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German Pages 301 [308] Year 1972
Klaus Hänsch • Frankreich zwischen Ost und West
w DE
G
Beiträge zur auswärtigen und internationalen Politik Herausgegeben von
Richard Löwenthal und Gilbert Ziebura
Band 5
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972
Klaus Hänsch
Frankreich zwischen Ost und West Die Reaktion auf den Ausbruch des Ost-West-Konflikts 1946—1948
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972
ISBN 3 11 003536 7
© Copyright 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. • Printed in Hungary Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung • o n Mikrofilmen, auch auszugsweise vorbehalten.
Geleitwort Der Versuch, das Verhalten von Nationalstaaten gegenüber Veränderungen der internationalen Umwelt zu erklären, gehört zu den wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben der Wissenschaft von der internationalen Politik. Da wir in dieser Frage noch weit von einer ernstzunehmenden Theoriebildung entfernt sind, bleibt zunächst nur die Untersuchung besonders expliziter Fälle. Ohne Zweifel stellt die Art und Weise, wie Frankreich auf den Ausbruch des Ost-West-Konfliktes reagiert hat, in dieser Hinsicht ein Studienobjekt ersten Ranges dar. In der Tat treffen hier mehrere Faktoren zusammen, die zumindest die Chance eröffnen, über den schon an sich passionierenden Fall hinaus zu Erkenntnissen allgemeinerer Natur vorzudringen. Frankreich ist als einzige ehemals führende europäische Kontinentalmacht zwar formell als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, in Wahrheit jedoch von Anfang an in die Rolle einer Mittelmacht gedrängt worden, die die Gestaltung der internationalen Beziehungen eher erleidet als aktiv mitzubeeinflussen imstande wäre. Damit aber mußte, ähnlich wie in Großbritannien, nur schneller und radikaler, das traditionelle außenpolitische Selbstverständnis von Grund auf in Frage gestellt werden; ein Prozeß, den die Entstehung und Verschärfung des Ost-West-Konfliktes nur beschleunigen mußte. So stellte sich die (bislang noch nicht ernsthaft untersuchte) Frage, ob überhaupt und in welchem Maße eine solche Macht mit einer derart massiven, an die Grundlagen ihrer Wertvorstellungen, tradierten Zielorientierungen und Interessen rüttelnden Herausforderung fertig wurde, wie und unter welchen Umständen und Bedingungen die nun lebensnotwendige Umstellung und Anpassung erfolgte — eine Frage, die zugleich tief in das Verständnis dessen führt, was französische Außenpolitik seit 1945 konstituiert. Und gerade weil Frankreich, was die Transparenz dieses außenpolitischen Willensbildungsprozesses betrifft, einen besonderen Glücksfall darstellt, war die Hoffnung auf eine regelrechte Modellstudie gegeben. Diesen Anspruch hat Klaus Hänsch durchaus erfüllt. Das lag nicht zuletzt daran, daß er sich an ein bestimmtes theoretisches Konzept hielt, das ihm ermöglichte, seiner Untersuchung eine feste Richtung zu geben. Zunächst ging er von der Vorstellung aus, daß sich die Außenpolitik eines Staates von parlamentarisch-pluralistischem Typ in einem absteckbaren
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Geleitwort
