Α. 50; 175 Α. 52 4,75,1: 184 Α. 73 4,75,2 fr.: 184 4,76: 170 4,76,1: 176 Α. 55; 177 4,76,2: 177 4,76,4: 177 Α. 57 4,77 f.: 180 4,77: 157 Α. 14 4,77,1: 177 4,78,1: 174 Α. 48; 177 4,78,2: 163 4,79,1: 183 Α. 72 4,79,4: 163; 171; 184 4,85,1: 181 Α. 64 5,13,4: 172 5,14-26: 163; 171 5,14,1: 163; 170f.; 177 5,17,1: 175; 176 Α. 56 5,17,2: 177 5,19,1: 177 5,19,3: 167 Α. 34; 176; 182 Α. 68; 184 5,22,3: 177; 180 5,24,1: 170; 176 Α. 56; 177 5,25 f.: 182 Α. 67 5,25: 176; 182 5,25,1: 161 Α. 27; 170; 173; 174 Α. 50; 176 f. mit Α. 56 5,25,2: 174; 176 Α. 54; 184 Α. 75 5,25,3: 168 5,26: 162; 175 5,26,1: 163; 181 Α. 64 5,26,2: 184
Theognis 41: 58 Α. 21 45 f.: 51 53ff.:51 mit Α. 6 675 ff.: 51 Theokritos Scholia 4,29-30b: 42 Α. 84 u. 87
260 Thukydides 1,17: 100 1,22,1: 103 1,67,4: 103 A. 20 1,93-96: 90 1,111:89 1,114: 89 l,116f.: 89 1,126 ff. : 89 1,126,1: 90 1,127,3: 87ff. 1.127-139: 102 1.128-138: 90 1,138,3: 91; 95 1,138,6: 94 1,139,4: 88 f. 1,140-144: 89 1,140,1:92 2,13,1: 100 2,37,1: 50 A. 3; 72; 102 2,60-64:91; 102 2,60,1 f.: 92 2,60,2: 97 2,60,5: 97 2,61,2: 92 2,61,4: 92; 95 2,62: 80 A. 63; 90 2,62,1 ff: 92 2,63,1: 92 f. 2,63,2f.: 93 2,64,3: 93 2,64,5: 93 2,64,6: 92 2,65: 87; 94-102 2,65,3: 93 2,65,5: 80 A. 63; 93 2,65,7: 92 2,65,9: 72; 83; 85-104 3,62,3: 65 mit A. 39 3,82: 65 4,74,3:65 A. 39 4,78,2: 65 4,78,3: 65 4,86,4: 65; 66 A. 41 4,126,2: 65; 66 A. 41 5,18,2: 5 A. 9 5,18,10: 14 A. 38 6,31,6:94 6,38,3: 65 6,39,1:58; 79 6,78,6: 103 A. 19 6,89,4 f.: 80 A. 63 6,89,5-6: 69 A. 48 6,90,2: 103 A. 20 8,53,3: 65 A. 39 8,89,2: 65 A. 39 8,91,3: 62 A. 33
Register 8,92,11:62 A. 33 8,93,3: 78 8,97,2: 65 A. 39; 87 Thrasymachos = DK 85 Β 1:81 A. 66 Tibullus 1,7,13-16: 194 A. 23 Tyrtaios ed. Diehl 3a 9: 52 Tzetzes chil. 12,364ff: 30A. 38 Valerius Maximus 6,2,5: 146 A. 91 6,4,4: 147 A. 96 8,5,2: 137 A. 41 Vergilius Aen. 3,94ff: 33 A. 54 7,195:33 A. 54 Vitruvius 6,5,1 f.: 224 mit A. 1 Xenophon an. 5,7,33: 196 A. 31 Ath. pol. 1,4 f.: 50 Α. 3 1,8: 50 Α. 3 1,9: 66 Α. 40 2,20: 50 Α. 3 3,1: 50 Α. 3 3,8 f.: 50 Α. 3 3,12: 50 Α. 3 hell. 3,2,27: 36 Α. 64 7,4,28: 42 Α. 88 Kyr. 1,2,8: 118 Α. 33 Lak. pol. I,3-10: 124 Α. 53 2,2: 124 Α. 53 3: 124 Α. 53 3,1: 119 Α. 37 4: 124 Α. 53 II,3: 120 Α. 39 Xiphilinos ed. Boissevain 204: 157 Α. 12
261
Quellen b) Epigraphische und numismatische Quellen Annual of the British School at Athens 12,1905-1906,351-393: 112 Α. 17 13, 1906-1907, 174-196: 112 Α. 17 14,1907-1908,74-103: 112 Α. 17 15, 1908-1909,40-52: 112 Α. 17
Année Epigraphique 1914, 128: 203 Α. 59 1920,71: 195 mit Α. 25 1929, 98: 214 mit Α. 91 1933, 268: 214 mit Α. 95 1934, 176: 214 mit Α. 95 1934,177: 214 Α. 95 1942/43, 33: 218 Α. 109 1953,251 Ζ. 12: 207 Α. 71 1963,11: 217 Α. 105 1966,472: 203 Α. 50 1966,486:217 Α. 104
Carmina epigraphica Graeca 11 824,7: 23 Α. 15
Corpus Inscriptionum Latinorum III 14387i+w: 218 Α. 109
Inscriptiones Graecae I3
14+15: 78 A. 61: 37: 50 A. 3: 131,11-13: 13 mit A. 34; 14 A. 39 V 1,256-341: 112A. 17 1,279: 121 A. 43 1,296: 118 A. 39; 121 A. 43 1,674-688: 123 A. 50 1,1386: 122 A. 48 VII 1764.13: 112A. 19 XII 9,952.5: 112 Α. 19
Inscriptiones Graecae in Bulgaria III 1115: 210 A. 77 IV 2338: 211A. 80
Inscriptiones Graecae ad res Romanas pertinentes
VI
I
9 3 0 : 2 3 6 Α. 38 XIII 8771: 182 Α. 67
III
Fontes Iuris Romani Antejustiniani 12 55: 193 Α. 16
Griechische Epigramme auf Sieger an gymnischen und hippischen Agonen ed. Ebert 15: 12 mit A. 25 37: 12 mit A. 29 39: 12 mit A. 27
Inscriptions from the Artemisium - JHS Suppl. 5, 1929, 285-377 112A. 17
Inschriften von Didyma 97a, 5 f.: 12 mit A. 28 151: 214 mit A. 91
Inschriften von Ephesos III 614: 214 mit A. 90
Inschriften von Pergamon 2,437: 214 mit A. 72
Inschriften von Side I, Nr. 55: 203 A. 59
677: 210f. A. 78 8 4 0 : 2 1 7 A . 106 IV 374: 214 mit A. 92
Inscriptiones Latinae Selectae 2 4 4 : 2 3 6 A . 38 9 1 9 8 : 2 1 8 A . 109 9 2 0 0 : 2 2 2 A . 120
Iscrizioni agonistiche greche ed. Moretti 21: 12 mit Α. 29 6 7 : 2 1 2 f . mit Α. 81
Orientis Graeci Inscriptiones Selectae 429: 189 A. 3 544: 189 A. 3
Roman Provincial Coinage Nr. 4030: 198 Α. 40
Senatus Consultum de Cn. Pisone patre ed. Eck u.a. 1. 155 ff.: 149 Α. 108
Supplementum epigraphicum Graecum 35, 1985 (1990), 304,15: 14 mit A. 36