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German Pages 88 [92] Year 2000
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
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Jürgen von
Stackelberg
Gegendichtungen Fallstudien zum Phänomen der literarischen Replik
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stackelberg, Jürgen von: Gegendichtungen : Fallstudien zum Phänomen der literarischen Replik / Jürgen von Stackelberg. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Mimesis; 34) ISBN 3-484-55034-1
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Wilhelm Graeber, Göttingen Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort Einleitung ERSTE STUDIE
Die alte und neue Heloise (Abaelard und Rousseau) ZWEITE STUDIE
Drei Fabel-Repliken (La Fontaine, Samaniego, Lessing und Kleist) DRITTE STUDIE
Die «Schule der Frauen» und die «Schule der Mütter» (Moli£re und Marivaux) VIERTE STUDIE
Bewohnte Steme und «siebenfältiges Licht» (Fontenelle und Algarotti) FÜNFTE STUDIE
Die edle Wilde und der gute Quäker (Chamfort und die Legende von «Inkle und Yariko») SECHSTE STUDIE
Mademoiselle de Saint-Yves muß nicht sterben (Voltaire und Marmontel)
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SIEBTE STUDIE
Das Gelübde einer Sonnenjungfrau (Marmontel und Chateaubriand)..
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ACHTE STUDIE
«Glück im Sonderangebot» (Louis Hdmon und Gabrielle Roy).
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NEUNTE STUDIE
Bolivar in der Badewanne (Alvaro Mütis, die Bolivarlegende und G. Garcia Märquez)
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ZEHNTE STUDIE
Dekolonisation als Dramenthema (Shakespeare und Aime Cösaire) Rückblick und Ausblick
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Vorwort
Seit 1966 habe ich mir angewöhnt, in meinen verschiedenen Arbeiten von «literarischen Repliken» oder auch «Gegendichtungen» zu sprechen. Was ich damit meine, versuche ich in der Einleitung dieses Bändchens zu sagen. Dann folgen zehn Studien, in denen ich - anhand möglichst verschiedenartiger Beispiele - zeigen will, wie die literarische Relation von Werk zu Werk aussieht, die ich im Blick habe. Es ist mir klar, daß es erheblich mehr Studien sein könnten. Aber ich beschränke mich auf Texte und Textrelationen, die mir seit längerem bekannt sind. Daraus folgt, daß die meisten Beispiele der französischen Literatur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts entstammen. Italienische und spanische Beispiele kommen gelegentlich mit hinzu. Im zweiten Teil der Studien, nach einem Sprung über das neunzehnte Jahrhundert hinweg, weite ich das Feld meiner Betrachtungen aus auf Frankokanada, Lateinamerika und die Karibik und ziehe ausnahmsweise auch mal einen englischen Dichter mit in Betracht: Shakespeare. Es handelt sich also um romanistische Aufsätze (oder Essays) mit gelegentlicher komparatistischer Erweiterung, wie das bei der Mehrzahl meiner Publikationen der Fall ist. Ich schreibe einfach und klar und fasse mich meistens kurz. Selbst hier, wo ich ein theoretisches Anliegen verfolge, interessiert mich im Grunde die «Praxis» mehr - aber auch dazu sage ich in der nachfolgenden Einleitung noch ein Wort.
J.v.St. 1998
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Einleitung
Ist es sinnvoll und notwendig, in die Literaturwissenschaft noch einen neuen Begriff einfuhren zu wollen, wo diese doch schon über so viele Begriffssprachen verfügt? Noch dazu einen Begriff fur das gleichsam innerliterarische Verhältnis von Text zu Text, das immer schon die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler auf sich gelenkt hat? Ist es nicht schon fast eine Manie, wenn wir Literaturwissenschaftler dem Autor, den wir lesen, nicht glauben wollen, daß er etwas «selbst erfunden hat», das heißt, daß Wirklichkeitsbeobachtungen, Erfahrungen oder Erlebnisse hinter dem stehen, was er uns vor Augen führt? Nun schließt eine literarische Übernahme, Anlehnung oder auch Ablehnung ja aber die eigene Beobachtung, die eigene Erfahrung oder das Selbst-Erlebte nicht aus - und wir wissen (das kann den literaturwissenschaftlichen Usus erst recht legitimieren), daß Übernahmen, Anlehnungen an Vorbilder, Nachbildungen oder wie immer wir das Gemeinte bezeichnen wollen, auch Eigenständigkeit und Originalität nicht ausschließen. Man tut dem Autor also keinen Tort an, wenn man auf die Quellen verweist, die er «benutzt» hat - immer vorausgesetzt, man beschränkt sich nicht auf die Feststellung der Gemeinsamkeiten, sondern bemüht sich, das Unterscheidende herauszustellen. In diese Richtung tendiert auch der Begriff Replik, den die Studien dieses kleinen Bändchens zu illustrieren versuchen. Von allen Begriffen, die in der Literaturwissenschaft gebräuchlich sind, wenn es um innerliterarische Beziehungen geht, sind die seit dem Humanismus üblichen der imitatio und aemulatio die altehrwürdigsten. Ich denke, man täte gut daran, sie nicht zu vergessen. Sie sind weitgespannt genug, um Differenzierungen zu erlauben, die man dann ja in eigene Worte fassen kann, und sie lassen einen an Vorgänge denken, die nach wie vor exemplarisch sind, vor allem die Übernahme der griechischen Muster durch die alten Römer. Replik ist als ein Unterbegriff zu denken, der eine bestimmte Form der aemulatio meint, welche ihrerseits der imitatio zugehört. Ich werde das gleich sagen. Aber dann gibt es den Begriff der Rezeption, der ursprünglich die Übernahmen des römischen Rechts in die neuere Rechtsprechung bezeichnete. Horst Rüdiger faßt das Wichtigste dazu in der Geschichte der Textüberlieferung 1961,1, 574sq. zusammen. Er schreibt, nachdem er den rechtsgeschichtlichen Ursprung des Begriffs geklärt hat: «Die allgemeine Geistesgeschichte übernimmt den juristischen Terminus der Rezeption mit Gewinn, weil er das Verhältnis von Tradition und schöpferischer Gegenwart am besten umschreibt. Wir verstehen darunter nicht allein die passive Bewahrung, sondern auch die tätig-umgestaltende Aufnahme überlieferten Kulturgutes in die eigene geistige Welt.» (p. 575/76) Rüdiger erwähnt dann die «intensive Lektüre», die «Übersetzung», sowie «Auswahl, Kommentierung, Exegese» als Formen der Rezeption und betont, daß «höhere Kultur nur durch Rezeption, nie durch Autarkie im Geiste» entstehe. Die spezifisch literarischen Rezeptionsformen behandelt Rüdiger nicht. Ich denke, ich darf hier an mein Büchlein von 1972 erinnern, in dem ich drei solcher Formen «literarischer Rezeption»
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durch eine Anzahl von Beispielen oder Beispielreihen zu veranschaulichen versuche: neben der literarischen Übersetzung (die in älterer Zeit dem Kommentar oder der Exegese sehr ähnlich sah) die «Supplemente» und die «Parodie». Supplemente sind Fortsetzungen literarischer Werke von anderer Hand als der des jeweiligen Autors und solche sind bekanntlich nicht nur dort geschrieben worden, wo diese Werke unvollständig erhalten oder Fragment geblieben sind, sondern selbst da, wo der Verfasser des Supplements (französisch: «suite») oder der Verleger meinte, es ließe sich weiteres Kapital schlagen aus einer Fortsetzung der Geschichte. Es ist klar, daß die Verfasser solcher Supplemente zunächst einmal den Stil der Vorlage möglichst genau nachzubilden versuchten, denn der Leser sollte in der Regel ja glauben, sie stammten von demselben Autor wie das Werk selbst, dann aber - und da wird die Sache erst recht spannend - kann es der Fall sein, daß der Supplement-Autor oder Fortsetzer in eine andere Richtung tendiert, daß er gewisse nachträgliche Korrekturen an seiner Vorlage vorzunehmen bestrebt ist, zum Beispiel in der Weise, daß ein trauriges oder offenes Ende der Handlung in ein «happy ending» verwandelt wird. Ich habe das in meinem Büchlein näher untersucht. Handelt es sich um eine rein-imitative Fortführung, so ähnelt das Verfahren dem Pastiche, kommt eine neue Akzentsetzung mit einer erkennbar-korrigierenden Absicht hinzu (so daß man den Eindruck hat, der Fortsetzer sei mit seiner Vorlage nicht recht zufrieden gewesen), so spreche ich von einer Replik, allenfalls von einem Supplement mit replizierender Tendenz. Diesen Begriff muß ich gleich genauer zu bestimmen versuchen. Die Parodie (das ist für mich ein Sammelbegriff, der auch die Travestie umfaßt) bezieht sich allemal genauso eng auf die jeweilige Vorlage, das «Parodie-Objekt», pflegt aber die Besonderheit zu haben, daß sie komisch ist oder sein will und in der Regel das Objekt lächerlich machen möchte. Daß es noch eine Anzahl anderer «Bewandtnisse» mit der Parodie hat, lasse ich hier auf sich beruhen: Es bezieht sich vor allem auf die Funktion des Phänomens in der Literaturgeschichte, die wie ein Exorzismus reinigend und innovierend, gleichsam verlebendigend sein kann. In der Geschichte des aufkommenden literarischen Realismus hat die Parodie, wie ich verschiedentlich darzustellen versucht habe, eine besonders wichtige Rolle gespielt. Aber die Intention, komisch zu wirken, ist von ihr doch nicht wegzudenken. Das ist bei dem Phänomen, das ich in diesem Büchlein zu exemplifizieren versuche, nicht der Fall: Repliken sind nicht komisch, sondern ernst gemeint, und sie sind mehr als nur Supplemente, also Ergänzungen, weil sie in der Regel das ganze vorliegende Werk noch einmal präsentieren, es aber anders gestalten, anders pointieren oder anders enden lassen und offensichtlich der Absicht entsprungen sind, einen «Gegenentwurf», eine «Gegendichtung» zur vorliegenden zu schaffen, weil der Verfasser damit nicht zufrieden war und meinte, es besser machen zu können. In einem Aufsätzchen, das 1966 in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift erschienen war (Neue Folge, XVI, Heft 4), habe ich versucht, das Phänomen folgendermaßen zu beschreiben: Im Gegensatz zum Plagiat ist die literarische Replik nicht ohne wesentliche Veränderung denkbar. Das Hauptkennzeichen dieser Form literarischer Übernahme (die auch ohne Namensnennung erfolgt) ist vielmehr die Absicht des Widerspruchs: die betreffenden literarischen Phänomene, eine Szene, ein Vorgang, ein Topos oder mehrere Topoi, ja, unter Umständen Konzeption und Handlung ganzer Werke, werden überhaupt nur übernommen, weil der Übernehmende das Übernommene mit einer ganz anderen, häufig konträren, Bedeutung
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zu erfüllen beabsichtigt. Und zwar muß - damit das, was wir mit Replik meinen, gegeben ist — in der Vorlage selbst die mehr oder minder versteckte Einladung zu einer solchen Übernahme enthalten sein. Dieses Moment der heimlichen Herausforderung, einer vom Autor der Replik erkannten und angenommenen Provokation - die erst erkennbar wird, wenn die Replik erfolgt ist - macht das Besondere und das besonders Reizvolle an der Sache aus...
