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German Pages 273 Year 2010
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 59
Nachdenken über Staat und Recht Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek Herausgegeben von Martin Hochhuth
a Duncker & Humblot · Berlin
Martin Hochhuth (Hrsg.)
Nachdenken über Staat und Recht
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 59
Nachdenken über Staat und Recht Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek
Herausgegeben von Martin Hochhuth
a Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13177-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der Band dokumentiert eine Tagung, die an der Universität Freiburg am 10. und 11. Oktober 2008 zum sechzigsten Geburtstag des Staats-, Völker- und Umweltrechtslehrers Dietrich Murswiek stattfand. Nur zwei Änderungen ergaben sich, eine erfreuliche und eine bedauerliche: Die Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, Professorin an der Universität Bielefeld, baute einen ihrer zahlreichen und reichhaltigen Diskussionsbeiträge zu einem außerordentlich lesenswerten Aufsatz aus (vgl. S. 193 – 209). Hingegen erscheint leider der Vortrag des Bundesverfassungsrichters und Freiburger Kollegen Johannes Masing „Vielfalt nationalen Grundrechtsschutzes und die einheitliche Gewährleistung der EMRK“ nicht hier, sondern in der Festschrift für den BGH-Anwalt Achim Krämer, Berlin 2009, S. 61 – 74. Als Herausgeber danke ich der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg für einen freundlichen und großzügigen Druckkostenzuschuss. Und als Organisator danke ich noch einmal allen, die durch Referate, Diskussionsbeiträge oder andere Mitarbeit zu dem fruchtbaren Kolloquium beigetragen haben, vor allem auch den beiden zuverlässig zupackenden und umsichtigen Sekretärinnen Dietrich Murswieks, Susanne Nagel und Andrea Bührer. Freiburg im Breisgau, November 2009
Martin Hochhuth
Inhalt Nüchtern und klar trotz Postmoderne. Drei wissenschaftstheoretische Fragen zu Dietrich Murswieks Sechzigstem Von Martin Hochhuth, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Persönlichkeitsschutz im Zeitalter des Internet Von Heinrich Wilms, Friedrichshafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Hegel und der Staat als Vertrag Von Kurt Seelmann, Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Deutschland in Europa – die grundgesetzliche Konzeption deutscher Staatlichkeit Von Christian Hillgruber, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Verfassung jenseits des Staates – Eine Zwischenbilanz Von Rainer Wahl, Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Parlamentskunst. Über das Verhältnis von demokratischer und symbolischer Repräsentation Von Jens Kersten, München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip in der Ordnung des Grundgesetzes Von Hartmut Schiedermair, Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Der Grundrechtsschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention bei konfligierenden Individualrechten – Plädoyer für eine Korridor-Lösung Von Gertrude Lübbe-Wolff, Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die indigenen Völker Nordamerikas und das Selbstbestimmungsrecht Von Dieter Dörr, Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Schriftenverzeichnis von Dietrich Murswiek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Verwendete Abkürzungen von Zeitschriften und Schriftenreihen AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
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Die Öffentliche Verwaltung
DVBl.
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Zeitschrift für Rechtsphilosophie
ZUR
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Nüchtern und klar trotz Postmoderne – Drei wissenschaftstheoretische Fragen zu Dietrich Murswieks Sechzigstem – Von Martin Hochhuth, Freiburg Einleitung Lieber Dietrich, wir treffen uns zur Feier Deines Geburtstages. Aber weil Dir als Wissenschaftler, Juristen und überdies norddeutschem Naturell eine Lobrede vermutlich peinlich wäre (mir auch), gibt es keine. Vielmehr soll schon diese Begrüßung drei rechts- bzw. wissenschaftstheoretische Fragen anreißen. Erste Frage: Verführen bestimmte Aspekte der Postmoderne zur Oberflächlichkeit? Zweitens: Gehört vielleicht auch ein wenig – oder vielleicht sogar ganz tief und grundsätzlich – zur Rechtswissenschaft Oberflächlichkeit? Drittens: Könnte man dann (wenn das so sein sollte) trotzdem als Rechtswissenschaftler auch in diesem Fach mehr sein als scheinen? Eine vierte Frage hingegen wird hier nur erwähnt: Lässt sich die Universitätsreform des laufenden Jahrzehnts vielleicht als postmoderne Reform bezeichnen (nämlich als institutionelle Verführung zur Oberflächlichkeit)?1 1 Zu dieser vierten Frage vgl. Heinrich Anz und Wolfgang Eßbach (ein Befürworter und ein Kritiker der Studienreform), „Strafferes Studium, schnellerer Berufseinstieg / Was bringt die Umstellung auf Bachelor und Master wirklich?“, in: Freiburger Uni-Magazin Heft 4 / 2008, sowie etwa
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I. Postmoderne, „Hinterweltler“ und „Oberflächlichkeit“ Die kritische Moderne als Abgrenzungs-Hintergrund Die moderne Philosophie, die in der Aufklärungsphilosophie gipfelt, lässt sich – einschließlich ihrer Fortsetzungen und Fortsetzungsversuche (bis heute etwa bei Hans Albert oder Jürgen Habermas) – als Kritik verstehen. Sie sah sich selbst so, deutlich etwa im Denken Descartes’ oder Kants (bei Kant sogar ausdrücklich bis in die Buchtitel hinein). Und sie ist auch von den Späteren so aufgefasst und genannt worden, etwa bei der Linken Hegelschule, also bei Feuerbach, Marx und Engels oder bei Max Stirner. Was aber ist die Postmoderne?
Viola Herrmann, „Sackgasse statt Übergang? Die neue Schnittstelle Bachelor-Master“, in: Forschung und Lehre, Heft 1 / 2009, S. 30 – 32 m. w. N.; Harald Wallach, „The Grass is Greener on the Other Side – Or is it, Really? Erfahrungen eines Bulmahn-Flüchtlings an englischen Universitäten“, a. a. O., Heft 3 / 2009, S. 188 – 191; Felix Grigait, „,Erkennen, nicht lernen ist der Zweck der Universität‘. Fragen zur Qualität der Lehre an Friedrich Schleiermacher“, a. a. O., Heft 9 / 2008, S. 592 – 594. – Die Tagung am 10. und 11. Oktober 2008 versuchte, moderne (und eben nicht postmoderne) Wissenschaft zu treiben. Der Kreis der Redner und Diskutanten war kleingehalten, damit alle Vorträge diskutiert werden und alle alles hören konnten. Außer den Autoren dieses Bandes und Dietrich Murswiek beteiligten sich nur noch die drei Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, Johannes Masing (dessen Vortrag in der Festschrift für Achim Krämer, Berlin [de Gruyter Recht] 2009 erschienen ist) und Andreas Voßkuhle sowie die fünf „Nurwissenschaftler“ Alexander Hollerbach, Franz Reimer, Sonja Reimer, Friedrich Schoch und Thomas Würtenberger. Das schuf eine Nachdenklichkeit und Konzentration, die auch die im Saal zuhörenden, zeitweise sehr zahlreichen Studenten und Assistenten fruchtbar fanden. – Zum wissenschaftsfremd außengesteuerten Gegenmodell, das das „Exzellenz“- und Drittmittelsystem befördert, vgl. anschaulich Dieter Thomä, „Sie hören allenfalls noch eigenen Vorträgen zu / Stell dir vor, es ist Tagung und keiner geht hin: Vom Niedergang eines Herzstücks universitären Lebens, das sich in ein bloßes Ritual verwandelt hat“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9. 9. 2009.
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Rückgriffe der Postmoderne auf Nietzsche-, Heidegger- und Benjamin-Motive In der sogenannten Postmoderne kehrt manches wieder, was sich bei den philosophischen Klassikern oder vielmehr Antiklassikern schon findet. Michel Foucault2 etwa nimmt vor allem Nietzsche auf. Bei Jacques Derrida finden sich zentrale Aspekte, Impulse und mitunter sogar die genauen Formulierungen, die schon Martin Heidegger und Walter Benjamin ihre ungeheure Wirkung auf das Denken ihrer Wirkungszeit, auch auf die Politik und die Feuilletons ihrer Wirkungszeit,3 verschafften. – Was aber kehrt da wieder? Es ist, neben manch anderem, das Moderneskeptische und sogar Modernefeindliche, worauf ich die Aufmerksamkeit hinlenken möchte. Normativität der Moderne – „Normativitäts“-Problematik der Postmoderne Jene Moderne, von der zahlreiche postmoderne Autoren sich verabschieden möchten, war und ist aber ein normatives Projekt. „Normativ“ bedeutet ein Sollen, und zwar ein bestimmtes, aufklärerisch hinterfragtes, streng begründbares oder sich um Begründbarkeit doch bemühendes Sollen. Dieser Hintergrund macht verständlich, dass viele postmoderne Überlegungen ausgesprochen antinormative, Sollensfeindliche Züge tragen. Normativ sind ja nicht nur Rechtsvorschriften und moralische Regeln, sondern auch die Denkgesetze, etwa der Logik. Die Postmoderne wendet sich mit dem Abschied von den von ihr sogenannten „großen Erzählungen“ 2 Die beste Übersicht zu Foucault ist von dem Sozialhistoriker HansUlrich Wehler, „Michel Foucault, Die ,Disziplinargesellschaft‘ als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der ,Bio-Politik‘“, in: Wehler, „Die Herausforderung der Kulturgeschichte“, München (Beck) 1998, S. 45 – 95. 3 Damit ist keineswegs gesagt, dass diese Wirkungszeit, d. h. die Epochen der Wirkung der Werke, schon zu Ende sei.
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auch gegen die auf „Objektivität“ zielenden Normen des Denkens. Schon systematische Analyse an sich ist ihr verdächtig. Derrida geht völlig anders vor als ein klassischer Wissenschaftler oder ein Aufklärungsphilosoph. Insbesondere Derridas Dekonstruktion Derridas sogenannte Dekonstruktion ist eine neue Gestalt von Heideggers „Abbau“ oder „Destruktion“. Sie versteht sich als eine Radikalisierung der heideggerschen. Denn Derrida sieht – m. E. im Ansatz richtig –, dass Heidegger selbst noch im Bann von etwas steht, das es, wenn schon – denn schon, gleichfalls zu destruieren gälte. Aber Derrida destruiert auf seine Art, meine ich, geradeso unbefriedigend wie Heidegger. Beider „Destruktion“ bleibt halbherzig und muss es bleiben, weil sie auf keine echte, d. h. nämlich: auf keine systematisch vollständige Entlarvung des Scheins zielen kann. Sie kann das nicht mehr, weil sie die kritische Linie der Philosophie, die in strenger Klarheit von Duns und Ockham, Descartes, Kant und Feuerbach her bis hin zu den beiden radikalen Spielern Stirner und Nietzsche verlaufen ist, einig mit diesen beiden letztgenannten, nicht mehr ernst nimmt. Schon für Stirner ist ausdrücklich alles Denken, auch gerade das kritische, dessen avant-garde er in seiner Zeit war, nur noch Spielmaterial seines bewussten Egoismus. Er spielt damit wie mit allem: den Dingen, den Verhältnissen, den Mitmenschen. Nietzsches Spott und Heideggers Wortkünste Wie sollte man nun aber jene Radikalität Stirners, der selbst das kritische Denken noch im Namen seines situativen freien Ichs kritisierte, noch weiter radikalisieren? – Ein geistiger Sohn Stirners und Vater der Postmoderne, wahrscheinlich ihr wichtigster, ist Nietzsche. Er hat sich über Wissenschaft und systematische Philosophie immer wieder lustig gemacht. Wer dergleichen betreibe, sei ein „Hinterweltler“. Das klingt nach
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Hinterwäldler und soll es auch. Nietzsche bezeichnet damit Narren, die sich mit Hinter-Welten (z. B. mit Meta-Physik) abgeben, Leute wie uns hier in diesem schönen Haus, in diesem 550 Jahre alten elfenbeinernen Turm, die ihren Willen und ihre Lebenszeit damit vergeuden, zu gründeln. (Nietzsche selbst übrigens tat das auch. Der komplizierte, leidende, hypersensible Mann war selbst ein grüblerischer Hinterweltler der genialsten Sorte.) Heidegger hat Nietzsche den „Vollender der Ausweglosigkeit“ genannt. Aber während Nietzsche die Regeln der Akademie offen verspottet und, im Gefolge Stirners, ironisch verwirft, hält Heidegger in Vielem die Regeln äußerlich wieder ein. Trotzdem destruiert er, wie mir scheint, nicht selten gerade so willkürlich wie Stirner und Nietzsche. Aber er trachtet, diese gelegentliche Willkür zu verbergen. Meist verbirgt er sie vermutlich sogar vor sich selbst. – Aber mitunter vielleicht auch nur vor uns Lesern? – Karl Löwith, der hier in Freiburg bei ihm – begeistert4 – studierte und den er später in Marburg habilitiert hat, hat die „Verdächtigung“5, die seinen Lehrer traf, in seinem Heidegger-Buch überliefert, ohne sie sich zu eigen zu machen: „Herabsetzung des Sophisten und Gauklers, der seine Hörer mit Wortkünsten und Orakeln einfängt“.6 Zufall, Spiel, Versuchung zur Gaukelei7, jedenfalls ein Abschied von wissenschaftlicher Seriosität scheinen mir auf Hei4 „Die spürbare Intensität und der undurchsichtige Tiefgang von Heideggers geistigem Antrieb ließ alles andere verblassen und machte uns Husserls naivem Glauben an eine endgültige philosophische Methode abspenstig“ berichtet Löwith (in seinem „Curriculum Vitae“ von 1959, das im Anhang der Neuausgabe von „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 / Ein Bericht“, Stuttgart (Metzler) 2007, S. 182 ff. wieder abgedruckt ist, S. 183). 5 Vgl. am Schluß seines Buches, „Heidegger – Denker in dürftiger Zeit“, 2., erweiterte Aufl., Göttingen (Vandenhoeck) 1960, S. 107 (in der ersten Aufl. Frankfurt [Fischer] 1953 fehlt das ganze Kapitel noch); in der Löwith-Gesamtausgabe Bd. 8 findet die Stelle sich auf S. 229 (Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart [Metzler] 1984). 6 A. a. O.
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deggers Weg und dem vieler postmoderner Autoren unvermeidlich. Denn Heideggers „kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind“8, gibt mit jenen Begriffen und der Systematik ihres Gebrauchs ja überhaupt das Werkzeug der geistigen Emanzipation aus den Händen. Damit ist sie aber, anders als noch bei Stirner und Nietzsche, Pseudokritik. Es macht sie zum gefährlichen Schein-Ersatz für die echte Kritik, die scheinbar überwunden wird. Erst recht hilflos unterwirft der „Grammatologe“ Derrida sich der eigenen intuitiven Willkür angesichts der Texte, denen er in die Hände fällt.9
7 Vgl. etwa in „Sein und Zeit“ die etymologisierenden Beweiserschleichungen in § 7 (S. 27 – 39 der Ausgabe Tübingen [Niemeyer] 1986) bei der Herleitung des Heideggerschen Begriffs von „Phänomenologie“. Dazu im Einzelnen die Anmerkung 1238 (S. 405 f.) in: Verf., „Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts“, Baden-Baden (Nomos) 2000. 8 So definierte Heidegger „Destruktion“ in § 5 seiner Marburger Vorlesung von 1927, „Die Grundprobleme der Phänomenologie“. Vgl. dens., dass. Frankfurt am Main (Klostermann) 2005 (text- und seitengleich mit der 3. Auflage des Bandes 24 der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe), S. 31. Es ist ausführlich gezeigt worden, wie bei Heidegger „durch die Hintertür der freien Subjektivität das Wesensgegrübel wieder [hereinnebelt], Mystizismus, Spekulation samt ihren Verstiegenheiten, die Kant doch eben zur Vordertür hinaus-analysiert hatte.“ (vgl. dazu u. a. den § 11 „Arbeitsbegriff Existenzialismus“, und dort insb. den Abschnitt „Substanzdenken und neue Dunkelheit“ [S. 405 f.] in der in der vorigen Fußnote zitierten „Relativitätstheorie“). 9 Zur verbreiteten Gegenposition, wonach Derrida, anders als etwa Baudrillard u. a., „den Impuls der kritischen Aufklärung aufrechterhält, auch dort, wo er die Tradition einer totalen Revision ihrer fundierenden Begriffe und Kategorien“ unterwerfe, vgl. etwa: Jürgen Habermas, Jacques Derrida, „Philosophie in Zeiten des Terrors / Zwei Gespräche, geführt und kommentiert von Giovanna Borradori“, 2. Aufl., Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2006, S. 228 (mit Berufung auf Christopher Norris, „Uncritical Theory“).
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Thematische Ortungen der Postmoderne – und das Gute an der „Oberflächlichkeit“ Zur nicht kritisch, sondern zunächst ganz neutral verstandenen „Oberflächlichkeit“ der Postmoderne trägt aber noch etwas Anderes bei. Sie ist stark von der Ästhetik, von der Kunstwissenschaft, von der Architektur, der Sprachwissenschaft, aber auch von der Psychoanalyse beeinflusst. In all diesen Fächern gibt es gute Gründe, gerade die Oberfläche ernstzunehmen. Für die Ästhetik als die Wissenschaft vom Schönen leuchtet das ein. Ebenso für die Kunstwissenschaft, die Architektur oder Sprachwissenschaft, die es ja mit Formen, mit sicht- oder hörbaren Äußerungen zu tun haben. Und selbst die Psychoanalyse soll ja nicht nur verstehen, sondern vor allem heilen. Darum kann es Gründe geben, die tiefenpsychologische Auslotung des Gemütes abzubrechen und stattdessen eine plausible Geschichte „zu erfinden“. Eine Geschichte, die hilft, dass der Patient (ob die Geschichte nun wahr oder erdacht sei) „lieben und arbeiten“ kann, wie Gründervater Freud das Ziel seiner Wissenschaft benannte. Ist solch erfinderischer Pragmatismus, wie Johannes Cremerius ihn seinen Studenten anriet, nicht, in einem wertfreien, ja guten Sinne, oberflächlich?
II. Recht und „Oberflächlichkeit“ In einem ähnlichen, entfernt vergleichbaren Sinne wie die Techniken der Sprache, der Kunst und der Therapie ist auch das Recht „nur“ eine „Benutzeroberfläche“. Darum zielt, ein Stück weit, auch die Rechtswissenschaft auf erfolgreiche „Oberflächlichkeit“ ab. Klassische substantielle Rechtsverständnisse Ist das ernst gemeint? Ist das Recht nicht (nach Radbruch) substantiell „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtig-
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keit zu dienen“10, die „Mathematik (der Geisteswissenschaften und vornehmlich) [der] Ethik“11, wie Hermann Cohen, „die Kerngrammatik des menschlichen Zusammenlebens“12, wie Otfried Höffe formuliert? Keine dieser drei überzeugenden Definitionen hat mit Oberflächlichkeit zu tun. Trotzdem würde wohl keiner der drei Autoren widersprechen. Oberflächlichkeit heißt: Weil es beim Recht ums Funktionieren geht, können und müssen sehr viele Fragen auf sich beruhen. Tiefgründiges wird nur soweit erforscht, wie es für die zu fällende Entscheidung einen Unterschied machen kann. Unvermeidliche Ausblendungen in der Praxis Dieses Ausblenden, vielleicht auch Verblenden lernt, wer unter Zeitdruck Urteile oder juristische Klausuren schreibt. Hier nähert mancher praktische Jurist sich mitunter ein wenig dem gehetzten Journalisten an, anders, als es die Wissenschaft erlaubt, die ja andere Ziele hat als ein Gerichtsverfahren.13 10 Vgl. diese Auffassung Radbruchs etwa in seiner „Rechtsphilosophie“ von 1932 (neu hrsg. v. Ralf Dreier und Stanley Paulson, Heidelberg [C. F. Müller] 1999), wo Radbruch auf S. 12 bestimmt: „Recht kann nur begriffen werden im Rahmen des wertbeziehenden Verhaltens. Recht ist Kulturerscheinung, d. h. wertbezogene Tatsache. Der Rechtsbegriff kann nicht anders bestimmt werden denn als die Gegebenheit, die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen. Recht kann ungerecht sein (summum ius – summa iniuria), aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht zu sein.“ (In der von Arthur Kaufmann herausgegebenen Gesamtausgabe Band 2, S. 227). So auch S. 34: „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen. Der Rechtsbegriff ist also ausgerichtet an der Rechtsidee. Die Idee des Rechts kann nun keine andere sein als die Gerechtigkeit.“ (= S. 255, 256 der Gesamtausgabe a. a. O.). 11 Hermann Cohen, „Ethik des reinen Willens“, Berlin (Bruno Cassirer) 1904, S. 62 f., vgl. auch S. 412. 12 Otfried Höffe am 25. 9. 2008 in seinem Vortrag „Rechtsphilosophie als politische Philosophie“ auf der Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Tübingen, 2008. 13 Die zahlenmäßige Größe des „Wissenschaftsbetriebs“ verführt zum Versuch, die Qualität der Wissenschaftler quantitativ zu messen. Während
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Vielleicht erklären diese Analogien, warum nicht nur viele Geistes- und Kunstwissenschaftler, sondern auch Rechtswissenschaftler der postmodernen Mode Respekt zollen, während Naturwissenschaftler sich – sofern sie sich überhaupt mit Theorie beschäftigen – eher darüber lustig machen: A load of old tosh, wie ein vernichtendes Zitat aus dem Guardian lautet, das Sokal / Bricmont wiedergeben, wonach die ganze „neue französische Philosophie“ (eben die sogenannte Postmoderne) nur „ein Haufen alter Quatsch“ sei.14 das für die Qualität der Lehre etwa über Hörergeld u. ä. teilweise noch möglich ist, ist es für die Qualität der Forschung leider unmöglich. Vgl. zu einigen wenigen Folgen der gleichwohl unternommenen Messungs-Versuche den oben (Fn. 1) zitierten Artikel von Dieter Thomä. 14 Alan Sokal und Jean Bricmont setzen dieses Zitat (aus der Überschrift des Guardian-Artikels von Jon Henley vom 1. 10. 1997 [dort S. 3]) zwar an den Anfang ihres Vorworts zur deutschen Ausgabe von „Eleganter Unsinn / Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen“, München (dtv) 2001, S. 9. (Auf Französisch war das Buch zuerst 1997 in Paris unter dem Titel Impostures Intellectuelles, auf Englisch 1998 in New York als Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectual’s Abuse of Science erschienen. Henleys Text hieß: Euclidean, Spinozist or existentialist? Er, no. It’s simply a load of old tosh. [Hier zitiert nach der genannten deutschen Ausgabe von Sokal / Bricmont, S. 337].) Sokal / Bricmont distanzieren sich allerdings von diesem Henley’schen Resümee ihres Buches. Nicht das hätten sie zeigen wollen, sondern: „Wir wollten allgemeinverständlich erklären, warum die Zitate (prominenter französischer und amerikanischer Intellektueller) absurd oder, in vielen Fällen, einfach sinnlos sind, und wir wollten auch das kulturelle Umfeld beleuchten, das es möglich machte, dass diese Abhandlungen ein solches Ansehen erlangten und, bislang jedenfalls, unwidersprochen blieben.“ Und: „Wir zeigen auf, dass berühmte Intellektuelle wie Lacan, Kristeva, Irigaray, Baudrillard und Deleuze wiederholt mit wissenschaftlichen Ideen und Begriffen Mißbrauch getrieben haben, indem sie wissenschaftliche Konzepte ohne jede Rechtfertigung völlig aus dem Zusammenhang rissen – wir sind nicht grundsätzlich dagegen, dass Konzepte von einem Gebiet in ein anderes übertragen werden, sondern wenden uns nur gegen nicht nachvollziehbare Übertragungen – oder indem sie gegenüber ihrer fachlich nicht vorgebildeten Leserschaft mit Wissenschaftsjargon um sich warfen, ohne sich um dessen Relevanz oder gar Bedeutung zu kümmern. Wir behaupten nicht, dass ihre übrige Arbeit dadurch entwertet sei; darüber enthalten wir uns jeden Urteils.“ (a. a. O., S. 3 f.). Im Folgenden weisen sie allerdings noch mehr Ansichten, Postulate und „Ergebnisse“ der ebengenannten sowie anderer derzeit bekannter Philosophen und „Philosophen“ jener Strömung zurück.
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III. Trotzdem mehr sein als scheinen Aber hat denn Nietzsche nicht recht, mit seiner Ironie gegen alteuropäische „An-sich“-Fragen und „Eigentlichkeits“Forschungen? Und zielt denn das Recht nicht eher auf Akzeptanz als auf Gerechtigkeit? Gehört denn nicht das „Klappern zum Handwerk“? In der Postmoderne übertönt aber die Außendarstellung – das Klappern – das Handwerk; der betriebswirtschaftlich begründete Reklameradau der Universitäten bedroht die Wissenschaft selbst. Zum Typus Dietrich Murswiek passt das schlecht, so schlecht wie zu meinem Doktorvater, Herrn Hollerbach, zu den Herren Böckenförde, Wahl, Würtenberger und vielen anderen vom – in diesem Sinne – altmodischen Schlag. Dietrich Murswiek, von dessen Arbeiten ich die meisten kenne, ist postmodernen Gefahren – jedenfalls in keinem dieser Texte – je erlegen. Und das, obwohl er zwei der „Benutzeroberflächen“, die unser Leben strukturieren, ziemlich meisterlich beherrscht: die Jurisprudenz, und die schnörkelfrei-nüchterne und gerade dadurch oft elegante Sprache, in der er darüber schreibt. Trotz dieser beiden Oberflächenkünste ist er sich der Abgründe, über die wir als Juristen hinwegschreiten, bewusst und spricht sie an; ohne zu beschönigen, aber auch ohne zu übertreiben. Dietrich Murswieks körperlich wie geistig anspruchsvoll disziplinierte Lebensweise lässt uns hoffen. Wir hoffen, auch wenn der Hochsommer Deines Lebens in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren allmählich doch wohl unvermeidlich in den Spätsommer wird übergehen müssen, – dass Du uns doch auch noch in diesen beiden Phasen (dem späten Hochsommer und dem eigentlichen Spätsommer), und erst recht dann im Herbst, so ab 2028 / 2030, noch unzählige durch Klarheit schöne Entwürfe und Einwürfe, Einsichten, Fragen, Polemiken und Kritiken zu hören und zu lesen gibst.
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Aber darüber – also über Deine Agenda 2020, 2030 und 2040 – reden wir dann noch mal gesondert, hoffe ich. Wahrscheinlich hier.
Persönlichkeitsschutz im Zeitalter des Internet Von Heinrich Wilms, Friedrichshafen I. Problemstellung 1. Problemfelder im Bereich des Internet Durch die Entstehung des Internet, das im Hinblick auf Bedeutung und Verbreitung in den letzten zwanzig Jahren offenbar einen medialen Siegeszug in der Welt angetreten hat, wurde eine Reihe von Problemkreisen hervorgerufen, die sowohl der nationalen als auch der internationalen Rechtsordnung bisher fremd waren.1 Darunter finden sich einige tatsächliche Problembereiche, die durch ihre unabsehbaren Folgen von besonderer Bedeutung sind. Durch den Siegeszug der digitalen Technik, also der Computertechnik insgesamt, ist es heutzutage möglich, komplexe Ideen, Erkenntnisse und Strukturen mit minimalem Aufwand weltweit zu verbreiten. Baupläne und Schaltkreise eines ganzen Kernkraftwerks, ganzer Fabriken und technischer Anlagen können, wenn sie in entsprechend digitaler Form vorliegen, mit einer einfachen E-Mail weltweit versandt werden. Auf Computern, deren Standort irgendwo in entfernten Gebieten liegt, können Inhalte bereitgestellt werden, die in anderen Staaten rechtlich unzulässig sind, ohne dass eine effektive Rechtsverfolgung möglich ist.2 1 Siehe zu den aktuellen Rechtsfragen Hoffmann, Die Entwicklung des Internet-Rechts bis Mitte 2008, NJW 2008, 2624; ders., Die Entwicklung des Internet-Rechts bis Mitte 2007, NJW 2007, 2594; ders., Die Entwicklung des Internet-Rechts bis Mitte 2006, NJW 2006, 2602; ders., Internetrecht 2005, DSWR 2005, 63.
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An dieser Stelle können drei typische Fallgruppen internetbasierter Rechtsverletzungen unterschieden werden, die besondere rechtliche Probleme aufwerfen. Die erste Fallgruppe betrifft Handlungen, die gegen fremdes geistiges Eigentum gerichtet sind. Hierzu zählt vor allem das Kopieren von Filmen, Büchern oder Musik, der Nachbau patentrechtlich geschützter Produkte, die Verletzung von Namensrechten (Domains), Kennzeichen und Marken („Markenpiraterie“).3 Eine Rechtsverletzung kann ferner in der Verbreitung von Inhalten liegen, deren Besitz oder Weitergabe in den meisten Ländern (straf-) rechtlich verfolgt wird, wie z. B. Kinderpornographie, gewaltverherrlichende Darstellungen, Aufrufe zur Gewalt und Anleitungen zur effektiven Gewaltagitation, etwa durch Bombenbau oder Verbreitung von Terrorstrategien.4 Als Verletzungshandlung kommt schließlich die Onlineverbreitung von Inhalten, die in die Persönlichkeitsrechte von Privatpersonen eingreifen, in Betracht.5 2 Vgl. Junker, Zur internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte aufgrund von im Inland abrufbarer Internetangebote ausländischer Dienstleister, CR 2005, 361; Reber, Die internationale gerichtliche Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Urheberrechtsverletzungen, ZUM 2005, 194. 3 Hierzu Hülsewig, Rechtsschutz gegen die unberechtigte Nutzung von Domains im Internet, JA 2008, 592; Seichter, Die Verfolgung von Verletzungen geistiger Eigentumsrechte durch Verbraucher im Internet, VuR 2007, 291; Zombik, Der Kampf gegen Musikdiebstahl im Internet, ZUM 2006, 450; Schreibauer / Mulch, Neuere Rechtsprechung zum Internetrecht – Zeichen-, Urheber-, Wettbewerbsrecht und Verantwortlichkeit, WRP 2005, 442; Johannes, Markenpiraterie im Internet, GRUR Int 2004, 928. Ausführlich zum Schutz des Domain-Namens Müller, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 12 BGB Rdnr. 28 ff. und Vorb. MarkenG Rdnr. 30 ff. 4 Vgl. zur internationalen Dimension der Internetkriminalität Gercke, Einführung in das Internetstrafrecht, JA 2007, 839. 5 Vgl. Berberich, Zur Haftung eines Internet-Forenbetreibers für Persönlichkeitsrechtsverletzungen, NJ 2007, 466; Jürgens / Köster, Die Haftung von Webforen für rechtsverletzende Einträge, AfP 2006, 219; Libertus / Schneider, Zur Haftung des Betreibers eines Internetforums für Störaufrufe von Nutzern gegen einen Internetdienst, ZUM 2006, 487; Helle, Persönlichkeitsverletzung im Internet, JZ 2002, 593.
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Bei allen genannten Fallgruppen bestehen unterschiedliche Interessenlagen. Einmal sind Tathandlungen problematisch, deren Verhinderung in einem ganz spezifischen Interesse einer bestimmten nationalen Rechtsordnung liegt, wie dies z. B. bei der Verfolgung und Verhinderung nationalsozialistischer Propaganda durch die Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Die Bundesrepublik hat in diesem Bereich aus historischen Gründen eine spezifische Strafrechtsstruktur, die sehr viele andere Länder nicht teilen. So sieht man z. B. in Skandinavien, in den Vereinigten Staaten, teilweise sogar in Israel bestimmte Äußerungen durch das Schutzgut der Meinungsfreiheit, das dort jeweils national definiert ist, als gesichert an, so dass eine entsprechende Publikationsverhinderung in diesen Ländern nicht möglich wäre. Die Bundesrepublik kann hier einen effektiven Rechtszugriff auf Informationen, die über das Internet aus anderen Staaten zu uns dringen, nicht gewährleisten. Bei anderen Tathandlungen kann zwar wohl von einer internationalen Ächtung gesprochen werden. Dies gilt z. B. für die Verbreitung von Kinderpornographie, die Publizierung extremer Gewaltdarstellungen oder die Anleitung und Förderung krimineller Handlungen, wie etwa dem Bau von Bomben bei der Planung terroristischer Angriffe. Auch wenn es hier möglicherweise einen internationalen Konsens gibt, derartige Verbreitungen nicht zu wollen, muss man sich gleichwohl darüber im Klaren sein, dass es Staaten gibt, die an der untersten Schwelle der Armut existieren und für die sich hier neue wirtschaftliche Möglichkeiten auftun, indem sie Privatpersonen gestatten, derartige Inhalte von ihrem Territorium aus zu verbreiten. Die meisten Server, die in diesem Sinn problematische Inhalte vorhalten, finden sich in Schwarzafrika, in manchen Staaten Asiens oder in Ozeanien. Typischerweise sind dies arme Staaten mit einer schwachen Rechtsordnung und nur gering ausgeprägten demokratischen Strukturen, falls sie solche Strukturen überhaupt besitzen. Die rechtlichen Probleme, die die Existenz des Internet aufwirft, sind insgesamt zu vielschichtig, als dass sie hier auch
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nur angerissen werden könnten. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich daher auf Fragen des Persönlichkeitsschutzes von Privatpersonen, also die dritte der genannten Fallgruppen. 2. Insbesondere: Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Das Internet gibt die Möglichkeit, beliebige Inhalte ohne größeren Aufwand weltweit zu publizieren, selbst wenn nur eine einzige Privatperson als Initiator dahinter steht. Bedingt durch die Schlichtheit der Technik, die für Onlinepublikationen benötigt wird, hat sich in den letzten Jahren eine befremdliche Publikationskultur entwickelt. So hat sich die Rechtsprechung bereits wiederholt mit Bewertungsplattformen wie „spickmich.de“6 befasst, die sich bei jüngeren Internetusern zunehmender Beliebtheit erfreut. Bei dieser als Schüler-Portal konzipierten Website können angemeldete Nutzer Bewertungen über ihre Lehrer im Internet abgeben, was häufig mit abschätzigen Äußerungen über die Betroffenen einhergeht. Auch Studenten können auf Portalen wie „meinprof.de“7 die Leistungen ihrer Professoren benoten, indem sie in den Kategorien „Fairness“, „Unterstützung“, „Material“, „Verständlichkeit“, „Spaß“, „Interesse“ und „Note / Aufwand“ Zensuren zwischen eins und fünf vergeben und am Ende eine grundsätzliche Empfehlung für oder gegen den Dozenten ausspre6 Zu „spickmich.de“ zuletzt LG Duisburg vom 18. April 2008 – 10 O 350 / 07; grundlegend OLG Köln vom 27. November 2007, NJW-RR 2008, 203; hierzu Ladeur, Die Zulässigkeit von Lehrerbewertungen im Internet, RdJB 2008, 16; Dorn, Lehrerbenotung im Internet, DuD 2008, 98; Plog, Zur Zulässigkeit eines Bewertungsportals für Lehrer („spickmich.de“), CR 2007, 668; Greve / Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, 644. 7 Siehe zur Haftung des Betreibers einer Online-Bewertungsplattform für Hochschullehrer („meinprof.de“) für herabsetzende Beiträge über einen Professor, LG Berlin vom 31. Mai 2007, CR 2007, 742; zur datenschutzrechtlichen Bewertung Schilde-Stenzel, „Lehrerevaluation“ oder Prangerseite im Internet – www.meinprof.de, RDV 2006, 104; Greve / Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, 644.
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chen, die in einem Kommentarfeld gegebenenfalls begründet werden kann. Darüber hinaus finden sich im Internet vermehrt sog. Hassoder Racheseiten, auf denen negative Darstellungen über unliebsame Personen veröffentlicht werden. Zumeist sind dies Personen des öffentlichen Interesses, wie Politiker, Schauspieler oder Musiker. Manchmal sind es aber schlicht Privatpersonen, über die unangenehme Geschichten im Internet verbreitet werden, um die Betroffenen in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Zu diesem Zweck werden mitunter auch privat aufgenommene Bilder, wie z. B. Nacktfotos von Verflossenen ins Netz gestellt. Gelegentlich werden in Internetforen und auf privaten Websites auch nur Informationen über bestimmte Personen weitergegeben, deren Wahrheitsgehalt unstreitig ist, und die für die Betroffenen lediglich unangenehm sind. Allerdings ist fraglich, ob das Erzählen einer realen Lebensgeschichte oder das Berichten über individuelle Umgangsformen tatsächlich von Dritten publiziert werden kann und darf. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit der Einzelne ein Recht hat zu bestimmen, was und in welchem Umfang über ihn berichtet wird, auch wenn das, was berichtet wird, wahr ist. Aber selbst bei in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich unzulässigen Veröffentlichungen ist der Rechtszugriff auf unwahre, denunziatorische oder intime Publikationen in der internationalen Welt des Internet äußerst schwierig. Hierfür ein Beispiel: Auf einem kalifornischen Server wird eine Homepage vorgehalten, auf der man in Verbindung mit einer Ortskarte Mitteilungen über unliebsame Nachbarn hinterlassen kann. Jedermann kann dort einsehen, welche Mitteilungen möglicherweise über seinen unmittelbaren Nachbarn verfügbar sind. Dies ist natürlich auch von Deutschland aus möglich. Die Mitteilungen können auch in deutscher Sprache verfasst werden. Es ist sogar möglich, sie anonym zu hinterlassen. Ein rechtlicher Zugriff von Deutschland aus auf die Urheber dieser Mitteilungen ist praktisch ausgeschlossen.8
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II. Besonderheiten bei Persönlichkeitsverletzungen im Internet Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die unter Zuhilfenahme des Internet erfolgen, weisen Besonderheiten gegenüber Verletzungen durch die „herkömmlichen“ Medien auf. Das Internet, dessen Entstehung man ungefähr auf das Jahr 1982 datieren kann, geht auf ein Projekt des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums zurück, das zum Ziel hatte, Universitäten und Forschungseinrichtungen, insbesondere Rechner, die weit voneinander entfernt liegen, miteinander zu verbinden, um dadurch Forschungsressourcen zu erhöhen.9 In seiner heutigen Struktur ist es ein den ganzen Globus umspannendes Netz, das theoretisch jedem offen steht, der über die technischen Zugangsmöglichkeiten verfügt. Im Internet ist jeder beliebige Inhalt veröffentlichungsfähig, sofern er in einer digitalen Struktur darstellbar ist, seien dies Bilder, Töne oder bloße Texte. Zur Verbreitung publizistischer Erzeugnisse war ursprünglich wegen der besonderen technischen Voraussetzungen – man benötigt Druckmaschinen und dergleichen – ein gewisser technischer Aufwand erforderlich. Das brachte es mit sich, dass nicht jeder ohne weiteres Presse betreiben konnte. Im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht verhielt es sich so, dass man davon ausgehen konnte, dass ein Presseartikel, nachdem er publiziert wurde, ohne weiteres wieder verschwindet und in Vergessenheit gerät. Im digitalen Zeitalter 8 Ausführlich zu den tatsächlichen und rechtlichen Grenzen des Zugriffs auf Inhalte, die nicht im Inland eingestellt worden sind, Fink, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, 1. Teil: Allgemeines, Rdnr. 94 ff. Zum Erfolgsort im Inland beim Einstellen von Äußerungen in das Internet auf ausländischen, Internetnutzern in Deutschland zugänglichen Servern: BGH vom 12. Dezember 2000, BGHSt 46, 212. 9 Das Internet – nicht zu verwechseln mit dem world-wide-web (www) – ging ursprünglich aus dem im Jahr 1969 entstandenen ARPANET hervor, einem Projekt der Advanced Research Project Agency (ARPA). Das WWW wurde 1989 in Genf bei Cern von Tim Berners-Lee entwickelt.
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sind die Strukturen jedoch völlig anders. Zum einen bedarf es zum Publizieren nicht des großen technischen Aufwands, der früher erforderlich war. Jeder kann eine Website einrichten und durch einfaches Schreiben auf dem Computer die Inhalte dieser Website weltweit ohne jeden Aufwand zugänglich machen, und das sozusagen in Echtzeit. Kein Presseunternehmen der Vergangenheit hatte derartige publizistische Möglichkeiten. Das bedeutet, dass „Publikation“, wenn man den Begriff „Presse“ vermeiden will, heute unbegrenzt und durch jedermann ohne technischen Aufwand durchgeführt werden kann. In den Zeiten einer klassischen Pressepublikation waren unrichtige oder auch nur negative, von der Meinungsfreiheit gedeckte Berichte über Personen für die Betroffenen zwar auch ärgerlich. Die Kenntnis des jeweiligen Artikels und der damit verbundene negative Eindruck verblassten aber im Laufe der Zeit, so dass man mit einem gewissen Abstand mit einer derartigen Berichterstattung leben konnte. Mit dem Internet befinden wir uns demgegenüber in einer völlig neuen technischen Situation. Die Besonderheit des Internet besteht darin, dass Meinungen und Informationen auf eine technisch sehr einfache Weise durch jedermann, auch eine Einzelperson, publizierbar sind, diese Publikation praktisch ohne Kosten möglich ist, die Veröffentlichungen sofort weltweit zur Verfügung stehen und die Zurverfügungstellung mit einem unbegrenzten Zeithorizont erfolgt. Diese spezifische Situation der Internetpublikation macht klar, dass Veröffentlichungen im Internet einen wesentlich größeren Schaden anrichten können, als dies z. B. bei Pressemitteilungen oder Fernsehsendungen der Fall ist. Hinzu kommt, dass infolge der unbegrenzten Archivierung der Internetpublikationen die Inhalte praktisch für alle Zeiten zur Verfügung stehen.10 Selbst wenn der rechtsverletzende 10 Vgl. hierzu von Petersdorff-Campen, Persönlichkeitsrecht und digitale Archive, ZUM 2008, 102; Verweyen / Schulz, Die Rechtsprechung zu den „Onlinearchiven“, AfP 2008, 133.
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Originalartikel tatsächlich aus dem Internet entfernt wurde, können die Archivseiten mithilfe von Suchmaschinen noch Jahrzehnte später ausfindig gemacht und von jedermann zeitlich unbegrenzt eingesehen werden.11 Um einen Presseartikel nachzulesen, musste man sich früher in das Archiv einer Zeitung begeben. Dies war mit einem erheblichen Aufwand verbunden, was letztlich dazu führte, dass der Verbreitungsgrad der Presseartikel zeitlich gesehen eine sehr viel geringere Dimension hatte und der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht in derselben Art und Weise tangiert gewesen ist. Heute ist das vollständig anders. Es gibt überhaupt keine zeitliche Grenze für Publikationen mehr, es gibt auch keine technische Grenze mehr. Theoretisch kann jedermann mit Hilfe des Internet über seinen Nachbarn herfallen und ihn uferlos diskreditieren. Aufgrund dieser tatsächlichen Gegebenheiten erhalten Onlinepublikationen eine völlig andersartige Qualität als die klassischen Publikationen. Auf diese neue Situation kann die Rechtsordnung nicht mehr mit den bisherigen Kriterien und Einordnungen des Rechtsschutzes im Bereich der Felder Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts reagieren. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Internet, nomen est omen, ein internationales Netz ist. Bei der Frage nach der Reaktion der Rechtsordnung auf Persönlichkeitsverletzungen ist daher auch zu untersuchen, ob die nationalen Rechtsordnungen überhaupt ein geeignetes Instrumentarium für einen möglichen Rechtsschutz darstellen können. Bevor auf die nationale Rechtslage eingegangen wird, stellt sich zunächst die Frage, welche rechtliche Organisationsstruktur das Internet überhaupt aufweist.
11 Siehe hierzu Ott, Erfüllung von Löschungspflichten bei Rechtsverletzungen im Internet, WRP 2007, 605; Spieker, Verantwortlichkeit von Internetsuchdiensten für Persönlichkeitsrechtsverletzungen in ihren Suchergebnislisten, MMR 2005, 727.
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III. Das Internet unter Gesichtspunkten des internationalen Rechts Es mag erstaunen, aber das Internet selbst hat keine rechtlich gesicherte Organisationsform. Um an dem weltweiten Netz als Nutzer teilnehmen zu können, bedarf es lediglich einer individualisierten Adresse für den Computer, mit dem man Kontakt zum Internet aufnehmen will, ähnlich einer Telefonnummer. Diese sog. IP-Adressen werden von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) vergeben.12 Mittlerweile erfolgt die Verteilung durch regionale Registrierstellen. Für Europa ist das RIPE Network Coordination Centre (RIPE NCC) zuständig.13 Vom Benutzer wird die zugeteilte IP-Adresse mit einer sog. Domain-Bezeichnung wie z. B. www.uni-konstanz.de verknüpft, die man im Wesentlichen frei wählen kann. Um die Individualität der Adresse zu gewährleisten – das ist erforderlich, da es auch keine doppelten Telefonnummern geben kann – bedarf es einer Registrierung dieser Adresse. Die Registrierung wird gewährleistet durch private nationale Registrierungsorganisationen. In Deutschland ist dies die DENIC Domain Verwaltungs- und Betriebsgesellschaft e.G. mit Sitz in Frankfurt am Main (DENIC). Ihr obliegt die Registrierung aller Domains, die unterhalb der Top Level Domain „.de“ vergeben werden.14 Über allen nationalen Registrierungsorganisationen steht als Oberorganisation die bereits erwähnte ICANN. Sie untersteht dem US-amerikanischen Handelsministerium, also der US-Regierung. Die nationalen Regierungen sind, ebenso wie zwischenstaatliche Organisationen, lediglich beratend im sog. Governmental Advisory Committee 12 Nähere Informationen unter http: //www.icann.org/en/about/. Siehe zu Rechtsfolgen und Aufgaben der ICANN Fink, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, 1. Teil: Allgemeines, Rdnr. 85 ff. 13 Nähere Informationen unter http: //www.ripe.net/info/ncc/index. html. 14 Vgl. zu den Aufgaben der DENIC http: //www.denic.de/de/denic /wir_ueber_uns/index.html.
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(GAC) zugelassen.15 Eine gesetzliche Grundlage existiert hier ebenso wenig wie ein internationales Abkommen. Theoretisch wäre die US-Regierung durch die Sperrung der nationalen Domain „.de“ in der Lage, Deutschland vom Netz zu trennen und damit die deutsche Wirtschaft mit einem Schlag auf das Schwerste zu schädigen. Auch die Abschaltung einzelner Domains durch die Registrierungsorganisationen ist rechtlich jederzeit möglich. Ein internationaler Rechtsstandard hinsichtlich der Verwaltung des Internet besteht nicht. Für einzelne inhaltliche Bereiche ist inzwischen versucht worden, internationale Regelungen zu entwickeln. Eine Reihe von Abkommen verwaltet die World Intellectual Property Organization (Weltorganisation für geistiges Eigentum – WIPO)16 mit Sitz in Genf, welche 1967 gegründet wurde, um die Rechte des geistigen Eigentums global zu fördern. Sie ist seit 1974 eine Teilorganisation der Vereinten Nationen. Von den Verträgen, die für das Internet von Bedeutung sind, ist hier in erster Linie das Urheberrechtsabkommen der WIPO (WIPO Copyright Treaty – WCT) vom 20. Dezember 1996 zu nennen.17 Der Hauptunterschied zwischen Verträgen, welche von der WIPO verwaltet werden, und solchen der WTO (World Trade Organization) besteht darin, dass WTO-Verträge von allen Mitgliedern übernommen werden müssen; für WIPO-Verträge gilt dies hingegen nicht. Folglich gab und gibt es starke Bestrebungen insbesondere der großen Industrienationen, Verträge, die eigentlich in den Bereich der WIPO fallen, unter das Regime der WTO zu stellen. Ein Beispiel hierfür ist das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum, das sog. TRIPS-Abkommen vom 15. April 1994 (Agreement on Trade-Related Aspects of Intel15 Siehe zu den Prinzipien des GAC http: //gac.icann.org/web/index. shtml. 16 Zu den Zielen und Aktivitäten der WIPO http: //www.wipo.int /about-wipo/en/what/. 17 Volltext unter http: //www.wipo.int/treaties/en/ip/wct/trtdocs_wo 033.html.
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lectual Property Rights).18 Weitere Gründe für diese Bestrebungen sind darin zu sehen, dass Verstöße gegen WTO-Vorschriften mit Handelssanktionen geahndet werden können und die Entwicklungsländer hier – im Gegensatz zur WIPO – keine gleichen Stimmrechte haben. So ist erst kürzlich der unter dem Dach der WIPO geplante Substantive Patent Law Treaty am Widerstand der Entwicklungsländer zumindest vorerst gescheitert.19 Der Europarat hat am 23. November 2001 in Budapest das sog. Cybercrime-Abkommen verabschiedet, welches am 1. Juli 2004 in Kraft getreten ist.20 Erfasst sind dort das unbefugte Eindringen in fremde Netzwerke und Dateien („Hacken“), Urheberrechts-Verstöße (darunter Software-Piraterie), die Verbreitung von Kinderpornographie sowie Verbrechen, die unter Ausnutzung von Computer-Netzwerken begangen werden können (Betrug, Geldwäsche, Vorbereitung terroristischer Akte). Darüber hinaus gibt es weitere Verhandlungen über Abkommen gegen Internet-Piraterie, die sich in erster Linie mit dem Schutz geistigen Eigentums befassen. Hier sind aktuell die Verhandlungen über das sog. Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) zu nennen, die allerdings, wie vielfach kritisiert wird, im Verborgenen ablaufen. Die USA wollen dieses Übereinkommen als Handelsabkommen mit der EU und weiteren wichtigen Handelspartnern der G8 (Korea, Schweiz, Mexiko, Neuseeland) schließen. Das Abkommen richtet sich zwar zuvörderst gegen Produktpiraterie im Allgemeinen, betrifft jedoch durch die vielfältigen interglobalen Vertriebsmöglichkeiten, die das Internet als Plattform bietet, unmittelbar auch das Internet selbst.21 18 Volltext und Materialien unter http: //www.wto.org/English/tratop_ e/TRIPS_e/trips_e.htm. 19 Ausführlich zur Rechtsentwicklung http: //www.wipo.int/patentlaw/en/harmonization.htm. 20 Convention on Cybercrime, ETS No. 185, Volltext unter http: //conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/185.htm.
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Internationale Regelungen zum Schutz von Persönlichkeitsrechten, der persönlichen Selbstbestimmung oder auch des Datenschutzes existieren – abgesehen von der EMRK, die aber keine globale Geltung hat22 – nicht und sind – soweit ersichtlich – auch nicht geplant. Um einen halbwegs akzeptablen Rechtsstand herbeizuführen, bedürfte es eines internationalen Abkommens, das den technischen Standard regelt, insbesondere die Voraussetzungen für die Vergabe von IP-Adressen sowie die Kompetenzen der Nationalstaaten bei der Organisation des Internet erfasst und vor allen Dingen auch Kriterien formuliert, welche inhaltlichen Darstellungen im Internet nicht zulässig sein dürfen und welche Maßnahmen bei Verstößen ergriffen werden können. Auf der Basis eines solchen Abkommens könnten die einzelnen Staaten rechtliche Kodifizierungen für das Gebiet des Internet erlassen und damit für ihren Bereich wirksame Schutzmechanismen erarbeiten. Es erscheint allerdings äußerst fraglich, ob ein solches Abkommen jemals zustande kommen wird. Zunächst einmal haben die Vereinigten Staaten kein Interesse daran, ihre derzeitige Vormachtstellung bei der technischen Verwaltung des Internet, die im Grunde eine Alleinherrschaft darstellt, aufzugeben. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es eine Vielzahl von Staaten gibt, für die das Vorhalten bestimmter Inhalte in ihren Ländern ein lukratives Geschäft ist, gerade weil diese Inhalte in anderen Ländern verboten sind. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Produktpiraterie, aber auch für strafbare Inhalte wie der Kinderpornographie. Wenn aber schon in den Bereichen, in denen es, wie im Strafrechtsbereich, um besondere staatliche Interessen geht, keine Einigung erzielt wird, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass Inhalte im Schutzbereich des allgemeinen Persönlich21 Vgl. zu den Zielsetzungen des ACTA http: //ec.europa.eu/trade/issues /sectoral/intell_property/fs231007_en.htm. 22 Siehe zur Bedeutung der EMRK für das Internet UerpmannWittzack / Jankowska-Gilberg, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Ordnungsrahmen für das Internet, MMR 2008, 83.
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keitsrechts eine internationale Regelung erfahren werden. Für diesen Bereich kommt erschwerend hinzu, dass die einzelnen Länder sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem Verhältnis von Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit haben. In den Vereinigten Staaten ist ein dem deutschen Schutzstandard vergleichbarer Menschenrechtsschutz praktisch nicht existent. Auch um den Datenschutz ist es schlimm bestellt. So ist es infolge des sog. „Megan‘s Law“ möglich, in einer Reihe von US-Staaten sämtliche Informationen über verurteilte Sexualstraftäter zu erhalten – wohlgemerkt solche, die ihre Strafe bereits abgesessen haben – einschließlich ihres derzeitigen Wohnortes.23 Jeder kann sich für ein paar Dollar eine CDROM besorgen, um auf ihr nachzusehen, welcher vormalige Sexualstraftäter in seiner unmittelbaren Umgebung wohnt. Dies wäre in Deutschland kaum vorstellbar – man denke nur an die Lebach-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juni 1973, die hier klare Kriterien herausgearbeitet hat.24 Aber: Wir müssen uns damit abfinden, dass die Reichweite des Persönlichkeitsschutzes in anderen Ländern substantiell anders gesehen wird als bei uns. Auch aus diesem Grund wird es zu einem internationalen Konsens über die Schutzwürdigkeit solcher Inhalte vermutlich nicht kommen. Schließlich gibt es noch Staaten, die nicht über eine demokratisch-rechtsstaatliche Organisationsstruktur verfügen. Dass China keine Demokratie hat, scheint im Nachgang zur Olympiade 2008 nahezu in Vergessenheit geraten zu sein. Ein Land, das nicht einmal ein allgemeines Patentrechtsabkommen ratifiziert, wird auch keiner Vereinbarung beitreten, die das Internet rechtlich strukturiert. Allein die in China existierende Zensur, die mit einem solchen Abkommen fallen müsste, verhindert dies. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass es nicht weiter tragisch sei, wenn eine internationale 23
Siehe für einen Überblick über die Regelungen http: //meganslaw.
org/. 24 BVerfGE 35, 202 – Lebach; vgl. hierzu Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rdnr. 277 ff.
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Regelung nicht zustande komme, da die Staaten einzelne Internetseiten, die mit ihrer Rechtsordnung nicht vereinbar seien, für ihren nationalen Bereich abschalten könnten, wie China dies während der Olympischen Spiele getan habe. Denn das ist ein technischer Irrtum. Zwar kann die nationale Registrierungsbehörde (in Deutschland die DENIC) einzelne Adressen abschalten. Dies gilt aber nur für nationale Adressen. Internationale Adressen wie „.com“, „.org“ oder „.info“ unterliegen hingegen nicht ihrem Zugriffsbereich. Die meisten problematischen Inhalte manifestieren sich ohnehin in Ländern, die nicht dem Zugriffsbereich der deutschen Rechtsordnung unterliegen. Zwar ist auch der Zugang zu einer individuellen ausländischen Seite sperrbar. Die Schwierigkeit liegt hier allerdings darin, dass die abgeschaltete Seite durch den Wechsel einer einzelnen Ziffer in der IP-Adresse sofort wieder aktiviert werden kann. Jede staatliche Maßnahme hinkt den technischen Möglichkeiten hinterher. An dieser Stelle soll nun auf den nationalen Rechtsraum eingegangen werden.
IV. Die rechtliche Situation in Deutschland 1. „Internetrecht“? In der deutschen Rechtsordnung existiert kein eigenständiges „Internetrecht“ im Sinne einer kodifizierten Gesamtregelung. Das Internet betreffende Bereiche sind, wenn sie überhaupt geregelt sind, über eine Vielzahl von Rechtsgebieten verstreut; sie sind teils im Zivilrecht, teils im öffentlichen Recht, teils im Strafrecht zu finden. Ihre Struktur ist äußerst lückenhaft und nicht geeignet, adäquat auf die oben beschriebenen Problemfelder einzugehen. Rechtliche Rahmenbedingungen, die im Bereich der elektronischen Medien von Bedeutung sind, finden sich vor allem im Medienrecht (TMG), im Rundfunkrecht (RStV), im Telekommunikationsrecht (TKG), im Datenschutzrecht (BDSG),
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aber auch im Urheberrecht (UrhG), im Wettbewerbsrecht (UWG) und im Domainrecht (MarkenG). Das Telemediengesetz (TMG) ist am 1. März 2007 in Kraft getreten.25 Zeitgleich sind das Teledienstegesetz (TDG) und der Mediendienste-Staatsvertrag (MDStV) außer Kraft getreten. Die Trennung zwischen „Teledienst“ und „Mediendienst“ wurde dadurch aufgegeben; zusammenfassend spricht das Gesetz nunmehr von „Telemedien“. Gemäß § 1 Abs. 1 TMG gilt das Telemediengesetz für alle elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, soweit sie nicht Telekommunikationsdienste nach § 3 Nr. 24 TKG, die ganz in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen, telekommunikationsgestützte Dienste nach § 3 Nr. 25 TKG oder Rundfunk nach § 2 des Rundfunkstaatsvertrages sind (Telemedien). Telemedien sind im Rahmen der Gesetze zulassungs- und anmeldefrei (§ 4 TMG). Abgesehen von den Informationspflichten nach §§ 5, 6 TMG regelt das Gesetz die Verantwortlichkeit der Diensteanbieter (§§ 7 ff. TMG) sowie rechtliche Fragen des Datenschutzes (§§ 11 ff. TMG). Im Bereich des Persönlichkeitsrechts sind – mit Ausnahme des Gegendarstellungsanspruchs in § 56 Rundfunkstaatsvertrag (RStV) – medienrechtliche Sondervorschriften nicht vorgesehen. Bei Persönlichkeitsverletzungen, die mithilfe des Internet begangen werden, muss daher auf die allgemeinen straf- und zivilrechtlichen Sanktionen zurückgegriffen werden. Aus dem Strafrecht sind bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts durch Onlinepublikationen vor allem §§ 185 ff. StGB (Beleidigung), §§ 201 ff. StGB (Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs) sowie § 184c StGB (Verbreitung pornographischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste) von Bedeutung.26 Zivilrecht25 Telemediengesetz (TMG) vom 26. Februar 2007 (BGBl. I, 179), geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 25. Dezember 2008 (BGBl. I, 3083). 26 Siehe Otto, Der strafrechtliche Schutz vor ehrverletzenden Meinungsäußerungen, NJW 2006, 575; zur strafrechtlichen Beurteilung von Onlinemobbing Beck, Lehrermobbing durch Videos im Internet – ein Fall für die Staatsanwaltschaft?, MMR 2008, 77.
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liche Ansprüche können sich ergeben aus § 823 Abs. 1 BGB (allgemeines Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“), § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 185 ff. StGB (Strafvorschriften als Schutzgesetze) sowie § 1004 BGB analog (allgemeiner Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch).27 Festzuhalten bleibt, dass mangels eigenständiger Kodifizierung eines „Internetrechts“ für Sachverhalte, die einen Bezug zum Internet aufweisen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten.28 Ausgangspunkt müssen daher zunächst verfassungsrechtliche Überlegungen sein.
2. Verfassungsrecht a) Die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG aa) Informationsfreiheit Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet die Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit. Was das Internet angeht, so ist aus der Sicht der Mediennutzer insofern die Informationsfreiheit maßgeblich, welche die Freiheit schützt, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Zu den Informationsquellen in diesem Sinne zählen nicht nur herkömmliche Informationsträger, sondern auch neue Kommunikationsmittel wie das Internet oder digitales Fernsehen.29 Unerheblich ist auch, ob die Informationen pri27 Siehe zu Persönlichkeitsverletzungen im Internet von PetersdorffCampen, Persönlichkeitsrecht und digitale Archive, ZUM 2008, 102; Berberich, Zur Haftung eines Internet-Forenbetreibers für Persönlichkeitsrechtsverletzungen, NJ 2007, 466; Jürgens / Köster, Die Haftung von Webforen für rechtsverletzende Einträge, AfP 2006, 219; Spieker, Verantwortlichkeit von Internetsuchdiensten für Persönlichkeitsrechtsverletzungen in ihren Suchergebnislisten, MMR 2005, 727; Helle, Persönlichkeitsverletzung im Internet, JZ 2002, 593; von Hinden, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, 1999. 28 Vgl. zu den Begriffen „Internetrecht“, „Medienrecht“ und „Multimediarecht“ Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 1 Rdnr. 11 m. w. N.
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vate oder öffentliche Angelegenheiten zum Gegenstand haben und ob sie überwiegend Meinungen oder eher Tatsachen enthalten.30 Als Abwehrrecht sichert die Informationsfreiheit nur den Zugang zu allgemein zugänglichen Informationsquellen gegen staatliche Beschränkungen.31 Zum Schutzbereich gehört dagegen nicht ein Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle. Erst nach Herstellung der allgemeinen Zugänglichkeit und nur in ihrem Umfang kann der grundrechtliche Schutzbereich der Informationsfreiheit betroffen sein.32 bb) Pressefreiheit Art. 5 Abs. 1 GG schützt ferner das Grundrecht der Pressefreiheit. Der verfassungsrechtliche Begriff der „Presse“ ist weit und formal auszulegen.33 Erfasst sind alle zur Verbreitung an einen unbestimmten Personenkreis geeigneten und bestimmten Druckerzeugnisse.34 Von der Eigenart oder dem Niveau des Presseerzeugnisses oder der Berichterstattung im Einzelnen hängt der grundrechtliche Schutz nicht ab, da eine solche Bewertung auf eine Lenkung durch staatliche Stellen hinausliefe, die dem Wesen des Grundrechts gerade widersprechen würde.35 Hinsichtlich der Publikationstätigkeit im Internet stellt sich die Frage, ob diese unter den verfassungsrechtlichen Presse29 Bethge, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rdnr. 54; Stern, Staatsrecht IV / 1, 2006, § 108 II 4 a). Ausführlich zu Inhalt und Grenzen der Informationsfreiheit Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004; zu sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten Kugelmann, Informationsfreiheit als Element moderner Staatlichkeit, DÖV 2005, 851; zu datenschutzrechtlichen Fragen Roßnagel, Konflikte zwischen Informationsfreiheit und Datenschutz?, MMR 2007, 16. 30 Vgl. Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 5 Rdnr. 15 m. w. N. 31 BVerfGE 103, 44, 59 f. – Gerichtsfernsehen. 32 BVerfGE 103, 44, 59 f. – Gerichtsfernsehen. 33 BVerfGE 66, 116, 134 – Wallraff / Springer. 34 Vgl. BVerfGE 95, 28, 35 – Werkszeitung. 35 Vgl. BVerfGE 101, 361, 389 – Caroline von Monaco II.
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begriff eingeordnet werden kann, da die Pressefreiheit wegen ihres traditionellen Definitionshintergrundes nicht recht auf die elektronischen Medien zu passen scheint. Dass Veröffentlichungen im Internet vom sachlichen Schutzbereich der Pressefreiheit erfasst werden, wird teilweise abgelehnt mit der Begründung, dass die Informationsverbreitung nicht mittels eines körperlichen Trägermediums stattfinde, weshalb Onlineveröffentlichungen eher dem Rundfunk zuzuordnen seien.36 Für die Einbeziehung der „elektronischen Presse“ in den verfassungsrechtlichen Pressebegriff spricht indes, dass die Inhalte der elektronischen Presse jederzeit ausgedruckt werden können, wodurch sie eine nachträgliche gegenständliche Verkörperung erfahren.37 Sinn und Zweck der Norm sprechen ebenfalls für eine Einbeziehung der elektronischen Presse in den Schutzbereich der Pressefreiheit. Die Pressefreiheit ist ein Freiheitsgrundrecht, das sowohl der Entfaltung des Einzelnen als auch der Sicherstellung eines pluralen Meinungsangebots zum Zwecke der demokratischen Willensbildung im Staatswesen dient.38 Für die verfassungsrechtliche Gewährleistung ist daher nicht entscheidend, auf welchem technischen Weg die Verbreitung erfolgt, sondern ob eine vergleichbare massenkommunikative Wirkung erzielt wird.39 Vom Sinn und Zweck der 36 Siehe etwa Bethge, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rdnr. 88 m. w. N.; Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 5 Rdnr. 100 ff.; differenzierend Bethge, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rdnr. 90b; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band I, 2. Aufl. 2004, Art. 5 Rdnr. 100 ff.; Stern, Staatsrecht IV / 1, 2006, § 110 II 3 g). Vgl. zur Abgrenzung von Rundfunk- und Pressefreiheit im Zeitalter der Digitalisierung Bullinger, Private Rundfunkfreiheit auf dem Weg zur Pressefreiheit, ZUM 2007, 337; ders., Von presseferner zu pressenaher Rundfunkfreiheit, JZ 2006, 1137; allgemein zur Rundfunkfreiheit Thum, Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit nach deutschem und europäischem Recht, DÖV 2008, 653; Degenhart, Rundfunkrecht in der Entwicklung, K&R 2007, 1; Geier, Grundlagen rechtsstaatlicher Demokratie im Bereich der Medien, Jura 2004, 182. 37 So auch Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rdnr. 7. 38 Fechner a. a. O.; ebenso Waldenberger, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, 7. Teil: Presserecht im Internet und „elektronische Presse“, Rdnr. 5.
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Norm her wird man daher von einer Einbeziehung des Internet in den Schutzbereich der Pressefreiheit sprechen können.40 cc) Meinungsfreiheit Da Art. 5 Abs. 1 GG alle denkbaren Meinungskundgebungsformen schützt, gilt das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht nur für „herkömmliche“ Verbreitungswege, sondern auch für neuere Äußerungs- und Übermittlungsformen, zu denen vor allem das Internet zählt.41 Im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 GG ist umstritten, inwieweit Tatsachenmitteilungen oder -behauptungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst werden. Im Gegensatz zur Meinung, die durch eine wertende Stellungnahme gekennzeichnet ist, kann eine Tatsachenmitteilung „wahr“ oder „falsch“ sein.42 Die Abgrenzung ist für Persönlichkeitsverletzungen im Internet insofern von Bedeutung, als die Verletzungshandlung häufig in der bloßen Mitteilung von Tatsachen und Informationen auf privaten Websites besteht, wie dies etwa bei sog. „Hass-Seiten“ gegen Nachbarn, Kollegen oder ehemalige Arbeitgeber der Fall sein kann. Die klare Abgrenzung von Meinungen und Tatsachenmitteilungen ist allerdings praktisch nicht möglich.43 So setzt die Bildung einer Meinung immer auch ein Tatsachenwissen des Äußernden voraus.44 Im Zweifel geht das BundesverfassungsVgl. Fechner a. a. O. und Waldenberger a. a. O. Siehe hierzu auch die Nachweise bei Waldenberger a. a. O. Zur Einordnung von Online-Bewegtbildern von Zeitungen Möllers, AfP 2008, 241. 41 Ebenso Stern, Staatsrecht IV / 1, 2006, § 108 II 3 d). 42 Vgl. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 5 Rdnr. 27 m. w. N. 43 Überzeugend Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Stand: 53. Lfg., Okt. 2008, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 50 ff. Vgl. zur Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen im Internet Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 20 f. 39 40
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gericht beim Zusammentreffen beider Elemente vom Vorliegen einer Meinung aus, um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten.45 Aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG sollen damit nur solche Tatsachenbehauptungen ausgenommen sein, die nicht Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind.46 Dies gilt etwa für Angaben statistischer Art wie die Erteilung von Auskünften über die persönlichen Verhältnisse im Rahmen einer Volkszählung.47 Im Übrigen sind Tatsachenmitteilungen jedoch ohne weiteres in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen. Gerade für Onlinepublikationen gilt, dass im Internet veröffentlichte Tatsachenbehauptungen – selbst wenn diese wahr sind – regelmäßig den Zweck verfolgen, auf die Meinungsbildung des Internetnutzers Einfluss zu nehmen. Dies gilt auch dann, wenn wahre Tatsachen, denen an sich kein ehrenrühriger Charakter zukommt, über individuelle Personen im Internet verbreitet werden. dd) Art. 5 Abs. 1 GG als allgemeines Kommunikationsgrundrecht Die verfassungsrechtliche Einordnung der elektronischen Medien zeigt, dass die traditionelle Struktur des Art. 5 Abs. 1 GG nicht mehr so recht geeignet ist, moderne technische Entwicklungen zu erfassen. Gegenwärtig haben wir noch ein traditionalistisches Verständnis der grundrechtlich gewährleisteten Meinungs- und Pressefreiheit. Dies erscheint im Zeitalter der „Neuen Medien“ jedoch nicht mehr zeitgemäß. Das stetige Zusammenwachsen der Medien spricht vielmehr dafür, die bisher deutlich voneinander abgegrenzten Einzelgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG stärker im Sinne eines ein44 Siehe Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 5 Rdnr. 26. 45 Vgl. etwa BVerfGE 61, 1, 9 – Meinungsäußerung im Wahlkampf. 46 So auch Bethge, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rdnr. 27 m. w. N. 47 Vgl. BVerfGE 65, 1, 40 f. – Volkszählung.
