Das Angenehme und das Nützliche: Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland [Reprint 2012 ed.] 9783110946321, 9783484175235

The late stages of the Enlightenment movement in Germany represent a challenge that German Studies has yet to respond to

194 34 10MB

German Pages 353 [356] Year 1997

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Table of contents :
Vorbemerkungen
Die Literatur im Ensemble der deutschen Spätaufklärung. Eine einleitende Problemskizze
Christoph Martin Wieland - Priester der Musen im Dienst milder Humanität und Aufklärung
Gefühl, Einbildungskraft, Gemeinsinn. Aspekte weiblicher Literatur und Aufklärung aus der Sicht Sophie von La Roches
Zwischen patriotischer Spätaufklärung und religiöser Gegenaufklärung. Lorenz Westenrieder, der »Praeceptor Bavariae«
Gemeinsinnige streitbare Publizistik im Glauben an Wirkungsmacht der »Publizität«. Wilhelm Ludwig Wekhrlin
Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter literarischer Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns
Berliner Spätaufklärung offensiv. Friedrich Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern (1796-1802)
»Zwischen gebildeten und ungebildeten Lesern keinen Unterschied erkennend«. Johann Peter Hebels literarische Volksaufklärung in Kontext seines beruflichen Wirkens
Personenregister
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Das Angenehme und das Nützliche: Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland [Reprint 2012 ed.]
 9783110946321, 9783484175235

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Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Herausgegeben von der Lessing-Akademie

Band 2 3

Wolfgang Albrecht

Das Angenehme und das Nützliche Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1 9 9 7

Redaktion: Claus Ritterhoff · Lessing-Akademie

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Albrecht, Wolfgang: Das Angenehme und das Nützliche : Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland / Wolfgang Albrecht. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung ; Bd. 23) ISBN 3-484-17523-0

ISSN 0342-5940

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Lessing-Akademie, Wolfenbüttel Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen Die Literatur im Ensemble der deutschen Spätaufklärung. Eine einleitende Problemskizze

VII

1

Christoph Martin Wieland - Priester der Musen im Dienst milder Humanität und Aufklärung

29

Gefühl, Einbildungskraft, Gemeinsinn. Aspekte weiblicher Literatur und Aufklärung aus der Sicht Sophie von La Roches

73

Zwischen patriotischer Spätaufklärung und religiöser Gegenaufklärung. Lorenz Westenrieder, der »Praeceptor Bavariae«

113

Gemeinsinnige streitbare Publizistik im Glauben an Wirkungsmacht der »Publizität«. Wilhelm Ludwig Wekhrlin. .

147

Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter literarischer Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns

185

Berliner Spätaufklärung offensiv. Friedrich Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern (1796-1802)

233

»Zwischen gebildeten und ungebildeten Lesern keinen Unterschied erkennend«. Johann Peter Hebels literarische Volksaufklärung in Kontext seines beruflichen Wirkens

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Personenregister

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Vorbemerkungen

Im Gefolge der Aufklärungsrenaissance der sechziger und siebziger Jahre, die der Herausbildung einer multidisziplinären Aufklärungsforschung förderlich war, wurde eine späte oder abschließende Phase der deutschen Aufklärungsbewegung regelrecht wiederentdeckt: die sogenannte Spätaufklärung. Nachgewiesen wurde, daß sie nicht bloß bis tief ins 19. Jahrhundert hineinreichte, sondern vor allem gegenüber den vorangegangenen Phasen (gemeinhin Frühund Hochaufklärung genannt) neue qualitative und speziellere Ausprägungen gewann, sich von einer dominanten literarisch-wissenschaftlichen Richtung zu einer sämtliche Lebensreiche erfassenden Reformbewegung entfaltete,1 innerhalb derer es - jeweils in sich differenziert - unter anderem gab: pädagogische, theologische, literarische, philosophische, juristische und medizinische Spätaufklärung. Es besteht keine Notwendigkeit, von der Bezeichnung »Spätaufklärung«, die gleich allen Periodisierungsbegriffen eine Hilfskonstruktion darstellt, abzurücken, wenn man sich nach Maßgabe der neueren Forschungsergebnisse2 nur konsequent bewußt macht: Im Falle der deutschen Aufklärungsbewegung bedeutet das Epitheton »spät« sowohl größere Mannigfaltigkeit und Reife als allerdings auch zunehmend Verflachung und allmähliches Absterben. Unter literarischer Spätaufklärung soll demgemäß hier leitthesenhaft verstanden werden: eine vielgestaltige dominante Strömung der deutschen Literatur (Dichtung, Publizistik) etwa von 1770/75 bis gegen 1820, die im Unterschied zur vorherigen Aufklärungsliteratur wesentlich von reformerisch-sozialpraktischen aufklärerischen Belangen ausging und nachdrücklich auf sie orientierte. Die Herausbildung der Spätaufklärungsliteratur erfolgte (wie in der anschließenden Problemskizze dargetan) zeitgleich und im untrennbaren Zusammenhang mit dem generellen Übergang zur spätaufklärerischen Phase während der siebziger Jahre. Das - bislang nicht genauer untersuchte -

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Exemplarisch herausgearbeitet von Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Außclärung in Hamburg und Altona. 2 Tie. Hamburg 1982 (einbändige 2., erg. Aufl. 1990). Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. 4., Überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1991 (zuerst 1978). - Wolfgang Albrecht: Deutsche Spätauflclärung. Ein interdisziplinärer Forschungsbericht bis 1985. Halle/S. 1987.

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Vorbemerkungen

Abklingen scheint mit dem Paradigmenwechsel ineins zu fallen, den die Literatur des Biedermeier3 bezeichnet; wohingegen die Spätaufklärung auf anderen Gebieten, vor allem dem theologischen, durch die Biedermeierzeit hindurch noch viel lebendiger blieb.4 Und soviel kann als erwiesen gelten: Jene lebenspraktischen Belange wurden unter dem Eindruck der Französischen Revolution teils reduziert und teils modifiziert sowie gar vereinzelt revolutioniert, kaum aber gänzlich preisgegeben und vielmehr über die Jahrhundertwende hinaus propagiert. 5 Belehrungs-, Erziehungs- und Humanisierungsbestrebungen herrschten weithin vor, verbanden sich indes bei dichterischen Werken neben Vergnügungsabsichten auch mit ästhetischen Komponenten (Differenzpunkt zur zeitgenössischen bloß unterhaltenden Literatur). Ferner simplifizierten und verflachten zwar viele Autoren ursprüngliche aufklärerische Ideen, Prinzipien und Absichten, doch wurden diese von bedachteren und anspruchsvolleren Schriftstellern aktualisiert, gewandelten Gegebenheiten, Möglichkeiten und Erfordernissen entsprechend. Während die staatlich-gesellschaftlichen, organisatorischen und ideellen Grundlagen der Spätaufklärung sowie ihre Institutionen und sozialpraktischen Unternehmungen im einzelnen bereits recht gut erforscht sind, weiß man über ihre verschiedenartigen literarischen (publizistischen und dichterischen) Verlautbarungen viel weniger. Anders gewendet: Bei aller prinzipiellen Zustimmung für die stetig wachsende Einsicht der internationalen germanistischen Literaturwissenschaft, daß die überkommene Betrachtung allein klassischromantischer Literatur für die Zeit um 1800 zu kurz greift, ermangelt es an systematischer Aufarbeitung der literarischen Spätaufklärung Deutschlands. Derart hat sich im letzten Jahrzehnt, trotz manch gewichtiger Arbeiten, ein unverkennbarer Rückstand literaturwissenschaftlicher Erforschung der Aufklärung und sonderlich der Spätaufklärung gegenüber anderen Disziplinen nicht beträchtlich verringert. Dies ist um so gravierender, als das Ensemble der deutschen Literatur um 1800 nicht angemessen erfaßt werden kann, so3

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Am eingehendsten hierzu noch immer das Standardwerk von Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 1: Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel. Stuttgart 1971; vgl. u. a. das Stichwort »Aufklärung« im Register. »Das Ende der Wirkungsmächtigkeit der A.[ufklärung] in der ev. Kirche wird etwa durch das Jahr 1835 bezeichnet.« (Wilhelm Maurer: »Aufklärung. III. Theologisch-kirchlich«. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3., völlig neu bearb. Aufl. hrsg. von Kurt Galling. Bd. 1. Tübingen 1957, Sp. 723-730, hier Sp. 724. - Leonard Swidler: Aufklärung Catholicism 17801850. Liturgical and other Reforms in the Catholic Aufklärung. Missoula/ Montana 1978. Wolfgang Albrecht: »Aufklärung, Reform, Revolution oder >Bewirkt Aufklärung Revolutionen?Union< - Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786-1796)«. In: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Hrsg. von Helmut Reinalter. Frankfurt/M. 1983, S. 319-364. Über den noch immer wenig untersuchten Zusammenhang von Freimaurerei und Aufklärung sind am informativsten Claus Werner: Die französische und deutsche Freimaurerei des 18. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Berlin 1966 (Diss. Mschr.) und Rudolf Vierhaus: »Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland«. In: Das Vergangene und die Geschichte. Hrsg. von Rudolf von Thadden u a. Göttingen 1973, S. 23—41. - Vgl. jetzt auch: Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Reinalter. München 1989.

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Literatur im Ensemble der deutschen Spätaufklärung

klärerischem und Geheimbündnerischem war ambivalent und widerspruchsvoll. 14 Denn Aufklärung war wesens- und wirkungsbedingt schon seit ihren Anfangen öffentlichkeitsgerichtet; zunächst in den Grenzen der Gelehrtenwelt, die durch die Wissenschaftsentwicklung und das stetige Anwachsen der Literatur allmählich erweitert und mit der spätaufklärerischen Phase endgültig überwunden wurden. Eines nur darf dabei nicht verkannt und muß gegen Habermas 15 erinnert werden, der öfter allzu direkt von englischen Verhältnissen auf die andersartigen deutschen zurückgeschlossen hat. Öffentlichkeit bedeutete noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland schriftstellerische Publizität; also »nicht, auch nicht ansatzweise, politische Realität, sondern zunächst formales Postulat und Negation der bestehenden nichtöffentlichen Kabinettsregierung. Es fehlte vor allem an einer dem Herrscher entgegengesetzten Repräsentation, für die nach Art des englischen Parlaments Öffentlichkeit mitkonstituierend war.«16 Tendenziell politisch-öffentlich wurde die deutsche Aufklärung in dem Maße, wie sie gesamtgesellschaftliche Belange aufgriff und über die privatmenschliche Sphäre hinauszielte. Das gemeinsinnig-soziale und öffentlichkeitsgerichtete Bestreben bedingte, daß die Aufklärer ihre Aktionsräume erweiterten. Aufklärung sollte nicht nur alle Bereiche des menschlichen Lebens, sondern auch alle sozialen Stände und Schichten erfassen - allerdings weitgehend die Hierarchie der Feudalgesellschaft wahrend. Demgemäß wurde im großen und ganzen eine ständisch abgestufte Aufklärung betrieben. Es ging dabei generell um utilitaristische Sinnes- und Willensbildung und um Kenntnisvermittlung (»Welt- und Menschenkenntnis«), hinsichtlich der mittleren und höheren Schichten letztlich um die Befähigung, selbständig zu denken und zu handeln (»Mündigkeit«). Im Vordergrund stand die Erziehung und Ausbildung zum Menschen und zum gleichermaßen selbstbewußten wie pflichtgetreuen, nützlichen Staatsbürger,17 ideell gesehen zu Vernunft, Tugend und Humanität sowohl im privatmenschlichen als auch im staatlichen Bereich. Durchweg machten die Aufklärer den gesellschaftlichen Fortschrittsprozeß zuvörderst von der Bildung und Humanisierung des Individuums abhängig. Dies sahen sie als ihre dringlichste Aufgabe im Zusammenwirken mit dem Staat an.

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Vgl. Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied und Berlin 1962 (neueste Aufl.: Frankfurt/M. 1991). Möller: Vernunft und Kritik (Anm. 10), S. 287. Dazu u. a. Hans Carl Finsen: Das Werden des deutschen Staatsbürgers. Studien zur bürgerlichen Ideologie unter dem Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Kopenhagen und München 1983.

Literatur im Ensemble der deutschen

Spätaufklärung

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Doch gerade der Dualismus von Privatheit und Staatsbürgerlichkeit, der aus der bestehenden Trennung jener beiden Bereiche resultierte, brachte einen Widerspruch mit sich. Die Erziehung zu Lebenstüchtigkeit und Tätigkeit in der Ständehierarchie erfolgte nach aufklärerisch-bürgerlichen Werten, die über das bestehende Gesellschaftssystem hinauszielten, es aber nicht grundsätzlich in Frage stellten. Vielmehr sollten sie hinlenken zum loyalen Handeln kraft einer Vernunft, die zugleich als Regulativ der Kritik gedacht war. 18 Es mußte zudem versucht werden, individuelle und gesellschaftliche bzw. staatliche Interessen in Übereinstimmung zu bringen, wobei nicht selten letztere Priorität erhielten im Zusammenhang mit dem spätaufklärerischen Utilitarismus und Reformertum. Endzweck der Erziehung war gemeinhin, einen jeden Menschen zur umsichtigen Erfüllung seiner Pflichten zu befähigen und ihn in der Zufriedenheit mit seinem Stand zu erhalten bzw. zu ihr hinzulenken. Aufklärung des einzelnen bedeutete allererst: die Vermittlung der »richtigen Kenntniß seines persönlichen Wirkungskreises in seiner wahren Verbindung mit dem Ganzen, dessen Theil er ist«.19 Aus solchen Grundsätzen erwuchsen während der siebziger und achtziger Jahre erweiterte, systematische Entwürfe zu spezieller Volks- oder Bauernaufklärung. 20 Sie erfolgte überwiegend aus bürgerlichen Kultur- und Wertvorstellungen heraus und war im teils betonten, teils unausgesprochenen Gegensatz zur Aufklärung der mittleren und höheren Schichten nicht auf »Mündigkeit« orientiert, sondern nach Maßgabe der ständisch-sozialen Verhältnisse eingeschränkter, mit einem zeitgenössischen Begriff: »verhältnismäßig«. Die Bauern und sonstige Unterschichten sollten bloß elementar unterrichtet, beruflich hingegen möglichst umfassend ausgebildet und zur besseren Bewältigung ihrer alltäglichen Probleme sowie zur gesünderen Lebensführung angeleitet werden - der volksaufklärerischen Leitmaxime gemäß: »Alle Menschen sind ohne Ausnahme einer verhältnißmäßigen Aufklärung fähig.« 21 Hierfür bedurfte es neuer Ansätze der althergebrachten Volksschulbildung, die aber allenfalls partiell durchführbar waren. Das meiste blieb der Privatinitiative von Lehrern und Pfarrern überlassen. Sie wurden zu den Hauptträgern der Volksaufklärung 18

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Dies verdeutlicht, anhand der Kindererziehung, Reiner Wild: Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder. Stuttgart 1987, S. 26 Iff. und 270f. Rudolph Zacharias Becker: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. Nebst Ankündigung eines für ihn bestimmten Handbuchs. Dessau und Leipzig 1785, S. 23. Holger Böning: »Der >gemeine Mann< als Adressat aufklärerischen Gedankengutes. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung«. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Jg. 12. Wolfenbüttel 1988. H. 1, S. 5 2 - 8 0 . [Bonaventura] A.[ndreß]: »Abhandlung ob und wie der Prediger das gemeine Volk aufklären soll?« In: Magazin für Prediger zur Beförderung des praktischen Christenthumes und der populären Aufklärung. Bd. 1. Wirzburg 1789. H. 1, S. 1 - 5 6 , das Zitat S. 13.

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und ihrer zweckentsprechenden Medien: billiger Fach- und Lehrbücher, Kalender, Zeitschriften und unterhaltsam lehrhafter Literatur. 22 Dort fand das Bündnisverlangen zu bäuerlichen und Handwerkerschichten kaum Nachhall, das Autoren des Sturms und Drangs forderten - freilich nicht selten im ideellen Überschwang 23 und fast durchweg ohne selbst praktische Konsequenzen zu ziehen. Den Verfechtern der Volksaufklärung ging es aber um wirkliche, mögliche Veränderungen und Verbesserungen im Leben des Vierten Standes, die sie - überwiegend aktiv mitwirkend - unverzögert herbeiführen wollten. Etwas anders verhält es sich mit dem, was als Frauenaufklärung vorgenommen, indes signifikanterweise nicht so unmißverständlich begrifflich gefaßt wurde. 24 Auch sie war restriktiv, ständisch abgestuft (sofern sie überhaupt die Unterschichten mit einbezog) und darauf ausgerichtet, diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die zur Erfüllung der jeweiligen gesellschaftlichen und vor allem der familienbezogenen Pflichten nötig schienen. Doch während Bauern, Handwerker und überhaupt arbeitendes Volk zur beruflichöffentlichen Sphäre der Gesellschaft gehörten, wurden die Frauen nach überkommener Weise in die privat-familiäre eingeschränkt. Sie sollten im allgemeinen nur wissen und lernen, was sie dafür brauchten, um ihre - angeblich naturgegebene - »Bestimmung« als Gattin, Hausfrau und Mutter bestmöglich zu erfüllen. Nirgends sonst als im Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern wird es so deutlich: Aufklärung war Männerwerk, und noch Spätaufklärer reduzierten ihr menschheitliches Anliegen unversehens selbst, indem sie es vornehmlich nur auf eine Hälfte der Menschen ausrichteten, indem gar gebildetere Frauen bei aufklärerischen Diskursen und Unternehmungen entweder ganz ausgeschlossen blieben oder nur eine Randstellung zugewiesen bekamen. Zwar wurden Frauen gerade seit dem Übergang zur Spätaufklärung ein stärker denn je berücksichtigter Leserkreis 25 und mit speziellen Schriften und Erziehungsvorschlägen bedacht. Indes erfolgte die besondere Hinwendung der

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Holger Böning und Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 (vorgesehen sind insgesamt vier Bände). Vgl. Annelies Graßhoff: »Literatur zwischen Erwartung und geschichtlicher Aktion. Politisch-operative Literatur in den deutschen Territorialstaaten am Ende des 18. Jahrhunderts«. In: Literatur im Epochenumbruch. Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hrsg. von Günther Klotz u. a. Berlin und Weimar 1977, S. 3 1 5 - 3 4 7 und 6 5 3 - 6 5 8 , hier S. 320f. Aus der Vielzahl neuerer Literatur sei hier nur genannt das Standardwerk von Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. München 1989 (zuerst Stuttgart 1987). Weitere einschlägige Untersuchungen sind in der Fallstudie über Sophie La Roche angeführt. Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 15001800. Stuttgart 1974, Kap. 16.

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Autoren und Verleger zum weiblichen Publikum gewiß nicht zum geringsten aus marktgängerischem Kalkül und fand zudem alsbald ihren Widerpart in den oft bevorzugt gegen weibliche »Lesewut«26 gerichteten Kampagnen. Und auch die neue, philanthropistische Mädchenerziehung 27 war geschlechtsspezifisch eingegrenzt nach Maßgabe überkommener patriarchalischer Gesellschaftskonventionen. Und es waren Ausnahme-, nicht Regelfälle, daß aufgeklärte Frauen zur Selbsthilfe griffen, daß sie ohne männliche Mitwirkung oder stärkere Beeinflussung eigene Sozietäten bzw. Zirkel, Zeitschriften, Erziehungsinstitute usw. gründeten; derart ihren Anspruch realisierten, zugunsten ihres Geschlechtes mittels erprobter Aufklärungsmedien selbst aufklärerisch aktiv zu werden und den Aufklärungsprozeß so erst zu einer allmenschlichen Angelegenheit zu machen. Dabei respektierten sie überdies stets die Vorgaben des patriarchalisch ausgerichteten staatlich-gesellschaftlichen Systems und suchten sich von vornherein gegen jeden Vorwurf unnützer Gelehrsamkeit zu verwahren. Festzuhalten gilt es, daß Frauen- und Volksaufklärung sich zunächst betont unpolitisch gaben, während das praxisorientierte aufklärerische Wirken ansonsten zunehmend auf eine Politisierung hinlief. 28 Sie erfaßte erst nach 1789 partiell auch die Volks-, weniger die Frauenaufklärung. Revolutionsberichte und politische Reflexionen fanden in volksaufklärerische Zeitschriften, Kalender und andere Publikationsorgane Eingang, soweit nicht verbreitete Revolutionsfurcht dem entgegen- und überhaupt apolitischer Vorbehalt fortbestand. 29 Nur Mainzer Jakobiner und Cisrhenanen beseitigten in praxi die ständische 26

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Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, vgl. Register. - Edgar Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1987, Kap. IV: »Die Lesesuchtdebatte«. Ulrich Herrmann: »Erziehung und Schulunterricht für Mädchen im 18. Jahrhundert«. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 3. Bremen und Wolfenbüttel 1976, S. 101-127. - Helga Glantschnig: Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Außlärung. Frankfurt/M. und New York 1987, S. 149-183: »An den Rändern der Erziehungslehre«. Die Tendenz zur Politisierung resümiert Falko Schneider: Außlärung und Politik. Studien zur Politisierung der deutschen Spätaufklärung am Beispiel A. G. F. Rebmanns. Wiesbaden 1978. - Eine weitgreifende Spezialstudie aus sozialgeschichtlicher Sicht bietet Hans Erich Bödeker: »Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung«. In: Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung. Hrsg. von H. E. Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 10-31. Vgl. auch die einleitenden Überlegungen der Herausgeber (ebd., S. 3-9), die eine systematische Erforschung der Problematik abzustecken versuchen, wobei indes einiges außer Betracht bleibt, so beispielsweise die mannigfaltigen Auseinandersetzungen einerseits zwischen Aufklärern und Obrigkeit (einschließlich des Problems der Gegenaufklärung) und andererseits innerhalb der Aufklärungsbewegung selbst. Holger Böning: »Der >gemeine Mann< und die Französische Revolution«. In: Buchhandelsgeschichte 1989/2. (Beilage zu:) Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurt/M. 1989. Nr. 51, S. Β 41 - Β 64.

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Abstufung des Aufklärens und belehrten, worin norddeutsche Demokraten es ihnen gleichtaten, auch die Unterschichten einschränkungslos über staatsrechtliche, religiöse, sittliche und sonstige gesellschaftliche Belange. 30 Ansonsten ist freilich zu beachten: Gemacht und bestimmt wurde Politik, im Sinne von übergreifender Staats- und Gesellschaftspolitik, außerhalb der französisch besetzten südwestdeutschen Gebiete nach wie vor von den Fürsten und von ihren Beauftragten oder Liierten. Gleichwohl nahmen Spätaufklärer zunehmend schriftstellerisch und beruflich-praktisch mittelbar Einfluß auf diese Politik, indem sie sie gleich allen anderen gesellschaftlichen Angelegenheiten kritisch prüften und beurteilten und gegebenenfalls zu ändern empfahlen. Die deutsche Spätaufklärung wurde vor 1789 nirgends eine direkt politisch handlungsmächtige Bewegung (wie hernach regional, im Schutze der Franzosen), jedoch auf vielerlei Art zum Politicum par excellence (nach zeitgenössischem Verständnis). Und dies auch schon dadurch, daß ihre weitsichtigsten Repräsentanten sie als unablässig fortzuführenden Langzeitprozeß begriffen und auf obrigkeitliche Behinderungen und Zensurzwänge mit den verfügbaren Möglichkeiten reagierten: mit literarisch-publizistischer Gegenwehr. Darüber hinaus propagierten zahlreiche Spätaufklärer, anknüpfend an die europäische Menschenrechtsdiskussion und an die Deklaration der Menschenrechte in Nordamerika, Presse- und Meinungsfreiheit,31 individuelle Bildung 32 und Persönlichkeitsentfaltung als unveräußerliche Rechte der Menschheit. 33 Das waren eminent politische Vorstellungen

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Näheres dazu bei Wolfgang Albrecht: »Revolutionierung der Aufklärung und Aufklärung über Revolution. Aufklärerische Ideen und Prinzipien in der deutschen revolutionär-demokratischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts«. In: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus. Bd. 14. Berlin 1990, S. 249-289, besonders ab S. 267. Vgl. u. a.: »Unmoralisch an sich ...«. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988. - Presse und Geschichte II. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München, London, New York, Paris 1989. - Ulrike Schömig: Politik und Öffentlichkeit in Preußen. Entwicklung der Zensur- und Pressepolitik zwischen 1740 und 1819. Würzburg 1988. Ulrich Herrmann: »Erziehung und Unterricht als Politicum. Kontroversen über erhoffte und befürchtete Wechselwirkungen von Politik und Pädagogik im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland«. In: Aufklärung als Politisierung (Anm. 28), S. 53-71, insbesondere S. 55ff. - Zum Umfeld vgl. u. a. Karl A. Schleunes: Schooling and Society. The Politics of Education in Prussia and Bavaria 1750-1900. Oxford, New York, München 1989. Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Hrsg. von Günter Birtsch: Göttingen 1987. - Ludger Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte. Studien zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs. München 1987. Grundfreiheiten, Menschenrechte. 1500-1850. Eine internationale Bibliographie. Hrsg. von Günter Birtsch. Bd. Iff. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990ff.