Ich unterstreiche dann die Nähe zur als aemulatio aufgefaßten imitatio, «also die Absicht, es besser zu machen», verdeutliche aber, daß «diese Absicht sich in entgegengesetzter Richtung» offenbaren müsse, und erinnere an Andre Gides Begriff der «influence par reaction» (aus De l'influence en litterature, in: Pretextes, 1929, 34). Der Begriff ist also nicht identisch mit «Replik» im kunsthistorischen Sprachgebrauch, wo ein vom Künstler selbst oder seiner Werkstatt hergestelltes «Zweitexemplar» damit gemeint ist, eher schon mit dem französischen Wort «replique», wie es insbesondere in der Theaterpraxis gebraucht wird, wo es die Entgegnung eines Schauspielers zu bezeichnen pflegt, die auf eine vorhergehende Rede erfolgt. Repliquer und replique, heißt es in Benacs Synonymwörterbuch, ist ein energischeres Wort als repondre und reponse, es kann sich um eine «obstinate» Antwort, um eine erneute und begründete Entgegnung handeln... All das klingt in dem Begriff, so wie ich ihn verwende, mit an. Das bloße Antworten reicht mir da nicht: Man kann ja mit j a oder mit nein antworten, man kann bestätigend oder verneinend antworten - eine Replik stellt dagegen die ganze Frage in Frage und drückt eine Gegenmeinung aus, die so etwas wie Anspruch auf Endgültigkeit hat. Zugleich aber klingt doch auch etwas von der künstlerischen Verwendung mit hindurch. Damals - 1966 - war ich auf den Gedanken gekommen, den Begriff vorzuschlagen, weil keiner der üblichen Begriffe der Literaturwissenschaft mir genau das Relationsverhältnis zu bezeichnen schien, das ich vor Augen hatte: es ging um Reprisen des Ehekonfliktromans nach dem Muster der Princesse de Cleves wie die Duchesse d'Estramene von Du Plaisir, ein Romänchen, in dem das Dreiecksverhältnis EhefrauEhemann-Freund wiederkehrt, aber eine leserfreundliche und moralisch unanfechtbare Lösung des Problems gefunden wird dadurch, daß der Freund eliminiert wird (er stirbt) und Mann und Frau zu einer glücklichen Ehe verhilft. Auch die Princesse de Cleves schien mir zumindest teilweise als Replik auf gewisse Romane der Zeit verstanden werden zu können. Essentiell ist (so denke ich heute) auf jeden Fall, daß das betreffende literarische Werk - ich richte mein Augenmerk nun hauptsächlich auf ganze Werke - nicht richtig verstanden werden kann, wenn man den «replizierenden Bezug» nicht sieht. Das heißt: Mein Begriff soll dem sachlich angemessenen, historischen Verständnis bestimmter literarischer Texte dienen, nicht etwa Selbstzweck sein oder der Rekonstruktion von Literaturgeschichte dienen. Daher kann ich auch nur sagen: Ich weiß zwar genau, was ich meine, wenn ich von einer literarischen Replik spreche, aber jeder einzelne Anwendungsfall sieht doch wieder anders aus - und auf diesen jeweiligen Fall kommt es weit mehr an als auf die prinzipielle Erkenntnis, daß es in der Literaturgeschichte so etwas wie Repliken gibt. Man kann auch darüber streiten, ob der Begriff jeweils angebracht ist, ob er nur auf das jeweilige Ganze oder auch auf Teile desselben verwendbar ist usw. Insbesondere zur Parodie (um nicht weiter von den ja nicht so häufigen Supplementen zu reden) ist die Grenze nicht immer säuberlich zu ziehen.
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In meinem Aufsätzchen von 1966 meine ich, die Romangeschichte böte wohl die besten Beispiele zur Veranschaulichung dessen, was ich mit Replik meine. (Damals war mein Buch Von Rabelais bis Voltaire noch nicht erschienen.) Rabelais zum Beispiel eigne sich gut zur Exemplifizierung: Seine Beziehung zu den volkstümlichen Riesenromanen sei «replizierend». Ähnlich, meinte ich, verhalte es sich mit La Fontaines Amours de Psyche et de Cupidon. Im einen Fall, bei Rabelais, sei die Replik weitgehend parodistisch gefärbt, im anderen handle es sich um eine Übersetzung, die sich stellenweise so weit vom Original entfernt, daß eine ganz andere Gestaltung, eine Gestaltung mit ganz anderer Absicht erkennbar wird... Da die Romangeschichte ja so etwas wie eine Geschichte von «Antiromanen» ist, diese Geschichte weitgehend als eine Art dialektischer Widerstreit aufgefaßt werden kann, in dem die Gattung mit sich selbst steht, besitzt der Begriff der Replik hier einen hohen «Stellenwert». Aber: «Die literarische Replik [...] ist ein Phänomen, das in anderen Gattungen ebenso zu beobachten ist wie in der Geschichte des Romans», schreibe ich p. 359. Natürlich ist das Phänomen alles andere als selten. Aber ich denke, es unterscheidet sich doch deutlich genug von anderen «literarischen Rezeptionsformen» (Rezeption gebrauche ich, wie ersichtlich, nicht in Jauß1 Sinn), um den Begriff zu rechtfertigen. Vergils Aeneis (um mit dem ehrwürdigen Epos zu beginnen) würde ich nicht eine Replik auf Homers Epen nennen, weil die Dichtung doch insgesamt einem ganz anderen historischen Kontext entsprungen ist und dieser ihre Sinngebung wesentlich bestimmt: der Ruhm Roms als trojanisches Erbe - und was noch dazu gehört. In Einzelzügen repliziert Vergil freilich auf Homer. Ähnliches wäre von der römischen Geschichtsschreibung zu sagen, die vom Gegenstand her anders ist als die griechische, so sehr auch da Einzelheiten der Darstellung replizierenden Charakters sein mögen. Nur wo römische Dichter oder Schriftsteller «dasselbe» zu schreiben versucht haben wie die Griechen, rede ich von Replik. So mag der Begriff auf Vergils Hirtendichtung in Bezug auf Theokrit anwendbar sein. Aber ich bin da nicht zuständig. In der frühen Neuzeit ist natürlich vor allem an Cervantes zu denken. Wie er mit seinem Don Quijote in der Tat etwas ganz anderes gemacht hat, als es die Ritterromane waren, die er im Blick hatte, das scheint mir mit Replik nicht schlecht bezeichnet: Denn parodistisch ist j a eher der Weg hin zum Quijote, parodistisch ist das Mittel zum Zweck der eigenen Neuschöpfung - und ganz gewiß war Cervantes mit den Ritterromanen mehr als «unzufrieden», nutzte aber nichtsdestoweniger die Prozeduren und die Handlungsschemata, die sie ihm an die Hand gaben. Rabelais wurde schon genannt. In Grenzen replizieren, scheint mir, auch die französischen «romans comiques» auf den spanischen Schelmenroman. Aber wenn dann der Roman der französischen Klassik den Barockroman ersetzt, handelt es sich um einen Vorgang anderer Art: Dazu gab die strukturelle Anlehnung an die Novelle den Ausschlag. Mag Lesages Gil Blas noch einmal so etwas wie eine französische Replik auf den Schelmenroman sein (und sogar in Spanien situiert bleiben), so geht Marivaux mit seinen Parvenu-Romanen entschieden eigene, Wege, die mehr kontaminieren und mehr Neues bringen als Lesage. Und weiter: Rousseau mit seiner Nouvelle Heloi'se erweist sich erst recht - literarhistorisch gesehen - als ein Meister der «Kontamination», thematisch auf den Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise replizierend - wie ich es in meiner folgenden Studie nachzeichne - hat er doch darstellungstechnisch das meiste von Richardson gelernt...