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heitlichen, die Freiheit der Medien insgesamt sichernden Grundrechts zu interpretieren.48 Art. 5 Abs. 1 GG sollte daher als ein allgemeines Kommunikationsgrundrecht formuliert werden, wonach jeder kommunikative Austausch von Personen dem grundrechtlichen Schutz des Art. 5 GG unterliegt. Zwar wäre dieser kommunikative Austausch auch außerhalb von Art. 5 GG verfassungsrechtlich geschützt, nämlich durch das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG, also die verfassungsmäßige Ordnung, sehr viel weiter sind als die Schranken des Art. 5 GG, zu denen in erster Linie die allgemeinen Gesetze gehören. Wegen des besonders hohen Schutzgutes des Art. 5 GG, das für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen schlechthin konstituierend ist,49 wäre es nicht wünschenswert, auf die kommunikativen Freiheiten die stärkeren Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden. Vielmehr sollten alle kommunikativen Tätigkeiten generell durch Art. 5 GG geschützt sein. ee) Die Schranken der Kommunikationsgrundrechte Die Rechte des Art. 5 Abs. 1 GG finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG). Allgemeine Gesetze in diesem Sinne sind solche, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten 48 Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rdnr. 1113; ausführlich zum verfassungsrechtlichen Status der „Neuen Medien“ Stern, Staatsrecht IV / 1, 2006, 2 vor § 109. Siehe zur Konvergenz der Medien Holznagel, Konvergenz der Medien – Herausforderungen an das Recht, NJW 2002, 2351; Schoch, Konvergenz der Medien – Sollte das Recht der Medien harmonisiert werden?, JZ 2002, 798; Michel, Konvergenz der Medien – Auswirkungen auf das Amsterdamer Protokoll und das Europäische Beihilferecht, MMR 2005, 284; Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 1 Rdnr. 21 ff. 49 So bereits BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth.
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Meinung richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen.50 Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann.51 Die allgemeinen Gesetze, die die Meinungsfreiheit einschränken können, müssen ihrerseits im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt und angewandt werden, damit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auch auf der Rechtsanwendungsebene Rechnung getragen wird.52 Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.53 Das Grundrecht der Meinungsfreiheit verlangt im Falle der Kollision von grundrechtlich geschützten Positionen eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem Persönlichkeitsschutz auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht.54 Das Ergebnis dieser Abwägung, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind, lässt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und abstrakt vorwegnehmen.55 In der Rechtsprechung ist eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben. So tritt die Schmähkritik, die jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person besteht,56 regelmäßig hinter den Persönlichkeitsschutz 50 51 52 53 54 55 56
Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198, 209 – Lüth. BVerfGE 117, 244, 260 – CICERO. Vgl. BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth (ständige Rechtsprechung). Vgl. BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth (ständige Rechtsprechung). Vgl. BVerfGE 7, 198, 212 – Lüth (ständige Rechtsprechung). Vgl. BVerfGE 93, 266, 293 – „Soldaten sind Mörder“. BVerfGE 82, 272, 284 – „Zwangsdemokrat Strauß“.
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zurück. Zwar macht auch eine überzogene und selbst ausfällige Kritik für sich genommen eine Äußerung noch nicht zur Schmähung.57 Eine Schmähkritik liegt erst dann vor, „wenn in der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht“.58 Die Rechtsprechung zur Schmähkritik ist für den Bereich online publizierter Tatsachenmitteilungen insofern von Bedeutung, als die Grenze zur Schmähkritik bei Veröffentlichungen auf „Hass-Seiten“, „Rache-Portalen“ oder beim sog. Cyber-Mobbing überschritten sein kann. Online-Bewertungen von Produkten oder Unternehmen, wie die Bewertung von Online-Versandunternehmen oder von Dienstleistungen, können einen unzulässigen Boykottaufruf darstellen. Ein Boykottaufruf, dem eine bestimmte Meinungskundgabe zugrunde liegt, kann zwar durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sein, „wenn er als Mittel des geistigen Meinungskampfes in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage eingesetzt wird, wenn ihm also keine private Auseinandersetzung, sondern die Sorge um politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit zugrunde liegt“59. Voraussetzung ist stets, dass der Boykottaufruf auf geistige Argumente gestützt wird. Nicht der Fall ist dies bei Androhung oder Ankündigung schwerer Nachteile und bei Ausnutzung sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeit.60 Negative Online-Bewertungen können zu schweren wirtschaftlichen Schäden bei den betroffenen Unternehmen führen; darauf wird im Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsschutz von Wirtschaftsunternehmen noch einmal zurückzukommen sein.61 BVerfGE 82, 272, 284 – „Zwangsdemokrat Strauß“. BVerfGE 82, 272, 284 – „Zwangsdemokrat Strauß“; vgl. zur Abgrenzung Bölke, Kritik an Macht ist schutzbedürftig – Wann wird Kritik zur Schmähung?, NJW 2004, 2352. 59 BVerfGE 25, 256, 264 – Blinkfüer. 60 BVerfGE 25, 256, 264 f. – Blinkfüer. Siehe zu Fragen des Boykottaufrufs auch Nolte / Tams, Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit, JA 2002, 259. 57 58
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Die Meinungsfreiheit wird aber auch durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht natürlicher Personen, die von Tatsachenmitteilungen im Internet betroffen sind, begrenzt. Bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts bedarf es einer abwägenden Prüfung im Einzelfall, ob die Vermutung für die Freiheit der Meinung durch gegenläufige Belange des Persönlichkeitsschutzes überwunden wird.62 Lässt sich eine Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an.63 b) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG aa) Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Die eingangs erwähnten Handlungen wie die Publikation persönlicher Informationen diskreditierender Art im Internet oder die Onlineveröffentlichung persönlichkeitsschädigender Aufrufe beeinträchtigen regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde vom Bundesgerichtshof bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre entwickelt und später vom Bundesverfassungsgericht als grundrechtliche Gewährleistung anerkannt. Seine verfassungsrechtliche Grundlage findet sich in den Verfassungsnormen der allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt Schutz vor Äußerun61 Siehe sogleich die Entscheidung des BGH vom 11. März 2008, NJW 2008, 2110 – „Gen-Milch“; siehe hierzu Gostomzyk, Äußerungsrechtliche Grenzen des Unternehmenspersönlichkeitsrechts – Die GenMilch-Entscheidung des BGH, NJW 2008, 2082; Kremer, Warnung vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln, Jura 2008, 299. 62 Vgl. BVerfGE 93, 266, 294 – „Soldaten sind Mörder“. 63 Vgl. BVerfGE 93, 266, 293 f. – „Soldaten sind Mörder“.
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gen, die geeignet sind, sich abträglich auf das eigene Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken.64 Der Anspruch schützt den Betroffenen nicht nur vor Formalbeleidigungen, sondern vor herabsetzenden Werturteilen jeglicher Art, vor unwahren herabsetzenden Tatsachenbehauptungen, vor Schmähkritik und vor persönlichen Kränkungen und Herabwürdigungen.65 Der persönliche Schutzbereich erfasst auch juristische Personen, soweit sie in ihrem Tätigkeitsbereich einschließlich ihrer sozialen Geltung als Wirtschaftsunternehmen betroffen werden („Unternehmenspersönlichkeitsrecht“).66 Im Bereich des Internet ist dies für die Online-Bewertung von Unternehmen von Bedeutung, die nach Transaktionen wie dem OnlineVersand von Waren von ihren Kunden bewertet werden. Gleiches gilt hinsichtlich der Bewertungsportale für Dienstleister wie Ärzte oder Rechtsanwälte, in denen Verbraucher die Qualität der erbrachten Leistungen online „benoten“ können. Die Öffentlichkeitswirkung negativer Online-Bewertungen ist beträchtlich und kann für die betroffenen Unternehmen zu enormen Umsatzeinbußen führen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht die „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.67 Der Einzelne soll grundsätzlich selbst entscheiden können, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will, ob und inwieweit von Dritten über seine Persönlichkeit verfügt werden kann.68 64 Siehe etwa BVerfGE 99, 185, 193 – Scientology (ständige Rechtsprechung). 65 Vgl. Bamberger / Roth, Beck’scher Onlinekommentar, Stand: 1. Mai 2009, § 12 BGB Rdnr. 139 m. w. N. Siehe auch Vahle, Der rechtliche Schutz der Persönlichkeit, DVP 2006, 269; ausführlich zum Schutzbereich Kahl / Ohlendorf, Grundfälle zu Art. 2 I i.V. mit 1 I GG, JuS 2008, 682. 66 So die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, vgl. etwa BGH vom 3. Juni 1986, BGHZ 98, 94, 97 f.; siehe auch die Nachweise bei Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2007, § 823 Rdnr. 93. 67 BVerfGE 80, 367, 373 – Tagebuch.
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Zum Schutz des Rechts der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zählen insbesondere das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort, das Recht am Namen und der Schutz der persönlichen Ehre. Die Frage nach der Intensität der jeweiligen Schutzgewährung beantwortet die Rechtsprechung auf der Grundlage der sog. Sphärentheorie, indem zwischen der unverletzlichen Intimsphäre, der qualifiziert geschützten Privatsphäre und der schwächer geschützten Sozialsphäre unterschieden wird.69 Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise für die Darstellung einer Person im Internet. So gewährleistet das Recht am eigenen Bild dem Einzelnen „Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten, soweit es um die Anfertigung und Verwendung von Fotografien oder Aufzeichnungen seiner Person durch andere geht“.70 Bedeutung gewinnt diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wenn private Fotografien ohne die Zustimmung des Betroffenen im Internet veröffentlicht werden. Dies gilt besonders für die ungenehmigte Veröffentlichung intimer Fotos, wie dies bei sog. „Racheseiten“ der Fall sein kann.71 BVerfGE 54, 148, 155 – Eppler. Näher zu den Sphären Kahl / Ohlendorf, Grundfälle zu Art. 2 I i.V. mit 1 I GG, JuS 2008, 682; Spindler / Nink, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 823 BGB Rdnr. 21 ff.; Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 87 m. w. N.; aus der Rechtsprechung BVerfGE 27, 1, 6 – Mikrozensus; BVerfGE 34, 269, 282 f. – Soraya; BVerfGE 54, 148, 153 – Eppler; BVerfGE 80, 367, 373 – Tagebuch; BVerfGE 101, 361, 381 – Caroline von Monaco II. 70 Vgl. BVerfGE 35, 202, 220 – Lebach; BVerfGE 101, 361, 381 – Caroline von Monaco II; EGMR vom 24. Juni 2004, NJW 2004, 2647; hierzu Lenski, Der Persönlichkeitsschutz Prominenter unter EMRK und Grundgesetz, NVwZ 2005, 50; Mann, Auswirkungen der Caroline-Entscheidung des EGMR auf die forensische Praxis, NJW 2004, 3220; Starck, Das Caroline-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seine rechtlichen Konsequenzen, JZ 2006, 76; Engels / Jürgens, Auswirkungen der EGMR-Rechtsprechung zum Privatsphärenschutz – Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung des „Caroline“-Urteils im deutschen Recht, NJW 2007, 2517; siehe auch Seiler, Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit in der neueren Rechtsprechung des EGMR, des BVerfG und des BGH, WRP 2005, 545. 68 69
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Bei der ungenehmigten Veröffentlichung von Tonmaterial im Internet greift das Recht am eigenen Wort ein. Es bezeichnet die Befugnis des Einzelnen, „selbst und allein zu bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und von wem seine auf einen Tonträger aufgenommene Stimme wieder abgespielt werden darf“.72 Der Einzelne soll selbst entscheiden können, ob das gesprochene Wort einzig dem Gesprächspartner, einem bestimmten Kreis oder der Öffentlichkeit zugänglich sein soll.73 bb) Spezielle Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im IT-Bereich Vor dem Hintergrund, dass die Entstehung neuer Medien zu neuartigen grundrechtlichen Gefährdungslagen führt, hat das allgemeine Persönlichkeitsrecht weitere spezielle Ausprägungen erfahren, die in erster Linie in ihrer Funktion als Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat von Bedeutung sind. Hierzu zählt zunächst das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt wurde. Es gewährleistet den „Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten“.74 Dies beinhaltet „die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“,75 und ist nicht auf die automatische Datenverarbeitung beschränkt.76 71 Zum Schmerzensgeldanspruch bei unberechtigter Veröffentlichung privater Nacktfotos im Internet LG Kiel vom 27. April 2006, NJW 2007, 1002; zur Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Angebot von Nacktfotos im Internet LG Berlin vom 1. Juni 2006, ZUM-RD 2006, 519. 72 BVerfGE 34, 238, 246 – heimliche Tonbandaufnahmen. 73 BVerfGE 54, 148, 155 – Eppler. 74 BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung. 75 BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung.
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Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Februar 2008 zur Online-Durchsuchung in Nordrhein-Westfalen77 ein Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. Es „bewahrt den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten“.78 Da dieses Grundrecht den heimlichen Zugriff des Staates auf informationstechnische Systeme betrifft, soll an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden. cc) Schranken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Die Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG führt zur Geltung der Schrankentrias der allgemeinen Handlungsfreiheit, insbesondere der Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“. Hierzu zählen alle formell und materiell verfassungsmäßigen Gesetze. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht somit unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. 76 Vgl. BVerfGE 78, 77, 84 – Entmündigung; Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 2 Rdnr. 44; ausführlich Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Stand: 53. Lfg., Okt. 2008, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 176. 77 BVerfG vom 27. Februar 2008, NJW 2008, 822 – Online-Durchsuchung; vgl. hierzu Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, DÖV 2008, 411; Eifert, Informationelle Selbstbestimmung im Internet – Das BVerfG und die Online-Durchsuchungen, NVwZ 2008, 521; Hoeren, Was ist das „Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“?, MMR 2008, 365; Kutscha, Mehr Schutz von Computerdaten durch ein neues Grundrecht?, NJW 2008, 1042; Petri, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung, DuD 2008, 443. 78 BVerfG vom 27. Februar 2008, NJW 2008, 822 – Online-Durchsuchung.
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Einschränkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts können sich überdies durch kollidierendes Verfassungsrecht ergeben. Wie bereits dargelegt, steht insbesondere Art. 5 Abs. 1 GG in einem Kollisionsverhältnis zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht.79 dd) Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht Aufgrund ihrer Stellung im Verfassungsgefüge und ihrer Funktion als objektive Wertordnung haben die Grundrechte eine Ausstrahlungswirkung in dem Sinne, dass ihnen Einfluss auf die Bedeutung der Vorschriften sämtlicher Rechtsbereiche zukommt.80 Von erheblichem Gewicht ist diese Ausstrahlung der Grundrechte im Privatrecht. Sie bewirkt, dass die Normen des bürgerlichen Rechts im Lichte der besonderen Bedeutung der Grundrechte auszulegen sind.81 Als „Einbruchstellen“ der Grundrechte als Auslegungsdirektiven dienen vor allem unbestimmte Rechtsbegriffe (vgl. § 315 BGB) und die zivilrechtlichen Generalklauseln (§§ 138, 242, 826 BGB).82 3. Einfachgesetzliche Regelungen Indem die höchstrichterliche Rechtsprechung das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“ i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB anerkannt hat, genießt dieses Recht den Schutz 79 Siehe zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz Zagouras, Satirische Politikerwerbung, WRP 2007, 115; zum Verhältnis von Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit BVerfG vom 13. Juni 2007, NJW 2008, 39 – „Esra“; hierzu Lenski, Grundrechtsschutz zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit – Zum Esra-Beschluss des BVerfG, NVwZ 2008, 281; Schröder, Die Je-desto-Formel des Bundesverfassungsgerichts in der Esra-Entscheidung und ihre Bedeutung für Grundrechtsabwägungen, DVBl. 2008, 146; Wanckel, Der Schutz der Persönlichkeit bei künstlerischen Werken, NJW 2006, 578. 80 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Rdnr. 32 vor Art. 1 m. w. N. 81 Vgl. BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth. 82 Vgl. BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth.
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der Privatrechtsordnung.83 Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts haben daher zivilrechtliche Rechtsfolgen, auf die nachstehend näher eingegangen werden soll. a) Besondere Persönlichkeitsrechte Werden Fotografien ohne die Einwilligung des Abgebildeten im Internet verbreitet, liegt ein rechtswidriger Eingriff in das Recht am eigenen Bild vor, welches im Kunsturhebergesetz als besonderes Persönlichkeitsrecht geschützt ist (vgl. §§ 22, 23 KunstUrhG). Für den Betroffenen folgt daraus ein Anspruch auf Vernichtung der widerrechtlich verbreiteten Bildnisse (vgl. § 37 Abs. 1 KunstUrhG).84 Übertragen auf die moderne Informationstechnik bedeutet dies, dass der Verletzte die Löschung der unrechtmäßigen Aufnahme und erforderlichenfalls, etwa bei Speicherung der Bilddateien auf einer CD-ROM oder einem USB-Stick, die Vernichtung der entsprechenden Bilddateien auf dem jeweiligen Speichermedium verlangen kann.85 Die praktisch wichtige Ausnahme des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KunstUrhG besagt, dass Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte ohne die nach § 22 KunstUrhG erforderliche Einwilligung des Abgebildeten verbreitet und zur Schau gestellt werden dürfen. Die Auslegung des Begriffs der „Zeitgeschichte“ hat die höchstrichterliche Rechtsprechung mehrfach beschäftigt. So hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes zunächst den abkürzenden Begriff der „Person der Zeitgeschichte“ entwickelt.86 83 Ausführlich hierzu Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 83 ff. 84 Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie, zuletzt geändert durch Art. 3 § 31 des Gesetzes vom 16. Februar 2001 (BGBl. I, 266). 85 Siehe Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rdnr. 4 m. w. N. Näher zur Veröffentlichung von Bildnissen im Online-Bereich Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 35 ff.
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Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 24. Juni 2004 gegen die Beschränkung des Schutzes der Privatsphäre bei den sog. absoluten Personen der Zeitgeschichte grundsätzliche Bedenken geäußert hatte,87 hat die Rechtsprechung bei Bildveröffentlichungen von Prominenten ein abgestuftes Schutzkonzept entwickelt, das sowohl dem Schutzbedürfnis der abgebildeten Person wie dem von den Medien wahrgenommenen Informationsinteresse der Allgemeinheit Rechnung trägt.88 Eine Ausnahme vom Erfordernis der Einwilligung kommt nunmehr grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Berichterstattung ein Ereignis von zeitgeschichtlicher Bedeutung betrifft.89 Erforderlich ist eine einzelfallbezogene Interessenabwägung.90 86 Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Wandtke / Bullinger, Urheberrecht, 2. Aufl. 2006, § 23 KunstUrhG Rdnr. 3 ff. 87 EGMR vom 24. Juni 2004, NJW 2004, 2647; hierzu Lenski, Der Persönlichkeitsschutz Prominenter unter EMRK und Grundgesetz, NVwZ 2005, 50; Mann, Auswirkungen der Caroline-Entscheidung des EGMR auf die forensische Praxis, NJW 2004, 3220; Starck, Das CarolineUrteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seine rechtlichen Konsequenzen, JZ 2006, 76; Engels / Jürgens, Auswirkungen der EGMR-Rechtsprechung zum Privatsphärenschutz – Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung des „Caroline“-Urteils im deutschen Recht, NJW 2007, 2517; siehe auch Seiler, Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit in der neueren Rechtsprechung des EGMR, des BVerfG und des BGH, WRP 2005, 545. 88 Vgl. BGH vom 6. März 2007, NJW 2007, 1977, 1981; BVerfG vom 26. Februar 2008, NJW 2008, 1793 – Caroline von Monaco IV; hierzu Klass, Zum Verhältnis des Persönlichkeitsrechts zur Pressefreiheit, ZUM 2008, 432; Pils, Ein neues Kapitel bei der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht?, JA 2008, 852; Müller, Der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht, VersR 2008, 1141. 89 Vgl. BGH vom 6. März 2007, NJW 2007, 1977, 1981; siehe auch BGH vom 1. Juli 2008, NJW 2008, 3138 – Sabine Christiansen; BGH vom 24. Juni 2008, NJW 2008, 3134 – Heide Simonis; BGH vom 19. Juni 2007, NJW 2007, 3440 – Herbert Grönemeyer; zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bildberichterstattung BVerfG-K vom 21. August 2006, NJW 2006, 3406 – Promi-Partner; zur identifizierenden Presseberichterstattung BVerfG-K vom 13. Juni 2006, NJW 2006, 2835 – Prinz Ernst August von Hannover. 90 Näher zur neueren Rechtsprechung des BGH Teichmann, Abschied von der absoluten Person der Zeitgeschichte, NJW 2007, 1917.
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b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist als „sonstiges Recht“ durch § 823 Abs. 1 BGB geschützt. Darüber hinaus findet der allgemeine Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch des § 1004 BGB analoge Anwendung. Als zivilrechtliche Rechtsfolgen von Persönlichkeitsverletzungen kommen somit Ansprüche auf Gegendarstellung, Unterlassung, Beseitigung, Berichtigung, gegebenenfalls auch Ansprüche auf Schadenersatz in Geld in Betracht.91 aa) Anspruch auf Gegendarstellung Das Recht auf Gegendarstellung wurde vom Bundesverfassungsgericht „als ein den Gegebenheiten der modernen Massenkommunikationsmittel angepasstes, für das Sondergebiet des Medienrechts näher ausgestaltetes Mittel zum Schutz des Einzelnen gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre“ anerkannt.92 Der Anspruch dient dem Schutz der Selbstbestimmung des Einzelnen über die Darstellung der eigenen Person, die von der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst wird.93 Der Einzelne soll selbst darüber befinden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will, was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll und ob oder inwieweit Dritte über seine Persönlichkeit verfügen können, indem sie 91 Siehe zu Persönlichkeitsverletzungen im Internet von PetersdorffCampen, Persönlichkeitsrecht und digitale Archive, ZUM 2008, 102; Berberich, Zur Haftung eines Internet-Forenbetreibers für Persönlichkeitsrechtsverletzungen, NJ 2007, 466; Jürgens / Köster, Die Haftung von Webforen für rechtsverletzende Einträge, AfP 2006, 219; Spieker, Verantwortlichkeit von Internetsuchdiensten für Persönlichkeitsrechtsverletzungen in ihren Suchergebnislisten, MMR 2005, 727; Helle, Persönlichkeitsverletzung im Internet, JZ 2002, 593; von Hinden, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, 1999. 92 BVerfGE 63, 131, 142 f. – Gegendarstellung; siehe auch BVerfGE 97, 125, 145 ff. – Caroline von Monaco I. 93 BVerfGE 54, 148, 153 – Eppler.
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diese zum Gegenstand öffentlicher Erörterung machen.94 Dem entspricht es, dass der von einer Darstellung in den Medien Betroffene die rechtlich gesicherte Möglichkeit haben muss, dieser mit seiner Darstellung entgegenzutreten; im anderen Fall wäre er zum bloßen Objekt öffentlicher Erörterung herabgewürdigt.95 Der Gegendarstellungsanspruch ist ein eigener, von §§ 823 ff. BGB unabhängiger zivilrechtlicher Anspruch, der in den Presse-, Rundfunk- und Mediengesetzen sowie den einschlägigen Staatsverträgen des Bundes und der Länder geregelt ist, wie etwa in § 56 Rundfunkstaatsvertrag (RStV).96 Bei Äußerungen im Internet ist indes zu beachten, dass § 56 RStV nach der ausdrücklichen Regelung in Abs. 1 Satz 1 nur anzuwenden ist auf „Anbieter von Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, in denen insbesondere vollständig oder teilweise Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text oder Bild wiedergegeben werden“. Dieses muss den Angeboten in den Printmedien oder im Rundfunk vergleichbar sein, so dass insbesondere die E-Paper- und die Online-Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften, aber auch die Online-Angebote von Rundfunkanstalten erfasst werden.97 Auf Websites, die von Privatpersonen betrieben werden, trifft diese Voraussetzung jedoch regelmäßig nicht zu. Daraus folgt, dass den Betroffenen in aller Regel kein Gegendarstellungsanspruch gegen Internetpublikationen Privater zusteht.
BVerfGE 35, 202, 220 – Lebach. BVerfGE 63, 131, 142 f. – Gegendarstellung. 96 Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien – Rundfunkstaatsvertrag (RStV) vom 31. Dezember 1991, zuletzt geändert durch Art. 1 Zehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 19. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. September 2008. Siehe zum Gegendarstellungsanspruch nach verletzenden Internet-Äußerungen Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 87 ff. 97 So Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 96, zur wortgleichen Regelung in §§ 14, 10 Abs. 3 des am 1. März 2007 außer Kraft getretenen Mediendienstestaatsvertrages (MDStV). 94 95
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bb) Unterlassungsanspruch, §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog Der Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 BGB analog beinhaltet die Verpflichtung, bestimmte näher bezeichnete Äußerungen nicht oder nicht mehr zu veröffentlichen.98 Erforderlich ist eine ernstliche, auf Tatsachen gründende Besorgnis, dass in Zukunft gegen eine bestehende Unterlassungspflicht erstmals oder wiederholt verstoßen wird.99 Hat bereits ein rechtswidriger Eingriff stattgefunden, besteht für gleichartige Verletzungshandlungen die widerlegbare Vermutung einer Wiederholungsgefahr.100 cc) Beseitigungsanspruch, §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog Die analoge Anwendung des § 1004 BGB zum Schutz gegen künftige unerlaubte Handlungen eröffnet auch die Möglichkeit, dass der Rechtsinhaber von dem Störer Beseitigung einer durch die unerlaubte Handlung hervorgerufenen, fortbestehenden Beeinträchtigung verlangt.101 Bei rufschädigenden Tatsachenbehauptungen und Werturteilen geht der Beseitigungsanspruch auf die Veröffentlichung eines Unterlassungsurteils oder einer freiwillig abgegebenen strafbewehrten Unterlassungserklärung, wenn die unzulässige Meinungsäußerung öffentlich erfolgt und die Publikation der Unterwerfungserklärung zur Beseitigung der andauernden Folgen der Äußerung für das Ansehen des Verletzten erforderlich ist.102 98 Ausführlich zum Unterlassungsanspruch Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rdnr. 302 ff. 99 Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, Rdnr. 20 vor § 823. 100 Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BGH vom 8. Februar 1994, WM 1994, 641. Siehe zu den Besonderheiten bei Unterlassungsansprüchen nach verletzenden Internet-Äußerungen Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 55 ff. 101 Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, Rdnr. 28 vor § 823.
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dd) Berichtigungsanspruch, §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog Der bereits erwähnte Anspruch auf Gegendarstellung ist darauf gerichtet, dass der Schädiger die Schilderung des Geschädigten wiederzugeben hat, indem er eine abweichende Tatsachendarstellung des von der beanstandeten Meldung Betroffenen ohne Wahrheitsprüfung und in gleicher Weise wie die Meldung veröffentlicht.103 Dagegen handelt es sich bei dem Berichtigungsanspruch um einen zivilrechtlichen Schutzanspruch des Betroffenen auf eine eigene Widerrufserklärung desjenigen, der für die beanstandete Veröffentlichung verantwortlich ist.104 Der Berichtigungsanspruch verpflichtet den Verletzer, seine Äußerung entweder ganz aus der Welt zu schaffen (Widerruf) oder diese abzuändern (Richtigstellung) oder den Äußerungen wesentliche Tatsachen hinzuzufügen (Ergänzung).105 In allen drei Fällen hat der Anspruchsgegner selbst eine Erklärung abzugeben und sich von seiner Erstmitteilung zu distanzieren. Es handelt sich daher um einen sehr stark in die Mediengrundrechte eingreifenden Anspruch.106 Nach ständiger Rechtsprechung sind allein rechtsverletzende unwahre Tatsachenbehauptungen geeignet, ein Widerrufsverlangen zu rechtfertigen.107 Dagegen sind Wertungen 102 Siehe BGH vom 25. November 1986, BGHZ 99, 133. Zum Beseitigungsanspruch gegen negative Online-Bewertungen Ludyga, Ansprüche gegen die Bewertung eines Anbieters einer Online-Auktion, DuD 2008, 277; zu den Besonderheiten bei Ansprüchen auf Beseitigung nach verletzenden Internet-Äußerungen Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 64 ff. 103 Vgl. Dörr / Schwartmann, Medienrecht, 2. Aufl. 2008, Rdnr. 347 m. w. N. 104 Dörr / Schwartmann, Medienrecht, 2. Aufl. 2008, Rdnr. 348. 105 Vgl. Fechner, Medienrecht, 8. Aufl. 2007, Rdnr. 319. 106 Fechner a.a.O., Rdnr. 320. Siehe zum Anspruch auf Widerruf verletzender Internet-Äußerungen Seitz, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 8.2 Rdnr. 69 ff. 107 BGH vom 3. Mai 1988, NJW 1989, 774 m. w. N.
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und Meinungsäußerungen einem Widerruf nicht zugänglich; niemand kann im Wege der Zwangsvollstreckung gezwungen werden, eine Überzeugung aufzugeben oder eine Würdigung zurückzunehmen.108 Der Berichtigungsanspruch setzt die rechtskräftige Feststellung der Unwahrheit der inkriminierten Behauptungen voraus.109 Wegen des erheblichen Eingriffs in die Interessen des Verletzers ist die Feststellung der Unwahrheit nur im Wege der Hauptsacheklage, nicht mit einer einstweiligen Verfügung möglich.110 ee) Schadensersatzanspruch bei materiellen Schäden Insbesondere bei Verletzungshandlungen, die sich gegen Unternehmen richten, kann die Onlinepublikation unwahrer Tatsachenbehauptungen oder unzulässiger Meinungsäußerungen einen materiellen Schaden verursachen. Dies gilt etwa im Fall eines unzulässigen Boykottaufrufs, welcher die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreitet. Es handelt sich hierbei regelmäßig um einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB); unter den Voraussetzungen des § 824 BGB kommen überdies Ansprüche aus Kreditgefährdung in Betracht. In der Entscheidung vom 11. März 2008 befasste sich der Bundesgerichtshof mit den äußerungsrechtlichen Grenzen des Unternehmenspersönlichkeitsrechts.111 Gegenstand des Rechtsstreits war das Unterlassungsbegehren eines bekannten Molkereikonzerns gegen eine Umweltorganisation, die dessen Produkte u. a. auf ihren Internetseiten als „Gen-Milch“ beBGH vom 3. Mai 1988, NJW 1989, 774. BGH vom 14. Juni 1977, NJW 1977, 1681. 110 Fechner a. a. O., Rdnr. 322 m. w. N. 111 BGH vom 11. März 2008, NJW 2008, 2110 – „Gen-Milch“; siehe hierzu Gostomzyk, Äußerungsrechtliche Grenzen des Unternehmenspersönlichkeitsrechts – Die Gen-Milch-Entscheidung des BGH, NJW 2008, 2082; Kremer, Warnung vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln, Jura 2008, 299. 108 109
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zeichnet hatte. Das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG habe Vorrang vor den unternehmensbezogenen Interessen der Klägerin, die sowohl durch ihr Persönlichkeitsrecht als auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geschützt seien. Die erforderliche Abwägung falle zugunsten der Beklagten aus, da es sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handle, weshalb eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede spreche.112 In der Bezeichnung der Produkte als „Gen-Milch“ liege auch keine unzulässige Anprangerung der Klägerin, welche hier insbesondere anzunehmen wäre, wenn die Beklagte die Produkte der Klägerin ohne jeden sachlichen Anlass in der geschehenen Weise herausgestellt hätte. Die Klägerin als einflussreiches und bekanntes Unternehmen herauszugreifen, habe der Verdeutlichung eines sachlichen Anliegens durch Personalisierung gedient, was nicht generell unzulässig sei.113 ff) Schadensersatzanspruch bei immateriellen Schäden Richtet sich die Handlung nicht gegen ein Unternehmen, sondern gegen eine Privatperson, wird die Persönlichkeitsverletzung in der Regel zwar nicht zu Vermögensschäden, wohl aber zu immateriellen Schäden führen. Ein Zahlungsanspruch des Verletzten kommt indes auch bei ideellen Schäden in Betracht. Bereits im Jahre 1958 hat der Bundesgerichtshof in der „Herrenreiter“-Entscheidung festgestellt, dass es gerechtfertigt ist, dem durch die unbefugte Veröffentlichung seines Bildes Verletzten wegen eines hierdurch hervorgerufenen, nicht vermögensrechtlichen Schadens eine billige Entschädigung in Geld zu gewähren.114 BGH vom 11. März 2008, NJW 2008, 2110, 2114 ff. – „Gen-Milch“. BGH vom 11. März 2008, NJW 2008, 2110, 2115 f. – „Gen-Milch“. 114 BGH vom 14. Februar 1958, BGHZ 26, 349; siehe auch BVerfGE 34, 269, 279 ff. – Soraya. 112 113
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht dem Opfer einer Persönlichkeitsverletzung ein Anspruch auf eine Geldentschädigung für immaterielle Schäden zu, wenn es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht handelt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann.115 Die Zubilligung einer Geldentschädigung wegen einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung hat ihre Wurzel im Verfassungsrecht und Zivilrecht und stellt keine strafrechtliche Sanktion dar.116 Sie beruht auf dem Gedanken, dass ohne einen solchen Anspruch Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktionen blieben, mit der Folge, dass der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde.117 Anders als beim Schmerzensgeldanspruch, bei dem der Ausgleichsgedanke eine maßgebliche Rolle spielt, steht bei dem Anspruch auf eine Geldentschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund.118 Außerdem soll die Entschädigung der Prävention dienen.119 Der Bundesgerichtshof hat daher Prinzessin Caroline von Monaco einen Anspruch auf eine Geldentschädigung für immaterielle Nachteile zuerkannt, die ihr aus der Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts durch Veröffentlichungen auf der Titelseite einer Illustrierten entstanden sind.120 Dieser Entschädigungs115 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 124 m. w. N. 116 BGH vom 5. Oktober 2004, NJW 2005, 215. 117 BGH vom 4. November 2004, NJW 2005, 58. 118 BGH vom 4. November 2004, NJW 2005, 58 m. w. N. 119 BGH vom 15. November 1994, BGHZ 128, 1 – Caroline von Monaco; siehe auch BGH vom 5. Dezember 1995, NJW 1996, 984. 120 BGH vom 15. November 1994, BGHZ 128, 1 – Caroline von Monaco. Siehe zur Reichweite des Persönlichkeitsschutzes gegen Abbildungen von Prominenten im Kontext unterhaltender Medienberichte über deren Privat- und Alltagsleben zuletzt BVerfG vom 26. Februar 2008, NJW 2008, 1793 – Caroline von Monaco IV; hierzu Klass, Zum Verhältnis des Persönlichkeitsrechts zur Pressefreiheit, ZUM 2008, 432; Pils, Ein neues Kapitel bei der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeits-
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anspruch ist dem aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannten Strafschadensersatz („Punitive Damages“) nicht unähnlich und scheint gleichsam dessen medienrechtliche Ausprägung zu sein.121 Die Grundsätze der Caroline-von-Monaco-Rechtsprechung sind auf gezielte Persönlichkeitsverletzungen von Unprominenten übertragbar.122 Im Schrifttum wird angeregt, dass die Prominenten zugesprochenen Geldentschädigungen die Mindestsumme für die willkürliche Persönlichkeitsrechtsverletzung unbekannter Menschen darstellen sollte, da deren unmittelbare Betroffenheit ungleich größer ist.123 Wird ein Fernsehbeitrag zusätzlich ins Internet gestellt, so muss sich dies entsprechend auf die Höhe der Geldentschädigung auswirken, weil dadurch die Persönlichkeitsrechtsverletzung noch vertieft wird.124 c) Störer bei Verletzungshandlungen im Internet aa) Verantwortlichkeit des Diensteanbieters Soweit Persönlichkeitsrechtsverletzungen im oder über das Internet begangen werden, gewinnt aufgrund der Vielzahl denkbarer Beteiligter (Autor des Beitrags, Betreiber von Webrecht?, JA 2008, 852; Müller, Der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht, VersR 2008, 1141. 121 Vgl. Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 4 Rdnr. 29 m. w. N. 122 Ausführlich Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 4 Rdnr. 32 ff. 123 Siehe Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 4 Rdnr. 35 ff. Zur immateriellen Geldentschädigung an eine Minderjährige, die im Fernsehen nachhaltig in die Nähe der Pornobranche gerückt wird, OLG Hamm vom 4. Februar 2004, NJW-RR 2004, 919. 124 Petersen, Medienrecht, 3. Aufl. 2006, § 4 Rdnr. 39. – Siehe zur Bloßstellung von Lehrern durch heimlich von Schülern hergestellte und im Internet veröffentlichte Videos Beck, Lehrermobbing durch Videos im Internet – ein Fall für die Staatsanwaltschaft?, MMR 2008, 77; zur Verantwortlichkeit der Betreiber von Videoplattformen Ott, Die Haftung von YouTube für urheberrechtsverletzende Uploads seiner Nutzer nach USamerikanischem Recht, GRUR Int 2008, 563.
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foren, Internet-Provider etc.) die Frage nach der Verantwortlichkeit eine zentrale Bedeutung.125 Nach ständiger Rechtsprechung der Zivilgerichte ist Störer, wer – ohne Täter oder Teilnehmer zu sein – in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zur Verletzung des geschützten Rechtsguts beiträgt.126 Bei der mittelbaren Störerhaftung von Diensteanbietern (Internet-Providern) für im Internet verfügbare Inhalte, die das Persönlichkeitsrecht Dritter beeinträchtigen, können sich Besonderheiten ergeben. Das Telemediengesetz unterscheidet zwischen drei Kategorien von Diensteanbietern: Sie sind Content-Provider (Inhalteanbieter), die eigene Inhalte zur Nutzung im Netz bereithalten (§ 7 Abs. 1 TMG), Host-Provider (Serviceanbieter), die fremde Inhalte zur Nutzung im Netz bereithalten (§ 10 Satz 1 TMG), oder Access-Provider (Zugangsanbieter, § 8 TMG), die lediglich den Zugang zur Nutzung fremder Inhalte vermitteln.127 Für die haftungsrechtliche Zuordnung des Diensteanbieters sind die im TMG normierten Haftungsprivilegierungen zu berücksichtigen. So sind Host- und Access-Provider nicht verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 TMG). Auf Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche findet dieses Haftungsprivileg indes keine Anwendung, da die im TMG geregelte Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sich lediglich auf deren strafrechtliche Verantwortung und die Schadenersatzhaftung bezieht.128 125 Siehe zu den möglichen Anspruchsgegnern Spindler / Nink, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 823 BGB Rdnr. 14 ff. 126 BGH vom 11. März 2004, BGHZ 158, 236 ff. – Internet-Versteigerung I. 127 Ausführlich zur Abgrenzung Zimmermann / Stender-Vorwachs, in: Spindler / Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, Vorb. § 7 ff. TMG Rdnr. 57 ff. 128 BGH vom 11. März 2004, BGHZ 158, 236 ff. – Internet-Versteigerung I.
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Mit der Haftung für die Verbreitung fremder Inhalte hat sich die Rechtsprechung wiederholt im Zusammenhang mit Internetforen und Bewertungsplattformen beschäftigt.129 bb) Internetforen Die Haftung der Betreiber von Internetforen für fremde Beiträge wird in Rechtsprechung und Schrifttum kontrovers diskutiert. Der Bundesgerichtshof befasste sich in der Entscheidung vom 27. März 2007 mit der Verantwortlichkeit des Betreibers eines Internetforums für einen dort eingestellten ehrverletzenden Beitrag.130 In dem Unterlassen, einen als unzulässig erkannten Beitrag zu entfernen, liege „eine der Wiederholung einer Rundfunk- oder Fernsehaufzeichnung vergleichbare Perpetuierung der Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen“. Der Betreiber eines Internetforums sei „Herr des Angebots“ und verfüge deshalb vorrangig über den rechtlichen und tatsächlichen Zugriff. Auch wenn er keine Prüfungspflichten verletze, so sei er doch nach allgemeinem Zivilrecht zur Beseitigung und damit zur Unterlassung künftiger Rechtsverletzungen verpflichtet.131 Der Bundesgerichtshof hat offen gelassen, welche Prüfungspflichten der Betreiber eines Internetforums zu erfüllen hat. Nach Auffassung des LG Hamburg ist der Betreiber eines Internetforums verpflichtet, die Inhalte der von den Nutzern verbreiteten Beiträge zu überprüfen.132 Er muss sein Unternehmen so einrichten, dass er auch bei einer großen Zahl von Einträgen über genügende personelle und technische Mittel 129 Siehe hierzu Ballhausen / Roggenkamp, Personenbezogene Bewertungsplattformen, K&R 2008, 403; Greve / Schärdel, Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, MMR 2008, 644; Janal, Abwehransprüche im elektronischen Markt der Meinungen, CR 2005, 873. 130 BGH vom 27. März 2007, NJW 2007, 2558. 131 BGH vom 27. März 2007, NJW 2007, 2558. 132 LG Hamburg vom 2. Dezember 2005, MMR 2006, 491; hierzu OLG Hamburg vom 22. August 2006, MMR 2006, 744.
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verfügt, um Einträge vor ihrer Freischaltung einer Überprüfung auf ihre Rechtmäßigkeit zu unterziehen.133 Im Schrifttum wird hiergegen eingewandt, dass damit die Anforderungen an die Prüfungspflichten des Diensteanbieters überspannt werden.134 Das OLG Düsseldorf ist der Ansicht, dass solche Prüfungspflichten nicht aus allgemeinen Grundsätzen, etwa aus Gesichtspunkten der Sicherungspflichten, hergeleitet werden können, da eine allgemeine Pflicht, die zahlreichen auf einem Internetforum existierenden Diskussionsbeiträge auf möglicherweise rechtswidrige Inhalte hin zu überwachen, den Betreiber des Forums in technischer, persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht schlicht überfordern würde, so dass das Betreiben von Internetforen letztlich wegen der sich aus der Überwachungspflicht ergebenden Haftungsrisiken unmöglich würde.135 Bei einer geringen Zahl von Beiträgen, schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzungen und einer Stellung des Forenbetreibers als Träger öffentlicher Gewalt soll eine Kontrolle des Forums hingegen zumutbar sein.136 In einer weiteren Entscheidung hat das OLG Düsseldorf eine Haftung des Forenbetreibers für rechtswidrige Äußerungen abgelehnt mit der Begründung, dass ein Internetforum, in dem die 133 LG Hamburg vom 2. Dezember 2005, MMR 2006, 491; hierzu OLG Hamburg vom 22. August 2006, MMR 2006, 744. Zur Haftung des Betreibers für „eigene Informationen“ LG Hamburg vom 27. April 2007, MMR 2007, 450. 134 Damm / Rehbock, Widerruf, Unterlassung und Schadensersatz in den Medien, 3. Aufl. 2008, Rdnr. 738 m. w. N.; kritisch auch Hoeren, Zur Haftung des Forumbetreibers für rechtswidrige Forenbeiträge, EWiR 2006, 651. Näher zu den Prüfungspflichten des Betreibers Wegner / Odefey, Grundsätze der zivilrechtlichen Unterlassungshaftung bei Veröffentlichung und Online-Angeboten von fremden Inhalten, K&R 2008, 641; Wilmer, Überspannte Prüfpflichten für Host-Provider? – Vorschlag für eine Haftungsmatrix, NJW 2008, 1845. 135 OLG Düsseldorf vom 7. Juni 2006, MMR 2006, 618; ebenso LG Düsseldorf vom 27. Juni 2007, ZUM-RD 2007, 529. 136 OLG Brandenburg vom 19. Februar 2007, NJ 2007, 465 mit Anm. Berberich.
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Beiträge der Teilnehmer ungefiltert enthalten sind und ersichtlich deren Meinung wiedergeben, als ein Meinungsmarkt anzusehen sei, der dazu diene, der Meinungsvielfalt die Möglichkeit der Darstellung zu geben.137 Bei einem solchen Meinungsforum trete der Betreiber als Veranlasser einer Äußerung zurück. Gegen ihn bestehe lediglich ein Anspruch auf Abrücken, also auf Distanzierung von dem Beitrag, während der Unterlassungsanspruch gegen den sich Äußernden geltend zu machen sei.138 Das OLG Koblenz ist dagegen der Ansicht, dass der Betreiber die Sperrung oder Löschung des Vorgangs veranlassen muss, wenn er Kenntnis von unzulässigen Inhalten erhält.139 Schwierigkeiten bereitet die Inanspruchnahme des Äußernden, wenn dieser dem Geschädigten nicht namentlich bekannt ist. Auch Meinungen, die unter einer E-Mail-Adresse oder anonym im Internet abgegeben werden, genießen den Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG.140 Das Interesse, zu erfahren, von wem die Meinung geäußert wird, soll daher jedenfalls dann zurücktreten müssen, solange dem Betroffenen die Möglichkeit zur Seite steht, gegen den Betreiber des Forums bei unzulässigen, weil beleidigenden, unwahren oder schmähenden Äußerungen vorzugehen.141 Nicht abschließend geklärt ist die Frage, inwieweit dem Betreiber gegen die Aufforderung, den Verfasser eines Beitrags namentlich zu benennen, ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO zusteht, welches mit einem Beschlagnahmeverbot gemäß § 97 Abs. 5 StPO einherginge.142 137 OLG Düsseldorf vom 26. April 2006, MMR 2006, 553. Zur Haftung eines Telediensteproviders für beleidigende Äußerungen Dritter in einem Internet-Forum LG Düsseldorf vom 25. Januar 2006, CR 2006, 563. 138 OLG Düsseldorf vom 26. April 2006, MMR 2006, 482. 139 OLG Koblenz vom 12. Juli 2007, MMR 2008, 54. 140 BGH vom 27. März 2007, NJW 2007, 2558; OLG Köln vom 27. November 2007, NJW-RR 2008, 203. 141 OLG Köln vom 3. Juli 2008 – 15 U 43 / 08 – nicht rechtskräftig. 142 Siehe hierzu Weber / Meckbach, Äußerungsdelikte in Internetforen – Zugleich Anmerkung zu LG Mannheim, Beschluss vom 13. Mai 2005 – 5 Qs 23 / 05, NStZ 2006, 492.
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cc) Bewertungsplattformen Die Gerichte haben sich mehrfach mit den Rechtsfolgen negativer Äußerungen, die über Online-Bewertungsplattformen verbreitet werden, befasst. Hierzu zählen Bewertungsportale für Schüler und Studenten wie „spickmich.de“143 oder „meinprof.de“,144 aber auch Bewertungssysteme auf elektronischen Marktplätzen wie „ebay.de“.145 So verletzt nach den Feststellungen des LG Konstanz eine unwahre Tatsachenbehauptung im Bewertungssystem einer Internet-Verkaufsplattform über das Verhalten des Betroffenen bei der Abwicklung eines Kaufvertrages dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht.146 Wegen des negativen Einflusses auf die weiteren Geschäfte des Betroffenen über die Internet-Verkaufsplattform steht ihm ein Widerrufs- und Unterlassungsanspruch gegen den Vertragspartner zu,147 gerichtet auf Zustimmung zur Rücknahme der gegenüber dem Online-Auktionshaus abgegebenen Bewertung.148 143 Zu „spickmich.de“ zuletzt LG Duisburg vom 18. April 2008 – 10 O 350 / 07; grundlegend OLG Köln vom 27. November 2007, NJW-RR 2008, 203; hierzu Ladeur, Die Zulässigkeit von Lehrerbewertungen im Internet, RdJB 2008, 16; Dorn, Lehrerbenotung im Internet, DuD 2008, 98; Plog, Zur Zulässigkeit eines Bewertungsportals für Lehrer („spickmich.de“), CR 2007, 668. 144 Siehe zur Haftung des Betreibers einer Online-Bewertungsplattform für Hochschullehrer („meinprof.de“) für herabsetzende Beiträge über einen Professor LG Berlin vom 31. Mai 2007, CR 2007, 742; zur datenschutzrechtlichen Bewertung Schilde-Stenzel, „Lehrerevaluation“ oder Prangerseite im Internet – www.meinprof.de, RDV 2006, 104. 145 Hierzu Ladeur, eBay-Bewertungssystem und staatlicher Rechtsschutz von Persönlichkeitsrechten, K&R 2007, 85; Ludyga, Ansprüche gegen die Bewertung eines Anbieters einer Online-Auktion, DuD 2008, 277; Dörre / Kochmann, Zivilrechtlicher Schutz gegen negative eBay-Bewertungen, ZUM 2007, 30; zu den Möglichkeiten und Grenzen des einstweiligen Rechtsschutzes Petershagen, Rechtsschutz gegen Negativkommentare im Bewertungsportal von Internetauktionshäusern – Einstweilige Verfügung oder Hauptsacheverfahren?, NJW 2008, 953; zur Verantwortlichkeit des Internet-Auktionshauses für rechtswidrige Inhalte Meyer, Haftung der Internet-Auktionshäuser für Bewertungsportale, NJW 2004, 3151. 146 LG Konstanz vom 28. Juli 2004, NJW-RR 2004, 1635. 147 LG Konstanz vom 28. Juli 2004, NJW-RR 2004, 1635. 148 OLG Oldenburg vom 3. April 2006, NJW-RR 2006, 1204.
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Allerdings sind die Anforderungen der Rechtsprechung, wenn eine Entfernung oder Änderung einer Bewertung erreicht werden will, bisher eher hoch.149 Das LG Düsseldorf verlangt für den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen eine negative Bewertung eine „offensichtliche Rechtsverletzung in Form einer unwahren Tatsachenbehauptung“, oder, bei Werturteilen, eine Schmähkritik.150 Dieses Erfordernis ergebe sich aus einer Interessen- und Güterabwägung der Parteien, insbesondere aus dem Umstand, dass bei dem Internetauktionshaus eBay ein spezielles Bewertungsverfahren existiert und es sich bei diesem System um ein Verkaufsforum handelt, welches Unternehmer zum Verkauf von Produkten an eine Vielzahl von Verbrauchern benutzen. Der Vertragspartner sei überdies nicht schutzlos, da ihm die Möglichkeit eröffnet sei, direkt und in einem unmittelbaren Zusammenhang eine Gegenäußerung vorzunehmen.151 Hingegen soll sich nach Meinung des AG Erlangen der Löschungsanspruch nicht nur auf offensichtlich unwahre Tatsachen oder auf eine Schmähkritik beschränken; vielmehr sollen auch solche Meinungsäußerungen umfasst sein, deren Text jeglicher Bezug zur Transaktion und den damit einhergehenden Problemen fehlt und die allein abwertend ohne jegliche sachliche Begründung erfolgen.152 Nach Auffassung des AG Koblenz stellt die negative Bewertung eines Käufers im eBay-Rating „Nie wieder! So etwas habe ich bei über 500 Punkten nicht erwartet!! Rate ab!!“ weder einen Verstoß gegen zivilrechtliche noch strafrechtliche Normen dar.153
149 Vgl. Wiebe / Neubauer, in: Hoeren / Sieber, Handbuch Multimediarecht, Stand: 19. Lfg., März 2008, Teil 15: Rechtsprobleme bei InternetAuktionen, Rdnr. 134 ff. m. w. N. – Zum Rechtsschutz durch einstweilige Verfügung Kaufmann, Verhinderung brisanter Onlineveröffentlichungen, MMR 2006, 714. 150 LG Düsseldorf vom 18. Februar 2004, MMR 2004, 496. 151 LG Düsseldorf vom 18. Februar 2004, MMR 2004, 496. 152 AG Erlangen vom 26. Mai 2004, MMR 2004, 635. 153 AG Koblenz vom 2. April 2004, MMR 2004, 640.
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dd) Hyperlinks Das Telemediengesetz enthält keine Regelung zur Haftung desjenigen, der mittels eines elektronischen Querverweises (Hyperlink) den Zugang zu rechtswidrigen Inhalten eröffnet. Die Haftung für Hyperlinks richtet sich daher nach den allgemeinen Vorschriften.154 Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist eine differenzierte Beurteilung geboten, wie sie die Rechtsprechung bereits in der Zeit vor Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr für erforderlich gehalten hatte.155 Zumindest derjenige, der sich die fremden Informationen, auf die er mit Hilfe des Hyperlinks verweist, zu eigen macht, haftet dafür wie für eigene Informationen, also wie ein Content-Provider i. S. d. § 7 Abs. 1 TMG.156 Entscheidend für die haftungsrechtliche Zuordnung ist, ob sich der Anbieter durch die Art der Verknüpfung den verlinkten Inhalt zu eigen macht, sich mit diesem solidarisiert, oder ob es sich um eine reine Zugangsvermittlung handelt.157 Ein Disclaimer mit dem bloßen Hinweis, dass es sich um einen fremden Inhalt handelt, genügt nicht, um die Haftung wegen eigenen Inhalts auszuschließen.158 Vielmehr muss sich der Diensteanbieter so klar vom Inhalt der in seine Webseiten übernommenen Inhalte distanzieren, dass nicht mehr er, sondern nur noch der wirkliche Verfasser des Beitrages als der keines Datenschutzes bedürftige Urheber in Erscheinung tritt, 154 BT-Drs. 14 / 6098, 37. Siehe zur Haftung des Linksetzers Volkmann, Haftung für fremde Inhalte: Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gegen Hyperlinksetzer im Urheberrecht, GRUR 2005, 200; Plaß, Hyperlinks im Spannungsfeld von Urheber-, Wettbewerbs- und Haftungsrecht, WRP 2000, 599; aus der Rechtsprechung BGH vom 1. April 2004, NJW 2004, 2158 – Schöner Wetten, und BGH vom 17. Juli 2003, NJW 2003, 3406 – Paperboy. 155 BGH vom 18. Oktober 2007, NJW 2008, 1882 m. w. N. – ueber18.de. 156 BGH vom 18. Oktober 2007, NJW 2008, 1882 m. w. N. – ueber18.de. 157 Haupt / Hagemann, in: Büchting, Rechtsanwaltshandbuch, 9. Aufl. 2007, C. 27 Rdnr. 28. 158 Haupt / Hagemann, in: Büchting a. a. O., Rdnr. 28 m. w. N.
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der dafür zivil- und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.159 ee) Online-Enzyklopädien Die freie Online-Enzyklopädie „Wikipedia“, deren Inhalt von freiwilligen Autoren erstellt wird, erfreut sich unter vielen Internetnutzern zunehmender Beliebtheit. Bei dieser Website wird von der Betreiberin Dritten eine Plattform und Speicherplatz zur Verfügung gestellt, damit diese selbst verfasste Beiträge hinterlegen können, so dass jedermann an der „Wikipedia“ mitarbeiten, Artikel erstellen und bearbeiten kann, wobei weder eine Vorabkontrolle noch eine nachträgliche Steuerung durch eine zentrale Redaktion stattfindet. Die „Wikipedia“ ist daher in wesentlichen Aspekten einem Forum vergleichbar.160 Wer auf seiner Website einen Link zu „Wikipedia“ setzt, verbreitet daher nach Auffassung des LG Hamburg die dort enthaltenen Beiträge nicht als eigene Inhalte und verstößt auch nicht gegen journalistische Sorgfaltspflichten. Denn bei den Artikeln handelt es sich nicht um eigene Berichterstattung, sondern erkennbar um Beiträge Dritter, die darauf ausgerichtet sind, sich durch Veränderung beliebiger Nutzer permanent weiterzuentwickeln, und die einem öffentlichen Informationsinteresse dienen.161 Führt ein Wikipedia-Beitrag zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so bestehen Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche nach §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog. Das AG Charlottenburg hat die Betreiberin der Internetseite „Wikipedia“ dabei als Zustandsstörerin qualifiziert.162 Zumindest ab dem Zeitpunkt, in dem die Betreiberin auf die AufforOLG Köln vom 28. April 2002, NJW-RR 2002, 1700. LG Hamburg vom 16. Mai 2008, MMR 2008, 550. 161 LG Hamburg vom 16. Mai 2008, MMR 2008, 550. 162 AG Charlottenburg vom 19. Dezember 2005, MMR 2006, 254 m. Anm. Kaufmann / Köcher; siehe auch Strauß, Rechtliche Verantwortlichkeit für Wikipedia, ZUM 2006, 274. 159 160
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derung des Verletzten nicht unverzüglich die angegriffenen Passagen entsprechend abändert oder entfernt, kommt ihr die Störereigenschaft zu,163 abgesehen davon, dass bei der Verletzung absoluter Rechte die Störereigenschaft ohnehin uneingeschränkt gilt.164 ff) Online-Archive Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die über das Internet begangen werden, gewinnen durch ihre unbeschränkte Archivierung in Online-Archiven eine völlig neue Qualität, da die Inhalte dadurch zeitlich unbegrenzt im Internet zur Verfügung stehen. Dies wirft neue Fragen der presserechtlichen Störerhaftung für in Online-Archive eingestellte Inhalte auf.165 In der Rechtsprechung ist eine einheitliche Linie noch nicht erkennbar.166 Nach Auffassung des OLG Hamburg sind Presseorgane zwar befugt, ihre Veröffentlichungen in ein ihnen zugängliches Online-Archiv einzustellen, aber nicht berechtigt, den Inhalt dieses Archivs ungeprüft der Öffentlichkeit zu präsentieren.167 Soll archiviertes Material Dritten online zur Verfügung gestellt werden, obliege es daher dem Betreiber des Pressearchivs als Verbreiter, zuvor die Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsschutzes zu prüfen.168 Ein 163 AG Charlottenburg vom 19. Dezember 2005, MMR 2006, 254 m. w. N. 164 AG Charlottenburg vom 19. Dezember 2005, MMR 2006, 254 m. w. N. 165 Vgl. hierzu Libertus, Determinanten der Störerhaftung für Inhalte in Onlinearchiven, MMR 2007, 143 („audiovisuelles Gedächtnis der Informationsgesellschaft“); von Petersdorff-Campen, Persönlichkeitsrecht und digitale Archive, ZUM 2008, 102; Verweyen / Schulz, Die Rechtsprechung zu den „Onlinearchiven“, AfP 2008, 133. 166 Siehe für einen Überblick über die bisherige Rechtsprechung Libertus, Determinanten der Störerhaftung für Inhalte in Onlinearchiven, MMR 2007, 143. 167 OLG Hamburg vom 9. Oktober 2007, ZUM-RD 2008, 69. 168 OLG Hamburg vom 9. Oktober 2007, ZUM-RD 2008, 69.
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Anspruch auf Kennzeichnung eines Internet-Archivzugriffs als „Archivseite“ bestehe nicht.169 Schwierigkeiten können auftreten, wenn die Ausgangsberichterstattung zwar rechtmäßig war, eine spätere Publikation jedoch rechtswidrig ist. So kann eine ursprünglich zulässige Kriminalberichterstattung unter Namensnennung eines Beschuldigten in einem Mordfall nach rechtskräftiger Verurteilung in Anbetracht eines langen Zeitablaufs und des Resozialisierungsinteresses des Betroffenen unzulässig werden.170 Von daher soll es einem Presseunternehmen nach Ansicht des OLG Hamburg zumutbar sein, für ein Internet-Pressearchiv, in dem noch der ursprüngliche Artikel abrufbar ist, ein Kontrollverfahren vorzusehen, so dass nicht mehr eine volle Namensnennung erfolgt.171 Das OLG Frankfurt hat einen Anspruch auf Löschung eines ursprünglich zulässigen Artikels in einem Online-Archiv hingegen abgelehnt.172 Es fehle an einer aktuellen Berichterstattung, wenn der ursprünglich in einer gedruckten Ausgabe enthaltene Artikel in ein OnlineArchiv eingestellt werde. Allein durch die Bereithaltung eines zu einem früheren Zeitpunkt erschienenen, zulässigen Artikels in einem Archiv werde der Betroffene nicht erneut „an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt“, da sich der Äußerungsgehalt lediglich in einem Hinweis auf eine in der Vergangenheit zulässige Berichterstattung erschöpfe.173
KG Berlin vom 15. März 2007, AfP 2008, 74. OLG Hamburg vom 28. März 2007, MMR 2007, 377; vgl. auch LG Hamburg vom 1. Juni 1997, MMR 2007, 666; a.A. OLG Frankfurt vom 12. Juli 2007, ZUM 2007, 915, wenn der Betroffene sich im Rahmen eines Wiederaufnahmeantrags selbst namentlich an die Öffentlichkeit gewandt hat. 171 OLG Hamburg vom 28. März 2007, MMR 2007, 377. 172 OLG Frankfurt vom 20. September 2006, AfP 2006, 570. 173 OLG Frankfurt vom 20. September 2006, AfP 2006, 570 m. w. N. 169 170
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gg) Suchmaschinen Persönlichkeitsrechte können schließlich auch durch die Trefferlisteneinträge von Suchmaschinen verletzt werden. Diese durchsuchen das Internet nach dem vom Benutzer eingegebenen Suchbegriff und stellen die gefundenen Ergebnisse in der Trefferliste mit einer Überschrift und wenigen Worten dar. Bereits in diesem kurzen Anriss kann, ähnlich wie bei einer Schlagzeile, eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts liegen.174 Dem Betroffenen steht daher der allgemeine zivilrechtliche Unterlassungsanspruch gegen den Suchmaschinenbetreiber zu. Das LG Berlin ist der Auffassung, der Betreiber einer MetaSuchmaschine, die ihre Trefferlisten durch die unmittelbare Weiterleitung der Suchanfrage des Nutzers an die Datenbanken der einfachen Suchmaschinen speist, sei hinsichtlich seiner Mitverantwortung für persönlichkeitsrechtsverletzende Internet-Inhalte nicht anders zu behandeln als derjenige einer einfachen Suchmaschine. Es bestehe gegen den Betreiber einer Meta-Suchmaschine ein im Wege der einstweiligen Verfügung durchsetzbarer Anspruch auf Löschung oder Sperrung die Rechte Dritter verletzender Treffereinträge, gegebenenfalls unter Einsatz geeigneter Filtersoftware.175 Das OLG Hamburg weist allerdings darauf hin, dass, wenn eine Suchmaschine bei ihren Suchtreffern in der Überschrift rechtlich problematische Äußerungen anzeigt, dies nicht zwingend heißt, dass diese Äußerungen sich auf die im weiteren Text der Seite genannten Personen beziehen.176 Ein solcher Rückschluss liege schon deshalb fern, weil es sich um eine Suchmaschine handelt, deren Eintragungen – für den Nutzer offen174 Ausführlich hierzu Spieker, Verantwortlichkeit von Internetsuchdiensten für Persönlichkeitsrechtsverletzungen in ihren Suchergebnislisten, MMR 2005, 727. 175 LG Berlin vom 22. Februar 2005, MMR 2005, 324; hierzu Köster / Jürgens, Die Haftung von Suchmaschinen für Suchergebnislisten, K&R 2006, 108. 176 OLG Hamburg vom 20. Februar 2007, MMR 2007, 315; ebenso OLG Stuttgart vom 26. November 2008 – 4 U 109 / 08.
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kundig – nicht auf der intellektuellen Leistung von Menschen beruhen, sondern das Ergebnis eines automatisierten Vorgangs sind. Mit dem Suchergebnis verbinde sich für den Nutzer jedenfalls dann keine inhaltliche Aussage, wenn darin nicht ganze Sätze der gefundenen Seite, sondern lediglich einzelne Worte als „Schnipsel“ („Snippets“) aufgeführt werden.177 Umstritten ist, inwieweit der Betreiber einer Suchmaschine verpflichtet ist, die Trefferliste vor ihrer Anzeige auf mögliche persönlichkeitsrechtsverletzende Suchergebnisse zu überprüfen. Nach Auffassung des KG Berlin ist es dem Betreiber einer Suchmaschine nicht möglich und nicht zumutbar, jedes Rechercheergebnis vor der Anzeige des Abfrageergebnisses auf eine mögliche Rechtsverletzung hin zu überprüfen. Ihn treffe aber eine Prüfungspflicht, wenn er zuvor erfolglos aufgefordert worden ist, den persönlichkeitsrechtsverletzenden Suchergebniseintrag zu löschen oder wenn eine solche Aufforderung von vornherein keinen Erfolg verspricht.178 Auch das OLG Nürnberg geht davon aus, dass für einen Internet-Suchmaschinenbetreiber grundsätzlich keine Rechtspflicht besteht, die von ihm verlinkten Seiten auf eine etwaige Verletzung des Persönlichkeitsrechts eines Dritten zu überprüfen. Erfolge jedoch durch den Dritten eine inhaltlich sachlich gehaltene Abmahnung, dann sei es ihm zuzumuten, in eine Überprüfung der Abmahnung einzutreten. Bei klaren und eindeutigen Rechtsverstößen sei der Beurteilungsspielraum bei dieser Überprüfung eingeschränkt mit der Folge, dass der Suchmaschinenbetreiber als Störer nach § 1004 BGB zu qualifizieren sei, wenn er die konkret beanstandete Verlinkung auf eine bestimmte Website weiter aufrechterhält.179 177 OLG Hamburg vom 20. Februar 2007, MMR 2007, 315; ebenso OLG Stuttgart vom 26. November 2008 – 4 U 109 / 08. 178 KG Berlin vom 20. März 2006, MMR 2006, 393; hierzu Spieker, Zur Haftung des Betreibers von (Meta-)Suchmaschinen, ZUM 2006, 462; siehe auch KG Berlin vom 10. Februar 2006, MMR 2006, 393 mit Anm. Spieker; hierzu Stenzel, Über die Haftung des Metasuchmaschinenbetreibers für die Wiedergabe rechtswidriger Inhalte, ZUM 2006, 4. 179 OLG Nürnberg vom 22. Juni 2008, K&R 2008, 614.
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4. Rechtliche Schutzlücken Bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts gilt der allgemeine Grundsatz, dass es in jedem Einzelfall einer Abwägung bedarf, ob die Vermutung für die Freiheit der Meinung durch gegenläufige Belange des Persönlichkeitsschutzes überwunden wird.180 In der Rechtsprechung haben sich im Lauf der Zeit einige Vorzugsregeln herausgebildet. So geht bei Werturteilen der Persönlichkeitsschutz regelmäßig der Meinungsfreiheit vor, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, als Schmähkritik oder als Formalbeleidigung darstellt.181 Bei Tatsachenbehauptungen hängt die Abwägung vom Wahrheitsgehalt ab. Nach ständiger Rechtsprechung müssen wahre Aussagen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind, unwahre dagegen nicht.182 Diese Formel ist allerdings differenzierungsbedürftig. Auch bei wahren Aussagen können ausnahmsweise Persönlichkeitsbelange überwiegen und die Meinungsfreiheit in den Hintergrund drängen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Aussagen die Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre betreffen und sich nicht durch ein berechtigtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen183 oder wenn sie einen Persönlichkeitsschaden anzurichten drohen, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht.184 180 Vgl. BVerfGE 93, 266, 294 – „Soldaten sind Mörder“; BGH vom 5. Dezember 2006, NJW 2007, 686 – „Terroristentochter“. Zu den einzelnen Kriterien aufseiten des Schädigers und aufseiten des Verletzten Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 96 ff., 99 ff.; ausführlich auch Bamberger / Roth, Beck’scher Onlinekommentar, Stand: 1. Mai 2009, § 12 BGB Rdnr. 174 ff. m. w. N. 181 Vgl. BVerfGE 93, 266, 293 f. – „Soldaten sind Mörder“. 182 Vgl. BVerfGE 99, 185 – Scientology; BVerfGE 97, 391, 403 – Missbrauchsvorwurf. 183 Vgl. BVerfGE 99, 185 – Scientology; BVerfGE 66, 116, 139 – Springer / Wallraff; BVerfGE 34, 269, 281 ff. – Soraya; siehe auch Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 101a m. w. N. 184 Vgl. BVerfGE 99, 185 – Scientology; BVerfGE 97, 391, 403 ff. – Missbrauchsvorwurf; BVerfGE 35, 202, 232 – Lebach; siehe auch Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 101a m. w. N.