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und Forderungen. 34 Ihnen standen Reformbestrebungen zur Seite, die aus der Rezeption des englischen und französischen Natur- und Staatsrechts, besonders der Rousseauschen Theorie v o m Gesellschaftsvertrag, resultierten 35 und auch aus eigenständigen Erkenntnissen einer neuen, in Deutschland sogleich Fuß fassenden Wissenschaft: der Statistik. All das brachte im Verein mit der geschärften Aufmerksamkeit für das alltägliche Zusammenleben der Menschen sodann wachsende Kritik an gesellschaftlichen und sozialen Mißständen hervor; vehemente Absolutismus- und Adelskritik 36 zum Teil - und doch kaum an die Grundfesten des Feudalsystems rührend. Auch wurden die Regenten selbst, insonderheit die als aufgeklärt geltenden, meist nur indirekt kritisiert. Der Republikanismus kam vor der revolutionär-demokratischen Richtung der neunziger Jahre über relativ wenige theoretische Ansätze nicht hinaus. 37 D i e Spätaufklärung politisierte sich alles in allem wesentlich dadurch, daß die Grundsätze der Vernunft, Kritik und Gemeinnützigkeit 3 8 öffentlich auf Staat und Gesellschaft angewandt wurden. Zwischen den frühen siebziger und 34

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Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976. Nach wie vor grundlegend Bernhard Weissei: Von wem die Gewalt in den Staaten herrührt. Beiträge zu den Auswirkungen der Staats- und Gesellschaftsauffassungen Rousseaus auf Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Berlin 1963. - Zum weiteren Umfeld vgl. Harry Siegmund: Der französische Einfluß auf die deutsche Verfassungsentwicklung 1789-1815. Freiburg i. Br. 1987. Diese Kritik ist stets viel berufen, indes erstaunlicherweise nie umfassend monographisch aufgearbeitet worden. Einen materialreichen Überblick bietet Johanna Schultze: Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, 17731806. Berlin 1925 (Neudruck: Vaduz 1965). - Über Norddeutschland (Preußen) vgl. Uwe-Jens Heuer: Allgemeines Landrecht und Klassenkampf. Die Auseinandersetzungen um die Prinzipien des Allgemeinen Landrechts als Ausdruck der Krise des Feudalsystems in Preußen. Berlin 1960. - Für Südwestdeutschland grundlegend Klaus Gerteis: Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Reiches vor der Französischen Revolution. Trier 1983. Dokumentiert bei Jost Hermand: Von deutscher Republik, 1775-1795. 2 Bde. Frankfurt/M. 1968 (auch 1975, in einem Band). »Werden alle Verhältnisse in Nützlichkeits- oder Benutzungsverhältnisse aufgelöst, indem sie ideologisch dem bourgeoisen Exploitationsverhältnis subsumiert werden, dann ist auch der >zum ausschließlichen Genießen privilegierte Stand< nurmehr ein Fossil der Nutzlosigkeit.« (Martin Fontius: »Produktivkraftentfaltung und Autonomie der Kunst. Zur Ablösung ständischer Voraussetzungen in der Literaturtheorie«. In: Literatur im Epochenumbruch [Anm. 23], S. 409-529 und 662-682, Zitat S. 449.) Diese aus dem französischen vorrevolutionären Zustand abgeleitete Feststellung gilt an sich auch für Deutschland; nur »besaß die Nützlichkeitstheorie der französischen Aufklärer einen revolutionären Charakter« (ebd.), während der deutsche spätaufklärerische Utilitarismus in das reformorientierte Zusammengehen mit Oberschichten und Herrschenden eingebunden war.

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den späten achtziger Jahren kam unter anderem auch eine Diskussion in Gang, durch die die traditionelle Geheimpolitik der Herrschenden problematisiert wurde. Schubart hob 1776 mißbilligend ins Bewußtsein: »Die Großen verschließen sich im Kabinett wie in ein Pandämonium und niemand weiß, was sie drin ratschlagen.« 39 Anfang 1789 schrieb der preußische Publizist Gottlob Nathanael Fischer »Ueber politische Aufklärung« und konstatierte befriedigt: »Vieles rechnete man sonst unter Staatsgeheimnisse, was man jetzt nicht mehr darunter rechnet. Die Ursach ist theils, weil sich solche Geheimnisse nicht ewig verbergen lassen, nämlich nur so lange, bis die Kenntniß dieser Gegenstände für viele bey der Uebersicht menschlicher Angelegenheiten zum Bedürfniß wird; theils weil Fürsten und Staatsmänner seit Friedrichs Zeiten aus deutlichen Begriffen handeln, wo man sonst aus undeutlichen zu handeln pflegte.« 40 Und beide Ursachen waren Resultate eines politisierten Aufklärens durch die Druckmedien und durch das Wirken aufgeklärter Staatsbeamter. Politische Aufklärung besteht laut Fischer darin, handlungsleitende, »richtige Begriffe«, das heißt Vorstellungen und Prinzipien, »von den wesentlichen Bedürfnissen des gesellschaftlichen Menschen« zu vermitteln. Es deutet auf den herausragenden Stellenwert, den politische Aufklärung schon bis 1789 gewann, wenn Fischer sie neben der theologischen unter die »Hauptzweige der Aufklärung« zählt. Die umrissenen Haupttendenzen der Spätaufklärung zeitigten und verstärkten ineinander übergehende und zueinander gegenläufige Prozesse, für die die Französische Revolution manch Einschnitte und Neuansätze erbrachte, ohne daß das Reformertum der Spätaufklärung grundlegend gewandelt worden wäre. Zum ersten erhärtete sich der Konsens an denjenigen politischen Zentralansichten, deren Basis die (Ideal-)Vorstellung vom aufgeklärten Absolutismus lieferte.41 Und damit bestand - großenteils auch über 1789 hinaus - die Bereitschaft fort, sich - ungeachtet mancher Enttäuschungen und der wachsenden Krisen dieses aufgeklärten Absolutismus in praxi - dem bestehenden Gesellschaftssystem einzuordnen; überdies gesellschaftliche Fortentwicklung nur zusammen mit den Herrschenden und behutsam reformerisch, nach dem Leitbild des langsamen Ganges der Natur, zu erreichen. Zum zweiten entwarfen während der siebziger und achtziger Jahre einige der weitsichtigsten Aufklärer äußerst konsequente Sozialutopien aus der Erkenntnis heraus, daß die »bürgerliche Gesellschaft« den gewichtigsten Zweck menschlicher Gemeinwesen, die »wirkliche Glückseligkeit« jedes einzelnen 39

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Teutsche Chronik 1776, St. 41, zitiert nach: Schubarts Werke in einem Band. Hrsg. von Ursula Wertheim und Hans Böhm. Weimar 1959, S. 75. [Gottlob Nathanael] Fischer: »Ueber politische Aufklärung«. In: Berlinisches Journal für Aufklärung. Bd. 2. St. 1. Januar 1789, S. 1-10, Zitat S. 7f. Die beiden folgenden Zitate S. 2 und 1. Auf einen derartigen »Konsensus politischer Grundüberzeugungen« verweist auch Bödeker: »Prozesse und Strukturen« (Anm. 28), S. 23.

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Spätaufklärung

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und zugleich der Gesamtheit zu gewährleisten, nicht zu erfüllen vermag; wie namentlich Lessing in Ernst und Falk (1778/80) argumentierte, w o er die unbestimmt fern zukünftige Ablösung der Stände- und Staatssysteme durch eine herrschaftsfreie, einzig vernunftbestimmte Ordnung als ideellen Zielpunkt der Menschheitsgeschichte und der Aufklärungsbestrebungen andeutete, nicht etwa ein revolutionäres Umsturzkonzept vorbrachte. 42 Ähnlich wurde von führenden Mitgliedern des Illuminatenordens die evolutionäre Überwindung des Feudalsystems zugunsten einer Staaten- und ständelosen kosmopolitischen Ordnung als theoretisches Fernziel ins Kalkül gezogen, nicht als Nahziel praktisch verfolgt. Weishaupt und Knigge hofften, genuin aufklärerisch-reformerisch denkend: » [ . . . ] Fürsten und Nationen werden ohne Gewalttätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschengeschlecht wird dereinst eine Familie und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden. Die Moral allein wird diese Veränderungen unmerkbar herbeiführen.«*3 Weil die Entbehrlichkeit aller Partikularherrschaft unverblümt ausgesprochen war, ließen sich dem Illuminatenorden trotz des Bekenntnisses zu evolutionärem und gewaltfreiem gesellschaftlichem Voranschreiten um so leichter aufrührerische und revolutionäre Absichten unterstellen. Seine unmittelbare gegenwartsbezogene Intention, Ordensmitglieder zu befähigten Mitgestaltern und Reformern im aufgeklärten Absolutismus zu machen, konnnten Ordens- und Aufklärungsgegner genauso mißdeuten. 44

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Vgl. Hans-Georg Werner: »Die Paradoxie der Vernunft. Lessings >Ernst und Falke Höhe- und Endpunkt literarischer Aufklärung in Deutschland«. In: Weimarer Beiträge. Jg. 33. 1987, H. 4, S. 574-598, insbesondere S. 582ff. Angesichts dieser Überlegungen Lessings und ähnlicher im Illuminatenorden (vgl. die folgende Anm.) ist die Behauptung revisionsbedürftig, daß spätaufklärerisches Denken erst während des Revolutionsjahrzehnts »auf das Gebiet der politischen Utopie« geführt habe (Schneider: Aufklärung [Anm. 28], S. 78). Zitiert nach: Die Illuminateti. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Illuminatenordens (1776-1785). Hrsg. von Jan Rachold. Berlin 1984, S. 255 (aus »Unterricht im ersten Zimmer«). Die gesellschaftspolitischen Intentionen der Illuminaten(oberen) sind bis heute umstritten. In die spätaufklärerische Reformbewegung eingegliedert wird der Orden bei Richard van Dülmen: Der Geheimbund der llluminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975 (2. Aufl. 1977). - Eine arevolutionäre radikalaufklärerische Position zeigt Rachold (Anm. 11). Revolution sei nicht kategorisch abgelehnt worden wie auch nicht der Einsatz von Gewaltmitteln gegen Gewalt, meint Ernst-Otto Fehn: »Der Illuminatenorden und die Aufklärung. Kritik und Korrektur einer neuen Interpretation«. In: Aufklärung - Vormärz - Revolution. Bd. 7. Innsbruck 1988, S. 6-30. Der Beitrag bezieht sich auf Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. llluminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung. München 1984. - Von direkter, aus dem beigebrachten Zitat aber nicht hervorgehender »Aufforderung zum Umsturz« ist die Rede bei Hermann Schüttler: »Karl Leonhard Reinhold und die llluminaten im Vorfeld der Französischen Revolution«. In: Deutscher Idealismus und Französische Revolution. Trier 1988, S. 49-75, das Zitat S. 70.

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Revolutionsvorstellungen, zum dritten, waren ungeachtet der englischen bürgerlichen Revolution und des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges noch in den ausgehenden achtziger Jahren sehr verschwommen und weitreichend durch französische und englische geschichtsphilosophische Theorien geprägt. 45 Revolution als Möglichkeit, mittels erzwungener Verbesserung der Herrschaftspraxis gesellschaftlichen Progreß zu gewährleisten und somit aufklärerische Anliegen zu verwirklichen, wurde allenfalls bedingt erwogen und auf Fälle äußerster Despotie und Staatszerrüttung eingeschränkt. 46 Unter dem Eindruck der Französischen Revolution verschärfte sich mit der gesamten Aufklärungsdebatte die Auseinandersetzung um den zentralen Streitpunkt, ob die bislang für das eigene Land verfolgten Absichten und Unternehmungen angemessen seien oder nicht. Und es ergab sich die Polarisierung: gewaltfordernde Revolution mit dem Volk, nach französischem Leitbild (als Position einer Minderheit revolutionär-demokratischer Spätaufklärer); gewaltlose Reform von oben, nach Maßgabe vorwiegend traditioneller bzw. gelegentlich aktualisierend modifizierter aufklärerischer Gesellschaftsvorstellungen und Fortschrittskonzeptionen. Trotz anfänglicher grundlegender Übereinstimmungen spitzten sich derart, zum vierten, Meinungsverschiedenheiten der Aufklärer untereinander zu und polarisierten sich vollends nach Ausbruch der Französischen Revolution. 47 Gleichfalls verschärften sich die Differenzen mit Antagonisten der Aufklärungsbewegung. Letztere bildeten im Übergang zur Spätaufklärung, einer vorgeblich zunehmend religions-, sitten- und staatsgefährdenden Großaffäre, eine regelrechte Gegenbewegung heraus, die sogenannte Gegenaufklärung. Parallel zu ihr wuchs Kritik an aufklärerischen Ideen, Prinzipien und Zielen. Obgleich die Relationen zwischen Befürwortern, Kritikern und Gegnern der (Spät-)Aufklärung noch kaum systematisch erforscht sind, gilt es so genau wie möglich zu differenzieren. Deshalb wird hier und in den nachfolgenden Studien unter

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Dies ergibt sich aus den Feststellungen von Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung. Weimar 1955, Kap. VII-VIII und von Frauke Schaefer: Die »Französische Revolution im Spiegel deutscher Aufklärungssprache«. In: 1789. Weltwirkung einer großen Revolution. Hrsg. von Manfred Kossok und Editha Kross. Bd. 1. Berlin 1989, S. 163-184, besonders Abschn. 1. Hier und im folgenden liegen Resultate meiner Studie zugrunde: »Aufklärung, Reform, Revolution oder >Bewirkt Aufklärung Revolutionen?^ Über ein Zentralproblem der Aufklärungsdebatte in Deutschland«. In: Lessing Yearbook XXII. 1990. Detroit 1991, S. 1-75. Dies zeigt, im Vergleich mitteleuropäischer Literaturen, abrißartig Werner Rieck: »Zu Polarisierungstendenzen im Literaturprozeß um 1789«. In: Literatur zwischen Revolution und Restauration. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1789 und 1835. Hrsg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Tadeusz Namowicz. Berlin und Weimar 1989, S. 50-69 und 221-224.

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Spätaufklärung

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Gegenaufklärung verstanden: die Gesamtheit aller antipodisch kritischen Positionen, die außerhalb der zeitgenössischen, als Werk internationaler Verschwörer denunzierten Aufklärungsbestrebungen standen und sie zu unterbinden suchten. Diese gegenaufklärerischen Positionen sind von solcher Kritik bzw. Metakritik am Aufklärungsprozeß abzuheben, die - sofern sich keine Kontroversen von der Art der Nicolaischen ergaben 48 - Aufklärerisches zumindest partiell nach dessen eigenen Grundsätzen bewertete und innovierend weiterzuführen versuchte, wie zum Beispiel die der meisten Stürmer und Dränger, zeit- und teilweise auch Schillers und Goethes sowie von Frühromantikern und klassisch-idealistischen Philosophen. 49 Davon wiederum muß spätaufklärerische Selbstkritik und Selbstreflexion unterschieden werden. Die Gegenaufklärung gewann im Vergleich mit herkömmlicher Feindschaft, wie sie noch jeder Aufklärung erstanden war, 50 eine neue Qualität, insofern man Staat und Kirche wider die Aufklärer zu mobilisieren suchte und diese mittels spezieller Verschwörungslegenden 5 1 schon von etwa 1775 ab ausgab für gemeingefährliche Hochverräter. Während diese kurzschlüssigen Erklärungsstereotype ohne Rücksicht auf die sozialpolitischen Probleme der Zeit, mithin ohne wirkliche Alternativen zur spätaufklärerischen Reformbewegung, nach dem Revolutionsausbruch ausgeweitet repetiert wurden, fühlten sich die Angeschuldigten allermeist im Reformverlangen bestärkt, wennschon mit zwiegeteilter Schlußfolge. Unterschiedlich konsequent wurden die herkömmlichen Reformkonzepte entweder ergänzt, aktualisiert und nachdrücklicher vorgebracht oder reduziert, unmodifiziert und behutsamer. Soll nicht problematischerweise die unbestreitbare Vielzahl gänzlich planer Beiträge zur Aufklärungsdebatte und sonstiger Aufklärungsschriften den alleinigen Maßstab liefern, trifft es jedenfalls nicht zu, daß die revolutionär-demokratische 48

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Vgl. die Nicolai-Studie in diesem Buch und Martin Sommerfeld: Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang. Halle/S. 1921. Vgl. letzthin den Konferenzband: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Hrsg. von Christoph Jamme und Gerhard Kurz. Stuttgart 1988. »Opposition to the central ideas of the French Enlightenment, and of its allies and disciples in other European countries, is as old as the movement itself.« (Isaiah Berlin: »The Counter-Enlightenment« [1973]. In ders.: Against the current. Essays in the history of ideas. 2. Aufl. London 1980, S. 1-24, Zitat S. 1). Da Berlin keine Unterscheidung zwischen konstruktiver Kritik und destruktiver Gegnerschaft vornimmt, erscheint der Sturm und Drang bei ihm als gegenaufklärerisch. Wichtige Differenzierungen erbrachte gleich nach den Studien über Idealismus und Aufklärung (Anm. 49) der Sammelband: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989. Grundlegend Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776-1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung. Bern und Frankfurt/M. 1976 (2. Aufl. 1978). - Vgl. jetzt auch Wilson: Geheimräte (Anm. 11), Kap. 2 und 5.

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Konsequenzen ablehnende Majorität der deutschen Spätaufklärer auf die Herausforderungen durch die Französische Revolution schlichtweg »defensiv« reagierte und Aufklärung zum »formalen Prinzip« herabwürdigte.52 Vielmehr waren auch gemäßigter reformerisch Gesinnte durchaus bemüht, neue Antworten und Lösungen für die verschärften und die hinzugekommenen gesellschaftlichen Probleme zu finden. Affirmativ freilich verhielt man sich explizite meistens gegenüber dem bestehenden Ständesystem, weil man das Zusammenwirken mit den Herrschenden und das darauf gegründete Aufklärungs- und Veränderungsbestreben nicht gefährden wollte. Es war das Dilemma besonders der deutschen Spätaufklärer, daß sie angesichts der territorialen Zersplitterung wie der objektiv unrevolutionären Situation des Wohlwollens und der Unterstützung der Partikulargewalten bedurften und sich derart binden mußten, obwohl sie bei einiger Weitsicht ihre reformerische Bewegung (gleich jeder anderen Aufklärungsbewegung) begriffen als integralen Bestandteil einer grenzenlosen, unendlich progredierenden Evolution. Relativ kurzsichtig freilich wurden, unter dem Blickwinkel des Allgemeinmenschlichen, unverdrossen Illusionen über die Erzieh- und Beiehrbarkeit der Staatsbürger, vom Herrscher bis zum letzten Untertan, gehegt und damit über die Versittlichung der Menschen, die gesellschaftliche Veränderungen erst nach sich ziehen, wo nicht gar überflüssig machen könne. Es ergab sich, als eine weitere zu berücksichtigende Tendenz, eine »Dialektik« der deutschen Spätaufklärung, jedoch nicht so sehr die einer laut Horkheimer und Adorno im Verlauf der Entmythisierung der Welt letztlich zum Faschismus führenden Perversion,53 sondern vielmehr die einer historisch während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts erwachsenen widersprüchlichen Einheit von teils beabsichtigten Entgegensetzungen und teils ungewollten Nebenresultaten oder Verkehrungen aufklärerischen Wirkens. Bewußt stellte man beispielsweise nebeneinander: uneingeschränkte und restriktive Aufklärung, Mündigkeit und Bevormundung, persönliche Freiheit und Disziplinierung;54 auch öffentliche und geheim(bündnerisch)e Wirksamkeit, dementspre52

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So argumentieren Schneiders: Wahre Aufklärung (Anm. 2), S. 82ff. und 130ff. und Inge Stephan: »Die Debatte über die Beziehungen zwischen Literatur, Aufklärung und Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland«. In: Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Hrsg. von Julius H. Schoeps und Immanuel Geiss. Duisburg 1979, S. 41-59, hier S. 54, Anm. 40. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947 (zuletzt: Frankfurt/M. 1991; auch: Leipzig 1989). Vgl. u. a.: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Hrsg. von Christoph Sachße und Florian Tennstedt. Frankfurt/M. 1986. - Bernhard Stier: Fürsorge und Disziplinierung im Zeitalter des Absolutismus. Das Pforzheimer Zucht- und Waisenhaus und die badische Sozialpolitik im 18. Jahrhundert. Sigmaringen 1988. - Thomas Kempf: Aufklärung als Disziplinierung. Studien zum Diskurs

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chend zumindest partiell Wissenschaft und Esoterik. Erscheinungen von vereinseitigtem Rationalismus brachten gesteigerte Empfängnisbereitschaft für Okkultismus und ähnliches mit sich; dem Kampf gegen Aberglaube kontrastierte verschiedener erneuerter Wunderglaube. Bei der »Entfesselung« von religiösen und anderen mentalen Zwängen erzeugte man nicht selten unversehens neue Pressionen und Ängste.55 Wie alle Tendenzen der Spätaufklärung wurden auch die Ausprägungen ihrer spezifischen Dialektik durch die Literatur mitbefördert und teils zustimmend, teils kritisch verbreitet. Am ehesten und direktesten zeigten sich jedoch charakteristische Wechselbeziehungen zwischen der Literatur und den übrigen Wirkungsbereichen der Spätaufklärer hinsichtlich ihres ständisch abgestuften Anliegens, lebenspraktisch zu erziehen, auszubilden und zu versittlichen. Demgemäß vollendete man, auf den Innovationen der vorangegangenen Aufklärungsphasen aufbauend, für die zeitgenössischen dichterischen und publizistischen Werke eine Neubestimmung des von Horaz her tradierten Grundsatzes: Vergnügen und Belehrung des Lesers miteinander zu verbinden. Allermeist wurden außerliterarische Momente und Zwecksetzungen ästhetischen Erwägungen dezidiert übergeordnet; seltener erhielt beides Gleichrangigkeit zugewiesen. Dabei obwaltete nun, wie sich aus den vorliegenden Fallstudien verallgemeinern läßt, zunehmend ein Funktionsverständnis von Literatur, das über die herkömmlichen Belehrungs- und Unterhaltungsabsichten hinausging. Die Literatur sollte mehr oder weniger direkt neben der Humanisierung auch sozial-politisch reformerischer Bewußtseinsbildung und Stimulation zu entsprechendem utilitaristischem Handeln im Alltag dienen; zugleich die Ideologie vom aufgeklärten Menschen als eines loyalen, nützlichen und gemeinsinnigen Staatsbürgers vermitteln. Eine Folge dessen war ein Dualismus eigener Art. Einerseits entstanden, selbst bei kritischen Schriftstellern, aus Nützlichkeitserwägungen staatskonforme und disziplinierende Werke, die - impliziter kritischer Vorbehalte ungeachtet - die Einfügung in die bestehende Ständehierarchie propagierten. Andererseits wurden politisierte gesellschaftskritische Schriften, besonders Aufsätze, in einer solchen Quantität und Qualität verfaßt, daß darin eine Besonderheit der deutschen literarischen Spätaufklärung besteht. Von kompetenter romanistischer Seite her ist bündig klargestellt worden: »Seit den siebziger Jahren war mit der Entwicklung eines politischen Journalismus ein Instrument geschaffen worden, für das es in Frankreich vor der Revolution keine Parallele gibt.« 56

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des Wissens in Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. München 1991. Dazu vor allem Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1987. Martin Fontius: »Französische Revolution und deutsche Aufklärung«. In: Erbe-

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Die konstitutive didaktische Funktion der nahezu ausschließlich gesellschafts- oder alltagsbezogenen spätaufklärerischen Literatur steht in untrennbarem, gleichwohl selten genug bemerktem Zusammenhang mit einer anderen Funktion: der »antizipierenden«. 57 Denn die in erzieherisch-belehrender Absicht erfolgende Vermittlung bestimmter Verhaltensnormen, Werte und Einsichten reicht über den unmittelbar gegenwärtigen Zeitpunkt hinaus, insofern sie von den Lesern aufgenommen, angewandt und möglichst fortgebildet werden sollen, um die gemeinhin erwünschte bessere, aufgeklärte Gesellschaft einer näheren oder ferneren Zukunft herbeiführen zu helfen. Unter dieser Voraussetzung wird die belehrungs- und handlungswillige Leserschaft zum Partner der aufklärenden Schriftsteller. Gemeinsam bilden sie diejenige öffentlichkeitsgerichtete Kraft, derer es dazu bedarf, im Verein mit der Obrigkeit den Aufklärungsprozeß voranzubringen und schrittweise in die gesellschaftliche Realität zu überführen. Kein Gebiet der bewußt aufs Gesellschaftlich-Praktische hin orientierten spätaufklärerischen Literatur, auch die vordergründiger lehrhaften nicht, läßt sich mithin schlichtweg und noch dazu von heutiger Warte her pejorativ konnotiert als moraldidaktisch abtun. Die Zwecksetzung dieser Literatur reichte über den herkömmlichen aufklärerischen »moralischen Endzweck« hinaus. Welt- und Menschenkenntnis, empirisch gewonnene Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse, Denk- und Handlungsmaximen zur selbständigen Anwendung seitens der Leser zu vermitteln, um diese sowohl zu bilden als auch zu humanisieren - das war die leitende Intention nicht nur der hier anschließend behandelten Autoren. 58 Demgemäß traten wissenschaftliche, technische und ökonomische Erkenntnisse und Probleme in den Vordergrund einer umfangreichen Zeitschriftenwie Buchpublizistik, blieben aber auch in anderen literarischen Werken nicht ausgespart. 59 Und demgemäß wurden tradierte Formen umfunktioniert und

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pflege in Kamenz. Hrsg. von Dieter Fratzke und Wolfgang Albrecht. H. 11. Kamenz 1991, S. 5 - 1 8 , Zitat S. 8. Diesen Zusammenhang hat Wild (Die Vernunft der Väter [Anm. 18], S. 2 3 - 3 0 ) am Beispiel der aufklärerischen Kinderliteratur herausgearbeitet, ansetzend bei der Erkenntnis (S. 25): » D i e didaktische Funktion von Literatur schließt die Dimension der Zukunft notwendig ein; die Vorstellung der Verhaltensweisen zielt auf die Annahme durch den Leser und damit auf dessen künftiges Verhalten.« Schmidt ( S e l b s t o r g a n i s a t i o n [Anm. 3], S. 4 1 0 ) hat für die zu wenig differenzierte literarische Aufklärung nach 1750 vereinseitigt bloß »die Funktion« gesehen, »über das Vehikel der Empfindung zur Humanisierung des Menschen wie zur gesellschaftlichen Stabilisierung beizutragen«. Nur weil die Vielzahl dieser Texte heute gänzlich unbekannt und für die Germanistik (noch) nicht von Interesse ist, kann behauptet werden, daß »das Literatursystem [des späten 18. Jahrhunderts] für Technik und Ökonomie, also für sozial hochgradig praktische >harte< Systeme, in seinem eigenen Diskurs nur eine >Leerstelle< hatte« (Schmidt: Selbstorganisation [Anm. 3], S. 429). Gegen die-

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umstrukturiert, beispielsweise - um nur die am besten erforschten zu nennen - Autobiographie, 60 Reisebeschreibung 61 und Roman. 62 Autobiographie und Reisebeschreibung berührten sich engstens in dem Zentralanliegen der meisten ihrer Verfasser, aus der Analyse der Umwelt bzw. des eigenen Erlebens nützliche, lebenspraktisch anwendbare Verallgemeinerungen und Erfahrungen abzuleiten; Selbstaufklärung ging über in realitätsnahe Aufklärung anderer Menschen, der Leser. Und so auch bei den bewußt reflektierenden Romanautoren, die gleich den Autobiographen und Reisebeschreibern ihre Werke zu Medien mehr oder weniger gesellschafts- und sozialkritischer Darstellungen machten, denen direkte oder indirekte Veränderungsvorschläge, mindestens aber Anregungen, nach dem Prinzip des Selbstdenkens und Selbsthandelns zu lesen, beigegeben wurden. Lehrhaftes und politisches Moment verschmolzen auf neue Weise exemplarisch beim Wandel einer anderen traditionsreichen Gattung, der Fabel. Sie versank keineswegs, wie eine zählebige Fehlansicht nahelegt, nach Lessing und besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Bedeutungslosigkeit - auch wenn eine philanthropistische »Pädagogisierung der Fabel«63 wirklich nur den trivial-affirmativen Typus der »trockenen Beispielgeschichte« für Kinder hervorgebracht haben sollte. Vielmehr gewann die Fabel nach Ausbruch der Französischen Revolution große Neubedeutung. Denn diese allgemeinverständliche Gattung war hervorragend geeignet, revolutionär-demokratischer Volksaufklärung - von den Mainzer Jakobinern bis hin zu den Cisrhenanen bei der gesellschaftspolitischen Agitation und Bewußtseinsbildung der Unterschichten hilfreich zu sein. Gegenaufklärerische und konterrevolutionäre Autoren erkannten dies schnell und bedienten sich der Fabel deshalb ebenfalls sehr häufig. 64

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se Annahme sprechen auch die Resultate von Kempf: Aufklärung als Disziplinierung (Anm. 54), besonders Abschn. III.4. Jürgen Lehmann: Bekennen - Erzählen - Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988. - Siehe auch Anm. 71 unten. Vgl. letzthin u. a.: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hrsg. von Hermann Bausinger u. a. München 1991. - Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Griep. Heide 1991. - Über den Forschungsstand informiert Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, Kap. IV-VI. Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit. Hrsg. von Harro Zimmermann. Heidelberg 1990. - Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Hrsg. von Helga Gallas und Magdalene Heuser. Tübingen 1990. Herbert Kaiser: »Die Pädagogisierung der Fabel am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts«. In: Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Peter Hasubek. Berlin 1982, S. 163-179; das nachfolgende Zitat S. 176. Alle diese Fabeln werden völlig übergangen von Heinz Rölleke: »Die deutsche Fabeldichtung im Umkreis der Französischen Revolution«. In: Die Fabel (Anm.