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Aber ich breche hier ab: Es soll j a der Sinn der folgenden Versuche unterschiedlicher Art und unterschiedlichen Formats sein, eine gewisse Anzahl von typischen Replik-Beispielen vorzufuhren. Da wird sich erweisen, ob der Begriff tauglich ist - das heißt, ob er besser auf das jeweils untersuchte Beispiel paßt als jeder andere. Wenn es mehrere «kleinere Texte» sind, die ich ins Auge fasse, so hängt das damit zusammen, daß ich Neues bieten und nicht immer nur Altbekanntes neu interpretieren wollte. Und ich beziehe mich vorzugsweise auf Gebiete, die ich seit längerem kenne, auf das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert vor allem. Mehrmals komme ich dabei auf eine Erscheinung zu sprechen, der ich einmal eine eigene Untersuchung zu widmen gedachte, der Legende von den Edlen Wilden. Sie hat viele Texte der Aufklärung - nicht nur der französischen - befruchtet und, wie ich fand, ebenso oft zu replizierenden Anwendungen Anlaß gegeben wie zu bejahenden. Aber die bedeutenderen Texte, die mit der Legende zu tun haben, Montesquieus Lettres persanes, Mme de Grafignys Lettres d'une Peruvienne, Rousseaus Diskurse, Voltaires Ingenu und Diderots Supplement au voyage de Bougainville sind zu bekannt und gerade auch in letzter Zeit öfters behandelt worden: Wenigstens zwei derselben, die über Chamforts Jeune Indienne und die über Chateaubriands Atala dürften jedoch weniger bekannte Texte betreffen. Ich bin kein Spezialist des 19. Jahrhunderts, das möge entschuldigen, daß ich da die größte Lücke offenlasse - aber von Vollständigkeit kann j a ohnehin bei diesen Studien nicht die Rede sein; weniger noch als irgendwo sonst, eben weil das Phänomen, das ich illustrieren möchte, so verbreitet ist. Ich rede also nicht von Intertextualität und nicht von Trans-, Para-, Hypo- und Hypertexten, wie Gerard Genette das in seinem Buch Palimpsestes 1982 tut. Ich kenne dieses Buch, anerkenne die Belesenheit des Verfassers - halte es im übrigen aber bestenfalls fur verspielt, schlimmstenfalls für einen Fall von Begriffsfetischismus. Man braucht bloß zu versuchen, die Genette'schen Begriffe ins Deutsche zu übersetzen, von Unter-, Über- und ich-weiß-nicht-was-für-Texten zu reden, um das Spielerische, das Unernste der Unternehmung zu erkennen. Da wären denn etwa Petrarcas Sonette die «Untertexte», die petrarkistischen Produkte eines Bembo und anderer die «Übertexte» oder andersherum? Ich meinte in einem Vortrag über «Formen produktiver Literaturrezeption» 1991 (in: Klassiker-Renaissance, hg. v. M. Brunkhorst, G. Rohmann u. K. Schoell), Genettes Begriffe (die ja auch scheußlich klingen) «suggerierten so etwas wie einen Direktkontakt von Text zu Text und ließen vergessen, daß jede Rezeption über einen Menschen, den Autor, der liest, ehe er schöpferisch tätig wird, läuft und daß dieser bestimmten Bedingungen unterliegt...» In der Tat: Da laufen Texte aufeinander zu oder auseinander wie kleine weiße Mäuse, die alle gleich aussehen und wie von unsichtbaren Fäden oder Strömen geleitet erscheinen. Dabei ist doch jeder Text das Erzeugnis eines bestimmten Autors, ist zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden, in einem bestimmten historischen Zusammenhang zu situieren usw. Wo ich es mit einiger Plausibilität kann, erkläre ich im folgenden denn auch, warum die jeweilige Replik so und nicht anders ausgefallen ist, sei es, daß es sich um einen Gattungswechsel (etwa von Erzählung zu Drama) handelt, sei es, daß der Verfasser der Replik einer bestimmten, nur ihm eigenen Kunstauffassung huldigt und bestimmte Zwecke im Auge hat (wie bei den Fabelautoren Samaniego oder Lessing), sei es, daß eine neue Ideologie sich durchzusetzen beginnt und der Verfasser der Replik sich ihr verschrieben hat, was Erfolgsberechnungen nicht aus-, sondern
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einschließt. Kurz, auf den Einzelfall kommt es mir an, er ist die Realität, auf die ich es abgesehen habe, nicht der Begriff, der mir nur ein nützliches Ordnungsmittel ist oder ein Mittel, den Text in seiner Intention richtig zu verstehen. Bliebe noch zu sagen, daß ich (leider) einige besonders hübsche Fälle von Repliken (oder «Gegendichtungen») früher schon behandelt habe und daher hier nicht noch einmal zur Sprache bringen konnte. So zum Beispiel Le Philinte de Moliere von Fabre d'Eglantine, die gleichsam posthume Korrektur an dem vermeintlich so konformistischen Misanthrope aufgrund der harschen Kritik, die Rousseau an Molieres Stück geübt hatte. Meine Aussage hierzu findet sich in dem Bändchen Theater der Aufklärung in Frankreich 1992, 143 sqq. (als Kurzfassung eines vorausgegangenen Aufsatzes). Dann habe ich in dem Bändchen Senecas Tod und andere Rezeptionsfolgen mehrfach replizierende Texte behandelt, zum Beispiel Voltaires Essai sur les maeurs, der (weitgehend) als eine Replik auf Bossuets Geschichtsschreibung zu verstehen ist. Und dann spreche ich auch von der Replik als einer Rezeptionsform im obengenannten Band Klassiker-Renaissance, 1991, und verweise auf Aime Cesaires Une tempete als ein besonders typisches Beispiel: Das auszufuhren blieb diesen Studien vorbehalten. Nicht vorgenommen habe ich mir darin dramatische Nachdichtungen der antiken Mythologie: Ich rede also nicht von all den Theaterautoren, die Sophokles oder Euripides zum Muster für eigene Nach- oder Neugestaltungen genommen haben. Sicher wäre das ein ergiebiges Feld, um das Verfahren zu exemplifizieren, das ich Replik nenne aber zum einen ist es allzu oft schon um- und umgepflügt worden, so daß ich wirklich nicht wüßte, wo da noch Neues zu sagen wäre, zum andern frage ich mich aber auch, inwieweit mein Begriff diese Fälle von Nachbildungen treffen kann: Ödipus muß immer seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten, Orest muß immer Klytaimnestra erschlagen, Medea muß immer ihre Kinder morden... da gibt es nichts zu replizieren! Nur dort, wo ein neuerer Autor ganz andere Absichten mit seiner Übernahme verbindet - und zum Beispiel mehr im Sinn hat als eine bloße Modernisierung mag von Replik zu reden angebracht sein. Aber ist das legitim? Kann es mehr als die Ausnahme von einer Regel sein, die lautet: Es gilt dem Altüberlieferten mit neuen Worten einen tieferen, im Grunde aber doch schon durch das antike Muster suggerierten Sinn zu unterlegen? Und gilt diese Regel nicht auch in der Komödie, etwa beim Amphitryon, der mit diesem und jenem angereichert und wie auch immer neugefaßt werden kann, im Kern aber doch nicht verändert werden darf? Bliebe noch ein Wort zur Lyrik des Humanismus und zum Petrarkismus zu sagen, auf den schon einmal angespielt wurde. Die Gedichte der Pleiade, eines Ronsard oder Du Beilay vor allem, fuhren ja immer wieder vor, wie man auf der Basis einer teilweise sehr engen Anlehnung an antike Muster oder an Petrarca zu Erzeugnissen von unstreitig großer - und origineller - ästhetischer Qualität gelangen kann, prinzipiell nicht anders, als das bei den Dramatikern der Fall ist, die die attische Tragödie oder Seneca nachbilden. Besonders beliebt ist bei den Lyrikern der Pleiade das Verfahren der «Kontamination» mehrerer Quellen, wie man es auch aus der Geschichte der Komödie kennt, die bereits in der Antike mit solchen «Kontaminationen» aufwartet. Aber paßt unser Begriff der Replik auf diese Gedichte, diese humanistische oder petrarkistische Lyrik? Die Antwort fällt auch hier nicht ganz leicht, insofern aus dem edlen Wettstreit mit Horaz, Vergil, Claudian oder Lukan vor allem dann, wenn mehrere Vorbilder zusammengefaßt und zu einem neuen Ganzen verarbeitet wurden, unter Umständen 6