Rahmen abspielt, innerhalb einer »Bandbreite«, die durch das »politische Klima«, verstanden als die Summe aller Wertemuster und Zieldefinitionen der politischen Einheit, festgelegt wird. Die Originalität der Arbeit besteht nun darin, daß Klaus Hänsch den in der Literatur noch immer recht vereinzelt dastehenden Versuch unternommen hat, seine Fragestellung mit Hilfe des von Karl W. Deutsch entwickelten kybernetisch-kommunikationstheoretischen Modells in den Griff zu bekommen. Die Kernannahme dieses, für die konkrete Analyse allerdings operationalisierten und damit zwangsläufig auch vereinfachten Modells besteht darin, den Staat als ein »Lernsystem« aufzufassen, d. h. als ein System, »das durch Kommunikation im Inneren zusammengehalten und nach außen zum Handeln befähigt wird«, wobei die Kommunikation mit der Umwelt »durch den Empfang, die Verarbeitung und die Aussendung von Informationen aller Art« geschieht. Dieses Modell besitzt wie alle Modelle nur heuristischen Wert und kann dementsprechend außenpolitisches Verhalten nicht ohne weiteres erklären. Es kann aber sehr wohl methodische Fingerzeige für derartige Erklärungen geben. Da zu jedem Verhalten gewisse Lernprozesse gehören, lag es nahe, für die Fragestellung dieser Arbeit auf das Modell von Deutsch zurückzugreifen. Tatsächlich leistete es gute Dienste, weil es half, Grundbegriffe wie »Ziele«, »Sekundärziele«, »Werte«, »Wertvorstellungen«, »außenpolitisches Bewußtsein« genauer zu definieren als es oft der Fall ist. Damit war wiederum die Voraussetzung dafür geschaffen, das umfangreiche empirische Material wirklich dominieren und systematisch interpretieren zu können. Die Arbeit zeigt, daß die Gefahr, die bei der Anwendung derartiger Modelle zumindest naheliegt, nämlich das empirische Material in ein ihm fremdes begriffliches Korsett zu zwingen, nicht nur vermieden, sondern der Aussagewert des Quellenmaterials durch den Rückgriff auf das Modell erhöht wurde. Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit der Verbindung historischer und sozialwissenschaftlicher Methoden. Das gilt schon für die Analyse der Ausgangslage Frankreichs 1945/46, wo es darum geht, den Rahmen abzustecken, von dem oben die Rede war — jenen Rahmen, innerhalb dessen der »Lernprozeß« nur vonstatten gehen konnte. Hier wird nicht nur die große Labilität der inneren Verfassung Frankreichs deutlich, sondern ein bis auf den heutigen Tag fortwirkender Strukturdefekt des außenpolitischen Willensbildungsprozesses : die Unfähigkeit, das herzustellen, was Klaus Hänsch ein »zieladäquates Umweltbild« nennt, was nichts anderes heißt, als daß die von außen kommenden Informationen durch ein falsches Bewußtsein deformiert werden und damit eine falsche Selbsteinschätzung eintritt. Freilich: derartige mit der »Perzeption« zusammenhängende Probleme stellen sich jeder politischen Einheit. I n Frankreich aber waren sie schon immer (man denke an die Politik Napoleons I I I . gegenüber Bismarck oder
Geleitwort
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die der I I I . Republik gegenüber Hitler) besonders ausgeprägt. Tatsächlich ergibt die Analyse der 1946 vertretenen außenpolitischen Ziele, daß Frankreich dreierlei zugleich anstrebte: Sicherheit vor Deutschland, die Gewährung wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe und die Erhaltung der Kriegskoalition mittels einer aktiven Vermittlungspolitik, der vornehmlich die Funktion zufiel, die überkommenen (im übrigen wie in der Vergangenheit sehr hoch eingeschätzten) Werte und Interessen (kulturell-historisches Erbe, nationale Unabhängigkeit, gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen) zu bewahren. Diese Ziele aber waren, wie Klaus Hänsch überzeugend nachweist, Ausfluß eines außenpolitischen Bewußtseins, das aufgrund seiner Inhalte (der »Filter«, um mit Deutsch zu sprechen) die realen Vorgänge in der Außenwelt entweder nicht oder nur mit größter Mühe wahrnimmt und sich damit im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit der Ziele Illusionen hingibt, die teuer bezahlt werden. Das System aber mußte sich an die neuen Gegebenheiten der Weltpolitik anpassen; es mußte »lernen« und das bedeutete, es mußte die Zielinhalte verändern. Der Untersuchung dieses Vorgangs dient der Hauptteil der Arbeit. Mit viel Subtilität