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L ä n g s t v o r den r e v o l u t i o n ä r - d e m o k r a t i s c h e n S p ä t a u f k l ä r e r n w u r d e n althers t a m m e n d e , u r s p r ü n g l i c h sakrale T e x t s o r t e n , w i e i n s o n d e r h e i t G l a u b e n s b e k e n n t n i s u n d K a t e c h i s m u s , a u f g e g r i f f e n u n d d e m tradierten K a n o n publizistischer Aufklärungsliteratur hinzugewonnen. Fand die katechetische Belehr u n g s f o r m e t w a seit 1 7 7 0 G e b r a u c h in d e r ö k o n o m i s c h e n v o l k s a u f k l ä r e r i schen Literatur 6 5 u n d in v o l k s p ä d a g o g i s c h e n Beiträgen z u r A u f k l ä r u n g s d e b a t te, 6 6 so b e g e g n e n säkularisierte G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e als ö f f e n t l i c h e B e k u n d u n g i n d i v i d u e l l e r a u f k l ä r e r i s c h - p o l i t i s c h e r Position z u m B e i s p i e l 1780 bei W e k h r l i n u n d n o c h 1798 bei Görres. 6 7 S i g n i f i k a n t f ü r d a s A u s m a ß d e r literat u r b e z o g e n e n Säkularisierung i m V o r z e i c h e n der O r i e n t i e r u n g auf Sozialprakt i s c h e s u n d U t i l i t a r i s m u s ist d i e H e r a u s b i l d u n g d e r - k a u m ein a k t u e l l e s T h e m a tabuisierenden - »Aufklärungspredigt«. 6 8 D e r z w e c k b e s t i m m t e n U m f u n k t i o n a l i s i e r u n g u n d N e u g e s t a l t u n g parallel verlief eine L i t e r a r i s i e r u n g b e s o n d e r s i m B e r e i c h d e r Prosa, 6 9 und z w a r v o n z w e i Seiten her. Z u m e i n e n ü b e r G e g e n s t ä n d e o d e r S u j e t s w i e e t w a d i e G e h e i m b u n d p r o b l e m a t i k . 7 0 Z u m a n d e r e n narrativ bei B e r e i c h e n und F o r m e n , die nicht z u m tradierten G a t t u n g s k a n o n g e h ö r t e n , b e i s p i e l s w e i s e Kinderliteratur und Reisebericht sowie Autobiographie.71 Gerade Autobiographie sowie Ge-

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63), S. 146-162. - Auf die Nutzung der Fabel durch revolutionär-demokratische Spätaufklärer verweist Inge Stephan: Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789-1806). Stuttgart 1976, S. 175f. Ebd., S. 161ff. zur nachfolgend erwähnten säkularisierten Nutzung der Textsorte Katechismus. Böning und Siegelt: Volksaufklärung, Bd. 1 (Anm. 22), S. XXXVIII. Friedrich Eberhard von Rochow auf Reckan: Hand-Buch in katechetischer Form für Lehrer die aufklären wollen und dürfen. Halle 1783 (2. verb. Aufl. 1789). Vgl. die Wekhrlin-Studie, S. 158 unten. - Joseph Görres: »Mein Glaubensbekenntnis«. In: Das rothe Blatt, eine Monatsschrift. Jg. 1. Koblenz VI [1798]. H. 1 und 2, S. 34-49 und 130-142 (Reprint der Zeitschrift: Nendeln 1972). Werner Schütz: »Die Kanzel als Katheder der Aufklärung«. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 1. Bremen und Wolfenbüttel 1974, S. 137-171. Exemplarisch aufgezeigt von Zdenko Skreb: Gattungsdominanz im deutschsprachigen literarischen Taschenbuch oder Vom Sieg der Erzählprosa. Wien 1986. Voges: Aufklärung und Geheimnis (Anm. 14), Kap. 2.II. Brigitte Rehle: Aufklärung und Moral in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts. Philosophische und poetologische Grundlagen, untersucht an ausgewählten Texten. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1989, Kap. 6.3 und 6.4. - Uwe Hentschel: »Die Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Vom gelehrten Bericht zur literarischen Beschreibung«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 16. Tübingen 1991, H. 2, S. 51-83. - Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. Und ders.: »Zum Formen- und Funktionswandel der Autobiographie«. In: Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hrsg. von Hans-Friedrich Wessels. Königstein/Ts. 1984, S. 137-160. - Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. - Lehmann: Bekennen (Anm. 60), Kap. 5.

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heimbund- und Kinderschrifttum zeigen es: Literarisierung bedeutet meist beides zusammen, ästhetisch-fiktionale Ausgestaltung von Sujets und Strukturen, da in den spätaufklärerischen Literaturtheorien Zweck- und Kunstformen nicht strikt getrennt wurden. Und diese Fiktionalisierung wiederum verband sich mit einer Tendenz zum realistischen Erzählen, die folgerichtig aus der lebens- und sozialpraktischen Orientierung der Spätaufklärer erwuchs. Daß sich unter ihrem Blickwinkel Realitätsbezug und Elemente des Poetisch-Wunderbaren - entgegen altherstammenden Klischeevorstellungen - keineswegs ausschlossen, hat sich neben Roman und Novelle exemplarisch am Märchen zeigen lassen. 72 Der Tendenz der Literarisierung korrespondierten Anfänge einer Autonomiekonzeption, die gemeinhin mit Karl Philipp Moritz in Zusammenhang gebracht werden. Daß Moritz sich in eine beispielsweise schon bei Lessing und Lenz begonnene Entwicklung einschalten konnte, hat man neuerdings zwar hervorgehoben, aber noch nicht detailliert untersucht. 73 Zu prüfen wäre überdies, ob man hinsichtlich solcher spätaufklärerischer Autoren, die mindestens einen Ausgleich zwischen ästhetischen und außerliterarischen Komponenten suchten (etwa Wieland, Klinger, Hebel), von besonderen Ausprägun-

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Besondere Aufmerksamkeit fanden diesbezüglich die Romane Wielands, so u. a. bei Hermann Müller-Solger (Der Dichtertraum. Studien zur Entwicklung der dichterischen Phantasie im Werk Christoph Martin Wielands. Göppingen 1970) und bei Klaus Oettinger (Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands. München 1970). - Hildburg Herbst: Frühe Formen der deutschen Novelle im 18. Jahrhundert. Berlin 1985. - Manfred Grätz: Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen. Stuttgart 1988. - Thesenhaft ist die »Genese einer fantastischen Literatur« im Aufklärungszeitalter so umrissen worden: »Diese Genese vollzieht sich, scheint mir, in vier, chronologisch partiell koexistierenden, Stufen: (Rezeption und Produktion von) >MärchendurchlässigSpätaufklärungGeschichte der AbderitenWas ist Aufklärung?^ In: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von H.-D. Dahnke und Bernd Leistner. Bd. 1. Berlin und Weimar 1989, S. 39-134, hier S. 62ff. Vgl. die Nachweise in Horst Stukes ausgezeichnetem begriffsgeschichtlichem Artikel »Aufklärung« in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 243-342, hier S. 253f. Berlinische Monatsschrift. 1783, Bd. 2, S. 516. Nach Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg und München 1974, S. 85. Zum Auftauchen des Begriffs »wahre Aufklärung« vgl. ebd., S. 70.

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Wieland - Humanität und Aufklärung

schwommene Grundformel gebrachte »wahre Erleuchtung«, deren »Interesse« unverändert ständisch abgestuft war, kreisten während der nächsten Jahre mannigfaltige öffentlich vorgetragene Überlegungen Wielands, hinter die zeitweilig sein dichterisches Schaffen fast gänzlich zurücktrat. Mit ihnen suchte er, auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagierend, das notwendig fortzuführende Aufklärungswirken zu bezeichnen. Und mit ihnen hatte er, wesentlich zur Selbstproblematisierung der deutschen Aufklärungsbewegung beitragend, teil an der rasch anschwellenden Aufklärungsdebatte. 27 Die naive Selbstgewißheit, die unter den Aufklärern nach wie vor verbreitet war,28 teilte er nicht. Vielmehr unternahm er es, das aufklärerische Prinzip der Kritik und Prüfung aller menschlichen Belange auch auf die Aufklärung anzuwenden. Und deren kritisch-bilanzierende Einschätzung verband er mit einer ebensolchen der Literatur in Deutschland. Wieland machte deutlich, daß »unser teutsches Vaterland von dem höchsten Grade der Aufklärung, dessen eine Nation durch die möglichste Cultur der Sprachen, Wissenschaften und Künste theilhaftig wird« (AA XXIII, 33), noch immer beträchtlich entfernt sei. Und zwar, wie sich insgesamt gesehen ergibt, wesentlich aus drei Gründen: wachsende Verbreitung von Aberglauben und Schwärmerei, Mangel an Humanität im menschlichen Alltagsleben und Mangel an Vernunft beim politischen Handeln. Analog schätzte er gegen Ende des zweiten der Briefe an einen jungen Dichter (1782) den Reifegrad der deutschen Literatur im Vergleich zur französischen ein. Der verbreiteten, mit jenen Briefen bereits indirekt abgelehnten Lobpreisung des sogenannten »Goldenen Zeitalters der deutschen Poesie« begegnete er dann in seiner vorläufig letzten Verserzählung, Klelia und Sinibald (1783/84), unverhüllt ironisch mit dem antithetischen Bild der »Von keinem Vorurtheil des Alterthums beschwerten, / Und rein vom Staub der Vorwelt abgekehrten / Rauschgoldnen Zeiten« (AA XIII, 297). Daraus leitete Wieland mannigfaltige Forderungen nach unablässiger aufklärerischer Aktivität her und zog für sich selbst entsprechende Schlüsse. Seiner engsten Vertrauten, Sophie von La Roche, bekannte er am 8. Januar 1784: »Wir leben in einem so außerordentlich merkwürdigen und mit den größten Revolutionen schwangeren Zeitlauf, daß es ein Vergnügen ist zu leben, wenn's auch nur wäre, um zu sehen, was aus dem allen noch werden wird. Und doch, wo wollten wir die Weisheit hernehmen, ganz müssige Zu-

27

Wielands spätaufklärerisches Werk, seine Publizistik insonderheit, widerlegt den einschränkenden Nachsatz einer Feststellung Hans Werner Seifferts: Wieland »erfüllt noch die Idee der Aufklärung, wenn er an ihrer Bewegung auch keinen Anteil mehr hat« (»Die Idee der Aufklärung bei Christoph Martin Wieland«. In: Wissenschaftliche Annalen. Jg. 2. Berlin 1953. H. 11, S. 6 7 8 - 6 8 9 , das Zitat S. 679). Seiffert versperrt sich die Sicht auf Wielands Aufklärertum, indem er diesem Wielands »realistisches« Dichten entgegenstellt.

28

Vgl. Dahnke: »>Was ist Aufklärung?AgathonEin lehrreiches Experiment auf Unkosten der Franzosenc Wielands Revolutionsgespräche«. Näheres dazu bei Wolfgang Albrecht: »Aufklärung, Reform, Revolution oder >Bewirkt Aufklärung Revolutionen?^ Über ein Zentralproblem der Aufklärungs-

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Wielands früher bekundete Distanz zur französischen Aufklärung schwand für kurze Zeit. Die Franzosen dünkten ihm die aufgeklärteste Nation zu sein für dieselbe kurze Zeit. Er hoffte angesichts dieses Bewußtseins- und Kulturstandes, eine gesetzlich wohlgegründete konstitutionelle Monarchie würde geschaffen. Weil er sich in seiner Erwartung getäuscht sah, kritisierte er bereits im Oktober 1789 (»Kosmopolitische Adresse an die Französische Nationalversammlung«; AA XV, 335): »Man hat die neue Konstituzion damit angefangen, die alte gänzlich aufzulösen, das königliche Ansehen unter die vorgebliche Volksmajestät herab zu würdigen, alle Subordinazion willkührlich zu machen, mit Einem Worte, die Monarchie in eine Anarchie zu verwandeln« und eine Willkürherrschaft durch eine andere abzulösen. Den Grad französischer Aufgeklärtheit alsbald minimierend, setzte Wieland dann nur noch auf »die kleine Zahl der aufgeklärten Freunde der Freyheit (von welchen im Grunde alles herkommt, was bisher in der National-Versammlung Gutes gewirkt worden ist)« (»Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich«; AA XV, 344). Von ihnen erhoffte er, sie würden die Volksmassen besänftigen, deren aktive Beteiligung an den revolutionären Ereignissen er mißbilligte und diskreditierte. Der Fortgang der Revolution enttäuschte und ernüchterte ihn, und er bestätigte ihn in seiner Haltung gegenüber den unteren Volksschichten. Sie bewiesen ihm, daß sie noch nicht reif für Freiheit und Gleichheit waren. Dabei reflektierte er nicht, wie sie die nötige Reife je erlangen sollten, wenn sie in den sozialen und politischen Zwängen ihres Standes gehalten und nur bedingt aufgeklärt wurden. Statt dessen führte ihn die Furcht vor dem Volk, will sagen: um die gesicherte Existenz der Stände-Ordnung, unversehens zu zirkelschlüssigem Denken. Von Revolutionsbeginn an befand er: Es ist lächerlich von der Majestät des Volks zu faseln. Die wahre Majestät, das Ehrfurchtgebietende, Heilige, Unverletzliche, was dieses Wort in sich schließt, liegt in dem Gesetze, welches nicht (wie man jetzt in Frankreich zu sagen beliebt) der allgemeine Wille des Volks, sondern der Ausspruch der allgemeinen Vernunft ist, und welchem folglich alle Bürger des Staats die unverbrüchlichste Unterwürfigkeit schuldig sind. (AA XV, 334)

Vernunftgemäße neue Gesetze sollten nach Wielands wiederholter Bekundung aber erst geschaffen werden, weshalb er auch - im Unterschied zu anderen von der Französischen Revolution sich mehr und mehr distanzierenden Spätaufklärern - nie bestritt, daß ihr Ausbruch unvermeidbar war. Obwohl Wieland sich weiterhin dialogisch, umsichtig polyperspektivisch und so stetig-eingehend wie sonst nur noch entschiedene Revolutionsbefürworter mit den Ereignissen in Frankreich auseinandersetzte, drang immer kräfdebatte in Deutschland«. In: Lessing Yearbook XXII. 1990. Detroit 1991, S. 1-75, hier S. 1 Iff.

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tiger folgende Autorposition hervor. Er empfand die revolutionären Geschehnisse zunehmend als zerstörerisch und inhuman. Der alte Staat hingegen, so unvollkommen er auch war, bedeutete ihm eine unverzichtbare Instanz, die das Zusammenleben der Menschen regulierte und vor ebendem Chaos bewahrte, das er nun erwachsen sah. Wieland blieb Monarchist, mit der einzigen Modifikation, daß er zur konstitutionellen Monarchie hinneigte. Die Idee des aufgeklärten Absolutismus wandelte sich zu der eines aufgeklärten Konstitutionalismus, einer Gewaltenteilung, in der die politische Exekutive in den Händen des Herrschers verblieb und der legislatorisch beratenden Ständevertretung übergeordnet war. Für einen solchen Konstitutionalismus trat er mit einer Beharrlichkeit ein, die selbst einige seiner Freunde nicht nachzuvollziehen vermochten. Knebel beispielsweise konstatierte verwundert, daß Wieland, »in seinem [zweiten] Gespräche unter vier Augen, noch so wenig an der alten Ordnung der Dinge verzweifelt, daß er sogar, zu Erhaltung derselben, ein neues Ideal von Monarchen sich formet, wie - keiner je gewesen ist, und also keiner wahrscheinlich je werden wird«.52 Aber gerade die Ausbildung eines neuen Ideals, so anfechtbar es sein mochte, war ein Versuch, in den Wirren der Zeit wieder einen Halt zu finden, aus Niedergeschlagenheit und Widersprüchen herauszugelangen. Während Wieland 1788 im »Kosmopoliten«-Aufsatz von der verderblichen Willkür unter Ludwig XVI. gesprochen hatte, behauptete er 1793: Nicht die Monarchie, sondern die Laster und die tiefe sittliche Verdorbenheit aller Stände und Klassen waren das, was Frankreich von Stufe zu Stufe so weit herunter brachte, daß der Hof selbst sich zuletzt gezwungen sah, die Nazion zur Rettung des Staats aufzufordern: und eben diese Laster, eben diese tiefe moralische Verdorbenheit, welche sie in die neue Staatsverfassung mitbringt, macht die Hoffnung, durch die Demokratie glücklich zu werden, zur lächerlichsten aller Schimären. (AA XV, 613)

Aus der Sicht gestaltete Wieland den 1794 hinzugefügten Schlußteil des Goldnen Spiegels, das heißt das Scheitern der von Tifan begründeten Regierungsweise. Es wird mit der »in der menschlichen Natur« tief verwurzelten »Tendenz zum schlechter werden« (AA IX, 299) erklärt, die die beiden Grundpfeiler der Tifanschen Staatsverfassung untergraben habe: humane Herrschaft und hohe sittliche Kultur. Machtkämpfe zwischen Adel und Priesterschaft wirken sich negativ auf die übrigen Stände und Schichten aus. Es kommt zu einem

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Karl Ludwig von Knebel an Karl August Böttiger, 17. März 1798. In: K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel. Hrsg. von K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mündt. Bd. 3. Leipzig 1836, S. 31. Jenes Königsideal gab Wieland in der »Erklärung über einen im St. James Chronicle [...] abgedruckten Artikel [...]« (Abschnitt 5; H XXXIV, 375) auch öffentlich als sein eigenes zu erkennen.

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generellen Verfall der Sitten und schließlich zum Aufstand, der so verläuft, wie Wieland den Werdegang der Französischen Revolution interpretierte. Der »Pöbel« begeht »alle Arten von Ausschweifungen und Gräuelthaten«, und den wenigen »Wohlgesinnten« fehlt es »zu Wiederherstellung der Ordnung [...] theils an Muth und Beharrlichkeit, theils hofften sie irriger Weise durch die Macht der Vernunft auszurichten, was ihre Gegner, die sich aus Ehrgeitz und Herrschsucht zu Anführern des Volks aufgeworfen hatten, auf einem viel kürzern Wege dadurch erhielten, daß sie sich Alles erlaubten und vor keiner Abscheulichkeit zurück bebten, wenn sie nur ein Mittel zu ihrer Absicht war« (AA IX, 322). Die Zweifel an der »Macht der Vernunft« offenbaren Wielands innere Zerrissenheit und den Pessimismus, der ihn vorübergehend befiel. Die Verabschiedung der Idee des aufgeklärten Absolutismus in Gestalt der Tifan-Utopie bezeugt, daß Wieland eine Epoche zum Ende gelangt wußte. Gleichwohl setzte er alles daran, sich durch die Umbrüche nicht gänzlich in lähmende Irritation bringen zu lassen und sein Vertrauen auf Vernunft und Fortschritt, auf die humanisierende Kraft der Aufklärung und der Literatur zu retten. Dies nötigte ihn freilich, strikter als je zuvor politisch-soziale Auseinandersetzungen abzuweisen, soziale Probleme, die er durchaus erkannte, sittlichen Aspekten unterzuordnen und den Blick auf eine bessere Zukunft zu richten. Die Ausweitung oder Übertragung der Revolution auf Deutschland lehnte Wieland entschieden ab. Mehr noch. Revolutionären Gesinnungen und Veränderungen versuchte er entgegenzuarbeiten. Er vermittelte ein harmonisiertes Bild der gesellschaftlichen Situation in Deutschland und erklärte schon zwei Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution: »[...] wer einsehen gelernt hat, daß ein leidlicher Zustand das höchste ist, was die Sterblichen sich hinieden vernünftiger Weise versprechen dürfen, [...] der wird [...] finden, daß wir Ursache haben, mit unserm Loose zufrieden zu seyn.« (AA XXIII, 389) Wieland glaubte, trotz zunehmenden Einflusses der Gegenaufklärung unter dem Eindruck des Revolutionsverlaufs, den Fortgang der Aufklärung und die Durchsetzung »vieler noch wünschenswürdigen und nöthigen Verbesserungen« durch aufklärerische Wirksamkeit »von Oben herab« gesichert (AA XXIII, 388), mit der er sich weitestgehend einverstanden zeigte. Um sie nicht zu gefährden, schwieg er zu Repressalien und zu verschärften Zensurmaßnahmen. Er war sogar bereit, eine Art Selbstzensur zu billigen und zu üben. »In einer Zeit wie die unsrige, in einem Reich wie das germanische, müssen nicht nur bey Untersuchung problematischer Fragen, sondern selbst beym popularen Vortrag ausgemachter Wahrheiten, welche die bürgerlichen Verfassungen und Regierungen unmittelbar betreffen, vielerley Rücksichten genommen werden, ohne welche man Gefahr läuft, aus Übel ärger zu machen, oder Unheil anzurichten wo man Gutes stiften wollte.« (AA XV, 447) Das war, 1792, die erklärte Zurücknahme des Grundsatzprogramms »Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller«, und Wieland hielt sich im wesentlichen

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mehrere Jahre an sie, bis zu den 1798/99 veröffentlichten Gesprächen unter vier AugenP Demgemäß beteiligte er sich vorerst auch nicht wieder an der unvermindert anhaltenden Aufklärungsdebatte, innerhalb derer sich eine politische Kontroverse über den Zusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution herausbildete. 54 Da viele Aufklärer diesen Zusammenhang bei der Französischen Revolution zunächst selbst hervorgekehrt hatten, fiel es den sogenannten Obskuranten um so leichter, die Aufklärungsbewegung pauschal umstürzlerischer Absichten 55 zu beschuldigen und schärfste Maßnahmen gegen sie zu fordern. Wieland verwahrte sich, »Worte zur rechten Zeit an die politischen und moralischen Gewalthaber« richtend (1793, ursprünglicher Titel: »Fragmente aus Briefen vermischten Inhalts«), nur zaghaft gegen Restriktionen, hob aber desto kräftiger die staatserhaltende Funktion der Aufklärung hervor: Man kann es nicht oft genug wiederhohlen: unbeschränkte Aufklärung über alle göttliche und menschliche Dinge hat der bürgerlichen Gesellschaft niemahls wahren Schaden gethan, und ist selbst in Zeitläuften wie die unsrigen so wenig gefährlich, daß sie vielmehr das einzige unfehlbare Mittel ist, wodurch die dermahlen noch bestehenden Staaten befestiget, und ohne gewaltsame Erschütterungen und Umwälzungen von den Gebrechen, womit sie noch behaftet sind, nach und nach befreyt werden können. (AA XV, 598)

Das war eine gängige Argumentation all derjenigen Spätaufklärer, die zu vorsichtigerem öffentlichem Diskurs neigten, zugleich aber am aufklärerischen Reformertum nicht minder entschieden festhielten wie sie revolutionäre Veränderungen ablehnten. In der bestehenden angespannten Situation der mittneunziger Jahre sollte es der Aufklärung obliegen, die ideellen und moralischen Grundlagen für eine bessere Zukunft zu schaffen. Wieland verschob den Schwerpunkt aufklärerischen Wirkens von der kritischen Erkenntnisvermittlung zu einer tiefgehenden

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54 55

Es gibt keine solch geradlinige Kontinuität, wie sie demonstriert wird von John A. McCarthy: »Die gefesselte Muse? Wieland und die Pressefreiheit«. In: Modern Language Notes. Bd. 99. Baltimore 1984, Nr. 3, S. 4 3 7 ^ 6 0 , vgl. S. 459. Dort ist die Rede allzu vereinfachend davon, daß Wieland sich auch nach der jakobinischen Wende der Französischen Revolution gegen Einschränkungen der Pressefreiheit ausgesprochen habe. Dazu Albrecht: »Aufklärung, Reform, Revolution« (Anm. 51), Abschn. 3 und 4. Vgl. Inge Stephan: »Die Debatte über die Beziehungen zwischen Literatur, Aufklärung und Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland«. In: Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Hrsg. von Julius H. Schoeps und Imanuel Geiss. Duisburg 1979, S. 41-59, besonders S. 41 und 44ff. - Vgl. auch Albrecht: »Aufklärung, Reform, Revolution« (Anm. 51), S. 14ff., 2Iff. und 29ff. Zur Kritik einiger Thesen Stephans vgl. ebd., S. lf. und 56.