«ganz andere Dichtungen» hervorgegangen sind - was eine der Bedingungen für die Anwendbarkeit unseres Begriffs Replik war. Aber das «aber», denke ich auch hier, wiegt schwerer. Den humanistischen Dichtern und den Nachbetern Petrarcas ging es allemal darum, das von ihrem Musterautor oder von ihren Musterautoren Gesagte nachzusagen, es vielleicht schöner, ein wenig anders pointiert und mit anderen poetischen Mitteln zu sagen, aber doch nicht so etwas wie eine nachträgliche Korrektur anzubringen. Schwerlich dürften sie Schwächen an ihren Vorbildern erblickt haben, die sie auszumerzen bemüht gewesen wären, schwerlich Lücken, die sie auszufüllen gedachten. Grundsätzlich dichten sie, um es mit Hieronymus zu sagen, im Wettstreit um denselben Sinn, es ist ein «certamen circa eosdem sensus», wie der Kirchenvater sein Übersetzungsziel genannt hatte. Die Mittel mögen variieren, aber der «Zweck» bleibt derselbe - bei einer Replik handelt es sich hingegen um die Erreichung eines anderen «Zwecks», wie immer die Mittel dazu aussehen mögen, die oft denjenigen der Vorlage durchaus ähnlich sehen können. Hier herrscht kein Widerspruch zwischen Wiedergabe und Original (wie bei der Replik), es sei denn in Gestalt der Bevorzugung anderer Metaphern oder Vergleiche für dasselbe... Vielleicht kann ein - relativ bekanntes - Beispiel illustrieren, inwiefern es zwar durchaus sinnvoll ist, von imitatio und aemulatio zu reden, wenn ein humanistischer Dichter eine Vorlage neugestaltet, der Begriff Replik (mit seinem Impetus zur Widersetzlichkeit) jedoch dabei nicht angebracht erscheint. Ich wähle das bekannte, in der Renaissance weit verbreitete Epigramm von Janus Vitalis, De Roma, das 1552 in Venedig erschienen ist. Man findet es schon in Walther Rehms Europäischer Romdichtung (1960) besprochen, erneut (und mit mehr Gründlichkeit) dann von Roland Mortier in seinem Buch La poitique des ruines en France, 1974 (p. 46sqq., dort auch weitere Literaturangaben). Ich zitiere zuerst den lateinischen Text: De Roma Qui Romam in media quaeris novus advena Roma Et Romae in Roma nihil reperis media, Aspice murorum moles, praeruptaque saxa, Obrutaque ingenti vasta theatra situ. Haec sunt Roma: viden' velut ipsa cadavera tantae Urbis adhuc spirant imperiosa minas? Vicit ut haec mundum, nixa est se vincere: vicit, A se non victum ne quid in orbe foret. Nunc eadem in victa Roma sepulta est? Atque eadem victrix, victaque Roma fuit. Albula Romani restat nunc nominis index, Quin etiam rapidis fertur in aequor aquis. Disce hinc quid possit Fortuna: immota labascunt, Et quae perpetuo sunt agitata manent.
Der Neuankömmling soll also in Rom «die Masse der Mauern, die herabgestürzten Felsen» und «die ungeheueren zerfallenen Amphitheater» schauen und erschauern: Das ist einmal das weltbeherrschende Rom gewesen! Noch immer wirkt es bedrohlich 7
(obwohl es nur noch ein «Kadaver» ist). Denn wie es einst die Welt besiegt hat, so hat es sich selbst besiegt, damit in der Welt nichts sei, das es nicht besiegt hätte. Ist das in sich selbst begrabene Rom noch Rom? Oh ja! Aber nur der Tiber, der rasch dem Meere zufließt, bezeugt das noch. Soviel also vermag Fortuna: Alles Unbewegliche vergeht, was immerzu bewegt ist, bleibt. So dieses Gedicht über die Vergänglichkeit und über die Macht des Schicksals (oder der Fortuna), dem einige spitzfindige Pointen nicht abzusprechen sind. Du Beilay hat es weitgehend übersetzt in seinen Antiquitez de Rome (verfaßt um 1554, erschienen 1558), hat jedoch die horrenden Zerfallserscheinungen umgeändert in ehrfurchtgebietende Spuren der einstigen Größe, hat auch den «Kadaver» getilgt und spricht nicht mehr von einem «Grab». Aber die Spitzfindigkeit, daß Rom nur selbst Rom besiegen konnte, ist geblieben - und die Pointe am Schluß, in der der bewegte Fluß mehr Bestand hat als das feste Gestein, bleibt vollkommen erhalten. Auch Du Beilay hat ein Gedicht über das Thema Vergänglichkeit geschrieben, ein respektvolleres im Ton und ein elegantes in der Form, aber doch eben keine Replik, sondern «dasselbe noch einmal»: Nouveau venu, qui cherche Rome en Rome Et rien de Rome en Rome apperfois, Ces vieux palais, ces vieux arcz que tu vois, Et ces vieux murs, c'est ce que Rome on nomme. Voy quel orgueil, quelle mine: et comme Celle qui mist le monde sous ses loix Pour donter tout, se donta quelquefois, Et devint proye au temps, qui tout consomme. Rome de Rome est Ie seul monument Et Rome Rome a vaincu seulement, Le Tybre seul, qui vers la mer s'enfuit, Reste de Rome, Ο mondaine inconstance! Ce qui est ferme, est par le temps destruit, Et ce qui fuit, au temps fait resistance. (Sonnet III)
Das Thema «Vergänglichkeit», das Du Beilay über Vitalis hinausgehend mit der formelhaften Wendung «O mondaine inconstance!» verallgemeinernd unterstreicht, klingt erstaunlich «barock». So hat denn auch - neben oder nach einigen anderen Dichtern Quevedo das Gedicht noch einmal nachgedichtet, wobei offensichtlich das lateinische Original in erster Linie Pate gestanden hat (Du Beilay klingt allenfalls in den letzten beiden Versen mit hindurch). Er faßt es so: Α Roma sepultada en sus ruinas Buscas en Roma a Roma joh peregrino! Y en Roma misma a Roma no la hallas: Cadäver son las que ostento murallas, Y tumba de si propio el Aventino.
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Yace donde reinaba el Palatino; Y limidas del tiempo las medallas, Mas se muestran destrozo a las batallas De las edades, que blasön latino. Solo el Tibre quedo, cuya corriente, Si ciudad la reg0, ya sepoltura La Uora con funesto son doliente. jOh, Roma! En tu grandeza, en tu hermosura, Huyo lo que era firme, solamente Lo fugitivo permanece, y dura.
Roland Mortier, der auch dieses Gedicht wiedergibt (p. 54), wehrt sich gegen die Meinung eines portugiesischen Gelehrten, der Quevedos Gedicht über dasjenige von Du Beilay stellt. «On ne voit guere pourquoi la superiorite de Quevedo serait aussi evidente que le croit le critique portugais», schreibt er (ib.). Uns kommt es nicht auf ein Werturteil an, sondern nur auf die Feststellung, wie hellhörig der Spanier die «barocken Züge» aus dem Gedicht herausgehört und sie dann auch noch verstärkt hat. Da kehrt sowohl der «Kadaver» als auch das «Grab» des Vitalis wieder, beides starke Worte, besonders wenn man sie auf das stolze Rom bezogen sieht. Die «Spitzfindigkeit» der Selbstbezwingung Roms hat der sonst um derlei Pointen nicht verlegene Spanier weggelassen, dafür hat er das drastische Bild von den «zerfressenen Medaillen» eingeführt (was gibt es Festeres als das Material von Medaillen?), und er hat den Tiberfluß um Rom weinen lassen, was Mortier «assez fade» findet. Zugunsten Quevedos mag man (wenn man denn partout werten will) immerhin die blockartige Knappheit und die einprägsamen Reime anführen. Auch der spanische Dichter wollte das Romgedicht seinem Stilideal folgend - und möglichst «schön» - gestalten, aber man kann schwerlich sagen, daß er etwas ganz anderes damit hat ausdrücken wollen als Vitalis oder Du Beilay. Was er weggelassen und was er hinzugefugt hat, sind alles keine «essentials» bezüglich der Thematik: Wir haben es nach wie vor mit einem Gedicht über die Vergänglichkeit zu tun, das Rom zum symbolischen Gegenstand hat. Es ist keine Replik... Diese Beobachtung dürfte, denke ich, weitgehend verallgemeinert und auf die gesamte humanistische Lyrik und den Petrarkismus bezogen werden - weswegen ich im folgenden auf Beispiele aus diesem weiten Felde verzichte.