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Im Übrigen gilt jedoch der Grundsatz, dass wahre Äußerungen, auch wenn sie für den Betroffenen nachteilig sind, hinzunehmen sind, wenn sie nicht die Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre, sondern die Sozialsphäre betreffen.185 Im Fall schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht, etwa bei Stigmatisierung oder sozialer Ausgrenzung, sind jedoch auch Eingriffe in die Sozialsphäre des Betroffenen unzulässig.186 Schwierigkeiten bereitet die Verbreitung wahrer Tatsachen im Internet, die zwar die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung bereits überschritten haben, aber nicht als schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts in diesem Sinne einzustufen sind. Zwar kann die Ermittlung und Offenlegung persönlicher Einzelheiten aus einer der geschützten Sphären, ebenso wie die Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs, eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstellen.187 Ob dies jedoch eine hinreichend schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts beinhaltet, hängt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung von der Bedeutung und der Tragweite des Eingriffs ab, dabei insbesondere vom Anlass und Beweggrund sowie von dem Grad des Verschuldens des Handelnden.188 Werden auf privaten Websites, Weblogs, in Chatrooms oder Webforen Tatsachen über andere mitgeteilt, die zwar wahr sind, aber den Betroffenen in ein schlechtes Licht rücken, wird der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht nicht immer diese von der Rechtsprechung geforderte Intensität erreichen. Dies hat zur Folge, dass der von den negativen Äußerungen Betroffene rechtlich schutzlos bleibt. 185 BGH vom 19. April 2005, NJW 2005, 2766, 2770; ebenso BVerfG-K vom 17. Dezember 2002, NJW 2003, 1109. 186 BGH vom 7. Dezember 2004, NJW 2005, 592; siehe auch BGH vom 21. November 2006, NJW-RR 2007, 619; BVerfG-K vom 23. Februar 2000, NJW 2000, 2413. 187 Sprau, in: Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 Rdnr. 94. 188 Vgl. BGH vom 15. November 1994, BGHZ 128, 1; BVerfG-K vom 4. März 2004, NJW 2004, 2371.
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Nach der Rechtsprechung hängt das Ausmaß des Schutzes nicht zuletzt vom Zweck der Meinungsäußerung ab. Beiträge zur Auseinandersetzung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage genießen stärkeren Schutz als Äußerungen, die lediglich der Verfolgung privater Interessen dienen.189 Werden im Rahmen einer Privatpublikation Tatsachen über andere Privatpersonen mithilfe des Internet verbreitet, so ist kein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit ersichtlich, von den dort mitgeteilten Tatsachen Kenntnis zu erlangen. Bei der öffentlichen Berichterstattung über prominente Persönlichkeiten mag ein gewisses Informationsinteresse der Allgemeinheit gegeben sein. Anderes gilt indes, wenn die Sozial- oder Privatsphäre von Privatpersonen betroffen ist, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen und dies auch nicht wünschen. Es besteht kein vergleichbares öffentliches Interesse an einer Berichterstattung über unprominente Privatpersonen, die kein Ereignis von zeitgeschichtlicher Bedeutung betrifft.
5. Ergebnis Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das infolge der technischen Möglichkeiten des Internet unterzugehen droht, wurde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt. Es manifestiert sich als Produkt der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Menschenwürde in bestimmten speziellen Ausprägungen, wie z. B. dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung in Nordrhein-Westfalen auch in einem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gibt dem Einzelnen das Recht, grundsätzlich selbst zu bestimmen, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will. Diese Befugnis beinhaltet auch 189
BVerfG-K vom 19. Dezember 1991, NJW 1992, 2013 m. w. N.
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das Recht am eigenen Bild und das Recht am eigenen Wort. Die Intensität des Persönlichkeitsschutzes ist abgestuft je nachdem, ob die Intim-, Privat- oder Sozialsphäre des Betroffenen verletzt ist. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der individuellen Rechte, insbesondere des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ist auch nicht der Rechtsbereich, der durch das Internet in eine Schieflage gerät. Adressat dieser Rechte ist bekanntermaßen der Staat. Akteure im Internet sind Privatpersonen. Da die Grundrechte andererseits staatsgerichtet sind und es sich bei Persönlichkeitsverletzungen im Internet überwiegend nicht um staatliche Eingriffe, sondern um die Eingriffe Privater handelt, ist die gesetzgeberische Aktivität des Staates gefordert. Diese ist bislang vollkommen unzureichend. Es gibt kein eigenständiges Recht des Internet, das eine adäquate Reaktion auf die neuartigen Gefährdungslagen ermöglicht. Auch das Zivilrecht regelt die Folgen von Persönlichkeitsverletzungen nur extrem unzulänglich. Zwar wirken die Grundrechte mittelbar über die zivilrechtlichen Generalklauseln und auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung im Zivilrecht. So ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt. Dies führt allerdings nur zu Ansprüchen auf Schadenersatz. Darüber hinaus findet der Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch des § 1004 BGB analoge Anwendung. Schließlich gibt es noch Gegendarstellungsansprüche im Presserecht, die aber regelmäßig nicht gegenüber Privatpersonen geltend gemacht werden können. Im Rechtsalltag sind diese Rechtspositionen jedoch stumpfe Schwerter. Man erinnere sich nur an den Fall des Fernsehmoderators Stefan Raab, der eine Schülerin wegen ihres aus seiner Sicht witzigen Namens „Lisa Loch“ in einer Art und Weise medial verfolgte, dass das Mädchen sich kaum noch in der Öffentlichkeit sehen lassen kann. Das Gericht legte Herrn Raab eine Geldentschädigung in Höhe von 70.000 A auf, die gewissermaßen aus der Portokasse des Senders beglichen werden konnte.
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Auch wirken diese Rechtsinstitute nicht gegen die Verbreitung von Tatsachen, die zwar wahr sind, von denen der Einzelne aber nicht will, dass sie über ihn verbreitet werden. Ist es aber wirklich so, dass die Öffentlichkeit ein Recht hat, alles über alle Personen zu wissen, auch solche Dinge, von denen der jeweilige Betroffene nicht möchte, dass sie öffentlich bekannt sind? Gibt es nicht einen Anspruch, auch darüber mitbestimmen zu können, welche Informationen über die eigene Person verbreitet werden, sofern man keine Person des öffentlichen Lebens ist? Justice Brandeis spricht von einem right to be let alone, das mittlerweile in der Rechtsprechung des USSupreme Court anerkannt ist, allerdings auf mit dem deutschen Recht nicht vergleichbaren Voraussetzungen beruht.
V. Rechtspolitische Forderungen Der Schutz des Persönlichkeitsrechts ist einfachgesetzlich in Deutschland nicht hinreichend ausgeprägt. Die Entwicklung im Bereich des Internet bietet Anlass dazu, diese beiden Felder gesetzgeberisch zu bedenken. Erforderlich ist einerseits eine echte Kodifizierung des Internetrechts, die die rechtlichen Strukturen des Internet jedenfalls im nationalen Bereich umfassend regelt. Zugleich sollte das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Zivilrecht stärker gesetzlich manifestiert werden, anstatt allein der Rechtsprechung überlassen zu bleiben. Das traditionelle Verständnis des deutschen Schadenersatzrechts ist nicht hinreichend, um den Anforderungen der Zukunft zu begegnen. In Deutschland sollte daher ein allgemeines, zivilrechtlich verankertes Persönlichkeitsschutzrecht implementiert werden, das mit einem effektiven Schutzmechanismus versehen ist. Hierzu bietet es sich an, das amerikanische Prinzip der Punitive Damages auf das europäische Rechtssystem zu übertragen. Dies bedeutet, dass dem Schädiger bei einem Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte eine in das Ermessen des Gerichts ge-
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stellte Zivilstrafe auferlegt wird, die dem Geschädigten unabhängig von einem nachgewiesenen Schaden zuerkannt wird. Wie das Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt, hätte dies eine sehr viel stärkere Auswirkung auf das Verhalten von Privatpersonen im Internet als die gegenwärtige rechtliche Struktur. Schließlich sollte sich die Bundesrepublik Deutschland international um eine völkerrechtliche Vertragsregelung für das Feld des Internet bemühen. Zwar wird kaum der Fall eintreten, dass sich alle Länder der Welt zu einem internetspezifischen Rechtsabkommen durchringen werden. Der Grund liegt – anders als bei den Postabkommen oder den Telefonabkommen – darin begründet, dass es einzelne Länder gibt, die kein Interesse an einem internationalen Übereinkommen zur Regelung der Rechtsstruktur des Internet haben und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem solchen internationalen Abkommen nicht beitreten werden. Nichtsdestotrotz scheint der Abschluss eines internationalen Übereinkommens über die Rechtsverhältnisse des Internet möglich und erforderlich. Im Rahmen dieses Abkommens sollten grundsätzliche Regelungen darüber getroffen werden, nach welchen Rechtsstrukturen das Internet funktioniert und wer es verwaltet. Darüber hinaus sollte angestrebt werden, rechtliche Regelungen zu finden, welche Rechtsgüter im Bereich des Zivilrechts nach einem internationalen Standard weltweit geschützt werden und was – jedenfalls in wesentlichen Grundzügen – im Internet verboten sein sollte.
Hegel und der Staat als Vertrag Von Kurt Seelmann, Basel Die Vorstellung, der Staat lasse sich als Resultat eines Vertrags verstehen oder gar vertraglich legitimieren, hat bekanntlich ihren wohl schärfsten Kritiker in Georg Wilhelm Friedrich Hegel gefunden. Das lag, damals zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Trend – die zwei Jahrhunderte lang dominierenden großen kontraktualistischen Legitimationsmodelle von Gesellschaft und Staat waren schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, etwa mit David Hume und dessen Stützung der Gemeinschaft auf das gemeinsame Interesse statt auf Willensübereinstimmung, auf dem Rückzug. Zudem hatte sich Hegel nicht selten kritisch mit der Verfassung des Reichs befasst, das ihm im Vertragsgedanken seinen wichtigsten Geburtsfehler zu enthalten schien: „Die vormaligen deutschen Länder hatten über sich Kaiser und Reich, und es war ein Feudalverhältnis, indem innerhalb des allgemeinen Staats die Fürsten als Private dastanden, was (dadurch) ganz vernunftwidrig war“.1 Doch heute, da der Kontraktualismus durch Autoren wie John Rawls wieder weite Verbreitung auch in der politischen Philosophie findet, ist Hegels Kritik an einer Legitimation des Staates mit der Denkfigur des Vertrages nicht mehr so selbstverständlich. Es lohnt sich deshalb, Hegels Argumente gegen den Kontraktualismus noch einmal genau zu betrachten (unten I), aber auch das von ihm vorgeschlagene Gegenmodell kurz zu würdigen (unten II). 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817 / 18) und Homeyer (Berlin 1818 / 19), hrsg. v. Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, Mitschrift Wannenmann, § 35 Anmerkung, S. 58.
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I. Hegels Kontraktualismuskritik Hegels Kritik am Kontraktualismus ist ein wichtiges Element seiner Staatsphilosophie. Im dritten Teil, der den Staat zum Gegenstand hat und sein System der Rechtsphilosophie abschließt, wird diese Kritik ausführlich dargestellt. Gleichwohl hat Hegel diese Kontraktualismus-Kritik schon an einer systematisch früheren Stelle seiner Rechtsphilosophie, in einem anderen Kontext, erstmals eingeführt. Hegel wendet sich nämlich bereits in seiner Straftheorie, in dem mit „Abstraktes Recht“ überschriebenen ersten Teil der genannten Schrift, gegen einen bestimmten Typ2 vertragstheoretischer Argumentation. Schon an dieser Stelle allerdings geht es nicht etwa nur um die Straftheorie, sondern zugleich um Hegels Staatsverständnis. Hegel verwahrt sich dort nämlich gegen die Vorstellung, der Täter habe im Gesellschaftsvertrag vorweg unter der Bedingung einer späteren Begehung einer Straftat in die Strafe eingewilligt. Wichtigster Adressat Hegels für diese Kritik ist Cesare Beccaria, dem er vorwirft, dieser habe in seiner kontraktualistischen Straftheorie fälschlich den Staat als Resultat einer Übereinkunft verstanden, der durch den ursprünglichen Vertrag verpflichtet sei, Leben und Eigentum der Bürger zu schützen,3 was Hegel für eine verkürzte Sicht der Dinge hält. Dadurch koppelt Hegel seine Vertragskritik bereits in der Straftheorie an die entsprechende Vertragskritik in seiner Staatsphilosophie und auch an seine Lehre vom Vertrag im „abstrakten Recht“ – eine Stelle, an der er von vornherein u. a. den Staat als etwas nicht kontraktualistisch Legitimier2 Zu den vier verschiedenen Typen eines straftheoretischen Kontraktualismus vgl. Verf., Vertragsmetaphern zur Legitimation des Strafens im 18. Jahrhundert, in: Michael Stolleis u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 441 ff. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse, Edition Ilting Bd. 2., Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, § 100 Anmerkung, S. 364.
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bares aus dem Umkreis der Philosophie des „Vertrags“ ausschließt. Was sind nun Hegels Argumente gegen den Kontraktualismus als Erklärungs- und Legitimationsfigur für den Staat? 1. Möglichkeit der Vertragsverletzung Bereits im „abstrakten Recht“ ist in Bezug auf den Vertrag immer wieder von „Zufall“ und „willkürlich“ die Rede. „Zufällig“ und „willkürlich“ ist für Hegel am Vertrag zunächst einmal etwas vergleichsweise Triviales, nämlich dass der Einzelne sich vom übereinstimmend Beschlossenen als einer Willensübereinstimmung jederzeit auch wieder lösen kann. Er braucht sich einfach nur zu weigern, den Vertrag zu erfüllen. Zwar kann man ihm dann die Verletzung der Verpflichtung, die aus dem Vertrag herrührt, vorhalten; er verhält sich entgegen der gemeinsam deklarierten Intention der beiden Vertragschließenden. Dennoch ermöglicht ein (bloßer) Vertragsschluss es jederzeit, sich so zu verhalten. 2. Möglichkeit der Vertragsauflösung „Willkürlich“ und „zufällig“ ist der Vertrag aber andererseits auch deshalb – und dieser Vorwurf rührt mehr an das Zentrum des Vertragsgedankens – weil die Vertragsverletzung durch den einen Vertragschließenden dem anderen das Recht gäbe, sich gleichfalls nicht mehr an den Vertrag gebunden zu sehen: „Wenn ein Teil diesen Vertrag nicht halte, sei auch der andere, wenn er dies glaube, nicht mehr an den Vertrag gebunden“,4 führt Hegel kritisch an. Zudem könnten die Vertragspartner übereinstimmend problemlos den Vertrag wieder auflösen. So bietet der Vertrag jedenfalls für Dritte keine Sicherheit. „Die Identität (der Willensübereinstimmung, K.S.) ist nur scheinende“, schreibt Hegel, „denn sie kann aufgelöst werden“.5 4
Hegel o. Fn. 1, S. 58.
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3. Institutionelle Unsicherheit Die Vorstellung vom Staat als dem Ergebnis eines Vertrags, einer Willensübereinstimmung, unterfällt bei Hegel der Kritik aber auch unter einem weiteren Gesichtspunkt der gemeinsamen Auflösbarkeit – jenseits des Gedankens der Rechtssicherheit für einzelne Dritte. Das jeweils zufällige „Gemeinsame“ der Einzelwillen garantiert nicht notwendig die institutionellen Grundlagen des Zusammenlebens.6 Dass solche Kritik nicht gänzlich unplausibel ist, können heutige verfassungsrechtliche Versuche vor Augen führen, durch „Ewigkeitsklauseln“ oder „Kerngehaltsgarantien“ bestimmte rechtsstaatliche Grunderfordernisse auch gegen Mehrheiten resistent zu machen, also auch einer „vertraglichen“ Abschaffung aller zu entziehen.7 4. Begründungstheoretische Schwierigkeiten Wenn Hegel im Fall notwendiger Institutionen den Verpflichtungsgrund der Figur des Vertrags für nicht haltbar genug ansieht, so nimmt er damit offenbar auch auf ein bereits zu seiner Zeit diskutiertes Paradoxon Bezug, das sich bei der Frage nach dem Verpflichtungsgrund eines Vertrages stellt. Falls jede Verpflichtung aus einem Vertrag entspringt, dann auch der Satz „pacta sunt servanda“. Woraus erwächst dann aber die Verpflichtung zur Einhaltung desjenigen Vertrags, in welchem das „pacta sunt servanda“ erst vereinbart wurde, dem es also noch nicht zugrunde lag? Dies müssen dann offensichtlich, wenn man nicht nur das bloße Faktum des Interesses 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift H.G. Hothos, Edition Ilting Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 208. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift von K.G. v. Griesheim, Edition Ilting Bd. 4, StuttgartBad Cannstatt 1974, § 75 Anmerkung, S. 251. 7 Vgl. nur Art. 79 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes mit seinem Verbot der Abänderung fundamentaler Verfassungsrechte.
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zugrunde legen möchte, Vernunftgründe sein, die in der Vertragskonstruktion selbst nicht zum Ausdruck kommen. Das ist spätestens seit dem jungen Fichte immer wieder als Problem formuliert worden.8 Was ist Hegels Ausweg? Ein möglicher theoretischer Ausweg aus dem Dilemma des Kontraktualismus könnte für Hegel nun der Hobbes‘sche Weg sein, der einfach den tatsächlichen Vertragsschluss zu einer dann nur noch beschränkt hinterfragbaren staatlichen Gewalt führen lässt. Dieser nicht selten auch in der modernen Staatsphilosophie beschrittene Weg mag zwar faktisch die Auflösbarkeit des Vertrages und die damit zusammenhängenden Probleme vermindern oder gar verhindern, aber er bleibt normativ unterbestimmt. Einen anderen Ausweg schneidet sich Hegel in seiner Fundamentalkritik an Carl Ludwig von Hallers „Restauration der Staatswissenschaft“9 ab, dessen erste Bände ihm vorgelegen haben. Von Haller, so Hegel, habe es in seinem Verständnis vom Staat unternommen, „den Gedanken aus dem Auffassen seiner innern Natur zu verbannen“.10 Verglichen mit den Vertragstheoretikern habe sich von Haller „in ein Gegenteil geworfen, das ein völliger Mangel an Gedanken ist“.11 Der Staat sei bei von Haller reduziert auf die „zufällige Naturgewalt“. Hegel sucht gewissermaßen die Äquidistanz zwischen rational konstruierten Gesellschaftsvertragslehren auf der einen und einer mit Erfahrung und Intuition arbeitenden Staatstheorie auf der anderen Seite. Romantische Organismus-Metaphern, wie wir sie etwa auch bei Friedrich Schlegel finden und wie sie 8 Dazu Richard Schottky, Die staatsphilosophische Vertragstheorie als Theorie der Legitimation des Staates, in: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, PVS-Sonderheft 7, 1976, S. 81 ff., 98 ff. 9 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Winterthur 1820 – 1834. 10 Hegel o. Fn. 3, § 258 Anmerkung, S. 696. 11 A. a. O., S. 697.
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die deutsche Staatsphilosophie nachhaltig bestimmt haben, sind für ihn deshalb keine taugliche Alternative.
II. Wechselseitige Anerkennung als Normanerkennung und Konstitutionsakt von Personen Den Ausweg sucht Hegel vielmehr in dem aus heutiger Sicht geradezu modern anmutenden Begriff der wechselseitigen Anerkennung, den er schon lange vor seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von den Jugendschriften an entwickelt hat. Dass er später, in der gedruckten Rechtsphilosophie, weit hinter diesen seinen Vorarbeiten zurückbleibt und einen eher essentialistischen Staatsbegriff verwendet, ist ihm später zu Recht vorgeworfen worden.12 Um ihm wirklich gerecht zu werden, muss man aber darauf hinweisen, dass Hegel an vielen anderen Stellen genau jenem Desiderat entsprochen hat, das sich aus dem Fehlschlagen des Kontraktualismus ergibt. Er hat es unternommen, eine Staatslegitimation zu entwerfen, in deren Zentrum wie beim Vertragsgedanken das individuelle Subjekt in seiner Interaktion, und gerade kein normativer Kollektivismus steht. Wichtig ist ihm aber auf der anderen Seite zugleich, dass eine solche individualistische Konstruktion der Staatsbegründung nicht die Nachteile der kontraktualistischen Legitimation aufweist. Eben dazu hat er seine alternative Theorie der wechselseitigen Anerkennung entwickelt. 1. Das Anerkennungsverhältnis Ein Vertrag setzt mindestens zwei Vertragspartner voraus, die bereits als Rechtssubjekte miteinander in Beziehung tre12 Überblick bei Dietmar von der Pfordten, Zum Begriff des Staates bei Kant und Hegel, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2004, S. 103 – 120, bes. S. 115.
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ten, also vor diesem Vertragsschluss schon Rechtssubjekte waren. Das muss vorausgesetzt werden, da sie sonst gar nicht an das „pacta sunt servanda“ gebunden wären – es führt aber zu der Schwierigkeit, dass man sich kontraktualistisch das „pacta sunt servanda“ auch wieder nur als Resultat eines Vertrags vorstellen kann und somit, wie schon gezeigt, in einen infiniten Regress gerät. Anders ist es in Hegels Modell der Anerkennung. Dort ist die Rechtssubjektivität überhaupt erst das Resultat des Anerkennungsprozesses und deshalb gerade noch nicht dessen Voraussetzung. Im Prozess des Anerkennens konstituieren sich die Rechtssubjekte erst als solche. Die Individuen werden durch die Anerkennung zu Personen und geben nicht einfach bereits als Individuen wechselseitige Versprechen ab.13 Das Anerkennungsverhältnis, wie Hegel es versteht, ist Ergebnis von Erfahrung, die Hegel in das Bild eines „Kampfes um Anerkennung“ kleidet. Die Individuen lernen nach diesem Bild in einem langen Prozess der Selbstvergewisserung, dass weder in der Tötung des Gegenübers noch in der Unterjochung des Anderen von diesem eine Anerkennung zu erlangen ist. Anerkennung setzt ein Verhältnis von Gleichheit voraus, ein Verhältnis gleichen Respekts. Es geht um eine Erfahrung, die dem Einzelnen nahe legt, sich mit den anderen in ein Rechtsverhältnis zu begeben. Das Anerkennungsverhältnis unterscheidet sich von dem für das Denken der Aufklärung typischen Modell des gesellschaftlichen Vertrages nicht erst durch das Resultat, sondern bereits durch eine unterschiedliche Ausgangssituation des Modells. Hegel geht es beim Verhältnis der Anerkennung nicht um die Genese der Mechanismen von Gemeinschaftsbildung schlechthin, sondern um die Genese gerade rechtlicher 13 Zum Unterschied von Vertragstheorie und Anerkennungsmodell in der Gegenüberstellung von Hobbes und Hegel vgl. Henrik Richard Lesaar, Anerkennung als hermeneutischer Prozess, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Anerkennung. Zu einer Kategorie gesellschaftlicher Praxis, Würzburg 2004, S. 45 ff., 53 ff.
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Beziehungen. Er will nicht wissen, wie Individuen besser zusammenleben können, sondern wie sie zu Personen werden. Wovon er für die Entstehung von Anerkennung ausgeht, ist also nicht das hypothetisch vereinzelte Individuum des Kontraktualismus, sondern das bereits vorher in naturwüchsigen Gemeinschaften beheimatete Individuum.14 Der andere ist gerade als Interaktionspartner schon zu Beginn des Anerkennungsprozesses vorausgesetzt.15 Günther Jakobs hat dagegen eingewandt, „nur in einer schon vorhandenen Ordnung richtet sich die Begierde auf die Anerkennung durch andere“.16 Das ist zwar richtig, aber nur gemessen am traditionellen Kontraktualismus wirklich ein Einwand. Wer Gesellschaftsbildung überhaupt begründen will, darf die Konstruktion nicht mit dem vergesellschafteten Individuum beginnen. Wer aber, mit Hegel, das Entstehen von Rechtsbeziehungen analysieren will, kann deren Spezifikum gerade am – in Familien und Sippen – bereits sozialisierten Individuum herausarbeiten. Was gegenüber dem Kontraktualismus ein treffender Einwand wäre, ist es nicht gegenüber dem Modell der Entstehung wechselseitiger Anerkennung.
2. Die Normorientierung und damit die Staatsbegründung als Resultat der wechselseitigen Anerkennung Gerade die gemachte Erfahrung einer Notwendigkeit wechselseitiger Anerkennung legt es nahe, gemeinsam Normen anzuerkennen, also „Regeln der dabei entstehenden neuen Ordnung, in der die individuellen Interessen – nicht beseitigt, aber – transzendiert werden“.17 Der Inhalt solcher Normen ist 14 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, erweiterte Ausgabe 2003, Frankfurt a. M. 2003, S. 27. 15 Honneth o. Fn. 14, S. 78. 16 Günther Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 36. 17 Jakobs o. Fn. 16, S. 32.
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im Allgemeinen wie im Besonderen bei Hegel treffend beschrieben durch die wechselseitige Respektierung als Rechtssubjekte. Im Resultat des Anerkennungsprozesses votiert man deshalb zugleich für die gemeinsame Anerkennung der Norm und damit der rechtlich verfassten Gesellschaft, des Staates. Die Norm darf aber – und das ist das Neue an Hegels Theoriedesign – dem Individuum nicht als äußeres Ereignis begegnen, sondern sie muss sich für sein eigenes Denken als eine Notwendigkeit entwickeln. Bliebe der Begründungsakt einer Rechtsgemeinschaft bei Herrschaft und Knechtschaft dergestalt, dass „der Herr . . . einer Gruppe eine Verfassung geben (muss)“,18 deren Verpflichtungsgrund die Macht ist, so bliebe sie nicht nur instabil, sondern würde auch einer normativen Geltung gänzlich entbehren. Für Hegels Konzeption der Anerkennung ist dieses Hobbes‘sche Modell also nicht hinreichend für die Rechtsbegründung.19 Der Staat ist eben kein „neues, aus dem Schema der Individuen nicht zu erklärendes Deutungsschema“.20 Vielmehr muss sich die Notwendigkeit der Anerkennung der Norm aus der erwiesenen und erfahrenen wechselseitigen Anerkennung der durch diesen Akt zu Personen werdenden Individuen ergeben. Das folgt aus den Geltungsbedingungen der Norm. Allgemein zumutbar ist jedenfalls in der Moderne den Individuen nur eine Norm, die mit der Unverzichtbarkeit ihres Freiheitsanspruchs vereinbar ist.21 Dieser Selbstverständlichkeit neuzeitlichen Denkens fügt das Modell der Anerkennung aber etwas hinzu: Die Freiheit der Beteiligten ist nur dann nicht über Gebühr eingeschränkt, Jakobs o. Fn. 16, S. 36. Zur hobbesianischen Ausgangssituation bei Hegel vgl. Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982, S. 339. 20 Jakobs o. Fn. 16, S. 26. 21 Karl-Heinz Ilting, Der Geltungsgrund moralischer Normen, in: Kuhlmann / Böhler (Hrsg.), Kommunikation und Reflexion – zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1982, S. 612 ff., 630. 18 19
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wenn die Norm grundsätzlich gleiche Ansprüche und Verpflichtungen statuiert, alle als rechtlich gleiche Subjekte behandelt. Sie muss so die einzelnen Personen als Resultate des Anerkennungsprozesses voraussetzen. „Indem Hegel nach den Bedingungen der Möglichkeit jenes Selbst fragt, das Subjekt jeder normativen Selbstbindung ist, transzendiert er die traditionellen Selbstbindungstheorien“.22 Es geht nicht mehr allein darum, dass die Betroffenen nur an Normen gebunden sind, denen sie vernünftigerweise ihre Zustimmung nicht verweigern können, sondern in demselben Prozess, in dem sie zu tauglichen Adressaten der Norm werden, gewinnt die Norm erst ihren wesentlichen Inhalt. Dieses Voraussetzungsverhältnis gilt auch umgekehrt. Erst in der gemeinsamen Anerkennung von Normen werden Individuen zu Personen und haben sich – vor der Norm – zu verantworten.23 Dem Postulat der Existenz einer Norm für ein Rechtsverhältnis ist also völlig zuzustimmen. Nur ergibt sich das Zustandekommen einer Norm gerade schon aus dem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung. So wie die Anerkennung der Norm einer wechselseitigen Anerkennung der Personen bedarf, bedarf letztere, um überhaupt eine Anerkennung als Personen (und nicht nur Individuen) zu sein, der Anerkennung der Norm. Die Norm kommt auf die Individuen nicht von außen zu, aus der Hand eines Herrschers, sondern ist Element der rechtlichen Vergesellschaftung. Daraus ergibt sich für die Rechtsbegründung das Modell der doppelten Anerkennung. Nicht die Norm schafft Personen und Gesellschaften, sondern die Anerkennung des anderen als Meinesgleichen, und die eben darin liegende Anerkennung der Norm schafft die Norm ebenso wie die RechtsGesellschaft, den Staat.
22 Michael Pawlik, Die Verdrängung des Subjekts und ihre Folgen. Begründungsdefizite in Habermas’ „System der Rechte“, in: Rechtstheorie 27 (1996), S. 441 ff., 444. 23 Ilting o. Fn. 21, S. 631.
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Zum Abschluss sei noch eine persönliche Bemerkung erlaubt: Die Vorüberlegungen zu diesem Thema gehen zurück auf das Saarbrücken der 80er Jahre, auf die erhellenden HegelSeminare von Karl-Heinz Ilting und das rechtsphilosophische Klima, das damals die dortige Universität ausgezeichnet hat. Es war das Saarbrücken, in dem Dietrich Murswiek und ich einen nicht unwichtigen Teil des akademischen Wegs in großer Nähe zubrachten – und dies ganz wörtlich: nämlich in derselben Straße, wo die Gärten ohne Zäune ineinander übergingen und so auch unsere Kinder ungehindert miteinander spielen konnten. Das könnte fast eine Metapher sein für eine auch binnenjuristische Interdisziplinarität, wo sogar der Strafrechtler den Mut fassen kann, unter Staatsrechtlern etwas über den Staat zu sagen. In Erinnerung an solche schönen Jahre seien diese Zeilen Dietrich Murswiek gewidmet.
Deutschland in Europa – die grundgesetzliche Konzeption deutscher Staatlichkeit Von Christian Hillgruber, Bonn I. Einführung Deutschland in Europa, der vom Grundgesetz verfasste, sich in Europa integrierende deutsche Staat, das ist eines der großen Themen Dietrich Murswieks. Sein rechtswissenschaftliches Denken und Fühlen galt und gilt dem deutschen Staat, so wie ihn das Grundgesetz verfassungsrechtlich geformt hat. Er ist hierbei sich und seinem Erkenntnisgegenstand stets treu geblieben. In der Zeit der Teilung Deutschlands gehörte er zu den ganz wenigen Staatsrechtslehrern seiner Generation, die an dem durch das Grundgesetz aufgegebenen Ziel der Wiedervereinigung eisern festgehalten und seine Realisierung unbeirrt von einem sich davon zusehends abwendenden politischen Zeitgeist beharrlich und mit Nachdruck eingefordert haben. Die im Grundgesetz angelegte europäische Zukunftsperspektive Deutschlands hat Dietrich Murswiek dabei von Anfang an in seine Überlegungen einbezogen, ohne indes bereit zu sein, zu ihren Gunsten den Bestand (gesamt-)deutscher Staatlichkeit in Frage stellen zu lassen. So lehnte er es ab, den auf die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung gerichteten Wiedervereinigungsauftrag unter einen Europa(verträglichkeits)vorbehalt zu stellen.1 Heute gilt Dietrich Murswieks Sorge dem Fortbe1 D. Murswiek, Wiedervereinigung Deutschlands und Vereinigung Europas. Zwei Verfassungsziele und ihr Verhältnis zueinander, in:
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stand souveräner Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im immer weiter fortschreitenden europäischen Integrationsprozess.2 Ich möchte daher Dietrich Murswiek im Rahmen dieses anlässlich seines 60. Geburtstags, zu dem ich ihm als Freund und Kollege ganz herzlich gratuliere, veranstalteten Symposiums mit einer knappen Skizze der grundgesetzlichen Konzeption deutscher Staatlichkeit ehren.
II. Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für den souveränen deutschen Staat „Von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk [ . . . ] kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz beschlossen“. So lautete 1949 und so lautet noch heute – abgesehen von dem nach der Wiedervereinigung gestrichenen „Wahrungsziel“ – der zentrale Passus des Satzes 1 der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Darin drückt sich in knapper, feierlicher und doch sachlich bindender Form das verfassungsrechtliche Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland aus. Es ist dies das Selbstverständnis eines souveränen Staates. Zwar spricht das Grundgesetz das so oft fehlgedeutete und unter dem Nationalsozialismus zur Scheinlegitimation rechtloser Gewaltherrschaft missbrauchte Wort „Souveränität“ nicht aus, und doch hat das BVerfG Recht, wenn es schon in D. Blumenwitz / B. Meissner (Hrsg.), Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage, 1986, S. 103 – 122. 2 D. Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat 32 (1993), S. 161; ders., Der Vertrag von Lissabon. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, Mai 2008, abrufbar unter: http: //www.jura.unifreiburg.de/institute/ioeffr3/forschung/gutachten.
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einer seiner ersten Entscheidungen festgestellt hat: „Das Grundgesetz will seinem ganzen Inhalt nach die Verfassung eines souveränen Staates sein. [ . . . ] Es geht ausnahmslos von der Gleichberechtigung der Bundesrepublik in der Völkerrechtsgemeinschaft aus“.3 Ein Blick in die Beratungen des Parlamentarischen Rates macht dies ganz deutlich: Während Hans Kelsen bekanntlich 1945 den Untergang Deutschlands als Völkerrechtssubjekt mit der Begründung behauptet hatte, die vom Deutschen Reich begangenen ungeheuerlichen Verbrechen hätten es zum outlaw gemacht,4 bestand im Parlamentarischen Rat demgegenüber Einigkeit darüber, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches und die ihr nachfolgende Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland durch die Alliierten die Existenz Deutschlands als Staat nicht vernichtet hat, dass es vielmehr als Rechtssubjekt fortbesteht und auch das deutsche Volk, und zwar als Staatsvolk, erhalten geblieben ist.5 Das als staatliche, und nicht etwa nur als kulturelle Einheit weiterexistierende Deutschland musste nicht neu gegründet, sondern lediglich reorganisiert und rekonstitutionalisiert werden. Die (Fort-)Existenz des deutBVerfGE 1, S. 351 (368 f.). The Legal Status of Germany, AJIL 39 (1945), pp. 518 ff. 5 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9, 1996, S. 18 – 69 (23 – 27, 25 und 33); ders., 7. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 6. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 / I, 1993, S. 156 – 171 (160). Siehe ferner J. Schwalber und J. Brockmann, 3. Sitzung des Plenums vom 9. 9. 1949, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9, 1996, S. 70 – 149 (90, 143); A. Süsterhenn, 6. Sitzung des Plenums vom 20. 10. 1948, a.a.O., S. 176 – 216 (186); H.-C. Seebohm, 6. Sitzung des Plenums vom 20. 10. 1948, a.a.O., S. 176 – 216 (198); W. Menzel, 10. Sitzung des Plenums vom 8. 5. 1949, a.a.O., S. 504 – 630 (521). Zu ersten Begründungen dieser sich im Schrifttum und – worauf es ankommt – auch in der internationalen Staatenpraxis durchsetzenden Auffassung siehe W. Geiger, Zur Genesis der Präambel des Grundgesetzes, EuGRZ 1986, S. 121 – 126 (121 f.) sowie v.a. BVerfGE 77, S. 137 (154 ff.). 3 4
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schen Staates wird vom Grundgesetz vorausgesetzt. Es will eben diesen Staat wieder „in Ordnung“ und in eine neue verfassungsrechtliche Form bringen.6 In der abschließenden dritten Lesung des Entwurfs resümierte Hans-Christoph Seebohm als Ergebnis der Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Deutschlands Rechtslage wie folgt: „Die völkerrechtliche Staatspersönlichkeit des Deutschen Reiches ist nicht untergegangen. Ihr entspricht das einheitliche Staatsbewusstsein aller Angehörigen der deutschen Nation. Diesem Umstand muss Rechnung getragen werden, indem die Gebietshoheit sowie die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit des deutschen Gesamtstaates wiederhergestellt und das Bestimmungsrecht über deutsche Menschen und die Verfügungsgewalt über das deutsche Nationalvermögen wieder voll in deutsche Hände gelegt wird.“7 Deshalb nahm man für den auf einem Teilgebiet reorganisierten deutschen Staat souveräne Gleichheit im völkerrechtlichen Sinne in Anspruch, nicht mehr, aber auch nicht weniger, gerade weil es daran gegenwärtig und in absehbarer Zukunft fehlte. Die Souveränitätsbeschränkungen, so zeigte man sich überzeugt, müssten und würden einmal fallen. Das deutsche Volk werde dann von der zurückgewonnenen Souveränität einen anderen, das Völkerrecht achtenden Gebrauch machen.8 Diese im Parlamentarischen Rat aus Gründen der Selbstachtung wiederholt und einmütig erhobene Forderung nach souveräner Gleichheit Deutschlands fand in der endgültigen Fassung der Präambel ihren Niederschlag lediglich in der Formulierung vom Deutschen Volk als „gleichberechtigtem Glied“ eines vereinten Europas. In ersten Entwurfsfassungen enthaltene, deutlichere Hinweise auf die Beschränkung der ange6 Vgl. D. Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S. 36. 7 H.-C. Seebohm, 10. Sitzung des Plenums vom 8. 5. 1949, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 504 – 630 (567). 8 Vgl. C. Schmid, 6. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 5. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 5 / I (Fn. 5), S. 156 – 171 (183).
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strebten vollen Souveränität durch die Besetzung wurden mit Rücksicht auf die Besatzungsmächte, aber auch wegen ihres resignativen Tonfalls fallengelassen.9 Dem Redaktionsausschuss gelang es schließlich mit der endgültigen Fassung von Satz 1 der Präambel (a. F.), dem nach wie vor geltend gemachten Anspruch des deutschen Volkes nach souveräner Gleichheit für die Bundesrepublik Deutschland in einer nicht rückwärtsgewandten, sondern zukunftsgerichteten und einprägsamen Form Ausdruck zu verleihen, die zugleich die Brücke nach Europa und in die Welt hinein schlug. III. Die Bundesrepublik Deutschland als der Staat des deutschen Volkes Wenn außer von staatlicher Souveränität im Parlamentarischen Rat auch häufig von der Souveränität des deutschen Volkes („deutscher Volkssouveränität“) die Rede war,10 dann liegt dem nicht etwa Begriffsverwirrung zugrunde, sondern – der völkerrechtlichen Entwicklung vorausgreifend – die zutreffende Erkenntnis vom sachlichen Zusammenhang zwischen Staats- und Volkssouveränität, wie er im heute geltenden Völkerrecht durch das (innere) Selbstbestimmungsrecht der staatlich organisierten Völker hergestellt wird, das als eigenständiger Rechtstitel die völkerrechtliche Souveränität des Staates fundiert und legitimiert, indem es allen Völkern die freie Entscheidung über ihren eigenen politischen Status gewährleistet (Art. 1 Abs. 1 S. 2 IPBPR, IPWSKR). Das Grundgesetz denkt den deutschen Staat personal, vom deutschen Volk als seinem Träger her. Das deutsche Volk be9 Zur Diskussion siehe 8. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 7. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 5 / I (Fn. 5), S. 172 – 219 (180 – 182). Siehe ferner Allgemeiner Redaktionsausschuss, Parlamentarischer Rat, Drs. 370. 10 U.a. C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 18 – 69 (28, 29); ders., 6. Sitzung des Plenums vom 20. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 176 – 216 (181, 183).
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kennt sich in der Präambel a.F. zur Wahrung „seiner“ staatlichen Einheit. In diesem Sinne konstituiert das Grundgesetz zwecks Erhaltung der staatlichen Einheit der deutschen Nation die Bundesrepublik Deutschland als Staat des Deutschen Volkes. „Eine Verfassung“, so hatte Carlo Schmid formuliert, „ist nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung eines Volkes“, „Ausdruck der Entscheidung eines Volkes zu sich selbst“.11 Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates legten Wert auf die Feststellung, dass das deutsche Volk durch die von ihm zu verantwortende nationalsozialistische Gewaltherrschaft seinen Anspruch auf nationale Selbstbestimmung und staatliche Selbstorganisation nicht verwirkt hatte. „Hierauf hat in einer demokratischen Welt jedes Volk ein eigenständiges und unverzichtbares Recht. Man nennt dieses Recht Volkssouveränität, was nichts anderes bedeutet als das Recht auf freie Gestaltung des nationalen Lebens. Dieses Recht steht auch dem deutschen Volke zu und ist weder durch die Kapitulation noch durch die Besetzung untergegangen.“12 Daher hatte schon der Konvent auf Herrenchiemsee in seinem Mehrheitsvorschlag zur Präambel davon gesprochen, dass das deutsche Volk dieses Grundgesetz „kraft seines unverzichtbaren Rechtes auf Gestaltung seines nationalen Lebens“13 erlasse. Im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates berief man sich dafür auch auf das „in der Urkunde der Vereinten Nationen als allgemeine Regel des Völkerrechts von den friedliebenden Völkern der Erde anerkannte Recht der Selbstbestimmung“ und bezog 11 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 18 – 69 (21, 22), ders., 6. Sitzung des Plenums vom 20. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 176 – 216 (181). 12 C. Schmid, 6. Sitzung des Plenums vom 20. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 176 – 216 (181). 13 Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen – Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. – 23. 8. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 504 – 630 (579 i. V. m. 506 – 511 [Darstellender Teil]).
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sich damit auf die Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 UN-Charta.14 Das unverlierbare Recht des deutschen Volkes auf seinen Nationalstaat wurde also nicht nur traditionell naturrechtlich, sondern auch bereits modern und zukunftsweisend mit dem in der Charta erst angelegten, später auf dieser Grundlage völkerrechtlich allgemein anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Völker begründet.
IV. Die Europakonzeption des Grundgesetzes Die im Grundgesetz zugleich erklärte Bereitschaft des deutschen Volkes, sich in ein vereintes Europa zu integrieren, steht zu dem für den deutschen Staat erhobenen Souveränitätsanspruch in keinem Gegensatz. Das angestrebte „vereinte Europa“ sollte für Deutschland nicht an die Stelle eines untergegangenen Nationalstaates und verloren gegangener staatlicher Souveränität treten, vielmehr der deutsche Nationalstaat reorganisiert und in voller staatlicher Souveränität wiederhergestellt werden, um sich sodann „als gleichberechtigtes Glied“ in Europa einzufügen. Das Ziel eines „vereinten Europa“ war nicht auf die Auflösung der souveränen europäischen Nationalstaaten gerichtet, sondern darauf, „einen übernationalstaatlichen Staatenbund auf föderalistischer Grundlage auf[zu]bauen [ . . . ]. Die Voraussetzung dazu ist die Ordnung in unserem eigenen Hause und die Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, um unsere Souveränität zurückzugewinnen“.15 Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit wurden als die „Grundvoraussetzungen für die Begründung einer europäischen Friedensordnung und Wirtschaftsgemeinschaft“16 14 A. Zinn und H. v. Mangoldt, 6. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 5. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 5 / I (Fn. 5), S. 156 – 171 (156 f., 162 f.). 15 H.-C. Seebohm, 3. Sitzung des Plenums vom 9. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 70 – 149 (127). 16 A. Süsterhenn, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 18 – 69 (53).
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angesehen. Das Bekenntnis zu Europa bedeutete daher nach dem im Parlamentarischen Rat vorherrschenden Verständnis nicht die Absage an den souveränen deutschen Nationalstaat, sondern an das überholte Konzept eines auf Autarkie bedachten, selbstgenügsamen, sich nicht nur abgrenzenden, sondern abschottenden, kurz: eines introvertierten, zur Kooperation unwilligen und unfähigen Nationalstaates. Stattdessen wollte man die Bundesrepublik Deutschland, von gleicher Souveränität wie die anderen europäischen Staaten, in der Erkenntnis, dass es in der heutigen Zeit kaum ein Problem mehr gibt, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte,17 bereits verfassungsrechtlich für die gleichberechtigte Teilhabe an einem supranationalen Europa öffnen. Das Grundgesetz verzichtet also nicht auf Souveränität, wohl aber, um eine Formulierung C. Schmids aufzugreifen, darauf, „die Souveränität des Staates wie einen ,rocher de bronze‘ zu stabilisieren“, erleichtert vielmehr die Abtretung von Hoheitsbefugnissen an internationale Organisationen.18 Die verfassungsrechtliche Integrationsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland ist dementsprechend groß, aber sie ist nicht unbeschränkt. Die Vorschrift des Art. 23 Abs. 1 GG stellt weder eine General- noch eine Blankettermächtigung dar. Sie berechtigt lediglich zur völkervertraglichen Übertragung einzelner, hinreichend bestimmter und damit inhaltlich begrenzter Hoheitsrechte, nicht der allein dem souveränen deutschen Staat zukommenden und vorbehaltenen, umfassenden, gesamten Staatsgewalt.19 Der Grund dafür liegt im De17 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 18 – 69 (41). 18 Vgl. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, Sten. Ber., 8. Sitzung vom 6. 5. 1949, S. 174. C. Schmid knüpfte damit an das berühmte Diktum Friedrich Wilhelm I., des preußischen Soldatenkönigs an, der einst die absolutistische Souveränität wie einen „rocher de bronze“ zu stabilisieren gedachte. 19 K. Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996, S. 57 f. m.N. aus der Entstehungsgeschichte.
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mokratieprinzip des Grundgesetzes. „Die Demokratie als Staats- und Regierungsform geht über die Inhaberschaft der verfassunggebenden Gewalt durch das Volk hinaus. Sie besagt, dass das Volk nicht nur Ursprung und letzter Träger der politischen Herrschaftsgewalt ist, es vielmehr die politische Herrschaftsgewalt auch selbst ausübt, sie aktuell innehat und innehaben soll. Das Volk herrscht nicht nur, es regiert auch.“20 Das Demokratieprinzip erlaubt daher keine – zur Entäußerung deutscher Staatsgewalt führende – Generalermächtigung der EG / EU zur Rechtsetzung und einen damit verbundenen Übergang zu potentieller europäischer Allzuständigkeit, sondern nur die Erteilung begrenzter Einzelermächtigungen.21 Zum Bestandsschutz der deutschen Demokratie (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 GG) fordert das BVerfG, dass dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben; der Ausdehnung der Zuständigkeiten der Europäischen Union sind dadurch vom demokratischen Prinzip des Grundgesetzes her Grenzen gesetzt. „Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann.“22 Mit dem Grundgesetz hat das deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt sein „Haus“ (C. Schmid) gebaut. Um im Bild zu bleiben: Das Haus hat Fenster, die geöffnet 20 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR II, 3. Auflage 2004, § 24 Rn. 8. 21 BVerfGE 89, 155 (172, 182 ff., 187); dazu grundlegend bereits P. Kirchhof, HStR VII 1992 § 183 Rn. 57 ff. 22 BVerfGE 89, 155 (186). Entstaatlichung führt also in grundgesetzlicher Perspektive notwendig auch zu Entdemokratisierung, die sich wegen des damit verbundenen Wechsels des Legitimationssubjekts auch nicht durch einen entsprechenden Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments auf europäischer Ebene kompensieren lässt. Denn dieses legitimiert sich demokratisch von der Gesamtheit der Unionsbürger und nicht exklusiv vom deutschen Volk her.
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werden können, mehr als einen Spalt, aber nicht sperrangelweit. Mit den Worten des BVerfG: Das Grundgesetz „erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. [ . . . ] Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte.“23 Nur solange die Geltung von Europarecht in Deutschland von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes abhängt, wahrt Deutschland die verfassungsrechtlich vorgegebene Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht.24
V. Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland als unaufgebbares Verfassungsgebot Die vom deutschen Volk als Verfassunggeber getroffene Entscheidung für die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland gehört ebenso wie die Identitäts- und Kontinuitätsentscheidung zu den Grundentscheidungen des Verfassunggebers, die für die verfasste Staatsgewalt einschließlich des verfassungsändernden Gesetzgebers unabänderlich festgelegt ist. Dies ergibt sich zum einen aus Art. 20 Abs. 1 GG. Nach Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland demokratischer und sozialer (Bundes-)Staat, also auch und zunächst Staat. Dieser, seinem in der Präambel erkennbar in Anlehnung an den in Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta niedergelegten allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten formulierten Anspruch nach souveräne Staat, zunächst 23 24
BVerfGE 111, 307 (319). BVerfGE 89, 155 (190).
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Gegenstand der Verfassung und ihr vorausliegend, wird damit zugleich selbst zum verfassungsrechtlichen Gewährleistungsinhalt erhoben. Als integraler Bestandteil der mit Art. 20 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland steht auch deren souveräne Staatlichkeit unter der fortwährenden Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als völkerrechtsunmittelbarer, unabhängiger Staat ist damit unter der Geltung des Grundgesetzes unverrückbar verfassungsrechtliche Essentiale.25 Auch Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG kann eigentlich nur so verstanden werden. Denn danach sind auch solche politischen Parteien verfassungswidrig, die nach ihren Zielen darauf ausgehen, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Da die politische Zielsetzung einer Partei aber nur dann ihr Verbot wegen Verfassungswidrigkeit zu legitimieren vermag, wenn es auch auf dem legalen Weg der Verfassungsänderung nicht erreicht werden kann, setzt Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG die weder durch Sezessions- noch durch Fusionsbestrebungen in ihrer Effektivität beeinträchtigte, unabhängige Existenz des mit dem Grundgesetz verfassten deutschen Staates notwendig voraus. Doch selbst wenn man weder die Staatsstrukturbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG noch das Parteienverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG als durchschlagende Argumente für die Unaufgebbarkeit des Souveränitätspostulats gelten lassen wollte, so gälte doch nichts anderes. Denn die in der Präambel vom deutschen Volk als Verfassunggeber getroffene Grundentscheidung für den souveränen deutschen Staat steht nicht zur Disposition der pouvoirs constitués, auch nicht des pouvoir constituant constitué, dem als Teil der verfassten Gewalt ebenfalls die dazu erforderliche Rechtsmacht fehlt. Die Grundentscheidung des Verfassunggebers, die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Nationalstaat des deutschen Volkes zu 25 Siehe dazu nur D. Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat 32 (1993), S. 161 (162 – 165).
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konstituieren, ist als Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit für die Identität der mit dem Grundgesetz etablierten Verfassungsordnung schlechthin konstitutiv. Sie gehört als – objektiv wie subjektiv – vorausgesetzte Geschäftsgrundlage des Grundgesetzes zu der verfassungsrechtlichen Grundsubstanz, die – über den Gewährleistungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG hinaus – dem verfassungskonformen Regelungszugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist und nur revolutionär oder durch Staatsstreich beseitigt werden könnte.26 Deshalb bleibt auch, wie Dietrich Murswiek überzeugend nachgewiesen hat, das Gebot, die nationale und staatliche Einheit des deutschen Volkes zu wahren, dauerhaft maßgeblich und gilt ungeachtet seiner formellen Streichung aus dem Grundgesetz nach der Wiedervereinigung unverändert und unvermindert fort.27 Nur das deutsche Volk kann kraft seiner ursprünglichen verfassunggebenden Gewalt seine eigene Grundentscheidung in einem neuen verfassunggebenden Akt revidieren, sich europäischer Oberhoheit unterstellen und seinen Staat unter Aufgabe seiner Verfassungsautonomie zu einem bloßen Gliedstaat einer übergeordneten europäischen Einheit herabstufen. Auf dem Boden des Grundgesetzes ist dagegen ein verfassungsrechtlich wirksamer Abschied von der Souveränität des deutschen Staates nicht möglich, auch nicht durch plebiszitäre Legitimation auf der Grundlage des neuen Art. 146 GG. Für diesen Zweck steht die darin enthaltene Ablösungsermächtigung nämlich nicht zur Verfügung.28 Denn die Schlussbestim26 Schon Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 23 – 25 hat daher Grundsatzerklärungen des pouvoir constituant in der Verfassungspräambel zu den unabänderlichen verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen gerechnet. 27 D. Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S. 59, 66; C. Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, HStR II 32004, § 32 Rn. 15. 28 Wie hier A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 146 Rn. 22 f.; H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 6 f. m.w.N pro und contra.
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mung des Grundgesetzes steht auch noch in ihrer Neufassung nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der in der Präambel grundgelegten verfassungsrechtlichen Gesamtkonzeption deutscher Staatlichkeit. Anfang und Ende des nun für das gesamte deutsche Volk geltenden Grundgesetzes bleiben aufeinander bezogen. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass das deutsche Volk doch auch nach einer Souveränitätsaufgabe, wenn nur die anderen europäischen Völker es ihm gleich täten, „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ bliebe. Denn die Gleichheit, die die Präambel meint, ist keine beliebige, sondern, wie der Blick in die Entstehungsgeschichte gezeigt hat, die souveräne, nicht gleiche Abhängigkeit, sondern gleiche Unabhängigkeit. Die weitreichende europäische Integration des deutschen Staates steht daher, wie das BVerfG in der Görgülü-Entscheidung zu Recht betont hat, unter einem – wenn auch weit zurückgenommenen – Souveränitäts- und Verfassungsvorbehalt.29 Nur wenn sich der vom Grundgesetz verfasste Staat das Letztentscheidungsrecht nicht nehmen lässt, das entscheidende letzte Wort behält, kann dieser Vorbehalt auch realisiert werden.30 „Deutschland als voll souveränen Staat in die europäische Völkergemeinschaft und in die Gemeinschaft der freien demokratischen Organisationen der Welt wieder ein[zu]ordnen“:31 Das war das erklärte Ziel der Schöpfer des Grundgesetzes. Das heißt: So und nicht anders will es das Grundgesetz nach BVerfGE 111, 307 (319). U. Fink, Garantiert das Grundgesetz die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland?, in: DÖV 1998, S. 133 – 141, hat daher konsequent eine Garantie deutscher Staatlichkeit aus Art. 79 Abs. 3 GG hergeleitet. Die Wirksamkeit der Ewigkeitsgarantie erfordert unabdingbar deutsche Staatsgewalt als ihren dauerhaften Garanten. 31 A. Süsterhenn, 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat Bd. 9 (Fn. 5), S. 18 – 69 (49). 29 30
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dem maßgeblichen authentischen Willen des Verfassunggebers. Und so und nicht anders müssen es seine, ihrem Erkenntnisgegenstand getreulich verpflichteten Interpreten wollen. Dietrich Murswiek hat es uns vorgemacht.
Verfassung jenseits des Staates – Eine Zwischenbilanz Von Rainer Wahl, Freiburg* I. Zur Diskussionslage Es ist von Verfassungsrechtlern in Deutschland weitgehend unbemerkt oder jedenfalls unkommentiert geblieben, dass es seit mehr als 10 Jahren eine ausgedehnte Diskussion über eine Verfassung jenseits des Staates gibt. Natürlich ist das Projekt eines Europäischen Verfassungsvertrags ausführlich diskutiert worden, insbesondere die grundsätzliche Frage der Übertragbarkeit des Verfassungskonzepts auf die Europäische Union. Das gleiche läßt sich dagegen von dem weiterreichenden Thema der Erstreckung des Verfassungsdenkens auf den internationalen Raum nicht sagen. Sie wird fast ausschließlich von den Internationalrechtlern geführt.1 Für sie war nicht zuletzt die anfänglich als Erfolgsgeschichte verstandene europäische Verfassungsdiskussion ein Anstoß und sozusagen der Türöffner für eine weitere Runde von Verfassungsdenken jenseits des Staates.2 Es war auch die Ausdehnung auf die internatio* Der Aufsatz ist während eines 4-monatigen Aufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin entstanden. Teile davon sind auch eingegangen in den Aufsatz: Defense of „Constitution“, in: Martin Loughlin / Petra Dobner (eds), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford University Press 2009 / 2010 (i.E.). Ich danke für lange Diskussionen den Berliner Konfellows Petra Dobner, Dieter Grimm, Martin Loughlin, Fritz Scharpf, Alexander Somek, Gunter Teubner. 1 In ihr zeigt sich eine gewisse Separation zwischen dem völkerrechtlichen und dem verfassungsrechtlichen Diskurs. 2 Dazu den programmatischen Aufsatz von Franz C. Mayer, European Law as a door opener for public international Law, in: Journée Franco-
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nale Ebene, die die Karriere der Formel von der Verfassung jenseits des Staates (constitution beyond the state3) begründet oder stark angestoßen hat. Der Streit um die Berechtigung der konstitutionalistischen Lesart des Völkerrechts war eine der Groß-Debatten im Völkerrecht des letzten Jahrzehnts. Derzeit gibt es zwar einige Anzeichen, dass dieses Thema den Zenit seiner Aufmerksamkeit überschritten hat. Da aber „Verfassung“ ein Schlüsselbegriff des politisch-rechtlichen Denkens ist, kommen in einer Debatte über seine Übertragbarkeit auf die internationale Ebene zwangsläufig Grundfragen und tiefer greifende Probleme der politisch-rechtlichen Welt zur Sprache. Entsprechend hoch ist der Erkenntnisgewinn einer kritischen vergleichenden Diskussion über die mögliche Bedeutung von Verfassung auf den drei Ebenen für das Verfassungsrecht, das Europarecht und das internationale Recht: Auf der einen Seite könnte eine erfolgreiche Verpflanzung des Verfassungskonzepts den beiden anderen Ebenen die gleiche Fundamentierung erbringen, die das Verfassungskonzept für die Staaten so erfolgreich geleistet hat. Zudem wäre es von hohem theoretischem Reiz und praktischem Folgenreichtum, wenn alle drei Ebenen von denselben elementaren Rechtsgrundsätzen dirigiert wären. Auf der anderen Seite wäre eine inflationäre und inhaltlich unzutreffende Übertragung von den Staaten auf die Ebenen jenseits des Staates ein Scheinerfolg, der besseren Konzepten im Wege stehen würde. Allemande (ed.), Droit International et Diversité des Cultures juridiques – International Law and Diversity of Legal Cultures, 2008, S. 241 ff.; Andreas L. Paulus, Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts, ZaöRV 67 (2007), S. 695 ff.; dazu auch Matthias Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz?, ZaöRV 68 (2008), S. 453 (459): Insofern erscheine das Europarecht als „Fenster in eine mögliche Zukunft des Völkerrechts, die vielleicht schon begonnen hat“. 3 In der umfangreichen englischsprachigen Literatur kommt dabei der früher vermiedene Begriff „state“ zu einer bisher ungeahnt häufigen Verwendung.
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Begriffe, auch der der „Verfassung“, sind sprachliche Verabredungen. Sie können natürlich verändert oder – darum geht es hier – auf andere Konstellationen ausgeweitet werden. Bei einem sehr alten Sprachgebrauch hängt die Fruchtbarkeit der Ausdehnung ganz entscheidend davon ab, ob die Essenz des bisherigen Begriffsverständnisses auch für die neue Verwendungsweise zutrifft, so dass die Ausdehnung des Begriffs eine innere Berechtigung hat. Dies zu überprüfen, ist Gegenstand der weiteren Ausführungen. Eine ganz entscheidende Vorfrage aller Überlegungen zum Konstitutionalismus oder zur Konstitutionalisierung jenseits des Staates ist demnach eine sorgfältige Analyse der Vergleichbarkeit der Konstellationen, der politisch-rechtlichen Gesamtsituation auf den drei unterschiedlichen Ebenen. Dabei hängt die Bejahung oder Verneinung der Vergleichbarkeit stark davon ab, wie man den Bezugsrahmen der Analyse bestimmt und ob man ihn problemadäquat weit bestimmt. Für die Verfassung als einen Grundbegriff der politisch-rechtlichen Welt reichen dabei Übereinstimmungen im Inhalt der Normen auf den drei Ebenen nicht aus. In den Bezugsrahmen der Untersuchungen müssen auch die nicht-normativen Voraussetzungen der Regeln beigezogen werden. An einem Beispiel gezeigt: In der mehr als zweihundertjährigen Geschichte der Verfassungen sind die Grundrechte sprachlich oft ähnlich und beinahe gleichlautend formuliert worden. So stimmen die Grundrechtsformulierungen der Paulskirchenverfassung von 1849 mit denen des Grundgesetzes textlich viel mehr überein als die Verfassungen im Ganzen. Die relevanten Unterschiede zwischen den jeweiligen Grundrechten zeigen sich dann, wenn man die einzelnen Artikel in den Gesamtzusammenhang der Verfassung stellt und wenn man – was hier wichtiger ist – nach den Bedingungen und Chancen einer Entfaltung ihres normativen Anspruchs fragt, wenn man also – überspitzt gesagt – danach fragt, ob die Formulierungen eher auf dem Papier stehen werden oder ob es begründete Chancen gibt, dass sie angewendet, und zwar kraftvoll angewendet, werden können.
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Insgesamt ergeben sich zahlreiche und schwerwiegende Divergenzen beim Vergleich von mehreren Verfassungen aus ihren nicht-normativen Voraussetzungen. Es bedarf z. B. vieler politischer Voraussetzungen, damit eine Verfassung überhaupt entstehen kann, und es bedarf zahlreicher nicht-normativer Bedingungen, damit sie „Leben“ und tatsächliche Wirksamkeit gewinnt. Vieles muss zusammenkommen, damit sich das Sollen der Texte in ein Wollen der Bürgerinnen und Bürger und der Amtsträger übersetzt oder überträgt. Diese Einsicht muss auch beim Vergleich zwischen den verschiedenen Ebenen beachtet werden, auch wenn sich dies als schwierig erweist. Ob die europäische oder die internationale Ebene „verfassungsfähig“ ist oder nicht, ist eine höchst anspruchvolle Frage. Sie entscheidet sich nicht allein daran, ob für alle drei Ebenen die gleichen Prinzipien oder Werte für einschlägig gehalten werden können. Der Untersuchungsraum und die Maßstäbe sind umfassender, sie werden unten4 als verfassungsstaatliche Gesamtkonstellation vorgestellt und begründet. II. Verfassung im und jenseits des Staates 1. Starke und schwache These vom Konstitutionalismus jenseits des Staates Das Thema der weiteren Überlegungen ist die ausgreifende Verwendung des Verfassungsbegriffs, zunächst für die Europäische Union, dann auch im internationalen Bereich, als Leitformel für den Bereich jenseits des Staates und für ein neues Völkerrecht. Die Grundvorstellung der Verfassung jenseits des Staates5 ist die These, dass jenseits der und über den traditionellen völkerrechtlichen Normen, insbesondere über den völkerrechtlichen Verträgen, eine weitere Schicht von Normen grundsätzlicher und prinzipieller Art liegt, und – das ist der entscheidende Punkt – diese Normen sollen die Staaten bin4 5
Dazu unten V 3. Genauer unten IV.
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den, diese sollen auch Pflichten unterliegen, die ohne oder gegen ihren Willen entstanden sind.6 Weit darüber hinaus geht das hier zu untersuchende Verständnis in der Annahme, dass sich solche höchsten Pflichten und Normen zu einem Ganzen,7 eben zu einer Verfassung (constitution) zusammenfügen. Die ungefähre, zuweilen auch nur bildhafte Vorstellung von der Verfassung jenseits des Staates oder von der Konstitutionalisierung wird in zwei Hauptvarianten vertreten: In einer starken These spricht man vom international constitutionalism, in der schwächeren Variante von einer (bloßen) constitutionalization. Die letztere schwache These umgeht das offenbare Problem der ersten, dass es eine vorzeigbare und wahrnehmbare formelle Verfassung im Ganzen oder in relevanten Teilordnungen auf der internationalen Ebene nicht gibt. 2. Zum Begriff der Verfassung im Staate Es kann gar nicht anders sein, als dass das traditionelle Verfassungsverständnis die Folie für die Diskussion um die Berechtigung der „Verfassung“ jenseits des Staates bildet. Ohne präzise Vorstellung vom Begriff der Verfassung im umfassenden Sinne hinge jede Diskussion über eine Ausweitung auf 6 Repräsentative Umschreibungen der Konstitutionalisierungsthese bei Anne Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579 (586 f., 581); Erika de Wet, The International Constitutional Order, International and Comparative Law Quarterly 55 (2006), S. 51 ff.; dies., The Emergence of International and Regional Value Systems as a Manifestation of the Emerging international constitutional Order, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 611 ff.; Bardo Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 2003, S. 1 ff.; ders., The Meaning of International Constitutional Law, in: Ronald St. John Macdonald / Douglas M. Johnston (eds.), Towards World Constitutionalism. Issues in the Legal Ordering of the World Community, Leiden / Boston, 2005, S. 837 ff.; eine Zusammenfassung auch bei Paulus (Fn. 2), S. 700. 7 Oder jedenfalls zu größeren Zusammenhängen, zu Teilordnungen, zusammenfügen.
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den Raum jenseits der Staaten in der Luft. Das traditionelle Verständnis ist dabei der Ausgangspunkt und ein (nicht notwendig der alleinige) Maßstab für die Beurteilung einer solchen Ausweitung.8 Den gefestigten Verfassungsbegriff im Staate sollen exemplarisch zwei Zitate verdeutlichen. Peter Badura9 bestimmt in seinen systematischen Erläuterungen des Grundgesetzes die Verfassung zunächst rechtsintern als „grundlegende Rechtsvorschriften über die Organisation und die Ausübung der Staatsgewalt, die Staatsaufgaben und die Grundrechte“. Bei dieser Umschreibung, die man auch bei Konstitutionalisten finden könnte, beläßt es Badura aber nicht. Er fährt fort: „Die Verfassung ist ein ordnungsstiftender und programmatischer Gründungs- und Gestaltungsakt, der dem Gemeinwesen in einer konkreten geschichtlichen Lage eine rechtliche Grundlage geben will. Die Verfassung geht auf eine politische Entscheidung der die Verfassungsgebung bestimmenden politischen Kräfte zurück.“ . . . „Die Verfassung hat rechtliche, aber auch politische Wirkungen; denn sie ist ein das Rechtsbewusstsein und das politische Leben beeinflussendes Symbol der staatlichen Einheit und Gemeinsamkeit.“
In der gleichen Weise ist die Begriffsbestimmung von Dieter Grimm10 komplex: 8 In aller Kürze zu dem methodologischen Hauptproblem: Es ist die selbstverständliche Prämisse allen Nachdenkens, dass es sich bei der europäischen und internationalen Ebene um Einheiten von besonderer Eigenart handelt, wenn man so will, um Einheiten sui generis im Verhältnis zum Staat. Gleichwohl kann man über das Besondere von Einheiten sui generis eigentlich wenig Konstruktives sagen, sondern man kann zunächst nur den mehr oder weniger großen Abstand zu den Eigenarten der Staaten bestimmen bzw. Vergleiche ziehen zu dem, was die neuen Einheiten gerade nicht sind, zu den Staaten. Solange man kein überzeugendes positives Verständnis der Besonderheiten hat, läßt sich dies nicht ersetzen. 9 Peter Badura, Staatsrecht, Systematische Erläuterung des Grundgesetzes, 3. Aufl. 2003, S. 7, Rz. 7. 10 Dieter Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus – Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, in: Matthias Herdegen (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Roman Herzog, 2009, S. 67 (69 f.). Auch in anderen Aufsätzen definiert Grimm die Verfassung sowie ihre Aufgaben und Funktionen aus der geschichtlichen Entwicklung
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„Die Verfassung im modernen Sinn ist durch fünf Elemente charakterisiert: (1) Sie ist ein Inbegriff von Rechtsnormen, keine Zusammenstellung philosophischer Grundsätze und keine Beschreibung der tatsächlichen Machtverhältnisse in einem Gemeinwesen. (2) Gegenstand der Rechtsnormen ist Einrichtung und Ausübung politischer Herrschaft oder öffentlicher Gewalt. (3) Diese wird in den Verfassungen systematischer- und umfassenderweise geregelt. Die Verfassung duldet weder extrakonstitutionelle Gewalten noch extrakonstitutionelle Herrschaftsmittel und -wege. (4) Da Herrschaft nur als verfassungsrechtlich konstituiert und limitiert legitim ist, hat das Verfassungsrecht Vorrang vor allen anderen Herrschaftsakten. Diese sind nur gültig, wenn sie sich im verfassungsrechtlichen Rahmen halten. (5) Die verfassungsrechtlichen Normen haben ihren Ursprung im Volk, weil jedes andere Legitimationsprinzip von Herrschaft die übrigen Elemente aus den Angeln heben und sich im Konfliktfall gegen die Verfassung durchsetzen würde.“
Diese beispielhaft zitierten Umschreibungen des Konzepts der Verfassung machen deutlich: Es handelt sich bei der Verfassung um ein komplexes, sowohl der rechtlichen wie auch der politischen Sphäre angehörendes Phänomen und Konzept. Die Verfassung hat gewiss normative Gehalte und einen normativen Anspruch. Für ihre Bedeutung ist es aber auch wesentlich, ob und inwieweit sie im Volke akzeptiert ist. Und nicht zuletzt diese Anerkennung, durch die Einzelnen und das Volk, trägt ihre Kraft, auch die normative Kraft.
heraus – und deshalb in einer komplexen Weise. Verfassung ist demnach nicht nur eine rechtliche Grundordnung mit Vorrang, z. B. ders., Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung, in: Michael Brenner (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, FS Peter Badura, 2004, S. 145 ff.