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sittlich-ästhetischen Erziehung. Die Humanisierung der Individuen erklärte er in seinen »Worten zur rechten Zeit«, anknüpfend an frühere allgemeinaufklärerische und eigene Vorstellungen, zur Hauptbedingung allen - unverzichtbaren - gesellschaftlichen Wandels: Soll es jemahls besser um die Menschheit stehen, so muß die Reform nicht bey Regierungsformen und Konstituzionen, sondern bey den einzelnen Menschen anfangen. [...] Denn die reichste Quelle alles menschlichen Elends ist nicht außer uns, sondern liegt in dem Mangel eines richtigen Begriffs von unsrer Natur und Bestimmung, in der falschen Schätzung des Werths der äußern Dinge, in dem Übergewichte des thierischen Theils über den vernünftigen, in der Verdorbenheit der Sitten [...] und in der Egoiste rey, die sich von den höhern Klassen immer mehr und mehr auf die niedrigem ergießen. (AA XV, 616f.)

Diese Ansicht wurde zum Kernstück der »Lebensweisheit des Archytas« in den neuen Schlußpartien des Agathon von 1794 und der des Apollonius im Agathodämon (1799). Jene Lebensweisheit läuft darauf hinaus, Verlust an Welt und Identität, wie Agathon ihn erlitten hat, zu kompensieren, aber nicht bloß durch »Aktivierung der stoizistischen Selbstbewahrung«. 56 Archytas gibt Agathon einen »richtigen Begriff« von der zwiegeteilten menschlichen Natur, dem zufolge es die Bestimmung des Menschen ist, seine tierische Natur mit der geistigen recht eigentlich zu beherrschen, um zu innerer Harmonie gelangen und uneigennützigen tätigen Anteil am »praktischefn] Leben« (AA VI, 497) nehmen, die »Pflichten im bürgerlichen und häuslichen Leben« (AA VI, 508) erfüllen zu können. Soweit bewegt sich die Philosophie des Archytas in herkömmlichen aufklärerischen Bahnen. Aber sie führt darüber hinaus, weitet sich zu der programmatischen Vorstellung, die Realität geistig zu bezwingen. Der »Geist«, heißt es, »strebt mit seinen Gedanken über Raum und Zeit empor, und ist stark genug, mit seiner Kraft einer über ihm zusammen stürzenden Welt Trotz zu bieten« (AA VI, 493). Es liege im Vermögen des Menschen, diese Kraft voll auszubilden und sich ihrer bedienen zu lernen. »Nur die Unkunde seiner eigenen Natur und Würde kann den Geist in einen so unnatürlichen Zustand versetzen, daß er, anstatt zu herrschen, dient; anstatt sich vom Stoffe los zu winden, immer mehr in ihn verwickelt wird; anstatt immer höher empor zu steigen, immer tiefer herab sinkt« (AA VI, 501). Hingezielt war auf die Heranbildung von Individuen, die den Wirren einer menschheitlichen Umbruchsepoche, als die Wieland seine Zeit genau erfaßte, souverän widerstanden und mit ihrem ordnungsstiftenden Denken und Handeln »einer stufenweise wachsenden Vervollkommnung aller geistigen Wesen« (AA VI, 506) den Weg ebneten. Auf einer »philosophischen Wanderschaft«

56

Erhart: Entzweiung und Selbstaufldärung Agathon; das Zitat S. 389.

(Anm. 50), S. 379-394: Archytas und

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verliert Agathon seine letzten Vorurteile. »Seine Beobachtungen vollendeten, was der Umgang mit Archytas und anhaltendes Nachdenken über seine eigenen Erfahrungen angefangen hatten: sie überzeugten ihn« unter anderem, »daß wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das Einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen, gründet« (AA VI, 51 lf.). Nach Maßgabe dieser Einsichten widmet er seine neugewonnene Weltkenntnis schließlich »mit Vergnügen und Eifer den öffentlichen Angelegenheiten« (AA VI, 514) Tarents. Zwar nicht mehr in einer Romanhandlung, jedoch desto eindringlicher auktorial erzählend stellte Wieland heraus, daß es vernunftgerecht konsequent sei, zukunftsgerichtetes aufgeklärtes Selbstdenken in gemeinnützige Betätigung zu überführen. Mit einigen noch zu verdeutlichenden Einschränkungen gilt dies mindestens auch für Agathodämon. Was die Neubearbeitungen des Goldnen Spiegels und des Agathon sowohl mit Wielands weiteren Romanen als auch publizistischen Schriften der Jahre um 1800 verbindet, ist der Humanitätsgedanke, sein unbeirrbar wiederholtes Verlangen nach »Beförderung der Humanität (dem wahren Eins ist Noth)« {Die Musenalmanache für das Jahr 1796; H XXXVIII, 290), das zum Fundament seines sämtlichen Sinnens und Trachtens wurde. Er beschwor seine Leser geradezu, im Leben wie in der Kunst »dem milden Geist der Humanität wieder Raum zu geben, von welchem allein die Heilung der unendlichen Uebel, die uns drücken, zu erwarten ist« (H XXXVIII, 285). Das Epitheton »mild« erhellt genauestens die Spezifik des Wielandschen Bestrebens, seine Besonnenheit und Feinfühligkeit - aber ebenso die Grenzen: das Harmonisierende und Zögerliche oder Zurückhaltende. Dieser innere Zwiespalt dürfte Wielands aufklärerisch-literarisches Engagement zusätzlich erschwert haben. Ohnehin konnte und wollte er keine allgültigen Lösungen der ihn bedrängenden Zeitprobleme bieten, indes verschiedene Möglichkeiten debattieren und gegeneinander abwägen. Exemplarisch dafür sind die Gespräche unter vier Augen und Agathodämon. Hinter der Maske der Vertraulichkeit freundschaftlicher Zwiegespräche, mit der ein ironisches Spiel getrieben wird, äußerte Wieland sich unverhüllt über die brisantesten Gegenwartsfragen und über nähere Zukunftsaussichten. Beides verband er auf charakteristische Art im zehnten dieser Dialoge, vielsinnig »Träume mit offenen Augen« betitelt. Den Ausgangspunkt der von Egbert und Sinibald geführten Unterredung bildet ein Traum des ersteren, von dem er nur noch zu berichten weiß, daß es mit einem »Sprung über das ganze neunzehnte Jahrhundert« (H XXXIII, 438) mitten hinein in ein Deutschland ging, das alle anderen Länder an Wohlstand, Humanität und Glückseligkeit übertraf. Wie es dazu gekommen war, hat der Erwachte vergessen. Die Hindeutung auf einen größeren »Sprung« (der Wieland seit jeher innerhalb des »natürlichen« Entwicklungsganges unangemessen oder unmöglich erschien) unterstreicht, daß solch weit vorauseilender Vision unvermeidlich etwas Spekulatives anhaftet, das des Autors Sache nicht ist.

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Die Utopie bleibt als Wunsch oder Sehnsucht legitim, wird aber - im prägnanten Unterschied etwa zu Westenrieder, Wekhrlin und Rebmann - nicht einmal umrißhaft ausgeführt. Die Aufmerksamkeit und Überlegung der Gesprächspartner richtet sich vielmehr auf das nächstliegende Zukünftige, denn, darin sind sie sich einig: »[...] wenn wir nun einmal nicht verhindern können, zu sehen, daß es nicht gut mit uns steht, warum sollten wir über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, wie es besser stehen könnte, nicht wenigstens denken dürfen?« (H XXXIII, 440) Doch gerade in diesem der Gespräche unter vier Augen wird deutlich, daß bloßes Räsonnement nicht mehr ausreicht. Wieland machte die Notwendigkeit zeitgemäßer verfassungsrechtlicher Änderungen in Deutschland geltend. Seine Vorstellungen eines aufgeklärten Konstitutionalismus konkretisierend, ließ er Grundzüge reichsständischer Vertretungen mit zwei Kammern entwickeln - bis zu dem Punkt, wo den Dialogpartnern am Problem der Bikonfessionalität klar wird, daß sie wohl kaum mehr als einen Tagtraum hervorgebracht haben. Skepsis birgt auch das folgende Gespräch, in dem weitere »Blicke in die Zukunft« getan werden. Recht scharfe Kritik trifft das kurzsichtige politische Handeln der Herrschenden, das die für nötig erachteten Veränderungen wesentlich behindert. »Alles ist bei uns momentan·, wir entscheiden nach der Ansicht des Moments und handeln nach dem Interesse des Moments; Politik des Moments, Staatsökonomie des Moments, Regierung für den Moment, Verbindungen auf einen Moment, weiter erstreckt sich unsre Kunst selten.« (H XXXIII, 461) Nicht zum wenigsten daraus leitet sich in den Gesprächen unter vier Augen die durchgehende Intention her, aufmerksam kritisch realitätsbezogene Reformmöglichkeiten zu diskutieren und zugleich das eigene Grundsatzprogramm öffentlichkeitsgerichteter literarisch-publizistischer Aufklärung neu zu beleben. Der Charakteristik der gesellschaftspolitischen Verhältnisse korrespondiert eine kritische Bilanz der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts. Wieland drängte auf ein differenzierteres Aufklärungsverständnis, das es erlaubte, Resultate unbeschönigt zu beurteilen und künftige Aufgaben zu fixieren. Unterschieden wird »das Helldunkel, das durch die immer fortschreitende Cultur der Wissenschaften in den Köpfen der Europäer nach und nach entstanden ist«, von der »Erleuchtung des Verstandes, die den Menschen wirklich vernunftmäßig und consequent denken und handeln macht« (H XXXIII, 462 und 463). Gemessen an jenem »Helldunkel«, konstatierte Wieland Fortschritte gegenüber früheren Jahrhunderten. Diese »Erleuchtung« aber blieb für ihn der einzige Weg zu dem hartnäckig verfolgten Ziel einer humaneren, friedsameren und freieren Menschheit. Er gab der Humanisierung wiederum Vorrang gegenüber sonstigen Aufklärungsbestrebungen, zumal Entwicklung und Verbreitung der Wissenschaften gesichert schienen. Erneut orientierte er, im Sinne des »Kosmopoliten«-Aufsatzes, vordringlich alle Weltbürger darauf, »das große Werk, wozu wir berufen sind, die Cultur, Aufklärung und Veredlung

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des Menschengeschlechts, [zu] bewirken, deren Frucht die öffentliche und allgemeine Glückseligkeit ist« (4. Gespräch; H XXXIII, 345).57 Es ist ebendas Werk, dem - nach Wielands dichterischer Ausdeutung - Apollonius von Tyana, der Agathodämon, sein Leben geweiht hat. In dem 1796 bis 1799 entstandenen Roman Agathodämon58 legte Wieland die Summe seiner Aufklärungsvorstellungen dar und lieferte damit einen letzten großen literarischen und überhaupt seinen umfassendsten Beitrag zur Aufklärungsdebatte, »zum kritischen Diskurs des aufgeklärten Publikums«. 59 Zum Hauptthema der Dichtung machte er einen weit ausgreifenden Disput über das Problem, wie inmitten welthistorischer Veränderungen die für den menschheitlichen Fortschritt ausschlaggebende Humanisierung der Individuen bewirkt, und das heißt auf seine Gegenwart bezogen auch, wie Aufklärung praktiziert werden könnte. Wieland zog Parallelen zwischen seiner eigenen Zeit und der des Apollonius (1. Jahrhundert n. Chr.), indem er beide als Phasen innerhalb krisenhafter Umbruchsepochen auffaßte, die ein verstärkter Wunder- und Aberglaube kennzeichne. Wie er den Sittenverfall des zerbrechenden europäischen Feudalsystems in Relation zur historisch gewachsenen Ausartung des institutionalisierten Christentums sah, so stellte er den der niedergehenden römischen Sklavenhaltergesellschaft in Beziehung zum Untergang der alten dämonistisch-polytheistischen Religion, an deren Stelle allmählich das Christentum getreten war. »Unsre eigne Zeit ausgenommen«, hatte er bereits 1788 in den »Gedanken von der Freiheit« (AA XV, 127) geäußert, wird man schwerlich in der ganzen Geschichte einen andern Zeitraum finden, wo zugleich und zum Theil in eben denselben Ländern, neben einem ziemlich hohen Grade von Kultur und Verfeinerung auf der einen Seite, auf der andern mehr Finsterniß in den Köpfen, mehr Schwäche, Leichtgläubigkeit und Hang zu allen Arten von Schwärmerey, mehr Neigung zu geheimen religiösen Verbindungen, Mysterien und Orden, mehr Glauben an unglaubliche Dinge, mehr Leidenschaft für magische Wissenschaften und Operazionen, selbst unter den obersten Klassen des Staats Statt gefunden, kurz, wo es allen Gattungen von religiösen Betrügern, Gauklern, Taschenspielern und Wundermännern leichter gemacht worden wäre, mit der Schwäche und Einfalt der Leute ihr Spiel zu treiben, als das erste und zweyte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung. 57

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Als unzutreffend erweist sich die Annahme Bäpplers (Der philosophische Wieland [Anm. 19], S. 121): »Unter dem Eindruck der durch die Revolution verursachten Zersetzungserscheinungen in der französischen Gesellschaft ließ sich in Wielands Denken ein weltzugewandtes Weltbürgertum nicht aufrechterhalten.« Die Ausführungen zu dem Roman beruhen auf meiner Interpretationsstudie: »Wielands >AgathodämonAgathodämonAkademische Loge Sincera Concordia< in Erfurt und sein Verhältnis zur Freimaurerloge >Amalia< in Weimar. Erfurt 1910.

Gefühl, Einbildungskraft, Gemeinsinn Aspekte weiblicher Literatur und Aufklärung aus der Sicht Sophie von La Roches

»Sophie von La Roche (1730-1807) wiederentdecken?« wurde 1985 gefragt, mit guten dafür sprechenden Argumenten,1 als die Hinwendung zu dieser Schriftstellerin erst eine vereinzelte war und sich traditionsgemäß auf ihren Erstlingsroman Geschichte

des Fräuleins

von Sternheim

( 1 7 7 1 ) beschränkte.

Seither ist die Wiederentdeckung durch Überblicksdarstellungen2 und Einzel-

1

2

Michael Maurer: »Das Gute und das Schöne. Sophie von La Roche (1730-1807) wiederentdecken?« In: Euphorien. Bd. 79. Heidelberg 1985. H. 2, S. 111-138. Bernd Heidenreich: Sophie von La Roche. Eine Werkbiographie. Frankfurt/M., Bern, New York 1986. Der Verfasser siedelt das Frühwerk zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit an und interpretiert die weiteren Schriften als Produkte einer literarisch zunehmend verflachenden Schriftstellerin und pädagogisch-aufklärerischen Pragmatikerin. - Ingrid Wiede-Behrend: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. Literatur und Frauenbildung im 18. Jahrhundert am Beispiel Sophie von La Roche. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1987. Die Leitthese lautet, »daß Sophie La Roche sich selbst nicht als Künstlerin, sondern in erster Linie als >Erzieherin von Deutschlands Töchtern< verstanden hat« (S. 30); »schriftstellerische Tätigkeit war zu ihrer Zeit für eine Frau noch so ungewöhnlich, daß sie mit pädagogischen Zielen entschuldigt werden mußte« (S. 303). Monika Nenon: Autorschaft und Frauenbildung. Das Beispiel Sophie von La Roche. Würzburg 1988. Auch in dieser, bislang am tiefsten schürfenden Monographie wird die Problematik der »Frauenbildung« nicht konsequent mit der der »Frauenaufklärung« verknüpft, vor allem im Abschnitt über die Romane nicht. - Somit ist die Erforschung der Aufklärungsschriftstellerin Sophie von La Roche im wesentlichen noch immer abstrakten Ambivalenzen von Aufklärung/ Rationalismus und Empfindsamkeit/Gefühlsliteratur verhaftet, wie sie zu grundlegenden Deutungskriterien gemacht wurden bei Christine Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Wien und Leipzig 1919, Kap. II.4: »Der empfindsame Frauenroman. Sophie La Roche«. Längst aber ist seit dieser, ansonsten bahnbrechenden materialreichen Untersuchung die vorgebliche Gegensätzlichkeit von Aufklärung und Empfindsamkeit widerlegt; vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974; und neuerlich Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988.

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Sophie von La Roche - Gefühl, Einbildungskraft,

Gemeinsinn

Studien3 kontinuierlich, obschon unterschiedlich ergebnisträchtig vorangegangen und La Roche nachgerade der Status einer der exemplarischen Autorinnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zugewachsen. Mannigfache Probleme wurden untersucht - seltsamerweise aber nicht die ideellen Grundlagen ihres Schaffens und ihr Aufklärertum. Noch immer gilt diesbezüglich für den Forschungsstand die verknappte Bemerkung: »Ihre Literatur ist auf das Handeln ausgerichtet. Ihre Schriftstellerei hatte unmittelbar lebenspraktische Intentionen. Sie arbeitete nicht in erster Linie an der Fortentwicklung des Denkens, sondern versuchte vielmehr, die Lebenspraxis von einem konsequenten Aufklärungsdenken her durchzugestalten.« 4 Dem ist, nicht zu Unrecht, entgegengehalten worden, die literarische Gestaltung bestimmter Ideale und Utopien in einigen (besonders in den ersten) Romanen widerstreite solch einer undifferenzierten »Reduktion [...] auf Nützlichkeit im Sinne einer mechanistisch verstandenen Aufklärung«; aber La Roches literarische Aufklärung ist dabei wiederum viel zu pauschal gefaßt worden: verengt zu angeblich bloß »aus Rücksicht auf das weibliche Image der Autorin verkündeten pädagogischen Absichten«. 5 Den bisherigen Problemkatalog der Spezialforschung gilt es zu erweitern, beispielsweise um folgende, hier vordringlich interessierende Fragen: Inwieweit hat La Roche teil an der zeitgenössischen (männlich determinierten) Aufklärung/Spätaufklärung? An welche aufklärerischen Traditionen und Intentionen schließt sie an? Was trägt sie bei zur Frauenbildung und Frauenaufklärung durch Frauen und wie vereint sie beides? Wie verhalten sich bei ihr zueinander: aufklärerische Funktionalität und ästhetische Kriterien der Literatur; vorgefundene Normen und ideelle Gegenentwürfe oder Wunschvorstellungen; Innovation und Traditionalismus?

3

Beispielhaft für methodisch bewußte Neuansätze, fernab eines kurzschlüssigen Feminismus, sind zahlreiche Beiträge von Barbara Becker-Cantarino, so ihr La Roche gebührend berücksichtigendes Buch: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. München 1989 (zuerst Stuttgart 1987), S. 13 heißt es: »Die Frauen der Frühen Neuzeit dürfen [...] keineswegs isoliert vom Ort innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft und dem sie bedingenden Rahmen betrachtet werden. Dieser Rahmen [...] wurde von Männern geschaffen und zu deren Vorteil und deren Befriedigung bewahrt.« Konstitutiv für ihn war aber, im 18. Jahrhundert und zu La Roches Schaffenszeit, neben zahlreichen traditionalen Elementen die Aufklärungsbewegung. Und eben sie wird von Becker-Cantarino immer wieder, darin fast mit der gesamten La-Roche-Forschung übereinstimmend, ungenügend berücksichtigt.

4

Maurer: »Das Gute« (Anm. 1), S. 119. Barbara Becker-Cantarino: »Freundschaftsutopie: Die Fiktionen der Sophie La Roche«. In: Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Hrsg. von Helga Gallas und Magdalene Heuser. Tübingen 1990, S. 92-113, Zitate S. 92 und 112.

5

Sophie von La Roche - Gefühl, Einbildungskraft, 1. Stichworte:

Frauen und Aufklärung

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Gemeinsinn

und Sophie Gutermann/La

Roche

Vor der Werkbetrachtung erscheint es angebracht, kurz einige themenrelevante Gegebenheiten der soziokulturellen Situation, in die Sophie Gutermann 1730 hineingeboren wurde, zu vergegenwärtigen. Die Frühaufklärung Gottschedscher und Gellertscher Prägung hatte vereinzelt begonnen, aufklärerische Anliegen auf die Frauen auszudehnen - aus männlicher Sicht und Interessenlage.6 Durch die moralischen Wochenschriften wurde, für die mittleren und höheren Stände, ein Doppelideal propagiert: das der gelehrten und tugendhaften »Frauenzimmer«.7 Während der Tugend keine Schranken gesetzt wurden, hafteten sie der Bildung und Erziehung von vornherein an. Das Ideal, angesichts der Schulverhältnisse ohnehin auf näherungsweise Realisierung durch Privatinitiativen angewiesen, schrumpfte alsbald zu pragmatischen Tugendforderungen. Hinzu kam seit Mitte des 18. Jahrhunderts stetig wachsende Gelehrtenkritik, die in der sozialpraktisch orientierten Spätaufklärung kulminierte. Vorbehalte gegen weltfremde oder praxisferne Gelehrsamkeit im Aufklärungsprozeß der Männer wurde von ihnen oft nur allzu eilfertig auf die Frauenbildung zurückbezogen. Für Judenemanzipation stritten und kämpften viele von ihnen - Frauenemanzipation blieb ihnen allermeist ein Fremdwort. Auf Dohms Programmschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) folgte erst elf Jahre später die von Hippel Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Und dies war nur eine, schon sehr weitgehende aufklärerische Position. Von einer anderen, ausgesprochen konservativen her wurde noch bis gegen die Jahrhundertwende mittels aufklärerischer Kategorien vehement behauptet, »daß die Weibsbilder keine Menschen sind«.8 Selbstdenken und Mündigkeit, zwei derjenigen »Grundideen«,9 die beim Übergang zur Spätaufklärung neu fundiert und erheblich erweitert wurden, gal6

7

8

9

Dazu am informativsten, mit kritischer Verarbeitung der wichtigsten älteren Sekundärliteratur, Becker-Cantarino: Weg (Anm. 3), besonders Kap. 3 und 4. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968 (2. Aufl. 1971). [Johann Michael Ambros]: Beweis, daß die Weibsbilder keine Menschen sind. Aus der Schrift und aus der gesunden Vernunft dargethan. Wien 1782. - Die Gegenposition vertritt beispielsweise ein Anonymus mit: Apologie des schönen Geschlechts oder Beweis, daß die Frauenzimmer auch Menschen sind. Königsberg 1791 (Neudruck: Recklinghausen 1960). Norbert Hinske: »Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie«. In: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Hrsg. von Karlfried Gründer und Nathan Rotenstreich. Heidelberg 1990, S. 67-100; hier S. 74ff. Frauen- und volksaufklärerische Restriktionen bleiben bei dieser sonst grundlegenden, philosophiegeschichtlich ausgerichteten Typologie leider außer Betracht. Zu den ersteren vgl. u. a. Susan L. Cocalis: »Der Vormund will Vormund sein. Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert«. In: Gestaltet und gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hrsg. von Marianne Burkhard. Amsterdam 1980, S. 33-55.

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ten für Frauen nur bedingt. Frauenaufklärung war restriktiv, ähnlich wie Volks- oder Bauernaufklärung.10 Beide konvergierten grundsätzlich in den utilitaristischen Leitprinzipien, sozial- und berufsständisch abgestuft aufzuklären und das an Kenntnissen sowie Fertigkeiten zu vermitteln, was zur Erfüllung der gesellschaftlichen und familienbezogenen Pflichten nötig war oder dem jeweiligen Aufklärer unabdinglich schien. Exemplarischen Ausdruck fand dies bei Wieland, in dem Tifanschen Aufklärungskonzept innerhalb des Goldnen Spiegels (1772), wo die Erziehung eine Schlüsselrolle erhält: »[...] durch sie müssen die Männer zu Männern, die Weiber zu Weibem, jede besondere Klasse des Staats zu dem was sie seyn soll, gebildet werden. [...] Tifan verordnete, daß in dem ganzen Scheschianischen Reiche die Knaben öffentlich, die Töchter hingegen, deren Bestimmung ordentlicher Weise in den engern Zirkel des häuslichen Lebens eingeschränkt ist, absonderlich von ihren Müttern oder nächsten Verwandten erzogen werden sollten.«" Und selbst diese elementaren Forderungen bedeuteten zu ihrer Zeit noch eine Wunschvorstellung. Namentlich für die unteren Schichten gab es kaum bessere Schulanstalten und Möglichkeiten des Privatunterrichts.12 Marie Sophie Gutermann aber hatte außergewöhnlich viele solcher Möglichkeiten: als Tochter eines Arztes, als Verlobte eines gelehrten Italieners, dann als Frau des aufgeklärten Georg Michael La Roche, der Sekretär des Voltairianers Graf Friedrich von Stadion war. Vater und Verlobter vermittelten ihr vielerlei Sach- und auch einige Sprachenkenntnisse und förderten, wie noch späterhin ebenfalls ihr Großcousin Wieland, ihre musischen Neigungen. Der pietistisch-aufklärerischen Erziehung im Vaterhaus und den Privatstunden während der Verlobungszeit folgte die Bekanntschaft mit neuester englischer und französischer Aufklärungsphilosophie und -literatur am Stadionschen Musenhof.13 Jedoch wurde auch Sophie immer wieder in die Grenzen ihres Ge10

Das ist, auch unter den umgekehrten Vorzeichen feministischer Forschung und Literaturwissenschaft, verkannt und noch nicht zur Differenzierung der dominanten pauschalen Ansicht eingebracht worden: »Gerade auf die Frau trifft die Reduzierung der Aufklärung in besonderem Maße zu.« (Wiede-Behrendt: Lehrerin [Anm. 2], S. 115). " Wielands Gesammelte Schriften. [Akademie-Ausgabe.] Abt. I. Bd. 9. Berlin 1931, S. 287f. 12 Zur Problematik vgl. letzthin u. a. Johanna Hopfner: Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800. Im Spiegel der popular-pädagogischen Schriften der Zeit. Bad Heilbrunn 1990. - Einen nach wie vor grundlegenden Überblick bietet Ulrich Herrmann: »Erziehung und Schulunterricht für Mädchen im 18. Jahrhundert«. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 3. Bremen und Wolfenbüttel 1976, S. 1 0 1 - 1 2 7 . 13

Adolf Bach: »Graf Friedrich v. Stadion, ein Aufklärer schen Kurmainz«. In ders.: Aus Goethes rheinischem und Begebenheiten. Gesammelte Untersuchungen und 1 - 6 2 . - Rudolf Asmus: G. M. De La Roche. Ein Beitrag klärung. Karlsruhe 1899.

als Minister im katholiLebensraum. Menschen Berichte. Neuß 1968, S. zur Geschichte der Auf-

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schlechts verwiesen. Der Vater versagte ihr die erbetene systematische Schulbildung, löste wegen konfessioneller Differenzen ihre Verlobung und verhinderte so eine vertiefte Ausbildung. In der Umgebung des Grafen Stadion mußte sie den Konventionen einer Gesellschafterin genügen. Wie sie sich dazu nötiges, neues Wissen nach Maß- und Vorgaben ihres Mannes erwarb, hat sie viel später an exzeptionellem Beispiel, dem der Encyclopédie, zu erkennen gegeben: Ich [...] genoß das seltene Glück, dieses unschätzbare Werk der vereinten Bemühung so vieler Gelehrten, sogleich bey seiner ersten Erscheinung [...] in dem Hause des großen geistvollen Graf Friederich von Stadion zu sehen, und die vortreffliche Vorrede, oder vielmehr Einleitung von Dalembert, durch meinen Mann vorlesen zu hören, welcher alles beseelte, was er mit seiner schönen Stimme vorlas, und Erklärungen machte. Aus dieser Vorrede, meine Lina! will ich die Auszüge Dir mittheilen, welche ich nach der Anweisung meines gütigen, verdienstvollen Gatten machte [...]. 1 4

Ein symptomatischer Vorgang für eine Frau. Angehalten und angeleitet vom Manne klärte sie sich auf. Indessen folgte daraufhin etwas für Sophie La Roche Charakteristisches: Sie wandte sich, durch das Medium der Literatur, ihrerseits aufklärerisch anderen Menschen, vornehmlich Frauen und Mädchen, zu. Sie verarbeitete ihr Wissen und Empfinden in verschiedenen Formen der literarischen Aufklärung/Spätaufklärung, in Romanen und Erzählungen, Reisebeschreibungen und Sachbüchern. Debütiert hat sie mit einer Dichtung von Rang, in der sie eigenständige Entwürfe weiblicher Aufklärung vorbrachte, die sich als programmatisch für eine selbst erwählte Schriftstellerinnenexistenz erweisen sollten.