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ERSTE STUDIE
Die alte und die neue Heloise (Abaelard und Rousseau)
Ursprünglich hatte Jean-Jacques Rousseau seinem Roman den eher farblosen Titel Lettres de deux amants, habitans d'une petite ville au pied des Alpes geben wollen. 1758 taucht dann im Briefwechsel mit dem Verleger Rey die Fassung Julie ou la Moderne Heloise auf, der ältere Titel wird zum Untertitel, und auf einen Brief des Verfassers hin streicht der Verleger das Wort Moderne durch, um es durch Nouvelle zu ersetzen. Dabei sollte es bleiben. Obwohl Autor und Verleger gem einfach von Julie sprechen, wenn sie den Roman meinen, kursiert der endgültige Titel bald auch im Freundeskreis: La Nouvelle Aloyse nennt ein gewisser Lorenzi das Werk im November 1759 und wünscht sich nähere Informationen darüber. Im außergewöhnlich ergiebigen Kommentar zur Neuausgabe der Nouvelle Heloise, den Bernard Guyon für die Bibliotheque de la Pleiade geschrieben hat (CEuvres completes deJ.-J. Rousseau, II, 1964), finden sich nicht nur diese Angaben, sondern die Wahl des Titels Die neue Heloise wird auch - auf Arbeiten von P. Zumthor und Ch. Charrier fußend - erklärt mit dankenswerten Hinweisen auf die steigende Beliebtheit des Textes aus dem zwölften Jahrhundert, den wir Abaelard zuzuschreiben neigen. Nachdem der Theologe und seine Schülerin, der Abt und die Nonne, im späten Mittelalter bereits als Liebespaar berühmt geworden waren, so daß man Anspielungen im Rosenroman oder bei Villon findet, scheint der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise in der Renaissance weitgehend vergessen worden zu sein, aber im späten siebzehnten Jahrhundert wird er wiederentdeckt und im Kielwasser der Lettres portugaises von Bussy-Rabutin 1697 neu - und frei - übersetzt. Schon diese Übersetzung ist Rousseau offenbar bekannt gewesen. Sie wurde oft neu aufgelegt und hat mehrere Nachbildungen zur Folge gehabt, von denen Alexander Popes Versepistel Eloisa to Abelard von 1717 die erfolgreichste war. Sie wurde ihrerseits oft neu ediert (mindestens fünfundzwanzig mal), in verschiedene Sprachen übertragen und imitiert. Noch erfolgreicher als Popes «Heroide» dürfte deren französische Wiedergabe durch Colardeau gewesen sein, die 1758 erschien - und, wie Guyon berichtet, «un delire d'enthousiasme» erregte. Nun ist die Geschichte der tragischen Liebe zwischen dem theologischen Lehrer und seiner Schülerin in aller Munde: Daß Rousseau den erfolgversprechenden Titel dem blassen vorzog, versteht sich daher. Guyon schreibt dann in seinem Kommentar etwas Merkwürdiges: Der zur Entstehungszeit von Rousseaus Roman so überaus beliebte Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise sei keine «Quelle» desselben. Zwar erinnerte das Anfangsgeschehen an das Schicksal des Hauslehrers der Heloise, der sich in seine Schülerin verliebt, und erst recht an dasjenige der Schülerin, die sich von ihrem Lehrer schwängern läßt, auch der Widerstand von Heloises Familie gegen die Ehe mit dem Theologen gemahne an denjenigen von Julies Eltern - aber die Unterschiede seien doch nicht zu übersehen: Julie bringe ihr Kind nicht zur Welt, sie werde nicht Äbtissin, sie heirate ihren Hauslehrer nicht, sondern einen anderen usw. Von der Eliminierung der grausamen Entman-
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nung Abaelards durch den Ziehvater Kanonikus Fulbert nicht zu reden... Gewiß, die Unterschiede sind da - aber eben sie machen die Gemeinsamkeiten erst recht interessant, wenn man das Verhältnis so sieht, wie der Titel es suggeriert: Die «neue Heloise» ist nicht die alte, aber sie erinnert uns doch an diese, und wenn die Geschichte dann anders weitergeht, so kann das doch nicht heißen, daß wir diese Erinnerung ad acta legen sollten, im Gegenteil: Rousseau wollte offenbar beides, an Abaelard und Heloise erinnern und von dem berühmten Muster wegfuhren; konkreter gesagt: dem Konzept der ebenso freien wie leidenschaftlichen Liebe, das er sich zunächst einmal zueigen gemacht hat, ein anderes entgegenstellen, das zwar dem früheren nicht gleicht, aber doch immer noch einen Trennungsstrich zieht zwischen Liebe und Ehe. Darauf müssen wir unseren Blick richten, wenn wir Rousseaus Roman als eine «Gegendichtung», eine literarische Replik verstehen wollen. Daß man gerade um der Liebe willen auf eine Ehe zu verzichten bereit sein könne, lehren freilich mehrere Beispiele aus der französischen Romangeschichte vor Rousseau auch, vor allem mag - und muß - man sich dabei an die Princesse de Cleves von Mme de Lafayette erinnert fühlen, die Rousseau ohne Zweifel erst recht vor Augen stand, als er seine Neue Heloise schrieb, aber ich lasse das auf sich beruhen, zitiere nur einen Passus aus Popes Versepistel, der hier besonders einschlägig ist, gehe dann aber zunächst einmal etwas ausführlicher auf Abaelard und seinen Briefwechsel mit Heloise ein. Pope läßt seine Heloise einmal sagen: How oft, when press'd to marriage, have I said, Curse on all laws but those which Love has made! Love, free as air, at sight o f human ties, Spreads his light wings, and in a moment flies.
Es besteht umso mehr Grund an diese Verse zu erinnern, als Heloise ja bekanntlich wenn auch nur in geheimer Ehe - ihren Abaelard zum Manne bekommen hat (wir werden die Umstände gleich genauer sehen), aber die Ablehnung der Ehe «um der Liebe willen», das Ja zur freien Liebe, offensichtlich als die eigentliche «Moral von der Geschieht'» aufgefaßt worden ist, und das war so verkehrt nicht. Pierre Abelard oder auch Petrus Abaelardus (1079-1142) wurde unweit von Nantes in einem Dorfe geboren und von seinen Eltern - wie er in seinem kurzgefaßten Lebensbericht, der Historia calamitatum mearum berichtet da er sich als besonders begabt und gelehrig zeigte, mit zwanzig Jahren nach Paris geschickt, zunächst um sich philosophisch (wie man heute sagen würde), dann um sich theologisch ausbilden zu lassen. Bald schon erwies er sich seinem Lehrer Wilhelm von Champeaux als überlegen. Im Streit zwischen dem «Nominalismus» und dem «Realismus», der damals die Gemüter bewegte, bezog er eine Mittelposition, die er dialektisch geschickt mit seiner Methode des «Sic et Non» zu vermitteln wußte. Seine Art, das Für und Wider gegeneinander abzuwägen, faszinierte offenbar die Studierenden, Abaelard erhielt großen Zulauf, wurde berühmt und reich - und zog sich den Neid seiner Kollegen zu. Vor allem erregte er schließlich den Zorn des frommen Bernhard von Clairvaux, der mit Recht darauf hinweisen konnte, wie gefahrlich es für die Kirche sei, wenn man wie Abaelard die Kirchenväter gegeneinander ausspielte und letztlich dem eigenen kritischen Verstand das Urteil über die Wahrheit zusprach. Abaelard erhielt Lehrverbot,
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mußte sich in eine Klause bei Nogent-sur-Seine zurückziehen, wurde - nun erst Mönch, später Abt, und verdankte es schließlich nur dem Eintreten eines weisen Kirchenmannes, des Petrus Venerabiiis, für ihn, daß er, obwohl von Kirche und von einer Synode verurteilt, schließlich in Ruhe sterben konnte. Auf die Streitbarkeit des Theologen und seinen Rekurs auf die eigene, kritische Urteilskraft, mußte hingewiesen werden, denn beides kann man auch aus dem Briefwechsel mit Heloise herausspüren, in dem die Geschichte seiner Beziehung zu seiner Schülerin und seiner gräßlichen Bestrafung durch die Mannen des Kanonikus Fulbert erzählt wird. Uns interessieren von den zwölf Briefen vor allem die ersten vier oder fünf - und ich referiere darüber teils aus dem Text, teils zurückgreifend auf die Interpretation von Hugo Friedrich, die er - als Wiedergabe eines Vorlesungskapitels - in seinen Aufsätzen (Romanische Literaturen I, 56 sqq.) geliefert hat. Es geht dabei natürlich in erster Linie um das Liebeskonzept und die Stellungnahme zum Thema Liebe und Ehe. Voraussetzung dafür, daß der schon öfters erwähnte Kanonikus Fulbert seiner lernbegierigen Nichte den Abaelard zum Lehrer machte, war natürlich der Ruhm des Gelehrten, aber Abaelard fügt hinzu, er habe auch als enthaltsam gegolten und die «continentia» gepflegt, zumal er zu dem «schmutzigen Verkehr