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3. Die Attraktivität des Verfassungskonzepts für die europäische und internationale Ebene und die Attraktivität des Verfassungskonzepts als einheitliche Grundlegung für alle drei Ebenen Das Verfassungskonzept für die europäische und in gewissem Maße auch für die internationale Ebene ist sehr attraktiv, weil diese „konstitutionelle“ Lesart direkt an die Erfolgsgeschichte der Verfassungen vor allem nach 1945 anzuknüpfen scheint. Der Erfolg der staatlich-nationalen Verfassung war so groß, dass kaum ein Staat auf den Ehrentitel einer Verfassung verzichten möchte, auch wenn es sich häufig um bloße Scheinverfassungen oder Semi-Konstitutionen handelt. Hier geht es um die kleinere Zahl von echten sogenannten westlichen Verfassungsstaaten. Für sie ist richtig, dass es eine Erfolgsgeschichte der Verfassungen, ihrer wichtigsten Institutionen und insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit gab und noch gibt. Das Hinzutreten der Verfassungsgerichtsbarkeit hat den Texten der Verfassung erst die von Anfang an erstrebte normative Wirksamkeit gegeben. Recht, das durch eine Gerichtsbarkeit effektuiert wird, ist ein Recht einer anderen Qualität als ein Recht ohne eine solche Gerichtsbarkeit; es ist sozusagen ein Recht in einem anderen Aggregatszustand. Und genau diesen Sprung auf ein höheres Niveau von Normativität haben alle diese Verfassungsstaaten geschafft, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet haben. Die hohe Wertschätzung der Verfassungen ist der Ausgangspunkt für viele Vorschläge und Konzepte, um den Verfassungsgedanken auf die beiden anderen Ebenen zu heben und zu transportieren, in der Hoffnung, dort ähnliche Erfolge zu erzielen, wie dies bei den Staaten der Fall war und ist. Dabei spielt auch die Erwartung eine Rolle, dass mit der Verwendung des gut bewährten „Ehrentitels“ der Verfassung ein bedeutender Teil der Errungenschaften, Ausstrahlungskraft und der Erfolgschancen auch auf die neueren politischen Einheiten übergehen. Attraktiv und erwünscht ist es auch, dass infolge dieser Übertragung für alle drei Ebenen ein einheitliches und
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verbindendes theoretisches Konzept als Grundlage angenommen werden kann.11 Es kommt ein anderer, vorwiegend von Juristen hervorgehobener Charakter von Verfassungen hinzu. Durch die Verfassungen ist eine interne Hierarchisierung der Rechtsordnung in den Staaten entstanden, es gibt danach eine Schicht vorrangiger und höchster Normen. Gerade dieser Vorrang und die damit verbundene Figur der Hierarchisierung übt auf viele Autoren eine starke Faszination aus und bringt sie dazu, Vorrang und Hierarchisierung auf die beiden anderen Ebenen übertragen zu wollen.12 In rechtstheoretischer Hinsicht interessiert das Phänomen der internen Stufung von Normen deshalb, weil es damit eine leicht überschaubare Menge höchster Rechtsnormen gibt, die Normen über Normen, Normen einer zweiten und höheren Ordnung sind. Im staatlichen Kontext stehen die Verfassungsnormen als Grundnormen über allen anderen, über der Vielzahl des sonstigen „einfachen“ Rechts.13 11 Peter Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, in: Burkhardt Ziemske et al. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. FS Martin Kriele, 1997, S. 1277 ff.; ders., Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschenrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: Charlotte Gaitanides (Hrsg.), Europa und seine Verfassung. FS Manfred Zuleeg, 2005, S. 80 ff.; Markus Kotzur, Wechselwirkungen zwischen Europäischer Verfassungs- und Völkerrechtslehre. Eine Skizze zu den Methoden und Inhalten, in: Alexander Blankenagel u. a. (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt: Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 289 ff. 12 Erika de Wet berichtete über ein VICI-Projekt der Netherland Organisation for Science Research (NWO): The Emerging International Constitutional Order: The Implications of Hierarchy in International Law for the Coherence and Legitimacy of International Decision-making, ZaöRV 67 (2007), S. 777. 13 Die Bezeichnung „einfaches“ Recht gibt es in dieser Zuspitzung nur im deutschen Recht. Der Begriff mag und muss zunächst überraschen, wird doch damit ausgerechnet das vom Parlament erlassene Gesetzesrecht einigermaßen relativierend gekennzeichnet. Eine innere Konsequenz hat diese Relativierung der Gesetze gleichwohl, nämlich durch den Vorrang und die umfassende Bedeutung des Verfassungsrechts in der deutschen
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Sie können sich gegenüber allen anderen Akten und Rechtsnormen durchsetzen. All dies wird mit dem Konzept vom Vorrang der Verfassung präziser umschrieben.14 Wiederum ist der Hinzutritt der Verfassungsgerichtsbarkeit der immanent konsequente Abschluß dieses Konzepts bzw. dieser institutionellen Ausformung des höheren Rangs. Dieses Konzept der Hierarchisierung und der Ausbildung einer Vorrangordnung ist so attraktiv, dass es nicht verwundern kann, dass es auch außerhalb des Öffentlichen Rechts und des Rechts überhaupt zur Anwendung gebracht werden soll. In der Theorie von societal constitutionalism15 zeigt sich die Anziehungskraft der Konstruktion von Vorrang, von Regeln über Regeln, desgleichen auch im wirtschaftswissenschaftlichen Theorieansatz der konstitutionellen Ökonomik.16 Auch bei ihm richtet sich das Interesse auf die Figur der Regeln über Regeln, der Metaregeln, die andere Regeln dirigieren. Rechtsordnung. Diese Begriffsbildung spiegelt die schon früher gemachte Beobachtung wider, dass der Vorrang der Verfassung zugleich den Nachrang der Gesetze bedeutet, Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (487) (= ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 121 [123]). 14 Siehe Wahl (Fn. 13) und ders., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 ff. (= ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 161 ff.). 15 David Sciulli, Theory of societal constitutionalism, Cambridge 1992; Gunter Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff.; Andreas FischerLescano / Gunter Teubner, Regimekollisionen, 2006, S. 43, 57. 16 James M. Buchanan, Constitutional economics, Oxford 1991; ders., The economics and the ethics of constitutional order, 4th print, Ann Arbor 1994; Ingo Pies (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, 1996; Gerd Grözinger / Stephan Panther (Hrsg.), Konstitutionelle politische Ökonomie: Sind unsere gesellschaftlichen Regelsysteme in Form und guter Verfassung?, 1998; Viktor Vanberg / James M. Buchanan, Constitutional Choice, Rational Ignorance and the Limits of Reason, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 10 (1991), S. 61 ff.; Viktor Vanberg, Market and state: the perspective of constitutional political economy, Journal of Institutional Economics, Cambridge 2005, H. 1, S. 23 ff. – Der Ansatz hat seit 1990 eine eigene Zeitschrift: Constitutional Political Economy.
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4. Die Wissenschaft vom gesamten Öffentlichen Recht Der weitere Text beschäftigt sich mit der internationalen Ebene. Dabei mag sich die Frage stellen, welche Legitimation ein ursprünglich im klassischen Verfassungsrecht beheimateter Autor für Äußerungen in der Diskussion dieser völkerrechtlichen Probleme hat. Sind Wissenschaftler des staatlichen Verfassungsrechts dafür überhaupt „zuständig“? Es fällt nicht schwer, diese Frage zu bejahen. Voraussetzung ist nur – aber sie muss erst einmal anerkannt werden –, dass man sowohl das Verfassungsrecht wie das Völkerrecht (sowie das „dazwischen“ liegende Europarecht) je als Teile eines Öffentlichen Rechts als Ganzes versteht. Es ist eine der Folgen der Europäisierung und Internationalisierung sowie der generellen Verdichtung der Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen der Welt, dass das Konzept des Öffentlichen Rechts in eine neue ausgeweitete Bedeutung hineingewachsen ist. So wie die Staaten, die Integrationsgemeinschaft Europäische Union und die verschiedensten Akteure und Institutionen der internationalen Sphäre eine vielfach verflochtene Gesamtarchitektur der politischen Welt bilden,17 so sind auch die einschlägigen Rechtsschichten des Verfassungs-, Europa- und Völkerrechts in ein enges Nachbarschaftsverhältnis gerückt; sie stehen in einem grundsätzlichen Verhältnis der Arbeitsteiligkeit, der wechselseitigen Abhängigkeit und der Komplementarität zueinander.18 Legt man dieses Verständnis vom Öffentlichen Recht als Ganzem bzw. von der Wissenschaft vom gesamten Öffentlichen Recht zugrunde, so fällt es nicht schwer, die „Zuständigkeit“ aller drei partiellen Rechtsschichten zur Interpretation der Gesamtkonstellation zu bejahen. Demzufolge gibt es zwei 17 So wie dies die häufig benutzte, aber jeweils interpretationsbedürftige Metapher vom Mehr-Ebenen-System ausdrückt. 18 Bei diesem Komplementaritätsdenken gehören auch die beiden Formeln von der staatlichen Bedingtheit der internationalen Ordnung einerseits und von der übernationalen Bedingtheit des Staates andererseits (Werner v. Simson) zusammen.
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oder drei grundsätzlich gleichberechtigte Perspektiven auf dieses Ganze: Dies ist zum einen der Blick der Völkerrechtsspezialisten vom Völkerrecht auf die anderen Teile des Öffentlichen Rechts, sozusagen von oben, vom weitesten Kreis her. Korrespondierend gibt es auch die andere Perspektive, den Blick von unten, vom Verfassungsrecht auf die Gesamtkonstellation und damit auch auf das Völkerrecht. Man sollte die erwähnten beiden Perspektiven nicht gegeneinander ausspielen oder einen Vorrang für die eine oder andere Ebene reklamieren. Der Blick „von unten“, vom Staat auf die Gesamtarchitektur, ist keineswegs von vornherein der beschränkte. Die lange historische Erfahrung auf der Ebene der Staaten hat einen Erfahrungsschatz und ein Wissen angehäuft, das die Perspektive von oben, vom Völkerrecht, nicht aus den Augen lassen oder unterschätzen sollte. Daraus folgt aber auch: Die Autonomie und Selbstgenügsamkeit von Staatsrecht und nationalem Verfassungsrecht sind vorbei. Vergleichbares gilt für das Europarecht und auch das Völkerrecht; beide dürfen sich nicht als mehr oder weniger isolierte Schichten von Rechtssätzen verstehen, die weit oberhalb der konkreten Staaten schweben. Für alle großen Rechtsgebiete, die sich bisher nur in der Binnenperspektive selbst wahrgenommen haben, gilt die Maxime, die Verflechtungen19 und wechselseitigen Einflüsse der drei (oder der zwei) genannten Rechtsschichten zu verarbeiten.20 19 Dabei ist die Vorstellung von den Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten ausgesprochen anspruchsvoll. Wird mit ihr ernst gemacht, so muss für jede der Ebenen, die nationalstaatliche, die supranationale und die internationale, von Anfang an zugestanden werden, dass sie unvollständige und damit auf die anderen angewiesene Einheiten sind. So sicher der traditionelle Staat durch einige Prozesse der Entstaatlichung unvollständig geworden ist, so sehr sind auch die „höheren“ Ebenen nicht aus sich heraus existenzfähig, sondern sie sind in einem hohen (und zwar noch höheren Maße als die Staaten) ergänzungsbedürftig. 20 Rainer Wahl, Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, in: ders. / Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt, 2002, S. 59 (95 ff.) (insofern in: Der Staat 40 (2001), 45 ff. nicht enthalten); dazu auch Rainer Wahl, Internationalisierung des Staates, in: Joachim Bohnert
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III. Verfassungsrecht jenseits des Staates 1. Begriffsvielfalt Nichts ist in der breitgefassten Bestandsaufnahme, die im Jahr 2007 unter dem Titel „Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland“ in der Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht der deutschen MaxPlanck-Gesellschaft21 vorgenommen worden ist, so oft zitiert worden, wie Konstitutionalismus und Konstitutionalisierung des Völkerrechts22 und zahlreiche sprachliche Variationen davon. In kaum einem relevanten europarechtlichen wie völkerrechtlichen Zusammenhang hat die (vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich deutsche) Literatur eine so ausgesprochene Attraktion darin gefunden, an die althergebrachten Begriffe der Verfassung oder der Konstitution anzuschließen und sie zu übernehmen. Die schon erwähnte Absicht, von der Hochschätzung dieses im staatlichen Raum entstandenen Begriffs auch dann zu leben, wenn von den Staaten sonst nur als im Schwinden oder Erodieren begriffenen politischen Einheiten gedacht wird, ist auffällig. Wenigstens im Niedergang der Staaten, in der Phase der prognostizierten Entstaatlichung will man von einer seiner größten Errungenschaften, dem Konzept der Verfassung profitieren, wenigstens am Glanz des Begriffes teilhaben.23 So tauchen in der Literatur in verschie(Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, FS Alexander Hollerbach, 2001, S. 193 (218 ff.) (= ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, 17 [45 ff.]). 21 ZaöRV 67 (2007) mit Beiträgen von Benvenisti, Kadelbach, Keller, Marauhn, Nolte, Oeter, Paulus, Peters, de Wet, Zimmermann, alle mit Titeln, die das Grundthema variieren. 22 In den letzten Jahren gab es drei Antrittsvorlesungen zu diesem Generalthema: Oliver Dörr, „Privatisierung“ des Völkerrechts, JZ 2005, S. 905 ff.; Martin Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, S. 569 ff.; Robert Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 565 ff. 23 In einer Analogie zum wirtschaftsrechtlichen Markenrecht kann man davon sprechen, dass viele an der Ausstrahlungskraft der großen Marke Verfassung partizipieren wollen, ohne dass die Voraussetzungen für eine
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densten Zusammenhängen Begriffe wie world constitutionalism,24 international constitutionalism, global constitutionalism,25 international democratic constitutionalism,26 multi-level-constitutionalism,27 european constitutionalism beyond the State und post-national-constitutionalism auf. Eine interessante Variante ist mit dem compensatory constitutionalism28 verbunden, nämlich die hoffnungsvolle Erwartung, dass die Konstitutionalisierung auf der europäischen oder internationalen Ebene Defizite und Verluste an Konstitutionalismus auf der staatlichen Ebene werde ausgleichen, kompensieren können. Das hier in Frage stehende Verfassungsdenken richtet sich konkret auf die UN-Charta als der constitution of the international community; im Fokus ist bei dieser Variante die Konstitutionalisierung der gesamten Völkerrechtsordnung.29 Aber auch die WTO erhält konstitutionelle Anerkennung als eine Teilordnung.30 Daneben gibt es den evolutiv gefassten Begriff Übertragung des Begriffs vorhanden sind. Das Markenrecht hat dafür den anschaulichen Begriff „Schmarotzen von der großen Marke“. 24 Macdonald / Johnston (eds.), Towards World Constitutionalism. (Fn. 6). 25 Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke (Hrsg.). Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, S. 535. 26 Brun-Otto Bryde, International Democratic Constitutionalism, in: Macdonald / Johnston (eds.), Towards World Constitutionalism (Fn. 6), S. 103 ff. 27 Ingolf Pernice, The global dimension of multilevel constitutionalism. A Legal Response to the Challenges of Globalisation, in: Pierre-Marie Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. FS Christian Tomuschat, Kehl et. al. 2006, S. 973 (975, mit umfassenden Nachweisen zu diesem Konzept in Fn. 8). 28 Peters (Fn. 6), Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579 ff.; Erika de Wet, The Emergence of International and Regional Value Systems as a Manifestation of the Emerging international constitutional Order, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 611 ff. – s. auch Rainer Wahl, Verfassungsdenken jenseits des Staates, in: Ivo Appel / Georg Hermes (Hrsg.), Mensch – Staat – Umwelt, 2008, S. 135 ff. 29 Zuletzt dazu Knauff (Fn. 2), ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff., mit einer Systematisierung der Erscheinungsformen.
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der constitutionalization, bei dem vieles an Konstitutionellem von der zukünftigen Weiterentwicklung erwartet, aber das Neue schon als Begriff gefasst wird. Eine ähnliche Vielfalt und eine noch häufigere Verwendungsweise findet die konstitutionalistische Lesart in der deutschen Literatur, die generell als die Hauptquelle und das Hauptverbreitungsgebiet dieses Ansatzes gilt.31 Die deutschen Formeln und Grußformeln sind sprechend, wenn von überstaatlichem Verfassungsrecht,32 internationalem Verfassungsrecht,33 kommunitärem Völkerrecht,34 Konstitutionalisierung35 oder dem Staat der Staatengemeinschaft36 die Rede ist. 30 Joel P. Trachtman, The Constitutions of the WTO, European Journal of International Law 17 (2006), S. 623 ff.; anders Jeffrey L. Dunoff, Constitutional Conceits: The WTO’s „Constitution“ and the Discipline of International Law, European Journal of International Law 17 / 3 (2006), S. 647 ff.; differenzierend Meinhard Hilf, Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung: Struktur, Institutionen und Verfahren, in: Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Entschädigung nach bewaffneten Konflikten. Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung, 2003, S. 257 ff. 31 Dazu Paulus (Fn. 2), ZaöRV 67 (2007), S. 695 (697, 699, 703, 718). – Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von englischen Autoren, die unbefangen, manchmal zu unbefangen, die Begriffe constitution and constitutionalism verwenden, vermutlich weil sie bisher kein Teil des englischen Rechts und seiner Tradition waren und deshalb als „frei“ gelten können. 32 Differenzierend Stefan Kadelbach / Thomas Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht. Zur Konstitutionalisierung im Völkerrecht, AVR 44 (2006), S. 235 ff. 33 Uerpmann (Fn. 22), JZ 2001, S. 565 ff.; kritisch dazu Ulrich Haltern, Internationales Verfassungsrecht. Anmerkungen zu einer kopernikanischen Wende, AöR 128 (2003), S. 512 ff. 34 Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 ff. 35 Christian Walter, Die EMRK als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 57 (1997), S. 83 ff.; id., Constitutionalizing (Inter)national Governance, German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 170 ff.; kritisch Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Carl-Eugen Eberle (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. FS Winfried Brohm, 2002, S. 191 ff. 36 Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft. Zur internationalen Verflechtung als Wirkungsbedingung moderner Staatlichkeit, 2006.
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Vom privatrechtlichen bzw. systemtheoretischen Begriff der Zivilverfassungen war schon die Rede. 2. Reale Probleme und Anlassfälle für das konstitutionalistische Interpretationskonzept Positivrechtliche Beweise findet die internationale Verfassungsinterpretation in den verschiedenen Strafgerichtshöfen, in der Architektur der WTO und in einigen vielbeachteten spektakulären Problemkonstellationen und Fällen.37 Es sind dies, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen,38 die folgenden: (1) An der Spitze der häufig genannten Exempel steht die Begrenzung der Staatenimmunität in Fällen von schweren Menschenrechtsverletzungen. Der Leitfall ist der Fall des früheren chilenischen Präsidenten Pinochet,39 ein anderer der des libyschen Präsidenten Gaddafi.40 37 Daniel Thürer, Modernes Völkerrecht: Ein System in Wandel und Wachstum – Gerechtigkeitsgedanke als Kraft der Veränderung?, ZaöRV 60 (2000), S. 557 (560) mit „acht Szenarien“, die für ihn einen „roten Faden“ und Ansätze eines Paradigmas für ein neu heraufziehendes System der internationalen Rechtsordnung bilden. Es handelt sich dabei um: Die Bewältigung der Vergangenheit in Deutschland mit der Einführung des Nürnberger Gerichtshofs, das Immunitätsproblem bei Pinochet, das Tadic´-Urteil (Minimalstandard von Humanität und Gerechtigkeit im Bürgerkrieg), die NATO-Intervention im Kosovo als humanitäre Intervention, das Antipersonenminenverbot als Initiative der civil society, das von Diplomaten lancierte Verfassungsprojekt für Moldawien, Menschenrechtsstandards für große Unternehmen und das Atomwaffengutachten des IGH. 38 Ausführlicher dazu mit weiteren Nachweisen Rainer Wahl, Defense of „Constitution“, in: Martin Louglin / Petra Dobner (eds.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford University Press 2009 / 2010 (i.E.). 39 Darstellung der komplizierten Sachverhalte der verschiedenen Entscheidungen bei Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557 (568 ff.); s. auch Christian Maierhöfer, Weltrechtsprinzip und Immunität: Das Völkerstrafrecht vor Den Haager Richtern – Urteil des IGH Demokratische Republik Kongo . / . Belgien, EuGRZ 2003, S. 545, Fn. 1 – 3; Christoph Tangermann, Die völkerrechtliche Immunität von Staatsoberhäuptern, 2002. 40 Cour de cassation, Entscheidung vom 13. März 2001, Revue Générale de droit International Public (GDIP) 2001, S. 473.
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(2) Verwandt damit ist die Problematik der Begrenzung der Staatenimmunität von Außenministern: sie war Gegenstand der viel diskutierten und auch im Gericht umstrittenen Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im arrest warrant case (Anwendung eines belgischen Gesetzes auf den Außenminister der Demokratischen Republik Kongo).41 Mit der Mehrheit seiner Richter hielt der IGH die traditionelle Immunität der Außenminister aufrecht, während eine beachtliche Minderheit dies verneinte. In der Literatur ist dieses Immunitätsproblem zu Recht als Bühne für den Streit unterschiedlicher Völkerrechtskonzeptionen interpretiert worden.42 (3) Breiteren Raum nimmt in neuerer Zeit das Thema Immunität von Staaten gegen Zivilklagen wegen Schadenersatz wegen Folter oder sonstiger Menschenrechtsverletzungen ein.43 41 Urteil des IGH vom 14. Januar 2002 (Democratic Republic Congo v. Belgium), Auszüge in EuGRZ 2003, S. 563; Maierhöfer (Fn. 39), EuGRZ 2003, S. 545; Claus Dieter Classen, Rechtsschutz gegen fremde Hoheitsgewalt – zu Immunität und transnationalem Verwaltungshandeln, VerwArchiv 96 (2005), S. 464 ff.; Sigrid Zeichen / Johannes Hebenstreit, Kongo v. Belgien. Sind Außenminister vor Strafverfolgung wegen völkerstrafrechtlicher Verbrechen immun?, AVR 41 (2003), S. 182 ff.; Oliver Dörr, Staatliche Immunität auf dem Rückzug, AVR 41 (2003), S. 201 ff. 42 Dazu eindringlich Maierhöfer (Fn. 39), EuGRZ 2003, S. 545 (548, 549). Die Außenministerimmunität ist nicht umfassend vertraglich geregelt, sie ist deshalb eine Frage des Gewohnheitsrechts. Der IGH stellt auf die Staatenpraxis ab und führt aus, dass auch für den Fall, dass es um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, in der Staatenpraxis keine Ausnahme für die grundsätzlich anerkannte Immunität von Außenministern besteht. Anderer Auffassung ist eine Reihe einzelner Richter, denen die völkerrechtliche Grundentscheidung zum Schutz elementarster Menschenrechte und die Qualität als ius cogens ausreicht, um aus ihr neue Regeln zu deduzieren. Die konstitutionalistisch denkende Minderheit stellt eine direkte Verbindung zwischen dem Willen und den Interessen der einzelnen Individuen, die quasi zu „Weltbürgern“ werden, und dem Völkerrecht her, unter Umgehung der Staaten und eines Staatenkonsenses. Es ist aber kein praktikabler Prozess der Rechtserkenntnis zu sehen, der den Willen aller 6 Milliarden Menschen und die ihnen trotz aller kulturellen Unterschiede gemeinsamen Grundwerte direkt erfassen und konkrete Normen daraus ableiten könnte. 43 Wolfram Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, AVR 41 (2003),
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(4) Ein Standardfall für konstitutionalistische Tendenzen ist die Uminterpretation einer bisher ausschließlich staatengerichteten Konvention in eine partiell drittschützende Konvention im Fall des deutschen Staatsbürgers LaGrand.44 (5) Das Tadic-Urteil,45 das erste Urteil des internationalen Strafgerichtshofes für das frühere Jugoslawien, setzt Minimalstandards der Humanität und Gerechtigkeit im Bürgerkrieg fest. Da es sich um Verbrechen in einem Bürgerkrieg handelt, ist dieses Urteil einer der ersten Belege dafür, dass – manches – Völkerrecht auch bei internen Vorgängen Anwendung findet und dass es sich insofern einmischt. (6) Ein zugespitztes Beispiel ist die sog. humanitäre Intervention46 mit ihrem inhärenten grundsätzlichen Dilemma. S. 137 ff.; zur Problematik auch EGMR in Al-Adsani (EuGRZ 2000, S. 403 ff. mit Anm. Christian Maierhöfer, S. 391). Fall Distomo: Corte suprema di Cassazione, Urteil vom 29. Mai 2008, Nr. 14199; deutsche Übersetzung: NVwZ 2008, S. 1100 f., und eine zweite verwandte Entscheidung vom 29. Mai 2008, Nr. 14201: NVwZ 2008, S. 1101 f.; dazu Eike Michael Frenzel / Richard Wiedemann, Das Vertrauen in die Staatenimmunität und seine Herausforderung, NVwZ 2008, S. 1088 ff. 44 Urteil des IGH vom 27. Juni 2001 (LaGrand – Germany v. United States of America), EuGRZ 2001, S. 287 ff. (= JZ 2002, S. 91 mit Kommentar von Christian Hillgruber, S. 94 ff.); Karin Oellers-Frahm, Die Entscheidung des IGH im Fall LaGrand – Eine Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der Rolle des Individuums im Völkerrecht, EuGRZ 2001, S. 265 ff.; Bernd Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht. Chancen und Gefahren völkerrechtlicher Entwicklungstrends am Beispiel der Individualrechte im allgemeinen Völkerrecht, AVR 43 (2005), S. 312 ff. (bes. 316 ff.); Bruno Simma, Eine endlose Geschichte? Art. 36 der Wiener Konsularkonvention in Todesstrafenfällen vor dem IGH und amerikanischen Gerichten, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung (Fn. 27), S. 423 ff.; in diesen Zusammenhang gehört auch das Urteil betreffend Avena und andere mexikanische Staatsbürger (Mexico v. United States of America), ICJ Reports 2004, S. 12 ff. (mit Anmerkungen). 45 s. www.icty.org, links: the cases, completed cases, Tadic´. Dazu: Jörg Menzel / Tobias Pierling / Jeannine Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung. Ausgewählte Entscheidungen zum Völkerrecht, 2004, S. 787 ff. (mit Literaturnachweisen S. 791). 46 Zur humanitären Intervention nur Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557; Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 ff.; Paulus (Fn. 2), ZaöRV 67 (2007), S. 695 ff.
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(7) Bekannte Fortschritte gibt es durch die internationale Strafgerichtsbarkeit vor und nach dem Rom-Statut. (8) Zu einer Art „Mega-Fall“ hat sich das in einem Ausschuss der UN durchgeführte Listing-Verfahren entwickelt, nämlich die Fälle Yusuf und Kadi. In den Verfahren geht es um den Rechtsschutz und die Rechtmäßigkeit des Listing-Verfahrens, das die UNO zur Bekämpfung von Terroristen auf dem finanziellen Sektor einsetzt (Einfrieren sämtlicher Bankkonten).47 IV. Das konstitutionalistische Denken idealtypisch zusammengefasst Die Grundgedanken der konstitutionalistischen Lehren sollen im Folgenden als Extrakt oder als Kondensat aus der reichhaltigen und in sich natürlich sehr differenzierten Literatur idealtypisch zusammengefasst werden.48 Der Kern dieser 47 EuGH vom 3. September 2008, Rs. C-402 / 05 P und C-415 / 05 P (Kadi und Al Barakaat), EuR 2009, S. 80 ff.; EuGRZ 2008, S. 480 ff. – Kommentare dazu: Stefan Lars-Thoren Heun-Rehn, Die europäische Gemeinschaft und das Völkerrecht nach Kadi und Al Barakaat, ELR 2008, S. 327 ff.; Kirsten Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 2009, S. 35 ff.; Jörn Axel Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Kadi: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, S. 114 ff.; Christoph Ohler, Gemeinschaftsrechtlicher Rechtsschutz gegen personengerichtete Sanktionen des UN-Sicherheitsrats, EuZW 2008, S. 630 ff.; Christian Tomuschat, Die Europäische Union und ihre völkerrechtliche Bindung, EuGRZ 2007, S. 1 ff.; Sebastian Steinbarth, Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, ZEuS 2006, S. 269 ff.; Saskia Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft? Zu den rechtlichen Folgen einer Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch die EG, AVR 44 (2006), S. 267 ff. 48 Zur reichhaltigen deutschen Diskussion: Dörr (Fn. 22), JZ 2005, S. 905 ff.; Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 ff.; Kadelbach / Kleinlein (Fn. 32), AVR 44 (2006), S. 235 ff.; Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557 ff.; Uerpmann (Fn. 22), JZ 2001, S. 565 ff.; Peters (Fn. 6), Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579 ff.; de Wet (Fn. 28), Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 611 ff. – Kritisch dazu mit
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Lehren ist die eigentliche Konstitutionalisierungsthese, dass das Völkerrecht nicht allein staatenzentriert oder konsensbestimmt sein soll. Nicht allein der Wille einzelner Staaten soll maßgeblich sein, sondern über den Staaten soll eine eigenständige Schicht von grundsätzlichen Normen bestehen. Aus diesen Grundgedanken entwickelt die konstitutionelle Lesart die folgenden in sich konsequenten Ableitungen:49 (1) Wenn das Völkerrecht nicht staatenzentriert sein soll, dann bedarf es eines neuen Bezugspunkts und eines neuen Subjekts. Dieses neue Subjekt ist die Staatengemeinschaft, im Kontext der Konstitutionalisten besser als internationale Gemeinschaft bezeichnet. Die internationale Gemeinschaft50 ist nicht nur ein neues Konzept, sie ist das maßgebliche neue Konzept, ein Dreh- und Angelpunkt. Der Begriff antwortet sowohl auf neue weltumspannende, alle betreffende Problemlagen als auch auf gemeinsame Interessen der (meisten) Staaten zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen einiger Staaten. (2) Wenn der Inhalt des Völkerrechts nicht mehr nur konsens-abhängig (oder das Ergebnis vertraglicher Übereinstimmung) sein soll, dann bedarf es inhaltlicher Haltepunkte. Deshalb lebt das neue Völkerrecht von und aus allgemeinen Werten und Prinzipien. Der Rekurs auf Werte in allen Schriften der Konstitutionalisten ist so wichtig, dass einflussreiche Aufsätze in ihren Tiunterschiedlichen Positionen Armin von Bogdandy, Constitutionalism in International Law. Comment on a Proposal from Germany, Harvard International Law Journal 47 (2006), S. 223 ff.; Haltern (Fn. 33), AöR 128 (2003), S. 512 ff.; Christian Hillgruber, Dispositives Verfassungsrecht, zwingendes Völkerrecht: Verkehrte juristische Welt?, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts (JöR) 54 (2006), S. 57 ff. 49 Für eine Zusammenfassung der Konstitutionalisierungsthese Paulus (Fn. 2), ZaöRV 67 (2007), S. 695 (700). 50 Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 (569 f., 571 ff.), mit umfassenden Nachweisen der Literatur; Andreas Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001; Bryde (Fn. 26), S. 103 (107): „The core of a constitutionalised international law is the general acceptance of a common interest of mankind that transcends the sum of individual interests.“
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teln die entsprechende These tragen.51 Erwähnt seien: „Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls“ (Bardo Fassbender) und „The Emergence of International and Regional Value Systems as a Manifestation of the Emerging international constitutional Order“ (Erika de Wet). Es sind die hohen oder höchsten Werte, die einigen Normen den Charakter von ius cogens, also von zwingendem Recht verschaffen,52 die also auch binden sollen, wenn einzelne Staaten deren Geltung ablehnen.53 Eine ähnlich wichtige Rolle spielt der Rekurs auf Güter der Allgemeinheit, also Gemeinschaftsgüter, global goods, z. B. im Umweltvölkerrecht das human heritage. (3) Das Konzept des ius cogens ist ein Eckstein des neuen Denkens, die Verkörperung des Grundgedankens der Konstitutionalisierung. Diese Attraktivität hat das ius cogens als Kategorie, obwohl der Anwendungsbereich sehr klein ist. Nicht zu übersehen ist eine große Diskrepanz zwischen der theoretischen Hochschätzung des ius cogens und der sehr geringen 51 Fassbender (Fn. 6), EuGRZ 2003, S. 1 ff.; ders., The Meaning of International Constitutional Law (Fn. 6), S. 837 (838); de Wet (Fn. 28), Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 614 ff.; Thilo Rensmann, The Constitution as a Normative Order of Value: The Influence of International Human Rights Law on the Evolution of Modern Constitutionalism, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. (Fn. 27), S. 259 ff.; ders., Wertordnung und Verfassung: Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, 2006; Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557 ff. 52 Zum ius cogens s. Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1993, m. w. N.; Kadelbach / Kleinlein (Fn. 32), AvR 44 (2006), S. 235 (251 ff.); J. A. Frowein, Die Verpflichtungen erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in: Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte. FS Hermann Mosler, 1983, S. 241 ff.; ders., Art. „jus cogens“, Encyclopedia of Public Law, Vol. 3, 1997, S. 65 ff.; Christian Tomuschat / Jean-Marc Thouvenin (eds.), The Fundamental Rules of the International Legal Order: „Jus Cogens“ and Obligations „Erga Omnes“, Leiden, 2006. 53 Das zentrale Problem, ob die proklamierten Werte wirklich universal sind oder nicht, wird kaum erwähnt und noch weniger durch Argumente gelöst.
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Relevanz in der Völkerrechtspraxis.54 Jedoch ist das Denken in Normhierarchien55 und die Methode der Deduktion von abstrakten Werten sehr populär unter Konstitutionalisten. (4) Wenn das Völkerrecht nicht weiterhin Formal-Recht bleiben soll, dann muss es ein substantielles Recht werden. Konsequenterweise wird eine Materialisierung des Völkerrechts gefordert.56 (5) Wenn das Völkerrecht sich nicht in einem Positivismus erschöpfen soll, dann bedarf es einer eigenen oder neuen Grundlegung; sie wird in der Ethik gefunden. Der Gerechtigkeitsgedanke wird als Kraft der Veränderung57 apostrophiert. Demgemäß hat sich das Völkerrecht, so kann man lesen, vermehrt unmittelbar an menschlichen Werten und dem Wert und dem Sinn von Gerechtigkeit zu orientieren. In diesem Sinne nimmt das Völkerrecht Prinzipien der Moral in sich auf, es integriert die Rechtsphilosophie.58 (6) In fortgeschrittenen Versionen wird der Staat, werden die Staaten als Glied bzw. Glieder der internationalen Gemeinschaft verstanden. Die Staaten sind zur Verwirklichung weltweiter Allgemeininteressen berufen und bestimmt. Sie werden zu Organen der internationalen Gemeinschaft erklärt und erhalten so eine dienende Rolle zur Verwirklichung über54 Zum verwandten Konzept der Pflichten erga omnes siehe Brun-Otto Bryde, Verpflichtungen Erga Omnes aus Menschenrechten, in: Walter Kälin (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, 1994, S. 165 ff.; Tomuschat / Thouvenin (Fn. 52); Dietrich Schindler, Die ergaomnes-Wirkung des humanitären Völkerrechts, in: Ulrich Beyerlin (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. FS Rudolf Bernhardt, 1995, S. 199 ff. 55 de Wet (Fn. 12) berichtet über ein VICI-Projekt der Netherland Organisation for Science Research (NWO). 56 Ausdrücklich Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 (571) mit mehreren Relativierungen dieser Forderung. Zum Ganzen auch Stefan Kadelbach, Ethik des Völkerrechts unter Bedingungen der Globalisierung, ZaöRV 64 (2004), S. 1 ff. 57 Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557 ff. 58 Thürer (Fn. 37), ZaöRV 60 (2000), S. 557 (581).
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geordneter Zwecke – der Staat der Staatengemeinschaft, vorrangig ist die Staatengemeinschaft. (7) Wenn nicht die Staaten der letzte Zweck des Rechts und auch nicht des Völkerrechts sind, dann ist es konsequent, dass, wie auch bei jedem anderen Recht, auch im Völkerrecht die einzelnen Menschen als letzter Zweck verstanden werden.59 Dadurch wird die Weltbevölkerung zum legitimierenden Bezugspunkt des Völkerrechts. Zugleich werden Berechtigungen der Einzelnen nicht zur großen Ausnahme, sondern zu einem Normalbestandteil des Völkerrechts; „der Einzelne im Völkerrecht“ wird ein bevorzugtes Thema und ein wesentlicher Pfeiler eines konstitutionalistisch ausgerichteten Völkerrechts. Mit beträchtlichem Pathos heißt es dementsprechend: Alles Recht dient dem Menschen. Auch das Völkerrecht muss dem Menschen dienen. Es darf nicht nur ein Recht zwischen Staaten sein. Das Völkerrecht dient nicht den Staaten, sondern die Staaten dienen dem Völkerrecht (Formel von der anthropozentrischen Wende im Völkerrecht60). Auf dem Boden dieser einheitlichen individualistischen Ausrichtung auch des Völkerrechts kommt es zum Gleichklang von nationalem, europäischem und internationalem Recht. (8) Wissenschaftlich beginnt jeder große Wandel im Recht mit einem Wandel der (Interpretations-)Methode, mit der Setzung und Durchsetzung eines neuen Vorverständnisses.61 Wird die Staatszentriertheit aufgegeben, dann kann auch für 59 s. die Nachweise in Fn. 11; zum Problem auch Philip Kunig, Das Völkerrecht und die Interessen der Bevölkerung, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. (Fn. 27), S. 377 ff. 60 Die Formel verwendet Markus Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes: das Beispiel der Präambel des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, 2001, S. 143 ff. 61 Dass die Methodenwahl präjudiziell für die Entwicklungsfähigkeit des Völkerrechts ist, ist deutlich bei Thürer (Fn. 37), S. 582 f.: „Wie beim staatlichen Verfassungsrecht fragt sich, ob und in welchem Umfang das Völkerrecht „evolutiv“ und „zielgerichtet“ im Sinne einer optimalen Verwirklichung grundlegender menschlicher Werte ausgelegt werden darf und auf diese Weise „implied powers“ der Träger der Völkerrechts-Ordnung erschlossen werden können.“
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die Interpretation von Verträgen und bei der Entstehung des Gewohnheitsrechts nicht länger der Willen der Staaten allein maßgebend sein. Als neues schiebt sich notwendigerweise die objektive Auslegungsmethode in den Vordergrund, während traditionellerweise das Völkerrecht die Domäne der subjektiven Methode war.62 Dies kann man leicht erklären. Hatte die subjektive Methode die spezifische Funktion, die Staaten als Herren von Verträgen nicht über das hinaus zu verpflichten, was sie im Vertrag bewusst und explizit zugesagt hatten, so ist es naheliegend, dass eine Konzeption, die über den Staaten eine Schicht von Prinzipien und Grundsätzen aufbaut, diese Schicht durch eine objektive Auslegung von den Willen der Staaten unabhängig machen muss. Die Methodendiskussion ist eine strategische Stellschraube und derjenige, der eine neue Methode durchsetzt, kann einen entscheidenden rechtspolitischen Terraingewinn verbuchen. V. Kritik Geht man von der idealtypischen Beschreibung der konstitutionalistischen Lehren zur Kritik über, dann besteht im Ausgangspunkt Einigkeit über den beträchtlichen Wandel im internationalen Bereich und seinem Recht. Der Wandel wird oft im Spiegel zweier berühmter Entscheidungen so gekennzeichnet: In der vielzitierten Lotus-Entscheidung führte der damalige Ständige Internationale Gerichtshof (StIG) 1927 aus: „International law governs relations between independent States. The rules of law binding upon State therefore emanate from their own will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principle of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“63 62 Thürer Fn. 37), S. 557 ff.; Nettesheim (Fn. 22), JZ 2002, S. 569 (577); Matthias Herdegen, Das „konstruktive Völkerrecht“ und seine Grenzen: die Dynamik des Völkerrechts als Methodenfrage, in: Dupuy u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. (Fn. 27), S. 898 ff.
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Ebenso markant hat der International Court of Justice (ICJ) im Barcelona Traction-Fall 1970 die Gegenposition bezogen. „An essential distinction should be drawn between the obligation of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection. By their very nature the former are the concern of all states. In view of the importance of the rights involved, all states can be held to have a legal interest in their protection; they are obligation erga omnes.“64
Dieser Wandel des Völkerrechts ist kein isoliertes Phänomen, sondern steht in innerem Zusammenhang mit dem ebenso großen Wandel oder Transformation der Staaten.65 Am – fortdauernden – Wandel in der internationalen Sphäre und damit auch im Völkerrecht kann kein Zweifel sein. Die entscheidende Frage ist nur, ob dieser Wandel so groß und so einheitlich ist, dass man ihn insgesamt als „constitutional turn“ beschreiben kann. 1. Normativismus Was zunächst an den konstitutionalistischen Lehren auffällt, und negativ auffällt, ist der rein normative Ansatz. Unzutreffend ist daran natürlich nicht, dass das Recht als Sollens-An63 s. PCIJ, Ser. A. No. 10, 1927, S. 17; www.worldcourts.com/pcij/eng /decisions/1927. 09. 07_lotus. 64 Oliver Dörr, Kompendium völkerrechtlicher Rechtsprechung, 2004, S. 266 (267). Die Passage lautet weiter wie folgt: „Such obligations derive, for example, in contemporary int. law, from the outlawing of acts of aggression, and of genocide, as also from the principle and rules concerning the basic rights of the human person, including protection from slavery and racial discrimination. Some of the corresponding rights of protection have entered into the body of general int. law [ . . . ] others are conferred by int. instruments of a universal or quasi-universal character.“ 65 Der Begriff „Transformation des Staates“ ist der Zentralbegriff des Bremer Projekts, vgl. Stefan Leibfried (Hrsg.), Transformation des Staates, 2006. Er ist gut und glücklich gewählt, weil er das „Von – Zu“ vermeidet. Wenn etwas transformiert wird, dann schwingt dabei immer auch mit, dass einiges vom Früheren weiter besteht und der Gesamtprozess nicht mit einem einfachen und plakativen Von – Zu erfasst werden kann.
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forderung verstanden wird. Befremdlich ist aber, dass es für diese Normativität nicht-normative Voraussetzungen oder Wirksamkeitsvoraussetzungen nicht geben soll; jedenfalls werden solche nicht diskutiert. Die Lehren vom internationalen Konstitutionalismus und über die Konstitutionalisierung postulieren Werte und Wertordnungen, ohne dass Institutionen und Verfahren genannt werden (können), die als Wege und Bahnen zu ihrer Verwirklichung dienen können. Die konstitutionalistischen Lehren postulieren eine pure Normativität und reine Werte. Und für diese reinen Werte beanspruchen sie Bedeutung und Wirksamkeit, und zwar ausgerechnet in der internationalen Welt, also in einem hoch vermachteten, interessengespaltenen Umfeld.66 Eine übergeordnete fundamentale Vorrangordnung, um die es diesen Lehren besonders geht, gibt es aber nicht „umsonst“, sondern nur bei der Erfüllung von gewichtigen Voraussetzungen. Zum Vergleich: Der Vorrang des staatlichen Verfassungsrechts war und ist nicht selbstverständlich und nicht einfach mit dem Erlass einer Verfassung in die Realität umgesetzt, sondern der materielle Vorrang der Verfassung entfaltet sich mit und durch die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die deutschen Verfassungen seit dem Anfang des 19. Jh. unterscheiden sich von den heutigen grundsätzlich dadurch, dass sie ohne Verfassungsgerichtsbarkeit halbwirksame Verfassungen waren und dass sie nach 1949 mit dem Siegeszug des Bundesverfassungsgerichts erst auf das heute erreichte Niveau einer Verfassung gehoben worden sind. Was die Werte betrifft, die man heute in den Grundrechten des Grundgesetzes oder anderer Verfassungen findet, so hat man sie in der philosophischen und staatstheoretischen Literatur schon im 18. Jh. formuliert und vorgefunden. Zur Rechtswirksamkeit sind sie aber deshalb noch lange nicht gekommen, auch nicht nach Erlass der ersten Verfassungen. Erst als diese in der Literatur postulierten Werte 66 Paulus (Fn. 2), ZaöRV 67 (2007), S. 695 (703): „Eine Völkerrechtswissenschaft, die sich auf die bloße Normativität zurückzieht, vergißt, dass jedes Sein-Sollen eben doch ein Mindestmaß an Verwirklichungsmöglichkeit impliziert, um Autorität zu beanspruchen.“
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zunächst in den Text der Verfassungen übernommen (und dort konkretisiert) wurden und viel später mit der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit eine institutionelle Absicherung und Instanz der Verwirklichung hinzugewonnen hatten, ist das entstanden, was heute Maßstab für eine Verfassungsnorm ist: nämlich die Verbindung von fundamentalem Inhalt, inhaltlichem Vorrang und Verfahren der Durchsetzung. Eine sich real bewährende Vorrangordnung entsteht nicht allein im normativen Binnenraum. Dazu ist viel mehr erforderlich, nämlich eine verfassungsstaatliche Gesamtkonstellation (dazu unter 3.), und in der Geschichte des Konstitutionalismus war der Weg – abgesehen von den USA – sehr weit. 2. Politisch entleerter Verfassungsbegriff Die Übertragung des Verfassungskonzepts von den Staaten auf die europäische und internationale Ebene in der Literatur leidet zumeist unter einem schmalen, politisch entleerten Begriff der staatlichen Verfassung. Häufig liegt dem eine unterkomplexe und verdünnte Fassung des Verfassungskonzepts zugrunde.67 Verfassung ist danach die oberste Norm, sie hat Vorrang, sie bringt Grundsätzliches zur politischen Organisation und zum Verhältnis zwischen politischer Herrschaft und den Bürgern zum Ausdruck. Warum aber diese höchste Norm Kraft zur Gestaltung des politisch-sozialen Lebens hat, warum sie Anerkennung im Volk und bei den einzelnen findet und aus dieser Anerkennung Wirkungsmöglichkeiten schöpft – dies alles wird nicht thematisiert. Seine notwendige Tiefe und seinen vollen Ernst erhält die Frage der Übertragbarkeit des Verfassungsbegriffs auf den Raum „beyond the State“ nur, wenn man von dem ausgeht, was sich in der Geschichte des 67 Letztlich gilt dies auch für die einflussreiche Auffassung von Christian Walter über die Verfassungsfunktionen, die beim Staat gebündelt, jenseits des Staates aber entbündelt seien; Christian Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, S. 1 ff.; ders., Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungs-Prozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff.
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westlichen Verfassungsstaates als Verfassung herausgebildet hat. Dabei geht es im Folgenden nicht um eine (neue) Definition von Verfassung als oberster Bestandteil der Rechtsordnung. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte wurden Verfassungen nicht nur von Juristen für den rechtlichen Gebrauch erstrebt, sondern Verfassungen waren Gegenstand der intensiven und leidenschaftlichen politischen Bestrebungen. Zahlreiche politische Bewegungen traten für den Erlass einer Verfassung ein, dafür wurde gekämpft, politisch und auch häufiger mit Revolutionen. Jede Überwindung einer Diktatur wird mit dem Erlass einer Verfassung besiegelt, in Deutschland 1949, in Spanien, Portugal und Griechenland sowie bei allen Transformationsstaaten nach 1989. Wer für eine Verfassung kämpfte, wusste, warum er dies tat. Diese Bewegungen wurden von wichtigen Teilen des Volkes getragen – kurz: Verfassungen waren und sind Teile von politisch-sozialen Bewegungen, dahinter standen und stehen reale politische Kräfte. Und diese Kräfte sind und waren nicht nur während der Verfassungsgebung wirksam und bedeutsam, auch danach stützen die Bürgerinnen und Bürger die Verfassung durch ihre Anerkennung und Akzeptanz. Die freiheitlichen Erwartungen der Bürger(innen) richten sich auf die Verfassung, und es ist auch diese Wertschätzung, die der Verfassung reale Kraft gibt, eine Kraft, die die Normen der Verfassung benötigen, wenn sie das früher Unwahrscheinliche bewirken sollen, nämlich die stärksten Institutionen der politischen Macht zu binden und verfassungswidrige Akte aufzuheben. Ohne politische Prozesse und ohne politische Kräfte gibt es keine Verfassung und keine Bändigung von Macht. 3. Die komplexe verfassungsstaatliche Konstellation Dieser natürlich sehr verkürzte Abriß macht deutlich, dass „Verfassung“ im Staat nicht nur eine höchste Norm mit Vorrangwirkung ist, sondern dass „Verfassung“ eine Gesamtkonstellation von rechtlichen Wirkungen und Qualitäten, von politischen Hoffnungen, von Akzeptanz von „unten“ und von
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realen Kräften im politischen Leben ist. Verfassungsgerichtliche Urteile werden in Deutschland in großem Maße von den Bürgerinnen und Bürgern „getragen“, genau dies macht das Gewicht des Gerichts aus. Insgesamt kann man von einer komplexen vielgliedrigen verfassungsstaatlichen Konstellation sprechen. Sie besteht aus einer Verbindung von – Prinzipien; – der Ausformulierung der allgemeinen Werte in konkrete verfassungsrechtliche Normen; also insgesamt das Überführen von (Staats-)Philosophie in Recht; – der in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzenden Institutionenbildung. Dies beginnt mit der Einrichtung von repräsentativen Parlamenten zur Gesetzgebung, die in sich eine innere Verbindung des demokratischen mit dem rechtsstaatlichen Prinzip enthalten. Die Institutionenbildung hat im 20 Jh. ihren Höhepunkt mit der weltweiten Verbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefunden; – einem Mentalitätswandel bei den Herrschenden von einer machtbezogenen zu einer auch rechtsbezogenen Einstellung; – einer ebenso notwendigen mentalitätsmäßigen Verwandlung der Untertanen in Bürger(innen) und Grundrechtsträger; – insgesamt der Verankerung des Verfassungsdenkens bei den Mitspielern des politischen Kräftefelds und auch im Volk und bei den Einzelnen.
Was hier als verfassungsstaatliche Konstellation gekennzeichnet ist, wird in Teilen des kulturwissenschaftlich orientierten Schrifttums als law in context68 bezeichnet. Auch damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es nicht allein um die rechtliche Qualität der verfassungsrechtlichen Normen geht, sondern dass das Feld viel weiter ist. Im Lichte dieser Überlegungen erhält die allgemeine Diskussion darüber, ob man den Verfassungsbegriff vom Staat lösen kann, einen neuen Akzent.69 Bekanntlich befürworten die Konstitutionalisten eine 68
Haltern (Fn. 33), AöR 128 (2003), S. 512 ff.
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solche Auflösung vehement. Das Grundproblem scheint für sie gelöst zu sein, wenn diese Verbindung aufgebrochen und ein – in manchem gewandelter – Verfassungsbegriff auf den beiden anderen Ebenen angewendet wird. Hinter der Verbindung von Verfassung und Staat steht aber nicht nur ein Begriffsverständnis, sondern der anspruchsvolle und komplexe Begriff „Verfassung“ ist bezogen und real getragen von der erwähnten verfassungsstaatlichen Konstellation. Damit ist mehr und Wichtigeres verlangt, als üblicherweise für das Verfassungskonzept auf der europäischen und internationalen Ebene für ausreichend gehalten wird. Das Ziel der hier angestellten Überlegungen ist es nicht, Verfassung als Begriff unter Schutz zu stellen oder als ein Markenzeichen zu schützen. Aber die Übertragung ist nur plausibel und der Sachproblematik angemessen, wenn auf den beiden anderen Ebenen in der Substanz etwas Vergleichbares zur erwähnten verfassungsstaatlichen Konstellation vorliegt; dies ist zu bestreiten. Im Kern geht es darum, einen technokratischen oder halbierten Verfassungsbegriff, einen Schwundbegriff zu vermeiden. Deshalb ist hier die Komplexität des traditionellen rechtlich-politischen Verfassungsdenkens im Staat herausgestellt worden. Die konstitutionalistische Lesart im Völkerrecht ist beweispflichtig dafür, dass eine ähnliche Konstellation aus rechtlichen und politischen Elementen hinter ihren Konzepten steht. Diese neue Konstellation müsste natürlich nicht genau die verfassungsstaatliche Konstellation sein, aber es muss immerhin eine Konstellation sein, die Normatives und Politisches, Werte und Institutionen verbindet und die von irgendeiner Art von „Gemeinschaft“ politisch getragen ist. Im Hinblick auf das Letz69 Von der umfassenden Diskussion soll hier allein angeführt werden de Wet (Fn. 6), International and Comparative Law Quarterly 55 (2006), S. 51 f.: „Traditionally the term „constitution“ was reserved for domestic constitutions. Most municipal constitutions today provide a legal framework for the political life of a community for an indefinite time. They present a complex of fundamental norms governing the organization and performance of governmental function in a given State and the relationship between State authorities and citizens.“ Dies ist eine ziemlich abstrakte Beschreibung.
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tere reicht das normative Konstrukt einer internationalen Gemeinschaft vermutlich nicht aus, sondern in irgendeiner Weise muss auch eine real wahrnehmbare und handelnde Verbindung von Personen untereinander existieren.70 In der Zwischenzusammenfassung drängt sich auf: Auf der internationalen Ebene gibt es, was die Gesamtkonstellation betrifft: – große Fortschritte bei den Prinzipien, Werten und Konzepten; – bedeutend geringere Fortschritte bei der politischen Abstützung: Die internationale Ordnung und das Völkerrecht erreichen die Menschen längst nicht so wie das Staatsrecht; – sehr geringe Fortschritte bei Institutionalisierungen.
4. Vernachlässigung von politischen Prozessen der Mitwirkung und Akzeptanzgewinnung Eine ähnliche Kritik wendet sich gegen die Vernachlässigung politischer Prozesse, und zwar solcher Prozesse, die letztlich die Akzeptanz der Verfassung tragen. Die Verfassung ist im Staat eine Normschicht innerhalb einer politischen Einheit, in der die grundsätzliche Befolgung der Normen aus dem Angehörigkeitsverhältnis der Einzelnen als Bürger zu diesem Staat resultiert. Auch diese Ressource steht auf der internationalen Ebene so nicht zur Verfügung. Wenn für das Staats- und Verfassungsrecht kennzeichnend ist, dass das Politische bedacht und verarbeitet werden muss, dann gilt dies in noch viel stärkerem Maße für das Völkerrecht. Es überrascht, dass die konstitutionalistische Lesart das Ver70 Arnim von Bogdandy, Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, JZ 2005, S. 529 ff., Fn. 9: „Dass eine Konstitutionalisierung ohne einen entsprechenden politischen Willen zum Zusammenschluß nicht gelingt, zeigt die vorerst gescheiterte Konstitution eines globalen Völkerrechts“; dazu Walter (Fn. 35), GYIL 44 (2001), S. 170 (195 f.).
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ständnis von „Völkerrecht“ auf Texte und Werte, auf Konstruktionen und Theorien verengt, und dies in einer Zeit, in der etwa die Geschichtswissenschaft ihren Gegenstand durchgehend kulturwissenschaftlich erweitert (cultural turn), in der sie Herrschaft und Herrschaftsausübung umfassend begreift und Dokumente und Texte ausdrücklich nicht als ausreichend versteht, um die komplexen Phänomene von Herrschaft und Befolgung begreifen zu können. Zu dieser Verengung tragen systemtheoretische Theorien mit ihren schmerzhaften Abstraktionen und ihrer weitgehenden Vermeidung von Analysen realer Vorgänge in beträchtlichem Maße bei. 5. Ungenügende Verarbeitung der Differenziertheit der internationalen Sphäre Die konstitutionalistische Auffassung ist ein holistischer Ansatz. Sie will mit dem Konzept der Verfassung als der gesamten Grundordnung einer politischen Einheit das sich stark entwickelnde internationale Feld und sein Völkerrecht in einer großen Formel oder einem Konzept einfangen. Dieser große Wurf ist misslungen, und er kann derzeit nicht gelingen. Ein wichtiger Grund dafür ist die große Differenziertheit der einzelnen Sektoren oder Regime oder Vertragsordnungen des Völkerrechts. Wer zuerst Großformeln oder bloße Wertordnungen postuliert und sich erst dann an eine geduldige und detaillierte Analyse all dieser Bereiche, Sektoren und Teilordnungen macht, tut den dritten oder vierten Schritt vor dem ersten. Das Thema Fragmentierung des Völkerrechts ist nicht ohne Grund zu einem Großthema avanciert.71 Es ist auch zu einem Gegenkonzept zum Konstitutionalismus und zur Konstitutionalisierung geworden, und zwar allein schon deshalb, weil sich die von ihr aufgezeigte und zugrunde gelegte hohe 71 Weitere Nachweise bei Andreas L. Paulus, Subsidiarity, Fragmentation and Democracy: Towards the Demise of General International Law?, in: Tomer Broude / Yuval Shany (eds.), The Shifting Allocation of Authority in International Law, Oxford et al., 2008, S. 193 ff.
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Differenziertheit und Binnenkomplexität der internationalen Ebene mit der Einheitswelt und dem holistischen Ansatz des Konstitutionalismus nicht verträgt. In dieser Hinsicht hat die in den letzten Jahren stark angewachsene Literatur zum Global Administrative Law72 bzw. zum internationalen Verwaltungsrecht73 beachtliche Fortschritte gebracht, hat sie doch das Basiswissen über eine erstaunlich große Zahl von internationalen Institutionen, ihre Aktivitäten und ihre Verfahrensweisen erbracht. Auf diese Weise sind Kenntnisse über die Vielzahl der Akteure und ihre Handlungsweisen verfügbar geworden, die es erstmals zu verarbeiten gilt. 6. Die zweifelhafte Attraktivität von Emergenz und evolutivem Vokabular Zu kritisieren ist auch die mangelnde Komplexität der konstitutionalistischen Lesart, die zuweilen von auffallender und schmerzhafter Einfachheit ist. Sehr beliebt, aber wenig aussagekräftig sind die oft gehörten „Von-Zu-Formeln“ und die beliebte Rhetorik des „Post“: poststaatlich, postnational.74 72 Benedict Kingsbury / Nico Krisch / Richard B. Stewart, The Emergence of Global Administrative Law, Law and Contemporary Problems vol. 68, no. 3, 2005, S. 15 ff.; Nico Krisch / Benedict Kingsbury, Introduction: Global Governance and Global Administrative Law in the International Legal Order, EJIL 17 (2006), S. 1 ff.; Sabino Cassese et al. (eds.), Global Administrative Law. Cases, Materials, Issues, 2nd. Edition, 2008; Arnim v. Bogdandy / Rüdiger Wolfrum / Jochen v. Bernstorff / Philipp Dann / Matthias Goldmann, The Exercise of Public Authority by International Institutions, German Law Journal 9 (2008), S. 1375 ff. 73 Franz C. Mayer, Die Internationalisierung des Verwaltungsrechts, Berliner Habilitation, (i. E.); Eberhard Schmid-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), S. 315 ff.; Christoph Möllers / Andreas Voßkuhle / Christian Walter (Hrsg.) Internationales Verwaltungsrecht: eine Analyse anhand von Referenzgebieten, 2007. 74 In dieser Bewertung bin ich einig mit Martin Loughlin, In defense of Staatslehre, Der Staat 48 (2009), S. 1 (2): „Much of the innovative literature thus expresses itself in the language of „post-ism“: building on the claim that we are living today in a post-industrial or post-modern era, a con-
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Die Von-Zu-Formeln sind deshalb irreführend, weil sie, wörtlich genommen, eine Entweder-Oder-Situation vorspiegeln. Sie suggerieren, dass der eine Zustand sich verwandelt und ersatzlos in einen anderen zweiten Zustand auf- oder übergeht. Dies dürfte aber gerade die falsche Fährte sein, nicht nur in diesem Fall: Wann immer eine aufgeklärte Geschichtswissenschaft eine Epoche vertieft durchdringt, hat sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen festgestellt und letztlich als die Normalität begriffen. Mit dem heutigen großen Wandel ist es nicht anders: Auch derzeit finden keine Ersetzungsoder Ablösungsprozesse, sondern Überschichtungsprozesse statt. Es kommt Neues, viel Neues dazu, aber vom Alten bleibt genug und viel vorhanden. Es entsteht eine mehrstufige Gesamtkonstellation. Konkret verändert sich die Rolle der Staaten sehr stark, aber die Staaten bleiben immer noch die Basis, vor allem die politische und demokratische Basis der Gesamtarchitektur.75 Bei aller behaupteter Entstaatlichung: es bleibt viel Staatlichkeit an der Basis, aber es kommt im Aufbau oder Überbau auch viel Neues und Internationales dazu, Neues, das auch weiterhin auf die Leistungen der Staaten angewiesen ist. Insofern ist die Von-Zu-Vorstellung viel zu einfach und simplifizierend; sie ignoriert die fortbestehenden Leistungen der Staaten. Das Denken in der Dichotomie: entweder Nationalstaat oder Entstaatlichung verfehlt dies und verweigert sich dem – notwendigen – Denken in der Kategorie des Zugleich. Das kann nicht verwundern, weil die innere Logik der Von-Zu-Formeln alle Aufmerksamkeit auf das prognostizierte „Zu“, auf die Zukunft lenkt. Ähnlich Kritisches und Skeptisches ist zu dem neuerdings so häufig verwendeten Leitbegriff von der Emergenz zu sagen. viction is emerging that we are entering an era of post-state, post-sovereignty or post-constitutionalism.“ 75 Dazu schon Rainer Wahl (Fn. 20), in: Bohnert (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, 193 (218 ff.) (= ders. (Fn. 20), Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, S. 17 [45 ff.]); ders. (Fn. 20), in: ders. / Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt, S. 59 (70 ff.).
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Wie die schon bisher nicht gerade selten verwendete Evolutionsmetapher, die sie überholt und übertrumpft, hat das Konzept der Emergenz natürlich einen beachtlichen Kern. Aber sein geradezu inflationärer Gebrauch erweckt Zweifel, ob der Begriff nicht zu oft als Zauberwort dazu dient, das Viele, was man von der Zukunft nicht weiß und nicht wissen kann, zu überspielen. Auf Kritik, dass von dem als emergent Postulierten noch wenig zu sehen sei und die Prognose auf schwacher Grundlage stehe, läßt sich in selbstimmunisierender Weise leicht antworten, dass bisher nur der erste Anfang zu sehen sei, alles andere aber definitionsgemäß erst komme. Der Begriff sollte spezifischer gebraucht und Gründe genannt werden, warum die angenommene Emergenz wahrscheinlich ist und durch welche Faktoren und Kräfte sie gestützt ist.
VI. Bilanz 1. Das Verfassungskonzept auf der europäischen Ebene Gerade auf der europäischen Ebene, die von Anfang an dazu prädestiniert schien, den Verfassungsgedanken voll aufgreifen zu können, hat es einen großen Lernprozess gegeben. Auch wenn der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten ist, so ist er weder dem Wortlaut nach, noch in der Sache, noch in den Symbolen eine Erfüllung der Hoffnungen, die ursprünglich in einen europäischen Verfassungsvertrag gesetzt worden sind. Was war ursprünglich mit der politischen Bewegung zugunsten einer europäischen Verfassung gemeint? Aufgegriffen wurden dabei zum einen Vorschläge aus der Literatur, auch die Charakterisierung des EuGH.76 Zum anderen aber wollte man mit dem Verfassungsvertrag den Gang der Integration beschleunigen, nach dem Beitritt so vieler neuer Staaten die 76 Beginnend mit der Auffassung des Generalanwalts Lagrange v. 25. Juni 1964 zu EuGH Rs 6 / 64, Costa / E.N.E.L., Slg. 1964, 1279 (1289); EuGH Rs 294 / 83, Les Verts / European Parliament, Slg. 1986, 1357 (1365), Rz. 23: „charte constitutionelle de base qui est le traité“.
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machinery of government auf europäischer Ebene gründlich reformieren und generell die politische Integration, die mit dem zunächst eingeschlagenen Weg zur wirtschaftlichen Integration immer auch mitbefördert werden sollte, voranbringen. Die Verfassungsdiskussion war – neben anderem – ein Angebot, die politische Integration durch Verwendung des hochangesehenen Begriffs der Verfassung, überhaupt durch Aufwertung der unterkühlten Sprache der bisherigen Verträge77 und durch die Ausstattung mit den Symbolen Flagge und Hymne zu heben. Insoweit war das Verfassungsprojekt richtig angelegt. Es hatte sich nicht nur auf die rechtliche Sphäre bezogen, sondern man wollte die politische Basis, sozusagen die politische „Infrastruktur“ in der EU, bekräftigen, vor allem die Akzeptanz und Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der EU stärken. Die Initiatoren des europäischen Verfassungsprojekts wollten für den einzelnen und die Völker in Europa eine Verfassung im vollen Sinne als eine Verbindung von Rechtlichem und Politischem. Die einzelnen sollten sich mehr mit der EU identifizieren, ihr eine ähnliche Verbundenheit entgegenbringen wie sie dies gegenüber ihrem (National-)Staat getan haben und tun. Das Problem aber war, dass man zwar Angebote für eine bessere Verbundenheit und Identifizierung machen kann, dass aber im Weiteren alles davon abhängt, ob die Bürgerinnen und Bürger diesen qualitativen Schritt auf eine neue Ebene der Integration auch wollen. Jedenfalls zwei Völker, die Franzosen und die Niederländer, wollten dieses Angebot offenbar nicht annehmen. So hat das Schicksal des Verfassungsvertrags exemplarisch deutlich gemacht: Für einen solchen Sprung auf eine höhere Vertiefungs- und Integrationsphase reichen theoretische Konzepte von Akademikern und Parolen der Politiker sowie von EU-Eliten nicht aus, sondern über die Annahme des verstärkten Integrationsangebots müssen schon die Einzelnen selbst entscheiden. Notwendig sind also politische 77 In den ersten Jahrzehnten hat der EWG(EG)-Vertrag bewusst die Begriffe „Verfassung“ und „Gesetze“ vermieden.
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Prozesse, politische Bewegungen zugunsten der europäischen Integration;78 es reichen nicht Texte, von denen Wissenschaftler behaupten, dass sie dem Charakter von Verfassungen gleichkommen. Zu Recht gingen die Politiker beim Formulieren des Verfassungs-Vertrags davon aus, dass die rechtliche Vorrangordnung und überhaupt das rechtliche Design nicht ausreicht, dass Symbole und Worte eine wichtige Rolle spielen. Aber diese Einsicht nutzte auch nichts, solange die Völker Europas oder einige von ihnen, die sich äußern durften, nicht auf den Zug der gesteigerten Integration aufgesprungen sind. So hat sich in dem langen Prozess von beinahe 10 Jahren auf einem etwas gewundenen Weg oder Umweg die große, ja die ausschlaggebende Bedeutung des Politischen an einer denkbaren europäischen Verfassung geltend, und zwar negativ geltend gemacht. Auch eine europäische Verfassung, wenn sie den Namen verdient, muss eine Verbindung von Rechtlichem und Politischem sein. Die bloße Vorrangordnung, die Kreation von grundsätzlichen und vorrangigen Normen genügt nicht. An den Menschen und an den Völkern vorbei kann eine Verfassung erfolgreich kaum auf den Weg gebracht werden. Einer explizit verfassungsgebenden Versammlung, wie es in der Geschichte des Verfassungsstaates manchmal (längst nicht immer) der Fall war, bedarf es nicht immer. Aber im Prozess der Entstehung einer Verfassung, die eben nicht nur ein Rechtsdokument ist, muss es einen gesicherten Ort für die Völker und die Einzelnen geben, an dem diese als Träger oder Mitträger des Verfassungsprozesses sichtbar werden. Ist ein solcher nicht oder nur unzureichend vorhanden, dann werden die staatsinternen Abstimmungen über einen Vertrag zu einer Abstimmung über den Weg Europas insgesamt. So zeigt sich 78 Hier wird die Möglichkeit der Entwicklung zu einem stärkeren europäischen Identitätsgefühl bei den Völkern keineswegs bestritten oder als unwahrscheinlich angenommen. Nur darf eine solche Entwicklung nicht bloß postuliert werden, sie muss real geschehen. Hier ist ein strategischer Punkt, an dem reale Vorgänge und normativer Anspruch untrennbar zusammenhängen und voneinander abhängen, so wie an diesem Punkt auch empirische und normative Wissenschaften voneinander abhängen.