2. Romanhafte Konstitution »wahren weiblichen Tugenden ihres Geschlechts«15

Genies, und der

übenden

Der - mit Wielands Beistand - anonym publizierte Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim setzt mit einer Vorgeschichte ein, die aus einem Abriß über die Herkunft der Eltern und insonderheit über die Lebensführung des Vaters besteht. Der ehemalige Oberst Sternheim nutzt seinen sozialen Aufstieg (Nobilitierung und Heirat mit der Schwester eines adligen Freundes) dazu, aufklärerische und spezielle volksaufklärerische Ideen zu verwirklichen. 14

15

Sophie La Roche: Briefe an Lina als Mutter. Ein Buch für junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen. Bd. 3. Leipzig 1797, S. 25. [Sophie von La Roche]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Hrsg. von C. M. Wieland. Th. 1-2. Leipzig 1771, Th. 2, S. 296. Alle Zitate im fortlaufenden Text mit Band- und Seitenangabe nach diesem Erstdruck.

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Dabei läßt er sich von einem betont bürgerlichen Ideal leiten: »[...] in dem glücklichen Mittelstande der menschlichen Gesellschaft, worinn ich gebohren wurde, sieht man die Anbauung des Geistes, und die Ausübung der meisten Tugenden nicht nur als Pflichten, sondern auch als den Grund unsers Wohlergehens an« (I, 42).16 Als Herr über zwei Dörfer entwickelt Sternheim ein Volksaufklärungsprojekt, das er gleich nach der Hochzeit seiner Frau vorträgt. Die Ehefrau wird rückhaltlos in das Vorhaben eingeführt und an ihm beteiligt. Von seiner Vortrefflichkeit überzeugt, trägt sie dazu bei, es zu verwirklichen - freilich offenkundig nur im traditionellen weiblichen Bereich des Hauses. Sternheims Projekt, »die Umstände meiner Unterthanen in andrer Austheilung der Güther, in Besorgung der Schulen, des Feldbaues und der Viehzucht zu verbessern« (I, 42), ist auf der Höhe des Diskussionsstandes um 1770.17 Zugleich eilt es, in der literarisch fiktiven Verwirklichung, der volksaufklärerischen Praxis voraus und bekundet somit eine Idealvorstellung der Autorin. Zwanghafte Maßnahmen werden problematisiert, Rücksichten auf Mentalitäten der Landbevölkerung genommen. »Guter Rath, freundliche Ermahnung, auf Besserung, nicht auf Unterdrückung abzielende Strafen, sollen die Hülfsmittel dazu seyn« (I, 52), im Zusammenwirken mit Pfarrern und Beamten das Alltagsleben zu regulieren, landwirtschaftliche Neuerungen einzuführen und vor allem zu jeglicher Pflichterfüllung anzuhalten. Tugendhaft zu sein und ihren jeweiligen Pflichten nachzukommen, verlangt Sternheim ausnahmslos von allen Menschen, ganz gleich welchen Standes und Geschlechts. Er schließt sich nicht aus, sondern geht beispielgebend voran. Denn er vertraut auf die überzeugende Kraft eines guten Beispiels mehr als auf die des Wortes, des rationalen Arguments. Und so gewinnt er die Achtung seiner Untertanen wie die des benachbarten Adels, der ihm junge Edelleute anvertraut, um sie über die Obliegenheiten eines Landadligen aufklären zu lassen. Gemeinnützige Tätigkeit lautet die Quintessenz aller aufklärerischen Bestrebungen Sternheims, nach der er auch sein einziges Kind, Sophie, in enger 16

17

Verkannt oder zumindest verkleinert wird Sternheims Intention durch die Auslegung: »Der weitere Lebensweg des Obersts Sternheims stellt [...] eine permanente Rechtfertigung seiner Nobilitierung dar, aber auch den Versuch, bürgerlich-aufklärerisches Nützlichkeitsdenken mit einem feudalen Lebensstil zu vereinen.« (Lydia Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1987, S. 167). Sophie La Roche stand mit Johann Caspar Hirzel im Briefwechsel (siehe die Auswahl in: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. von Michael Maurer. München 1983; 2. Aufl. 1985) und durfte Schriften wie die Hirzeis über Die Wirtschaft eines Philosophischen Bauers (1761) gekannt haben. - Zu den volksaufklärerischen Publikationen um 1770 vgl. Holger Böning und Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.

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Gemeinsamkeit und völliger Übereinstimmung mit der Mutter erzieht. Sie gibt der Tochter immer wieder »zu erkennen [...], daß gute Handlungen viel ruhmwürdiger seyn, als die feinsten Gedanken« (I, 180). Nach dem frühen Tod der Mutter erhält Sophie eine recht umfassende geistige und musische Ausbildung, durch die ihre stark ausgeprägte Emotionalität nicht beeinträchtigt, ihre Empfindsamkeit indes auf wohltätige Werke an den Mitmenschen konzentriert wird. Diese Erziehung macht Sophie, in der Perspektive des Romans, lebenstüchtig und befähigt sie, nach dem alsbaldigen Verlust auch des Vaters weitere schwere Schicksalsschläge zu bestehen. Von Verwandten in eine Residenz mitgenommen, lernt Sophie eine höfische Welt kennen, die den denkbar größten Kontrast zur vorherigen ländlichen Lebensweise bildet. Durch »den täglichen Anblick des Erkünstelten im Verstände, in den Empfindungen, Vergnügungen und Tugenden« (I, 327) wird Sophie abgestoßen, durch kritisch beobachtete Mißstände wird ihr soziales Mitgefühl bestärkt und aktiviert. Ihr Verhalten ist integraler Bestandteil scharfer Hofkritik der Autorin, die den tradierten Topos »Bei Hof, bei Holl«18 dem eigenen Anliegen gemäß aufklärerisch modifizierte und das an ihn geknüpfte politische Moment der Empfindsamkeit prononcierte.' 9 Hauptsächlich werden Unnatürlichkeit, Selbstbezogenheit und Pflichtvergessenheit attackiert. Aus innerer Differenz zum Hofleben sowie aus Kenntnis der »Pflichten, welche Menschlichkeit und Religion den Begüterten auflegen« (I, 199) erwächst Sophies soziales Engagement, das zwar vorerst noch unsystematisch der Linderung einzelner Notfälle gilt, aber doch eindeutig über »Almosengeben« 20 hinausreicht. Denn sie verwendet sich zugunsten einer verelendeten Familie beim Fürsten und versucht, ihn gleichzeitig wegzulenken von seinem Liebesbegehren nach ihr selbst, indem sie ihn als »Landesvater« (I, 282) anspricht, das heißt ihm über die zeitgenössischen Konnotationen der (ebenso ehrenvollen wie verpflichtenden) Bezeichnung fürsorgliche Herrschaftsausübung nahelegt. Und sie bittet einen ihr bekannten Geistlichen, jener Familie hilfreiche Verhaltensmaßregeln aufzuschreiben. Solange Sophie die ihr anerzogenen Grundsätze befolgt und selbständig praktisch anwendet, geht sie unangefochten durch das höfische Leben. Ins Unglück stürzt sie, als sie sich diesen Grundsätzen zuwider, aus »beleidigte[r] Eigenliebe« (II, 23f.), den scheuen Werbungen des edelsinnigen Lords Sey18

19

20

Helmuth Kiesel: >Bei Hof, bei Holl·. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. Sophie La Roche wird in dem Buch nicht behandelt, indes erhellt es Traditionen, an die sie sich anschloß. Die »politische Qualität der Empfindsamkeit« wurde von La Roche beträchtlich gesteigert, insofern die usuelle »Technik der oppositiven Kontrastierung« zur Hofwelt tragendes Strukturprinzip des Romans ist; Wegmann: Diskurse (Anm. 2), S. 58 und 63ff. Becker-Cantarino: Weg (Anm. 3), S. 297.

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mour entzieht und von dem Lüstling Derby (der ihr freilich aufgeklärte Tugend vorspielte) zu einer »Konventionsehe« verleiten läßt 21 - die noch dazu eine betrügerisch inszenierte Scheinehe ist. N o c h ehe der Betrug offenbar wird, macht Sophie sich ihre Verirrung klar: O wie sehr hab' ich den Unterschied der Wiirkungen der Empfindsamkeit für andere, und der für uns allein kennen gelernt! [ - ] Die zwote ist billig, und allen Menschen natürlich; aber die erste allein ist edel; sie allein unterhält die Wahrscheinlichkeit des Ausdrucks, daß wir nach dem Ebenbild unsers Urhebers geschaffen seyn, weil diese Empfindsamkeit für das Wohl und Elend unsers Nebenmenschen die Triebfeder der Wohlthätigkeit ist, der einzigen Eigenschaft, welche ein zwar unvollkommnes, aber gewiß ächtes Gepräge dieses göttlichen Ebenbildes mit sich führt. (II, 24) Der innere Konflikt, resultierend aus übersteigerter »Eigenliebe«, wird gelöst, indem Sophie unter aufklärerischen Vorzeichen nunmehr empfindsame Selbstund Nächstenliebe bewußt miteinander verbindet, getreu ihrer Erkenntnis die erstere zur »Triebfeder« der anderen macht. Das bei zeitgenössischen Theoretikern geforderte Gleichgewicht von Verstand und Gefühl oder von »Kopf« und »Herz« führt beispielhaft zu praktischer Wirksamkeit. 2 2 Es entsteht eine untrennbare Einheit von empfindsamer und vernunftgemäß praktizierter Aufklärung in der wohltätigen Aktivität, der sich Sophie fortan gänzlich widmet. 2 3 Das problematische äußere Moment (Scheinehe), beendet sie konsequent dadurch, daß sie Derby verläßt und sich nach England begibt.

21 22

23

Anschluß an Nenon: Autorschaft (Anm. 2), S. 90f. Zu den theoretischen Voraussetzungen und Grundsätzen vgl. Sauder: Empfindsamkeit (Anm. 2), Kap. 4, hier Kap. 4.1 und 4.5. La Roches Roman liefert eines der raren Gegenbeispiele zu dem an sich richtigen Befund Sauders, »daß in der deutschen Literatur der Empfindsamkeit kaum Vorarbeit dafür geleistet wurde, wie die Losungen >Tugend< und >Empfindsamkeit< hätten praktisch werden können« (S. 207). Im Roman besteht weder der herkömmlicherweise behauptete »Dualismus von aufklärerischem Bildungsgut und empfindsamen >SentimentsWertherSternheimGeschichte des Fräuleins von Sternheim< einmal andersMädchen! die feinen Stiche Deiner Nadel sind eben so viel werth, als der Witz Deines Kopfs. lesende FrauenzimmerWir und unsere Fähigkeiten wurden immer nur zu der Hausdienerschaft gerechnete Sophie von La Roches literarische Frauenzeitschrift >PomonaWir und unsere Fähigkeiten^ [Anm. 41], S. 24 und 47) werden diese Worte fälschlicherweise La Roche selbst zugeschrieben.

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Der Briefschreiberin wurde auf eine Weise zugestimmt (»Ich bin sicher, daß alle meine Leserinnen sich mit mir über den feinen Geist unserer Landsmännin freuen«; III, 381), die dem genuin aufklärerischen Verfahren entsprang, dem Publikum weitere eigene Schlußfolgerungen anheimzustellen, es aber durchaus zu den erwünschten hinzulenken. La Roche orientierte, nicht anders als die Aufklärer um sie her, auf Pflichterfüllung und Einordnung ins bestehende Gesellschafts- bzw. Geschlechtergefüge; sie ließ ebenfalls zugleich Mißstände hervortreten und ihre Behebung höchst wünschenswert erscheinen. Den hieraufhin angelegten Diskurs mit dem Publikum ergänzte sie in Dialogen mit einer Freundin namens Karoline, die als kritisch-satirisches Komplement und Korrektiv zu völlig uneingeschränkten Befürwortungen tradierter Konventionen fungiert. Karoline problematisiert den absoluten Überlegenheits- und Führungsanspruch der Männer, sie bekundet exemplarisch, daß auch Frauen Vernunft und Fähigkeiten besitzen, kurzum: in ihrer Individualität zu respektierende Menschen sind. Potentieller Gegenkritik an Karolines Standpunkt suchte die Autorin von vornherein durch Erklärungen etwa der Art zu begegnen: »Ihr Herz ist edel und liebevoll, aber ihr lebhafter Kopf wurde in ihrer Jugend von ihrem Vater und Oheim an das Satyrische gewöhnt, so daß ihre Bemerkungen, wie ich ihr sage, noch immer zu viel Bittersalz in sich fassen.« (III, 118) Dennoch wurde dieses - traditionellerweise Männern vorbehaltene und La Roche sonst fremde - »Bittersalz« keinesfalls eliminiert, sondern fortgesetzt eingestreut. Und so konnte es für aufmerksame Leserinnen gemeinsam mit den übrigen kritisch diskursiven Passagen gleichsam ein Korrelat zu den Briefen an Lina sein. Diese Briefe, die über die gesamte Zeitschrift verteilt wurden und auch selbständig mit Fortsetzungen erschienen,45 sind ausgesprochene Lehrbriefe an ein junges mittelständisches Mädchen, das in weiblichen Kenntnissen und Pflichten unterrichtet werden soll. Zwischen Briefschreiberin und -empfangerin besteht ein verwandtschaftliches Verhältnis, das individualisierte direkte Vermittlung allgemein gültiger Erfahrungen und Sachkenntnisse im lebendig vertrauten Zwiegespräch gestattet. Lina erfährt all das, was eine gute künftige Hausfrau und Mutter sowie eine gebildete Ehepartnerin und Gesellschafterin nach Ansicht der Autorin von Hauswirtschaft, Menschheit und Natur wissen muß, um sich und ihre Familie glücklich zu machen. 46 Dazu ergehen an Lina zwei fundamentale Empfehlungen: »Lege, o mein Kind! die Zufriedenheit mit deinem Stand und Vermögen zu dem Grund deines Glüks.« (1. Brief; I, 19) 45

46

D i e erste Buchausgabe erschien Speier 1785, weitere Auflagen folgten 1788, 1797 und 1807 mit dem Titel Briefe an Lina als Mädchen. Ein Buch für junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen. Zu den Fortsetzungsbänden vgl. Abschnitt 5 dieser Studie. Näheres dazu bei Dagmar Grenz: Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1981, S. 6 6 - 7 4 .

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Und: »Mache dir, Liebe! einen deutlichen Begrif von den Pflichten, den Freuden, den Vorzügen und Beschwerden, die unser Geschlecht in jedem Stand zu erfüllen, zu geniessen und zu tragen hat.« (17. Brief; III, 326) Es werden vielfaltige Hinweise und Beispiele gegeben für all dies - die »Beschwerden« ausgenommen. Über die Zwänge der Konventionen und über die - realiter ohnehin begrenzt gewesenen - Möglichkeiten selbständiger weiblicher Wirksamkeit außerhalb der Familiensphäre bekommt Lina nichts zu hören. 47 Das anfangs fünfzehnjährige Mädchen erhält zuerst Anleitungen, alters- und geschlechtsentsprechend »wohlthätig zu seyn« (12. Brief; II, 1020), in ihrem Haus und in ihrer näheren Umgebung. Eine solche Einschätzung bedeutet entschiedene Aufwertung der Hausarbeiten, die - wie auch sonst bei La Roche als Pflichterfüllung den Männertätigkeiten gleichrangig zur Seite gestellt werden. Dies unterscheidet die Briefschreiberin markant von den Philanthropisten, deren Erziehungsprogramm sie vielfach nahesteht. 48 Und im weiteren Unterschied zu ihnen lehrt sie, gesellige Tugenden zu schätzen, die persönlichkeitsbildenden Potenzen musischer Fertigkeiten auszuschöpfen. Folgerichtig weist sie indirekt die zeitgenössische Polemik gegen sogenannte »Lesesucht«, vor allem gegen die Romanlektüre der Mädchen und Frauen, zurück. Sie empfiehlt eine - freilich recht versimpelte - Differenzierung der Romane nach moralischen Kriterien und die Lektüre Richardsons, dessen Romane »tausend Beyspiele« böten, »daß man immer gut und nützlich seyn kann« (13. Brief; II, 1090). Gleiche Beispiele hat sie nach ihren eigenen beiden Briefromanen mit »Moralischen Erzählungen« zu geben versucht, die ebenfalls eine der konstanten Rubriken der Pomona bilden. Diese Erzählungen haben mit den Briefromanen gemeinsam, daß einerseits beispielgebende Charakter-»Bilder« aufgestellt und andererseits Ideale antizipiert werden. Gattungsgemäß stehen vorbildliche Verhaltensweisen und sittliche Leitsätze im Vordergrund, die mitunter schon der Werktitel vorankündigt und resümiert (»Ein guter Sohn ist auch ein guter Freund«, »Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen«), Es werden Menschen beiderlei Geschlechts Konflikten unterworfen, um schließlich aufklärerisch-bürgerliche Tugenden obsiegen und in irdischen Gefilden der Glückseligkeit desto heller erstrahlen zu lassen. Ständeübergreifende Zufriedenheit und Glückseligkeit ergeben sich in den verkürzten Perspektiven der »Moralischen Erzählungen« rascher und unkomplizierter noch als sonst bei La Roche durch gutes, 47

48

Heidenreich {La Roche [Anm. 2], S. 153) meint: »So deutet das - schon in der >Rosalie< zu beobachtende - völlige Fehlen einer Sozialkritik an den Auswüchsen des Absolutismus auf eine in verstärktem Maße konservative Haltung der La Roche.« Diese Deutung wird jedoch durch den kritischen Kontext der Briefe an Lina in der Zeitschrift Pomona widerlegt, der »Auswüchsen« einer Gesellschaft gilt, deren männliche Determination von den Aufklärern kaum minder herrührt als von den absolutistisch Herrschenden. Vgl. im einzelnen Nenon: Autorschaft (Anm. 2), Kap. 5.2.3.2.

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gemeinsinniges Denken und Handeln. Indes ist individuelle Lebenserfüllung von Frauen wiederum nicht ausschließlich an Ehe- und Familienkonventionen gebunden. Die herkömmlichen geschlechtsspezifischen Rollen werden überwiegend akzeptiert, vereinzelt aber auch umgestaltet. Exemplarisch dafür sind die Erzählungen »Liebe, Misverständnis und Freundschaft« (I, 254-286) und »Die glükliche Reise« (II, 665-722). Erstere gibt einen Lebensabriß der geist- und gefühlvollen Elise Baumthal, die einer Liebesheirat entsagt, als sie charakterliche und ideelle Differenzen zwischen sich und dem Verlobten feststellt. Eine verwitwete reiche Freundin, die eine Mädchenschule führt, bestärkt Elises Entschluß zur selbständigen Existenz und bietet an: »[...] hilf mir die gute Kinder erziehen, und den Beweiß geben, daß wir ohne Männer, und ohne ihre Liebe glücklich seyn konnten, und daß der Werth unserer Verdienste und unsers Lebens nicht von ihnen abhängt.« (I, 272) Prägnanter noch als in La Roches Romanen wird wohltätige freundschaftliche Gemeinsamkeit von Frauen als potentielle Alternative zur Bevormundung durch jeden noch so liebenswerten Ehemann erkennbar. Elise lehrt ihren Schülerinnen, innerer und tätiger sittlicher Größe den Vorzug gegenüber Prunkentfaltung und Egoismus zu geben. Ebendieser Grundsatz verbindet die alternative weibliche Lebensführung mit einer konventionelleren ehelichen Liebesgemeinschaft, die in der Reisegeschichte Louise und Karl von Ehrenwerth im wörtlichen Sinne ihres Namens führen. Um ihre neuen, familiären Obliegenheiten aus eigener Anschauung bestmöglich erfüllen zu können, unternehmen sie eine spezielle Bildungsreise, bei der sie Karls Vorsatz realisieren: »Ich möchte, daß wir [...] besonders auf das Bild glüklicher Gatten, Kinder und Unterthanen Achtung gäben, damit wir diese Modelle fremden Bestrebens nach Tugend und Wohlthun mit nach Hause brächten, wie man die Modelle zierlicher Geräthe mit sich bringt.« (II, 670) Das umfassendste Leitbild derartiger aufgeklärter Wirksamkeit finden die Reisenden in der ländlichen Herrschaft Wahrheim, wo den Landleuten nach einem Großbrand zweckmäßigere Gehöfte errichtet und wo die Kinder der herrschaftlichen Familie von ihren Eltern aufklärerischen Erziehungsprinzipien gemäß aufgezogen wurden. Frau von Ehrenwerth bilanziert (II, 722): »Unsere Reise war glüklich, weil wir jede Absicht erreichten, und nicht nur mit gesammelter Kenntniß fremder Verdienste, sondern mit dem Unterricht einheimischer Tugend begabt, nach Hause kommen.« Das modellhafte Resultat lebenspraktischer Adels- und Volksaufklärung, das weitgehend dem Programm des Obersten Sternheim gleicht, findet sich ausdrücklich zufälligerweise gerade in Deutschland. Ähnliche Beispiele auch in Italien, Frankreich und England, den vorangehenden (nur genannten) Reiseabschnitten, sind somit ohne weiteres denkbar - zumal sie in den PomonaHeften über jene drei Länder begegnen. Setzt man anstelle Italiens die Schweiz, dann ergeben sich genau die Reiseziele, die die Autorin um die Mitte der achtziger Jahre aus eigener Anschauung kennenlernte.

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4. Reisen zur Selbstbelehrung

und im Dienste der

Gemeinsinn

Frauenaufklärung

Schon bevor Sophie La Roche die - auch für Frauen nicht mehr so ungewöhnlichen - Möglichkeiten zu größeren (Bildungs-)Reisen hatte, griff sie diesen Gegenstand auch im Roman auf. 49 Beispielsweise gab sie einer Schweizreise einen hohen Stellenwert bei der Ausbildung und Persönlichkeitsentfaltung der Titelfigur in Rosaliens Briefen. Damit hatte die Autorin teil an zeitgenössischen Innovationen des Reisens und seiner Literarisierung.50 Das verstärkte Interesse für Gesellschaftsprobleme verbanden die Spätaufklärer mit dem, die Umwelt zu erkunden, verwendbare Weltkenntnis zu gewinnen und nützliche Erfahrungen zu sammeln. Dementsprechend wurde der Beobachtungsradius erweitert, auf Erziehungs-, Bildungs- und Produktionsstätten etwa, das Beobachtete zudem meist kritisch reflektiert und oft gleich um praktische Verbesserungsvorschläge ergänzt. In der Mehrzahl der massenhaft erschienenen Reisebeschreibungen ging die Selbstaufklärung der Verfasser über in direkte, realitätsnahe Aufklärung anderer Menschen, der Leser. Als La Roche die Schweiz (1784), Frankreich (1785) und Holland und England (1786) bereiste,51 erschloß sie sich - nach dem Roman und der Zeitschriftenpublizistik - konsequenterweise mit der Reisebeschreibung eine weitere Hauptform der literarischen Spätaufklärung. Die Schriftstellerin integrierte diese Gattung in ihr fernerhin verfolgtes frauenaufklärerisches Programm und gab ihr wiederum eine eigene Ausprägung. Lebens- und Tätigkeitsumstände von Frauen verschiedenster Schichten sowie exemplarische weibliche Mitwirkung an gemeinnützigen Unternehmen wurden in den Mittelpunkt gerückt. Bei staatspolitischen und religiösen Belangen übte La Roche als Autorin geschlechtstypische Zurückhaltung, soziale Mißstände hingegen registrierte und bewertete sie mitleidsvoll bis kritisch. Überhaupt war sie bestrebt, ihre subjektiven Eindrücke zu objektivierten Einsichten zu vertiefen. Aus ihren 49

50

51

Colette Cramoisy: Le thème du voyage dans l'oeuvre de Sophie von La Roche (1730-1807). Paris-Sorbonne 1975 (Diss. Mschr.), S. 1-90. - Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund vgl. Anna Pytlik: Die schöne Fremde - Frauen entdecken die Welt. Katalog zur Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Stuttgart 1991, Kap. 3: »Aufbruch und Abenteuer - Frauenreisen im 18./19. Jahrhundert«. Vgl. zum folgenden u. a. Wolfgang Griep: »Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert«. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3/2. Hrsg. von Rolf Grimminger. München 1980, S. 739-764. - Thomas Grosser: Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution. Opladen 1989, passim und zu La Roche S. 172-177. - Annegret Pelz: »>Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?< Das >reisende Frauenzimmer< als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts«. In: Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Griep. Heide 1991, S. 125-135. Dokumentenreiche Referierung der daraus hervorgegangenen Reisebeschreibungen bei Cramoisy: Le thème (Anm. 49), S. 150-323.