mit Buhlerinnen» keine Lust, zum Verkehr mit «edleren Frauen» aber als Gelehrter keine Gelegenheit gehabt habe. So Abaelards eigene Aussage nach der überarbeiteten Übersetzung von P. Baumgärtner aus dem Jahre 1894 (1971 bei Hegner in Köln erschienen). Heloise lebte also im Hause ihres Onkels, der ihr Erziehungsberechtigter war, und Abaelard kam nachdem das Mädchen den berühmten Mann kennengelernt hatte - auf ihren Wunsch in das Haus. Fulbert bietet ihm nicht nur Kost und Logis, sondern gibt ihm freie Hand, sein Mündel mit allen Mitteln zu erziehen, einschließlich, wenn es nötig sein sollte, der Züchtigung. So schickte er, schreibt Abaelard, den Wolf zu dem Lamm in die Hürde, und es kam, was kommen mußte. Zunächst hat Abaelard das Mädchen von siebzehn Jahren (er war damals neununddreißig) zweifellos als Lehrer fasziniert, doch dann wurde aus dem pädagogischen der gewöhnliche Eros. Dabei dürften die heidnischen Autoren, die zur christlichen Propädeutik gehörten, eher eine größere Rolle gespielt haben als die Bibel oder die Kirchenväter. Auf jeden Fall zitiert Heloise in ihren Briefen Cicero und die anderen aufs geläufigste - Abaelard gesteht dann: «Unter dem Deckmantel der Wissenschaft gaben wir uns der Liebe hin», und bald «gab es mehr Küsse als belehrende Reden». «Nur allzu oft verirrte sich die Hand von den Büchern weg zu ihrem Busen - saepius ad sinus quam ad libros reducebantur manus». Sogar die Erlaubnis zu züchtigen nutzte der Lehrer, um die Lust zu steigern: «verbera quandoque dabat», doch «es war Liebe, die zuschlug, nicht Zorn, und diese Züchtigungen waren süßer als jeder Balsam». So der Magister, der noch keinen Marquis de Sade gelesen haben konnte. Schließlich bekennt Abaelard: «Die ganze Stufenleiter der Liebe machte unsere Leidenschaft durch, und wo die Liebe neue Entzückungen erfand, da haben wir es genossen». Im Original klingt die Stelle noch schockierender: «si quid insolitum amor excogitare potuit, est additum». Der «Reiz des Neuen», fügt der Sich-Erinnernde hinzu, «erhöhte nur die Ausdauer unserer Glut und unsere Unersättlichkeit». Zwar färbt nachträgliche Reue den Bericht möglichst drastisch, um den sündigen Charakter der Beziehung zu unterstreichen, aber anzunehmen ist dennoch, daß wir es hier mit einer überaus sinnlichen Liebe zu tun haben: Bei dem Gelehrten im besten 12
Mannesalter brachen sich die angestauten Triebe gewaltsam Bahn, bei dem jungen Mädchen ging es offenbar um die Entdeckung einer Naturbegabung ... Abaelard vernachlässigte seine Schüler, und diese protestierten. Er aber schreibt, er habe statt Dialektik zu lehren lieber Liebesgedichte geschrieben, von denen einige noch im Volksmund weiterlebten. Heloise wurde schwanger. Abaelard entführte sie mit ihrem Einverständnis und brachte sie bei Verwandten in seiner Heimat unter. Dort gebar Heloise einen Knaben, der Astrolabius genannt wurde. Fulbert erfuhr davon, tobte, schwor Rache und beruhigte sich auch nicht damit, daß Abaelard ihm «als Genugtuung» zusagte, Heloise zu heiraten - allerdings insgeheim. Die Heirat war Klerikern zwar erlaubt, aber sie pflegte zur Folge zu haben, daß sie ihr Lehramt aufgeben mußten, schreibt Hugo Friedrich (61). Das erklärt Abaelards Wunsch nach Geheimhaltung. Fulbert hielt das für eine Finte und ließ Abaelard eines Nachts von seinen Knechten überfallen und entmannen. Die Tat wird ruchbar, Abaelards Schüler lamentieren, seine Gegner triumphieren. Ihn selbst treibt die Angst um, die ihm ein Passus aus dem 23. Kapitel des fünften Buchs Moses eingibt: «Es soll kein Zerstoßener noch Verschnittener in die Gemeinde des Herrn kommen.» - Er flüchtet sich in ein Kloster, Heloise muß den Schleier nehmen, er in Saint-Denis, sie im Kloster von Argenteuil. Später gründet Abaelard in der Nähe von Troyes das Nonnenkloster Paraklet, veranlaßt Heloises Übersiedlung dorthin und sorgt dafür, daß sie Äbtissin wird, als welche sie nach Jahren untadeliger Pflichterfüllung 1162 ihrem ehemaligen Geliebten und späteren Spiritual nachstirbt, der seit zwei Jahrzehnten schon tot ist. Beider Urnen wurden später auf den Friedhof Pere La Chaise gebracht, wo sie noch heute ruhen. Aber ich habe meinem Ereignisbericht zuliebe das Wichtigste unterschlagen: Heloise wollte nicht heiraten! Sie wehrte sich dagegen mit Gründen, die auszubreiten Abaelard in seiner Lebensbeichte fast vier Seiten braucht (unter dem Titel «Dehortatio supradictae puellae a nuptiis»). Heloise beruft sich dabei auf Sokrates, von dessen Ehe mit Xantippe man j a Unrühmliches genug weiß. Dann zitiert sie Cicero und Seneca, Hieronymus und den Apostel Paulus. Der Tenor ist zunächst: Ein Philosoph darf nicht heiraten, er muß sich einzig der Wahrheitssuche widmen und soll sich weder durch Kinder mit ihrem Schmutz und ihrem Lärm, noch durch Dienstboten, noch durch die Sorge um das tägliche Brot davon ablenken lassen, was seine Berufung ist. Heloises Argumentation klingt überaus realistisch, ist aber Punkt für Punkt abgestützt durch den Rückgriff auf die genannten heidnischen und christlichen Quellen. Der Gedanke, daß ein Philosoph nicht heiraten dürfe, ist zwar im Kern antik (belehrt uns Hugo Friedrich), aber die Argumente, die Heloise ins Feld fuhrt, beziehen sich bei Cicero und den anderen auf die Freundschaft, nicht auf die Ehe: Ohne Nötigung und Zwang schenken die Freunde - oder Liebenden - einander alles: «nullius ratione necessitatis cogente», wie es bei Andreas Capellanus, dem bekanntesten Liebestheoretiker des Mittelalters, heißt. Die praxisbezogenen Hinweise betrafen also mehr die Oberfläche, in Wahrheit ging es Heloise darum, daß Liebe, wie Freundschaft, nur dem eigenen, freien Entschluß verpflichtet sein darf und keiner institutionellen Festlegung bedarf - schon damit jeder Anschein vermieden wird, die Frau (oder der Freund) könnte es nicht auf das Wesen, sondern auf äußere Attribute wie Besitz und Ansehen abgesehen haben: «Nihil unquam, Deus seit», schreibt Heloise dementsprechend, «in te nisi te requisivi, te pure, non tua concupiscens». Der Satz klingt an Ciceros De amicitia an - und Friedrich bemerkt dazu: «In Heloise und jenem Satz te pure, non tua concu-
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piscens kommt eine weibliche Liebe zum gleichen Adel, wie der antike Freundschaftsbegriff ihn besaß. Der Satz spricht Entscheidendes aus, daß [...] es kein anderes Warum des Liebens gibt als die Person des Anderen, und kein reineres Ziel, als im Lieben die Person des Anderen von allem zu trennen, was nur ihr Beiwerk, nicht sie selbst ist.» (68) Man muß nicht nur Nonkonformist sein, um so zu denken, man muß ein erstaunlich modern anmutendes Gefühl für die Autarkie der Persönlichkeit haben! Nicht minder «modern» mutet an, was Heloise weiter zu sagen hat. Freiheit, das wurde schon angedeutet, ist die conditio sine qua non der Liebe für sie, Zwang ihr Untergang. Deswegen gilt ihr die Ehe geradezu als das Grab der Liebe. «Amica», ja, eine Freundin, und wenn es sein sollte - oder könnte - auch eine Konkubine des geliebten Mannes wollte Heloise gern sein, sagt sie - aber nicht seine Gattin. (Daß Abaelard gar nicht mehr in der Lage ist, die Rolle eines Ehemannes zu übernehmen, spielt bei alldem eine untergeordnete Rolle.) Abaelard nimmt das alles zur Kenntnis. Aber sein Antwortbrief (Nr. 3) kommt «aus einem taub gewordenen Herzen», schreibt Hugo Friedrich (70). Er enthält nichts als fromme Gemeinplätze sowie die Bitte, die Nonnen von Paraklet möchten für ihn beten, denn er habe schwer gesündigt - Heloise antwortet erneut ganz anders, als ihr geistlicher Ratgeber sich das gedacht haben mag. Nicht einmal die lüsternsten Stunden, sagt sie, bereue sie. Sie bekennt sich zu der Natur, die Gott ihr gegeben hat, und nennt es eine Grausamkeit, daß Gott Abaelard, nicht sie gestraft habe. Sie kann sich von den Trieben, die - trotz allem - in ihr weiterbrennen, nicht befreien. «Selbst in der feierlichen Messe, wo das Gebet rein sollte,» bekennt sie, «wird meine arme Seele so von den Bildern der Sinnlichkeit - voluptatum phantasmata - gequält, daß ich nicht mehr auf das Gebet achte.» Und: «Ich, die ich stöhnen sollte über das, was ich