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am Ende, dass der Streit darüber, ob man das Konzept Verfassung vom Staat lösen kann oder nicht, ein zweitrangiger und vordergründiger Streit ist. Natürlich kann man dies – vorausgesetzt man kann etwas anbieten, das dem Verfassungskonzept vergleichbar ist. 2. Die Verfassungsthese als beträchtlich unterkomplexes Konzept für die internationale Ebene Im internationalen Feld findet das Verfassungsprojekt noch mehr problematische Punkte als im europäischen Kontext.79 Gibt es in der Europäischen Union selbstverständlich eine gewisse positive Hinwendung und Akzeptanz für irgendeine Form der europäischen Integration und ein entsprechendes Gemeinschafts- und Angehörigkeitsgefühl,80 so sind in der internationalen Sphäre alle Merkmale, die mit Gemeinschaft und einem politischen Gebilde zu tun haben, überhaupt nicht sichtbar. Natürlich ist „internationale Gemeinschaft“ für eine Reihe von Problemen ein sinnvoller und notwendiger Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass es jenseits des Konsenses aller Staaten in bestimmten – wenigen – Problemlagen den Bezug auf einen von den Staaten getrennten Wert gibt. Aber internationale Gemeinschaft im starken Sinne des Begriffs als eine reale und handlungsfähige oder Handlungsfähigkeit legitimierende Einheit gibt es tatsächlich nicht. Auch alle daran anschließenden Überlegungen für die Repräsentation dieser Wahl (Fn 28), S. 135 ff. Im Text sind bewusst Relativierungen und Gradualisierungen beim Wunsch nach Integration und bei dem Angehörigkeitsgefühl vorgenommen worden. Das Denken und die Sprachen müssen einem weithin vernachlässigten Problem gerecht werden. Es geht bei Integration oder Angehörigkeitsgefühl zur EU nicht um Ja oder Nein, sondern um Abstufungen. Seit 1958 gibt es in den jeweiligen Mitgliedsstaaten der EG / EU ein begrenztes Angehörigkeitsgefühl. Es geht jeweils immer um den Grad des Angehörigkeitsgefühls, man bemüht sich in der Vorgeschichte des Verfassungsvertrags um einen höheren Grad, um ein graduell stärkeres Angehörigkeitsgefühl. 79 80
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internationalen Gemeinschaft durch demokratische Repräsentanten, etwa in einer Weltversammlung, tragen das Zeichen der – schlechten – Utopie in sich. Tatsächlich geht es bei der konstitutionalistischen Verwendung von Verfassung von vornherein um den Rechtsbegriff der Verfassung, wiederum um eine „bloße“ Vorrangordnung für bestimmte Inhalte. Aber die Etablierung von obersten Werten und die Hoffnung, dass Gerichte (zunächst nationale, dann vielleicht auch internationale Gerichte) diese Werte auf kurzem Wege in geltendes Recht umsetzen, sind nicht begründet. Was speziell die starke Variante des Konstitutionalismus, nämlich die Etablierung einer geschlossenen constitution auf der internationalen Ebene betrifft, so fehlen dafür alle Voraussetzungen. Ganz überwiegend wird vertreten, dass die UN-Charta nicht die Verfassung der Welt ist, dass ihr Regelungsbereich zwar wichtig ist, ihre Aufgaben aber längst nicht alle Sektoren der internationalen Politik erfassen. Der Versuch, die UN-Charta auszudehnen und als Kern einer künftigen inhaltlichen Weltverfassung zu definieren, war von Anfang an problematisch, er ist jedenfalls in der Folge gescheitert.81 Aber auch die schwache Variante, die Behauptung einer fortscheitenden Konstitutionalisierung, hat beträchtliche Zweifel und Bedenken gegen sich. Das Verfassungsdenken im allgemeinen Völkerrecht, gedacht als die eine und große Klammer und Verbindung vieler Einzelregelungen und als Vorrangordnung gegenüber Verträgen und Gewohnheitsrecht, hat sich, so kann man die nahezu 10 Jahre der Diskussion zusammenfassen, übernommen. Das Projekt ist an seinem viel zu großen Anspruch gescheitert, als es das juristische Kennzeichen des ius cogens, nämlich seine vorrangige, vom aktuellen Konsens der Staaten unabhängige Geltung auf eine ganze Reihe anderer Konzepte (common goods, common interest u. ä.82) übertragen wollte. Als Transportmittel dazu sollte der 81 Paulus (Fn 2), ZaöRV 67 (2007), S. 695 (699); dazu auch Kadelbach / Kleinlein (Fn. 32), AVR 44 (2006), 235 ff., mit Schlußbemerkung S. 265 f.
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Verfassungsbegriff dienen, an dem nicht viel mehr interessierte als eben die Höchstrangigkeit und hierarchische Überlegenheit. Insgesamt ist es die Verdichtung von einzelnen Elementen zu einem kohärenten Konzept, das mit dem Namen Verfassung jenseits des Staates an ähnliche Synthese- und Integrationsleistungen in der staatlichen Verfassung erinnert, genau diese Verdichtung ist aber in den letzten 10 Jahren nicht vorangekommen, es haben sich statt dessen die Schwierigkeiten einer solchen Vorstellung deutlich gezeigt. Was vor allem deutsche und europäische Stimmen angeht: Häufig haben sie die damals positiv eingeschätzten Erfahrungen beim Projekt des europäischen Verfassungsvertrags auf die internationale Ebene übertragen. Die europäische Diskussion sollte als Türöffner für die internationale dienen.83 Insofern kann es nicht überraschen, dass die konstitutionalistische Lesart auf der internationalen Ebene noch weniger erfolgreich war. Deshalb sollte man in der Konsequenz von alledem für die überschaubare Zeit der nächsten Jahre auf den umfassenden Ansatz des internationalen Konstitutionalismus verzichten. Dann sollte man aber auch aus Gründen der wissenschaftlichen Klarheit den Verfassungsbegriff vermeiden.84 Die weiteren 82 In der gleichen Weise muss die Figur der world order treaties nicht nur generell beschrieben, sondern im einzelnen ausgeformt werden – in der deutschen Tradition sagt man dazu, dass etwas dogmatisch ausgeformt werden muss, was gehörige Arbeit bedeutet. 83 Franz C. Mayer (Fn. 2), S. 241 ff. 84 Nochmals sei an das Schicksal des europäischen Verfassungsvertrages erinnert. Damals haben zahlreiche (Europa-)Wissenschaftler in ihrer Doppelrolle als wissenschaftliche Beobachter und rechtspolitisch Gestaltungswillige wortstark den Begriff Verfassung verteidigt und in der Übertragung auf die europäische Ebene einen großen Fortschritt gesehen, Konzepte und Begriffe aus der nationalstaatlichen Verengung herauszuholen. In ihrem oft sehr kräftigen politischen Mitgestaltungswillen, der immer auch der Wissenschaft gefährlich wurde, haben sie den Verfassungsbegriff benutzt, um die Bürger besser über die Hürde zu einer vertieften Union zu bringen: Mit dem Verfassungsbegriff im Gepäck sollten die Bürgerinnen und Bürger die nächste Integrationsstufe angehen. Die absichtsvolle und auch instrumentalisierte Verwendung des Verfassungsbegriffs hat dort
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Fortschritte des Völkerrechts finden zunächst im Konkreteren und in den Analysen der Realien statt, bei einzelnen Rechtsfiguren und Rechtsinstituten in einzelnen Sektoren und Problemfeldern, in geduldigen Analysen von unten nach oben, so wie sie im Projekt zum Global Administrative Law85 stattfinden. Erst ein problemgesättigtes und sachnahes Völkerrecht kann sich dann noch einmal, aber sehr reflektiert auf den Weg der Abstraktion begeben. VII. Schlussbemerkung Als Ergebnis kann zusammengefasst werden: Der Begriff der Verfassung ist anspruchsvoll. Er läßt sich nur als eine Gesamtkonstellation aus zahlreichen Elementen begreifen. Die Verengungen in der Literatur beruhen zum großen Teil darauf, dass „Verfassung“ verengt und politisch entleert wird. „Verfassung“ wird hier nicht unter Markenschutz gestellt und auch nicht als angeblich exklusive Eigenart des staatlichen Verfassungsdenkens defensiv verteidigt. Zu verteidigen sind die Elemente des Umfassenden und Komplexen am Konzept der Verfassung, die Vielfalt an Voraussetzungen, an institutionellen Ausprägungen und Sicherungen und die entwickelten Mechanismen der Verwirklichung. Verteidigt wird „Verfassung“ auch dagegen, dass – in der Sprache des Markenrechts – viele an der großen Marke Verfassung partizipieren wollen, vor allem an der Ausstrahlungskraft des Begriffs, ohne dass die notwendigen Voraussetzungen dafür erbracht sind. Aber an den Konzepten der international constitution, des international constitutionalism and constitutionalization ist vieles bloßer Vorgriff, ferne Hoffnung, unkonturierte „emergence“ und Beschwören von Evolution. Dies ist aber nicht das letzte Wort. Zwar hat das konstitutionalistische Verständnis des Völkerrechts seinen Höhepunkt nichts genutzt, sie war eher ein Element des Scheiterns. Es fällt nicht schwer, das gleiche auch für die internationale Ebene vorherzusagen. 85 Vgl. oben Fn 72.
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überschritten; als Ansatz für das gesamte Völkerrecht dürfte es gescheitert sein. Gleichzeitig ist aber nicht zu übersehen, dass die Diskussionen so viele Einsichten über die Notwendigkeit von überstaatlich fundierten Elementen im Völkerrecht erbracht haben. Diese Ernte einzubringen, ist eine lohnende Fortsetzung dieser Diskussion. Es gibt „obligations arising for states without or against their will“, es gibt an manchen Stellen ius cogens und Pflichten erga omnes. Und die Phänomene, die unter dem Vorzeichen des societal constitutionalism interpretiert werden, sind wichtig genug, um weiter und zusammen mit den zugehörigen hoheitlichen oder öffentlich-rechtlichen Handlungsformen analysiert zu werden. All diese Neuerungen sind auch dann wichtig, wenn sie nicht die Grundlage für einen gesamten Neubau des Völkerrechts bilden, sondern wenn sie als das verstanden werden, was sie sind: Elemente, die dem vorhandenen und sich wandelnden Bauwerk des Völkerrechts hinzugefügt werden. Insofern bedarf das Nachdenken über das Verfassungsdenken jenseits des Staates eines Neustarts. Es muss bescheidener ansetzen und sich zunächst auf die einzelnen „konstitutionalisierenden“ Elemente begrenzen, anstatt auf das Ganze einer Verfassung zu zielen. Außerdem muss die Diskussion die Verbindung zu den anderen großen Themen des aktuellen Völkerrechts suchen, also zur Debatte um die Fragmentierung (als Theorie und ihre Praxis im Völkerrecht der Sektoren), um das Global Administrative Law sowie die sektoralen Völkerrechte. Das reale Völkerrecht hat sehr viele Erscheinungsformen und es hat eine beträchtliche Dynamik, allein mit Deduktion und Abstraktion kann es nicht erfasst oder neu konzipiert werden.
Parlamentskunst – Über das Verhältnis von demokratischer und symbolischer Repräsentation – Von Jens Kersten, München In seinem Aufsatz über Parlament, Kunst und Demokratie aus dem Jahr 2000 setzt sich Dietrich Murswiek mit den verfassungsrechtlichen Bedingungen des Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung des Deutschen Bundestags auseinander.1 Die Überlegungen stehen in einer epistemologischen Tradition, zu der aus juristischer Perspektive vor allem Adolf Arndts Vorträge Demokratie als Bauherr (1960)2 und Das zeitgemäße Parlamentsgebäude (1962)3, Helmut Quaritschs Monographie zur Selbstdarstellung des Staates (1977),4 Josef Isensees Essay über Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus (1992),5 Ulrich Battis’ Berliner Antrittsvorlesung Demokratie als Bau1 Vgl. Dietrich Murswiek, Parlament, Kunst und Demokratie. Zum Selbstverständnis und zur Selbstdarstellung des Bundestages am Beispiel des Kunstprojekts „Lichthof Nord“, in: Dieter Dörr / Udo Fink / Christian Hillgruber / Bernhard Kempen / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Die Macht der Demokratie. Festschrift für Hartmut Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 211 ff. 2 Vgl. Adolf Arndt, Demokratie als Bauherr, in: ders., Geist der Politik. Reden, 1965, S. 217 ff. 3 Vgl. Adolf Arndt, Das zeitgerechte Parlamentsgebäude, in: ders., Geist (Fn. 2), S. 238 ff. 4 Vgl. Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977; ferner ders. (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, 1977; ders., Weiteres zur „Selbstdarstellung des Staates“, in: DÖV 1993, S. 1070 ff. 5 Vgl. Josef Isensee, Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus. Ist die Republik der Deutschen zu Verbalismus verurteilt?, in: Jörg-Dieter Gauger / Justin Stagl (Hrsg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 223 ff.
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herrin (1994)6 und Horst Sendlers verfassungspolitisch-bauplanungsrechtliche Miniatur Der verhüllte Reichstag und die Smendsche Integrationslehre (1995)7 gehören. Der besondere Beitrag, den Dietrich Murswiek in Parlament, Kunst und Demokratie zu dieser Texttradition leistet, liegt darin, dass er seine verfassungsrechtliche Argumentation zur parlamentarischen Selbstdarstellung anhand eines konkreten Falls entwickelt. Dies ist deshalb von besonderem Reiz, weil am Ende der Überlegungen ein klares Ergebnis stehen muss: Fälle wollen entschieden sein. Dadurch ist die Flucht in die abstrakten Höhen ästhetischer und politischer Reflexionen verbaut – eine Gefahr, die sich bei der juristischen Beschreibung des Verhältnisses von Politik und Kunst unweigerlich aufdrängt. Anlass für die juristische Intervention Dietrich Murswieks war der Streit um die künstlerische Gestaltung des nördlichen Lichthofs des Reichstagsgebäudes mit dem Werk „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke.8 Doch seine Überlegungen gehen weit über diesen Fall hinaus: Wie ist das Verhältnis von Staat und Kunst, wenn es um Staatskunst geht?9 Gibt es verfassungswidrige Kunst?10 Und wenn ja: Kann verfassungswidrige Kunst verfassungskonform ausgelegt werden?11 Darf das Parlament über Parlamentskunst abstimmen?12 Und wenn ja: Was sind die Kriterien?13 6 Vgl. Ulrich Battis, Demokratie als Bauherrin. Antrittsvorlesung vom 25. 1. 1994, Berlin 1995. 7 Vgl. Horst Sendler, Der verhüllte Reichstag und die Smendsche Integrationslehre, in: NJW 1995, S. 2602 ff. 8 Vgl. Dietrich Murswiek, Bundestag darf sich nicht vom Volk verabschieden. Das Parlament muss gegen umstrittenes Kunstwerk stimmen, in: Focus 52 / 2000. 9 Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 233; auch ders., Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung. Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders. / Ulrich Storost / Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat-Souveränität-Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin, 2000, S. 307 ff. 10 Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 223, 227, 240. 11 Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 225.
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Der Selbstdarstellung des Bundestages soll auch im Folgenden nachgegangen und dabei die These entwickelt werden, dass zwischen der demokratischen Repräsentation und der symbolischen Repräsentation zu unterscheiden ist. Die demokratische Repräsentation wird durch Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbindlich geregelt. Diese demokratische Repräsentation des Parlaments bestimmt auch dessen symbolische Repräsentation – doch dies nicht ungebrochen: Historische Entwicklung und künstlerische Gestaltung sorgen für Ambivalenzen in der symbolischen Repräsentation, die jedoch die demokratische Repräsentation souverän aushalten kann. Diese These soll zunächst näher erklärt (I.) und sodann anhand der beiden symbolischen Widmungen des Reichstagsgebäudes – „Dem Deutschen Volke“ (II.) und „Der Bevölkerung“ (III.) – beispielhaft erläutert werden.
I. Wenn wir an ein Schloss, eine Kirche, eine Schule oder eine Fabrik denken, so hat jeder von uns ein architektonisches Bild vor Augen.14 Warum aber – so fragt Adolf Arndt – ist das bei Parlamenten nicht der Fall? Warum fallen uns bei Parlamenten keine typologischen Baugestalten, sondern „nur“ konkrete, unverwechselbare Gebäude ein?15 Warum gibt es also nicht die Parlamentsarchitektur?16 Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 245 Fn. 52. Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 229 ff. 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Arndt (Fn. 3), S. 238; konkret am Beispiel des Nordrhein-Westfälischen Landtags Falk Jaeger, Der Landtag von Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Stichwort: „Demokratie als Bauherr“, in: Bauwelt 1993, S. 2060 ff. 15 Vgl. allgemein Quaritsch, Weiteres zur „Selbstdarstellung des Staates“ (Fn. 4), S. 1074, zum Anspruch der „Unverwechselbarkeit“ von Staatsarchitektur. 16 Vgl. Michael S. Cullen, Der Reichstag. Im Spannungsfeld deutscher Geschichte, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 10; allerdings Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bau12 13
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Auf diese Fragen lässt sich historisch wie ästhetisch antworten: Geschichtlich waren Nationalversammlungen und Parlamente eine eher späte und deshalb in der Regel revolutionäre politische Form. Deshalb mussten sie sich als Versammlungen zunächst rein faktisch ihre Gebäude suchen.17 Ganz in diesem Sinn hat Peter Sloterdijk die französische Revolution als eine revolutionäre „Umwidmung“18 der Gebäude und Räume des ancien regime beschrieben,19 da es „zu keiner Zeit einen leeren ,republikanischen Raum‘“20 gab: „Wenn in der Revolution“, so Sloterdijks Schlussfolgerung, „fast nichts beim Alten blieb, so doch im Alten.“21 In der deutschen Verfassungsgeschichte sind es Kirchen, Theater, Museen, Schulen und Wasserwerke gewesen, die sich deutsche Nationalversammlungen, Parlamentarische Räte und Parlamente als Sitz gewidmet haben. Dabei zeigt schon die Aufzählung dieser Gebäudetypen, dass eine politische Revolution in Deutschland ausgeblieben ist. Im „Alten“ wohnte ein deutsches Parlament „nur“ im Reichstagsgebäude, das ihm der spätkonstitutionelle Anstaltsstaat widmete, und dessen historische Widmung dem Deutschen Bundestag symbolisch am Westportal des Reichstagsgebäudes noch heute nachhängt.22 Adolf Arndts Frage lässt sich aber auch ästhetisch beantworten: Es gibt keine architektonische oder künstlerische Grundform der Demokratie, da Demokratie nicht statisch abbildbar, sondern ein unwiederholbarer Prozess ist.23 Insofern werken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, Berlin 1995, S. 135 ff., zu einer Typologie der parlamentarischen Sitzungsordnung. 17 Vgl. Arndt (Fn. 3), S. 240 f.; Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin 2008, S. 13. 18 Peter Sloterdijk, Sphären III. Schäume, Frankfurt 2004, S. 613, 621; vgl. auch Battis (Fn. 6), S. 9, zu dieser Adaptionsleistung der Demokratie. 19 Vgl. Sloterdijk (Fn. 18), S. 607 ff. 20 Sloterdijk (Fn. 18), S. 612. 21 Sloterdijk (Fn. 18), S. 612. 22 Vgl. unten II. 23 Vgl. Arndt (Fn. 3), S. 239, 243.
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weist Christoph Möllers vollkommen zu Recht auf den expressiven Charakter jeder gelebten Demokratie hin,24 der dafür sorgt, dass die Kunst in akute „Bildnot“ gerät, wenn sie die Demokratie darstellen soll.25 Doch eigentlich dürfte dies nicht so sein. Seit der Antike verbindet die politische Ikonographie mit der Demokratie einen bestimmten Baustil: Demokratie baut offen, transparent und horizontal.26 Doch in der Bundesrepublik hat allein der Bonner Behnisch-Bau versucht, den architektonischen und künstlerischen Anspruch offenen, transparenten und horizontalen Bauens einzulösen.27 Es hat dem Bauwerk Günter Behnischs beißenden Spott eingetragen: „Der neue Plenarsaal des Bundestages in Bonn“, so notiert Johannes Gross, „ist das definitive Signal für den Umzug nach Berlin in den Reichstag. In seiner gelassenen Luftigkeit, der Offenheit nach allen Seiten ein Monument der Ideale der 60er und 70er Jahre, der alten Bundesrepublik; ein wunderschöner Annex zur Bundesgartenschau nebenan. Es ist die Architektur gewordene Verneinung des Ernstfalles.“28 Nun bin ich kein Freund ästhetisierenden Ernstfalldenkens.29 Doch das muss man auch nicht sein, um zu verstehen, warum der Deutsche Bundestag „Abschied vom Glashaus“30 Vgl. Möllers (Fn. 17), S. 13, 28 f. Vgl. Niklas Maak, Jenseits von Erde. Heute entscheidet der Bundestag über Hans Haackes Kunstwerk, in: FAZ v. 5. 4. 2000: „Wenn es aber darum ging, die moderne Demokratie anzupreisen, gerieten die Künstler meistens in Bildnot.“ 26 Vgl. Battis (Fn. 6), S. 3, 6 m. w. N. 27 Vgl. Wefing (Fn. 16), S. 110 ff., 197 f.; Wolfgang Kil, Das sympathische Experiment. Der Bonner Plenarsaal nach vierzig Jahren Streit über „Bauen in der Demokratie“, in: Heinrich Wefing (Hrsg.), „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag im Reichstagsgebäude, Bonn 1999, S. 101 (104 ff.). 28 Johannes Gross, Notizbuch, Neueste Folge, Achtzigstes Stück, zit. nach Battis (Fn. 6), S. 4. 29 Vgl. auch Battis (Fn. 6), S. 9 f. 30 Heinrich Wefing, Abschied vom Glashaus. Die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik im Wandel, in: ders. (Hrsg.), „Dem 24 25
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und seinen Sitz im Reichstagsgebäude genommen hat: Der Reichstag symbolisiert die Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte der letzten 120 Jahre und damit auch des Parlamentarismus und der Demokratie in Deutschland wie kaum ein anderes Gebäude:31 vor 1914 die verpasste Parlamentarisierung, 1918 die Ausrufung der Republik, die parlamentarische Agonie Weimars, 1933 der Reichstagsbrand, 1945 das Hissen der roten Fahne, dann – im Kalten Krieg – der Leerstand, 1990 die Feier der deutschen Einheit. Gerade deshalb birgt das Reichstagsgebäude – wie Ulrich Battis hervorgehoben hat – trotz seines rückwärtsgewandten Stils und seiner Zerstörungen ein unvergleichlich stärkeres Identifikationsund Integrationspotential als der transparente Bonner Behnisch-Bau.32 Aber dennoch könnte das Reichstagsgebäude von seiner Bauform durchaus auch etwas anderes als ein Parlament darstellen. Nach Adolf Arndt ließe sich beim Reichstag auch an einen Palast, ein Ausstellungsgebäude oder einen Bahnhof denken.33 Daraus lässt sich insgesamt folgern, dass der Schluss von demokratischen Verfassungsprinzipien wie Offenheit und Transparenz auf eine bestimmte architektonische oder künstlerische Ausgestaltung eines Parlaments ein fataler Kurzschluss ist, der ein – so pointiert wiederum Ulrich Battis – „illusionäres, den Herrschaftscharakter von Demokratie eskamotierendes und deshalb für den politischen InteDeutschen Volke“ (Fn. 27), S. 138 ff.; Hans Stimman, Dem Staat ein Gesicht geben, in: ders. / Martin Kieren, Die Architektur des neuen Berlin 2005, S. 238 (242). 31 Vgl. hierzu und zum Folgenden Burkhard Hirsch, BT-StenBer. 12 / 211, S. 18278; Heribert Scharrenbroich, ebd., S. 18279; Manfred Richter, ebd., S. 18282; Wolfgang Schäuble, ebd., S. 18283; Battis (Fn. 6), S. 8; Heinrich August Winkler, Vom Parlament zur parlamentarischen Demokratie. Über die Ungleichzeitigkeit der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Wefing (Hrsg.), „Dem Deutschen Volke“ (Fn. 27), S. 17 ff. 32 Vgl. Battis (Fn. 6), S. 8; vgl. in diesem Sinn auch zum architektonischen Neugestaltungskonzept des Reichstagsgebäudes Norman Foster, Bundestag im Reichstagsgebäude, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.), Demokratie als Bauherr. Die Bauten des Bundes in Berlin 1991 – 2000, Hamburg 2000, S. 52 ff. 33 Arndt (Fn. 3), S. 238; vgl. auch ders., ebd., S. 253.
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grationsprozeß gefährliches Demokratieverständnis“34 offenbart. Es gilt also in diesem Zusammenhang zwischen zwei Formen der Repräsentation zu unterscheiden: zum einen der demokratischen Repräsentation, zum anderen der symbolischen Repräsentation. Die demokratische Repräsentation ist in Art. 20 Abs. 2 GG geregelt: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird in den drei Gewalten ausgeübt. Dies wird für das Parlament in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG spezifiziert: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Die symbolische Repräsentation betrifft die staatliche „Selbstdarstellung“35. Sie ist nun im neuen Art. 22 Abs. 1 Satz 2 GG für den Gesamtstaat geregelt: „Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes.“ Diese Form der symbolischen Repräsentation ist in Art. 22 Abs. 1 Satz 2 GG auf den Gesamtstaat bezogen,36 der Sache nach geht es aber auch bei der Selbstdarstellung des Deutschen Bundestags um nichts anderes: Als Selbstdarstellung des Parlaments muss zwar diese symbolische Repräsentation die demokratische Repräsentation widerspiegeln.37 Doch wo die symbolische Repräsentation historisch tradiert und / oder 34 Battis (Fn. 6), S. 7; vgl. auch Isensee (Fn. 5), S. 228 f. Hans Stimann spricht von einem „extrem verkürzten vordergründigen Dreiklang aus Öffentlichkeit = Transparenz = demokratisch, der in den letzten Jahren noch um die Vokabel ,ökologisch‘ bzw. ,nachhaltig‘ ergänzt wurde.“ – Stimann (Fn. 30), S. 242. 35 BVerfGE 81, 278 (293) – Bundesflagge; ferner zum Begriff der „Selbstdarstellung“ Quaritsch, Selbstdarstellung (Fn. 4), S. 7 ff.; ders., Weiteres zur „Selbstdarstellung des Staates“ (Fn. 4), S. 1071; Murswiek, Verfassungsfragen (Fn. 9), S. 309 ff.; Wefing (Fn. 16), S. 20 ff. m.umf.N. 36 Vgl. Peter Michael Huber, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 22, Rn. 2 ff.; ferner Murswiek, Verfassungsfragen (Fn. 9), S. 313 ff. zum verfassungsrechtlichen Gehalt des Art. 22 GG a.F. 37 Vgl. Murswiek, Verfassungsfragen (Fn. 9), S. 329, zum Gebot positiver Verfassungsorientierung der Selbstdarstellung.
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künstlerisch gestaltet ist, wird sie auch noch von Faktoren mitbestimmt, die eben gerade nicht rein verfassungsrechtlicher, sondern historischer und ästhetischer Natur sind. Diese historischen und künstlerischen Brüche im Verhältnis von demokratischer und symbolischer Repräsentation des Deutschen Bundestages zeigen sich exemplarisch in den beiden Widmungen, die sich nun auf dem Westportal und im Nordhof des Reichstagsgebäudes finden.
II. Die historische Widmung auf dem Westportal des Reichstagsgebäudes lautet: „Dem Deutschen Volke“. Von der Schlusssteinlegung des Reichstagsgebäudes am 5. 12. 1894 bis Weihnachten 1916 war es unter dem Giebeldreieck des Westportals jedoch leer.38 Paul Wallot hatte als Architekt des Reichstagsgebäudes zwar die Widmung „Dem Deutschen Volke“ vorgesehen. Doch Kaiser und Reichsregierung lehnten sie ab und verschleppten die Entscheidung. Die Reichstagsbaukommission hatte die Widmung „Dem Deutschen Volke“ am 19. 1. 1895 beschlossen und mehrheitlich gegen den Vorschlag „Dem Deutschen Reiche“ gestimmt. Der Kaiser hätte lieber „Der Deutschen Einigkeit“ unter dem Giebeldreieck des Westportals gesehen. So wurde letztlich keine Widmung angebracht. „Es ist“, so war im Vorwärts vom 38 Vgl. hierzu und zum Folgenden Cullen (Fn. 16), S. 44 f.; ders. / Uwe Kieling, Der deutsche Reichstag. Geschichte eines Parlaments, Berlin 1992, S. 71 f., einschließlich der Zitate; Wefing, in: ders. (Hrsg.), „Dem Deutschen Volke“ (Fn. 27), S. 4 f.; Hans Hattenhauer, Deutsche Staatssymbole. Geschichte und Bedeutung, 4. Aufl. 2006, S. 226 f.; Hans Haacke, „Der Bevölkerung“ – Das Projekt, in: Michael Diers / Kaspar König (Hrsg.), „Der Bevölkerung“. Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichstagsprojekt von Hans Haacke, Frankfurt am Main 2000, S. 83 (89); ders., Ganz oben. Ein Faxinterview mit Hans Haacke von Astrid Wege, in: Diers / König, ebd., S. 198 (203); Heinrich Fink, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9042; Armin D. Steuer, „Dem Deutschen Volke“, in: SZ-Magazin v. 29. 11. 1991.
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5. 12. 1894 zu lesen, „sogar für uns recht vorteilhaft, daß jene Marmortafel merkwürdigerweise leer gelassen worden ist, auf die nach dem Plane des Baumeisters gemeißelt werden sollte: ,Dem deutschen Volke‘. Somit ist der Raum noch frei, und wir können später nach Belieben eine passende Bezeichnung wählen.“ Der Reichstag selbst hat die Widmung nicht mehr eingefordert, auch nicht 1915: Angeregt durch einen Artikel im Leipziger Tageblatt vom 5. 8. 1915 gab der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt Arnold Wahnschaffe in einem Brief an den Chef des Zivilkabinetts Rudolf von Valentini seiner Sorge Ausdruck, dass Wilhelm II. mit jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volks verlöre. Deshalb sei es begrüßenswert, wenn der Kaiser etwas gegen diesen „Treueverlust“ unternehmen würde, etwa die Widmung „Dem Deutschen Volke“ am Westportal des Reichstagsgebäudes anbringen zu lassen. Im Schreiben von Wahnschaffe an von Valentini vom 21. 8. 1915 heißt es, dass eine nochmalige Ablehnung der Widmung „ja unter den heutigen Verhältnissen kaum denkbar“ sei. Deshalb solle man es wohl auch gar nicht zu einer Erörterung kommen lassen, sondern die Sache still erledigen, damit nicht die alten unliebsamen Erinnerungen wieder wach würden. Rudolf von Valentini antwortete am 25. 8. 1915, dass kein Widerspruch erhoben würde, falls die Ausschmückungskommission die Inschrift beschließe. Das Nachsuchen ausdrücklicher Genehmigung sei nicht mehr erforderlich. Am 27. 8. 1915 verkündete der Präsident des Reichstags, Johannes Kaempf, sodann im Plenum, dass die Inschrift beschlossen sei. Daraufhin entbrannte ein parlamentarischer Streit um das Inschriftmaterial sowie die Schriftgröße und Schrifttype. Doch es ist nicht belegt, ob der Reichstag noch einmal vor der Auftragserteilung für die Gestaltung der Widmung an den Architekten Peter Behrens durch den Staatssekretär im Reichsamt des Innern, Theodor Lewald, gehört wurde. Zwei in den Freiheitskriegen 1813 erbeutete Kanonen wurden in die Widmung „Dem Deutschen Volke“ von der jüdischen Gießerei der Brüder Siegfried und Albert Loevy umgegossen, von
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denen ein Sohn in Auschwitz, ein anderer in Plötzensee ermordet wurde. Die 60 cm hohen Buchstaben wurden zwischen dem 20. und 24. 12. 1916 am Westportal des Reichstagsgebäudes angebracht. Ganz dem Wunsche der kaiserlichen Reichsregierung entsprechend, geschah dies von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, allein von der Spandauer Zeitung vom 23. 12. 1916 als „Weihnachtsgeschenk für das deutsche Volk“ kommentiert. Wie ist diese Widmung im Spannungsverhältnis zwischen demokratischem Repräsentationsprinzip und symbolischer Repräsentation einzuordnen? Hält man die Widmung am historischen Verständnis ihrer Autoren – also Wilhelms II. und seiner Reichsregierung – fest, so ist der konstitutionelle Widmungsakt „Dem deutschen Volke“ als ein „Relikt aus der Kaiserzeit“39 schlicht nicht mit dem streng verfassungsrechtlich zu bestimmenden demokratischen Repräsentationsprinzip zu vereinbaren. In diesem Sinn hat denn auch etwa Adolf Arndt die Widmung abgelehnt: „Schon die Inschrift am Wallot-Bau gibt preis, daß es sich um einen nachgemachten Palast handelte, gnädig ,dem‘ Volke für einen Schein-Konstitutionalismus vom regierenden Herrscher geschenkt. Es ist eine sentimentale Gedankenlosigkeit, es bei dieser Inschrift zu belassen.“40 Doch der Bundestag hat es bei der Widmung belassen, als er mehrheitlich beschloss, seinen Sitz im Reichstag zu nehmen.41 Damit hat sich der Bundestag die Widmung zu Eigen gemacht, und Dietrich Murswiek hat gezeigt, dass er dies auch verfas39 Oscar Schneider, Die Verfassung im Holztrog beschädigt, in: Die Welt v. 16. 2. 2000. 40 Arndt (Fn. 3), S. 238; vgl. auch krit. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Neue Reichstags-Widmung so irrig wie die alte, in: FAZ v. 13. 4. 2000; Hans Meyer, Wie ein deutscher Staatsrechtslehrer mit Kanonen auf Spatzen schießt – und sie verfehlt, in: Diers / König (Fn. 38), S. 35 (38). 41 Rita Süssmuth, Vorwort, in: Wefing (Fn. 27), S. 11 (13); vgl. auch dies., Kunst im Dienst des Grundgesetzes, in: Diers / König (Fn. 38), S. 66 (68).
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sungsrechtlich konnte:42 Wenn man die Widmung vom Willen ihrer historischen Urheber löst, kann sie als Symbol der demokratischen Repräsentation gelten. Der Bundestag bringt mit ihr zum Ausdruck, dass er seinen Sitz „Dem Deutschen Volke“ widmet, das seine Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG repräsentieren. Doch diese Umwidmung der Widmung bleibt geschichtlich ambivalent und damit auch ihr symbolischer Repräsentationscharakter.43 Denn die historische Lesart des Kaisers bleibt neben dem Verständnis bestehen, das der Bundestag der Widmung gegeben hat. Diese symbolische Ambivalenz scheint so schwer zu wiegen, dass sich bereits Legenden um die Widmung gebildet haben: Die Widmung sei dem Kaiser 1915 abgerungen worden.44 Doch selbst wenn Wilhelm II. mit der Widmung das Prinzip der Volkssouveränität assoziiert haben sollte, kann historisch keine Rede davon sein, dass die Widmung dem Anstaltsstaat demokratisch oder parlamentarisch abgerungen worden sei. Dies ist aber kein Einwand gegen die Widmung als ein Symbol des Bundestages, solange eine Lesart existiert, die als Ausdruck der demokratischen Repräsentation der Selbstdarstellung des Bundestages genügen kann. Vielmehr mag allein die historisch gebrochene symbolische Ambivalenz unserem demokratischen Selbstverständnis gerecht werden, sind wir Deutsche doch so späte wie unsichere Schüler parlamentarischer Demokratie.45
42 Vgl. hierzu und zum Folgenden Murswiek (Fn. 1), S. 236, 238; ferner Süssmuth, Vorwort (Fn. 41), S. 12 f.; vgl. auch dies., Kunst (Fn. 41), S. 68. 43 Vgl. zur Ambivalenz der Widmung Süssmuth, Kunst (Fn. 41), S. 68. 44 Vgl. Hans Haacke, Wem gehört das Volk? Ein Gespräch mit Hans Haacke von Matthias Flügge und Michael Freitag, in: Diers / König (Fn. 38), S. 93 (96); Klaus Bölling, Das Troggebilde ist ein Truggebilde, in: Welt am Sonntag v. 20. 2. 2000; Wolf Jobst Siedler, Für jeden in Deutschland, und käme er aus Timbuktu, in: Berliner Morgenpost v. 26. 3. 2000; Hans-Joachim Otto, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9043. 45 Vgl. Jens Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars langer Schatten: „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 281 (309 f.).
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III. Die künstlerische Widmung im Nordhof des Reichstagsgebäudes lautet: „Der Bevölkerung“. Der Deutsche Bundestag hat dieses Kunstwerk ganz bewusst bei Hans Haacke als einem Künstler in Auftrag gegeben, „der die Politik durchaus provoziert und zur Auseinandersetzung mit der Kunst herausfordert, einen Künstler, der Politik und Kunst in eine spannungsvolle, untrennbar miteinander verwobene Wechselbeziehung setzen möchte.“46 Die 120 cm großen Buchstaben der Widmung – „Der Bevölkerung“ – sind in einen Holztrog eingebettet, in den die Abgeordneten Erde aus ihren Wahlkreisen schütten sollen, damit die in dieser Erde enthaltenen Pflanzensamen frei wachsen, dokumentiert auf Tafeln überall im Reichstagsgebäude und im Internet.47 Hans Haacke hat sein Kunstwerk dem Kunstbeirat des Bundestags erläutert:48 Der Künstler war menschlich, geschichtlich, moralisch und politisch von der Widmung über dem Westportal des Reichstagsgebäudes – „Dem Deutschen Volke“ – schockiert. Deshalb wollte er dieser historischen Widmung seine – durch Bertolt Brecht inspirierte49 – künstlerische Widmung „Der Bevölkerung“ entgegensetzen. Der zentrale Satz der Überlegungen, die Haacke zu seinem Kunst46 Rita Süssmuth, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9045; vgl. auch Renate Blank, Für eine starke Demokratie, in: Diers / König (Fn. 38), S. 206. 47 Vgl. Haacke, „Der Bevölkerung“ (Fn. 38), S. 84 ff.; Franziska Eichstädt-Bohling, Ein Lehrstück über den Dialog von Kunst und Politik, in: Diers / König (Fn. 38), S. 207 (208); zur öffentlichen Diskussion Martina Meister, Die Abschaffung eines Volkes durch die Kunst – eine Presseschau, in: Diers / König (Fn. 38), S. 54 ff., sowie den dokumentarischen Überblick ebd., S. 81 ff. 48 Vgl. hierzu und zum Folgenden Haacke, „Der Bevölkerung“ (Fn. 38), S. 87 ff. 49 Haacke, „Der Bevölkerung“ (Fn. 38), S. 90, bezieht sich auf Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: ders., Gesammelte Werke, 18. Bd., Frankfurt 1982, S. 222 (231): „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“ (Hervorhebungen im Original).
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werk dem Kunstbeirat schriftlich vorlegte, lautet: „Für ihre Entscheidungen haben sich die Bundestagsabgeordneten nicht gegenüber einem mythischen Volke sondern gegenüber DER BEVÖLKERUNG zu verantworten.“50 Wie ist nun diese Widmung im Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsrechtlich demokratischen Repräsentation und der künstlerisch symbolischen Repräsentation einzuordnen? Im Fall der Parlamentskunst berühren sich die Entscheidungssouveränität des Bundestags und die Freiheit der Kunst. Die künstlerisch symbolische Repräsentation wird nur gelingen, wenn Parlament und Kunst ihre jeweils eigenen Freiheitssphären in dieser Berührung wahren können. Würde das Parlament die Kunst determinieren, so ginge es nicht um künstlerische symbolische Repräsentation, sondern Dekoration.51 Würde allein die Kunst die Gestaltung des Parlaments bestimmen, so ginge es nicht um die symbolische Selbstdarstellung der Volksvertretung. Parlament und Kunst müssen sich also miteinander auseinandersetzen, damit künstlerisch symbolische Repräsentation gelingen kann. Diese Auseinandersetzung birgt Zumutungen für beide Seiten. Für den Künstler liegt die Zumutung darin, dass über sein Kunstwerk gegebenenfalls parlamentarisch gestritten und durch Abstimmung mehrheitlich entschieden wird.52 Zwar 50 Haacke, „Der Bevölkerung“ (Fn. 38), S. 90; vgl. auch ders., Überlegungen zum Kunstprojekt im Reichstagsgebäude – nördlicher Lichthof, in: Diers / König (Fn. 38), S. 91. 51 Vgl. konkret Klaus Staeck, Genossen, Eure Lanze!, in: FAZ v. 4. 4. 2000: „Haacke ist kein Dekorateur“; allgemein Eduard Beaucamp, Das Volk und seine Erde. Künstler als Auftraggeber: Hans Haackes Reichstagsprojekt, in: FAZ v. 23. 12. 1999: „Künstler wollen alles sein, nur keine folgsamen Auftragnehmer und gesellschaftlichen Illustratoren.“ 52 Dies ist allerdings eine Zumutung, die der Künstler auch außerhalb der Parlamentskunst ertragen muss und vor der ihn auch sein verfassungsrechtlich verankertes und durch das UrhG ausgestaltetes Urheberpersönlichkeitsrecht nicht schützt. Der Änderungs- und Entstellungsschutz, den der Künstler gem. §§ 14, 39 UrhG an seinem Werk genießt, betrifft nämlich lediglich die äußere Gestalt des Kunstwerks. Die Deutungshoheit
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wurde immer wieder in der Debatte über die Reichstagsverhüllung53 sowie in der parlamentarischen54 und außerparlamentarischen55 Auseinandersetzung um das Kunstwerk Hans Haackes behauptet, über Kunst dürfe und könne parlamentarisch nicht abgestimmt werden – und dafür Adolf Arndts Vortrag über Demokratie als Bauherr zitiert: Demokratische Lebensweise beruht nach Arndt „grundlegend zuerst auf Übereinstimmung hinsichtlich des Unabstimmbaren, welche Übereinstimmung die Möglichkeit des Zusammenlebens begründet und das Abstimmbare aussondert und zur Wahl freigibt. Mit anderen Worten, nicht nur ist in der Demokratie niemand da, der bestimmen kann, was Kunst ist, sondern von ihrem eigenen Wesen her darf keiner da sein, der sich dessen von Staats wegen mit Geltung für alle unterfangen dürfte.“56 Es ist schon fraglich, ob sich die Argumentation Arndts überhaupt auf die hier diskutierte Frage der symbolischen Parlamentskunst beziehen lässt. Auch für Arndt steht fest, dass der öffentliche Bauauftrag einschließlich seiner künstlerischen Aspekte eine politische Entscheidung ist, die nach sachkundiger Beratung der demokratisch legitimierte Politiker treffen muss.57 Nach der Auffassung Arndts entscheidet der Staat über das eigene Werk ist hingegen nicht Teil des Urheberpersönlichkeitsrechts und insofern urheberrechtlich nicht geschützt. 53 Vgl. Peter Conradi, BT-StenBer. 12 / 211, S. 18275. 54 Vgl. Gert Weisskirchen, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9037; Albert Schmidt, ebd., S. 9049. 55 Vgl. Peter Conradi, Abstimmen über Kunst? Unsinn einer Parlamentsdebatte, in: FAZ v. 16. 3. 2000; Staeck (Fn. 51); Niklas Maak, Eine Frage der Erde. Neues vom Haacke-Streit: Darf das Parlament über Kunst richten?, in: FAZ v. 22. 3. 2000: „Der Bundestag hat den Kunstbeirat berufen, weil es die Abgeordneten überforderte, über Kunst mehr als Geschmacksurteile abzugeben.“; ders. (Fn. 25); Siedler (Fn. 44): „Abgeordnete, die alle möglichen Verdienste haben, die aber alle außerhalb des Feldes der Kunst liegen, sollen also wieder einmal sagen, was sie von einem Kunstwerk halten, das so kompliziert gedacht ist, daß es sich dem allgemeinen Verständnis offensichtlich entzieht.“ 56 Arndt (Fn. 2), S. 230. 57 Vgl. Arndt (Fn. 2), S. 234; ferner Haacke, Ganz oben (Fn. 38), S. 198 (201), zu einem komplexen Verständnis des spannungsreichen Verhältnis-
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also zwar nicht darüber was Kunst ist, sehr wohl aber wie Kunst ist, wenn sie der demokratischen Selbstdarstellung dienen soll. Ganz in diesem Sinn wurde in der parlamentarischen Debatte weder die Qualität der Reichstagsverhüllung noch die Qualität der Installation Hans Haackes als Kunstwerk in Frage gestellt,58 sehr wohl aber deren künstlerische Bedeutung für die symbolische Selbstdarstellung des Bundestages gewürdigt.59 Dies entspricht auch zu Recht der Staatspraxis, wenn man das hier entwickelte doppelte Repräsentationsverständnis zu Grunde legt: Der Kunstbeirat, der allein aus Mitgliedern des Deutschen Bundestags besteht,60 entscheidet über den Ankauf und die Auftragvergabe von Kunstwerken61 gegebenenfalls, wie im Fall „Der Bevölkerung“, nach kontroverser Diskussion durch streitige Mehrheitsentscheidung.62 Aber ses von Politik und Kunst in Adolf Arndts Vortrag Demokratie als Bauherr. 58 Vgl. darüber hinaus zur gerichtlichen Einordnung der Reichstagsverhüllung als Kunstwerk VG Berlin, NJW 1995, S. 2650 (2651 f.); Sendler (Fn. 7), S. 2602 f.; Michael Uechtritz, Nachbarschutz durch Kunstfreiheit, in: NJW 1995, S. 2606 ff.; freilich krit. Johannes Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik. Notizen aus dem inneren und äußeren Leben 1995 – 1999, Berlin 1999, S. 35; allgemein zu Baukunst als Grundrechtsausübung Andreas Voßkuhle, Bauordnungsrechtliches Verunstaltungsgebot und Bau-Kunst – Zugleich ein Beitrag zur Grundrechtskonkurrenz und zu verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken, in: BayVBl. 1995, S. 613 (614 ff.). 59 Vgl. Konrad Weiß, BT-StenBer. 12 / 211, S. 18281: „[ . . . ] über ein Kunstwerk streiten und darüber nachdenken.“ (Klammerzusatz durch den Verfasser); zögernd Gregor Gysi, BT-StenBer. 14 / 48, S. 4093. 60 Vgl. Andreas Kaernbach, Stationen der Entscheidung – das Kunstprojekt „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke und der Kunstbeirat, in: Diers / König (Fn. 38), S. 15 ff.; aus verfassungsrechtlicher Perspektive Murswiek (Fn. 1), S. 241 ff. 61 Vgl. zur Legitimation des Bundestages als Auftraggeber über ein Kunstwerk zu entscheiden Norbert Lammert, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9034; Wolfgang Thierse, ebd., S. 9048; Haacke, Ganz oben (Fn. 38), S. 198 (201): „Im vorliegenden Fall hatte der Bundestag als Auftraggeber – absolut legitim – das Recht, einen künstlerischen Entwurf für das Reichstagsgebäude anzunehmen oder seine Realisierung abzulehnen.“ 62 Vgl. Wolfgang Thierse, Gedanken zum Projekt „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke, in: Diers / König (Fn. 38), S. 19 f.; Kaernbach (Fn. 60), S. 16 f.
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auch das Plenum ist legitimiert, über ein Kunstwerk zu diskutieren und abzustimmen, da es bei dieser Debatte und Entscheidung um seine symbolische Selbstdarstellung geht.63 In einer parlamentarischen Demokratie ist allein das Parlament kompetent, über die eigene Selbstdarstellung zu entscheiden.64 Gerade dies entspricht auch der „Würde des Bundestages“ (§ 7 Abs. 1 Satz 2 GOBT).65 Doch die Suggestivkraft des Arndtschen Arguments und die Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, der staatliches Kunstrichtertum grundsätzlich ausschließt,66 sind groß: So behaupteten Redner in den Bundestagstagsdebatten über die Verhüllung des Reichstagsgebäudes67 und über Hans Haackes Widmung,68 nicht über Kunst, sondern „nur“ über die Freigabe des Parlaments zu entscheiden, um sich jedoch in ihren Debattenbeiträgen sehr wohl ästhetisch zu äußern. Aber diese Differenzierung zwischen Kunst und Politik trägt bei 63 Vgl. Lammert (Fn. 61), S. 9034; Thierse (Fn. 61), S. 9047; Antje Vollmer, „Wir sind doch nicht nur zum Abnicken da“, in: Potsdamer Neueste Nachrichten v. 4. 4. 2000; Bölling (Fn. 44). 64 Vgl. zur Legitimation der Bundestagsabgeordneten als Mitwirkende an dem Kunstwerk darüber zu diskutieren und zu entscheiden Lammert (Fn. 61), S. 9034; ders., Ein Anwendungsfall für die Freiheit. Hans Haackes Inszenierung ist ästhetisch wie politisch misslungen, in: FAZ v. 22. 3. 2000; Antje Vollmer, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9039; Hanna Wolf, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9041; Thierse (Fn. 61), S. 9047 f.; Blank (Fn. 46), S. 207; Eckhard Fuhr, Mutter Erde soll es richten, in: FAZ v. 8. 4. 2000. 65 Vgl. zur Übertragung auf das Reichstagsgebäude BT-Drs. 12 / 6767, S. 3: „Das Reichstagsgebäude ist ein würdevolles Symbol der deutschen Geschichte und verdient großen Respekt.“; ferner zur „Würde des Hauses“ als parlamentarischem Argument Volker Kauder, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9047; Conradi (Fn. 53), S. 18277; Hirsch (Fn. 31), S. 18278; Weiß (Fn. 59), S. 18281; Schäuble (Fn. 31), S. 18285; Lammert (Fn. 61), S. 9036; vgl. auch Sendler (Fn. 7), S. 2602. 66 Vgl. BVerfGE 30, 173 (190 f.); 75, 369 (377); 81, 278 (291); VG Berlin, NJW 1995, S. 2650 (2652); Rupert Scholz, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz, 52. Lfg. 2008, Art. 5 Abs. 3, Rn. 38 f. 67 Vgl. zu diesem Argument im Rahmen der Reichstagsverhüllung Conradi (Fn. 53), S. 18276; Hirsch (Fn. 31), S. 18278; Scharrenbroich (Fn. 31), S. 18278; Schäuble (Fn. 31), S. 18283. 68 Kauder (Fn. 65), S. 9046.
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der Diskussion und Entscheidung über künstlerische symbolische Repräsentation nicht. Allein Wolfgang Thierse hat dies mit bewundernswürdiger Klarheit in seinem Redebeitrag zur Bundestagsdebatte über Hans Haackes Kunstwerk ausgesprochen: Die politische und die ästhetische Bewertung sind im Fall der symbolischen Repräsentation des Bundestags in einem Kunstwerk untrennbar miteinander verbunden.69 „Die künstlerische Ausgestaltung des Raumes,“ so Ernst Wolfgang Böckenförde, „in dem das vom Volk gewählte Parlament arbeitet und tagt, kann niemals unpolitische reine Kunst sein, sie ist immer zugleich auch eine Selbstdarstellung der Volksvertretung, die aus sich heraus einen politischen Bezug hat.“70 Doch nicht nur für den Künstler, sondern auch für das Parlament birgt die künstlerische symbolische Repräsentation Zumutungen. Der Bundestag lässt sich mit seiner Entscheidung für ein Kunstwerk auf ein risikoreiches Experiment ein, das er im Hinblick auf seine parlamentarische Selbstdarstellung nicht vollkommen beherrschen kann: Ein Kunstwerk ist immer auch einer Vielzahl von Deutungen zugänglich. Auf diese künstlerische Ambivalenz kann sich der Bundestag als Parlament einer pluralistischen Gesellschaft aber auch souverän einlassen, wenn wie im Fall der historischen Widmung am Westportal eine Bedingung erfüllt ist: Die Interpretation des Kunstwerks muss offen und eine dieser Deutungen mit dem demokratischen Repräsentationsprinzip des Grundgesetzes vereinbar sein.71 69 Vgl. Thierse (Fn. 61), S. 9048; ders., Gedanken (Fn. 62), S. 19; Kaernbach (Fn. 60), S. 18; in diese Richtung wohl auch Haacke, Ganz oben (Fn. 38), S. 198 (201). 70 Böckenförde (Fn. 40). 71 Die Verhüllung des Reichstags lehnte Wolfgang Schäuble (Fn. 31), S. 18285, unter anderem im Hinblick auf die Gefahr ab, „die Würde des Parlaments durch das künstlerische Experiment zu entwürdigen.“ Doch der Verweis auf den experimentellen Charakter der Kunst kann für sich nicht die Ablehnung des Parlamentskunstwerks tragen: Aufgrund der offenen Interpretation eines Kunstwerks ist Parlamentskunst notwendigerweise ein Experiment. Dieser experimentelle Charakter widerspricht jedoch nicht demokratischer Repräsentation, da die Demokratie selbst
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Hier liegt der eigentliche Kern des Streits um das Kunstwerk im Nordhof des Reichstagsgebäudes: Dieses Kunstwerk soll nach den Überlegungen Hans Haackes aussagen, dass sich die Bundestagsabgeordneten für ihre Entscheidungen nicht gegenüber einem mythischen Volke, sondern gegenüber DER BEVÖLKERUNG zu verantworten72 haben. Dieser Satz ist mit dem demokratischen Repräsentationsprinzip des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren:73 Die Abgeordneten repräsentieren nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Volk nicht als eine mythische Vorstellung, sondern als eine politische Einheit,74 die durch das Bürgerrecht konstituiert wird, also die gegenseitige Anerkennung aller Bürger als frei und gleich.75 Dabei sind die Abgeordneten allein ihrem Gewissen unterworfen. In Ausübung dieses freien Mandats treffen sie im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes ihre Entscheidungen, wobei sie für ihren Entscheidungsgegenstand verantwortlich sind, einerlei ob dieser Bürger und / oder Nichtbürger betrifft. Vor dem Hintergrund dieses verfassungsrechtlichen Verständnisses demokratischer Repräsentation musste der Bundestag die Erläuterung Hans Haackes als das zurückweisen, was sie war: als Versuch, seitens des Künstlers einseitig die symbolische Repräsentation des Parlaments mit Folgen für die demokratische Repräsentation zu determinieren.76 Doch die Auseinandersetzung zwischen Kunst und Parlament um Pareine offene, experimentelle Verfassungsform ist – vgl. Möllers (Fn. 17), S. 28 f. 72 Vgl. Fn. 50. 73 Vgl. Murswiek (Fn. 1), S. 223, 227, 240. 74 Vgl. Böckenförde (Fn. 40); Johannes Willms, Wir sind die Bevölkerung. Ein Holztrog mit Erde samt Inschrift: Hans Haackes Installation für den Reichstag provoziert – die schweigende Mehrheit reagiert, in: SZ v. 17. 2. 2000; ferner ders., Das Deutsche Volk. Verblasste Mythen, in: SZ v. 24. 3. 2000. 75 Vgl. Möllers (Fn. 17), S. 13 ff. 76 Es ist umstritten, ob die künstlerische Widmung Hans Haackes eine Umwidmung des Reichstagsgebäudes darstellt; eine Umwidmung bejahen: Karl Feldmeyer, Dem Deutschen Volke, in: FAZ v. 12. 2. 2000; Siedler (Fn. 44); Walter Grasskamp, Der Staat bin nicht nur ich. Der Fall Haacke:
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lamentskunst gelingt nur, wenn gerade keine der beiden Seiten die andere überdeterminiert, wenn es also keine „Deutungsmonopole“77 gibt.78 Dementsprechend hat denn auch der Kunstbeirat diese Erläuterung Hans Haackes ausdrücklich in der Sache zurückgewiesen.79 Dies geschah dann noch einmal ausdrücklich in der parlamentarischen Debatte am 5. 4. 2000,80 nach der von 549 anwesenden Mitgliedern des Bundestages 260 für das Projekt und 258 gegen das Projekt stimmten, während sich 31 Abgeordnete ihrer Stimme enthielten.81 Der Bundestag hat in dieser Debatte und in dieser Abstimmung keine verbindliche, eigene Interpretation an die Stelle der Deutungsusurpation Hans Haackes gesetzt.82 Er musste Ein Bundestagsabgeordneter entscheidet sich, in: SZ v. 5. 4. 2000; Otto (Fn. 44), S. 9043; eine Umwidmung verneinen: Michael Diers, Politisches Rasenstück. Ein Plädoyer für Hans Haackes Wildkräutergarten, FAZ v. 9. 3. 2000; Staeck (Fn. 51); zu den vielfältigen Deutungsmöglichkeiten auch Josef Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006, S. 41 f. 77 Antje Vollmer, BT-StenBer. 14 / 48, S. 4091. 78 Diese Frage nach einem Deutungsmonopol weist letztlich auf die – hier nicht abschließend zu beantwortende – Frage nach der Definition von Kunst zurück. Ein Deutungsmonopol des Künstlers ließe sich – in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts – nur mit einem materiellen Kunstbegriff konstruieren, bei dem das wesensbestimmende Merkmal in den Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen des Künstlers liegt, die durch das Medium zum Ausdruck kommen (BVerfGE 30, 173 [188 f.]). Nach dem offenen Kunstbegriff, der als wesensbestimmendes Merkmal die Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts und die unerschöpfliche Informationsvermittlung durch Möglichkeit der fortgesetzten Interpretation definiert (BVerfGE 67, 213 [227]), ist hingegen jegliche Deutungshoheit über ein Kunstwerk von vornherein ausgeschlossen – vgl. zur Befreiung von Konsens als Wesensmerkmal von Kunst auch Sophie-Charlotte Lenski, Personenbezogene Massenkommunikation als verfassungsrechtliches Problem, Berlin 2007, S. 92 f. 79 Vgl. Deutscher Bundestag, Pressemitteilung. Kunstbeirat: Entscheidung über das Kunstprojekt von Hans Haacke für den nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes, in: Diers / König (Fn. 38), S. 97: „Der Kunstbeirat hat ausdrücklich betont, daß textliche Erläuterungen des Künstlers nicht als Teil des Kunstwerkes, also auch nicht als Teil der Beauftragung anzusehen sind.“; vgl. Blank (Fn. 46), S. 206; Kaernbach (Fn. 46), S. 17. 80 Vgl. Ulrich Heinrich, BT-StenBer. 14 / 97, S. 9040. 81 Vgl. BT-StenBer. 14 / 97, S. 9049 ff.; Kaernbach (Fn. 46), S. 17 f.
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und er konnte dies auch nicht, wenn er nicht wiederum selbst die Kunstfreiheit überdeterminieren und das fragile Verständnis künstlerisch symbolischer Repräsentation zerstören wollte. Es genügte, dass der Bundestag die Deutungsoffenheit des Kunstwerks „Der Bevölkerung“ hergestellt hat, die in den sehr unterschiedlichen Interpretationen der parlamentarischen Debattenredner zum Ausdruck gekommen ist. Damit hat er sich ganz bewusst über die exklusive Interpretation hinweggesetzt, die der Künstler seinem Kunstwerk zunächst gegeben hatte.83 Denn der Deutsche Bundestag ist in seinem symbolischen Selbstverständnis so wenig an die künstlerische Selbstinterpretation Hans Haackes wie an den historischen Widmungswillen Wilhelms II. gebunden.84 Dies gilt jedenfalls so lange und so weit sich für das Kunstwerk „Der Bevölkerung“ zumindest eine Interpretation findet, die dem demokratischen Repräsentationsprinzip des Grundgesetzes nicht widerspricht. Dies ist jedoch der Fall: Vgl. krit. Murswiek (Fn. 1), S. 245. In Hans Haackes Selbstinterpretationen der Widmung lässt sich eine abschwächende Wandlung feststellen: „Meine Brecht zitierende Widmung ,Der Bevölkerung‘ – zusätzlich zu der aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Giebelinschrift ,Dem Deutschen Volke‘ – würde klarstellen, daß der Bundestag das deutsche Volk auf keinen Fall im Sinne einer ,völkischen‘ Interpretation verstanden wissen will.“ – Hans Haacke, Ein glühender Verfassungspatriot, in: FAZ v. 16. 2. 2000; „Wallots Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE gehört zum Reichstagsgebäude genauso wie die Graffiti der sowjetischen Truppen. Wir sollten uns aber mit der fatalen historischen Aura, die der ursprünglich emanzipatorisch gemeinten Widmung inzwischen anhaftet, ohne Scheu auseinandersetzen und klarstellen, wie wir sie heute auf keinen Fall verstanden wissen wollen. Und vorwärts gewandt wäre es wohl gut, den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten in Deutschland Ausdruck zu verleihen. Beides versuche ich mit meiner von Brecht inspirierten Widmung DER BEVÖLKERUNG.“ – ders. (Fn. 44), S. 96; „Mein Entwurf sieht vor, der Inschrift ,Dem Deutschen Volke‘ über dem Portal des Reichstagsgebäudes im Lichthof die Widmung ,Der Bevölkerung‘ zur Seite zu stellen.“ – ders., Erde zu Erde, in: SZ v. 3. 4. 2000. 84 Vgl. a.A. Murswiek (Fn. 1), S. 215 f., 225 ff., vor dem Hintergrund der Einordnung der Installation Hans Haackes als „Konzeptkunst“; Kauder (Fn. 65), S. 9047; Karl Feldmeyer, Kunststück. Der Bundestag und das Volk, in: FAZ v. 6. 11. 1999. 82 83
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Die symbolische Entgegensetzung der beiden Widmungen – „Dem Deutschen Volke“ und „Der Bevölkerung“ – artikuliert künstlerisch wie symbolisch ein demokratisches Dauerthema: das Verhältnis von Bürgern und Nichtbürgern in der Demokratie.85 Und die drängende Realität dieses politischen Dauerthemas unvollendeter politischer Integration stellt sich heute keinen Kilometer nördlich des Reichstagsgebäudes im Wedding und in Moabit.
85 Vgl. zu einem Ergänzungs- und Dialogverhältnis der historischen und der künstlerischen Widmung Süssmuth (Fn. 46), S. 9045; dies., Kunst (Fn. 41), S. 66 (67 ff.); krit. Karl Heinz Bohrer, PS: „Der Bevölkerung“, in: Merkur, Nr. 614 (2000).
Die Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip in der Ordnung des Grundgesetzes Von Hartmut Schiedermair, Köln In seiner Entscheidung zum lebenslänglichen Vollzug der Freiheitsstrafe stellt das Bundesverfassungsgericht1 fest, dass die Menschenwürde „zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes“ gehöre und gleichzeitig „den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung“ darstelle. „Der Staatsgewalt ist“ daher, so fährt das Bundesverfassungsgericht fort, „in all ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen“. Aus dieser weit gefassten, allerdings sprachlich nicht ganz exakten Formulierung ergibt sich bei genauem Hinsehen der zwingende Schluss, dass die Menschenwürde nicht nur der höchste Rechtswert und nicht nur eines von mehreren, sondern schlicht das höchste oder oberste Konstitutionsprinzip ist. Angesichts dieser Vorgabe aber lässt sich die Bedeutung der nach Maßgabe des Art. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde in drei durchaus unterschiedlichen Perspektiven erschließen. So besitzt die Menschenwürde zunächst ungeachtet des äußeren Scheins, den die Distanzklausel des Art. 1 Abs. 3 GG mit der Wendung von den „nachfolgenden Grundrechten“ erwecken kann2, nach der allerdings nicht 1 BVerfGE 45, 187 (227) mit weiteren Nachweisen aus der eigenen Rechtsprechung sowie zuletzt BVerfGE 109, 133 (149) – Sicherungsverwahrung; 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz; 117, 71 (89) – Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe.
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unbestrittenen Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur3 eine eigene Grundrechtssubstanz. Sie ist also ein eigenständiges Grundrecht und als solches wie jedes andere Grundrecht mit einem Eingriffsverbot sowie mit einer Schutzpflicht bewehrt, jedoch genießt sie wegen ihrer prinzipiellen Unantastbarkeit den Vorrang vor allen anderen Grundrechten. Dieser Vorrang wirkt, wenn auch in abgemilderter Form, selbst in dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht fort, das von der Rechtsprechung aus den Grundgedanken der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG abgeleitet worden und nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts4 inzwischen längst auch „zum festen Bestandteil unserer Privatrechtsordnung geworden ist“. Den Vorrang gegenüber den anderen Grundrechten genießt die Menschenwürde – und dies ist der zweite Aspekt – auch in ihrer Eigenschaft als höchster Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung. Kommt es also wie so häufig im konkreten Streitfall zwischen zwei Grundrechtsträgern zu einer Grundrechtskollision, sind die Gerichte zu einer Güteroder, um es genauer zu sagen, zu einer Werteabwägung gezwungen, die im Fall der Menschenwürde stets zu deren Gunsten auszufallen hat. Diese Werteabwägung aber hat sich in dem Aufsehen erregenden und höchst umstrittenen Fall des Frankfurter Polizeipräsidenten und seiner Folterandrohung als äußerst schwierig erwiesen, weil es sich in diesem besonderen Fall um eine Grundrechtskollision innerhalb des von Art. 1 Abs. 1 GG beschriebenen Schutzbereichs gehandelt hat. Wem aber soll man hier den Vorzug geben, dem zugunsten des Straftäters gewährleisteten Eingriffsverbot oder aber der von Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG in gleicher Weise gewährleisteten Schutzpflicht zugunsten des Opfers, das sich in einer men2 Vgl. dazu statt aller P. Kunig, in: von Münch / Kunig, GrundgesetzKommentar, 5. Aufl., München 2000, Art. 1, Rdnr. 3 und 49. 3 Zum gegenwärtigen Stand der Disskussion vgl. statt aller C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, München 1999, Art. 1 Abs. 1, Rdnr. 24 ff. 4 So schon BVerfGE 34, 269 (281) – Soraya.
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schenunwürdigen Lage befindet? Beide in dieser Frage vertretenen Positionen können gewichtige Argumente für sich in Anspruch nehmen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass diejenigen, die sich aus prinzipiellen Erwägungen gegen jede, auch nur die geringste Abschwächung des Folterverbots wenden und daher hier dem Eingriffsverbot den Vorrang einräumen5, dem Einwand ausgesetzt sind, gegen die zwingenden Gebote der Gerechtigkeit im konkreten Fall dem Täterschutz den Vorzug vor dem Opferschutz – und dies mit keinem geringeren Argument als dem Hinweis auf die Menschenwürde – gegeben zu haben6. Was aber bedeutet nun die Menschenwürde, wenn man sie unter dem dritten Aspekt betrachtet und in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht nicht nur als Grundrecht und höchsten Rechtswert, sondern darüber hinaus auch als das oberste Konstitutionsprinzip der verfassungsmäßigen Ordnung bezeichnet? Bemerkenswerter- und überdies auch verständlicherweise ist im Umgang mit der von Art. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde, wie allein schon der heikle Fall des Frankfurter Polizeipräsidenten belegt, selbst unter den Verfassungsjuristen in der Rechtsprechung und Literatur eine beachtliche Unsicherheit zu beobachten. Schon früh hatte Günter Dürig7 die inzwischen immer wieder zitierte Warnung ausgesprochen, die Menschenwürde nicht zur „kleinen Münze“ werden zu lassen. Diese Warnung ist vor allem von den Juristen offenkundig ernst genommen worden. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass es selbst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine durchaus beachtliche Tendenz gibt, den Schutzbereich des Art. 1 GG erheblich zu erweitern. 5 So offenkundig LG Frankfurt a. M., Urteil vom 20. 12. 2004, NJW 2005, S. 692 ff., 694. 6 So mit Recht H. Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, S. 953 ff. sowie W. Brugger, Das andere Auge, Folter als zweitschlechteste Lösung, FAZ v. 10. 3. 2003, S. 8. 7 Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR, Bd. 81, 1956, S. 124.
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Dies gilt vor allem für den verfassungsrechtlichen Schutz des menschlichen Lebens. Immerhin lässt sich gegen die herkömmliche Interpretation der Menschenwürde durchaus einwenden, dass doch in einer diesseitig aufgeklärten Welt das menschliche Leben das „Maß aller Dinge“ sei, dem als dem höchsten Gut, über das der Mensch verfüge, auch ein dementsprechender verfassungsrechtlicher Höchstrang zugebilligt werden müsse8. In seiner ersten Entscheidung zur Fristenlösung9 stellt das Bundesverfassungsgericht demgegenüber zutreffend fest, dass das menschliche Leben „als vitale Basis der Menschenwürde“ zu den Höchstwerten innerhalb der „Wertordnung des Grundgesetzes“ gehöre und daher ein besonders hohes Schutzgut sei. Damit ist dann eine doch deutliche Distanz geschaffen, die der Menschenwürde ihren höchsten Rang innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung nicht streitig macht. In der in neuerer Zeit ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz10, in der es in erster Linie um den verfassungsrechtlichen Schutz des menschlichen Lebens gemäß Art. 2 Abs. 2 GG ging, wird diese Distanz erheblich verringert, indem das Gericht mit Hilfe der bereits im Lüth-Urteil11 und später in ständiger Rechtsprechung entwickelten, so genannten Wechselwirkungslehre den verfassungsrechtlichen Lebensschutz mit der Garantie der Menschenwürde, wie es in der Entscheidung12 heißt, „eng verknüpft“ oder, wie man salopp auch formulieren kann, „auflädt“. Auf diese Weise aber wird der Eindruck erweckt, dass auch das menschliche Leben als „vitale Basis der 8 So etwa M. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dargestellt am Beispiel der Menschenwürde, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. II, S. 405 (412), für den das „menschliche Leben“ das höchstrangige Verfassungsgut und demgemäß der Menschenwürde übergeordnet ist. 9 BVerfGE 39, 1 (42). 10 Vgl. auch zu Folgendem BVerfGE 115, 118 (152 ff.). 11 BVerfGE 7, 198 (207 ff.). 12 BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz.