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Reflexionen zog sie lebenspraktische, vornehmlich sittliche Verallgemeinerungen für ihr Wunschpublikum, vorgebildete und relativ anspruchsvoll belehrbare Leserinnen. Gleich bei der Schweizreise 52 befolgte La Roche den Erfahrungssatz spätaufklärerischer Apodemik, vorbereitet zu reisen, und gab ihn zustimmend weiter: Ich finde es [...], wenn man nützlich reisen will, sehr nöthig, etwas von der Geschichte, der Regierung und dem Nationalkarakter des Landes zu wissen, welches man durchreißt, und auch Naturgeschichte genug zu kennen, damit man [...] nicht mit leeren Kopfe ohne Nachdenken seine Augen umher schauen lasse, sondern Länder und Menschen nach ihrer Abändrung beobachte, die Mängel und die Vorzüge dieser und jener Provinz gegen einander vergleichen und beurtheilen, sein eignes Glük besser fühlen, oder an dem Wohlstand der Andern mehr Antheil nehmen könne. (S. 5lf.)

Hier sind wesentliche, mit zeitgenössischen Theorien 53 übereinstimmende Grundsätze der Reiseschriftstellerin La Roche beieinander. Sie versuchte, für sich wie für ihr Publikum immer wieder Angenehmes und Nützliches zu verbinden. Beobachtungen und Vergleiche sollten selbstdenkend und abermals angestellt werden zu einer verbreiteten Absicht deutscher Spätaufklärung, die Menschen mit ihrem jeweiligen Gesellschaftsstand zufrieden zu erhalten und sie darin gemeinsinnig zu aktivieren. Beeindruckt von der schweizerischen Landschaft, widmete La Roche Naturbeschreibungen großen Raum. Wie sie gleichwohl Natur und Mensch ineins fügte, zeigt beispielsweise ein kurz gehaltener Abschnitt über Ferney. Die Schilderung führt über die natürliche Umgebung an die Bauten und schließlich an Voltaires Haus heran und bietet folgendes Fazit: »In dem Garten, in welchen man von dem artigen Saal kommt, ist eben so viel Unkraut, wie in seinen Schriften, und die schönsten Anlagen in dem fruchtbarsten Boden. Möchte nur das Schädliche seiner Feder eben so leicht auszurotten seyn, als die sorgsame Hand eines guten Gärtners den Garten reinigen und in seiner gewiß herrlichen Zierlichkeit neu darstellen wird.« (S. 239) Ein eigenes Urteil über Voltaire hat die Autorin nicht abgegeben; sie läßt nur erkennen, daß sie die Ablehnung teilt, die unter deutschen Spätaufklärern vor 1789 absolut domi52

53

[Sophie von La Roche]: Tagebuch einer Reise durch die Schweitz, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen. Altenburg 1787. Vgl. William E. Stewart: Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn 1978. - Unverkennbar machte sich La Roche einige von den stillschweigend oder explizit für reisende Männer aufgestellten Grundsätzen zu eigen. Sie ging dabei behutsam hinaus über die beiden Grundregeln der zeitgenössischen Apodemik für Frauen: bessere Befähigung zur weiblichen »Bestimmung« und Konzentration auf entsprechende Bereiche. Das hat Pelz (»>Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?dieses Weh traf Andre, warum solte mich keines treffen? [...] solte ich denn nicht auch eben so viel Kraft haben, mich wieder zu erhohlen?Sternheim< und der >Rosalie< zu einem der bedeutendsten Werke der La Roche.« Ihrer aufklärerischen Intention wird Heidenreich allerdings auch hier nicht gerecht, wenn er kurzweg hinzufügt: »Daß die Dichterin im aufklärerischen Optimismus ihrer Zeit befangen bleibt und wohl zu stark auf die Macht der Ratio und des Wissens vertraut, kann diese Leistung dabei nicht schmälern.«

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Meine verfeinerten Sinnen, meine gebildeten und geweckten Fähigkeiten, machten mich selbst hier, mitten in dem größten Mangel, glücklich. [...] Ich wünschte mir nicht die Zufriedenheit meiner Indier, freute mich für sie, daß sie es sind, weil ich nichts für sie thun kann, aber ich hoffe doch, daß der allmählige Umlauf der Kenntnisse und Wissenschaften, auch für sie ein edleres Glück hervorbringen wird: aber wie lange mag es noch dauern, bis diese Völkerschaften einmal ihre Kinder die ganze Würde der Menschheit lehren, und ihnen sagen werden: was für große und glückliche Vorzüge hat der Mensch durch die Gestalt und Fähigkeiten seines Körpers! wie viel mehr aber durch seine Vernunft, vor allen andern Wesen. (II, 153f.)

Die Vernunft verbürgt den »Umlauf«, was wohl auch heißt: den Fortschritt, »der Kenntnisse und Wissenschaften«, ihre segensreiche Verbreitung über die Welt. Dadurch wird der von der Autorin angenommene Kreislauf der Sittengeschichte, den gerade erst die Entfesselung aller Leidenschaften durch die Französische Revolution bestätigt zu haben schien, in der Perspektive der Romanfiktion letztlich zu einer aufwärtsführenden Spiralbewegung der Menschheitsgeschichte. Die »Freude des Höhersteigens«, die einer der Siedler gegen Rousseaus «Phantasie« anführt (I, 53), obsiegt in den Erscheinungen am See Oneida über die Irritationen und Zweifel, die die Autorin angesichts der jüngsten historischen Entwicklungen hatte und andernorts unumwunden artikulierte.

6. Bilanz undAbgesang zur Jahrhundertwende Skeptisch bilanzierte Sophie La Roche ihre Zeit am Ende des 18. Jahrhunderts, als sie mit dem Buch Mein Schreibetisch11 einen bruchstückhaften Überblick über ihre Briefschaften, Lieblingsbücher, Leseeindrücke und Ansichten vorlegte. Einer der Zentralgedanken lautet: »Plato starb 348 Jahr vor unserer Zeitrechnung. Seine Lehrsätze, Sittensprüche und Ideen, zeigen Aehnlichkeit des Geistes und der Leidenschaften unserer Tage; sie beweisen mir den Kreißlauf der moralischen Welt, und wie wenig Ursache wir haben, auf Vorzüge zu trotzen.« (I, 354) Wissenschaftlicher Fortschritt relativierte sich in dieser - unter den deutschen Spätaufklärern sehr häufigen - Sicht, durch die das Sittliche noch entschiedener Priorität erhielt. Indes kam auch bei La Roche der tradierte optimistische Glauben an die Erzieh- und Beiehrbarkeit der Menschen ins Wanken und mit ihm manch lang gehegte Wunsch Vorstellung: Schöne Werke, sagt man, erobern die Herzen der Weiber, überwältigen sie nicht auch den Verstand der Männer? Wir guten Geschöpfe glauben an ewige Liebe, und die Philosophen der lezten Tage dieses Jahrhunderts glauben an die Möglichkeit einer daurend glücklichen Volksregierung. Wir opfern dem Aberglau73

Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. Leipzig 1799.

An Herrn G. R. P. in D. Bdch. 1-2.

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ben immerwährender Zärtlichkeit uns selbst, und Männer opfern dem Traum der Vollkommenheit der neuen Denkart, Ruhe, Leben und Wohlstand von Millionen Familien unsers Europa's, Güte, Gerechtigkeit und Großmuth scheinen von einem der schönsten Theile unserer Erde verbannt. (I, 351 f.)

Die genannten moralischen Werte trotz allem behaupten oder wiedergewinnen zu wollen, vergrößerte das Dilemma für eine Aufklärerin mehr noch als für die männlichen Mitstreiter. Sie war am öffentlichen Räsonnement nur partiell beteiligt, zumal wenn sie den politischen Diskurs als Domäne der Männer respektierte. Hinzu trat im Falle La Roches, daß sie Bemühungen deutscher Spätaufklärer um Neuansätze und Modifikationen und um fortgesetztes Reformertum nicht wahrnahm bzw. schriftstellerisch nicht verarbeitete und daß ihre Rezeption westeuropäischer Literatur etwa bei Burkes Ästhetik und bei SaintPierres Naturphilosophie endete. Unverändert hielt sie an ihren Traditionsbezügen zur englischen Frühaufklärung fest, die bis zu Addisons und Steeles moralischen Wochenschriften sowie Thomsons Seasons reichen. Der Spectator war ihr ein gültig bleibendes Muster dafür, »wie man Charakter malen, Briefe, Lehren und Betrachtungen schreiben soll« (II, 394). All dem entsprechend, konzentrierte sich die Autorin in ihren letzten, nach 1800 erschienenen Werken auf die Bereiche des Privatmenschlichen und der Natur. Der Roman Fanny und Julia1'' bietet »eine Art Tagebuch« eines Landedelmanns, der das tatsächlich »etwas verwirrt Geschriebene« (I, 23) Verwandten und Freunden zur Lektüre gibt, um sie mit einer »Reise- Liebes- und Freundschaftsgeschichte« (I, 24) vergnüglich zu unterhalten. 75 Die Hauptstationen dieser Geschichte führen von England nach Rügen und Berlin und wieder zurück. Empfindungsvolle Naturschilderungen, die sowohl aus dem Erleben als auch aus der Lektüre der Autorin gespeist sind, umrahmen die ziemlich dürftige Geschichte und kontrastieren den wenigen, oberflächlichen Problemerörterungen. Beispielsweise verbreiten sich die reisenden Engländer anekdotenhaft über den gerühmten Helden und den weniger bekannten »Menschenfreund« Friedrich II. (I, 284) oder preisen klischeehaft ein Ideal tugendhaften Landvolks, das in England zu finden sei. Die dahinter stehenden Vorstellungen von aufgeklärtem Absolutismus und standesbezogen abgestufter Volksaufklärung bleiben verschwommen. Detaillierter hingegen vermittelt La Roche ihren Leser(inne)n, was ihr an den Engländern am vorbildlichsten für Deutschland erscheint: patriotisches Engagement und nationalliterarische Geschmacksbildung. 74

75

Sophie von La Roche: Fanny und Julia. Oder die Freundinnen. Th. 1-2. Leipzig 1801. Hier und keinesfalls bei den Erscheinungen am See Oneida handelt es sich unverkennbar um das Produkt einer »geschäftstüchtigen Berufsschriftstellerin, die Literatur für den Tagesbedarf des Publikums schrieb« (Heidenreich: La Roche [Anm. 2], S. 172).

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Die Verlobungs- und Ehegeschichte Liebe-Hütten76 scheint in ihrer Figurenkonstellation und Motivik (Elise Elten wird durch ihren Onkel zur Ehe mit Karl von Hütten vorbereitet) als ein Pendant zur Haupthandlung der Rosalie intendiert zu sein, entrât aber vertiefter Problemdurchdringung und erst recht kritisch-perspektivischer Vorstellungen. Individuelle Persönlichkeitsentfaltung, Frauenbildung, Tugend, Gemeinsinnigkeit, Bedeutung der Landwirtschaft usw. - all das wirkt nunmehr im Romangeschehen stichwortartig aufgesetzt. Karl gründet ein Erziehungsinstitut »Liebehütten«, dessen sprechender Name den Kern eines sehr vagen, humanistisch-aufklärerischen Vorhabens bezeichnet. Darin sind eklektisch Gedanken verschiedener Autoren zusammengeführt, an denen La Roche selbst länger schon hing. Sie erwähnt folgenden Syntheseversuch: »Hüttens Auszüge aus Garvens unschätzbarer Sittenlehre, welche die Lehrer sich eigen machen müssen, sind mit den Ideen seines alten Freundes Metherie [La Mettrie] verwebt, und eine neue Art liebliche Bildungskunst geworden, wozu das edle Betragen von Hüttens, die Ordnung und reizende Nettigkeit in allem zur Stütze dient« (II, 357). Worin diese »neue Art« im einzelnen besteht und wie Hütten sie praktisch umsetzt, wird nicht dargelegt. Und so treten aus La Roches letztem Roman lediglich grob umrissene Hauptpunkte ihres früherhin entwickelten Aufklärungs- und Erziehungskonzepts hervor, die erkennen lassen, daß sie ihre Hoffnungen und Wünsche hinsichtlich erweiterter Wirkungsmöglichkeit und gesellschaftlicher Anerkennung der Frauen preisgegeben, ihre aufklärerischen Grundansichten hingegen unverändert beibehalten und somit nicht mehr auf aktuelle Probleme zu beziehen vermocht hat.77 Dasselbe gilt für La Roches literarisches Vermächtnis, Melusinens Sommer-Abende, eine Folge von Briefen an die Titelfigur, die sie naturkundlich belehren und die Erziehung durch einen Onkel ergänzen sollen.78 Eine Parallelität zu den Fortsetzungen der Briefe an Lina ist unverkennbar. Nachdem die Autorin dort zeitgenössische Naturwissenschaft und Teile der Encyclopédie für deutsche Leserinnen aufbereitet hatte, popularisiert sie die Naturphilosophie Saint-Pierres, ihres erklärten Lieblings unter den neueren Schriftstellern. Naturkundliche und sittliche Belehrung, natürliche und menschliche Schönheit sind ebenso lose wie charakteristisch aufeinander bezogen. Die zeitgenös-

76 77

78

Sophie von La Roche: Liebe-Hütten. Th. 1-2. Leipzig 1803-1804. Die unbestreitbare Schwäche dieses Alterswerks der La Roche ist nicht richtig erfaßt, wenn man ein »Nachlassen ihres aufklärerischen Elans« unterstellt und »Konzeptionslosigkeit einer Schriftstellerin, die sich selbst überlebt hat« (Heidenreich: La Roche [Anm. 2], S. 238 und 243). Auch aus überkommenen Gehalten und Formen läßt sich ein gedanklich vertieftes und stringent durchgestaltetes Literaturwerk schaffen; aber ebendies ist im markanten Unterschied zu den Briefromanen der siebziger und achtziger Jahre nicht gelungen. Sophie von La Roche: Melusinens Sommer-Abende. Hrsg. von C. M. Wieland. Halle 1806.

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sische Idee der >schönen Seele< wird utilitaristisch umfunktionalisiert zum Moralprinzip »einer tugendhaften Seele«. Melusine hört von ihrem Onkel: »Das sicherste Mittel eine anziehende Schönheit zu werden, ist: im Grunde des Herzens gütig, sanft, mitleidig, gefühlvoll, wohlthätig und gottesfürchtig zu seyn.« Und zwar strikt innerhalb der häuslich-familiären Sphäre, als liebevolle »Mutter«, zärtliche »Gattin« und »kluge Hauswirthin« (S. 282) - ganz getreu also einer philanthropistischen Bestimmung des WeibesGestalt< Lessings im Sinne der inneren Biographie«. In: Euphorion. Bd. 71. Heidelberg 1977, S. 353-382 (mit variiertem Titel auch in: K. S. Guthke: Das Abenteuer der Literatur. Studien zum literarischen Leben der deutschsprachigen Länder von der Aufklärung bis zum Exil. Bern und München 1981, S. 94-122). Im einzelnen herausgearbeitet von Müller, Kapitel 4.4.1. Die dort gewonnenen Resultate führen hinaus über die Studie von Ruth Fähler: Wekhrlin als Feuilletonist. Münster 1947 (Diss. Mschr.). Stichhaltig widerlegt Müller außerdem (Bl. 124ff.) die Prämisse der Fählerschen Feuilletonismus-These, Wekhrlin habe absichtslos geschrieben und sei nur von Randerscheinungen des Lebens ausgegangen. Näheres bei Müller, Kap. 4.1 und 4.2.

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liehst viele Gegenstände aufzugreifen und ein sozialständisch breitgefächertes Publikum aufzuklären bestrebt war - wenn er auch zuvörderst für vorgebildete Kreise schrieb, wovon zahlreiche originalsprachliche Zitate, gelehrte Anspielungen usw. zeugen. Wekhrlin war dem zeitgenössischen Stilprinzip der Deutlichkeit verpflichtet, ohne es jemals zu dogmatisieren wie etwa Nicolai. Anders als dieser stellte er literarische und außerliterarische, wirkungsästhetische und utilitaristische Momente einander fast gleich, obwohl er ebenfalls der Literatur eine dienende und vermittelnde Funktion (im Aufklärungsprozeß) zuwies, unverändert meinte, »daß die mechanischen Künste ehrwürdiger sind, als die sogenannten schönen Künste« (Chr. VI, 236). Letztere sollten, neben Gesellschaftskritik und Impulsgebung für gemeinnützige Veränderungen, eine Art säkularisierter Lebenshilfe und Seelsorge übernehmen; ihr (diesbezüglicher) »Endzweck« sei »eigentlich, die Leidenschaften zu mildern und den Menschen die Wirkungen der tiranischen Gewalt erträglicher zu machen« (Chr. III, 135). Weil Wekhrlin aufs Ganze gesehen sowohl gefällig belehren als auch vergnüglich unterhalten wollte, fügte er ausdrücklich Texte »zur Abwechslung« ein 23 und ordnete verschiedenartige Beiträge innerhalb der einzelnen Zeitschriftennummern kontrastiv an. Leitlinien für Informationen und Kritik, für Vorschläge und Forderungen innerhalb seiner literarisch-publizistischen Aufklärung gewann Wekhrlin aus der Analyse historischer und gegenwärtiger Zustände sowie aus strikt diesseitigen Zukunftsidealen. Den Entwicklungsstand der zeitgenössischen Gesellschaft und der ihr verpflichteten Aufklärungsbewegung schätzte er angesichts mannigfaltigen Aufschwungs in Ökonomie und Wissenschaften recht hoch ein, genauer: relativ hoch im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Einen grundlegenden Wandel sah er dadurch eingeleitet, daß unter dem Einfluß aufklärerischer Philosophie der Übergang vom weltabgeschiedenen Gelehrtenzum praktischen Aufklärertum erfolgt sei und die Politik der Herrschenden zu prägen beginne; »die leeren Schwäzereyen der Akademien fielen, und an ihre Stelle traten Handlungen, Stiftungen, Thatsachen« (Chr. II, 91f.). Etwas vereinseitigend wurde dieser Wandlungsprozeß zurückgeführt auf französische Philosophen, namentlich auf Voltaire, den »Vater der Kritik und der Philosophie« (Chr. V, 284). Er habe seinen Stempel dem Jahrhundert aufgedrückt und eine neue Epoche angebahnt.24 Schriften der Franzosen waren das große, zündende Lektüreerlebnis Wekhrlins gewesen, und durch sie vorwiegend war er sensibilisiert worden für gesellschaftspolitische Probleme. Hierbei obwaltete indes mehr denn eine persönliche Vorliebe. Wekhrlin intendierte ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber jener haß- und dünkelvollen Verach23 24

Vgl. ζ. B. das Inhaltsverzeichnis zu Chr. IX, [7] und in Chr. X, 350. Vgl. TbPh, 72ff.: »Philosophische Geschichte. Jahrhundert VOLTAIRE'S.« Resümierend GU I, 14.

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tung »der Franzosen«, wie sie in verflachter Lessing-Nachfolge um sich gegriffen hatte. So erinnerte er an Hochleistungen französischen Geistes und ihre Relevanz für deutsche Kultur und Aufklärung. »Die besten Werke, die Deutschland Ehre, und auf die Nachwelt Anspruch machen, sind aus den Ideen der Franzosen und anderer fremden Nationen entstanden.« (Chr. IV, 47) Von Anfang an und lebenslang betätigte der Journalist Wekhrlin sich als Mittler französischer Literatur. Nicht unberechtigt gab er, vor Erscheinen der Kantschen Kritiken, zu verstehen, daß Niveau und Weite französischer Aufklärungsphilosopohie noch keine gleichrangige Entsprechung in Deutschland gefunden hätten. Von kosmopolitischer Warte regte Wekhrlin indirekt an, die an französischen Leitbildern zu schulende philosophische Durchdringung der gegenwärtigen Gesellschaft zu verknüpfen mit dem sozialpraktischen Reformbestreben der deutschen (Spät-)Aufklärung. Es hatte, aus dem protestantischen Norden und dann vehement aus dem katholischen Österreich kommend, in süddeutschkatholischen Aufklärerkreisen Fuß gefaßt und trug erste Früchte, die Wekhrlin aus nächster Nähe wahrnehmen konnte und unvoreingenommener würdigte als viele protestantische Aufklärer Nord- und Mitteldeutschlands. Inhumane, intolerante Verhaltensweisen seiner sich öfter besonders aufgeklärt dünkenden Glaubensbrüder ließen ihn mahnen: »Mit einer Ueberzeugung, welche die Redlichen unter uns zum Erröthen zwingen muß, sehen wir also die katholische Parthey uns im Schulwesen, in der Kirchendisciplin, in den Grundsäzen, kurz im System ihrer Moral, uns übertreffen? Wir sehen sie mit Riesenschritten zu Menschen werden, und uns zurüklassen für Barbarn.« (Chr. X, 134) Er warnte davor, die »Anstalten Joseph's, des Allgütigen« (Chr. X, 135) zu gefährden, die Aufklärungsbewegung durch konfessionelle Zwistigkeiten zu schwächen. Wiederholt versuchte Wekhrlin, auf ein kooperatives Mit- und Nebeneinander hinzulenken, um die noch weit vom Ziel entfernt gesehene Aufklärung voranzubringen. Die Unverzichtbarkeit konsequenten Aufklärens und korrespondierender gesellschaftlicher Freiheiten leitete er zudem aus der Historie ab. »Alle Zeiten kommen in dem Grundsaz überin, daß die Erleuchtung des Volks ein wesentliches Mittel zum allgemeinen Wohl; daß die Freyheit der Presse eine nüzliche Maxime; daß die Tiraney des Geists eben so wenig werth sey, als die Tiraney des Körpers.« (Chr. V, 83) Ganz selbstverständlich war es also, in das Zusammenwirken der aufklärerisch gesonnenen Menschen unterschiedlicher Konfession die Herrschenden einzubeziehen. Ohnehin teilte Wekhrlin uneingeschränkt die Leitmaxime aller Richtungen der deutschen Aufklärungsbewegung vor 1789, die Fürsten seien Garant und Motor gesellschaftlicher Progression. Und er glaubte wie viele andere fest an Willen und Fähigkeiten zu entsprechendem Handeln, an einen neuartigen »Karacter unserer izt herrschenden Regenten«, den auszeichne: »Weisheit, Gelehrsamkeit, Arbeitsamkeit, Mäßigkeit, Wohlthätigkeit, Leutseligkeit, Unterthanenliebe, Religion, Duldung, Haushaltung, Macht, Reichthum und Volkslie-

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be.« (Chr. I, 287) Das war zwar zu einem Gutteil zeitübliches Wunschdenken oder zumindest überzogene Verallgemeinerung der Idealbilder von beliebten aufgeklärten Absolutisten, doch lehnte Wekhrlin die nicht minder verbreitete selbstische Schmeichelei ab. Öffentliche Hochschätzung bekundete er Potentaten allermeist, um sie entweder moralisch zum Guten zu verpflichten oder sie in ihrem Handeln zu bestärken. Vor allem unterstützte er nach wie vor die Reformen Josephs II., die er höher bewertete als das Wirken Friedrichs II. Der Josephinismus schien am besten dazu angetan, in näherer Zukunft die aufklärerischen Ideale Wekhrlins zu verwirklichen, die er - seine »Patriotische Phantasie« von 1778 hinsichtlich individuellen staatsbürgerlichen Handelns ergänzend - drei Jahre später resümierte in einem politischen Glaubensbekenntnis, betitelt »Simbol eines Bürgers aus dem neunzehnten Jahrhundert«. 25 Dieser Bürger fühlt sich zutiefst allgegenwärtiger Nächstenliebe und Toleranz verpflichtet, und zwar nach Maßgabe der besten aller Religionen: einer natürlichen Religion, »welche das geringste Maaß von Geheimnissen und Streitsätzen enthält, und die sich blos auf eine einfältige reine Moral gründet, worüber alle Nationen einverstanden sind, und die in allen Theilen der Erde sich ähnlich ist« (Chr. VI, 233). Dem korrespondiert der Glaube an allumfassende humane Gesetzgebung durch einen gerechten Monarchen, die Gemeinsinnigkeit weckt und erhält. Letztere müsse sich auch beweisen in aktivem Engagement (wie Wekhrlin selbst es praktizierte mit einem Großteil seiner Publizistik), nämlich »dem leidenden Nebenmenschen mit Rath und Trost beyzuspringen, das Verdienst aus der Verborgenheit hervorzuziehen und es zu beschüzen, die Unschuld an Tag zu bringen, den Unterdrückten mit eigenem Arm zu retten, die Thräne der Waise und der Wittwe durch Freundlichkeit wegzuwischen, den Armen von der Bahne des Bettels auf den Weg des Fleißes zu weisen, und ihm die Quelle der Vorsicht zu zeigen« (Chr. VI, 237). Abgezielt ist auf eine - wohlbemerkt: monarchische - Staatsordnung, deren Basis Vernunft und Rechtlichkeit bilden. Die Visionen mancher Aufklärer, unter ihnen Lessing, von einer staatenund herrschaftsfreien fernen Zukunft der Menschheit hegte Wekhrlin nicht. Hinwieder kam er mit der übergroßen Mehrheit seiner Zeitgenossen darin überein, daß Versittlichung der Individuen und der Gesellschaft insgesamt der Ausgangsgrund allen Fortschritts sei. Ein Charakteristikum gewann seine persönliche Position hierbei, insofern er neben den beiden geläufigen Eckpfeilern des Humanisierungsbestrebens, Religion und Erziehung, unbeirrbar die 25

Chr. VI, 2 3 3 - 2 3 8 . Ein Zusammenhang mit der »Patriotischen Phantasie« wird auch noch im unpaginierten Inhaltsverzeichnis signalisiert durch den Zusatz »Historisch-prophetisch-politisch-moralische Fantasie«. - Soweit ich sehe, steht das »Simbol« ziemlich am Anfang einer Reihe aufklärerisch säkularisierter, politisierter Glaubensbekenntnisse, die über Campe ( B r i e f e aus Paris, Vorrede) und Knigge ( W u r m b r a n d ) mindestens bis zu Görres (Mein Glaubensbekenntnis, 1798) weiterreicht und eine Spezialuntersuchung wert wäre.