verfolgt Klaus Hänsch den Wandel der außenpolitischen Vorstellungen, wobei er diesen Prozeß auf drei, scharf voneinander getrennten Ebenen verfolgt: der »unformulierten Meinung«, der »formulierten Meinung« und schließlich der politischen Parteien. Dabei läßt er sich nicht auf das Abenteuer ein, das Verhältnis dieser drei Ebenen zueinander theoretisch zu fassen; immerhin aber erreicht er, gewisse Divergenzen oder Konvergenzen herauszuarbeiten. Hier werden manche Nüancen und auch überraschende Ergebnisse deutlich. Das wichtigste ist darin zu sehen, daß Frankreich im Juni 1948 seine Sekundärziele in der Frage der Sicherheit vor Deutschland weitgehend aufgegeben hatte und sich resignierend mit den Angelsachsen zu solidarisieren begann, freilich ohne daß dadurch das Gefühl der Bedrohung durch Deutschland verschwunden wäre (nicht einmal nach dem Schock, der vom Prager Staatsstreich ausgegangen war) und ohne daß damit jemals eine volle Solidarität mit den USA erreicht wurde. Klaus Hänsch bringt dieses Ergebnis auf die treffende Formel, daß die Bedrohung durch die Sowjetunion zwar rational erkannt, aber emotional abgelehnt wurde, während die Bedrohung durch Deutschland rational nicht mehr begründbar war, dafür aber emotional geglaubt wurde, was zwangsläufig die »Lernbreite« des Systems einengen mußte. So mündet die Arbeit folgerichtig in den Versuch, die »Lernergebnisse« aufzuzeigen, zu denen das System fähig war. Zugleich werden die Schlußfolgerungen auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt. Aus der Arbeit geht klar hervor, wie das Ziel der Sicherheit vor Deutschland zunächst überlagert, dann zurückgedrängt wird von dem neuen Ziel der Sicherheit vor der Sowjetunion und wie das, was an Widersprüchen zwischen diesen beiden
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Qdeitwort
Zielen und dem dritten Ziel (materielle Hilfe) dann noch übrigblieb, durch die Intensivierung des Europagedankens gelöst werden sollte. Es ergibt sich, daß die Konsequenz, nämlich die Spaltung Europas, wie sie durch die Akzeptierung des Marshall-Plans von Frankreich selbst mitverursacht wurde, nur widerwillig anerkannt, selten aber als endgültig angesehen wurde. So klar, wie es bislang in der Literatur nicht geschehen ist, kommt dabei schließlich als Hauptergebnis der Arbeit heraus, daß die Verwirklichung der drei oben genannten Hauptziele des Systems von 1946 trotz aller Veränderungen der internationalen Politik grundsätzlich beibehalten wurden, daß der Lernprozeß nur die Ebene der Sekundärziele erreichte (mit deren Hilfe die eigentlichen Ziele verwirklicht werden sollen) und daß das wichtigste Sekundärziel nun die westeuropäische Einigung wurde, weil man von ihr erhoffte, aus den eklatanten Widersprüchen zwischen den drei Hauptzielen herauszukommen. Völlig zu Recht weist damit Klaus Hänsch nach, daß sich das System nur als fähig erwies, einen in letzter Instanz doch immer noch »traditionellen« Lerninhalt zu produzieren, indem der europäischen Einigung tatsächlich nur ein instrumentaler Wert beigemessen wurde. Die Gründe dafür liegen in der Inkonsistenz der »Dritten Kraft«, die nach dem Ausscheiden der Kommunisten aus der Regierung im Mai 1947 die Mehrheit in der Nationalversammlung stellte, ja in der trotz einiger Reformen im Grunde weiter unveränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Struktur Frankreichs, was den »pathologischen Charakter« der späteren Außen- und insbesondere Europapolitik der IV. und V. Republik erklärt. Wer begreifen will, welche dauerhaften Strukturen zwischen 1946 und 1948 in die französische Außenpolitik eingebracht wurden und auf welche Weise sie zustande kamen, wird aus der Lektüre dieser Arbeit großen Nutzen ziehen. Berlin-Frohnau, im September 1970