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Menschenwürde“13 von dieser Garantie mit umfasst wird und mithin auch an ihrer Besonderheit der absoluten Unantastbarkeit teilhat. Nicht von ungefähr bemüht das Bundesverfassungsgericht denn auch in diesem Zusammenhang das ganze Arsenal von Argumenten, von der es regelmäßig Gebrauch macht, wenn es um Verstöße gegen die Garantie der Menschenwürde geht. Es ist nicht zu leugnen, dass dieser Argumentation und vor allem dem Hinweis auf das Leben als vitale Basis der Menschenwürde eine verführerische Überzeugungskraft eigen ist. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass sich das Bundesverfassungsgericht hier zumindest in die Nähe des Widerspruchs zum Wortlaut des Grundgesetzes und seiner Regelung des Lebensschutzes begibt. Im Gegensatz zur Menschenwürde ist das menschliche Leben als verfassungsrechtliches Schutzgut nach der insoweit eindeutigen Regelung des Grundgesetzes eben nicht unantastbar. Dies belegen nicht nur der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 GG und nicht nur die Inanspruchnahme von Wehrpflichtigen gemäß Art. 12a Abs. 1 GG, sondern auch etwa die Zulässigkeit der Tötung in den Fällen der Notwehr und Nothilfe oder aber der finale Rettungsschuss, wie er im Fall der Geiselnahme zum Schutz der Menschenwürde des Opfers unvermeidlich sein kann. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass diese Problematik auch vom Bundesverfassungsgericht durchaus gesehen worden ist. Immerhin weist das Gericht in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz14 ausdrücklich darauf hin, dass Verstöße gegen die Garantie der Menschenwürde stets nur „im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation . . . , in der es zum Konfliktfall kommen kann“ festgestellt werden können. Ob das Bundesverfassungsgericht bei dieser salvatorischen Klausel etwa an die Situation der Verteidigung im Sinne des Art. 87a GG gedacht hat? Auf jeden Fall ist zu empfehlen, der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz keine falsche präjudizielle Wirkung beizumessen, 13 14
BVerfGE ibid. A. a. O., S. 153.
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zumal in diesem Zusammenhang zu bedenken ist, dass es der Einsatz polizeilicher Mittel gewesen ist, der das Bundesverfassungsgericht dazu bewogen hat, Teile des Luftsicherheitsgesetzes für verfassungswidrig zu erklären. Ein weiterer, noch schwerer wiegender Grund für die Unsicherheit selbst des Verfassungsjuristen im Umgang mit der Garantie der Menschenwürde ist der Formalismus, der dieser Garantie nach ihrem Wortlaut nun einmal eigen ist. Immerhin hat der Verfassungsgeber doch ganz bewusst darauf verzichtet, die Menschenwürde, abgesehen von ihrer Unantastbarkeit, mit einer zusätzlichen, wie auch immer gestalteten Inhaltsbestimmung auszustatten. Für diesen Verzicht gibt es durchaus gute Gründe, weil mit ihm die Festlegung der Menschenwürde und ihrer verfassungsrechtlichen Garantie auf ein konkretes, inhaltlich bestimmtes Menschenbild ausgeschlossen werden soll und wird. Es macht ja gerade das Wesen dieser Garantie aus, dass es der Mensch als Individuum selbst ist, dem es überlassen bleiben muss, die für ihn wie für jeden unausweichliche Frage „was ist der Mensch?“ einschließlich seiner eigenen Person spätestens im konkreten Handeln zu entscheiden. Deswegen wird hier auch zutreffend von einem an alle Staatsgewalt gerichteten Definitionsverbot gesprochen. Auf der anderen Seite aber droht der Jurist, wenn es um die Garantie der Menschenwürde geht, in eine unauflösliche Aporie zu geraten. Die für ihn selbstverständliche Methode, einen konkreten, empirischen Lebenssachverhalt unter eine rechtliche Regel zu subsumieren, scheint im Fall der Menschenwürdegarantie vollständig zu versagen, wenn und solange ihm jeglicher Zugang zum Inhalt oder Gegenstand dieser Garantie verschlossen bleibt. Philosophisch gesehen geht es hier also um das sattsam bekannte Problem, wie es gelingen kann, die im Lebenssachverhalt empirisch erschlossene Welt mit der intelligiblen Welt des Rechts und seinen Regeln der praktischen Vernunft vor allem dann, wenn sie formaler Art sind, zur Deckung oder aber zumindest miteinander in Einklang zu bringen. Ein markantes Beispiel für diese Problematik ist der, wenn auch nur unvollkommen gelungene, Versuch in Kants
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Moralphilosophie, mit Hilfe der regulativen Prinzipien die moralische Welt in der natürlichen Welt, also den mundus intelligibilis und den mundus sensibilis miteinander zu versöhnen.15 Wenig befriedigt in diesem Zusammenhang der Versuch, die hier anstehende Problematik mit dem kaum überzeugenden und überdies auch juristisch höchst anfechtbaren Argument aus dem Weg zu gehen, dass es bei der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde insgesamt um reine Glaubenssätze gehe, die als solche jeder Rationalität entzogen und daher auch juristisch ohne jeden Gehalt seien.16 In der juristischen Literatur hat man es sich ebenso wie in der Rechtsprechung allein schon aus Respekt vor dem geltenden Recht demgegenüber nicht so leicht gemacht. Zahlreich sind denn auch die Versuche, den der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes eigenen Formalismus zu überwinden und diese Garantie damit auch für die Rechtsanwendung fruchtbar zu machen. Diese Versuche sind so alt wie oder, genauer gesagt, noch älter als das Grundgesetz selbst. Bereits im Parlamentarischen Rat hat das zähe Ringen um eine angemessene Formulierung des Art. 1 GG eine Fülle von Argumenten zutage gefördert, die weit über jede juristische Hermeneutik hinaus in die Bereiche der Ethik, der Anthropologie, der Metaphysik und auch der Theologie gehören.17 Daran hat sich in der Folgezeit, als es um die Umsetzung der Menschenwürdegarantie in der Rechtsanwendung ging, nichts geändert.18 Hier ist es 15 Vgl. hierzu H. Schiedermair, Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Wiesbaden 1970, S. 242 f., 245 ff. 16 Dazu vgl. M. Herdegen, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz Kommentar, München 2009, der sich im Zusammenhang mit der Garantie der Menschenwürde unter Bezugnahme auf E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., München 1976, S. 206 f. und K. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 281, gegen jede „Wertordnungs-,Dogmatik‘“ wendet. 17 Dazu vgl. W. Matz, in: von Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 1, Tübingen 1951, S. 48 ff.
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dann die in der Formulierung von Dürig19, der Sache nach aber auf Kant20 zurückgeführte Objektformel, die in der Literatur ebenso wie in der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts21 inzwischen durchaus gängig geworden ist. Spätestens mit dem Hinweis auf Kant aber fällt das Stichwort der Philosophie, und genau an dieser Stelle begegnen wir jener juristischen Skepsis, die aus Furcht vor einer naturrechtlichen oder ideologischen Verfremdung der Menschenwürdegarantie dieser jede Rationalität absprechen will. Dies gilt vor allem für den in diesem Zusammenhang bereits im Parlamentarischen Rat22 umstrittenen Begriff des Naturrechts, der wegen seiner Ambivalenz in der Tat kein glückliches Schicksal hat. Als historisches, im usus modernus auftretendes Phänomen bedeutet er etwas ganz anderes als das so genannte klassische Naturrecht der platonisch-aristotelischen Tradition. Aber auch hier gibt es bis in die neueste Zeit erhebliche Missdeutungen, die ihre Ursache vor allem in dem mehrdeutigen, kaum definierbaren Begriff der Natur haben.23 Dabei wird jedoch übersehen, dass das so genannte klassische Naturrecht stets in der ratio recta aufgehoben, also nichts anderes als Vernunftrecht gewesen ist. Als Vernunftrecht aber wendet sich das Naturrecht gegen jede rein phänomenalistische oder naturalistische Deutung des Rechts, und dies gilt überdies für die gesamte, insoweit in der Nachfolge der platonisch-aristotelischen Tradition befangene idealistische Philosophie, zu der, 18 Dazu vgl. P. Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 339 ff., mit einer instruktiven Übersicht über den damaligen Diskussionsstand. 19 A. a. O. (oben, Fn. 7), S. 127. 20 Die Metaphysik der Sitten, Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Darmstadt 1983, Bd. VII, S. 453. 21 So zuletzt BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz sowie 117, 71 (89) – Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe. 22 Vgl. dazu oben Fn. 17. 23 Zu den Opfern einer solchen Missdeutung gehört auch H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962. Kritisch dazu H. Schiedermair (Fn. 15), S. 339 ff.
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was lange genug übersehen oder sogar geleugnet worden ist24, nicht zuletzt auch Kant gehört. Mit Recht hat daher bereits Leibniz in seiner Auseinandersetzung mit Hobbes darauf hingewiesen, dass es bei dem Naturrecht nicht auf das Wort Natur, sondern statt dessen vielmehr auf das Wort Recht ankomme.25 Was die gesamte idealistische Philosophie in all der Vielfalt ihrer Varianten im Ergebnis vereint, ist eine Erkenntnis, die uns unmittelbar an ihren Ursprung zurückführt. Bereits im ersten Buch von Platons Staat, dem so genannten Trasymachos-Dialog26, begegnen wir einem Sokrates, der vom Recht nur soviel weiß, dass es nicht Macht ist. „Nicht alles Recht ist Macht“ lautet also der karge, bescheiden anmutende Satz, aus dem sich jedoch überraschenderweise vielfältige konkrete Einsichten ableiten lassen, die im Ergebnis weit bis hin zu den Menschenrechten sowie zu der Garantie der Menschenwürde reichen, und hier wird sich denn auch diese Garantie für die praktische Rechtsanwendung als äußerst ergiebig erweisen. Von Aristoteles27 stammt der berüchtigte Satz, dass es Menschen gebe, die von Natur aus Sklaven seien. Dieser Satz aber verliert seine offenkundige Anstößigkeit, wenn man ihn etwa mit Leibniz28 und seiner Rede von den „natuerlichen Knechtschafften“ im Sinne eines empirischen, soziologischen Befundes, nämlich so interpretiert, dass mit jeder sozialen Kommunikation Bindungen entstehen, die sich zu einem Netzwerk von wechselseitigen Abhängigkeiten in der menschlichen Ge24 Dies gilt vor allem für die in den neukantianischen Schulen zu beobachtende Tendenz, Kants Philosophie im Sinne der formalen Logik umzudeuten. Eine solche Umdeutung aber lässt sich nicht mit der Tatsache vereinen, dass Kant der praktischen Vernunft ausdrücklich den Vorrang vor der spekulativen Vernunft eingeräumt hat. Vgl. dazu H. Schiedermair (Fn. 15), S. 246. 25 Vgl. dazu H. Schiedermair, a. a. O., S. 340 ff. 26 Rep. 354b. 27 Vgl. dazu Pol. H 2, 1324b 36 – 41. 28 Vgl. auch zu Folgendem H. Schiedermair (Fn. 15), S. 324 ff. mit eingehenden Quellennachweisen.
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sellschaft zusammenfügen. Wo es aber soziale Abhängigkeiten gibt, gibt es auch Herrschaft, und dies gilt nicht nur für den Staat, sondern für die gesamte menschliche Gesellschaft. Was aber ergibt sich, wenn man im Zusammenhang mit diesem unbestreitbaren empirischen Befund über die bloße Machtfrage hinaus die Rechtsfrage stellt? Hier bedarf es keiner großen Mühe, um zu erkennen, dass der Satz „nicht alles Recht ist Macht“ bezogen auf die sozialen Herrschaftsverhältnisse gleichbedeutend ist mit dem Verbot der totalen Herrschaft und ihres Machtanspruchs. Leibniz belegt dies in seinen Auseinandersetzungen mit Filmer, Hobbes und vor allem mit Pufendorf mit dem bemerkenswerten Argument, dass die sozialen Herrschaftsverhältnisse niemals zu einem „dominium“, sondern allenfalls zu einem „ususfructus“ des Herrschenden führen. Herrschaft des Menschen über den Menschen ist danach also niemals Eigentum, sondern eben nur ein Nießbrauch, der den Herrn dazu berechtigt, einen Gegenstand zu nutzen, allerdings unter Wahrung seiner Substanz. So ist das Recht des Herrn über den Knecht mithin grundsätzlich beschränkt. Man darf mit den Worten von Leibniz29 dieses Recht ausüben „salva re“, also „ohne die Sache selbst zu vernichten“. Mit diesen Überlegungen aber begibt sich Leibniz unmittelbar auch in das damalige Reichstaatsrecht. Konsequenterweise widerspricht er Pufendorf und dessen an Bodin angelehnter These, dass das von diesem als Souveränität bezeichnete „ius majestatis“ und mithin alle Staatsgewalt „dominium“ des Herrschers sei. Für ihn ist auch die staatliche Herrschaft eben stets nur ein „ususfructus“, also im Sinne des Verbots der totalen Herrschaft prinzipiell durch das Recht beschränkt. Deutlicher als Kant und sein im Zusammenhang mit der Menschenwürde regelmäßig bemühtes Zitat aus der Metaphysik der Sitten30 bringt Leibniz in seiner Auseinandersetzung 29 Fragment ohne Titel, Mitteilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, G. Mollat (Hrsg.), Leipzig 1893, S. 68; Übers. Buchenau / Cassirer, Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Hamburg 1966, Bd. II, S. 516.
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mit Pufendorf zum Ausdruck, dass der Mensch kraft seiner Individualität und Personalität über einen Raum verfügt, in dem er weder dem Staat, einer Partei oder der Gesellschaft, sondern stattdessen nur sich selbst gehört. In diesem herrschaftsfreien Raum aber dankt auch alle staatliche Macht mit ihrem Herrschaftsanspruch zugunsten der Idee des Rechts ab. Der Macht sind eben mit dem Verbot der totalen Herrschaft prinzipielle rechtliche und in diesem Sinne unantastbare Grenzen gesetzt. Damit aber lässt sich ohne Mühe eine ideengeschichtliche Brücke schlagen zwischen dem Verbot der totalen Herrschaft und der unantastbaren Menschenwürde des Grundgesetzes sowie den unveräußerlichen Menschenrechten, wie sie beide vor und unabhängig von aller Herrschaft auch des Staates gedacht werden müssen. So haben die Menschenrechte inzwischen auch ihren Einzug in die Staatengemeinschaft gehalten31, obwohl ihr auf den Menschen schlechthin bezogener und in dem Sinn universaler Geltungsanspruch dort nur allzu oft der defizienten Homogenität dieser weltweit organisierten Gemeinschaft zum Opfer gefallen ist und immer noch fällt. Es gibt nicht wenige, die deshalb das Wort von der universalen Geltung der internationalen Menschenrechte als grobe Selbsttäuschung bezeichnen.32 Was das Verbot der totalen Herrschaft für die Rechtsordnung und ihre Durchsetzung in der Gesellschaft konkret bedeutet, war den Schöpfern des Grundgesetzes aus der von unsäglichem Leid geprägten Erfahrung mit dem organisierten Landfriedensbruch geläufig, zu dem der nationalsozialistische Machtstaat degeneriert war. Überhaupt war das vergangene 20. Jahrhundert weit entfernt von den Zeiten, in denen etwa 30 31
s. oben, Fn. 20. Dies belegen allein die Menschenrechtspakte der Vereinten Natio-
nen. 32 Dies kann jedoch mit Sicherheit nicht für Europa und den dort beispielhaft gewährleisteten Menschenrechtsschutz gelten wie er durch den Europarat und durch die Europäische Union sowie nicht zuletzt aber auch durch die europäischen Staaten selbst angesichts ihrer kulturellen Homogenität gewährleistet ist.
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ein Leibniz trotz der bedrohlichen Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges feststellen konnte, dass die Zeit der Ungeheuer, wie sie auf den römischen Kaiserthronen saßen, längst der Geschichte angehöre.33 Dafür, dass diese Feststellung für das 20. Jahrhundert bedauerlicherweise nicht gelten kann, steht die desaströse Errungenschaft des allein schon durch die Namen Hitler, Stalin und Mao Tse Tung repräsentierten totalitären Bewegungsstaates. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass auch die Gegenwart mit dem Aufkommen einer neuen Ideologie einigen Anlass zur Sorge bereitet. Es ist dies aber die Ideologie der Protagonisten eines vermeintlich unaufhaltsamen Globalisierungsprozesses, die im sicheren Wissen um die Bewältigung von Zukunft in die virtuelle Welt der zur Wissensgesellschaft umdefinierten Informationsgesellschaft und damit zu einer neuen Form der Welteroberung aufgebrochen sind. In dieser Welt aber ist die Zukunft nur noch hochgerechnete Gegenwart und deshalb kein Rätsel mehr, sondern eine Frage, die sich mit ihrer ökonomischen und technischen Bewältigung von selbst erledigt, und hier gilt dann der alte Satz des Protagoras34, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Diesem allerdings durchaus mehrdeutigen Satz wird man nichts abgewinnen können, wenn er mit seiner skeptischen Interpretation im Sinne der totalen Machbarkeit verstanden und zur Rechtfertigung jener Technokratie benutzt wird, die selbst vor dem Menschen nicht halt macht. Wie berechtigt diese Sorge ist, belegen allein die Errungenschaften, die wir gegenwärtig vor allem der Wissenschaft verdanken.35 Niemand wird leugnen, dass etwa die Genforschung seit der weitgehenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms schon jetzt ErVgl. dazu H. Schiedermair (Fn. 15), S. 333. W. Kranz / H. Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Zürich / Berlin 1964, Bd. II, S. 263. 35 Vgl. auch zu Folgendem H. Schiedermair, Wissenschaft im Dienst der Menschenwürde, in: Glanzlichter der Wissenschaft, Ein Almanach, hrsg. vom Deutschen Hochschulverband, 2005, S. 96 ff. 33 34
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folge erzielt hat, die durchaus dazu angetan sind, der Medizin ganz neue Wege zur Heilung des Menschen von körperlichen und seelischen Leiden zu weisen. Auf der anderen Seite werden jedoch gerade mit den Erkenntnissen der Genetik Möglichkeiten eröffnet, in der Fremdsteuerung menschlicher Existenz eine Herrschaft des Menschen über den Menschen zu begründen, wie sie sich totaler nicht denken lässt. Dies belegt allein das immerhin in den Bereich des Möglichen gerückte Klonen von Menschen, in dem es nicht etwa nur um die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Opfers geht. Vielmehr wird mit dem manipulativen Eingriff in das genetische Programm des geklonten Menschen, ohne dass oder bevor er überhaupt ein Bewusstsein erlangt hat, Zugriff auf seine intellektuelle, moralische und geistige Verfassung und damit notwendigerweise auch Zugriff auf seine Individualität und Personalität, also auf das genommen, was den Kern der Menschenwürde ausmacht. Weit fortgeschritten in der praktischen Anwendung ist auch die mit den Mitteln der modernen Datenverarbeitung inzwischen erreichte Entwicklung und Perfektionierung technischer Überwachungssysteme. So ist es der Hirnforschung36 längst gelungen, in der Behandlung von gelähmten Schwerstkranken einen Mikrochip zu entwickeln, der, in die menschliche Hirnrinde eingesetzt, die Gedanken des Menschen lesbar macht und damit die Gedankenwelt eines jeden fremder Einsichtnahme ausliefert, sodass hier der herkömmliche Satz „die Gedanken sind frei“ nicht mehr gelten kann. Ähnliches aber gilt auch für die neue Technik der so genannten „visual identification“, also der visuellen Identifikation, die es möglich macht, die Schritte eines Menschen rund um die Uhr aus der Entfernung zu überwachen und ihn auf diese Weise seiner Privatheit zu berauben. Weniger spektakulär, dafür aber nicht minder Besorgnis erregen muss überdies die Einsicht, wie weit die Perfektionierung der technischen Überwachungssysteme 36 Vgl. dazu C. Schwägerl, John Donoghue, Neurochip-Pionier, in: FAZ v. 25. 10. 2004, S. 40.
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gegenwärtig bereits in den Alltag der Menschen vorgedrungen ist. Dies gilt nicht etwa nur für die Kontrolle der internationalen Finanzströme durch die datenmäßige Erfassung des grenzüberschreitenden Überweisungsverkehrs, das technisch leicht zu praktizierende „screening“ aller Autos in den Mautsystemen, die Vorstellung einer auch der Polizei und den Einwanderungsbehörden zugänglichen europäischen Datenbank zur Erfassung der Fingerabdrücke von Asylbewerbern, die Koordination der den Geheimdiensten zur Verfügung stehenden Datenbestände, die europaweite Vernetzung von nationalen Datenbanken zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration nach dem Abkommen von Prüm37 sowie nicht zuletzt die von den Vereinigten Staaten erzwungene Überlassung der Passagierlisten im Flugverkehr zwischen Europa und den USA. Es sind immerhin täglich etwa 50.000 und in nur einem Jahr mehr als 18 Millionen Personen, die entweder von Europa in die Staaten oder aber zurück nach Europa fliegen. Es ist nicht zu bestreiten, dass alle in den genannten Beispielen beschriebenen Eingriffe in die menschliche Persönlichkeit insgesamt – und dies macht die Problematik dieser Eingriffe so schwerwiegend – einen guten Zweck verfolgen und damit eine sie scheinbar rechtfertigende Überzeugungskraft besitzen. Wer will denn etwas gegen den medizinischen Fortschritt zum Wohl des Kranken oder aber gerade in den Zeiten terroristischer Bedrohung etwas gegen die für den sozialen Frieden in der Tat unerlässliche innere Sicherheit einwenden? Dies kann jedoch vor allem den Juristen nicht seiner Aufgabe entheben, in diesem Zusammenhang auch den Aspekt des Missbrauchs und seiner Folgen für dessen Opfer mit zu berück37 Vertrag zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Republik Österreich über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration vom 27. 5. 2005, BGBl. 2008, II, S. 829.
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sichtigen. Hierzu besteht denn auch aller Anlass. Es überrascht nicht wenig, dass es nicht zuletzt die Wissenschaft selbst ist, die hier Anlass zur Sorge und mehr noch zum Einspruch gibt. Dabei geht es um eine Wissenschaft, deren „Anwendung“ nach den Worten des Hirnforschers Donoghue38 „keine Grenzen gesetzt sind“ und damit dem Satz des Protagoras vom Menschen als dem Maß aller Dinge in der hier bemühten skeptischen Interpretation in idealer Weise zu entsprechen scheint. Gleiches hat auch für den Nobelpreisträger James D. Watson zu gelten, der mit seiner Entdeckung der Doppelhelixstruktur des Erbguts durchaus als Vater der modernen Genetik bezeichnet werden kann. Im Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der Molekularbiologie stellt Watson seine Wissenschaft in den Dienst eines Menschenbildes, bei dem sich der Verdacht eines neuen und subtilen Rassismus nicht von der Hand weisen lässt. Wie aber will man diesen Verdacht entkräften, wenn Watson39 ein „existenzielles Recht“, also das Recht auf die Existenz nur noch dem „gesunden und produktiven Leben“ zugestehen will, das „Hoffnung auf Erfolge“ gewährleistet? Unvermeidlich ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie es denn um das Leben der Menschen bestellt ist, die diese Hoffnung nicht erfüllen, weil ihnen nur eine „poor prognosis“ zugestanden wird? Eine Antwort auf diese Frage ist dem Bericht einer medizinischen Fachzeitschrift40 zu entnehmen, die im August dieses Jahres in den Vereinigten Staaten erschienen ist. Danach wurde zwei Neugeborenen, denen bei der Geburt wegen eines eingetretenen Herzstillstands eine „poor prognosis“, also schlechte Aussichten, bescheinigt worden waren, im Wege der Transplantation das Herz entnommen, obwohl die Hirnfunktionen der Kinder noch nicht unwiederbringlich erloschen waren. Zumindest aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung fand die Organentnahme in diesem Fall also vor der mit dem endgültiA. a. O. (oben, Fn. 36). Die Ethik des Genoms, FAZ v. 26. 9. 2000, S. 55. 40 The New England Journal of Medicine, Vol. 359, No. 7, August 14, pp. 709 ss. 38 39
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gen Erlöschen der Hirnfunktionen getroffenen Feststellung des Todes statt. Gerechtfertigt wurde dieser Vorgang vor allem mit dem Hinweis auf die große Knappheit von Säuglingsherzen sowie darauf, dass jeder Tag auf der Warteliste das Leben oder aber zumindest das Gehirn der Empfängerkinder gefährde. In diesem von einem Kritiker41 mit Recht als „ungeheuerlich“ bezeichneten Fall gilt es, juristisch exakt zu differenzieren. Unter dem Aspekt der Menschenwürde geht es hier nicht um den Tatbestand der Tötung als solchem, also nicht um den im Grundgesetz nach seinem Art. 2 Abs. 2 sowie in den einfachen Gesetzen geregelten Lebensschutz. Vielmehr geht es unter dem Aspekt der Menschenwürde darum, dass in diesem Fall Menschen mit ihrer Existenz nicht mehr in ihrer Individualität und Personalität zur Kenntnis genommen, sondern statt dessen als bloßes Material oder wie in einer Reparaturwerkstatt als brauchbares Ersatzteil, wenn auch zum Wohle anderer Menschen, benutzt und ausgewertet werden. Dies aber ist eine Form der totalen Herrschaft des Menschen über den Menschen, die mit der Menschenwürde und ihrer verfassungsrechtlichen Garantie in keiner Weise zu vereinbaren ist. Was aber soll man unter dieser Voraussetzung davon halten, dass es nach einem Bericht der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie42 in einem New Yorker Modellprojekt bereits so genannte Doppelambulanzen, also spezielle Teams gibt, die bei einem Unfall den Notfallwagen begleiten, um die Unfallopfer gegebenenfalls für die Zwecke der höchst eilbedürftigen Organentnahme zu konservieren? Wird nicht auch hier der Mensch mit dem Griff nach seinem Leben wie in einer Reparaturwerkstatt zum verwertbaren Ersatzteil herabgewürdigt? Alle diese Beispiele aber belegen, wie sehr sich die Garantie der Menschenwürde mit dem Verbot der totalen Herrschaft trotz oder, wie sich noch zeigen wird, gerade wegen ihrer im 41 Vgl. hierzu und zum Ganzen den kritischen, unter dem Titel „Sekundentod“ und mit hka gezeichneten Bericht in FAZ v. 17. 9. 2008, S. N 1. 42 Mitteilungen 2008, S. 254.
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Formalismus begründeten Inhaltsleere durchaus bewährt, wenn es um die praktische Rechtsanwendung geht. Hier ist jedoch genau zu differenzieren und zu beachten, was dieses Verbot dabei zu leisten, aber auch nicht zu leisten vermag. So kommt dem Verbot der totalen Herrschaft lediglich die Funktion einer formalen Grenzbestimmung zu, ohne jedoch eine Antwort auf die inhaltliche Frage geben zu können, wann denn nun im konkreten Einzelfall die Herrschaft eine totale ist. Der Verzicht auf eine Antwort in dieser Frage hat seinen guten Grund; denn nur so können die Menschenwürde und mit ihr das Verbot der totalen Herrschaft als solche oder in ihrem Kern, frei von aller Unsicherheit der Empirie, ihre Unumstößlichkeit bewahren, wie sie allen reinen Vernunftwahrheiten in ihrer unbedingten Notwendigkeit eigen ist, und in diesem Sinn war und ist denn auch in der philosophischen Tradition die Rede von dem so genannten unwandelbaren Naturrecht zu verstehen. Ganz anders ist jedoch die Situation, wenn es in der praktischen Rechtsanwendung um die Umsetzung dieser Vernunftwahrheit in der empirischen Gesellschaft geht, die in ihrem Machtstreben und all ihrer technischen Intelligenz, wie gerade die erwähnten Beispiele zeigen, mit einer geradezu unerschöpflichen Phantasie begabt ist und in immer wieder neu ersonnenen Formen totaler Herrschaft des Menschen über den Menschen stets zu Grenzüberschreitungen neigt. Hier ist es denn Sache der juristischen Subsumtion, dieses Machtstreben in seine ihm durch die Garantie der Menschenwürde und das Verbot der totalen Herrschaft gesetzten Grenzen zu weisen. Damit aber erweisen sich die Menschenwürde und mit ihr das Verbot der totalen Herrschaft, gerade weil sie mit ihrem Formalismus auf konkrete empirische Inhalte nicht festgelegt sind, auch gegenüber den neuen Formen dieser Herrschaft durchaus als offen und mithin wandelbar. Das Bundesverfassungsgericht hat also recht, wenn es in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz43 auf die Verpflichtung des Staates 43
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zum Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zu sprechen kommt und dabei feststellt: „Was diese Verpflichtung für das staatliche Handeln konkret bedeutet, lässt sich nicht ein für allemal abschließend bestimmen“. Dies allerdings gilt insoweit, aber auch nur insoweit, als es um die Umsetzung der Menschenwürdegarantie in der praktischen Rechtsanwendung geht, während diese Garantie selbst in ihrem Kern ebenso wie das Verbot der totalen Herrschaft als notwendige Wahrheiten ihre Unumstößlichkeit und mithin ihre Unwandelbarkeit bewahren. Die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die in ihrer praktischen Anwendung dazu angetan sind, den Menschen seiner Individualität und Personalität und mithin seiner Würde zu berauben, verdienen nicht nur Widerspruch im wissenschaftlichen Dialog. Gefordert ist hier in gleicher Weise auch der Staat als Hüter des Gemeinwesens, das der Menschenwürde verpflichtet ist. Dies aber gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern ebenso auch für die Exekutive, wenn sie etwa mit dem Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel Forschungsförderung betreibt und hier im Einzelfall mit ihrer Prognoseentscheidung in extrem schwierige Abwägungsprobleme geraten kann. Selbst die auswärtige Gewalt kann in den Zeiten der internationalen Vernetzung der Wissenschaft hier durchaus gefordert sein, auch und gerade wenn sie in der Pflege der internationalen Beziehungen mit Partnern umzugehen hat, die an das Grundgesetz und seine Garantie der Menschenwürde nicht gebunden sind. So aber haben bei allem gebotenen Respekt vor der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheit der Wissenschaft die Träger von Staatsgewalt angesichts der umfassenden Geltung des Art. 1 GG ausnahmslos vor allem ihrer Schutzpflicht zu genügen, um auf diese Weise der Garantie der Menschenwürde als dem obersten Konstitutionsprinzip in der Gesellschaft die ihr angemessene Geltung zu verschaffen. In ihrer Eigenschaft als oberstes Konstitutionsprinzip wird die Garantie der Menschenwürde zu Recht als „Staatsfundamentalnorm“ bezeichnet, die, wie Peter Häberle44 es for-
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muliert hat, auch die verfasste Gesellschaft „fundiert“. Damit aber werden wir über die Sphäre des Individuums hinaus nicht zuletzt auf die Staatsorganisation und zugleich auf die gemeinhin in der Allgemeinen Staatslehre angesiedelte Lehre von den Staatszwecken verwiesen. Danach aber ist es Aufgabe des Staates, dem Menschen in der Gewährleistung seiner Würde jederzeit die Chance zu belassen, seine Existenz in individueller Freiheit und eigener Verantwortung zu bewältigen und auf diese Weise sein Glück zu machen. Die Erfüllung dieser Aufgabe aber ist mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts45 der Staatsgewalt in „all ihren Erscheinungsformen auferlegt“. Dienst an der Menschenwürde ist also nach dem Willen des Grundgesetzes – auf eine kurze Formel gebracht – die Aufgabe aller Staatlichkeit. Auf die Erfüllung eben dieser Aufgabe aber kommt es an, wenn es im Sinne der herkömmlichen Staatszweckbestimmungen um die Gewährleistung des sozialen Friedens in der inneren und äußeren Sicherheit, um die Freiheit in der rechtsstaatlichen Demokratie, um den Sozialstaat und nicht an letzter Stelle auch um den Kulturstaat geht. So weist auch und gerade das Einstehen des Staates für die Kultur46 einen besonderen, unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde auf, geht es doch bei der Kultur im weiten Sinn ihres Begriffs47 um etwas eminent Individuelles, nämlich um ein gewichtiges Stück existenzieller Lebensbewältigung in der hier und heute getroffenen individuellen Entscheidung eines jeden für das, was künftig sein soll48. 44 Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Heidelberg 1987, Bd. I, S. 844. 45 BVerfGE 45,187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 46 Vgl. hierzu BVerfGE 35, 79 (114) – Niedersächsisches Hochschulgesetz – mit Bezug auf „die Idee einer freien Wissenschaft“. 47 Um den weiten Begriff der Kultur geht es auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkrecht. 48 Vgl. hierzu auch H. Schiedermair, Kultur der Zukunft. Die Universität auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: 600 Jahre Kölner Universität 1388 / 1988, Reden und Berichte zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Universität, hrsg. von K. H. Hansmeyer u. a., Köln 1989, S. 240 ff.
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Der Dienst an der Menschenwürde kann jedoch nur gelingen, wenn und solange die Rechtlichkeit von Herrschaft im Gemeinwesen in der Bindung an das Verbot totaler Herrschaft und der ihr innewohnenden prinzipiellen Begrenzung staatlicher Macht in all ihren Erscheinungsformen gewährleistet ist. Denn allein unter dieser Voraussetzung bleibt dem Menschen der Raum, in dem er seiner Würde gemäß nur sich selbst gehört. Nicht „dominium“, sondern „ususfructus salva re“ war die Formel, mit der Leibniz der prinzipiellen Begrenzung staatlicher Herrschaft durch das Recht das Wort geredet hat, und ein Gleiches hat auch für das oberste Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes, die Garantie der Menschenwürde des Art. 1 GG zu gelten. Damit aber ergibt sich – so überraschend das zunächst klingen mag – ein unmittelbarer innerer Zusammenhang zwischen der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und dem in der Präambel des Grundgesetzes enthaltenen Bekenntnis des Verfassungsgebers zu seiner „Verantwortung vor Gott“. Bedauerlicherweise aber hat der Gottesbezug, wie auch die Diskussion um den europäischen Verfassungsvertrag belegt, in seinem verfassungsrechtlichen Kontext ein wenig glückliches Schicksal erfahren, indem er dem jenseits der Grenzen aller Liberalität angesiedelten Verdacht des offenen oder heimlichen Klerikalismus ausgesetzt worden ist und wird. Dieser Verdacht ist jedoch durch nichts zu begründen, zumal er auf einer gründlichen Verkennung der säkularen Bedeutung des Gottesbezugs in der Präambel des Grundgesetzes beruht. In seiner säkularen Bedeutung meint der Gottesbezug doch nicht mehr, aber auch nicht weniger als das uneingeschränkte Bekenntnis zu dem Verbot totaler Herrschaft und mithin zur prinzipiellen Begrenzung staatlicher Machtausübung in der Bindung an das Recht.49 So geht es im Gottesbezug der Präambel ebenso wie bei der Garantie der Menschenwürde des Art. 1 GG um ein und das gleiche: Es gilt, mit dem Verbot der totalen Herrschaft die Rechtlichkeit von 49 Ähnlich für den Europäischen Verfassungvertrag K. Naumann, Eine religiöse Referenz in einem Europäischen Verfassungsvertrag, Jus Internationale et Europaeum, Bd. 22, Tübingen 2008, S. 152 f.
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Herrschaft im staatlichen Gemeinwesen zu gewährleisten. Kant hatte im Blick auf diese Gewährleistung ein dem entsprechendes staatliches Gemeinwesen noch als Republik bezeichnet, heute sprechen wir hier vom modernen Verfassungsstaat.
Der Grundrechtsschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention bei konfligierenden Individualrechten – Plädoyer für eine Korridor-Lösung Von Gertrude Lübbe-Wolff, Bielefeld Je höher die Wertschätzung, die man einem Freund und Kollegen entgegenbringt, desto deutlicher mischt sich in den Wunsch, zu einer fälligen Ehrung dieses Freundes und Kollegen beizutragen, das Gefühl, selbst geehrt zu sein, wenn man einen solchen Beitrag leisten darf. In Deinem Fall, lieber Dietrich, empfinde ich das so ausgeprägt, dass es mich nach den kantischen Maßstäben, die Schiller aufs Korn genommen hat, schon wurmen müsste. Zum Glück bin ich aber, was Tugendfragen angeht, nicht Kantianerin, sondern Hegelianerin, und daher kann ich Dir die folgenden Überlegungen mit Vergnügen vortragen. Deutschland ist ein gut integrierter Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nur vergleichsweise selten muss es sich eine Verletzung von Konventionsrechten bescheinigen lassen.1 Wenn, dann pflegt das ohne viel Aufhebens akzeptiert zu werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und seine Rechtsprechung sind respektierte Größen. Gelegentlich kommt es allerdings vor, dass in der meist reibungslosen, leisen Interaktion der Rechtsebenen, 1 Näher Gertrude Lübbe-Wolff, Cour Européenne des Droits de l’Homme et juridiction nationale – L’Affaire Görgülü (Vortrag Universität Robert Schumann, März 2007), über Verf.- und Titeleingabe im Internet zugänglich. Dieser Text enthält in seinem Schlussteil in tentativer Version einige der nachfolgend näher ausgeführten Gedanken.
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ihrer Gerichte und der beobachtenden Kommentatoren plötzlich etwas lautere und schärfere Töne zu hören sind. Öffentlich wahrnehmbar waren solche Töne in Deutschland und in Bezug auf Deutschland zuletzt anlässlich der von-Hannover-Entscheidung des EGMR (in Deutschland oft als „Caroline-Entscheidung“ bezeichnet)2 und im Zusammenhang mit dem Görgülü-Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts.3 Dass gerade diese beiden Entscheidungen heftigere Auseinandersetzungen ausgelöst haben, ist kein Zufall, sondern in einer Gemeinsamkeit der Fälle begründet. Beide Male ging es um konfligierende Rechtspositionen mehrerer Beteiligter. Im Fall Görgülü waren einerseits die Rechte des um Umgang mit seinem Kind kämpfenden Vaters und andererseits die seines Kindes und der Pflegeltern im Spiel, im Fall von Hannover einerseits das Recht der Prinzessin, die sich durch in der Presse veröffentlichte Fotos in ihrem Persönlichkeitsrecht oder, konventionsrechtlich gesprochen, in ihrem Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) beeinträchtigt sah, und andererseits die – konventionsrechtlich durch Art. 10 EMRK (freedom of expression) geschützte – Pressefreiheit des Unternehmens. Solche Fälle werfen für ein mit Rechtsprechungsmacht versehenes System des internationalen Menschenrechtsschutzes ein spezifisches Problem auf. Jedes derartige System bringt unweigerlich Friktionen mit sich, weil die Meinungen darüber, was die in dem System garantierten Rechte im konkreten Einzelfall bedeuten, gelegentlich auseinandergehen werden – wenn es anders wäre, bräuchte man das System nicht. Obwohl es offensichtlich ist, dass ein solches System nur funktionieren kann, wenn Einigkeit darüber besteht, dass für die Auslegung der übernational gewährleisteten Rechte grundsätzlich die 2 von Hannover v. Germany, Appl. no. 59320 / 00 (im Internet zugänglich über das Dokumentationssystem HUDOC des EGMR); deutsch in: EuGRZ 2004, S. 404 ff. 3 BVerfGE 111, 307.
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Rechtsprechung des dafür eingesetzten internationalen Gerichts maßgebend ist – für die Rechtsprechung des EGMR ist dies in Art. 46 I EMRK festgelegt –, wird es für die Vertragsstaaten und die Akteure im jeweiligen nationalen Rechtssystem nicht immer leicht sein, dies auch in jedem Einzelfall zu akzeptieren. Ich bringe hier kein persönliches Akzeptanzproblem mit Entscheidungen des EGMR in den Fällen Görgülü und von Hannover zum Ausdruck, sondern spreche ganz abstrakt. Die Möglichkeit aber, dass Entscheidungen eines internationalen Menschenrechtsgerichts in den beteiligten Vertragsstaaten auf Ablehnung und sogar auf Widerstand stoßen, ist sehr konkret und stellt eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Systems dar. Die Europäische Menschenrechtskonvention sucht dieses Problem dadurch zu minimieren, dass sie die Konventionsrechte als Mindeststandards etabliert: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden“ (Art. 53 EMRK). Das hat nicht einfach nur die Erfreulichkeit, dass Menschen die weitergehenden Rechte, die ihnen auf nationaler Ebene eingeräumt sind, weiterhin genießen können. Für das Konventionssystem ist die Ausgestaltung der Konventionsrechte als Minimumstandards vor allem als Stabilisator von zentraler Bedeutung. Sie ermöglicht nationale Unterschiede, soweit die mit den Konventionsrechten gesetzten Standards nicht unterschritten werden, mindert damit den Anpassungsstress, dem jedes nationale Rechtssystem durch Einfügung in eine internationale Ordnung ausgesetzt wird, und reduziert dadurch die Risiken, die aus solchem Anpassungsstress für die Funktionsfähigkeit des Konventionssystems hervorgehen können. Auf dem Höhepunkt der Diskussionswelle, die im Gefolge von Görgülü und von Hannover entstand, hat der damalige Präsident des EGMR, Luzius Wildhaber, um die notwendige Akzeptanz der Rechtsprechung des Gerichtshofs denn auch mit der Feststellung geworben, dass die Konven-
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tion nicht auf eine Harmonisierung der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten ziele.4 Fälle, in denen es um konfligierende Rechte geht, werfen nun aber gerade das Problem auf, dass der MinimalstandardGrundsatz des Art. 53 ERMK hier nicht zu funktionieren scheint. Genauer gesagt: Er kann hier nicht funktionieren, wenn und soweit die konfligierenden Rechte, um die es geht, als einander kontradiktorisch entgegengesetzte begriffen werden. Ein kontradiktorischer Gegensatz zwischen zwei Rechten A und B besteht, wenn und soweit eine Ausdehnung der Reichweite des Rechts A nur auf Kosten der Reichweite des Rechts B möglich ist und umgekehrt. Betrachten wir den Streit zwischen einem Verleger, der unter Berufung auf die Pressefreiheit das Recht für sich in Anspruch nimmt, in seinen Blättern Fotos einer bekannten Prinzessin zu veröffentlichen, und einer Prinzessin, die sich zum Schutz vor solcher Veröffentlichung auf die grund- und menschenrechtliche Gewährleistung ihrer Privatsphäre beruft. Spätestens dort, wo auf der nationalen Ebene nicht bloß über die Frage der Richtigkeit des Umgangs anderer Entscheider mit diesem Streit, sondern unmittelbar über diesen Streit selbst entschieden wird, ist das Verhältnis zwischen den Rechten, die hier konfligieren, notwendigerweise kontradiktorisch. Um die Natur eines solchen kontradiktorischen Verhältnisses5 bildlich zu vergegenwärtigen: Stellen wir uns das Spek4 Luzius Wildhaber, Europäischer Grundrechtsschutz aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: EuGRZ 2005, 689 (689). 5 Ich lehne mich hier an die in der Logik übliche Unterscheidung zwischen kontradiktorisch und konträr entgegengesetzten Begriffen (wenn auch nicht an die üblichen Explikationen dieser Unterscheidung) an. Der kontradiktorische Gegensatz (grün / nicht grün) besetzt in einem gegebenen Bedeutungsfeld (hier: dem des Farbigen) das gesamte Feld lückenlos und überschneidungsfrei (alles Farbige ist entweder grün oder nicht grün); der konträre Gegensatz (grün / rot) füllt dagegen das Feld nicht aus, sondern lässt Raum für Drittes (hier: Farbiges, das weder rot noch grün ist).
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trum der rechtlichen Möglichkeiten, die Rechte des Verlegers und die der Prinzessin in Bezug auf die Befugnis zur Veröffentlichung von Photos der Prinzessin gegeneinander abzugrenzen, als einen Rechtsraum vor, und zwar so, dass ein Teil dieses Raums von der Pressefreiheit des Verlegers besetzt ist, der andere Teil vom Persönlichkeitsrecht oder, konventionsrechtlich gesprochen, vom Recht der Prinzessin auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Rechtssphären der beiden sind innerhalb dieses Raums durch eine scharfe Linie voneinander abgegrenzt. Weder überschneiden sie sich, noch bleibt zwischen ihnen ein freier Raum (Fig. 1). Pressefreiheit
Persönlichkeitsrecht
Fig. 1
Jedes der beiden Rechte kann nur auf Kosten des anderen ausgedehnt werden. Wenn dem Persönlichkeitsrecht der Prinzessin mehr Raum gegeben werden soll, dann geht das nicht ohne eine korrespondierende Einschränkung der Rechte des Verlegers, und umgekehrt. Soll die Prinzessin zum Beispiel berechtigt sein, neben Fotos aus ihrem Haus und Garten und anderen nicht für die Öffentlichkeit zugänglichen Örtlichkeiten auch solche, die in allgemein zugänglichen Restaurants oder auf öffentlichen Straßen aufgenommen wurden, von der Veröffentlichung auszuschließen, dann geht das nur auf Kosten der Publikationsfreiheit des Verlegers. Die Trennlinie zwischen den beiden Rechtssphären verschiebt sich, und um so viel Raum wie das Persönlichkeitsrecht gewinnt, schrumpft die Pressefreiheit (Fig. 2). Pressefreiheit
Persönlichkeitsrecht
Fig. 2
Wo im Rechtssystem unmittelbar der Streit zwischen dem Verleger und der Prinzessin darüber entschieden wird, ob der Verleger bestimmte Fotos der Prinzessin veröffentlichen darf
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oder nicht, ist das Verhältnis der konfligierenden Rechte zwangsläufig in der beschriebenen Weise kontradiktorisch. Der Richterspruch grenzt diese Rechte gegeneinander ab, indem er zugunsten der einen oder der anderen Streitpartei entscheidet, und zwar, bezogen auf den Gegenstand seiner Entscheidung, lückenlos und überschneidungsfrei. Mit anderen Worten: Einer muss recht bekommen (d. h. es gibt zwischen den beiden Rechtssphären keinen rechtlich unbesetzten – leeren oder von etwas anderem als Recht besetzten – Raum), und nur einer kann recht bekommen (d. h. es gibt keine Überlappung der Rechtssphären, die zur Folge hätte, dass im Überschneidungsbereich beiden Parteien die volle Berechtigung ihrer Ansprüche attestiert werden müsste). Die Rechtssysteme der Staaten, die einer internationalen Konvention zum Schutz von – unter anderem – Pressefreiheit und Recht auf Privatheit (Persönlichkeitsrecht) beitreten, werden sich hinsichtlich des Verlaufs der Abgrenzungslinie zwischen diesen beiden Rechten unterscheiden, wie ja auch die Befugnisse der Polizei und die maximale Dauer einer nicht richterlich angeordneten Inhaftierung nicht überall dieselben sind. Fig. 1 und Fig. 2 kann man sich dementsprechend auch als Darstellung der Abgrenzungsverhältnisse in zwei verschiedenen Ländern vorstellen, von denen das eine (Fig. 1) der Pressefreiheit etwas mehr und dem Persönlichkeitsrecht etwas weniger Raum gibt als das andere (Fig. 2). Wenn nun der EGMR wie ein Gericht, das unmittelbar über den Streit zwischen Prinzessin und Verleger zu entscheiden hat, die konfligierenden Konventionsrechte als kontradiktorisch entgegengesetzte behandelt, taucht ein Problem mit der Konzeption der Konventionsrechte als Minimumstandards auf. Der Gerichtshof zieht dann seine eigene Trennlinie. An welcher Stelle auch immer er sie zieht: Er kann sie nicht genauso ziehen wie sie in „den Vertragsstaaten“ gezogen wird, denn die Vertragsstaaten ziehen sie nicht einheitlich. Und er definiert, indem er sie zieht, nicht nur einen Mindest-, sondern zugleich einen Maximalstandard: Wenn die Privatsphäre der Prinzessin mindestens bis zu der gezogenen Linie reicht,
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dann reicht auf der anderen Seite das Publikationsrecht des Verlegers höchstens bis zu dieser Linie, und umgekehrt. Werden die konfligierenden Rechte als kontradiktorisch entgegengesetzt verstanden, dann bleibt kein Raum für Art. 53 EMRK, kein Raum für eigenständige nationale Lösungen, kein Raum des Respekts für die Besonderheit tradierter Rechtskulturen. Was stattfindet, ist Harmonisierung. Vermeiden lässt sich das nur dadurch, dass für die Abgrenzung der beteiligten Konventionsrechte anstelle einer Trennlinienlösung eine Korridorlösung gewählt wird – eine Auslegung dahingehend, dass die beiden konfligierenden Rechte den Rechtsraum, als den wir uns das Spektrum der denkbaren rechtlichen Lösungen des Konflikts beider Rechte bildlich vorstellen, nicht lückenlos ausfüllen, sondern dass zwischen ihnen ein Korridor konventionsrechtlich freigelassen wird, den die Vertragsstaaten der Konvention nach eigener Wahl entweder dem einen oder dem anderen Recht zuordnen dürfen (Fig. 3).6 Pressefreiheit
nationaler Spielraum
Persönlichkeitsrecht
Fig. 3
6 Wenn Johannes Masing (in: Festschrift für Achim Krämer, Berlin 2009, S. 61 – 74) statt von einem Korridor von einem Rahmen spricht, zielt das in der Sache auf dasselbe, nur dass dabei statt des konventionsrechtlich nicht determinierten Bereichs die konventionsrechtlich determinierten Bereiche des zu analysierenden Rechtsraums (in Fig. 3: die äußeren Teile statt des mittleren) ins Auge gefasst werden. Die Rahmen-Metapher hat den Vorzug, unmittelbar zur appositiven Qualifizierung des Konventionsrechts dienen zu können und leichter spontan verständlich zu sein. Die Korridor-Metapher eignet sich dagegen eher, um die Besonderheiten der Konstellation konfligierender Konventionsrechte – vor allem den hier entscheidenden Unterschied zwischen einer kontradiktorischen und einer nicht-kontradiktorischen Konzeption des Konflikts – ins Bild zu setzen und ist, während die Rahmenmetapher eine Vorstellung von wenig (Konventions-)Rahmen und viel (nationaler) Bildfläche evoziert, neutraler in Bezug auf das quantitative Verhältnis von konventionsrechtlich Festgelegtem und Freigelassenem.
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Ein ehemaliger Richter des EGMR hat mir in einer Diskussion zu dieser Überlegung entgegengehalten, es könne doch nicht angehen, dass der EGMR die Konventionsrechte je nach Herkunftsland der Beschwerdeführer unterschiedlich auslege. In der Tat, das geht nicht an. Darauf läuft eine Korridorlösung aber auch nicht hinaus. Wählt der EGMR zur Abgrenzung der Rechtspositionen, die konfligieren, wenn es um die nicht autorisierte Veröffentlichung von Fotos einer Prinzessin geht, eine Korridorlösung, dann bedeutet das nicht, dass er die Frage, welches Recht jeweils Vorrang hat, unterschiedlich beantwortet je nach dem Land, in dem z. B. die Zeitung erscheint, sondern dass es ein Spektrum von Fallkonstellationen gibt, für die er divergierende Entscheidungen der jeweiligen nationalen Gesetzgeber und Gerichte akzeptiert. Eine Korridor-Lösung besteht nicht darin, dass der EGMR Streitfälle über die Veröffentlichung von Fotos einer Prinzessin aus ihrer Wohnung und ihrem Garten, vom Einkaufsbummel über einen Markt oder eine öffentliche Einkaufsstraße, oder von einer Zirkusveranstaltung, bei der sie als Repräsentantin eines regierenden Hauses in der Loge sitzt und den besten Artisten Preise überreicht, von Land zu Land unterschiedlich beantwortet, sondern darin, dass neben den konventionsrechtlich determinierten auch konventionsrechtlich nicht determinierte Fallgestaltungen anerkannt werden. Beispiel etwa: Hinsichtlich der Fotos aus dem Zirkus behauptet sich die konventionsrechtlich geschützte Pressefreiheit des Verlegers, hinsichtlich der Fotos aus dem Garten der Prinzessin behauptet sich das Persönlichkeitsrecht der Prinzessin (ihr Anspruch auf Privatheit), ob aber hinsichtlich der Fotos, die die Prinzessin auf belebten öffentlichen Straßen und Plätzen zeigen, die Pressefreiheit des Verlegers oder der Schutz der Privatsphäre der Prinzessin Vorrang hat, das kann nach Gusto auf nationaler Ebene entschieden werden.7 7 Dieses Beispiel soll nur exemplifizieren, was mit einer „Korridorlösung“ überhaupt gemeint ist. Über die Frage, ob tatsächlich gerade die hier angeführte Konstellation im Korridor nationaler Präferenzentscheidungen angesiedelt sein sollte, kann man sich natürlich streiten – ebenso
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Ein weiterer Einwand, der mir in Diskussionen über das Korridor-Konzept entgegengehalten worden ist: Wenn es einen Korridor für spezifisch nationale Abwägungen gibt, kann man ja womöglich die Zeitung, die in London nach den Regeln des britischen Presserechts gemacht worden und erschienen ist, nicht mehr in Berlin und Warschau verkaufen! Das ist in der Tat eine mögliche Konsequenz, aber ein rechtlich relevanter Einwand lässt sich daraus nicht machen. Die Freiheitsgewährleistungen der EMRK haben – anders als die Grundfreiheiten des EG-Vertrages – nicht die Funktion, einen nicht durch Unterschiede der Rechtsordnungen behinderten Markt zu garantieren.8 Art. 53 EMRK steht im Gegenteil einer interpretativen Ausrichtung der Konventionsrechte auf diese Funktion entgegen. Der Gedanke, dass es möglich und aus konventionsrechtlichen Gründen sogar notwendig ist, zwischen konfligierenden konventionsrechtlichen Individualrechten einen Korridor konventionsrechtlicher Indifferenz anzuerkennen, irritiert auf den ersten Blick auch deshalb, weil wir es von der Ebene des nationalen Rechts her eher gewohnt sind, konfligierende Individualrechte als trennlinienförmig gegeneinander abgegrenzt zu sehen. Dem korrespondiert die Annahme, es müsse für das Abgrenzungsproblem eine „richtige“ Lösung geben – und das dann doch wohl auch auf der internationalen Ebene. Tatsächlich grenzen wir aber auch in den nationalen Rechtsordnungen wie über die Frage, welche (sonstigen) Konstellationen noch im Korridor angesiedelt sein sollen. Die in diesem Beitrag behandelte Frage, ob es überhaupt sinnvoll und notwendig ist, mit einem Korridor-Konzept zu arbeiten, kann unabhängig von solchen die genaue Lage und Breite des Korridors betreffenden Fragen diskutiert werden. 8 Die Frage, inwieweit für die Beurteilung der Zulässigkeit von Beschränkungen nationale Einschätzungsspielräume zu berücksichtigen sind, stellt sich im Übrigen auch für die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, und die in der Rechtsprechung des EuGH vorhandenen Ansätze zur Anerkennung solcher Spielräume (dazu näher James A. Sweeney, A ,Margin of Appreciation‘ in the Internal Market: Lessons from the European Court of Human Rights, in: Legal Issues of Economic Integration, Vol. 34, 2007, S. 31 ff.) könnten sich als im Interesse der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Union ausbaufähig und ausbaubedürftig erweisen.
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gegenläufige Individualrechte nicht deshalb trennlinienförmig statt korridorförmig voneinander ab, weil es nur einen vertretbaren Verlauf der Trennlinie (und nicht etwa einen Korridor vertretbarer Abgrenzungslösungen) gäbe. Trennlinienlösungen sind auf der nationalen Ebene nicht wegen stets vorauszusetzender Vorzugswürdigkeit irgendeiner ganz bestimmten Trennlinie, sondern deshalb unvermeidlich, weil auf nationaler Ebene der Streit zwischen den Trägern der konfligierenden Individualrechte letztlich unmittelbar und vollständig entschieden werden muss.9 Für Gerichte, die unmittelbar und vollständig im Streit zwischen Verleger und Prinzessin zu entscheiden haben, kann es Fälle solchen Streits, die in einem Raum der rechtlichen Indifferenz angesiedelt sind, nicht geben; ein Raum völliger Indifferenz allen Rechts, ein rechtsfreier Raum sans phrase, eine Sphäre des rechtlich folglich Unentscheidbaren kann hier nicht eröffnet werden. Der EGMR dagegen kann einen Korridor konventionsrechtlicher Indifferenz, eine (konventions)rechtlich nicht determinierte Sphäre ohne weiteres aner9 Das schließt nicht aus, dass auch auf nationaler Ebene mit den Fragen, die der Streit zwischen den Trägern konfligierender Individualrechte aufwirft, unter anderem Gerichte in Verfahren befasst werden, in denen – wie z. B. im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht – nicht unmittelbar über den Streit zwischen den Trägern der kollidierenden Individualrechte, sondern darüber entschieden wird, ob andere Gerichte diesbezügliche Streitigkeiten richtig entschieden haben, und/oder in denen Prüfungsgegenstand und/oder Prüfungsmaßstab in anderen Hinsichten von denen abweichen, die für die Primärentscheidung über den Streitfall gelten. In solchen Verfahren führen erfolgreiche Klagen typischerweise nicht zu einer vollständigen Entscheidung des Ausgangsstreits, sondern zu einer Zurückverweisung an andere Gerichte, und auch wenn das Verfahren mit einem Misserfolg des Klägers endet, stellt sich die getroffene Entscheidung nicht als eine eigenständige unmittelbare und vollständige Entscheidung über den Streit zwischen den Trägern der konfligierenden Individualrechte, sondern als bloße Nichtbeanstandung anderweitiger Entscheidungen dar (bei denen es sich um ihrerseits unmittelbar und vollständig streitentscheidende handeln kann, bei mehrstufigen Instanzenzügen aber nicht muss; praktisch notwendigerweise unmittelbar und vollständig streitentscheidend sind nur die erstinstanzlichen Entscheidungen im Streit der Rechtsträger).
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kennen. Er trifft nicht die letzte Entscheidung im Streit zwischen den Trägern der konfligierenden Rechte, dem Verleger und der Prinzessin, sondern entscheidet in einem Konflikt zweiter Ordnung – dem Streit zwischen dem Verleger oder der Prinzessin und einem Vertragsstaat (oder zwischen zwei Vertragsstaaten) darüber, ob der verklagte Vertragsstaat durch seine Gesetze und/oder Gerichte den Konflikt zwischen den Rechten von Verleger und Prinzessin konventionsgemäß entschieden hat. Während die auf nationaler Ebene zu treffende unmittelbare und vollständige gerichtliche Entscheidung über einen Streit zwischen Verleger und Prinzessin nur deren konfligierende Belange berührt und gegeneinander abzuwägen hat, steht in entsprechenden Streitigkeiten zweiter Ordnung, die vor dem EGMR ausgetragen werden, noch ein weiterer Belang auf dem Spiel: Das durch Art. 53 EMRK geschützte Recht der Vertragsstaaten, keiner Harmonisierung ihrer Rechtsordnungen ausgesetzt, sondern auf die Wahrung der Konventionsrechte nur im Sinne eines „Übersiehinausgehendürfens“ verpflichtet zu sein. Dem wird kein TrennlinienKonzept der Abgrenzung konfligierender Rechte, sondern nur eine Korridorlösung gerecht. Die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelte Doktrin, wonach den Vertragsstaaten vor allem hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für eine zulässige Einschränkung von Konventionsrechten und hinsichtlich der Abwägung zwischen gegenläufigen Belangen, die dafür von Bedeutung sind, ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zukommt,10 10 Näher dazu Annette Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, München 1999; Steven Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion Under the European Convention on Human Rights, Straßburg (Council of Europe) 2000; Yutaka Arai-Takahashi, The Margin of Appreciation Doctrine and the Principle of Proportionality in the Jurisprudence of the ECHR, Antwerpen u. a. 2002; Christoph Grabenwarter, Das mehrpolige Grundrechtsverhältnis im Spannungsfeld zwischen europäischem Menschenrechtsschutz und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Völkerrecht als Wertordnung, Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl u. a. 2006, 193 (199 ff.). – Dazu, dass ein Beur-
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kann als Ansatzpunkt für eine Rechtsprechung dienen, die bei konfligierenden Konventionsrechten den Vertragsstaaten einen Korridor für Abwägungen nach Maßgabe eigener Traditionen, Wertvorstellungen und Folgenabschätzungen eröffnet. Für die hier betrachtete Konstellation des Konflikts zwischen Pressefreiheit und konfligierenden Individualrechten Dritter hat die Rechtsfigur des nationalen „margin of appreciation“ allerdings bislang kaum eine Rolle gespielt11, und ich sehe nicht, dass sie überhaupt systematisch genutzt worden wäre, um den besonderen Problemen Rechnung zu tragen, die konfligierende Individualrechte im Konventionssystem aufwerfen12. Neuerdings mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass der EGMR diese besonderen Probleme sieht, die Unvereinbarkeit eines Konzepts kontradiktorischer Entgegensetzung konfligierender Konventionsrechte mit Art. 53 EMRK erkennt und die Rechtsfigur des nationalen Beurteilungsspielraums gezielt auch in diesem Zusammenhang aktiviert. So wird in den im Jahr 2007 entschiedenen Fällen Evans v. The United Kingdom und Dickson v. The United Kingdom nicht nur wie schon in früheren Fällen festgestellt, dass bei fehlendem Konsens unter den Mitgliedstaaten des Europarates „either as to the relative importance of the interest at stake or as to how best to protect it, the margin will be wider“. Darüber hinaus heißt es, dass in der Regel ein weiter Beurteilungsspielraum einzuräumen sein wird, „if the State is required to strike a balance between competing private and public interests or Convention rights“ (Hervorh. nicht i. O.).13 teilungsspielraum gelegentlich auch bereits auf der Ebene der Definition des Schutzbereichs konzediert wurde, und zur Akzeptanzkrisen vermeidenden Funktion der margin-of-appreciation-Doktrin Sweeney (Fn. 8), S. 27 (39, 42), m. w. N. 11 Vgl. Urska Prepeluh, Die Entwicklung der Margin of AppreciationDoktrin im Hinblick auf die Pressefreiheit, in: ZaöRV 61 (2001), S. 771 (795 ff., 795). 12 Ebenso Grabenwarter (Fn. 10), S. 201. 13 Evans v. The United Kingdom, Appl. no. 6339/05, Rn. 77; Dickson v. The United Kingdom, Appl. no. 44362/04, Rn. 78 (jeweils HUDOC, s. Fn. 2); vgl. auch – noch ohne Betonung der Weite des Beurteilungsspiel-
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Ob dies in der Praxis tatsächlich auf Korridorlösungen für konfligierende Konventionsrechte hinausläuft, ist an der abstrakten Formulierung freilich noch nicht ablesbar. Normalerweise wird man die Einräumung eines Korridors nicht einmal an einzelnen konkreten Entscheidungen sicher ablesen können. Eine einzelne Entscheidung über einen Konflikt zwischen einem Verleger und einer Prinzessin über die Grenzen zulässiger Bildberichterstattung nach den Art. 8 und 10 EMRK besagt, auch wenn sie auf nationale Beurteilungsspielräume verweist, nichts über die wirkliche Respektierung solcher Beurteilungsspielräume, soweit sie nur Konfliktkonstellation betrifft, die evidenterweise außerhalb eines anerkennungsfähigen nationalen Spielraums liegen (wie es etwa beim Streit über die Veröffentlichung von Paparazzi-Fotos der Prinzessin aus dem Haus und Garten der Prinzessin der Fall wäre). Und selbst wenn der Gerichtshof in Konstellationen, die sich als Kandidaten für die Ansiedlung in einem Korridor nationalen Einschätzungsspielraums anbieten (Beispiel: Fotos der Prinzessin beim Einkaufsspaziergang auf öffentlicher Straße) unter Berufung auf den nationalen Beurteilungsspielraum tatsächlich die auf nationaler Ebene getroffene Abwägungsentscheidung unbeanstandet ließe (was er in der von-Hannover-Entscheidung trotz Hinweises auf einen nationalen Beurteilungsspielraum14 nicht getan hat), stünde damit noch nicht fest, dass damit ein solcher Korridor tatsächlich anerkannt wäre. Hätte der EGMR im Fall von Hannover die Entscheidung der deutschen Gerichte gebilligt, hinsichtlich der Fotos vom Einraums in derartigen Fällen – die weiteren Entscheidungen (Odièvre und Fretté), auf die zu der letzteren Passage im Fall Evans verwiesen wird. Auch in der von-Hannover-Entscheidung des EGMR (von Hannover v. Germany, s. o. Fn. 2) war zwar bereits von dem Beurteilungsspielraum die Rede, der den Vertragsstaaten bei Abwägungen der in diesem Fall geforderten Art zustehe (a. a. O. Rn. 57), nicht aber von einem weiten derartigen Spielraum, und die Entscheidung lässt auch inhaltlich nicht erkennen, was danach für den Bereich der Bildberichterstattung an Fallkonstellationen eines Konflikts zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht (Privatsphäre) übrig bleibt, über die die Mitgliedstaaten mit Billigung des EGMR unterschiedlich entscheiden dürften. 14 s. Fn. 2 , a. a. O. Rn. 57.
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kaufsspaziergang ein Recht des Verlegers zur Veröffentlichung anzuerkennen, für derartige Fälle also der Pressefreiheit den Vorrang einzuräumen, so wäre damit nicht notwendigerweise ein Korridor nationaler Entscheidungsfreiheit anerkannt gewesen. Der Praxistest für die Anerkennung eines Korridors wäre erst bestanden, wenn gleichermaßen auch die umgekehrte Entscheidung von Gerichten anderer Vertragsstaaten, in solchen Fällen dem Persönlichkeitsrecht/Privatheitsanspruch der Prinzessin Vorrang zu geben, respektiert würde. Bemerkenswerterweise scheint sich parallel zu den in Richtung eines Korridorkonzepts weisenden abstrakten Formulierungen in der neueren Rechtsprechung des EGMR ein solches Konzept auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu entwickeln, und zwar bezogen auf die Auslegung und Anwendung konfligierender grundgesetzlicher Individualrechte durch die deutschen Fachgerichte: Im Streitfall zwischen Prinzessin und Verleger über die Reichweite zulässiger Bildberichterstattung sei es, so der Erste Senat in seiner jüngsten Entscheidung zu diesem Thema, Sache „der Fachgerichte, den Informationswert einer Berichterstattung und ihrer Bebilderung anhand ihres Bezugs zur öffentlichen Meinungsbildung im konkreten Einzelfall zu ermitteln und der Pressefreiheit abwägend die beeinträchtigenden Wirkungen für den Persönlichkeitsschutz gegenüberzustellen, die mit der Gewinnung und Verbreitung der Abbildungen verbunden sind. Bei derartigen Abwägungsentscheidungen verfügen die Gerichte über einen Einschätzungsspielraum. [ . . . ] Es ist in erster Linie Aufgabe der Zivilgerichte, bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften über die Zuordnung unterschiedlicher rechtlich geschützter Interessen die Grundrechte des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten. [ . . . ] Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Nachprüfung beschränkt, ob die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des einfachen Rechts und insbesondere bei der Abwägung miteinander kollidierender Rechtsgüter den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben [ . . . ].
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Auf diesen Umfang ist auch die verfassungsgerichtliche Nachprüfung begrenzt, ob die Fachgerichte ihrer Aufgabe nachgekommen sind, die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die betroffene Teilrechtsordnung der nationalen Rechtsordnung einzupassen. Dass die Abwägung von Rechtspositionen in komplexen, insbesondere multipolaren Kollisionsfällen auch anders ausfallen könnte, ist kein hinreichender Grund für die verfassungsgerichtliche Korrektur einer Entscheidung der Fachgerichte [ . . . ]“.15 Deutlicher kann man sich, in abstracto, zu einem Korridor-Konzept nicht bekennen. Ein Gericht, das einer anderen Entscheidungsebene für bestimmte Fallkonstellationen zubilligt, sie könne im Spannungsverhältnis zwischen konfligierenden Grundrechtspositionen so, aber auch anders entscheiden, erkennt damit einen Korridor von Fallgestaltungen an, in Bezug auf die das von ihm anzuwendende Recht – hier: das Verfassungsrecht – sich indifferent verhält. Dass die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts in erster Linie Sache der Fachgerichte ist und nur eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts frühzeitig betont und in ständiger Rechtsprechung immer wieder bekräftigt worden.16 Der damit anerkannte fachgerichtliche Entscheidungsspielraum endet allerdings nach tradierter Auffassung da, wo das (spezifische) Verfassungsrecht beginnt,17 und die Aufgabe, in Fällen konfligierender Grund- und sonstiger 15 BVerfGE 120, 180 (208 f.), mit Verweis auf eine Reihe von – sämtlich nach der von-Hannover-Entscheidung des EGMR ergangenen – Kammerentscheidungen. 16 s. nur BVerfGE 18, 85 (92 f.); 106, 28 (45). 17 BVerfGE 40, 88 (94): „Die Auslegung und Anwendung einfacher Gesetze ist Sache der sachnäheren Fachgerichte. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes verbindlich zu bestimmen . . .“; vgl. auch Christian Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, München 1991, S. 167: „Von einer vorrangigen Zuständigkeit der Fachgerichte in Verfassungsfragen kann nicht die Rede sein“ (Hervorh. i. O.).