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Gesetzgebung anführte und ihr sogar herausragende Bedeutung zuschrieb. Unbestreitbar erschienen ihm (Anfangs-)Erfolge der Religionsaufklärung. »Die Vorzüge, welche unser Jahrhundert durch die Aufklärung der Religion erhalten hat, sind, daß die öffentliche Ruhe, der vornehmste Zweck der Gesellschaft hergestellt; daß durch den Duldungsgeist ein gewisses heilsames Gleichgewicht in der moralischen und bürgerlichen Ordnung der Gesellschaft eingeführt worden.« (Chr. I, 16) Weniger hoch bewertete Wekhrlin das zeitgenössische Schulwesen, das er zunächst erst gänzlich in Staatshand zu überantworten verlangte. Distanziert stand er dem Philanthropismus gegenüber. Er hielt ihn, an Einwände Schlossers 26 anknüpfend, für ein unrealisierbares Projekt, für »eine schöne Schwärmerey; die ehrwürdigste unter allen Schwärmereyen, welche der menschliche Geist, seit dem Ursprünge der Welt aufgebracht hat« (Chr. I, 95). Am kritischsten beurteilte Wekhrlin den Zustand der Justiz, speziell der Kriminaljustiz, die er - im Einklang mit der Grundtendenz der aufklärerischen Rechtsdiskussion - für völlig veraltet und barbarisch hielt. 27 Grausame Todesstrafen, so meinte er, seien nicht geeignet, Sittlichkeit und Humanität zu befördern; überhaupt bezweifelte er, aus geschichtlicher und gegenwärtiger Erfahrung, die von den Gesetzgebern intendierte abschreckende Wirkung der Todesstrafe. Deshalb wünschte er, gleichsam als Krönung der kaiserlichen Reformpolitik, dringlich »eine IOSEPHINA« (Chr. XI, 412), die endlich die mittelalterliche Karolina ablösen sollte. Deren Anachronismus stellte er prägnant heraus: »Das Innere derselben überzeugt uns, daß man damals weder vom Werth der Menschen, noch vom Verhältniße zwischen Verbrechen und Strafen einen Begrif hatte.« Und man habe nie versucht, »die Ruhe der Gesellschaft zu erhalten, ohne die Rechte der Menschheit anzutasten« (Chr. XI, 413). Es galt also nach Wekhrlins Ansicht, historisch gewachsene Hauptwidersprüche zwischen naturrechtlichen Menschenrechten und strafrechtlichen Verordnungen zu beseitigen. Zugleich schloß er sich der verbreiteten Forderung an, das Prinzip der Bestrafung durch das der (Arbeits-)Erziehung zu ersetzen. Aspekte der Humanität um utilitaristische Erwägungen ergänzend oder eigentlich: überdeckend, plädierte er in seinen weiteren Zeitschriften mehrfach dafür, zu harten und sonst kaum zumutbaren Arbeiten zu verurteilen statt zum Tode. Ein bemerkenswerter Ansatz, die Kriminaljustiz zu demokratisieren und unbefangener Kontrolle 26

27

Zu ihnen jetzt Walter Ernst Schäfer: »Volkserziehung und Elitebildung. Schlossers Kritik an Isaak Iselin und den Philanthropen«. In: Johann Georg Schlosser (1739-1799). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek und des Generallandesarchivs Karlsruhe. Ausstellungskatalog. Karlsruhe 1989, S. 73-90. Näheres dazu bei Mondot, Bd. 2, S. 4 7 7 ^ 9 6 . - Vgl. auch Jean Mondot: »Der Aufklärer Wilhelm Ludwig Wekhrlin und die bürgerliche Verbesserung< der Delinquenten, der Juden und der Frauen«. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Bd. 15. Tel Aviv 1986, S. 91-116.

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zu unterziehen, indem bei Todesurteilen »dem Publikum eine öfentliche Einsicht in den Fall« (GU VII, 234) gegeben wurde, erfolgte eher beiläufig und blieb unvertieft. Wohlgegründet hingegen wurden Geldstrafen abgelehnt, weil sie Unschuldige, Angehörige des Missetäters, in Mitleidenschaft zögen. Und: »Nichts ist grausamer und zugleich schimpflicher als der Begrif, daß die Fehler der Unterthanen für den Landsvater Gewinn seyn sollen.« (GU VI, 111) Den Grundsatz, Unschuldige zu verschonen, hatte Wekhrlin zuvor bereits wider die gebräuchliche Behandlung der Selbstmörder und ihre schmachvollen Begräbnisse geltend gemacht. »Inconséquente Wüteriche! Ihr treffet nicht den Selbstmörder [...] Ihr bestrafet den Staat, den ihr einer nüzlichen Familie beraubt: weil, zufolge eurer eigenen Lehrbegrife, die Entehrung ein bürgerlicher Tod ist.« (Chr. II, 281) Nützlichkeitserwägungen sind das meistgebrauchte Argument in den zahlreichen rechtskritischen Beiträgen Wekhrlins, weil er ihm eine größere Überzeugungskraft zutraute als humanen und moralischen Erinnerungen. War es doch um die allgemeine Sittlichkeit auch aus seiner Sicht noch recht schlecht bestellt. So weit, die freie Selbstentscheidung des Individuums über Leben und Tod wie etwa der Autor des Werther-Romans zuzugestehen, ging Wekhrlin aus religiöser Bindung und Gottesfurcht nicht. 28 Biblische Gebote (zu denen die Verdammung des Freitods als Sünde gehört) unterschied er einerseits von orthodoxen Dogmen, andererseits von volksreligiösem Aberglauben. Dogmatik und Aberglaube bedeuteten ihm fortschrittshemmende und schadensstiftende Verirrungen des menschlichen Geistes, die unter aufklärerischem Vorzeichen bekämpft werden mußten. Darum billigte er tendenziell zwangsmäßige Praktiken, derer sich Aufklärer aller Konfessionen bedienten, um beispielsweise volkstümliches und -religiöses Brauchtum einzudämmen oder neue Kirchengesangbücher einzuführen - oft ohne tieferes Empfinden und Verständnis für die Traditionsbeharrung in den unteren Volksschichten. 29 Eine kurzschlüssige Analogie herstellend, meinte er rein rationalistisch-utilitaristisch: »Was das Gesangbuch in der Religion ist, das ist das Corpus Juris in der Moral: ein widersinniger Mischmasch von Einfällen verschiedener Schulfüchse aus verschiedenen Nationen und verschiedenen Zeiten [...]« (Chr. VII, 64). Es lag in der Konsequenz dieser Position, Volksaufklärung contra Volksbetrug zu setzen. Und so lautete denn die Quintessenz der Auseinandersetzung Wekhrlins mit der Preisfrage der Berliner Akademie für 1780, über Nutz und Frommen der Täuschung (Est-il utile de tromper le peuple f...]), 30 »daß die Unterdrückung des Lichts in einem Staat in keinem Betracht niizlich seyn 28

29

30

Im übrigen teilte Wekhrlin die verbreitete Wertschätzung des Goetheschen Erstlingsromans ohnehin nicht; vgl. Das Felleisen. Nr. XXX, [S. 4], Eine ausgewogene Darstellung dieser diffizilen Problematik gibt u. a. Barbara Goy: Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg. Würzburg 1969. Vgl. den Beitrag zu Wieland, Anm. 60 zu S. 66 oben.

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könne« (Chr. VI, 173). Hierbei stimmte Wekhrlin mit dem Mehrteil der Beiträger zu der Preisausschreibung überein, außerdem mit dem Hallenser und Dessauer Prediger Bernhard Siegfried Walther, dessen kurz hernach erschienenes Buch31 Theorien restriktiver, berufsständisch zugeschnittener Volksaufklärung um 1780 resümiert hat. Über diese betont apolitische Konzeption ging Wekhrlin hinaus, indem er, Gedankengut der Physiokraten sowie des Sturms und Drangs verarbeitend, die Aufhebung der Frondienste in die volksaufklärerischen Ziele integrierte. Verbesserung der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens seien unmöglich, solange die Fron fortdauere, die zudem Menschenrecht beschneide. Geradezu im Pathos einiger Stürmer und Dränger wurde erhärtet: »Ja, [...] die Rechte des Volks sind heilige Rechte: sie sind im Himmel aufgeschrieben, der sie zu seiner Zeit beschüzt: sie sind auf der Erde, die sich wider die Tiranen empört.« (Chr. II, 175)32 Willkürliche Unterdrückung des niederen Volkes (oder sonstiger Schichten und Menschen) geißelte Wekhrlin ob seines ausgeprägten Rechtsdenkens, weswegen er aber nicht etwa die bestehende Ständehierarchie negierte. Gottgewollt sei sie, glaubte er gleich fast allen deutschen Aufklärern und Spätaufklärern vor Ausbruch der Französischen Revolution. Den Leitsatz seines publizistischen Aufklärungswirkens, unschuldig Bedrängten und Verfolgten weitestmöglich zu helfen, vollzog Wekhrlin auch im Falle der Freimaurerei. Überzeugt von deren Redlichkeit, hatte er sich bereits in den Denkwürdigkeiten empört: »Wie! ihr verfolgt die Freymaurer und Goldmacher? Es ist widersinnisch, Leute um Geheimnisse plagen, welche keine besitzen.« (DW, 125) Zugetan war er dem esoterischen Logenwesen ganz und gar nicht, da er geheimnisumflorte Verborgenheit mit praxisbezogener Aufklärung für unvereinbar hielt. Indes verteidigte er die Freimaurerei nicht nur wegen ihres unschädlichen Gebarens, sondern weil sie gegen Ende der siebziger Jahre mancherorts das erste große Opfer einer verstärkt sich formierenden klerikal-orthodoxen Gegenaufklärung in Deutschland zu werden drohte. Und er wehrte den parallel dazu aufkommenden Anfängen einer aufklä31

32

B[ernhard] S i e g f r i e d ] Walther: lieber die Außlärung des Landvolks. Halle 1782. Zur Berliner Preisfrage S. 28f. Diese Bekundungen sind aufschlußreich, da sie einen - bislang unbemerkten Beleg für ein zwar begrenztes, doch gewichtiges Rezeptionsverhältnis liefern. Ansonsten nämlich stand Wekhrlin der Literatur des Sturm und Drang, die er als Ausdruck hypertrophierten Geniegefühls ablehnte, äußerst reserviert gegenüber; vgl. Mondot, Bd. 2, S. 673. Allerdings dürfte man dieser (dringend einer Spezialstudie werten) Distanz kaum angemessen beikommen, wenn man sie gleich Mondot bloß literarästhetisch betrachtet und pauschal konstatiert, Wekhrlin sei gegenüber literarischer Innovation ignorant g e w e s e n ( w o g e g e n beispielsweise seine Bekenntnisse zu Lessing und Wieland sprechen). Nachgegangen werden müßte dem Hinweis von Müller (Bl. 146), der Sturm und Drang habe nach Wekhrlins Ansicht verschwommene hohe Ziele und zu wenig lebenspraktischen Bezug gehabt.

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Streitbare Publizistik: Wilhelm Ludwig

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rungsfeindlichen Verschwörungstheorie. 33 Deren Verfechter entwickelten ein simples demagogisches Erklärungsmuster für aktuelle gesellschaftliche Probleme und Widersprüche, insonderheit im süddeutsch-katholischen Bereich. Demnach sollten konspirativ tätige Freimaurer, das heißt geheimbündnerisch organisierte Aufklärer, schuld sein an zunehmenden Spannungen zwischen Staat und Kirche sowie zwischen reformorientiertem und orthodoxem Klerus, zudem an (vorgeblichem) Sittenverfall und Ungehorsam. Wekhrlin ließ im zweiten Band der Chronologen das Zirkular einer Aachener Loge (vom April 1779) nachdrucken, das über verleumderische und aufwiegelnde Predigten berichtete. In ihnen heiße es, »die Freymäurer hätten einen Vertrag unter sich, woraus die gefährlichsten Folgen sowol für die Religion als für den Staat entstehen könnten«, und das Volk solle bei »der Ausrottung dieses verfluchten Geschlechts behilflich [...] seyn« (Chr. II, 68 und 70). Wekhrlin merkte, auf seine charakteristische Weise, an: »Nur hinter den Stangen der Kerker, worinn wir bey unsern europäischen Staatsverfaßungen liegen, kan ein Professor der Polizey den Lehrsaz predigen: wo drey Personen in Geheim beysammen sind, da ist eine Verschwöhrung gegen den Staat möglich.« (Chr. II, 72) Und im übrigen sei es eine Angelegenheit allein der Literatur, die Grundsätze und Ursprünge der Freimaurerei zu erhellen. Dieser Beitrag liefert ein typisches Beispiel für Wekhrlins oft angewandtes Verfahren (das seinen Höhepunkt dann erreichte im Grauen Ungeheur, gelegentlich der Illuminatenverfolgung), Dokumente sprechen zu lassen und bloß soweit zu kommentieren, daß das erwünschte Verständnis und womöglich kritisches Engagement beim Leser angebahnt wurden. Umfassend setzte Wekhrlin sich mit neueren Gegenaufklärern und mit orthodox dogmatischen Klerikern alten Schlages im Taschen Buch der Philosophie (1782) auseinander. Dort veröffentlichte er, als markanten Abschluß eines Werkes in der äußerlich gefälligen und zudem beliebten Almanach-Form, eine scharf attackierende »Epistel. An die Verläumder der Philosophie« (TbPh, 157-172); 1788 ließ er, im achten Heft der Hyperboreischen Briefe, der freirhythmischen Erstfassung eine überarbeitete Prosafassung folgen. 34 Zu Beginn des Textes wird gleichsam die Vorgeschichte der Verschwörungstheorie umrissen. Es wird daran erinnert, daß die Gegner des sich entfaltenden neuzeitlichen Denkens die Hinwendung zur >heidnischen< Antike und die Resultate der Naturwissenschaften verketzerten, dabei immer wieder, bis 33

Zu ihr ein umfassender Überblick bei Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776-1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung. Bern und Frankfurt/M. 1976 (2. Aufl. 1978). - Vgl. auch Wolfgang Albrecht: »Aufklärung, Reform, Revolution oder >Bewirkt Aufklärung Revolutionen?^ Über ein Zentralproblem der Aufklärungsdebatte in Deutschland«. In: Lessing Yearbook. XXII. 1990. Detroit 1991, S. 1 - 7 5 .

34

»Thersyt an die Verläumder der Philosophie« (HB III, 121-133).

Streitbare Publizistik:

Wilhelm Ludwig

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zur Gegenwart, Gefährdung des bürgerlichen Gemeinwesens unterstellt haben. »Muste man Euch glauben / So war Menschenverstand ein Staatsverbrechen: / Das Land verrathen und hell denken war, / Eurer Sage nach, Einerley. / Gott, Religion, Staat ist in Gefahr! So / Schriet ihr, lies sich irgend ein Weiser hören.« (TbPh, 157. In der Prosafassung ist der ganze Passus im Präsenz gehalten, wodurch klarer hervortritt, die krititisierte Position besteht ungebrochen fort.) Der kurze Rückblick und gleichzeitige Zustandsbefund geht über in eine Analyse der Gründe jenes feindseligen Verhaltens. Drei Hauptanlässe schälen sich heraus: Macht- und Prestigeverlust infolge der unablässigen wissenschaftlichen Neuerkenntnisse, Einschränkung klerikaler Willkür durch die Prinzipien der Toleranz und Humanität, Neid auf besser geschriebene und mehr gelesene Werke der Philosophen. Sodann wird (allzusehr generalisierend) eine moralische Abrechnung gehalten, der Redlichkeit der Aufklärer die Selbstsucht ihrer Widersacher konfrontiert. »Man macht / Sein eigen Interesse zum Interesse des Himmels. - / Und die dumme Welt glaubt's!« (TbPh, 16 lf.) Dem korrespondiert, daß Wekhrlin die gegenaufklärerischen Anwürfe auf ihre Urheber zurückfallen läßt. Niemals seien Philosophen Aufrührer, Fürsten- und Völkermörder, Parasiten und Unterdrücker Andersdenkender gewesen, häufig genug aber »Pfaffen« und Mönche. Folgerichtig daran schließt sich das Argument, nicht ein aufgeklärtes, sondern ein unaufgeklärtes Volk (d. h. >StaatsvolkWas gehn uns im Grunde alle Resultate an, wenn wir Wahrheiten feststellen!< Überlegungen zum Stand der Jakobinismusforschung, veranlaßt durch zwei Neuerscheinungen über Georg Friedrich Rebmann (17681824)«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 1. Tübingen 1985, S. 160-182. Der Beitrag ist symptomatisch für die Tendenz der sozialgeschichtlichen Jakobinismusforschung der achtziger Jahre, die politische Position einzelner Autoren zwar differenzierter als zuvor zu bestimmen, dabei jedoch das revolutionär-demokratische Moment allzusehr zu reduzieren oder gar zu bestreiten; vgl. auch Anm. 93 unten. Umgekehrt wird der Neuansatz Kawas (Rebmann [Anm. 7]) verkannt bzw. übergangen in dem antikritischen Beitrag von Walter Grab: »Die politischen Konzeptionen und Kämpfe des deutschen Jakobiners Georg Friedrich Rebmann«. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Bd. 11. Tel Aviv 1982, S. 389-397. Auf ein Hauptproblem des Rebmannschen Wirkens beschränkt sich, aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, Maria Anna Sossenheimer: Georg Friedrich Rebmann und das Problem der Revolution. Revolutionserfahrungen, Revolutionsinterpretationen und Revolutionspläne eines deutschen Republikaners. Frankfurt/M. 1988. Konsequenter als der Literaturwissenschaftler Kawa, aber partiell auch kurzschlüssig wendet sich die Historikerin Sossenheimer gegen Rebmanns pauschale »Klassifizierung als deutscher Jakobiner« (S. 3), die sie allerdings letztlich umwandelt in eine als Liberaler. Dies geschieht auch bei Thomas P. Saine: »A. G. F. Rebmann and the Condition of Germany in the 1790s«. In: Monatshefte. Bd. 81. Madison 1989, S. 10-18. Saine nennt Rebmann (S. 10) »the most notorious liberal German journalist of the 1790s«. Mit einem solchen Etikettenwechsel ist wenig gewonnen, da er wiederum Entwicklungen Rebmanns nivelliert und auf einem verschwommenen, von der Forschung noch nicht genügend geklärten Begriff des (Früh-)Liberalismus beruht. Zudem bindet Sossenheimer revolutionär-demokratische Überzeugung allein an den französischen Jakobinismus von 1792-94 und läßt sie für Rebmann (und für seine deutschen Zeitgenossen) einfach nicht zu. Im übrigen wird, bei Sossenheimer wie bei Saine, Rebmanns schriftstellerische Tätigkeit beständig auf die eines Journalisten und Publizisten reduziert, seine satirische Prosa bleibt weitestgehend außer Betracht.

Politisierte literarische Spätaufklärung: Rebmann

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Spätaufklärung in Deutschland war, daß aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen bestanden.10 Rebmanns individuelle Konzeptionen sollen weitestgehend in Relation zu verbreiteten Aufklärungsauffassungen und zu denen anderer revolutionär-demokratischer Spätaufklärer betrachtet werden, um das Spezifische und Innovatorische seines Werkes kenntlich machen zu können. Des weiteren wird versucht, am exemplarischen Einzelfall einem häufigen Versäumnis zu begegnen, d. h. die berechtigte Forderung" einzulösen, mit dem Wirken deutscher revolutionärer Demokraten während des Revolutionsjahrzehnts auch ihre vor- und nachrevolutionären Phasen aufzuarbeiten. Auf Rebmann bezogen, der ab 1791 publizierte, bedeutet dies, nicht bloß seine Anfänge, sondern desgleichen wichtige seiner nach 1800 verfaßten Schriften mit zu berücksichtigen und Nachwirkungen oder Modifikationen früherer Ansichten hervorzukehren.

1. Restriktive Volksaußclärung und konsequentes auflclärerisches Reformverlangen Andreas Georg Friedrich Rebmann begann als juristischer Fachschriftsteller, der über sein Spezialgebiet hinausblickte und gesamtgesellschaftliche Belange aufgriff. Seiner ersten Rechtsabhandlung'2 fügte er »ein Wort über Volksaufklärung und Empörungssucht, Publizität und Preßfreiheit« (S. 63) bei. Er stellte sich mit diesen wenig originellen, mehr der Bestimmung der eigenen Position dienenden Überlegungen in eine noch junge Tradition spezieller volksaufklärerischer Bemühungen (in Theorie und Praxis), die beispielsweise von Rudolph Zacharias Becker13 bis vorerst zu Johann Ludwig Ewald14 führte. 10

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13

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Vgl. Wolfgang Albrecht: »Revolutionierung der Aufklärung und Aufklärung über Revolution. Aufklärerische Ideen und Prinzipien in der deutschen revolutionär-demokratischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts«. In: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus. Bd. 14. Berlin 1990, S. 2 4 9 - 2 8 9 . Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 1982, T. 2, S. 625 (Einbändige 2., ergänzte Aufl. 1990; das Zitat auf derselben Seite). [Georg Friedrich Rebmann]: Versuch über die Frage: Ob ein Herr seinen verpflichteten Beamten ohne Ursache seiner Dienste entsetzen oder entlaßen könne? Nebst einer Zugabe. Regensburg 1791. Rudolph Zacharias Becker: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. Nebst Ankündigung eines für ihn bestimmten Handbuchs. Dessau und Leipzig 1785. Vgl. Reinhart Siegert: »Aufklärung und Volkslektiire. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem >Noth- und HülfsbüchleinBewirkt Aufklärung Revolutionen?^ Über ein Zentralproblem der Aufklärungsdebatte in Deutschland«. In: Lessing Yearbook. XXII (1990). Detroit 1991, S. 1 75. Ν III, 4 7 - 5 2 und 6 0 - 6 4 . Vgl. auch Volker Mehnert: Protestantismus und radikale Spätaufklärung. Die Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution. München 1982.

10.

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Politisierte literarische Spätaufklärung:

Rebmann

mann freundschaftlich verbunden war. 18 Riem hatte zudem in seinen gleich nach dem Wöllnerschen Religionsedikt publizierten beiden Fragmenten »Über Aufklärung« vehement unbehinderte und alle Lebensbereiche erfassende Aufklärung gefordert. 19 Diese auch von gemäßigteren Gesellschaftskritikern wie Wieland bekundete Forderung erhob Rebmann, wennschon ohne direkten Bezug auf einen jener Aufklärer, nunmehr seinerseits, und er bekräftigte sie zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht allein Wieland sie - wenigstens vorübergehend - preisgab. 20 Vorbehaltlos unterstützte Rebmann die für Deutschlands Spätaufklärung charakteristische Hinwendung zu lebenspraktischen Belangen und sozialpolitischen Problemen. Sie war um 1770/75 von den nord- und mitteldeutschen Aufklärungszentren (Hamburg, Berlin, Braunschweig, Dessau u. a.) ausgegangen und im Süden unterschiedlich rasch und umfassend nachvollzogen worden. Ohne den bornierten Führungsanspruch und Antikatholizismus eines Nicolai oder Biester zu teilen, konstatierte Rebmann auf seinen Kosmopolitischen Wanderungen, die von der Rhein-Main-Gegend nach Berlin führten: »Wahr ist es aber, daß die Cultur des nördlichen Deutschlands die des südlichen, im Allgemeinen, weit übersteigt« (N III, 157f.). Einen »großen Vorzug« der Berliner »Gelehrten« sah er darin, »daß ihre Gelehrsamkeit nichts weniger als pedantisch, sondern meist praktisch und human ist, und von ihnen zum edelsten Zweck - zum gemeinen Nutzen angewendet wird« (N III, 158f.). Einem solchen aufklärerischen Selbstverständnis suchte auch er als Schriftsteller und Publizist gerecht zu werden. Was ihn hingegen von der Berliner Spätaufklärung Nicolaischer Observanz weiterhin abhob, waren entschiedenere Absolutismuskritik und vielfältiges Ungenügen am Stand der Aufklärung. Ihre Ziele seien, so das Fazit der Kosmopolitischen Wanderungen (und ähnlich anderer Schriften), in Berlin und in Norddeutschland wie auch überall sonst noch längst nicht erreicht und überdies höchst bedroht durch Unterdrükkungsmaßnahmen der herrschenden Klasse sowie durch die ihr zuarbeitenden gegenaufklärerischen Kräfte.

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19

20

Vgl. Rebmanns Brief vom 15. Dezember 1795 an Riem; faksimiliert bei Voegt: Jakobinische Literatur (Anm. 3), zwischen S. 128 und 129 und vollständig zitiert bei Nadeschda von Wrasky: A. G. F. Rebmann. Leben und Werke eines Publizisten zur Zeit der grossen französischen Revolution. Heidelberg 1907, S. 59f. Der Brief findet sich jetzt, mit Faksimile, auch in Georg Friedrich Rebmann: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Hedwig Voegt u. a. Bd. 3. Berlin 1990, S. 421-423. Der Streit um Riems Fragmente trug wesentlich zur ideologischen Polarisierung noch vor 1789 bei und gipfelte in aufklärungsfeindlichen Attacken, durch die den Aufklärern pauschal Umsturzabsichten unterstellt wurden; vgl. Wolfgang Albrecht: »Religionsedikt und Riemsche Fragmente. Eine Kontroverse innerhalb der Aufklärungsdebatte«. In: Weimarer Beiträge. 5/1990, S. 793-804. Vgl. diesen Band S. 60f. (zu Wieland) und S. 236 zu Nicolai.