beging, sehne mich lieber zurück in das, was ich verlor». Zwar weiß sie als Äbtissin die Form zu wahren, sie weiß, was die Religion eigentlich von ihr verlangt, aber ebensogut weiß sie - und bekennt es offen - daß sie dies im Innersten nicht leisten kann und nicht einmal leisten will. Ihr ist mehr daran gelegen, sagt sie, dem Geliebten zu gefallen als Gott. Daher weist sie seine salbungsvollen Ermahnungen auch zurück: «Komme mir nicht mit weisen Sprüchen über die Tugend,» schreibt sie unerhört kühn,«ich will nicht die Krone des Sieges». Als Abaelard erneut mit frommer Belehrung aufwartet, enttäuscht Heloise das erst recht. Sie muß erkennen: Wenn nicht einmal der Geliebte sie versteht, wie soll die Welt sie dann verstehen? Sie aber weiß:«... nichts haben wir weniger in der Gewalt als unser Herz. Wir müssen ihm gehorchen und können ihm nicht gebieten. Ach wäre doch das Herz der Trauernden ebenso bereit zu gehorchen, wie es die schreibende Hand ist!» Es bleibt Heloise nichts anderes übrig als zu verstummen. Nichts spricht dafür, daß ihr Zustand sich geändert habe, nichts dafür, daß Wille, Einsicht und Wunsch sie zu der frommen Christin gemacht haben, die sie gern hätte sein wollen - aber nicht sein konnte. Soviel hierzu, um zu betonen, wie unchristlich dieser Text klingt, wie ketzerisch er insbesondere zur Zeit der Cluniazenser-Reform wirken mußte - und wie «feministisch» er heutige Leser anmuten mag. Ob er wirklich von Heloise verfaßt worden ist, oder ob der widerspruchsreiche Abaelard der eigentliche Verfasser war, kann uns dabei ziemlich gleichgültig sein: Stammte er von ihm, so bewiese er jedenfalls eine geradezu dichterische Gabe und gemahnte uns an all die vielen von Männern geschriebenen
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Texte des achtzehnten Jahrhunderts, in denen die «Liebesüberlegenheit» der Frau geschildert wird. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend muß wohl der kleine Briefroman von Guilleragues, die Lettres portugaises von 1669 als ein noch wichtigeres Zwischenglied in der Überlieferungskette hin zu Rousseau genannt werden als die eingangs erwähnte Princesse de Cleves. Zwar argumentiert die angeblich portugiesische Nonne nicht wie die Heldin der Lafayette - gegen die Ehe an (sie hätte ihren treulosen Chevalier sogar gern geheiratet, sagt sie einmal), aber die Selbstbezogenheit der Liebe und das Jasagen der Portugiesin zu den sündigen Gefühlen, die sie eingibt, erinnern in starkem Maße an Abaelard und Heloise. Auch hier handelt es sich übrigens ja um eine Nonne, die ihren Gefiihlskult, der doch Gott gelten sollte, dem geliebten Mann weiht - und schließlich nur noch hegt und pflegt, was sie im Innersten bewegt, auch wenn die «schreibende Hand» es nicht mehr zu Papier bringt. Doch wir steuern auf Rousseau zu. Die Gründe, die Jean-Jacques Rousseau im Alter von etwas über vierzig Jahren dazu geführt haben, seinen großen Liebes- und Eheroman zu schreiben, sind oft dargelegt worden, meistens im Anschluß an das, was er selbst in den Confessions (neuntes Buch) darüber schreibt. Er hat die verhaßte Stadt Paris endlich verlassen und unweit von Montmorency in einem Häuschen, das ihm die Besitzer des naheliegenden Gutes, die reichen d'Epinays, zur Verfügung stellen, damit er ungestört lesen und schreiben könne, Unterschlupf gefunden. Auf Spaziergängen durch die friedlichen Wiesen und Wälder in der idyllischen Landschaft nördlich von Paris denkt er über sein Leben nach und findet, daß dieses sich dem Ende nähert, ohne daß er eine Erfüllung all der Wünsche gefunden hätte, die er seit langem mit sich herumtrug, daß sein Herz leer geblieben und dies, vor allem, sein Bedürfnis nach Liebe ungestillt geblieben sei. Er befindet sich, wie La Fontaine, als er seine Fabel von den beiden Tauben schrieb, in einer typischen «midlife crisis» und sucht sich den Ausweg, der sich für einen Romanleser, wie er es seit seiner Kindheit war, anbot: die Niederschrift seiner unerfüllten Sehnsüchte in Form eines Romans. «Rousseau va demander ä la creation litteraire une evasion, une revanche sur la vie», liest man dementsprechend im Abschnitt über die Neue Heloise in den Grands Auteurs du Programme von Lagarde und Michard (XVIII' Siecle, 1970, 280). Und dann folgt das Zitat aus den Confessions: L'impossibilite d'atteindre aux etres reels me jeta dans le pays des chim^res, et ne voyant rien d'existant qui fut digne de mon delire, je le nourris dans un monde ideal que mon imagination creatrice eut bientöt peuple d'etres selon mon cceur...
Zuerst seien ihm die beiden Freundinnen eingefallen, die dunkle Julie und die blonde Ciaire, dann der Liebhaber der ersteren, der ihm selbst ähnelte, aber liebenswürdiger und jünger sei, auch wenn er seine, Rousseaus, «Tugenden und Laster» besaß. Von literarischen Inspirationsquellen ist da nicht die Rede. Die Literaturwissenschaft hat dem Manko, wie zu erwarten, abgeholfen und neben vielen anderen Vorlagen vor allem auf Richardsons erfolgreiche Briefromane hingewiesen. Die Technik des Briefromans dürfte in der Tat vor allem von dem empfindsamen Engländer herzuleiten sein, der wie kein anderer zuvor das «writing to the moment» zu nutzen verstand, um seinen Lesern das Gefühl der unmittelbaren Teilnahme am Geschehen, das sich eben gerade
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abgespielt hat, zu vermitteln vermochte. Rousseau ist gewiß auch bei Guilleragues und anderen Briefromanschreibern (weniger, denke ich, bei dem Montesquieu der Lettres persanes) in die Schule gegangen, aber wie er zum größten Meister dieser «Kardiogramm-Literatur» (Jean Rousset) in Frankreich geworden ist, braucht hier nicht weiter gefragt zu werden, die Feststellung, daß er es war, genügt. Aber war der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise mehr als nur eine «Quelle» unter anderen? Ich plädiere entschieden dafiir; nicht wegen der Technik des Schreibens, umso mehr aber wegen der Thematik. Man braucht bloß den fulminanten Anfang des Rousseau'schen Romans zu lesen, den er ohne Plan instinktiv drauflos geschrieben haben will, um sagen zu können: Hier legt der Autor uns als Geschehen, «mis en scene et en action», vor, was Abaelard im erzählerischen Rückblick berichtet hatte. Saint-Preux ist Hauslehrer im Hause der adligen Familie d'Etanges, und er ist «mittellos und nicht von Stand». Viel mehr erfahren wir über diesen sozialen Gegensatz nicht, den Rousseau in Opposition zu Richardson gewählt hat, bei dem immer Adlige die Verführer bürgerlicher Mädchen sind. Mag sein, daß die Position des Hauslehrers als «petit-bourgeois» oder als «roturier» auch zu Rousseaus Vorsatz gehörte, in SaintPreux ein veijüngtes Konterfei seiner selbst zu bieten. (Der Verfasser war ja selbst ein Jahr Hauslehrer bei einer adligen Familie in Lyon gewesen, hatte dort allerdings zwei Knaben unterrichten müssen und den «Job» bald als unbefriedigend wieder aufgegeben.) Saint-Preux ist zwar kein scholastischer Theologe, aber er ist doch auch ein typischer Büchermensch und mag kaum mehr Gelegenheit zu lieben gehabt haben als Abaelard. Seinen Beruf als Erzieher nimmt er sehr emst. Er entwirft ein komplettes Studienprogramm, das uns nicht vorenthalten wird (Premiere Partie, Brief XII) und das in mancher Hinsicht auf die Erziehungslehre im Emile präludiert: wenige, aber gute Bücher, «große Gegenstände», die den Geist erheben, den Geschmack bilden und, dies vor allem, die Moral festigen sollen. Saint-Preux ist ein Tugendapostel, er ist ein Moralprediger. Immerzu spricht er von «vertu» und das, eben das, macht es ihm so schwer, den ersten Schritt zu tun, als er merkt, daß er seine Schülerin Julie liebt. Sie soll agieren, sagt er: Sie soll ihn des Hauses verweisen, denn er fürchtet, ihrem Zauber (der dann auch beschrieben wird) zu erliegen. Natürlich weiß Saint-Preux, daß Julie gerade das nicht tun wird. Denn er hat ihr bereits von der Seelensympathie geschrieben, die sie verbindet, hat gesagt, der Himmel scheine sie füreinander bestimmt zu haben - oder auch die «Natur», welche sie gleichaltrig und gleichen Sinnes geschaffen habe. Aber der Gedanke an eine Verbindung sie ja doch so unvernünftig... Das ist die Insinuationstechnik, die Strategie des Vor-und-Zurück, die den Auftakt des Romans kennzeichnet und weit über die trockene Berichterstattung Abaelards hinaushebt. Aber dieser Auftakt wirkt zugleich doch wie eine Ausführung des Programms, das der Autor des 12. Jahrhunderts skizziert hatte, zumal die Fortsetzung erst recht an diese «Quelle» erinnert. Mit einer Suiziddrohung erzwingt Saint-Preux schließlich das Entgegenkommen Julies: Sie antwortet verräterischerweise, wenn ihr Leben ihm lieb sei, dürfe er sich das seine nicht nehmen (Billet III des dritten Briefes). Da ist es heraus: Auch Julie liebt Saint-Preux, und auch sie findet, die Natur selbst sei die «Komplizin» des Geliebten, ihr Wille komme nicht dagegen an, ihr Verstand vermöge nichts gegen ihre Leidenschaft. Die Liebeserklärung, das Liebesgeständnis allein schon läßt Saint-Preux in ekstatische Glücksbekundungen ausbrechen: «Puissances du Ciel! j'avois une äme pour la douleur, donnez-m'en une pour la felicite!» schreibt er zu Beginn von Brief