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Verfassungsrechte deren jeweilige Reichweite im Verhältnis zueinander zu bestimmen bzw. die Richtigkeit fachgerichtlicher derartiger Bestimmungen zu überprüfen, ist bislang als eine genuin verfassungsrechtliche betrachtet worden.18 Gilt das nun nicht mehr? Zur Lösung welchen Problems dient eine solche innerstaatliche Korridor-Lösung?19 Und wenn der Konflikt zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht für bestimmte Fallkonstellationen von Verfassungs wegen so oder auch anders aufgelöst werden kann, wo finden dann die Fachgerichte, die das einfache Recht bislang nach Maßgabe der berührten Grundrechte ausgelegt haben, den rechtlichen Maßstab, nach dem sie entscheiden, ob die ihnen abverlangte Ab18 Vgl. BVerfGE 108, 282 (294 f.): „Soweit allerdings das Gericht, dessen Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, Grundrechtsbestimmungen unmittelbar selbst ausgelegt und angewandt hat, obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, Reichweite und Grenzen der Grundrechte zu bestimmen und festzustellen, ob Grundrechte nach ihrem Umfang und Gewicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt worden sind. . . . Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden und insbesondere die verschiedenen Funktionen einer Grundrechtsnorm zu erschließen . . . , ist das Bundesverfassungsgericht insoweit im Verhältnis zu den Fachgerichten nicht auf die Prüfung beschränkt, ob diese das Verfassungsrecht willkürfrei zugrunde gelegt haben, sondern hat selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden“. Siehe auch, allgemeiner, zur Befugnis und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die fachgerichtliche Gesetzesauslegung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der damit verbundenen Grundrechtsbeschränkungen zu überprüfen, BVerfGE 97, 21 (27, m. w. N.): „Auslegung und Anwendung des Gesetzes sind vornehmlich Aufgabe der Fachgerichte und werden vom Bundesverfassungsgericht nur darauf überprüft, ob sie Fehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Norm die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt“. 19 Der Senat verweist auf die Dickson-Entscheidung des EGMR (Fn. 13), in der ein Beurteilungsspielraum der nationalen Gerichte anerkannt worden sei, s. BVerfGE 120, 180 (208). Aus dieser Anerkennung folgt allerdings nicht, dass dieser Spielraum vom Bundesverfassungsgericht als ein auch durch die Grundrechte eröffneter bzw. freigegebener Spielraum an die Fachgerichte weitergereicht werden müsste.
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wägung so oder anders ausgeht? Offene Fragen, an deren Beantwortung ich mich nicht versuchen will. Was die Ebene des Konventionsrechts angeht, drängen sich entsprechende Fragen aber nicht auf, und wenn gestellt, sind sie leicht zu beantworten: Konfligierende Konventionsrechte werfen, wenn man sie als kontradiktorisch entgegengesetzte konzipiert, rechtlich ein Problem der Vereinbarkeit mit Art. 53 EMRK und faktisch unnötige und systemstrapazierende Akzeptanzprobleme auf. Eine Korridor-Lösung beseitigt diese Probleme in einer Weise, die sich in die Rechtsprechungstradition des EGMR einfügt und die nationalen Gerichte nicht in ein Maßstabsvakuum, sondern in eine – konventionsrechtlich begrenzte – Freiheit zur Anwendung der Maßstäbe des nationalen Rechts entlässt. Rechtsdogmatische Schwierigkeiten könnten daraus allenfalls für einzelne Vertragsstaaten der Konvention insoweit erwachsen, als sie von der EMRK unabhängige Maßstäbe des nationalen Rechts zur Entscheidung einschlägiger Fälle bislang nicht ausgebildet haben. Diese Schwierigkeiten sind aber nicht unlösbar, und das Konventionsrecht in seiner Eigenschaft als internationales Recht darf ihre Bewältigung dem jeweiligen Vertragsstaat überlassen.
Die indigenen Völker Nordamerikas und das Selbstbestimmungsrecht Von Dieter Dörr, Mainz* I. Einleitung Es mag bei manchen Zuhörern zunächst Verwunderung auslösen, dass die nordamerikanischen Indianer1 Gegenstand eines Vortrags über das Selbstbestimmungsrecht sein sollen. Sind sie denn jemals als Völker oder Nationen angesehen worden, die Träger von Rechten sein können? Wurden sie denn während der Eroberung des nordamerikanischen Kontinents nicht als „Wilde“ oder Barbaren betrachtet, deren Land von den Entdeckern in Besitz genommen werden durfte? Ich möchte Ihnen zunächst belegen, dass die Figur des bzw. der „Wilden“ im 19. Jahrhundert dazu diente, die Herrenlosigkeit der überseeischen Gebiete nachträglich zu begründen und damit die zahllosen Vertragsbrüche gegenüber den indianischen * Erweiterte Fassung des Vortrags, den der Verfasser beim Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek gehalten hat. Der Vortrag beruht auf der Abhandlung „Der schwierige Weg zur Autonomie – Indianernationen in Nordamerika zwischen ,termination‘ und ,self-determination‘“, in: Die Macht des Geistes, Festschrift für Hartmut Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 927 ff. 1 Mir ist die Problematik der Bezeichnung Indianer bewusst. Aber auch der derzeit „politisch korrekte“ Begriff Native Americans ändert an der Benachteiligung nichts und ist aus meiner Sicht wegen der mit „native“ verbundenen Assoziationen ebenfalls fragwürdig. Daher halte ich an der Bezeichnung Indianer fest und fühle mich durch den bekannten indianischen Autor Sherman Alexie bestärkt, der die Debatte um political correctness wie folgt kommentierte: „Indianer nennen Indianer Indianer.“ Er fügte sinngemäß noch hinzu, dass es ihm gleichgültig sei, ob dies „Scheißliberalen“ in Washington gefalle oder nicht.
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Gemeinwesen zu legitimieren. Schon dass so viele Verträge mit den indianischen Gemeinwesen geschlossen wurden, ist weitgehend unbekannt. Dies wird etwa dadurch belegt, wie selten die gesamten sogenannten Kolonialverträge von der völkerrechtlichen Literatur erwähnt werden, und welche Unkenntnis über den Inhalt dieser Verträge leider immer noch herrscht,2 die nicht nur in Nordamerika, sondern ebenso in Afrika und Südostasien geschlossen wurden. Obwohl die meisten dieser Verträge seit geraumer Zeit durch die „Consolidated Treaty Series“3 zugänglich sind, werden sie in der völkerrechtlichen Literatur inhaltlich kaum berücksichtigt; wohl auch deshalb, weil genauere Vorstellungen über den historischen Ablauf der europäischen Expansion nach Übersee gänzlich fehlen oder grob fehlerhaft sind. Zudem widerlegt die Existenz der Kolonialverträge zahlreiche liebgewonnene Darstellungen der Völkerrechtsgeschichte, nämlich die Lehre von der Völkerrechtsgemeinschaft der „civilized nations“ im 17. und 18. Jahrhundert und dem freien Okkupationsrecht bezüglich aller überseeischen Gebiete. Es scheint den Juristen manchmal ebenso schwerzufallen, die historischen Fakten gebührend zu berücksichtigen, wie den Historikern, die einschlägigen juristischen Fragestellungen und Bewertungen zu beachten.4 Nach der Lehre vom freien Okkupationsrecht war die Völkerrechtsgemeinschaft bis Ende des 19. Jahrhunderts mit der Zivilisationsgemeinschaft gleichzusetzen. Dabei werden von den Vertretern der Lehre von der Gemeinschaft der civilized nations alle außereuropäischen Völker jedenfalls bis zum 2 Vgl. etwa Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 638 ff., der die Existenz solcher Verträge zwar beiläufig erwähnt, aber ihren Inhalt vollständig verfehlt, wenn er ausführt, durch solche Verträge seien lediglich Eigentumsrechte, aber niemals Souveränitätsrechte übertragen worden. 3 Clive Parry, The Consolidated Treaty Series, Special Chronology 1648 – 1920, Vol. 1, 2. 4 Dazu Hartmut Schiedermair, Die deutsche Frage im Streit der Fakultäten, in: Festschrift für Zeidler, Berlin, New York 1987, S. 1031 ff.
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Ende des 19. Jahrhunderts per se als unzivilisiert angesehen und lediglich die europäischen Staaten und später die USA zu den zivilisierten Nationen gerechnet.5 Wegen des angeblichen Fehlens von technisch-industriellen Errungenschaften wird den eingeborenen Völkern in Amerika, Afrika und Asien auch die Kultur und damit civilization abgesprochen. Dies hat zur Folge, dass sie im Völkerrecht keine Rechtsfähigkeit besitzen und ihnen gegenüber eine Völkerrechtsverletzung gar nicht möglich ist. John Stuart Mill brachte diese Lehre auf einen kurzen und prägnanten Nenner mit dem berühmten Satz: „Barbariens have no right as a nation“.6 Legt man diese Lehre zugrunde, durften alle überseeischen Gebiete frei okkupiert werden, da sie völkerrechtlich herrenlos waren, mag man dies auch im Nachhinein bedauern. Aber war diese Lehre wirklich Grundlage der völkerrechtlichen Praxis? Zweifel sind schon deshalb angebracht, weil sie auf falschen Vorstellungen über die eingeborenen Völker in Nordamerika beruht, von denen manche noch heute glauben, sie hätten gemeinhin als nomadisierende Jäger frei, unabhängig und außerhalb irgendwelcher organisierten Gemeinwesen gelebt. Dazu haben Rousseau,7 Tocqueville,8 Cooper,9 später auch Thoreau10 mit ihrem Bild vom „edlen Wilden“, aus dem aber schnell der Barbar und später der „Rote Teufel“ wurde, maßgeblich beigetragen. In Deutschland ist natürlich Karl May für ganze Generationen Heranwachsender prägend gewesen. 5 Vgl. zu dieser Lehre vor allem Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, Stuttgart 1984, S. 349 ff.; Grewe (Fn. 2), S. 638 ff. 6 John Stuart Mill, A few words on non-intervention, in: Dissertations and Discussions, Political and Historical, Bd. 3, London 1867, S. 153 ff. (168). 7 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principe du droit politique, Amsterdam 1762. 8 Alexis de Tocqueville, De la Democratie en Amérique, Bruxelles 1840, Bd. 1, S. 45 f.; Bd. 3, S. 125 – 130, 146. 9 James Fenimore Cooper, The last of the Mohicans, Philadelphia 1826. 10 Henry David Thoreau, Walden, Boston 1854.
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Die Tatsachen waren allerdings in Nordamerika ganz anders. So wurde die Organisation der Irokesenföderation, die sich selbst als das Langhausvolk bezeichneten und einen Bund von fünf und später sechs Nationen darstellten, von Benjamin Franklin als Vorbild für eine zu schaffende Union der englischen Kolonien, die später mit der Gründung der Vereinigten Staaten verwirklicht wird, angeführt.11 Die Irokesen nehmen noch heute für sich in Anspruch, mit ihrer ungeschriebenen Verfassung die Freiheitsrechte und die Gewaltenteilung lange vor den Vereinigten Staaten und den Europäern verwirklicht zu haben und eines der ältesten Kulturvölker der Erde zu sein.12 Es ist auch unbestritten, dass nicht nur die Irokesen, sondern auch zahlreiche andere nordamerikanische Indianer sesshaft waren, in befestigten Orten wohnten und eine hochentwickelte Landwirtschaft besaßen.13 Das Bild vom nomadisierenden „edlen Wilden“ scheint allenfalls bei oberflächlicher Betrachtung für die Prärieindianer zuzutreffen. Allerdings ist in Nordamerika die Kultur der Prärieindianer erst nach und durch die europäische Einwanderung entstanden. Durch den Druck der Expansion nach Westen wurden die Indianer zunehmend in die Plains abgedrängt, aus Ackerbauern, die auch der Jagd nachgingen, wurden wegen des Wildreichtums in den Prärien reine Jägerkulturen. Die Pferde, die von den Spaniern nach Amerika gebracht wurden, machten es möglich, die unendlichen Bisonherden viel erfolgreicher zu jagen als vorher. Allerdings lebten auch 11 Vgl. Benjamin Franklin, Brief an Mr. Parker vom 20. März 1751, abgedruckt in: Henry C. Dennis, The American Indian 1492 – 1976, Dobbs Ferry 1977, S. 14. 12 Vgl. Ein Ruf zur Einsicht. Die Botschaft der Irokesen an die westliche Welt, Brühl 1984, S. 14 und 24 f.; vgl. dazu die ungeschriebene Verfassung in der allerdings historisch umstrittenen, ins Deutsche übertragenen Fassung, Gaianerekowa, Das große Friedensgesetz des Langhaus-Volkes (Irokesenbund), redigiert und hrsg. von Frank Wagner, Saarbrücken 1988. 13 Dazu Georg Frederici, Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer, Neudruck der Ausgaben 1925 – 1936, Bd. 2, Osnabrück 1969, S. 326 ff. m. w. N.; Robert F. Sayre, Thoreau and the American Indians, Princeton 1977, S. 1 ff.
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diese Jägerstämme in hochentwickelten Gemeinwesen mit föderalen Organisationsstrukturen.14 Obwohl die Lehre von der Gemeinschaft der civilized nations, die die außereuropäischen Gemeinwesen aus dem Völkerrecht ausklammert, also auf falschen Voraussetzungen beruhte, schließt dies noch nicht aus, dass sie Grundlage des geltenden Völkerrechts gewesen ist.
II. Die ursprüngliche Staatenpraxis in Nordamerika Allerdings kommen demjenigen, der sich mit den Darstellungen der Völkerrechtsgeschichte nicht begnügt, sondern die Quellen zu Rate zieht, bereits nach kurzer Zeit durchschlagende Bedenken. Für das Völkerrecht ist auch und vor allem die Staatenpraxis von entscheidender Bedeutung.15 Die Praxis der europäischen Staaten und der USA, mit außereuropäischen Gemeinwesen Verträge zu schließen, steht zu der Lehre vom schrankenlosen Okkupationsrecht und von der Rechtlosigkeit der sogenannten Wilden von Anfang an in einem unauflöslichen Widerspruch. Bemerkenswert ist dabei, dass die europäischen Staaten zu Beginn der Besiedlung Nordamerikas die indianischen Gemeinwesen als voll souveräne Nationen behandelten. Dies hatte verschiedene Ursachen. Zum einen stellten die durchaus effektiv organisierten indianischen Föderationen an der Ostküste, mit denen die englischen Siedler zunächst in Kontakt traten, eine ernstzunehmende militärische Bedrohung dar. Zum anderen bestand ein erheblicher Gegensatz zwischen den 14 Vgl. z. B. zu den Sioux (Lakota, Dakota und Nakoto), die zu Unrecht als Paradebeispiel für die nomadisierenden Wilden gelten, Royal B. Hassrick, Das Buch der Sioux, Köln 1982; zu den Cheyenne Indians siehe Karl H. Schlesier, Die Wölfe des Himmels, Welterfahrung der Cheyenne, Köln 1985. 15 So z. B. zu Recht Hartmut Schiedermair, Effektive Herrschaftsgewalt und Rechtsfähigkeit im Völkerrecht, in: JA 1984, S. 638 ff. (639); ICJ Reports 1949, 179.
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unterschiedlichen europäischen Mächten, die in Nordamerika Fuß fassen wollten, also zwischen Frankreich, England, Spanien und zu Beginn auch den Niederlanden. In dem lange währenden Konflikt zwischen England und Frankreich stellte die Irokesenföderation den dritten Machtfaktor dar, was beispielhaft daraus erhellt wird, dass König Ludwig XIV. nicht etwa England, sondern die Irokesenföderation als den gefährlichsten Gegner Frankreichs in der neuen Welt bezeichnete.16 Insgesamt lebten in Nordamerika zur Zeit, als die ersten Siedler an der Ostküste eintrafen und als die Engländer ab 1607 in Jamestown die erste ständige Kolonie gründeten, nach den neuen Forschungsergebnissen ca. sieben bis zehn Millionen Indianer,17 die in ca. 500 unterschiedlichen Gemeinwesen organisiert waren. Schon kurz nach dem ersten Kontakt mit den Europäern erlitten die mächtigen, heute nahezu vollständig vergessenen Föderationen – nur deren Namen leben in den Orten und Regionen fort – an der Ostküste dramatische Bevölkerungsverluste, die vor allem durch die eingeschleppten Zivilisationskrankheiten wie Masern und Pocken bedingt waren. Oft starben innerhalb weniger Jahre nach der Kontaktaufnahme bis zu 80 % der Bevölkerung. Dies war eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Trotzdem stellten die indianischen Gemeinwesen zunächst weiterhin einen wichtigen Machtfaktor dar. Dies ging so weit, dass die Franzosen mit der Irokesenföderation und anderen indianischen Gemeinwesen von 1540 bis 1763 häufig Verträge schließen mussten, die nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach den Vorstellungen der indianischen Vertragspartner entsprachen. So wurden zwar mit den vier westlichen Irokesennationen bereits 1665 schriftliche Verträge abgeschlossen und auch der sogenannte „große Frieden“ mit der Irokesengesamtnation von Ende 1700 wurde in Schriftform abgefasst und sogar ratifiziert. Bemerkenswert ist Vgl. Frederici (Fn. 13), S. 364 f. Vgl. dazu James Wilson, The Earth Shall Weep, A History of Native America, London 1998, S. 18 ff. m. w. N. 16 17
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aber, dass bei den Vertragszeremonien eindeutig indianische Elemente überwogen. So prägten der bei den Indianern übliche Austausch von Wampun-Gürteln, das Rauchen der Tabakspfeife, Teile der sogenannten Kondolenz-Zeremonie und ritualisierte Festessen und Tänze den Vertragsverkehr. Insgesamt waren diese Verträge für die Beziehungen Frankreichs mit den indianischen Nationen in „Nouvelle France“ von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die indianischen Nationen waren wichtige Alliierte oder zu fürchtende Feinde. Frankreich erkannte die Völkerrechtsfähigkeit der Indianernationen ohne weiteres an. Ebenso war der Inhalt der geschlossenen Verträge eindeutig völkerrechtlicher Natur; es handelte sich meist um Friedens-, Freundschafts- und Handelsverträge.18 Auch die Engländer schlossen zahlreiche Verträge mit den unterschiedlichen indianischen Gemeinwesen. Diese Verträge dienten einmal dazu, Landabtretungen zu erreichen und die Grenzen zwischen den indianischen Gemeinwesen und den englischen Kolonien festzulegen. Zum anderen versuchten die Engländer ebenso wie die Franzosen, wichtige indianische Gemeinwesen als Bündnispartner zu gewinnen.19 Erst nach dem Sieg über die Franzosen im 7-jährigen Krieg, der in Nordamerika als „french and indian war“20 bezeichnet wird, begannen sich die Verhältnisse langsam zu ändern. Allerdings versuchten wichtige indianische Persönlichkeiten diese Änderung aufzuhalten. Die Irokesenföderation hatte ihre Stellung als dritter Machtfaktor verloren, da diese durch den eng18 Vgl. dazu eingehend Christophe N. Eick, Indianerverträge in Nouvelle-France, Ein Beitrag zur Völkerrechtsgeschichte, Berlin 1994, 3. Kapitel. 19 Vgl. etwa Treaty of Peace and Alliance zwischen Virginia und den Panumkey, Waonoke (Roanoke), den Hattoways und Naneymond vom 29. Mai 1677 (!), 14 CTS 255 und Treaty of Alliance and Commerce zwischen Großbritannien und der Cherokee Nation vom 20. September 1730, 33 CTS 277. 20 Vgl. zur Rolle der Indianer in diesem Krieg Francis Jennings, Empire of Fortune: Crowns, Colonies and Tribes in the Seven Years War in America, New York 1988.
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lisch-französischen Gegensatz bedingt war. Bei den Stämmen im Nordwesten kam es unter dem Eindruck des Visionärs Neolin vom Volk der Delawaren zu einer auch religiös motivierten Erneuerungsbewegung, die darauf hinauslief, zu den indianischen Werten und der ursprünglichen Lebensweise zurückzukehren und das Land gemeinsam gegen die expandierenden Kolonien zu verteidigen. Bei Tausenden von Senecas (eine der sechs Irokesennationen), Delawares, Ottawas und Chippewas sowie zahlreichen anderen Stämmen fiel diese Botschaft auf fruchtbaren Boden. Der nachfolgende Aufstand von 18 vorher meist mit den Franzosen verbündeten indianischen Nationen unter Pontiac21, bei dem die Engländer auf ausdrücklichen Befehl des Oberkommandierenden Lord Jeffrey Amherst gegen die Indianer mit Pocken verseuchte Decken einsetzten, die den Stämmen bei Verhandlungen geschenkt wurden, dauerte teilweise bis 1766 und war anfangs überaus erfolgreich. Die Indianer eroberten neun britische Forts, und über 2000 Siedler, die meist illegal im Indianergebiet Landnahme betrieben hatten, verloren ihr Leben. Als sich aber unter den Indianerstämmen die Pockenepedemie rasend ausbreitete und die Briten in massivem Umfang Truppen einsetzten, wendete sich der Kriegsverlauf. In den nachfolgenden Friedensverträgen vom September 1764 in Detroit und 1766 in Oswego mussten die indianischen Stämme so etwas wie eine britische Oberhoheit anerkennen, indem König Georg III. als ihr Vater und nicht mehr als ihr Bruder bezeichnet wurde. Insbesondere unter dem Eindruck dieser kriegerischen Auseinandersetzungen, die für die englische Krone auch sehr kostspielig waren, verkündete der englische König Georg III. aber bereits 1763 in seiner Royal Proclamation, dass die Indianer ein uneingeschränktes Recht auf das von ihnen bewohnte Land besäßen. Dieses Land dürfe nur von der Krone mit voller Zustimmung der Indianer erworben werden. In der Royal Proclamation erklärte er den Kamm der Appalachen zur 21
Vgl. dazu Wilson (Fn. 17), S. 126 ff.
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Grenzlinie zwischen den indianischen Gebieten und den englischen Kolonien. Dies sollte einmal dazu dienen, die Kontrolle über die Kolonien zu behalten und zu effektivieren und eine ungeregelte Ausweitung der Siedlungen ins Landesinnere zu verhindern. Zum anderen sollten weitere Konflikte mit den verbündeten indianischen Nationen im damaligen Westen vermieden werden. Diese Royal Proclamation stieß auf den erbitterten Widerstand der auf Expansion ausgerichteten Kolonien und wird nicht zu Unrecht als eine wichtige Ursache für die Entfremdung zwischen den Kolonien und dem Mutterland angesehen. Schon während und erst recht nach dem Unabhängigkeitskrieg übernahmen die Vereinigten Staaten die Praxis des Vertragsschließens.22 Die indianischen Stämme und Nationen stellten wegen des britisch-amerikanischen Gegensatzes, der über den Unabhängigkeitskrieg hinaus fortdauerte, weiterhin einen nicht unwichtigen Machtfaktor dar. Nach dem Unabhängigkeitskrieg kam es im damaligen Nordwesten in Folge der anhaltenden Expansion zu einer langwierigen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den USA und den dortigen verbündeten indianischen Stämmen und Nationen, dem Krieg um die Ohio-Grenze, der von 1789 bis 1795 dauerte und zu dessen Beginn die verbündeten Indianerstämme ganz erstaunliche militärische Erfolge verzeichneten, die weit größere Bedeutung als die in der Wildwestromantik verklärte „Custer-Schlacht“ bzw. „Schlacht am Little Bighorn“ von 1876 hatten. Der Ohio-Krieg endete allerdings mit einer Niederlage der verbündeten indianischen Stämme und Nationen, und der nachfolgende Friedensvertrag zwischen den USA und den unterschiedlichen indianischen Gemeinwesen diente dazu, die Grenzen neu festzulegen und deutlich nach Westen zu verschieben. Die Vereinigten Staaten erhielten von den verbünde22 Vgl. etwa den Fort Pitt Treaty zwischen den USA und der Delaware Nation vom 17. September 1778, 47 CTS 85; Fort Stanwix Treaty zwischen den USA und den Six Nations (amerikanische Bezeichnung für die Irokesenföderation) vom 22. Oktober 1784, 49 CTS 167.
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ten Stämmen ein Gebiet von rund 25000 Quadratmeilen, also etwas mehr als der Staat West Virginia umfasste.23 Allerdings lebte der unter Pontiac entstandene Bündnisgedanke bei den Stämmen und Nationen im damaligen Nordwesten fort. Tecumseh,24 die wohl auch politisch bedeutsamste Persönlichkeit der Indianer in Nordamerika, versuchte nach 1795 mit Hilfe seines Bruders Tenskwautawa, allgemein als der „Prophet“ bekannt, ein allgemeines Bündnis aller großen Indianernationen zustande zu bringen. Er reiste ab ca. 1806 unermüdlich zu allen großen Stämmen, auch zu den bedeutenden Föderationen im Süden. Seine Idee bestand darin, mit Unterstützung der Engländer die Vereinigten Staaten der „Erdgeborenen“ (seine Bezeichnung für Indianer) zu errichten. Nicht zu Unrecht ging er davon aus, dass dies die angesichts des fortbestehenden Spannungsverhältnisses zwischen England und den USA und eines ab 1807 erkennbar heraufziehenden Krieges die letzte Chance sei, das Land und die Unabhängigkeit der Indianer zu retten. Ab 1808 nahm die Föderation Gestalt an. Die Entscheidung über die indianische Unabhängigkeit fiel aber kurze Zeit später im Krieg von 1812, der in den USA manchmal auch als zweiter Unabhängigkeitskrieg bezeichnet wird. Man verdächtigte die Briten, die Indianer gegen die USA aufzuwiegeln. Am Beginn des Krieges stand der Versuch der Amerikaner, in Oberkanada einzumarschieren und – wenn möglich – ganz Kanada vom „Joch der britischen Krone zu befreien“. Der Vizegouverneur und militärische Oberbefehlshaber Oberkanadas Isaac Brock stand vor einer an sich unlös23 Vgl. Greenville Treaty zwischen den USA und den Wyandots, Delawares, Shawanoes, Ottawas, Chippewas, Potawatonies, Miamis, Eel Rivers, Weas, Kickapoos, Piankashaws und Kiaskaskias vom 3. August 1795, 52 CTS 437. 24 Der Name bedeutet zweierlei, nämlich „Strahlender Stern“, aber auch „Zum Sprung ansetzender Berglöwe“; zur Rolle und zur Bedeutung Tecumsehs vgl. Glenn Tucker, Tecumseh, Bremen 1956; siehe auch Wilson (Fn. 17), S. 154 f.; R. David Edmunds, Tecumseh and the Quest for Indian Leadership, New York 1984.
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baren Aufgabe. Das Stärkeverhältnis zwischen den Streitkräften betrug ca. zwölf zu eins. Ganz Oberkanada hatte damals 75.000 Einwohner und verfügte über 1.500 reguläre Soldaten, zu denen 2.000 weitere in Unterkanada in der Gegend von Quebec hinzukamen. Vom Mutterland war keine Hilfe zu erwarten, da England in Europa alle Soldaten im Krieg gegen Napoleon benötigte. Dem stand ein Land gegenüber, das damals schon über ca. acht bis neun Millionen Einwohner verfügte. Tecumseh war sich über dieses Stärkeverhältnis nicht bewusst; er sprach stets hoffnungsvoll von der Macht des großen Königs. Trotzdem gelang es Brock und Tecumseh aufgrund ihrer herausragenden Fähigkeiten, die erste amerikanische Invasionsarmee mit ca. 2.500 regulären Soldaten unter Brigadegeneral William Hull aufzuhalten, in Detroit einzuschließen und am 16. August 1812 zur Kapitulation zu zwingen. Weitere Erfolge schlossen sich an. Dies war vor allem den mit England verbündeten Indianerstämmen zu verdanken, die auch alle wichtigen amerikanischen Forts an der Grenze zu Oberkanada eroberten. Tecumseh stand auf dem Höhepunkt seiner Macht; Angehörige aus 32 Stämmen waren in seiner für die Verhältnisse im Nordwesten durchaus bedeutsamen Streitmacht von bis zu 3.000 Kriegern vertreten. Er widersprach in vielerlei Hinsicht den Vorstellungen, die klischeehaft mit den Indianern verbunden werden und hatte genaue Vorstellungen über Militärstrategien. Zudem trug Brock, einer der fähigsten englischen Offiziere, entscheidend zu den Anfangserfolgen bei, die in England als hervorragendster Erfolg mit den geringsten Mitteln, von denen die Geschichte weiß, gefeiert wurden. Brock wurde in London zum Ritter ernannt, sollte dies aber nie mehr erfahren, da er in einer erfolgreichen Schlacht fiel. Sein unfähiger Nachfolger Proctor machte alle Pläne Tecumsehs zunichte. Am 10. September 1813 fand das für den Nordwesten entscheidende Gefecht nicht auf Land, sondern zwischen den beiden Flotten auf dem Eriesee statt, das zu Gunsten der Amerikaner ausging. Beim Rückzug der Engländer, dem sich Tecumseh nur widerwillig anschloss, kam es in Kanada am Themse River am 5. Oktober zur Schlacht. Die
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britischen Truppen verließen schon nach wenigen Minuten fluchtartig das Schlachtfeld mit dem unfähigen Procter an der Spitze, während die Indianer bis zum Einbruch der Dunkelheit den zahlenmäßig weit überlegenen Amerikanern heldenhaft Widerstand leisteten. Tecumseh wurde in dieser Schlacht getötet; sein Leichnam wurde nie gefunden. Mit Tecumsehs Tod war der Traum von einem eigenen Reich der verbündeten Indianerstämme zu Ende. Wenn Brock nicht bereits 1812 gefallen wäre, hätten die Briten und verbündeten Indianer den Nordwesten eventuell solange halten können, bis Wellingtons Truppen 1814 aus Spanien nach Übersee kamen. Dann hätte eventuell die Chance bestanden, trotz der militärischen, vor allem bewaffnungsmäßigen Unterlegenheit – Tomahawks, Pfeil und Bogen konnten sich nicht mit amerikanischen Kanonen messen – einen Staat der verbündeten Indianer unter dem Schutz der englischen Krone und Kanadas nördlich des Ohio aufzubauen. Sein großer Gegenspieler William Henry Harrison, der im Jahr 1841 Präsident wurde, aber schon 31 Tage nach der Amtseinführung starb, schrieb am 7. August 1811 an den amerikanischen Verteidigungsminister über Tecumseh: „Die unverbrüchliche Treue und Achtung, die Tecumsehs Anhänger ihm beweisen, ist tatsächlich erstaunlich, und sie ist mehr als alles andere der Beweis dafür, dass er einer jener ungewöhnlichen Genies ist, die zu Zeiten auftauchen, um Revolutionen hervorzurufen und die bestehende Ordnung niederzureißen. Wenn er nicht in der Nachbarschaft der Vereinigten Staaten lebte, würde er vielleicht der Gründer eines Reiches werden, das an Ruhm mit Mexiko oder Peru wetteifern könnte“. Was er zusammen mit Brock erreicht hatte, war, dass Oberkanada der britischen Krone erhalten blieb, obwohl der Verlust 1812 schon fast als beschlossene Sache erschien.
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III. Die Vormachtstellung der USA und die Lehre von den inländischen abhängigen Nationen 1. Die Umsiedlungspolitik unter Präsident Jackson Bei den Friedensverhandlungen 1814 in Gent forderten die Briten noch eine gewisse Zeit die Schaffung eines indianischen Pufferreiches nördlich des Ohio, zwischen den USA und Oberkanada. Sie gaben die Forderung aber schließlich auf. Durch den Friedensvertrag von Gent wurde daher die Vormachtstellung der USA gegenüber den indianischen Gemeinwesen begründet. Sie bedeuteten seit dieser Zeit keine ernsthafte militärische Bedrohung mehr für die USA. Dies änderte aber nichts daran, dass die USA mit diesen Gemeinwesen weiter durch Verträge wie mit anderen Staaten verkehrten. Die Verträge wurden aber nunmehr dazu eingesetzt, indianische Landrechte zu löschen, und ganze Stämme umzusiedeln. Es begann das Zeitalter der sogenannten removal policy. Diese Politik wurde vor allem durch den sogenannten Grenzer-Präsidenten Andrew Jackson25 mit unerbittlicher Härte und Grausamkeit verfolgt. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die „zivilisierten Weißen“ mit den „wilden Indianern“ nicht friedlich zusammenleben könnten. Daher müssten alle Indianer aus dem Gebiet östlich des Mississippi zwangsumgesiedelt und in das sogenannte „Indian Territory“ verbracht werden, ein Gebiet, das die heutigen Staaten Kansas und Oklahoma umfasste. Im Mai 1830 verabschiedete der Kongress den Indian Removal Act, der diese Politik umsetzte. Damit wurden nicht nur die kläglichen Reste der unter Tecumseh verbündeten und bis 1814 noch mächtigen Stämme des alten Nordwestens, sondern pikanterweise in erster Linie diejenigen indianischen Gemeinwesen Opfer der removal policy, die von den USA selbst als die „Five Civilized Tribes“ bezeichnet wurden. Diese Vertreibung aller Indianer nach Westen hatte Tecumseh in seinen Reden stets vorausgesagt. Betroffen waren die hochentwickelten und der europäischen Lebensweise angepassten südlichen 25
Andrew Jackson war Präsident von 1829 – 1837.
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Stämme, nämlich die mächtige Creek-Konföderation im heutigen Alabama und Georgia, die Chickasaws und Choctaws in Mississippi und Louisiana, die Cherokee im Westen North Carolinas, im östlichen Tennessee und in Teilen Georgias sowie die Seminole in Florida. Teilweise wurden den genannten Stämmen mit militärischem Druck Verträge aufgezwungen, bei anderen setzte man sich über die bestehenden Verträge einfach hinweg. Trauriger Höhepunkt dieser Vertreibungs- und Zwangsumsiedlungsaktion war der „Trail of Tears“ der Cherokee ins heutige Oklahoma, bei dem mindestens ein Drittel der Cherokee, einem Gemeinwesen mit hochentwickelter Landwirtschaft, beachtlichem Wohlstand und einem ausgeklügelten Regierungssystem, ums Leben kam.26 Interessant ist, dass sich die Cherokee gegen das aufziehende Unrecht auf eine Weise zur Wehr setzten, die mit unserem Bild der Indianer in Nordamerika nur schwer in Einklang zu bringen ist. Sie riefen nämlich den US-Supreme Court an, der in den beiden Entscheidungen „Cherokee Nation v. Georgia“27 und „Worcester v. Georgia“28 den Status der Indianernationen einer Klärung zuzuführen versuchte. Auf diese Entscheidungen wird noch zurückzukommen sein. Lediglich die Seminole in Florida setzten sich gegen die drohende Zwangsumsiedlung militärisch zur Wehr. In den drei Seminolenkriegen, die bis 1858 andauerten, gelang es den US-amerikanischen Truppen trotz ungeheurem Einsatz an Geld und Material nicht, den Widerstand der Seminole, die sich in die Everglades in Florida zurückzogen, zu brechen. Auch nach dem Tod ihres legendären Häuptlings Osceola, der bei Verhandlungen unter weißer Flagge widerrechtlich gefangen genommen wurde und kurze Zeit später im Gefängnis starb, setzten sie den Guerillakrieg fort. Allerdings wurden diejenigen Seminole, die in amerikanische Gefangenschaft gerieten, nach Oklahoma zwangsumgesiedelt. Schließlich gaben die USA den Krieg auf, da er 26 27 28
Vgl. dazu Wilson, (Fn. 17), S. 132 ff. m. w. N. 30 U.S. (5 Peters) 1 (1831). 31 U.S. (5 Peters) 512 (1832).
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ungeheuer kostspielig und verlustreich war. Die Nachfahren der Seminole, die bis zum Schluss erfolgreich Widerstand leisteten, leben weiterhin in Florida in Reservaten am Rande der Everglades und haben es durch Spielcasinos zu einem beachtlichen Wohlstand gebracht. Sie sind noch heute stolz darauf, nie einen Friedensvertrag mit den USA geschlossen zu haben und nie militärisch besiegt worden zu sein. 2. Die Rechtsprechung des US-Supreme Court Der US-Supreme Court hat in den Jahren 1823 – 1832 in drei wichtigen Entscheidungen29 zum Status der indianischen Gemeinwesen und deren Verhältnis zu den USA Stellung genommen. Diese Entscheidungen sind jeweils von Chief Justice Marshall abgefasst. Er gestand den Indianern ein eigenes Recht auf ihr Land zu30 und bezeichnete die indianischen Gemeinwesen als domestic dependant nations,31 also inländische abhängige Nationen. Die einzelnen Begriffe werden in den Entscheidungen „Cherokee Nation v. Georgia“ 183132 und „Worcester v. Georgia“ 183233 näher erläutert. So weist Marshall zunächst darauf hin, dass die indianischen Nationen und Stämme Staaten seien und besondere, von anderen getrennte politische Einheiten bildeten. Alle europäischen Staaten und die Vereinigten Staaten hätten die indianischen Stämme und Nationen seit der Besiedlung Nordamerikas als Staaten behandelt. Zahlreiche Verträge würden sie als Völker anerkennen, die in der Lage seien, kriegerische und friedliche Beziehungen zu unterhalten.
29 Graham’s Lessee v. M’Intosh, 8 Wheaton 543 (1823); Cherokee Nation v. Georgia, 5 Peters 1 (1831); Worcester v. Georgia, 5 Peters 512 (1832). 30 8 Wheaton 543. 31 5 Peters 1. 32 5 Peters 1. 33 5 Peters 512.
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Allerdings sei das Territorium einer Indianernation bzw. eines Indianerstamms kein Ausland gegenüber den Vereinigten Staaten. Dies folge aus dem Entdeckungsrecht, das von allen europäischen Staaten anerkannt sei und in den Verträgen zwischen diesen Staaten gebilligt werde. Dieses Entdeckungsrecht gebe den USA als Entdeckerstaat im Verhältnis zu allen anderen europäischen Staaten einen exklusiven Titel, das entdeckte Land von den Indianern zu erwerben. Über ihren Boden dürften die Indianer also nicht nach Belieben verfügen, sondern diesen ausschließlich den USA übertragen. Schließlich seien die indianischen Gemeinwesen auch abhängig von den Vereinigten Staaten. Dies würden sie in den meisten Verträgen selbst anerkennen, da sie sich unter den Schutz der Vereinigten Staaten begeben hätten. Zudem stünden die indianischen Gemeinwesen mittlerweile in einem Stadium der Unmündigkeit. Ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten glichen denen eines Mündels zu seinem Vormund. In diesem Zusammenhang erkennt man unschwer die Zivilisationsidee, die ein großer Teil der Völkerrechtslehre, insbesondere Vattel, im 18. und 19. Jahrhundert vertrat. Allerdings hat Richter Marshall die Bedeutung der Aussage, dass es sich bei den indianischen Gemeinwesen um abhängige Nationen handle, in der zweiten Entscheidung wesentlich eingeschränkt. Hier stellt er ausdrücklich fest, dass sich an der Unabhängigkeit und dem Recht der indianischen Gemeinwesen auf Selbstregierung bzw. Selbstbestimmung nichts dadurch ändere, dass sich die Indianer in den Verträgen zunächst unter den Schutz Großbritanniens, und dann unter den Schutz der USA begeben hätten. Nach einem anerkannten Grundsatz des Völkerrechts verliere eine schwächere Macht ihre Unabhängigkeit und ihr Recht auf Selbstregierung nicht dadurch, dass sie sich mit einer stärkeren Macht verbünde und ihren Schutz in Anspruch nehme. Damit wird vor allem in der zweiten Grundsatzentscheidung die Völkerrechtsfähigkeit der indianischen Gemeinwesen, der sogenannten Wilden, ausdrücklich bejaht. Allerdings dürfen diese indianischen Gemeinwesen Außenbeziehungen nur zu dem europäischen Entdeckerstaat
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bzw. nunmehr zu den Vereinigten Staaten und zu keinem anderen Staat unterhalten. Diese Einschränkung folgt nach Ansicht des US-Supreme Court aus dem Entdeckungsrecht, das zwar mit den Vorstellungen des Naturrechts kaum zu vereinbaren sei, aber geltendes Völkerrecht darstelle und das die Indianer hinnehmen müssten. Einerseits wird damit den indianischen Gemeinwesen die Völkerrechtssubjektivität ausdrücklich zuerkannt. Diese unterliegt andererseits aber besonderen Beschränkungen. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und den indianischen Gemeinwesen weisen also nach Ansicht des US-Supreme Court sowohl innerstaatliche als auch völkerrechtliche Elemente auf. Die Stellung der Vereinigten Staaten als Treuhänder der Indianer mit Gesetzgebungsbefugnissen, also ihre Vormundschaftsstellung, wurde von dem US-Supreme Court niemals in Frage gestellt. Demnach deutete und deutet der USSupreme Court auch heute noch die Beziehung zwischen den USA und den Indianernationen als eine Gemengelage von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Staatenpraxis in Nordamerika bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Völkerrechtsfähigkeit der sogenannten Wilden belegt. Diese wurden von Anfang an als fähig angesehen, kriegerische und friedliche Beziehungen zu unterhalten. Außerdem haben die europäischen Mächte und später die USA von Beginn an mit den Indianern Verträge völkerrechtlichen Inhalts auf der Basis der Gleichordnung geschlossen. Mit dieser Praxis haben die Europäer zum Ausdruck gebracht, dass sie die indianischen Gemeinwesen als willens und in der Lage ansahen, ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Diese Einschätzung war auch durchaus zutreffend, da in Nordamerika die Indianer den Grundsatz pacta sunt servanda wesentlich genauer eingehalten haben als die angeblich zivilisierten Europäer und US-Amerikaner, die sich – um es zurückhaltend auszudrücken – nicht gerade durch Vertragstreue auszeichneten.34
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Präsident Jackson war über die zweite Cherokee-Entscheidung entsetzt und beschloss, sie zu ignorieren. Er soll sie mit den Worten kommentiert haben: „Nun gut, Marshall hat seine Entscheidung getroffen. Dann soll er auch sehen, wie er sie durchsetzt.“ 3. Der Vernichtungskrieg gegen die Prärieindianer Nach der removal policy drängten die Siedler immer schneller in die Gebiete westlich des Mississippi, die man für immer den „unzivilisierten“ Indianern vorbehalten wollte. Die Grenzlinie wurde in der Folgezeit daher weiter nach Westen verschoben, den verschiedenen Stämmen wurden ständig weitere Verträge aufgenötigt, in denen sie so lange Land abtraten, bis nichts mehr abzutreten war. Der Widerstand einzelner Stämme, selbst wenn er darauf gerichtet war, die Einhaltung gerade geschlossener Verträge zu gewährleisten, wurde mit allen Mitteln gebrochen. Im Jahr 1851 wurden schließlich in einem umfassenden Vertrag35 mit zahlreichen Indianerstämmen des mittleren und fernen Westens die einzelnen Stammesgebiete genau festgelegt und auch die Grenzen zu den USA beschrieben. Landrechte traten die Indianer an die USA nicht ab. Sie gestatteten lediglich den Bau von Forts, Handelsposten und Straßen in ihrem Territorium. Als aber im heutigen Colorado Gold gefunden wurde, strömten tausende Siedler ins Indianerland. Der Vernichtungskrieg gegen die letzten unabhängigen Prärieindianer36 begann mit dem Massaker von Sand Creek (1864) in Colorado, bei dem Colonel Chivington ein friedliches, hauptsächlich mit Frauen und Kindern besetztes Dorf der Southern Cheyenne angriff. Dabei wurden mindestens 105 Frauen und 34 Es gibt wohl kaum einen Vertrag mit einer Indian Nation, den die USA längere Zeit eingehalten haben. 35 Treaty of Fort Laramy vom 17. September 1851, 11 Stat. 749. 36 Vgl. dazu vor allem Dee Brown, Bury my Heart at Wounded Knee, New York 1970; siehe auch Wilson, (Fn. 17), S. 247 ff.
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Kinder und 28 Männer bestialisch niedergemetzelt. Die Indianer hatten beim Herannahen der Soldaten eine amerikanische Flagge aufgezogen, die dem Häuptling Black Kettle kurze Zeit vorher mit der Bemerkung übergeben worden war, unter ihrem Schutz werde seinem Dorf niemals ein Unheil durch amerikanische Truppen widerfahren. Das Massaker führte zu Rachefeldzügen der mit den Southern Cheyennes verbündeten Northern Cheyennes, Arapahos und Lakotas (Sioux) und gab den USA wiederum einen Grund, auch eine Invasion in das Gebiet der nördlichen Prärieindianer 1865 vorzunehmen. Diese Powder River Invasion in das Land zwischen den Black Hills und den Bighorn Mountains, an der drei Kolonnen der amerikanischen Armee beteiligt waren und die unter dem erklärten Motto stand, die Indianer wie die Wölfe zu jagen und alle über Zwölfjährigen zu töten, erwies sich für die amerikanische Armee als Fiasko. Die Lakotas unter der Führung von Sitting Bull, Red Cloud und Hump und die Cheyennes unter Dull Knife, Little Wolf und Roman Nose griffen die Truppen auf ihren Mustangs an, die viel schneller und wendiger als die Soldatenpferde waren, und waren im Nu wieder verschwunden. Nur ihre weit überlegene Bewaffnung bewahrte die Truppen vor schwersten Verlusten. Zwei Kompanien verloren sämtliche Pferde. Ein Teil der Soldaten musste sich den ganzen Winter 1865 / 66 über in einem Fort verschanzen und wurde von jeglichem Nachschub abgeschlossen, so dass fast die Hälfte der Besatzung verhungerte. Im Jahr 1866 nahmen die amerikanischen Truppen nach erfolglosen Friedensverhandlungen – die Lakotas weigerten sich, das Powder-River-Gebiet abzutreten oder Wegerechte durch dieses Gebiet einzuräumen – eine weitere Invasion in das Powder-River-Gebiet vor. Sie errichteten zwei Forts im Powder-River-Gebiet, dem wichtigsten Jagdgebiet der Lakotas und Northern Cheyenne, um den Weg nach Montana durch das Powder-River-Gebiet, den Bozeman-Trail, gewaltsam durchzusetzen. Aber den Lakotas – bei uns meist als Sioux bezeichnet – und den mit ihnen verbündeten Northern Cheyenne und Arapahos gelang es, sich in einem erbitterten
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Guerillakrieg, in dem der junge Crazy Horse als militärischer Stratege der Indianer eine entscheidende Rolle spielte, erfolgreich zur Wehr zu setzen. Die Forts wurden belagert, alle Versorgungszüge angegriffen. Der Bozeman-Trail blieb unpassierbar. Eine ganze Einheit der Besatzung von Fort Phil Kearny unter dem Befehl von Captain Fetterman wurde von Crazy Horse in einen Hinterhalt gelockt und vollständig vernichtet. Fetterman hatte vorher lautstark geprahlt, dass er mit 80 Mann die ganze Sioux-Bande niederreiten werde. Nach weniger als einer Stunde lagen 80 Soldaten und Fetterman tot in einem kleinen Tal in der Nähe des Forts. Am Ende des Red Cloud War mussten die USA 1868 einen Vertrag mit der SiouxNation (Lakotas) schließen, der – wie es der US-Supreme Court in seiner berühmten Entscheidung „Sioux-Nation v. United States“ im Jahr 198037 ausdrückte – alle Forderungen der Sioux anerkannte und in dem es den USA nicht gelang, auch nur eines ihrer Kriegsziele durchzusetzen. Dieser Vertrag ist noch heute Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Er gestand den Lakotas ein bestimmtes Gebiet als Reservat zu (Great Sioux Reservation) und legte außerdem die Grenzen des außerhalb dieses Reservats liegenden unabgetretenen Indianerlandes fest, das den Lakotas und ihren Verbündeten auf immer zum Jagen und Fischen zustehen sollte. Dieses unabgetretene Gebiet umfasste auch das gesamte Powder-RiverLand. Schließlich wurde festgelegt, dass der Vertrag nur mit Zustimmung von drei Fünfteln aller erwachsenen Lakotas geändert werden dürfe. Eine solche Änderung ist bis heute nicht erfolgt. Das Reservat umfasste etwa die Hälfte des heutigen South Dakota, nämlich vom Missouri River als Ostgrenze den gesamten westlichen Teil, das angrenzende unabgetretene Indianergebiet, nördliche Teile von Nebraska sowie südliche Teile von North Dakota und Montana. Zudem legte der Vertrag zahlreiche Unterstützungsleistungen an die Lakotas fest (Lieferung von Waren, landwirtschaftlichen Gütern usw.), die allerdings in der Folgezeit meist ausblieben oder auf dem Weg 37 Vgl. United States v. Sioux-Nation of Indians, 100 S.C.R. 2716 (1980), 2723 f.
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ins Indianerland in dunklen Kanälen beim sogenannten Indian Ring verschwanden. Der erstaunliche Erfolg der Lakotas war allerdings nicht von langer Dauer, weil im Herzen des Reservats der LakotaNation, in den Black Hills, bei einer widerrechtlichen Expedition des Siebten Kavallerieregiments unter Colonel Custer, der im Bürgerkrieg den Generalstitel erhalten hatte, Gold entdeckt wurde und daher die Siedler in dieses Land drängten. Nachdem die Lakotas sich weigerten, einer Abtretung ihres Gebietes zuzustimmen, wurde ihnen am 9. Dezember 1875 vom Kommissar für indianische Angelegenheiten ein Ultimatum bis Ende Januar 1876 gesetzt, sämtliche unabgetretene Gebiete zu verlassen und zu den im Reservat befindlichen Agenturen zu kommen. Präsident Grant hatte dem erst nach langen Beratungen zugestimmt, weil er wusste, dass es sich um einen klaren Vertragsbruch handelte. Alle sich nicht dort aufhaltenden Indianer würden als Feinde behandelt. Wahrscheinlich erfuhren die meisten außerhalb der Agenturen lebenden und jagenden Lakotas niemals etwas von diesem Ultimatum. Bereits im März begann die Invasion verschiedener amerikanischer Truppen in das Indianergebiet. Drei Armeen sollten die Lakotas, Cheyenne und Arapahos einkreisen und besiegen. Aber es war noch sehr kalt. Daher kam der Vormarsch nur langsam voran. Zuerst setzte sich die Armee von General Crook von Süden kommend in Bewegung. Am 17. März 1876 griff die Vorhut ein Dorf der Northern Cheyennes an, die an einem Seitenarm des Powder River ihr Winterlager aufgeschlagen hatten. Obwohl die Indianer völlig überrascht waren, gelang es ihnen, den Angriff zurückzuschlagen. Aber das Dorf war in Flammen aufgegangen, der gesamte Vorrat vernichtet. Die Cheyennes zogen nach Norden zum Lager von Sitting Bull. Nun waren die Indianer gewarnt. Verzweifelt versuchten sie unter der Führung von Sitting Bull und dem genialen militärischen Taktiker Crazy Horse, ihr letztes großes Jagdgebiet, das Powder-River-Land, zu verteidigen. Es gelang Crazy Horse am 17. Juni 1876, die modern bewaffnete und zahlenmäßig mindestens gleich starke Armee unter
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Führung von General Crook am Rosebud River zu schlagen und zum Rückzug zu zwingen. Nur die angeworbenen indianischen Söldner bewahrten die Amerikaner vor einer Katastrophe. Dies ist umso erstaunlicher, weil die Amerikaner von dem in Indianerkriegen erfahrenen General Crook geführt wurden. Nach diesem Sieg zogen die verbündeten Indianer zum Little Bighorn River. Colonel Custer griff das Lager der Lakotas, Cheyenne und Arapahos am 25. Juni 1876 an. Er teilte seine Siebte Kavallerie in drei Einheiten. Der von Süden angreifende Teil unter Leutnant Reno wurde zurückgeschlagen und musste sich nach schweren Verlusten mit der Nachhut auf einem Hügel verschanzen. Die von Custer geführte Hauptstreitmacht mit 221 Soldaten wurde von den Lakotas und Cheyenne vollständig aufgerieben. Nach der Niederlage Custers wurden den Lakotas ihr unabgetretenes Gebiet und die Black Hills gesetzlich aberkannt38 und jeder weitere militärische Widerstand mit Entschiedenheit gebrochen, was angesichts der zahlenmäßigen und waffentechnischen Überlegenheit der amerikanischen Truppen und der vom Militär schon vorher gezielt geförderten und weitgehend schon erfolgten Ausrottung der Büffel als Nahrungsgrundlage der Präriestämme keine größeren Schwierigkeiten mehr machte. Der bis zum Ende des Krieges ungeschlagene Crazy Horse wurde kurz nach seiner Kapitulation 1877 – seine ca. 800 Gefolgsleute waren dem Verhungern nahe – in Fort Robinson von einem Soldaten ermordet; Sitting Bull gelang es, sich mit zunächst mehreren Tausend Getreuen nach Kanada durchzuschlagen. Dort lebten die Geflohenen unter erbärmlichen Verhältnissen. Nachdem viele Lakotas sich schon vorher in die USA absetzten, kehrte Sitting Bull mit den letzten Getreuen erst 1881 in die USA zurück und lebte im Reservat. Nachdem es 1889 / 1890 zu immer größerer Unzufriedenheit in den Lakotareservaten kam, wurde er von Indianerpolizisten, die ihn im Auftrag der Armeeführung verhaften sollten, im Dezember 1890 kurz vor dem Massaker von Wounded Knee erschossen. 38
Vgl. dazu 19 State 176 und 19 State 254.
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4. Die Politik der erzwungenen Integration Grundlage für das Vorgehen, den Indianern mittels Gesetz ihr Land zu entziehen, bildete das Gesetz vom 3. März 1871, das es ausdrücklich verbot, für die Zukunft mit den Indian Nations and Tribes innerhalb des Territoriums der Vereinigten Staaten Verträge wie mit souveränen Nationen zu schließen.39 Damit war die Zeit, in denen die indianischen Gemeinwesen wie souveräne Nationen behandelt wurden, vorüber. Für die Indianer selbst erlosch der Traum, als unabhängiges Volk nach ihren eigenen Regeln leben zu können, am 29. Dezember 1890 in Wounded Knee. Viele der verbliebenen Prärieindianer, insgesamt lebten im Gebiet der USA nur noch ca. 200.000 Indianer, hatten sich zu dieser Zeit der Geistertanzbewegung angeschlossen, von der man sich versprach, die alten Zeiten zurückbringen zu können. Auf Seiten der Reservatsverwaltungen, vor allem bei den Lakotas in South Dakota, fürchtete man einen drohenden Aufstand und forderte Truppen an. Das neu aufgestellte Siebte Kavallerieregiment, jene Elitetruppe, die unter Führung Custers in der oft nach ihm bezeichneten Schlacht 1876 von den Lakotas nahezu vollständig vernichtet wurde, umzingelte eine große Gruppe von ca. 400 Geistertänzern, darunter viele Frauen und Kinder, und brachte ringsherum neue Schnellfeuerkanonen in Stellung. Anschließend durchsuchten Soldaten das Lager nach Waffen. Es kam zwischen einem Soldaten und einem Indianer zu einem Handgemenge. Der Indianer wollte sein Gewehr nicht hergeben, weil er dafür viel Geld bezahlt hatte. Bei dem Handgemenge löste sich ein Schuss, der niemanden traf. Daraufhin begann ein schreckliches, geradezu unvorstellbares Gemetzel, das lange Zeit in geradezu zynischer Weise als „Battle of Wounded Knee“ bezeichnet wurde. Black Elk, einer der letzten großen Seher und Heiler der Lakotas, der als junger Mann Augenzeuge der Vorgänge war, hat dies mit folgenden Worten beschrieben: „Wenn ich jetzt von diesem hohen Berge meines Alters auf mein langes Leben zurückschaue, dann sehe ich die 39
16 State 566.
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hingemetzelten Frauen und Kinder in Haufen liegen und längs der vielgekrümmten Schlucht verstreut, so deutlich, als erblicke ich sie noch mit jungen Augen. Und ich begreife, dass noch etwas anderes im blutigen Schlamm gestorben und vom Schneesturm begraben worden ist. Der Traum eines Volkes starb dort. Es war ein schöner Traum. [ . . . ] Der Ring des Volkes ist zerbrochen und zerfallen. Es gibt keine Mitte mehr, und der heilige Baum ist tot.“40 Auf der Grundlage der Cherokee-Entscheidungen scheint allerdings nur schwer erklärbar, wie der US-Supreme Court die Praxis, Verträge durch Gesetz abzuändern oder gar aufzuheben, anerkennen konnte. Grundlage dafür bildete einmal die Treuhandthese, die nach Auffassung des US-Supreme Court dem Kongress die Macht gibt, zum Besten der Indianer für diese Gesetze zu erlassen. Zum anderen ging der US-Supreme Court unter Berufung auf die political-question-Doktrin davon aus, dass er nicht befugt sei, die Vereinbarkeit solcher Gesetze mit Verträgen zu überprüfen.41 Der US-Supreme Court hat allerdings in seiner späteren Rechtsprechung den Spielraum für den Gesetzgeber ein Stück eingeschränkt und prüft heute zumindest, ob der Kongress tatsächlich eine Verwaltung zum Besten der Indianer vornimmt.42 Zunächst wurden aber die Gesetze dazu benutzt, die Autonomie der Stämme vollständig zu beseitigen. Die Indianerpolitik Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ging davon aus, dass man im Interesse der Zivilisation alles Unzivilisierte, und d. h. damit alles Indianische, bei den Ureinwohnern beseitigen müsse: „Kill the Indian to save the man“. Ein maßgeblicher Schritt dazu war der General Allotment Act (auch als Dawes Act bezeichnet) von 1887, der das Stammesland auflöste, allen Stammesfamilien jeweils 160 Acres 40 Vgl. Black Elk (Schwarzer Hirsch), Ich rufe mein Volk, Bornheim 1982, S. 250. 41 Vgl. Lone Wolf v. Hitchcock, 23 S.C.R. 216 (1903). 42 Vgl. Shoshone Tribe v. United States, 54 S.C.R. 244 (1937), 253: „Raub ist keine Verwaltung“.
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Land zuerkannte und das verbleibende Reservatsland zum Verkauf anbot. Dabei ging es nicht etwa nur um ein im Ergebnis verheerendes, aber vielleicht doch gut gemeintes Assimilationsprogramm; vielmehr war von Anfang an klar, dass den verbliebenen Stämmen große Teile ihres Landes entzogen werden sollten. Mit diesem Gesetz einher gingen die Verbote, indianische religiöse Praktiken auszuüben. Kinder wurden ihren indianischen Eltern weggenommen und in Missionsschulen verbracht. Dort herrschte ein striktes und mit drakonischen Strafen durchgesetztes Verbot, sich auf indianische Art zu kleiden oder untereinander indianisch zu sprechen. Die Ergebnisse dieser Politik waren niederschmetternd, die Armut in den Reservaten nahm nicht ab, sondern zu, der Alkoholismus hielt in großem Stil Einzug in die Reservate. Viele Indianer waren innerhalb kürzester Zeit sowohl körperlich als auch seelisch zerbrochen. Das zugeteilte Land ging meist schnell verloren. Oft traten es die Indianer unter dubiosen Umständen in Verträgen, die sie nicht verstanden, ab. IV. New Deal und Termination 1. Roosevelt und der „New Deal“ Daher wurde unter Präsident Franklin D. Roosevelt die Indianerpolitik 1934 wiederum geändert. Er schlug auch den Indianerstämmen einen new deal vor. Es kam auf seine Initiative zur Verabschiedung des Indian Reorganization Act, der die indianische Selbstverwaltung wiederherstellen und das zerstückelte Land der Stämme wieder zusammenfassen sollte. Allerdings wurden die ursprünglichen Absichten des Initiators dieses Gesetzes und späteren Commissioners of Indian Affairs John Collier, der an der indianischen Kultur und Geschichte sehr interessiert war, bereits im Gesetzgebungsverfahren wesentlich verwässert und relativiert. Die im Gesetz schließlich vorgesehene Selbstverwaltung beruhte auf Stammesverfassungen, die nach dem Muster der US-Bundesverfassung ergingen und nicht den Traditionen der entsprechenden Stämme ent-
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sprachen. Gerade die ersten Wahlen wurden teilweise in einer Weise durchgeführt, die kaum mit demokratischen Vorstellungen in Einklang zu bringen sind. Daher wurden die Stammesregierungen von vielen traditionellen Indianern als Marionetten der US-Regierung angesehen; dieses Misstrauen gegen die Stammesregierungen und die „oktroyierten“ Stammesverfassungen besteht zu einem nicht unerheblichen Teil bis heute fort. Zudem benötigten die Stammesregierungen für zahlreiche Verträge, Programme und sonstige Maßnahmen die Zustimmung des Bureau of Indian Affairs; sie wurden weiterhin zum Teil als unmündig behandelt. Schließlich sahen und sehen die Reservate im Inneren weiterhin wie Flickenteppiche aus; die besten Ländereien gehören weißen Amerikanern, die sie nach Maßgabe des General Allotment Act vorher erworben haben, oder sind langfristig an weiße Farmer verpachtet. 2. „Termination“ und „relocation“ Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde die Indianerpolitik erneut grundlegend geändert. Diese Politik ist unter dem Namen „Termination“ berühmt und berüchtigt geworden. Dabei fanden sich in der Truman- und Eisenhower-Ära wohlmeinende, aber schlecht informierte Humanisten mit Politikern zusammen, die ganz andere Ziele verfolgten. Die Humanisten wollten durch die „Termination“-Politik Benachteiligungen der Indianer dadurch beenden, dass die aus ihrer Sicht rückständigen Stammeskulturen und die Selbstverwaltung endgültig abgeschafft und die Indianer zu „echten“ Amerikanern gemacht würden. Ihren Unterstützern im mehrheitlich konservativen Kongress ging es teilweise um ganz andere Ziele, nämlich um die immer noch großen indianischen Reservate, die dort liegenden Bodenschätze und auch die Landwirtschaft, die in einigen Reservaten im Zeitalter des new deal unter Roosevelt ganz erstaunliche Fortschritte gemacht hatte. Obwohl der Politik also ein neuer Name, nämlich „Termination“, gegeben wurde, ging es eigentlich um die Rückkehr zur Politik einer erzwungenen Integration, wie sie schon dem Da-
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wes Act von 1887 zugrunde gelegen hatte. Die „Termination“-Politik43, die bereits 1946 in Ansätzen begann und sich ab 1950 zunehmend durchsetzte, wurde endgültig erklärtes Ziel des Kongresses durch die House Concurrent Resolution 108, die im August 1953 angenommen wurde. Darin erklärte der Kongress, dass es sein Ziel sei, die Native Americans (also die Indianer) in den Genuss der gleichen Gesetze und der gleichen Vorrechte und Verantwortlichkeiten wie jeden anderen Bürger der Vereinigten Staaten zu bringen, indem man sie von allen Bundesüberwachungen und Kontrollen befreien würde. Was dies bedeutete, machte der Kongress einige Tage später klar, indem er das „Public Law 280“ annahm, was die Kontrolle der Einzelstaaten – mit wenigen Ausnahmen – in fünf Bundesstaaten auf die Indianer erstreckte und die anderen Einzelstaaten ermächtigte, gleichlautende Gesetze für sich selber zu erlassen. Dies führte dazu, dass allein von 1954 bis 1960 fünfzehn anerkannte Stämme mit Reservationen „beendet“ wurden, meist ohne deren Zustimmung. Manche Stämme erkannten gar nicht, was ihnen geschah, aber einige große Stämme, wie etwa die Menominees in Wisconsin oder die Klamath in Oregon, die über Reservate mit wichtigen natürlichen Ressourcen verfügten, bekämpften die Regierungsentscheidungen über Jahre. Die Termination-Politik führte zu einer erschreckenden Verarmung der Indianer und zu weiteren Landverlusten, was besonders am Beispiel der Klamath für alle deutlich wurde. Dieser vorher wohlhabende Stamm verlor infolge der „Beendigung“ seine Stammesklinik, und ohne Zuwendungen, die es ermöglichten, für Medikamente und Versicherungen zu zahlen, ging es mit der Gesundheit der Bevölkerung dramatisch bergab. Zunehmend war auch zu beobachten, dass es an den öffentlichen Schulen und auch in der staatlichen Wohlfahrtspflege zu massiver Diskriminierung der Klamath-Indianer kam. Als eine Senatskommission das Gebiet der KlamathIndianer 1969 schließlich besuchte, musste sie berichten, dass die „Beendigung“ der Klamath-Reservation in Oregon zu ei43
Siehe dazu Wilson, (Fn. 17), S. 358 ff.
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ner extremen sozialen Entwurzelung und Verarmung aller Stammesmitglieder geführt hatte. Zudem stellte sich heraus, dass die Indianer, die man dazu bewegen wollte, von ihren Stammesgebieten in die Städte umzusiedeln und wie die weißen Amerikaner zu leben, sehr schnell aufgaben und meist als gebrochene Menschen zurückkamen. Daher wurde immer mehr Geld in die sogenannten Relocation-Programme gesteckt, um den Indianern bessere Startchancen in den Großstädten zu geben. Außerdem wurden erneut Indianerkinder gegen ihren Willen in Schulen weit außerhalb der ursprünglichen Stammesgebiete verbracht, das Sprechen der eigenen Sprachen verboten und alle indianischen Sitten und Gebräuche unterbunden.44 Es war eine Zeit der häufig betrunkenen Stadtindianer ohne Hoffnung und Perspektive. Wie schlimm diese Zeit sich auf die Indianer in den amerikanischen Großstädten auswirkte, beleuchtet, dass die durchschnittliche Lebensdauer unter den Indianern in Minneapolis (einer der Großstädte mit dem größten Indianeranteil) 1955 gerade 37 Jahre betrug, gegenüber 68 Jahren für einen normalen Einwohner der Stadt. Es war zu Beginn der 60er Jahre überhaupt nicht mehr zu übersehen, dass die Beendigungs- und Umsiedlungspolitik zu einem Zustand bei den Indianern geführt hatte, der nur als Katastrophe bezeichnet werden konnte. V. Die Politik der Selbstbestimmung 1. Die „Red Power“-Bewegung und ihre Folgen Daher wurde die Politik erneut umgestaltet, was aber erstmals auch darauf beruhte, dass die Indianer begannen, sich selbst politisch zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Der Prozess, der schließlich zur Politik der Selbstbestimmung 44 Vgl. dazu die erschreckende Schilderung der Schulzeit der LakotaIndianerin Mary Crow Dog in: Mary Crow Dog, Lakota Woman, 3. Aufl., München 1995, 3. Kapitel („Zivilisiert sie mit dem Stock“).
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– self-determination policy – führte, war und ist aber ein langwieriger und langsamer. Er begann mit der Wahl von John F. Kennedy zum Präsidenten, der bei vielen Indianern die Hoffnung auf mehr Verständnis mit sich brachte. Da aber die Entwicklung nur schleppend und zögerlich voranging, entstand die Red-Power-Bewegung (American Indian Movement – AIM), die ihren Ausgangspunkt bei den Stadtindianern hatte. Die zornigen jungen Leute verbündeten sich mit den traditionellen Indianern in den Reservaten. Besonders schlimme Zustände herrschten im Pine-Ridge-Reservat in South-Dakota, dessen Stammesregierung hauptsächlich von „Mixed-Blood-Ranchern“ gestellt wurde, weil sich die traditionellen Indianer an den Wahlen zum Stammesrat, die sie meist als Farce ansahen, schon gar nicht beteiligten. Die Stammesregierung begann, traditionelle Indianer und die Aktivisten der Red-Power-Bewegung mit Unterstützung des FBI zu unterdrücken, es kam zu Mordanschlägen und Gewalttaten. Daraufhin besetzten am 27. Februar 1973 die Aktivisten der Red-Power-Bewegung und die traditionellen Indianer den geschichtsträchtigen Ort Wounded Knee, der im Pine RidgeReservat liegt. Es war ungeheuer, welche weltweite Medienaufmerksamkeit diese Besetzung von Wounded Knee nach sich zog. Die Führer der Bewegung wie Russel Means, Leonard Crow Dog, Dennis Banks und der traditionelle „Medizinmann“ Frank Fools Crow,45 ein Neffe des berühmten Black Elk, wurden in Amerika und Europa bekannt. Wounded Knee wurde 71 Tage lang von schwerbewaffneten und teilweise mit Panzerfahrzeugen ausgerüsteten FBI-Marshalls und -Agenten belagert, zwei Besetzer von Wounded Knee wurden erschossen, ein FBI-Agent schwer verwundet. Obwohl nach dieser Besetzung zahlreiche Führer der Red-Power-Bewegung, die von Präsident Richard Nixon als kommunistisch angesehen wurden, verhaftet wurden und eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Lakota-Widerstands, nämlich Leonard Peltier, noch heute aufgrund eines skandalösen Prozesses in 45 Vgl. Thomas E. Mails, Fools Crow, Wisdom and Power, Tulsa 1991; Thomas E. Mails, Das Leben des Fools Crow, Frankfurt a.M. 1996.