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Aus dieser Situation leitete Rebmann bestimmte Maximen fortschrittsbedachten und praxisbezogenen Aufklärens her, die er völlig zu seinen eigenen machte. Aufklärer sollten unbestechliche Beobachter und Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse sein, die Regenten beraten und zu rechtsgetreuer vernünftiger Regierung hinführen, die Bevölkerung geistig und sittlich bilden, kurz: beiderseits Pflichten und Rechte nahebringen und ihre Einhaltung anmahnen. Zweifellos war dies ein stark traditionsorientiertes Wirkungsverständnis. Es gewann an Individualität in dem Maße, in dem Rebmann, sich als Nachfahre Wekhrlins begreifend, zu einem Fürsprecher politisch-literarischer »Publizität« wurde und die Auseinandersetzung mit dem Obskurantismus forcierte. Anfangs war der Schriftsteller Rebmann weitgehend literarischen Moden verhaftet. Er verfertigte zwei Werke der beliebten Gattung Ritterroman, schwärmerische Verse, empfindsame Betrachtungen und manch andere mehr oder weniger triviale Stückchen. 21 Indes verfolgte er durchaus höhere Ansprüche als nur die Absicht zu unterhalten und fügte sich nicht blindlings den Zwängen des literarischen Marktes, denen er erst als neben- und dann besonders als hauptberuflicher »freier Schriftsteller« (ab 1792) ausgesetzt war. Trotz der Erfahrung, daß die größere Leserschaft auch schlechte Literatur goutierte, weigerte er sich, »wissentlich gegen Vernunft und Geschmack zu sündigen«, und er fügte hinzu: »Aber, daß ich dem Geschmack der Lesewelt hie und da huldigen, daß ich vieles schreiben und alle Messen auftreten mußte, wo ich gerne viel, oder nichts geschrieben hätte - darüber tadle mich, wer da kann!« (N III, unpag. Vorrede.) Durch einen auffallend kurzen, freilich schonungslos selbstkritischen Reflexionsprozeß, den die Vorreden zur Sammlung Nelkenblätter widerspiegeln, gelangte Rebmann dahin, seine aufklärerisch-kritischen Intentionen mit Erwartungen und Lektürebedürfnissen des durchschnittlichen Publikums übereinzubringen. 22 Zweckentsprechende Darstellungsformen fand er in der romanartigen Satire bzw. im satirischen Reiseroman und in der Reisebeschreibung, die es ihm erlaubten, seine »Eindrücke und Gedanken« unsystematisiert aufzuschreiben 2 3 und zwanglos auszuführen oder bei passender Gelegenheit wieder aufzunehmen. 21 22

23

Über diese Anfänge ausführlich Kawa: Rebmann (Anm. 7), Abschn. II. Nach Segeberg: »>Was gehn uns [...]Was gehn uns [...]Eine Volk muß seine Freiheit selbst erobern ...Was gehn uns [...]alte Berlinismus< noch einmal in die Richtung pragmatischer Bewältigung der gegebenen Verhältnisse, hatte aber nur ein verlängertes friderizianisches Zeitalter im Auge. In Lucinde träumte die Romantik von einer radikal veränderten Welt - aber ihr Blick lief an aller Wirklichkeit vorbei.« (Hermsdorf: Literarisches Leben [Anm. 3], S. 242) Genauer müßte man sagen, daß in der Lucinde, wie von den Frühromantikern auch sonst, sehr wohl kritikwürdige Zustände der Realität erfaßt, indes keine praxisorientierten alternativen Veränderungskonzepte vorgebracht wurden. Nachfolgend wird eine Feststellung Mollenhauers (Nicolais Satiren [Anm. 2], S. 226) weiter ausgebaut.

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sie und die Vollständigkeit der Poesie für nicht viel weniger als Unsinn« (S. 78), und Adelheid verlacht die in einigen Fragmenten steckende (frühromantische) Ironie, doch sind dies konstruierte und nicht organisch aus dem Kontext erwachsende Reaktionen. Die Zitate aus den Athenaeum-Fragmenten sollen außerdem aufzeigen, wie Goethe - nach Nicolais Ansicht - von den Frühromantikern beweihräuchert wird. Die Verehrung Goethes lieferte Nicolai den Ansatzpunkt einer erneuerten Kritik an demjenigen seiner Antipoden, den er in die Attacken, die sich gegen die idealistische deutsche Philosophie richteten, schwerlich einbeziehen konnte. Wie im Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach wird aus diesem Kult, den Goethe nicht nur billige, sondern direkt erstrebe, der vermeintliche Niveauverlust seines jüngsten Schaffens hergeleitet. Goethe, des Beifalls seiner »Sklaven« gewiß, schreibe neuerdings »viel Mittelmäßiges« (S. 83 und 84). Um die Behauptung, daß Goethe bei ihnen außerhalb jeder Kritik stehe, abzustützen, nimmt Nicolai eine Interpolation vor. Er setzt am Beginn des Fragments 297, das er als unsinnig empfindet, Goethes Namen ein, um es so gegen den scheinbar distanzlos Verehrten wie gegen den vermeintlichen Anbeter (Friedrich Schlegel) zu wenden: »Göthens Werke sind überall scharfbegränzt, innerhalb der Gränzen aber gränzenlos und unerschöpflich; daher sind sie gebildet, denn sie sind sich selbst ganz treu, überall gleich und doch übersieh selbst erhaben.« (S. 76) Nicolai versucht, den Goethe- und Shakespeare-Bezug der Frühromantiker ad absurdum zu führen, indem er ihn einerseits als Mißverständnis und andererseits als hochmütige Selbstdarstellung ausgibt. Sarkastisch bemerkt Adelheid zu Gustav (und Figurenrede ist absolut identisch mit Autormeinung): »Liebe Herren, die Ihr nichts als Göthe und Shakspeare im Munde habt, Ihr wisset nicht recht was Ihr lobet und was Ihr verachtet. Ihr meinet die menschliche Natur im Shakspeare studirt zu haben; daher legt Ihr in seine Werke einen ganz falschen Sinn, und eben diesen Euren falschen Sinn wieder in Göthens Werke. [...] Lieben Leute, hättet Ihr Shakspeare's Geist, wovon Ihr mit so vielem Stolze sprecht, als kenntet Ihr allein ihn nur, sonst niemand; warum bringt denn kein Einziger von Euch etwas acht Shakspearisches zum Vorscheine?« (S. 115f. und 118) Darauf weiß Gustav nichts zu erwidern und geht mißmutig davon. Nicolai exemplifiziert seine Goethe-Kritik wieder, nach dem Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach und Sempronius Gundibert zum dritten Male, an Wilhelm Meister. Eine Einstimmung in ihren ironischen Unterton gibt Adelheids Bericht, daß in dem von Gustav anfänglich bevorzugten Salon Wilhelm Meister rückwärts gelesen werde und so viel wirkungsvoller sei. Diese Anwendung des Schlegelschen Bonmots über »Würde der Frauen«101 auf 101

In der Rezension zu Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1796 (KFSA II, 6) heißt es, die »Einheit« des Gedichts gewinne, »wenn man die Rhythmen in Gedanken verwechselt und das Ganze strophenweise rückwärts liest«.

Berliner Spätaufklärung offensiv: Friedrich Nicolai

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den Roman ist gewiß nicht sehr originell, aber sie fügt sich gut ein in das Bezugsfeld des Nicolaischen Vorgehens gegen die Frühromantiker und Goethe. Nicolai kritisiert im Zusammenhang mit der Erziehung Wilhelms einige der Hauptfiguren (Jarno, den Abbé) sowie die Turmgesellschaft als unbegreiflich und würdigt vorbehaltlos nur den Harfner und Mignon. Er läßt, im Grunde seine alten Einwände gegen den Werther wiederholend, die Heldin seines Romans, die ihr Leben selbst meisterte, verächtlich feststellen, daß »der breyweiche Wilhelm« unselbständig bleibe, und über Goethe urteilen, »daß dieser seinen Hauptcharakter nicht besser in Thätigkeit zu setzen wußte, macht ihm eben nicht Ehre«. Und es wird resümiert: »Eigentlich ist Meister gar kein Charakter, sondern ein nicht handelndes Schienterwesen, das nebenher mit jeder weißen Schürze liebelt. Pfui!« (S. 86) Nicolais Beurteilung richtet sich nach wie vor gegen die Gesamtanlage des Wilhelm Meister. Sein Standpunkt ist derselbe geblieben, wie er ihn zwei Jahre zuvor, kurz nach Erscheinen des Anhangs bereits brieflich einmal so formuliert hatte: »Wilhelm Meister hat treffliche Stellen, aber, als Roman betrachtet, ist das Ganze doch seltsam angelegt.«102 Mit Nicolais pragmatisch-moraldidaktischer Sichtweise differierten die bei Goethe zugrunde gelegten Bildungsbegriffe und -Vorstellungen. Hinzu kam Nicolais Abneigung allem zeitgenössischen Geheimbundwesen gegenüber, die aus seinem Grundsatz strikt öffentlicher Aufklärung resultierte und zur Charakterisierung der Turmgesellschaft als »der possirlichen unbekannten Gesellschaft [...,] mit der uns Göthe nur zum Besten hat« (S. 85f.), führte. Wilhelms Werdegang verläuft anders, als Nicolai sich die Hinwendung zur Wirklichkeit des Alltagslebens vorstellte - nämlich so, wie es bei seinem Gustav unter dem Einfluß Adelheids geschieht. In dieser Hinsicht erweisen sich die Vertrauten Briefe auch als eine Art Anti-Meister, als ein Gegenstück zum klassischen Bildungsroman. Nicolais Erziehungsroman erlangte für die übergreifende Kontroverse zwischen den spätaufklärerischen Kreisen und der relativ kleinen Gruppe der Frühromantiker zentrale Bedeutung. Die Rezensenten der wichtigsten einschlägigen Journale nahmen ihn wohlwollend auf und stimmten seiner kritisch-satirischen Grundrichtung zu.103 Nachdrücklich unterstützt wurde Nicolai durch August von Hennings und Ludwig Ferdinand Huber. Was Nicolai im Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach und noch in den Vertrauten Briefen seinen Widersachern als Absicht unterstellte, gab Hennings für einen bereits vollendeten Tatbestand aus: »Es herrscht aber in unserer Litteratur ein würklich schändliches Unterdrückungs-System, welches wie das in der Politik allen Gemeingeist, um einiger Usurpatoren willen zu vernichten droht. Durch

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Nicolai an Halem, 21. Juni 1797. In: Halem's Selbstbiographie (Anm. 4), S. 192. Sechs Rezensionen sind bequem zugänglich in de Bruyns Neudruck der Vertrauten Briefe (Anm. 21), S. 183-194.

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Berliner Spätaufklärung offensiv: Friedrich Nicolai

diese Herrschaft anmaßender Genies muß nothwendig die einzige rechtmäßige Herrschaft des guten Geschmaks zerstört werden. [...] dem unbefangenen Leser thut es wohl sich aus dem egoistischen Schwindel wieder in die wahre Welt versezt zu sehen.« 104 Hennings urteilte von seiner Position eines direkten politischen Engagements der Literatur und Publizistik her. 105 Doch so stichhaltig sonst seine publizistische Auseinandersetzung mit gegenaufklärerischen politischen und literarischen Unternehmungen war, so kurzschlüssig rückte er die Weimarer Klassik in das Bezugsfeld jener Gegenaufklärung. Huber bewertete den Roman in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung (ALZ, 1799, Nr. 343), einem wichtigen Publikationsforum der Frühromantiker, ostentativ als zweckmäßiges Kunstwerk, dessen satirische Übertreibungen er verteidigte, und er griff seinerseits die im Buch Verspotteten an: »Wer die Alleinweisheit mancher jungen Philosophen, den gelehrten Egoismus, das stolze Hinwegsetzen über bürgerliche Verhältnisse und Convenienz, kurz, wer die Zeichen der Zeit zu sehen und sich darüber zu ärgern Gelegenheit gehabt hat, der wird bey der Leetüre dieses Romans den Satyr preisen, der sie [...] züchtigt. [...] Was seine Meynungen betrifft; so wiederholen wir nochmals, daß wir nicht alles für Wahrheit erkennen, aber hier gerne den Dichter entschuldigen.« (JdL IV, 451 f.) Diese Rezension bezeichnete die öffentliche Distanzierung Hubers von den Frühromantikern, zu denen er enge persönliche Kontakte hatte. Vor allem aber führte Hubers Besprechung den Bruch August Wilhelm Schlegels (und Tiecks) mit der ALZ herbei. Und darüber kam es zu einem weite Kreise ziehenden Streit. 106 Die Vertrauten Briefe hatten indirekt einen unvorhersehbaren Erfolg, während sie in ihrer moraldidaktischen Grundfunktion versagten. Denn über Nicolais Erziehungsvorstellungen und -absichten hatte nicht nur Schleiermacher

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Genius der Zeit. 1799, Bd. 18, St. 9, S. 68f. Unmittelbar vor der zitierten Stelle bringt Hennings seine Empörung darüber zum Ausdruck, »daß ein in dem großen Fortgange der Zeit nicht zurükgebliebener Veteran mit Undank belohnt wird, anstatt daß jeder Verehrer des Guten und des Lichts für ihn, wie ehemals die Jugend in Sparta für Greise, aufstehen und ihm seine Achtung bezeugen sollte« (S. 67f.). Vgl. Süllwold: »Der Genius der Zeit« (Anm. 41), Kap. IV: »Auseinandersetzung mit dem Programm der Weimarer Klassik«. - Das gesellschaftspolitische Engagement Hennings und anderer Spätaufklärer wird im Gefolge einer Klassikfeindlichkeit, wie sie um 1970 hervorgetreten war, undifferenziert dem »Kompromiß« Goethes und Schillers entgegengestellt. Zudem bleibt die Rolle des Genius der Zeit in der übergreifenden Kontroverse zwischen Spätaufklärung und Klassik/Frühromantik unerörtert. Näheres dazu bei Heinz Härtl: »>AthenaeumAthenäumdes AutorsKynosargesÄsthetische PrügeleienDer Mond sieht zu, wie die Knaben die Mäglein küssenfabula docet< meist sehr glücklich und mit viel Geschmack angebracht«. 50 Darüber hinaus stimuliert er im aufklärerischen Sinn das Selbstdenken, indem er es dem Leser überläßt, Einsichten zu gewinnen und lebenspraktische Schlußfolgerungen zu ziehen. Exemplarisch hierfür ist das Gedicht »Gespenst an der Kanderer Straße«, dessen abschließende Frage »Verstöhntder mi?« (HW I, 88) ganz im Sinne der »Freude in Ehren« nach der Konklusion verlangt, den Wein durchaus, jedoch maßvoll zu genießen. Im »Geister«-Aufsatz hat Hebel das Problem aufgeworfen (und unbeantwortet gelassen), »warum der Glaube an einen Verkehr der Engel auf der Erde fast ganz verschwunden ist, während der Teufelsglaube noch kräftig sich behauptet« (HW III, 299). In den Alemannischen Gedichten unternahm er es, den Engelsglauben dichterisch zu popularisieren und den volksreligiösen Geisterglauben - konform dem Anliegen des Aufsatzes - »zu veredeln und [...] zu moralischen Zwecken zu benutzen« (HW III, 300). Er belebte Natur und Gestirne mit freundlichen Engeln und individualisierte einen der Geister: den Denglegeist (Dengelgeist). Diesen - seinerzeit regional populären - »bösen Geist« deutete er, alte Sagenmotive aufgreifend, um zu einem pflichtgetreuen Sternenwesen, das auf die Erde komme, um Gras zu mähen für »'s Wienechtchindlis Esel, und 's heilige Fridelis Chalb'le« (»Geisterbesuch auf dem Feldberg«; HW I, 147). Der Denglegeist wird in den Dienst literarischer Volksaufklärung gestellt. Er belehrt die Ich-Figur des Gedichts, die »Furcht vor G'spenstere« sei völlig unnötig: »'s sind zwee einzigi Geister de Mensche gfährli und furchtbar; / Irrgeist heißt der eint', und Ploggeist heißt der ander; / und der Irrgeist wohnt im Wi.« (HW I, 148) Das Märchen- und Sagenmotiv der hilfreichen Geister rezipierte Hebel nicht. Ihre Einführung hätte seine Leitmaxime verletzt, jeder Mensch habe seine Arbeitspflichten und sonstigen Obliegenheiten nach besten Kräften selbst zu erfüllen. Hebels Engel tun anderweitig Gutes an Mensch, Gewächs und Tier. Sie bewahren traditioneller religiöser Vorstellung gemäß »die frumme Lüt im Schlof vor Schade« (HW I, 144), oder sie behüten - in einer ganz Hebel eigenen Metaphorik - beispielsweise die Blumen, bewirten die Käfer und bitten sie, dafür Blütenstaub »ins Nochbers Hus« zu tragen, wo von einem anderen Engel wieder »e Schöppli guete Neuen« ausgeschenkt wird (»Der Käfer«; HW 50

»>Alemannische Gedichtealten Herkommens< plädierten, und selbst dann, wenn manche gerade dieses >alte Herkommen' verteidigten.« (Beate Heidrich: Fest und Aufklärung. Der Diskurs über die Volksvergnügungen in bayerischen Zeitschriften 1765-1815. München 1984, S. 15). Zitiert nach Funck: »Hausfreund« (Anm. 55), S. 69. »Historizität und Aufklärung gehören bei Hebel zusammen.« So lautet die Quintessenz der Untersuchung von Jan Knopf: Geschichten zur Geschichte. Kritische Tradition des »Volkstümlichen« in den Kalendergeschichten Hebels und Brechts. Stuttgart 1973, S. 89. Knopf hat einem neuen Hebel-Verständnis, insbesondere der Erkenntnis des Geschichtlichen und des Gesellschaftskritischen im Hausfreund, die Bahn gebrochen. Indessen beginnt bei ihm zugleich eine wiederum nicht unproblematische Forschungstendenz: sich zu konzentrieren auf hintersinnige Kalendergeschichten mit verdoppelter oder verdeckter Moral und die Vielzahl der sonstigen, unzweideutig lebenspraktische Lehren und Einsichten vermittelnden Beiträge aus dem Blick zu lassen. Die zweifellos verdienstvollen Neuansätze müßten, ohne wie Rohner (Kalendergeschichte [Anm. 53] und Kommentarband zu RH) die historischen und zeitkritischen Bezüge wieder teils zu verwischen und teils zu verleugnen, differenzierter weiterge-

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Hebels literarische

Volksaufklärung

dermacher Hebel vorrangig alltagsnahe Zeitgeschichte. Und so enthält der Rheinländische

Hausfreund Beiträge über nationale und internationale politi-

sche Begebenheiten, über Kapitalverbrechen und Hinrichtungen, über beispielhafte Gesinnungen und Handlungen, über Unglücksfälle und Katastrophen u. a.64 Dabei gelang es Hebel, gemäß seiner gutachterlichen Forderung »die historischen Leseartikel [...] unter einer lustigen Außenseite lehrreicher« (HW III, 237) noch als der beliebte Basler Hinkende Bote darzubieten. Belehrung und Unterhaltung sind im Rheinländischen

Hausfreund engstens

verknüpft, 65 ja sie sind, wie die verschiedene Plazierung der Begriffe im Untertitel des Kalenders (»mit lehrreichen Nachrichten und lustigen Erzählungen«) und im Zwischentitel zum Textteil (»Allerlei Neues, zu Spaß und Ernst«) andeutet, offensichtlich einander völlig gleichgestellt. Dies heißt aber, daß Hebel im Vergleich zum herkömmlichen aufklärerischen Kalender, speziell zum badischen Landkalender, das Unterhaltende und Vergnügliche entschieden aufwertet. Er bediente sich der traditionsreichen Methode vergnüglicher Erkenntnisvermittlung, durch die die Leser mehr oder weniger unvermerkt zum Nachdenken angeregt und zur Veränderung ihrer Verhaltensweisen gebracht werden sollen. Virtuos handhabte er alle Spielarten des Humors, der ähnlich wie bei seinem Lieblingsautor Jean Paul Ausdruck einer Grundhaltung ist, aus der sich das dichterische Schaffen speiste. 66 Wie Hebels Humor ist insgesamt die Gestaltung der Kalenderbeiträge nur scheinbar kunstlos einfach. Seine Erzähltexte, die fiktiven wie die nichtfiktiven, sind nach übereinstimmender Ansicht aller neueren Interpreten nicht nur gehaltvoller, sondern auch poetischer als vergleichbare Texte seiner Zeitgenossen. Hebels Originalität besteht unzweifelhaft in der Neu- und Umformung vorgefundener Stoffe oder

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führt werden. Damit hat Voit (»>Vehikelhistorisch< fundierte Exempelerzählungen, in denen das >historisch< Faktische den aufklärerischen und volkspädagogischen Intentionen untergeordnet und auf diese Absichten hin arrangiert wird« (ebd., S. 56). Darüber hinaus ist es unbestreitbar, daß Hebel auch ganz direkt und uneingeschränkt Grundsätze einer mittelständischen Moral aufstellt, die über den konkreten Beispieltext hinausreichende Allgemeingültigkeit erhalten, und daß er gemeinnützige Belehrungen erteilt. Nur, welche eigentlich? Und steht seine literarische Aufklärung nicht in einem Spannungsfeld von Negation und Affirmation? Hierzu im weiteren einige Klärungsversuche. Vgl. die statistische Aufstellung bei Voit: »Angenehm« (Anm. 53), S. 47 oder auch bei dems.: >»VehikelDer geneigte Leser verstehtsRechnungsexempel< zum >Exempel der Gerechtigkeit^ Über die Kalendermathematik Johann Peter Hebels«. In: Der Deutschunterricht. Jg. 30. Stuttgart 1978, H. 6, S. 29-36.

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Hebels literarische

Volksaufklärung

Dazwischen finden sich eine Erzählung, beziehungsreich »Der Friedensstifter« betitelt, und ein Artikel zur älteren rheinländischen Geschichte, in dem es heißt: »Denn die Deutschen wissen von nichts anderm, als wenn sie keinen fremden Feind zu bekämpfen und zu verderben haben, so thun sie einander den Gefallen selber.« (RH, 239) In geheimer Korrespondenz hierzu lautet der Schlußsatz der »Fortsetzung der Weltbegebenheiten«: »Auf der einen Seite standen jetzt Rußland, Preußen, Oestreich, Schweden, auf der andern Frankreich, der rheinische Bund, Italien, Schweiz und Dänemark.« (RH, 241; Hervorhebung: W. A.) So schwankend und opportunistisch Hebels politische Haltung letztlich erscheinen mag (ein »Kalendermacher [...] muß es immer mit der siegenden Parthie halten«; RH, 256) - in seinem Sehnen und Verlangen nach Frieden hat er sich nicht beirren lassen. Es ist vor allem in seine aus der Sicht der Opfer urteilenden zeitpolitischen Berichte eingegangen, 73 jedoch auch in manch andere Kalenderbeiträge. Denn Frieden bildete für ihn von jeher die Grundbedingung dafür, daß aufklärerisches Bestreben fruchtbar werden konnte für den Alltag, für das Zusammenleben der Menschen. Auf den Rückbezug zum alltäglichen Leben kam es Hebel wesentlich an. »Weisheit«, lautet eine seiner »Nützlichen Lehren« (1805), »besteht nicht im Wissen, sondern in der rechten Anwendung und Ausübung davon« (HW I, 307). Er verband, auch in den naturkundlichen Stücken,74 stets Belehrung mit Nutzerörterungen. Einer der längsten Beiträge des Rheinländischen Hausfreundes ist »Des Adjunkts Standrede über das neue Maß und Gewicht«. Ihr Abdruck wird mit dem hervorgehobenen Satz begründet: »Das neue Gewicht und Maaß bringt allgemeinen

Nutzen.«

(RH, 163) Nutzenswerte landwirtschaftli-

che und medizinische Erkenntnisse verarbeitete Hebel zu praktischen Ratschlägen, die er meist sehr eindringlich zu beherzigen ersuchte. Behutsam, seiner volksaufklärerischen Konzeption getreu, ging er gegen den Sternenund Gespensterglauben vor. Mit ebenso einfacher wie zwingender Logik führte er die Meinung ad absurdum, ein Komet bedeute Unglück: »Allein es geschieht auf dem weiten Erdenrund [...] alle Jahre so gewiß ein großes Unglück, daß diejenigen, welche aus einem Cometen Schlimmes prophezeien, gewonnen Spiel haben, er mag kommen, wann er will.« (RH, 86) Gespenster stellt Hebel in mehreren Geschichten als betrügerische menschliche Wesen 73

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Dazu Klaus Oettinger: »>Ein Beispiel, bei dem man Gedanken haben kannDer Mond sieht zu«< [Anm. 25], S. 248).

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bloß, und eine dem Hausfreund selbst begegnende Gespenstererscheinung findet eine natürliche und heiter endende Erklärung: »Der schwarze Mann in der weißen Wolke« ist ein Gipsmehl streuender Bauer, der seinerseits den Hausfreund für ein Gespenst gehalten hat. Hebels Räsonnement reicht von der Politik bis zur Ethik, spart aber die Religion strikt aus. Dem geneigten Leser wird in katechetischer Weise geboten: »Merke: du sollst nicht über die Religion grübeln und düfteln, damit du nicht deines Glaubens Kraft verlierst.« (»Die Bekehrung«; RH, 126) Von der versittlichenden und humanisierenden Kraft des Glaubens, und zwar der des Katholizismus nicht minder als des Protestantismus, hatte schon der Prediger Hebel gesprochen. Sie leite den Menschen durchs Leben und helfe ihm insonderheit dabei, die göttliche »Gnade« recht zu nutzen, »daß er in allen seinen Geschäften unten anfangen, und sie durch eigenes Nachdenken, durch eigenen Fleiß und Uebung bis nahe an die Vollkommenheit der göttlichen Werke selber hinbringen kann, wenn schon nie ganz« (»Betrachtung über ein Vogelnest«; RH, 214). Das Paradebeispiel solcher Zielstrebigkeit ist charakteristischerweise ein Mann bäuerlicher Herkunft, die Titelgestalt der biographischen Schilderung »Jakob Humbel«. Berufliche und sittliche Ausbildung oder Selbstvervollkommnung werden bei Hebel nahezu identisch. Die Lebensgrundsätze, die er in einprägsamen Versen resümiert und mit verschiedenartigen anderen Beiträgen exemplifiziert, sind die gleichen wie in den Alemannischen Gedichten. »Mein Sprüchlein heißt: >Auf Gott vertrau / Arbeite brav und leb genau.die Preßfreyheit wird nach den künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung gehandhabt werden