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fünf. Und es folgen die aller-pathetischsten Bekundungen der Reinheit seiner Liebe. «Ein Strom der Entzückung» füllt sein Herz, bloß weil er erfahren hat, daß Julie ihn liebt. W i e könne sie befürchten, daß er mehr wolle, sie, «der das ganze Universum huldigen müßte». Die Liebe, die Julie ihm eingibt, schreibt Saint-Preux, sei unvereinbar mit einem «Vergessen der Tugend». Ihre Liebesflamme reinige sie beide usw. Aber dann schmachtet der Liebhaber doch und will mehr: Er weiß, daß er ihr Keuschheit gelobt hat, weiß aber zugleich, daß er «der Trunkenheit seiner Sinne» nicht mächtig ist und sein Gelübde eines Tages brechen werde - wenn sie ihn nicht davon abhält. Aus welchem Grunde Julie dann - nach den eher umständlichen pädagogischen Ablenkungen zweier Briefe (zehn von insgesamt zwölf) den Geliebten zu einem Stelldichein einlädt und ihn an verschwiegener Stelle, «im Wäldchen», wie es heißt, küßt, ist schwer zu sagen. Es sieht so aus, als wollte sie ihren Hauslehrer für seine Bildungsbeflissenheit belohnen. Fast schelmisch schreibt sie ihm, sie halte da «eine kleine Überraschung» für ihn bereit - und dann küßt sie ihn so, daß Saint-Preux in Flammen steht. Die Sinnlichkeit, die da aus dem Mann herausbricht, findet zwar gänzlich andere Töne, als wir sie von d e m «Tatsachenbericht» Abaelards her gewohnt sind, aber sie übertrifft den der mittelalterlichen Liebenden an Hitze entschieden: Qu'as-tu fait, ah! qu'as-tu fait, ma Julie? tu voulais me recompenser et tu m'as perdu. Je suis ivre, ou plutöt insense. Mes sens sont älteres, toutes mes facultes sont troublees par ce baiser mortel. Tu voulais soulager mes maux? Cruelle, tu les aigris. C'est du poison que j'ai cueilli sur tes lfevres; il fermente, il embrase mon sang; il me tue, et ta ρύίέ me fait mourir... Mit einmal, sagt Saint-Preux, sei der «Schleier zerrissen», den er vor Augen gehabt habe, nun erkennt er, wie er bis ins Innerste entflammt sei. Und wie der K u ß dann in Erinnerung gerufen wird, das läßt erst recht keinen Zweifel mehr über den Grad der Sinnlichkeit, den diese Liebe nun angenommen hat: ... quand je sentis... la main me tremble... un doux frdmissement... ta bouche de roses... la bouche de Julie... se poser, se presser sur la mienne, et mon corps serre dans tes bras? (64) Da kann der Liebende nur noch stammeln... Aus Stolz weigert sich Saint-Preux, für seine Hauslehrertätigkeit bezahlt zu werden. Das Geld, das ihm Julie zukommen läßt, schickt er empört zurück, obwohl er arm ist. Diese fast etwas peinlich wirkende Episode hat zur Folge, daß Julies Vater, der Baron d'Etanges, den jungen Mann des Hauses verweist: Er will keinen Ehrendienst, sondern einen bezahlten Dienst von dem «roturier». Und gleichzeitig erfahren wir, daß er seine Tochter einem Standesgenossen versprochen hat, Monsieur d e Wolmar, dem er sich aus Kriegszeiten verpflichtet fühlt und den er, trotz seines fortgeschrittenen Alters, wegen seiner Verläßlichkeit und Güte für den geeigneten Schwiegersohn hält. Julie ist verzweifelt, und als Saint-Preux von einer erzwungenen Reise ins Wallis - die Rousseau zu seiner berühmt gewordenen Schilderung der Alpenlandschaft nutzt zurückkommt, gibt Julie sich ihrem Geliebten hin. Sie tut es halb aus Verzweiflung, halb aus Trotz, und in einer Anwandlung töchterlicher Emanzipation. Sie schreibt: Enfin, mon ρέτε m'a done vendue? II fait de sa fille une merchandise, une esclave, il s'aequitte ä mes depens! II paye sa vie de 1a mienne... 17
Schließlich nennt Julie ihren Vater «pere barbare et denature» und erklärt, daß sie es nicht überleben werde, wenn er sie zwinge, einen anderen als Saint-Preux zu heiraten. Doch gleich danach fällt sie sich selbst ins Wort: «c'est le meilleur des peres, il veut unir sa fille ä son ami, voilä son crime» (Brief 28). Und nach der Liebesnacht mit SaintPreux schreibt sie ihrer Freundin Ciaire: Warum nur, warum hast Du mich verlassen, die Du doch mein «Schutzengel» warst? Nun ist sie «gefallen»: «tu m'as abandonnee, et j'ai peri» (Brief 29). Der Brief ist also auf den Ton der Zerknirschung abgestimmt. Saint-Preux hingegen versucht die Liebesvereinigung zu rechtfertigen: La chaine qui nous lie est legitime... (Brief 31)
Bei Julie fruchtet das nicht. Sie weint der Zeit nach, da ihre Liebe unschuldig und sie noch «tugendhaft» war. Sie empfindet, was ihm «die Seele erhob», als eine «Erniedrigung». Und doch lädt sie bei nächster Gelegenheit, als ihre Eltern verreist sind, SaintPreux ein, zu ihr zu kommen: In einem ländlichen Weiler an dem Flüßchen, das bei Vevey in den Genfer See mündet, hat sie eine Hütte ausfindig gemacht, in der sie einander ungestört lieben können... Aber es kommt anders. Julies Zofe, Fanchon, ist in Nöten, weil ihr Geliebter zum Militärdienst gepreßt werden soll: Saint-Preux bekommt den Auftrag, da einzuspringen und zu helfen. Es ist ein «Tugendbeweis», dem er sich nicht entziehen kann. So wird aus der ländlichen Idylle nichts. Dennoch haben sie sich geliebt, und Julie ist schwanger geworden. Da der Vater die Ehe mit Saint-Preux nicht genehmigen will, springt ein englischer Freund ein, Lord Edouard. Er bietet den beiden Liebenden die Chance, in England, dem Land der Freiheit, wo Standesgegensätze nicht gelten, wenn die «Gesetze der Natur» es anders bestimmt haben, eine neue Existenz aufzubauen. Doch Julie lehnt ab. Und es kommt zu der romangeschichtlichen Novität einer Fehlgeburt, als sie ihrem Vater ihre Liebe zu Saint-Preux gesteht. Der Vater verprügelt seine Tochter, und anstatt sich weiter gegen ihren Erzeuger aufzulehnen, beugt sich Julie, doch Saint-Preux muß das Schloß der d'Etanges verlassen; er begibt sich zuerst nach Paris, später wird er sich zu einer Weltumsegelung aufmachen. Und Julie verwandelt sich in die fügsame Frau des Monsieur de Wolmar. Ihr Respekt vor den Eltern, später auch die Reue, als die Mutter stirbt und Julie sich an ihrem Tod mitschuldig fühlt, fuhren dazu, daß sie die Ehe mit dem ungeliebten, aber schätzenswerten älteren Herrn, der ein Standesgenosse ist, eingeht. Von ihren anfänglichen Trotzreaktionen ist nichts mehr übrig geblieben. Die feierliche Zeremonie der Trauung in der Kirche läßt ihren heimlichen Plan, bei Gelegenheit Saint-Preux wiederzusehen und ihren Mann mit ihm zu betrügen, vollends verfliegen. Julies Konversion zur Konvention ist vollkommen. Das sieht zunächst einmal gänzlich anders aus als bei Heloise und Abaelard. Doch Julie entwickelt dann in einem der längsten Briefe des Romans (Troisieme Partie, XVIII) ihre neugewonnene Philosophie von Liebe und Ehe - und ein Teil davon erinnert doch wieder an den Dialektiker aus dem 12. Jahrhundert. Die Liebe, verstanden als sinnliche Leidenschaft, erklärt Julie im Brief an den - so muß man nun schon sagen: einstigen - Geliebten, tauge nicht als Fundament einer Ehe:
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L'amour sensuel ne peut se passer de la possession, et s'eteint par elle. Le veritable amour ne peut se passer du coeur, et dure autant que les rapports qui l'ont fait naitre. Tel fut le nötre en commen