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Haft ist46, hatte sie durchaus Konsequenzen. Immerhin machten die Vorgänge im Umfeld von Wounded Knee klar, was die Indianer keinesfalls wollten, nämlich „termination“. Bereits 1970 erklärte Präsident Nixon daher in einer Botschaft an den Kongress, dass die termination policy moralisch und vom Zustand des Rechts her gesehen unakzeptabel sei, vor allem auch deshalb, weil sie in der Praxis schlechte Resultate mit sich bringe. Daher bat er den Kongress, eine Resolution zu verabschieden, die die Integrität und das Existenzrecht aller indianischen Stämme und der eingeborenen Regierungen Alaskas anerkenne und den kulturellen Pluralismus als eine Quelle der nationalen Stärke hervorhebe. Während der Nixon- und Ford-Präsidentschaften gab es weitere ermutigende Zeichen einer langsamen Veränderung der Regierungspolitik. So wurde bereits 1970 von der Regierung beschlossen, dass als Zeichen des guten Willens der heilige „Blue Lake“ dem TaosPueblo-Stamm zurückgegeben werden sollte. Zwei Jahre später verabschiedete der Kongress den „Indian Education Act“, der den Gemeinschaften der Indianer die Möglichkeit gab, eigene Schulen aufzubauen und ein Curriculum vorzusehen, das auch die eigenen Traditionen und die eigene Geschichte widerspiegelt. 1975 kam es dann zu dem bedeutsamen „Indian Self-Determination and Educational Assistance Act“, der allen Stämmen erlaubte, wenn sie dies wünschten, mit der Regierung zu vereinbaren, die sie betreffenden Unterstützungsprogramme selbst zu verwalten. Diese begrenzten Veränderungen sind allerdings weit von den Vorstellungen entfernt, die die Traditionalisten und die Red-Power-Bewegung mit Autonomie, Freiheit und Wiedergeburt ihrer Nationen verbanden. Immerhin stellt die neue Politik eine halbwegs praktikable Alternative zur „Termination“-Politik dar; man sollte aber, auch um falsche Vorstellungen zu vermeiden, besser von Selbstverwaltung (self-adminis46 Vgl. dazu beispielhaft Peter Matthiessen, In the Spirit of Crazy Horse, New York 1992, S. 153 ff.; Leonard Peltier, Prison Writings: My Life is my Sun Dance, New York 1999.
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tration) als von Selbstbestimmung (self-determination) sprechen. 2. Das Selbstverwaltungsrecht und das Recht auf Selbstbestimmung Interessant ist allerdings, dass die neue Politik der USA zunehmend in einen Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gebracht wird, wie es in Art. 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt ist. Schon Präsident Richard Nixon erklärte 1972, dass das Selbstbestimmungsrecht den Schlüssel für die künftigen Beziehungen zwischen den Indianerstämmen und der USRegierung darstelle. Später sprach Präsident Ronald Reagan davon, dass zwischen der US-Regierung und den Indianerstämmen eine Regierung-zu-Regierung-Beziehung (government-to-government-relationship) weiterhin bestehe und aufrechterhalten werden müsse. Noch bemerkenswerter ist, dass Präsident Bill Clinton eine große Zahl indianischer Stammesvertreter 1994 offiziell ins Weiße Haus einlud und bei seiner Ansprache darauf hinwies, dass es das erste Prinzip seiner Regierung sei, die indianischen Werte, Religionen, Identitäten und die Souveränität der Stämme anzuerkennen und er den Willen betonte, dass seine Regierungsvertreter vollständige Partner der Stammesnationen werden. Er werde die Stammesregierungen mit dem gleichen Respekt behandeln, wie die Regierungen der Einzelstaaten.47 Das Justizministerium gab dazu ein Memorandum heraus und betonte, dass die Regierungspolitik auf dem Selbstbestimmungsrecht der Indianerstämme gründe.48 Diese erfreulichen Ansätze haben unter Präsident George W. Bush ein jähes Ende erfahren. Die Unter47 Vgl. Bill Clinton, Remarks to American Indian and Alaska Native Tribal Leaders, April 29, 1994, 30 Weekly Compilation of Presidential Documents, Nr. 18, 941 (942). 48 Das Dokument ist wiedergegeben bei S. James Anaya, Indigenous Peoples in International Law, New York / Oxford 1996, S. 144 Fn. 29.
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stützungsprogramme für die Indianer wurden reduziert, einen besonderen Respekt für das Selbstbestimmungsrecht der Indianer und die kulturelle Eigenständigkeit der Stämme konnte man diesem Präsidenten wahrlich nicht nachsagen. Allerdings gibt es unter dem neuen Präsidenten Barack Obama deutliche Signale für eine Stärkung der indianischen Selbstbestimmung. Die Unterstützungsprogramme sollen ganz erheblich ausgeweitet werden, wichtige Regierungsämter wurden mit Indianern besetzt. Von besonders großer Bedeutung für das Selbstbestimmungsrecht der Indianer ist die schon länger zurückliegende Stellungnahme der amerikanischen Delegation zum HelsinkiSchlussdokument. Dort wird betont, dass der Status der indianischen Stämme und Organisationen von besonderer Natur sei. Dies habe zur Folge, dass die Indianerrechte sowohl unter das Prinzip VII (dort geht es um Minderheitenschutz) als auch unter Prinzip VIII fallen, das ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Gegenstand hat. Die amerikanische Delegation hebt hervor, dass die Indianerstämme eben nicht bloße Minderheiten, sondern auch Völker im Sinne des Selbstbestimmungsrechts seien.49 Es ist hier nicht der Ort, um die Problematik zu vertiefen, was unter einem Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts verstanden werden muss. Insbesondere ist es schwierig, eine klare Abgrenzung zu den Minderheiten und dem Minderheitenschutz des Art. 27 des UNPaktes über bürgerliche und politische Rechte zu finden. Richtig dürfte die Antwort sein, dass eine Gruppe sowohl eine Minderheit als auch ein Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts sein kann. Dies bedeutet aber keineswegs, dass jede Minderheit ein Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts darstellt. Entscheidend ist, dass die Indianerstämme ganz sicherlich die ursprünglichen Bewohner des jeweiligen Landes sind, eine eigene Geschichte aufweisen, sich durch eigene 49 Vgl. dazu eingehend Mark D. Cole, The Right of Self-Determination of Peoples and its Application to Indigenous Peoples in the USA, in: Cole / West, Verfassung und Recht in Übersee, Beiheft 16, Baden-Baden 2000.
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Sprache und Religion auszeichnen und von den USA selbst stets als Völker und Nationen angesehen und behandelt wurden und auch noch werden. Daher steht ihnen das Selbstbestimmungsrecht in seiner defensiven Form durchaus zur Seite; die USA sind im Hinblick auf das von ihnen anerkannte Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr vollständig frei, die Beziehung zu den Indianerstämmen zu gestalten. Das defensive Recht auf Selbstbestimmung gibt den betroffenen Völkern zwar keine Berechtigung zur Sezession, zur Gründung eines eigenen Staates, aber den Anspruch auf weitreichende Autonomie, so sie dies wünschen. Soweit und so lange die USA dieses Recht auf Autonomie beachten und ausbauen, besteht auch keine Gefahr, dass das Selbstbestimmungsrecht in seiner defensiven Form in ein offensives Selbstbestimmungsrecht umschlägt, also über ein Sezessionsrecht diskutiert werden muss. Die Gewährung einer weitreichenden Autonomie ist demnach, wie auch Murswiek50 zu Recht betont hat, die beste Vorsorge gegen Sezessionsansprüche. Wegen der mit den Indianern geschlossenen Verträge und der bestehenden den Indianern vorbehaltenen Gebiete (Reservate) muss sich der US-Supreme Court auch in der Gegenwart häufig mit der Rechtsstellung der indianischen Gemeinwesen in den USA beschäftigen.51 Er geht weiterhin davon aus, dass die Indianerstämme auf ihrem Gebiet wie staatliche Einheiten nicht nur Personalhoheit über ihre Mitglieder, sondern auch Territorialhoheit über das ihnen zugewiesene Territorium besitzen. Diese Stämme sind nach Ansicht des US-Supreme Court auch in der Gegenwart noch ein gutes Stück mehr als private, freiwillige Organisationen. Ihre Hoheitsrechte sind danach nicht lediglich abgeleitete Hoheitsrechte. Zwar besit50 Vgl. Dietrich Murswiek, The Issue of a Right of Secession – Reconsidered, in: Tomuschat (Hrsg.), Modern Law of Self-Determination, Dordrecht 1993, S. 21 ff., S. 39. 51 Vgl. dazu die umfassende Darstellung von Charles Wilkinson, American Indians, Time and the Law, 1987, in der die neue Rechtsprechung von 1959 – 1986 aufgearbeitet wird; dabei werden allein 80 (!) Entscheidungen des US-Supreme Court zum Indian Law aufgeführt.
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zen die Indianerstämme auch solche abgeleiteten Hoheitsrechte, die ihnen durch die amerikanische Gesetzgebung und durch Verträge eingeräumt wurden. Daneben verfügen die Indianerstämme nach Auffassung des US-Supreme Court aber auch über eine inhärente Souveränität.52 Diese besteht noch insoweit, als ihnen hoheitliche Befugnisse nicht ausdrücklich durch Bundesgesetz oder Vertrag entzogen wurden. Sie sind also der Rest jener nach Auffassung des US-Supreme Court früher unbeschränkten Souveränität, die die indianischen Gemeinwesen auf ihrem jeweiligen Gebiet einmal innehatten. Damit erkennt der US-Supreme Court in seiner heutigen ständigen Rechtsprechung die ehemalige Völkerrechtssubjektivität der indianischen Gemeinwesen an und geht darüber hinaus davon aus, dass Reste jener originären Hoheitsgewalt weiter fortbestehen. Demnach enthalten die Beziehungen zwischen den indianischen Gemeinwesen und den Vereinigten Staaten nach der Rechtsprechung des US-Supreme Court noch heute völkerrechtliche Elemente. In der Praxis der Vereinigten Staaten kann also keine Rede davon sein, dass die eingeborenen Völker als rechtlos angesehen und ihre Gebiete als herrenlos behandelt wurden oder werden. Vielmehr gingen die USA von Anfang an davon aus, dass die sogenannten Wilden und ihre Gemeinwesen eigene Souveränitätsrechte über ihr Land besaßen und die USA dieses Land durch Verträge erwerben müssten. Eine ganz andere Frage ist in diesem Zusammenhang, dass diese Verträge mit dem immer größeren Übergewicht der USA vor allem im 19. Jahrhundert in überaus zweifelhafter Weise zustande kamen und die USA sich ständig über die mit den indianischen Gemeinwesen geschlossenen Verträge hinwegsetzten. Aber auch diese Vertragsbrüche versuchte man dann immer wieder durch den Abschluss neuer, wenn auch mit militärischer Gewalt erzwungener Verträge zu rechtfertigen. 52 Siehe z. B. Merrion and Bayless v. Jicarilla Apache Tribe, 102 SCT 894 (1982), 903 ff., 908; United States v. Wheeler, 435 US 313 (1978), 322 f.; umfassend dazu Wilkinson, (Fn. 51), S. 54 ff.
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VI. Ausblick Für den Außenstehenden stellt sich die Situation zunächst einmal so dar, dass das Selbstbestimmungsrecht der Indianerstämme in den USA nunmehr in weitem Umfang verwirklicht und die Zeit der rechtlosen „Wilden“ endgültig vorüber ist. Allerdings wäre dies ein vorschnelles Urteil. Es berücksichtigt nämlich nicht, dass die bestehende Selbstverwaltung der Indianerstämme zum größten Teil immer noch auf dem Indian Reorganization Act von 1934 beruht. Die Stammesverfassungen folgen daher weitgehend einem einheitlichen Muster. Sie entsprechen den europäischen Vorstellungen von Selbstverwaltung, nehmen auf die gewachsenen, ganz unterschiedlichen Strukturen in den verschiedenen Indianerstämmen und Nationen kaum Rücksicht. Daher wird diese Form der Selbstverwaltung von vielen Indianern weiterhin abgelehnt, in zahlreichen Stämmen wurden und werden die Stammesregierungen eher als Marionetten, aber keinesfalls als ein Ausdruck echter Autonomie angesehen. Es gibt weiterhin Indianerstämme, bei denen neben der offiziellen Stammesregierung die historisch gewachsenen traditionellen Einrichtungen fortbestehen. Es wird daher von großem Interesse sein, wie die USA das Konzept der „self-determination“ unter Präsident Obama, auf dem große indianische Hoffnungen ruhen, fortentwickeln. Im Wahlkampf haben sich viele Indianer für Obama engagiert, Obama hat seinerseits das Indian Country bereist und viele Erwartungen geweckt. Unter Präsident Clinton ist den Stämmen die Möglichkeit einer erweiterten Selbstverwaltung eröffnet worden. Man spricht insoweit vom Selbstregierungsprojekt, das seit einigen Jahren als Modell besteht. Von diesem Selbstregierungsprojekt können die Stämme durch Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit der Regierung der Vereinigten Staaten Gebrauch machen. Ein Beispiel dafür bietet etwa die Vereinbarung über Selbstregierung zwischen dem Duckwater Shoshone Tribe und den Vereinigten Staaten. Es fehlen aber noch nachprüfbare Erfahrungen, wie sich dieses Projekt in der Praxis auswirkt. Die entsprechenden Vereinbarungen sollen dazu führen, dass sich alle Beziehungen zwi-
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schen den jeweiligen Stämmen und der Bundesregierung auf einer Regierung-zu-Regierung-Beziehung gründen. Noch wichtiger ist aber, dass den Indianerstämmen in Zukunft ermöglicht wird, die Art ihrer politischen Autonomie selbst zu gestalten. Dabei muss der Grad der Autonomie selbstverständlich auf die konkrete Situation des jeweiligen Stammes Rücksicht nehmen. Es bestehen ganz erhebliche Unterschiede bei der Einwohnerzahl, dem Gebiet und den kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Indianernationen. So umfasst die Navajo-Nation eine Bevölkerung von ca. 200.000 Personen und ihr Gebiet ist so groß wie das von Bayern. Daneben bestehen anerkannte Stämme mit wenigen Hundert eingetragenen Stammesmitgliedern und einem Stammesgebiet, das lediglich die Größe eines Dorfes hat. Von entscheidender Bedeutung ist aus meiner Sicht, dass im Hinblick auf die im Selbstbestimmungsrecht verankerte Autonomie überkommene Strukturen in Zukunft beseitigt werden, etwa die weiterhin bestehenden, aus dem Vormundschaftsdenken begründeten besonderen Befugnisse des Bureau of Indian Affairs (BIA). Außerdem sind die Stammesverfassungen, soweit sie auf dem Indian Reorganization Act beruhen und in enger Kooperation mit dem BIA entstanden sind, zur Diskussion zu stellen. Es muss Sache der jeweiligen Indianerstämme und Nationen selber sein, darüber zu entscheiden, welche Art von Stammesverfassungen sie wählen. Dabei ist es selbstverständlich das Recht der Stammesmitglieder, die bestehenden Strukturen weiterzuführen, aber ebenso, neue, den eigenen Traditionen und der eigenen Geschichte entsprechende Verfassungen zu schaffen. Diese Reformen sind aus meiner Sicht auch deshalb notwendig, weil die tatsächliche Situation in vielen Reservaten weiterhin erschreckend ist. Die ärmsten Kreise in den gesamten USA liegen innerhalb der Indianerreservate, die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation in manchen Reservaten ist erschütternd. Dort ist ein erschreckendes Ausmaß an Resignation und Hoffnungslosigkeit festzustellen, wobei sicherlich die unheilvollen Ergebnisse der Termination-Politik
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noch fortwirken, mit der ein großer Prozentsatz einer gesamten Indianergeneration kulturell und wirtschaftlich vollständig entwurzelt wurde. Zudem fehlt es an einer wirtschaftlichen Basis für die Autonomie, da sich das Land in vielen Reservaten in Folge des General Allotment Act zu einem hohen Prozentsatz – bis zu 90 % – im Eigentum weißer Farmer befindet. Auf der anderen Seite gibt es in manchen Reservaten zumindest Anzeichen dafür, dass die betreffenden Stämme einen eigenen Weg und eine eigene Rolle in der amerikanischen Gesellschaft entdecken und verwirklichen. Insoweit ist vielleicht die Hoffnung nicht ganz unberechtigt, dass die USA doch noch ihre „rote Seele“ wiederentdecken und sich ganz allgemein die Erkenntnis durchsetzt, dass es schon vor Kolumbus auch in Nordamerika Völker mit einer beeindruckenden eigenen Geschichte und einem, dies kann ich aus eigener Erfahrung sagen, interessanten Weltbild gegeben hat und auch noch gibt.
Schriftenverzeichnis von Dietrich Murswiek I. Monographien / selbständig publizierte Schriften 1. Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 343) Duncker & Humblot, Berlin 1978, 276 S. (Dissertation) 2. Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformung. (Schriften zum Umweltrecht Bd. 3) Duncker & Humblot, Berlin 1985, 428 S. (Habilitationsschrift) 3. „Leichtfertigkeit“ in der Schadstoff-Höchstmengenverordnung. Verfassungsrechtliche Grenzen der Interpretation dieses Begriffs und der Konkretisierung der diesbezüglichen Sorgfaltspflichten. (Behrs’s Schriftenreihe Wirtschaftsrecht: Bd. 4 Schriften zum Lebensmittelrecht) Behr’s Verlag, Hamburg 1989, 74 S. 4. Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz. (Themen XLV) Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1989, 51 S. 5. Die Vereinigung Deutschlands. Aspekte innen-, außen- und wirtschaftspolitischer Beziehungen und Bindungen. (Zusammen mit Jürgen Schwarz, Wolfgang Seiffert und Alexander Uschakow) Gebr. Mann Verlag, Berlin 1992, 201 S. [siehe auch II. Nr. 36] 6. Die Entlastung der Innenstädte vom Individualverkehr. Abgaben und andere Geldleistungspflichten als Mittel der Verkehrslenkung. Bd. 1: Die Innenstadtzufahrtsabgabe. Nomos-Verlag, Baden-Baden 1993, 144 S. 7. Umweltschutz als Staatszweck. Die ökologischen Legitimitätsgrundlagen des Staates. (Studien zum Umweltstaat) Economica Verlag, Bonn 1995, IX, 89 S. 8. Möglichkeiten und Probleme bei der Verfolgung und Sicherung nationaler und EG-weiter Umweltschutzziele im Rahmen der europäischen Normung: Einflußmöglichkeiten der nationalen Politik auf die
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Schriftenverzeichnis von Dietrich Murswiek Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen von Normungsprozessen auf der Ebene der Europäischen Union. Rechtsgutachten im Auftrag des Deutschen Bundestages, Büro für TechnologiefolgenAbschätzung (TAB), 1995, 183 S. [als Download verfügbar unter http: //www.jura.uni-freiburg.de/institute/ioeffr3/forschung/papers. php]
9. Peaceful Change – ein Völkerrechtsprinzip? (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 25) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998, 116 S. 10. Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung. Ein Beitrag zur Diskussion um die Verfassungswidrigkeit der wiedervereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen. (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 29) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1999, 75 S. 11. Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, 2. Aufl. 2008, V, 134 S. [als Download verfügbar unter http: //www.jura.uni-freiburg.de/ institute/ioeffr3/forschung/gutachten]
II. Aufsätze, Artikel, Kommentierungen 1. Die Verfassungswidrigkeit der 5%-Sperrklausel im Europawahlgesetz, in: JZ 1979, S. 48 – 53 2. Zugang zum öffentlichen Dienst und Verfassungstreue in England, in: Verfassungstreue im öffentlichen Dienst europäischer Staaten. Von Karl Doehring u. a. Duncker & Humblot, Berlin 1980 (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 379), S. 57 – 91 (zusammen mit Hartmut Schiedermair) 3. Deutschland als Rechtsproblem. Rechtslage und nationale Identität, in: Was ist deutsch? Hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Herder, Freiburg i.Br. u. a. 1980 (Herderbücherei Initiative 39), S. 92 – 107 4. Anmerkung zu: BVerfG, Beschl. v. 22. 5. 1979 – 2 BvR 193 und 197 / 79 – Europawahlgesetz, in: DVBl. 1980, S. 123 – 126 5. Anmerkung zu: BVerfG, Beschl. v. 26. 2. 1980 – 2 BvR 195 / 77 – Ruhen der Rentenansprüche von Deutschen in den Oder-Neiße-Gebieten, in: DÖV 1980, S. 723
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6. Der Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle staatlicher Öffentlichkeitsarbeit. Zum Grundsatz des „judicial self-restraint“, in: DÖV 1982, S. 529 – 541 7. Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 – 548 8. Die Pflicht des Staates zum Schutz vor Eingriffen Dritter nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren unter besonderer Berücksichtigung des Asylrechts. Internationaler Menschenrechtsschutz. Hrsg. von HansJoachim Konrad. Duncker & Humblot, Berlin 1985, S. 213 – 242 9. Systematische Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, in: Gottfried Zieger / Boris Meissner / Dieter Blumenwitz (Hrsg.), Deutschland als Ganzes – rechtliche und historische Überlegungen. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1985, S. 233 – 260 10. Immissionsschutz und Luftbewirtschaftung. Thesenvortrag, in: Rupert Scholz (Hrsg.), Wandlungen in Technik und Wirtschaft als Herausforderung des Rechts. Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Köln 1985, S. 67 – 72 11. Anmerkung zu: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 3. 4. 1985 – 9 S 2913 / 84 (unter dem Titel: Freiheit der Lehre und staatliche Ausbildungsvorschriften), in: Mitteilungen des Hochschulverbandes 1985, S. 268 f., 330 12. Wiedervereinigung Deutschlands und Vereinigung Europas. Zwei Verfassungsziele und ihr Verhältnis zueinander, in: Dieter Blumenwitz / Boris Meissner (Hrsg.), Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1986, S. 103 – 122 13. Die Individualbeschwerde vor den Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention – Zulässigkeitsvoraussetzungen, in: JuS 1986, S. 8 – 10 14. Die Individualbeschwerde vor den Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Verfahren, in: JuS 1986, S. 175 – 179 15. Entschädigung für immissionsbedingte Waldschäden, in: NVwZ 1986, S. 611 – 615 16. Die Haftung der Bundesrepublik Deutschland für die Folgen ausländischer Nuklearunfälle, in: UPR 1986, S. 370 – 379
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17. Zur Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflichten für den Umweltschutz, in: WiVerw 1986, S. 179 – 204 18. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar zur Überschrift, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar). Joachim Heitmann Verlag / Hanseatischer Gildenverlag, Joachim Heitmann & Co., Hamburg 1950 ff. (Loseblattkommentar), [jetzt: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, C. F. Müller, Heidelberg], 52. Lieferung Nov. 1986, 46 S. 19. Anmerkung zu: BVerfG, Beschl. v. 25. 4. 1985 – 2 BvR 617 / 84 – Deutsche Zentrumspartei (Zum inhaltlichen Kontrollrecht öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten gegenüber Wahlwerbesendungen), in: ZParl 1986, S. 362 – 367 20. Belästigung, Artikel in: Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR), I. Band. Hrsg. von Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1986, Sp. 193 – 195. Überarbeitete Fassung in der 2. Aufl. 1994, Sp. 219 – 222 21. Gefahr, Artikel in: Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR), I. Band. Hrsg. von Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1986, Sp. 615 – 625. Überarbeitete Fassung in der 2. Aufl. 1994, Sp. 803 – 814 22. Nochmals: Staatshaftung für Waldschäden? in: NVwZ 1987, S. 481 23. Umweltschutz – Staatszielbestimmung oder Grundsatznorm? in: ZRP 1988, S. 14 – 20 24. Nachteil, Artikel in: Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR), II. Band. Hrsg. von Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1988, Sp. 18 – 20. Überarbeitete Fassung in der 2. Aufl. 1994, Sp. 1431 – 1433 25. Restrisiko, Artikel in: Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR), II. Band. Hrsg. von Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1988, Sp. 267 – 272. Überarbeitete Fassung in der 2. Aufl. 1994, Sp. 1719 – 1724 26. Freiheit und Freiwilligkeit im Umweltrecht. Mehr Umweltschutz durch weniger Reglementierung? in: JZ 1988, S. 985 – 993 27. Technische Risiken als verfassungsrechtliches Problem, in: Raban Graf von Westphalen (Hrsg.), Technikfolgenabschätzung – als politisches Problem –. R. Oldenbourg Verlag, München, Wien 1988, S. 309 – 341; 2. Aufl. 1994, S. 309 – 341 (unverändert)
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28. Anmerkung zu: BVerwG, Urt. v. 29. 4. 1988 – 7 C 33.87 – Feueralarmsirene, in: JZ 1989, S. 240 – 242 29. Grundrechtsdogmatische Fragen gestufter Teilhabe- / Freiheitsverhältnisse, in: Staat und Völkerrechtsordnung. Festschr. f. Karl Doehring. Hrsg. von Kay Hailbronner / Georg Ress / Torsten Stein. Springer-Verlag, Berlin u. a. 1989, S. 647 – 664 30. Ermessenskontrolle / Beurteilungsspielraum / Kontrolle von Prüfungsentscheidungen, in: Entwicklungstendenzen im Verwaltungsverfahrensrecht und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Springer-Verlag, Wien, New York 1990 (Forschungen aus Staat und Recht 89), S. 131 – 152 31. Die Verfassungswidrigkeit des Wahlrechtsstaatsvertrages (Unter dem von der Redaktion gesetzten Titel „Und alles nur, weil die DSU rein, die PDS aber raus soll . . .“ veröffentlicht), in: Frankfurter Rundschau vom 9. August 1990, S. 12 32. Rechtsfragen der Umsetzung des § 19 Abs. 4 WHG in den Ländern, in: NuR 1990, S. 289 – 300 33. Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 48 (1990), S. 207 – 234 34. Umweltschutz (aus verfassungsrechtlicher Sicht), in: Ergänzbares Lexikon des Rechts (Loseblattausgabe). Luchterhand Verlag, Neuwied 1990 35. Grundfälle zur Vereinigungsfreiheit – Art. 9 I, II GG, in: JuS 1992, S. 116 – 122 36. Fragen der innenpolitischen Bindungen im Zusammenhang mit der Überwindung der Teilung Deutschlands, in: Dietrich Murswiek u. a., Die Vereinigung Deutschlands. Aspekte innen-, außen- und wirtschaftspolitischer Beziehungen und Bindungen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1992, S. 9 – 80 37. Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) Bd. V. C. F. Müller, Heidelberg 1992 (unverändert in der 2. Aufl. 2000), § 112, S. 243 – 289 38. Auf dem Weg zu einem ökologischen Recht? (Unter dem von der Redaktion gesetzten Titel „Hoffen auf die große Krise“ und redaktionell gekürzt) in: FAZ v. 26. 10. 1992, S. 38
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39. Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, in: Der Staat 32 (1993), S. 161 – 190 40. Nahverkehrsabgaben – zulässige Instrumente zur Verringerung des Individualverkehrs. Zu einem Rechtsgutachten über die Entlastung der Städte vom Individualverkehr durch Abgaben, in: Der Nahverkehr Heft 5 / 1993, S. 8 – 12 [Zusammenfassender Bericht über Nr. I.6.] 41. The Issue of a Right of Secession – Reconsidered, in: Christian Tomuschat (ed.), Modern Law of Self-Determination. Kluwer Academic Publishers (Martinus Nijhoff Publishers), Dordrecht, The Netherlands 1993, S. 21 – 39 42. Die Problematik eines Rechts auf Sezession – neu betrachtet, in: AVR 31 (1993), S. 307 – 332 [erweiterte deutsche Fassung von Nr. 41] 43. Privater Nutzen und Gemeinwohl im Umweltrecht. Zu den überindividuellen Voraussetzungen der individuellen Freiheit, in: DVBl. 1994, S. 77 – 88 44. Minderheitenschutz – für welche Minderheiten? Zur Debatte um die Einfügung eines Minderheitenartikels ins Grundgesetz, in: Forum für Kultur und Politik, Heft 8 (März 1994), S. 1 – 29 = in: Dieter Blumenwitz / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts. Verlag Wissenschaft und Politik, (Köln) 1994, S. 39 – 61 45. Die Ressourcennutzungsgebühr. Zur rechtlichen Problematik des Umweltschutzes durch Abgaben, in: NuR 1994, S. 170 – 176 46. Freiheit und Umweltschutz aus juristischer Sicht, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat als Zukunft. Juristische, ökonomische und philosophische Aspekte. Ergebnisse des „Ladenburger Kollegs Umweltstaat“. Economica Verlag, Bonn 1994, S. 55 – 67 [im wesentlichen Auszüge aus Nr. 43] 47. Schutz der Minderheiten in Deutschland, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) Bd. VIII. C. F. Müller, Heidelberg 1995, § 201, S. 663 – 692 48. Umweltschutz (aus verfassungsrechtlicher Sicht), in: Ergänzbares Lexikon des Rechts (Loseblattausgabe). Luchterhand Verlag, Neuwied 1996 [überarbeitete und ergänzte Fassung von Nr. 34] 49. Kommentar zu Art. 2 GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, München 1996
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50. Kommentar zu Art. 20a GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, München 1996 51. Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG). Bedeutung für Rechtsetzung und Rechtsanwendung, in: NVwZ 1996, S. 222 – 230 = in: Gesellschaft für Umweltrecht, Dokumentation zur 19. wissenschaftlichen Fachtagung Berlin 1995. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1996, S. 40 – 95 (mit Thesen); Thesen zu dem auf der Umweltrechtlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht am 3. 11. 1995 in Berlin gehaltenen Vortrag auch in: NuR 1996, S. 191 – 193; gekürzte und aktualisierte Fassung in: Monika Bobbert / Marcus Düwell / Kurt Jax (Hrsg.), Umwelt – Ethik – Recht. Francke Verlag, Tübingen 2003, S. 29 – 46 52. Souveränität und humanitäre Intervention. Zu einigen neueren Tendenzen im Völkerrecht, in: Der Staat 35 (1996), S. 31 – 44 53. Ein Schritt in Richtung auf ein ökologisches Recht. Zum „Wasserpfennig“-Beschluß des BVerfG, in: NVwZ 1996, S. 417 – 421 54. Minderheitenfragen und peaceful change, in: Dieter Blumenwitz / Gilbert Gornig (Hrsg.), Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1996, S. 55 – 68 55. Der praktische Fall – Völkerrecht: Botschaftsbesetzung in Banama, in: JuS 1997, S. 153 – 157 56. Die Nutzung öffentlicher Umweltgüter: Knappheit, Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit, in: Rolf Gröschner / Martin Morlock (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs (ARSP Beiheft Nr. 71). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1997, S. 207 – 222 57. Dynamik der Technik und Anpassung des Rechts: Kreislaufgesetzgebung, in: FS für Martin Kriele. Hrsg. von Burkhardt Ziemske u. a., C. H. Beck, München 1997, S. 651 – 676; japanische Übersetzung in: Yokohama Law Review 8 (1999), No. 1, S. 209 – 241 58. Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe. Zur Wirtschafts- und Meinungslenkung durch staatliches Informationshandeln, in: DVBl. 1997, S. 1021 – 1030 59. Der europäische Standard des Volksgruppen- und Minderheitenschutzes im Rahmen des Stabilitätspaktes von Paris. Voraussetzung für die Aufnahme ostmitteleuropäischer Staaten in die Europäische Union?, in: Dieter Blumenwitz / Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Min-
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Schriftenverzeichnis von Dietrich Murswiek derheiten sowie der Vertriebenen (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 16). Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1997, S. 145 – 162
60. Technische Risiken als verfassungsrechtliches Problem, in: Raban Graf von Westphalen (Hrsg.), Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe. R. Oldenbourg Verlag, München, Wien, 3. Aufl. 1997, S. 238 – 265 [überarbeitete und erweiterte Fassung von Nr. 27] 61. Peaceful change – ein derivatives Völkerrechtsprinzip, in: Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, hrsg. Von Karl G. Kick u. a. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft Bd. 102). Duncker & Humblot, Berlin 1998, S. 477 – 494 62. Kommentar zu Art. 2 GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 2. Aufl. München 1999 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 49] 63. Kommentar zu Art. 20a GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 2. Aufl. München 1999 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 50] 64. Umweltschutz als Staatsziel, in: Hisao Kuriki u. a. (Hrsg.), Menschen, Technologie, Umwelt. Tokyo 1999, S. 257 – 276 [Titel der Abhandlung und des Buches aus dem Japanischen übersetzt; abgewandelte und aktualisierte Fassung von Nr. 51 in japanischer Sprache] 65. Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung. Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat, in: Dietrich Murswiek u. a. (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag. (Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 814) Duncker & Humblot, Berlin 2000, S. 307 – 332 66. Rechtsprechungsanalyse: Umweltrecht und Grundgesetz, in: Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 – 283; japanische Übersetzung in: Horitsu Ronso. The Meiji Law Review 75 (2003), S. 153 – 213 67. Das sogenannte Kooperationsprinzip – ein Prinzip des Umweltschutzes?, in: ZUR 2001, S. 7 – 13 68. Parlament, Kunst und Demokratie – zum Selbstverständnis und zur Selbstdarstellung des Bundestages am Beispiel des Kunstprojekts Lichthof Nord, in: Dieter Dörr u. a. (Hrsg.), Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair. C. F. Müller, Heidelberg 2001, S. 211 – 246
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69. Was vom Wiedervereinigungsgebot übrig blieb. Zur Neufassung der Grundgesetzpräambel nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Jörn Ipsen / Edzard Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl. Festschrift für Dietrich Rauschning. Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 2001, S. 57 – 72 70. Das Verhältnis des Minderheitenschutzes zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Dieter Blumenwitz / Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 19) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 2001, S. 83 – 99 71. „Nachhaltigkeit“ – Probleme der rechtlichen Umsetzung eines umweltpolitischen Leitbildes, in: NuR 2002, S. 641 – 648 [Der gleichnamige Vortrag, auf dem diese Abhandlung beruht, ist abgedruckt in: Dieter Cansier u. a. (Hrsg.), Herausforderung Umwelt. Wissenschaftliche Zielkonzeptionen und ihre Umsetzung. Metropolis-Verlag, Marburg 2003, S. 97 – 124] 72. Kommentar zu Art. 2 GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 3. Aufl. München 2003 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 49] 73. Kommentar zu Art. 20a GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 3. Aufl. München 2003 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 50] 74. Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe. Zu der Glykol- und der Osho-Entscheidung vom 26. 6. 2002, in: NVwZ 2003, S. 1 – 8 75. Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, in: NJW 2003, S. 1014 – 1020 [wieder abgedruckt in: Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (Juristische Zeitgeschichte Bd. 14). BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004, S. 285 – 299] 76. Umweltrisiken im amerikanischen Recht: Höhere Rationalität der Standardsetzung durch Kosten-Nutzen-Analyse?, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2003 (UTR 71). Erich Schmidt Verlag, Berlin 2003, S. 127 – 184 77. Der Verfassungsschutzbericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie. Zur Problematik der Verdachtsberichterstattung, in: NVwZ 2004, S. 769 – 778
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78. Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: Dieter Blumenwitz / Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 20) Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 41 – 57 79. Schadensvermeidung – Risikobewältigung – Ressourcenbewirtschaftung. Zum Verhältnis des Schutz-, des Vorsorge- und des Nachhaltigkeitsprinzips als Prinzipien des Umweltrechts, in: Lerke Osterloh / Karsten Schmidt / Hermann Weber (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung. Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag. (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 960) Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 417 – 442 80. The American Strategy of Pre-emptive War and International Law, in: Finnish Yearbook of International Law Vol. XIII (2002). Martinus Nijhoff Publishers, Leiden / Boston 2004, S. 183 – 199 [Ins Englische übersetzte, aktualisierte und ergänzte Fassung von Nr. 75] 81. Meinungsäußerungen als Belege für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung. Zu den rechtlichen Anforderungen und zur Praxis der Verfassungsschutzberichte, in: Stefan Brink / Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 481 – 503 82. Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen Bröhmer u. a., Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 2005, S. 657 – 684 83. Rechtsprechungsanalyse: Ausgewählte Probleme des allgemeinen Umweltrechts. Vorsorgeprinzip, Subjektivierungstendenzen am Beispiel der UVP, Verbandsklage, in: Die Verwaltung 38 (2005), S. 243 – 279 84. Kommentar zur Präambel des Grundgesetzes, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, C. F. Müller Verlag, Heidelberg 1950 ff. (Loseblattkommentar), 119. Aktualisierung September 2005, 262 S. 85. Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht. Konsequenzen aus dem JF-Beschluss des BVerfG, in: NVwZ 2006, S. 121 – 128 86. Die völkerrechtliche Geltung eines „Rechts auf die Heimat“, in: Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek (Hrsg.), Das Recht auf die Heimat. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studien-
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gruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 23) Duncker & Humblot, Berlin 2006, S. 17 – 35 87. Taking Politics Seriously – a View from a Public International Law Perspective, in: Thomas Würtenberger (Hrsg.), Rechtsreform in Deutschland und Korea im Vergleich. (Schriften zum Internationalen Recht Bd. 163) Duncker & Humblot, Berlin 2006, S. 165 – 172 88. Zu den Grenzen der Abänderbarkeit von Grundrechten, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd. II, C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2006, § 28, S. 157 – 219 89. Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt?, in: Der Staat 45 (2006), S. 473 – 500 90. Kommentar zu Art. 2 GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 4. Aufl. München 2007 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 49] 91. Kommentar zu Art. 20a GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 4. Aufl. München 2007 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 50] 92. Zum Grundrecht auf Sicherheit, in: IBZ Internationales Begegnungszentrum der Wissenschaft München e.V., Berichte 2006, München o.J. [2007], S. 32 – 35 93. Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge: verfassungsrechtliche Grenzen und Kontrolle im Organstreit, in: NVwZ 2007, S. 1130 – 1135 94. Der Verfassungsschutzbericht. Funktionen und rechtliche Anforderungen, in: Janbernd Oebbecke / Bodo Pieroth / Emanuel Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz. (Islam und Recht Bd. 6) Peter Lang Verlag, Frankfurt / M. 2007, S. 73 – 89 95. Der Staat als Rechtszustand. Staatstheoretische Assoziationen, in: ZRph 5 (2007), S. 2 – 8 96. Freiheitliche demokratische Grundordnung und Extremismus, in: CDU-Fraktion im Thüringer Landtag (Hrsg.), Politischer Extremismus in aktueller und zeitgeschichtlicher Perspektive: Kriterien – Ausprägungen – Analogien, Erfurt 2008, S. 6 – 12 [download von http: //www.thl-cdu.de/scripts/angebote/1508?layout=5] 97. Eine Prämie auf Interventionskriege. Das Kosovo und seine Sezession: Ein Präzedenzfall wofür?, FAZ v. 27. 3. 2008, S. 8
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98. Verfassungsschutz-Mitarbeit als staatsbürgerliche Obliegenheit?, in: Gilbert H. Gornig u. a. (Hrsg.), Justitia et Pax. Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz. (Schriften zum Völkerrecht Bd. 176) Duncker & Humblot, Berlin 2008, S. 901 – 925 99. Zu den Grenzen der Abänderbarkeit von Grundrechten, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation. Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005. (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 1104) Duncker & Humblot, Berlin 2008, S. 261 – 270 [Zusammenfassende Darstellung von Nr. 88] 100. Das Recht auf Sicherheit, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation. Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005. (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 1104) Duncker & Humblot, Berlin 2008, S. 357 – 368 101. Kommentar zu Art. 2 GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 5. Aufl. München 2009 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 49] 102. Kommentar zu Art. 20a GG, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. C. H. Beck, 5. Aufl. München 2009 [neu bearbeitete Fassung von Nr. 50] 103. Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischen Oberverfassung. Zu den Konsequenzen der Auflösung der Säulenstruktur des Europäischen Union und der Erstreckung der Gerichtsbarkeit des EU-Gerichtshofs auf den EU-Vertrag, in: NVwZ 2009, S. 481 – 486 104. Der Abgeordnete im Organstreit um die Rechte des Bundestages, in: Recht und Politik. Festschrift für Peter Gauweiler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolf-Rüdiger Bub u. a., Luchterhand, Köln 2009, S. 225 – 244 105. Verfassungsschutz durch Information der Öffentlichkeit – Zur Entwicklung der Verfassungsschutzberichte seit dem JF-Beschluss, in: Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2009. Lexxion Verlagsgesellschaft, Berlin 2009, S. 57 – 104
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III. „Entscheidungsanalysen“ im Rahmen der „JuS-Rechtsprechungsübersicht“ 1. EGMR, Urt. v. 28. 6. 1978 – Fall König, in: JuS 1980, S. 59 – 60 2. EGMR, Urt. v. 13. 6. 1979 – Fall Marckx, in: JuS 1980, S. 219 – 220 3. EGMR, Urt. v. 6. 9. 1979 – Fall Klass u. a., in: JuS 1980, S. 291 – 293 4. EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979 – Fall „Sunday Times“, in: JuS 1980, S. 523 – 524 5. UN-AMR, Entsch. v. 3. 4. 1980 – R. 2 / 8 – Fall Lanza, in: JuS 1980, S. 904 – 905 6. IGH, Entsch. v. 15. 12. 1979 – I.C.J. Reports 1979, 7 – und IGH, Urt. v. 24. 5. 1980 – I.C.J. Reports 1980, 3 – Fall des amerikanischen diplomatischen und konsularischen Personals in Teheran, in: JuS 1981, S. 55 – 56 7. EGMR, Urt. v. 24. 10. 1979 – Fall Winterwerp, in: JuS 1981, S. 369 – 370 8. EGMR, Urt. v. 27. 2. 1980 – Fall Deweer, in: JuS 1981, S. 452 – 453 9. EGMR, Urt. v. 13. 5. 1980 – Fall Artico, in: JuS 1981, S. 764 – 765 10. Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 30. 4. 1980 – P 707 / 79 („Auslegende Erklärung“ der Schweiz zu Dolmetscherkosten – Art. 64 EMRK), in: JuS 1981, S. 839 11. UN-AMR, Entsch. v. 8. 4. 1981 – R. 8 / 34 – Fall Landinelli Silva, in: JuS 1982, S. 135 – 136 12. EGMR, Urt. v. 6. 11. 1980 – Fall Oosterwijck, in: JuS 1982, S. 456 – 457 13. UN-AMR, Entsch. v. 29. 7. 1981 – R. 13 / 56 – Fall Celiberti, in: JuS 1982, S. 619 14. EGMR, Urt. v. 13. 8. 1981 – Fall Young, James und Webster, in: JuS 1983, S. 58 – 59 15. EGMR, Urt. v. 23. 6. 1981 – Fall Le Compte u. a., in: JuS 1983, S. 139 – 140 16. UN-AMR, Entsch. v. 28. 10. 1981 – R. 14 / 63 – Fall Sendic, in: JuS 1983, S. 304 17. EGMR, Urt. v. 25. 2. 1982 – Fall Campbell und Cosans, in: JuS 1983, S. 384 – 385
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18. UN-AMR, Entsch. v. 2. 4. 1982 – R. 14 / 861 – Fall Hertzberg u. a., in: JuS 1983, S. 711 19. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7. 3. 1983 – 1 Ws 159 / 83 – und LG Düsseldorf, Urt. v. 10. 3. 1983 – XII – 10 / 83 – Fall Tabatabai, in: JuS 1984, S. 139 – 140 20. BVerfG, Beschl. v. 14. 4. 1983 – 2 BvR 678 / 81 u. a. – National Iranian Oil Company, in: JuS 1984, S. 475 – 476 21. EGMR, Urt. v. 23. 9. 1982 – Fall Sporrong und Lönnroth, in: JuS 1984, S. 966 – 967 22. EGMR, Urt. v. 13. 7. 1983 – Fall Zimmermann und Steiner, in: JuS 1985, S. 55 – 56 23. BGH, Beschl. v. 27. 2. 1984 – 3 StR 396 / 83 – Fall Tabatabai, in: JuS 1985, S. 474 – 475 24. BVerfG, Urt. v. 18.12. 1984 – 2 BvE 13 / 83 – Raketenstationierung, in: JuS 1985, S. 807 – 809 25. EGMR, Urt. v. 26. 3. 1985 – Nr. 16 / 1983 / 72 / 110 – Fall X und Y gegen die Niederlande, in: JuS 1985, S. 905 – 906 26. UN-AMR, Entsch. v. 20. 7. 1984 – R. 19 / 78 – Fall Mikmaq-Stammesgesellschaft, in: JuS 1985, S. 986 – 987 27. EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 – Fall Öztürk, in: JuS 1986, S. 60 – 61 28. EGMR, Urt. v. 28. 11. 1984 – Nr. 9 / 1983 / 65 / 100 – Fall Rasmussen, in: JuS 1986, S. 727 – 728 29. EGMR, Urt. v. 28. 5. 1985 – Nr. 15 / 1983 / 71 / 107 – 109 – Fall Abdulaziz u. a., in: JuS 1987, S. 139 – 141 30. EGMR, Urt. v. 28. 8. 1986 – Nr. 4 / 1984 / 76 / 120 – Fall Glasenapp, und EGMR, Urt. v. 28. 8. 1986 – Nr. 5 / 1984 / 77 / 121 – Fall Kosiek, in: JuS 1987, S. 401 – 402 31. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 3. 6. 1986 – 2 BvR 837 / 85 – (Folgen der völkerrechtswidrigen Festnahme des Beschuldigten für das Strafverfahren), in: JuS 1987, S. 901 – 902 32. BVerwG, Urt. v. 17. 12. 1986 – 7 C 29 / 85 – Kernkraftwerk Emsland, in: JuS 1987, S. 997 – 998 33. UN-AMR, Entsch. v. 18. 7. 1986 – 118 / 82 – (Streikrecht), in: JuS 1988, S. 65 – 66
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34. EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986 – Nr. 5 / 1985 / 91 / 138 – Fall Bozano, in: JuS 1988, S. 148 – 149 35. BVerfG, Beschl. v. 21. 10. 1987 – 2 BvR 373 / 83 – Fall Teso, in: JuS 1988, S. 563 – 565 36. VG Hamburg, Beschl. v. 22. 9. 1988 – 7 VG 2499 / 88 – „Seehunde in der Nordsee“ gegen Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1989, S. 240 – 242 37. BVerwG, Urt. v. 4. 7. 1988 – 7 C 88 / 87 – WAA Wackersdorf, in: JuS 1989, S. 332 – 334 38. BVerwG, Beschl. v. 30. 10. 1987 – 7 C 87 / 86 (Landesrechtliche Erweiterung der abfallrechtlichen Verantwortlichkeit), in: JuS 1989, S. 334 39. BVerwG, Beschl. v. 9. 3. 1988 – 7 B 34 / 88 (Nachträgliche immissionsschutzrechtliche Anordnung), in: JuS 1989, S. 413 40. BVerwG, Urt. v. 29. 4. 1988 – 7 C 33 / 87 – Feueralarmsirenenfall, in: JuS 1989, S. 501 – 503 41. VGH Mannheim, Urt. v. 15. 12. 1987 – 10 S 240 / 86 (Begriff des Inhabers einer Abfallbeseitigungsanlage), in: JuS 1989, S. 676 – 677 42. BVerwG, Urt. v. 19. 1. 1989 – 7 C 82 / 87 (Beseitigungspflicht bei „wildem Müll“), in: JuS 1989, S. 766 – 767 43. BVerwG, Urt. v. 19. 1. 1989 – 7 C 77 / 87 (Öffentlichrechtlicher Abwehranspruch gegen Sportlärm), in JuS 1989, S. 845 – 847 44. BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1988 – 1 BvR 1301 / 84 (Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Verkehrslärm), in: JuS 1989, S. 1022 – 1024 45. BVerwG, Urt. v. 20. 1. 1989 – 4 C 15 / 87 (Erhebung einer naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe von der Bundesrepublik Deutschland), in: JuS 1990, S. 505 – 506 46. VGH Kassel, Beschl. v. 6. 11. 1989 – 8 TH 685 / 89 (Vorbehalt des Gesetzes für die Genehmigung gentechnischer Anlagen), in: JuS 1990, S. 588 – 589 47. BVerwG, Urt. v. 9. 3. 1990 – 7 C 21 / 89 (Planfeststellung für Abfallentsorgungsanlage), in: JuS 1991, S. 428 – 430 48. BVerwG, Urt. v. 31. 10. 1990 – 4 C 7 / 88 (Rechtsfolgen der Verletzung des Mitwirkungsrechts von anerkannten Naturschutzverbänden), in: JuS 1991, S. 518
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49. BVerwG, Urt. v. 15. 12. 1989 – 7 C 35 / 87 (Stillegung einer immissionsschutzrechtlich nicht genehmigten Anlage), in: JuS 1991, S. 519 – 520 50. OVG Lüneburg, Urt. v. 8. 3. 1990 – 3 A 308 / 87 (Anerkennung eines Naturschutzverbandes), in: JuS 1991, S. 612 – 613 51. BVerwG, Urt. v. 27. 7. 1990 – 4 C 26 / 87 (Rechtsschutz gegen umweltbelastende Vorhaben durch „Sperrgrundstück“), in: JuS 1991, S. 1067 – 1069 52. EuGH, Urt. v. 30. 5. 1991 – Rs C-361 / 11 – ; EuGH, Urt. v. 30. 5. 1991 – Rs C-59 / 89 –; EuGH, Urt. v. 28. 2. 1991 – Rs C-131 / 88 – (Mangelhafte Umsetzung von Umweltschutzrichtlinien durch die Bundesrepublik Deutschland), in: JuS 1992, S. 428 – 431 53. BVerwG, Beschl. v. 23. 5. 1991 – 7 C 34 / 90 – (Standortvorbelastung aus dem Tschernobyl-Unfall), in: JuS 1992, S. 439 – 440 54. OVG Lüneburg, Urt. v. 27. 1. 1992 – 3 A 221 / 81 – (Beteiligungsrecht anerkannter Naturschutzverbände), in: JuS 1993, S. 519 – 520 55. VGH Mannheim, Beschl. v. 14. 11. 1991 – 10 S 1143 / 90 – (Keine immissionsschutzrechtliche Genehmigung bei unzulässigem Eingriff in Natur und Landschaft), in: JuS 1993, S. 520 – 521 56. OVG Münster, Beschl. v. 24. 4. 1992 – 7 B 538 / 92 – (Umfang der Mitwirkung der anerkannten Naturschutzverbände), in: JuS 1993, S. 605 – 606 57. OVG Hamburg, Urt. v. 19. 5. 1992 – Bf VI 22 / 88 – (Verfüllen einer Kiesgrube als Eingriff in Natur und Landschaft), in: JuS 1993, S. 699 – 700 58. BVerwG, Urt. v. 9. 7. 1992 – 7 C 21 / 91 – (Verpflichtung zur Gestattung der Mitbenutzung einer Abfallentsorgungsanlage), in: JuS 1993, S. 874 – 875 59. VGH Kassel, Beschl. v. 11. 3. 1993 – 3 TH 768 / 92 – und VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 18. 2. 1993 – 5 L 3261 / 92 – (Schädliche Umwelteinwirkungen durch Mobilfunksender – D1-Netz), in: JuS 1993, S. 1067 – 1069 60. BVerwG, Urt. v. 24. 6. 1993 – 7 C 11 / 92 – und BVerwG, Urt. v. 24. 6. 1993 – 7 C 10 / 92 – (Abfalleigenschaft von unsortiertem Bauschutt und von Altreifen), in: JuS 1994, S. 355 – 357 61. OVG Lüneburg, Beschl. v. 6. 12. 1993 – 6 M 4691 / 93 – (Gesundheitsrisiken durch Mobilfunk – D 2-Netz), in: JuS 1994, S. 618 – 619
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62. VGH München, Beschl. v. 1. 3. 1993 – 20 CS 92.2386 – (Verpflichtung des Deponiebetreibers zur Vorlage einer Sanierungsplanung), in: JuS 1994, S. 1081 – 1082 63. BVerwG, Urt. v. 26. 5. 1994 – 7 C 14 / 93 – (Abgrenzung zwischen Abfall- und Reststoffrecht [hier: Verfüllung eines Tontagebaus]), in: JuS 1995, S. 83 – 84 64. OVG Lüneburg, Urt. v. 25. 4. 1994 – 3 K 1315 / 91 – (Unterschutzstellung eines Landschaftsbestandteils), in: JuS 1995, S. 363 – 364 65. EuGH, Urt. v. 17. 5. 1993 – Rs. C-41 / 91 (Frankreich / Kommission) – (Nichtigkeit der Genehmigungsentscheidung zum deutschen PCPVerbot), in: JuS 1995, S. 452 – 453 66. BVerwG, Beschl. v. 13. 4. 1995 – 4 B 70 / 95 – (Staatsziel Umweltschutz als Schranke der Kunstfreiheit), in: JuS 1995, S. 1131 – 1132 67. VGH Mannheim, Beschl. v. 15. 11. 1994 – 10 S 1769 / 93 – (Rechtmäßigkeit eines abfallrechtlichen Wertstoff-Bringsystems), in: JuS 1995, 1137 – 1138 68. BVerwG, Beschl. v. 8. 11. 1994 – 7 B 73 / 94 – (Bedeutung der Immissionsrichtwerte in der Sportanlagenlärmschutzverordnung), in: JuS 1995, S. 1138 – 1139 69. OVG Koblenz, Beschl. v. 13. 9. 1994 – 7 B 11901 / 94 – (Zulassung einer Kompostierungsanlage), in: JuS 1996, S. 80 – 82 70. BVerwG, Urt. v. 8. 6. 1995 – 4 C 4 / 94 – (Klage gegen straßenrechtliche Planfeststellung), in: JuS 1996, S. 943 – 945 71. BVerwG, Urt. v. 25. 1. 1996 – 4 C 5 / 95 – (Umweltverträglichkeitsprüfung bei Planfeststellung für Autobahn), in: JuS 1997, S. 181 – 182 72. BVerwG, Urt. v. 21. 8. 1996 – 11 C 9.95 – (Entscheidungsumfang und Kontrolldichte bei der atomrechtlichen Änderungsgenehmigung – KKW Krümmel), in: JuS 1997, 568 – 570 73. BVerwG, Urt. v. 6. 12. 1996 – 7 C 64 / 95 – (Anspruch auf schriftliche Mitteilung bestimmter Umweltinformationen), in: JuS 1998, S. 87 – 88 74. BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 17. 2. 1997 – 1 BvR 1658 / 96 – (Schutzpflicht bezüglich elektromagnetischer Felder), in: JuS 1998, S. 184 – 185 75. BVerwG, Urt. v. 14. 1. 1998 – 11 C 11.96 – (Ermittlungs- und Bewertungsdefizit bei Genehmigung eines Kernkraftwerks – Mülheim-Kärlich), in: JuS 1998, S. 855 – 856
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76. BVerwG, Urt. v. 19. 5. 1998 – 4 A 9 / 97 – (Planfeststellung für Ostseeautobahn), in: JuS 1999, S. 301 – 303 77. BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 26. 5. 1998 – 1 BvR 1980 / 88 – (Keine Entschädigung für immissionsbedingte Waldschäden), in: JuS 1999, S. 406 – 408 78. VGH München, Urt. v. 21. 4. 1998 – 20 B 91 / 3253 u. a. – (Planfeststellung für Errichtung eines Müllkraftwerks), in: JuS 1999, S. 718 – 720 79. EuGH, Urt. v. 22. 10. 1998 – Rs. C-301 / 95 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland – Ungenügende Umsetzung der UVP-Richtlinie), in: JuS 1999, S. 827 – 829 80. OVG Schleswig, Urt. v. 17. 4. 1998 – 2 K 2 / 98 – (Naturschutzrechtliche Genehmigung einer Stromleitung), in: JuS 2000, S. 200 – 201 81. VGH Mannheim, Beschl. v. 5. 8. 1998 – 8 S 1906 / 97 – (Überprüfung einer Wasserschutzgebietsverordnung), in: JuS 2000, S. 617 – 619 82. EuGH, Urt. v. 25. 2. 1999 – Rs. C-164 / 97 und C-165 / 97 – (Schutz des Waldes in der Gemeinschaft), in: JuS 2000, S. 619 – 620 83. BVerwG, Urt. v. 20. 12. 1999 – 7 C 15 / 98 – (Anwendungsvoraussetzungen normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften), in: JuS 2000, S. 927 – 929 84. BVerwG, Urt. v. 28. 10. 1999 – 7 C 32 / 98 – (Freier Zugang zu Umweltinformationen), in: JuS 2000, S. 929 85. EuGH, Urt. v. 15. 6. 2000 – verb. Rs. C-418 / 97 u. C-419 / 97 – ARCO Chemie u. a. – (Zur Definition des europarechtlichen Abfallbegriffs), in: JuS 2001, S. 85 – 87 86. EuGH, Urt. v. 23. 5. 2000 – Rs. C-209 / 98 – Entreprenørforeningens Affalds (Marktfreiheit und Umweltschutz im europäischen Abfallrecht), in: JuS 2001, S. 87 – 89 87. BVerwG, Urt. v. 27. 3. 2000 – 7 C 25 / 98 (Gebühr für Erteilung von Umweltinformationen), in: JuS 2001, S. 89 – 91 88. BVerwG, Urt. v. 27. 1. 2000 – 4 C 2 / 99 (Planfeststellung und FloraFauna-Habitat-Richtlinie), in: JuS 2001, S. 196 – 198 89. BVerwG, Urt. v. 13. 4. 2000 – 7 C 47 / 98 (Andienungspflichten für besonders überwachungsbedürftige Abfälle), in: JuS 2001, S. 303 – 305 90. BVerwG, Urt. v. 15. 6. 2000 – 3 C 4 / 00 (Überlassungspflicht für Abfälle zur Beseitigung), in: JuS 2001, S. 408 – 409
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91. EuGH (6. Kammer), Urt. v. 7. 12. 2000 – Rs. C-374 / 98 – Kommission der EG / Französische Republik (Verhältnis der VogelschutzRichtlinie zur FFH-Richtlinie), in: JuS 2001, S. 824 – 825 92. BVerwG, Urt. v. 11. 1. 2001 – 4 C 6 / 00 (Naturschutzrechtlicher Artenschutz innerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile), in: JuS 2001, S. 1233 – 1234 93. EuGH, Urt. v. 7. 11. 2000 – C 371 / 98 (Verfahren bei der Auswahl von Schutzgebieten), in: JuS 2001, S. 1234 – 1235 94. BVerwG, Urt. v. 21. 6. 2001 – 7 C 21 / 00 (Festsetzung eines höheren Emissionsgrenzwertes für Gesamtstaub), in: JuS 2002, S. 94 – 95 95. VG Frankfurt a.M., Beschl. v. 2. 3. 2001 – 3 G 501 / 01 (Einstweilige Anordnung gegen Meldung eines FFH-Gebiets), in: JuS 2002, S. 202 – 203 96. VG Gießen, Urt. v. 31. 1. 2001 – 6 E 1972 / 97 (Rechtmäßigkeit dualer Systeme), in: JuS 2002, S. 512 – 513 97. EuGH, Urt. v. 13. 12. 2001 – Rs. C-324 / 99 (Abfallbeseitigung im Ausland ohne Einhaltung deutscher Standards erlaubt – Daimler Chrysler AG / Land Baden-Württemberg), in: JuS 2002, S. 916 – 918 98. EuGH, Urt. v. 27. 1. 2002 – Rs. C-6 / 00 (Bergversatz als Beseitigung oder Verwertung von Abfällen – Abfall Service AG [ASA] / Bundesminister für Umwelt, Jugend und Familie), in: JuS 2002, S. 1130 – 1132 99. VG Düsseldorf, Urt. v. 3. 9. 2002 – 17 K 1907 / 02 (Rechtswidrigkeit der Pfandpflicht für Einweg-Getränkeverpackungen), in: JuS 2003, S. 202 – 203 100. VGH Mannheim, Beschl. v. 3. 9. 2002 – 10 S 957 / 02 (Sofortige Vollziehung einer bodenschutzrechtlichen Anordnung), in: JuS 2003, S. 507 – 508 101. OVG Münster, Beschl. v. 1. 7. 2002 – 10 B 788 / 02 (Nachbarklage gegen Windenergieanlage), in: JuS 2003, S. 508 – 510 102. VGH Mannheim, Beschl. v. 29. 11. 2002 – 5 S 2312 / 02 (Naturschutzrechtliche Vereinsklage und Umweltprüfung nach FFH-Richtlinie), in: JuS 2003, S. 1034 – 1037 103. BVerwG, Beschl. v. 17. 12. 2002 – 7 B 119 / 02 (Konzentrationswirkung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen), in: JuS 2003, S. 1242 – 1243
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104. BVerwG, Beschl. v. 16. 6. 2003 – 4 B 37 / 03 (Auswahl von Vogelschutz- und FFH-Gebieten durch die Mitgliedstaaten), in: JuS 2004, S. 452 – 454 105. VG Gießen, Urt. v. 29. 1. 2003 – 8 E 2187 / 02 (Schädliche Umwelteinwirkungen i.S. des § 3 I BImSchG), in: JuS 2004, S. 638 – 640 106. VGH München, Beschl. v. 22. 9. 2003 – ZB 03.1166 und 03.1352 (Ablagerung von Abfall außerhalb einer Deponie), JuS 2004, S. 640 – 643 107. BVerwG, Urt. v. 11. 12. 2003 – 7 C 19 / 02 (Schutzpflicht und Vorsorgepflicht), in: JuS 2004, S. 1026 – 1029 108. BVerwG, Urt. v. 30. 6. 2004 – 4 C 9 / 03 (Zulassungsregime für Windkraftanlagen), in: JuS 2005, S. 189 – 192 109. EuGH (2. Kammer), Urt. v. 7. 9. 2004 – C-1 / 03 (Paul Van de Walle u. a. – Kontaminiertes Erdreich als Abfall), in: JuS 2005, S. 361 – 363 110. EuGH (2. Kammer), Urt. v. 13. 1. 2005 – C-117 / 03 (Società Dragaggi SpA u. a. – Erforderlichkeit von Schutzmaßnahmen nach der FFHRichtlinie), in: JuS 2005, S. 665 – 667 111. EuGH, Urt. v. 14. 4. 2005 – C-6 / 03 (Deponiezweckverband Eiterköpfe / Land Rheinland-Pfalz – Strengere nationale Regeln für Abfalldeponien), in: JuS 2006, S. 92 – 96 112. BVerwG, Urt. v. 30. 6. 2005 – 7 C 26 / 04 (Emissionshandelssystem für Treibhausgase verfassungsgemäß), in: JuS 2006, S. 280 – 283 113. BVerwG, Urt. v. 18. 5. 2005 – 7 C 5 / 04 (Gewährung von Akteneinsicht nach dem Umweltinformationsgesetz), in: JuS 2006, S. 572 – 573 114. VG Freiburg, Urt. v. 28. 10. 2005 – 1 K 1928 / 04 (Rücknahme einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für Windfarm), in: JuS 2006, S. 1037 – 1039 115. BVerwG, Urt. v. 16. 3. 2006 – 7 C 3 / 05 (Sanierungspflicht des Gesamtrechtsnachfolgers), in: JuS 2007, S. 276 – 279 116. VGH München, Urt. v. 18. 5. 2006 – 22 BV 05.2461 und 22 BV 05.2462 (Überschreitung des Immissionsgrenzwerts für Feinstaubpartikel), in: JuS 2007, S. 676 – 680 117. OVG Koblenz, Urt. v. 2. 6. 2006 – 8 A 10267 / 06 (Umfang des Umweltinformationsanspruchs), in: JuS 2007, S. 770 – 772 118. BVerfG, Beschl. v. 13. 3. 2007 – 1 BvF 1 / 05 (Vereinbarkeit der Erstzuteilung von Treibhausgas-Emissionszertifikaten mit dem Grundgesetz), in: JuS 2007, S. 1052 – 1056
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119. BVerwG, Beschl. v. 29. 3. 2007 – 7 C 9 / 06, und BVerwG, Urt. v. 27. 9. 2007 (Überschreitung des Immissionsgrenzwerts für Feinstaubpartikel), in: JuS 2008, S. 270 – 274 120. BVerwG, Urt. v. 10. 4. 2008 – 7 C 39 / 07 (Anspruch der Nachbarn auf Schutz gegen terroristische Anschläge auf Zwischenlager), in: JuS 2008, S. 831 – 833 121. BVerwG, Urt. v. 29. 8. 2007 – 4 C 2 / 07 (Normkonkretisierende Wirkung der TA Lärm), in: JuS 2008, S. 1022 – 1024 122. EuGH, Urt. v. 25. 7. 2008 – C-237 / 07 (Überschreitung des Immissionsgrenzwerts für Feinstaubpartikel), in: JuS 2009, S. 74 – 76 123. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 23. 6. 2008 – 11 S 35 / 07 (Mitwirkungsrechte von Naturschutzverbänden und immissionsschutzrechtliche Konzentrationswirkung), in: JuS 2009, S. 751 – 752 124. BVerwG, Urt. v. 11. 11. 2008 – 9 A 52 / 07 (Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen), in: JuS 2009, S. 1135 – 1137
IV. Sonstiges 1. Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses über den Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union mit „Thesen zum Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“, in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Auswärtiger Ausschuß – 712 – 2450 – Stenographisches Protokoll der 52. Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 2. 10. 1985 2. Stellungnahme zum Entwurf eines . . . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 29 Abs. 7) – BT-Drs. 10 / 4264 – im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am 5. 6. 1986, in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, 6. Ausschuß, Protokoll Nr. 87: Stenographisches Protokoll der 87. Sitzung des Rechtsausschusses am Donnerstag, dem 5. Juni 1986, S. 46 – 50, 116 f. (mündliche Stellungnahme) und S. 167 – 185 (schriftliche Stellungnahme) 3. Deutschlands aktuelle Verfassungslage. Bericht über die Sondertagung der Deutschen Staatsrechtslehrer, in: JZ 1990, S. 682 – 686 4. Stellungnahme zu den Entwürfen der neuen Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon, in: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union,
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Außerdem Buchbesprechungen in: ZaöRV 37 (1977), S. 334 – 336; NJW 1980, S. 1836; Der Staat 20 (1981), S. 616 – 618; NJW 1981, S. 1137; Die Verwaltung 15 (1982), S. 379 – 382; DÖV 1985, S. 843 f.; DÖV 1985, S. 934 f.; Der Staat 25 (1986), S. 123 – 126; AöR 111 (1986), S. 256 – 262; DVBl. 1988, S. 252 f.; NVwZ 1988, S. 519; NJW 1988, S. 2287 f.; DVBl. 1991, S. 68 f.; Der Staat 32 (1993), S. 633 – 637; AöR 120 (1995), S. 339 – 340; Der Staat 46 (2007), S. 295 – 300
V. Herausgeber / Mitherausgeber 1. Bücher 1. Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 13) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1994, 153 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz) 2. Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 16) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1997, 196 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 3. Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 17) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998, 176 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 4. Fortschritte im Beitrittsprozeß der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zur Europäischen Union. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 18) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1999, 171 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 5. Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag. (Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 814)
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Duncker & Humblot, Berlin 2000, VIII, 721 S. (zusammen mit Ulrich Storost und Heinrich A. Wolff) 6. Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair. C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2001, XIV, 1008 S. (zusammen mit Dieter Dörr, Udo Fink, Christian Hillgruber und Bernhard Kempen) 7. Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. (Staatsund völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 19) Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 2001, 200 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 8. Minderheitenschutz und Demokratie. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 20) Duncker & Humblot, Berlin 2004, 204 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 9. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 22) Duncker & Humblot, Berlin 2005, 312 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 10. Das Recht auf die Heimat. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 23) Duncker & Humblot, Berlin 2006, 182 S. (zusammen mit Gilbert H. Gornig) 11. Minderheitenschutz und Menschenrechte. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 22) Duncker & Humblot, Berlin 2006, 241 S. (zusammen mit Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig) 12. Kulturgüterschutz – internationale und nationale Aspekte. (Staatsund völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 24) Duncker & Humblot, Berlin 2007, 272 S. (zusammen mit Gilbert H. Gornig und Hans-Detlef Horn) 13. Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht. Analysen und Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung. Teil 1. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 25 / 1) Duncker & Humblot, Berlin 2008, 322 S. (zusammen mit Gilbert H. Gornig und Hans-Detlef Horn) 14. Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht. Analysen und Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung. Teil 2. (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 25 / 2) Duncker & Humblot, Berlin 2009, 261 S. (zusammen mit Gilbert H. Gornig und Hans-Detlef Horn)
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2. Buchreihen 15. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln (bis Bd. 19); ab Bd. 20: Verlag Duncker & Humblot, Berlin (zusammen mit Dieter Blumenwitz u. a.)
3. Zeitschriften 16. Natur + Recht. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York (zusammen mit Ulrich Battis, Claus Carlsen u. a.) 17. Zeitschrift für Rechtsphilosophie. Lit-Verlag, Münster (zusammen mit Heinrich Wilms u. a.)