Gilbert Ziebura
Vorbemerkung Wenn historisches Geschehen — die Reaktion Frankreichs auf den Ausbruch des Ost-West-Konflikts, die Abwendung von der Kriegsallianz und die Hinwendung zur britisch-amerikanischen Deutschlandpolitik und zur Einigung Westeuropas also — nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt werden soll, bedarf es eines theoretischen Konzepts. Denn erstens geschieht die Bestimmung der Kriterien, nach denen aus der Fülle des Materials, das für die Analyse und die Erklärung des historischen Geschehens zur Verfügung steht, ausgewählt wird, auf der Grundlage eines solchen Konzepts — gleichgültig, ob man es sich vorher bewußt gemacht hat oder nicht. Und zweitens sind Zuordnungen, Kausalitäten und Funktionen nur mit seiner Hilfe zu erkennen. Die »Wirklichkeit« wird dadurch keineswegs »vergewaltigt«. Es ist ohnehin die Aufgabe der Politologie, Wirklichkeit zu erklären und nicht nur darzustellen — wenn es schon nicht gelingt, Prognosen oder Handlungsanleitungen wissenschaftlich zu erarbeiten. Mit dem für diese Arbeit gewählten theoretischen Ansatz sind unlösbar zwei Voraussetzungen verbunden, die a priori zu akzeptieren oder zu verwerfen sind. Erstens: Die ihr zugrunde liegende Systemtheorie gibt sich wertneutral, sie trifft also ihre Aussagen »unterhalb« von Wertungen. Sie leistet keine Kritik an der Gesellschaft, am System und an der Politik Frankreichs mit dem Ziel, sie zu »verbessern«. Sie kommt höchstens zu einer immanenten und das heißt rein funktionalen Kritik. Zweitens: Der hier verwendete theoretische Ansatz tendiert dazu, eher das Gemeinsame als das Differenzierende im politischen Verhalten der verschiedenen Gruppen zu betonen, da er auf das »Lernen« des Gesamtsystems gerichtet ist. Damit fließen Vorverständnisse in die Arbeit ein, von denen der Autor nur sagen kann, daß sie ihm bewußt sind, so wie sie auch der Leser im Bewußtsein behalten sollte; denn um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird auf die Kritik des Ansatzes selbst verzichtet — so nötig sie wäre. Der Wert einer Theorie kann letzten Endes nur daran gemessen werden, ob sie zumindest zur Erklärung empirisch erfaßter Vorgänge taugt. Dazu muß sie angewandt werden — auch auf die Gefahr hin, daß sie sich dabei an manchen Stellen als zu eng, an anderen wieder als zu weit erweist. Das fällt gegenüber dem Vorteil der konzeptionellen Einheit wenig ins Gewicht. Auf eine funktionale Kritik des hier verwendeten theoretischen Modells wurde
X
Vorbemerkung
ebenfalls verzichtet, da es dem Verfasser nicht um eine theoretische, sondern um eine empirische Arbeit ging. Sie wurde Ende 1968 abgeschlossen. Ich danke Herrn Professor Alfred Grosser und Herrn Professor Jean Touchard von der »Fondation Nationale des Sciences Politiques« für die Unterstützung, die sie mir bei den Forschungsarbeiten in Paris gewährt haben, und Herrn Professor René Cheval, der als Kulturrat an der französischen Botschaft in Bonn-Bad-Godesberg dazu beitrug, daß dieses Buch erscheinen konnte. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Gilbert Ziebura, der während mehrerer Jahre mein akademischer Lehrer war.
Inhaltsverzeichnis Geleitwort Vorbemerkung Einleitung
V IX 1
Erster Teil: Der Zustand des Systems
15
A. Das Interesse der öffentlichen Meinung Anfang 1946
18
I. Die »Säuberungen« II. Die wirtschaftliche Situation
18 19
III. Die Auseinandersetzungen um die Verfassung
22
IV. Die internationale Situation
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B. Das Wertemuster und die Zieldefinitionen I. Die Ziele 1. Die Sicherheit vor Deutschland a) Die Emotionen b) Die Erfahrungen c) Die Sekundärziele aa) Die Zerschlagung des Reiches bb) Der Status des Ruhrgebiets ec) Die Abtrennung des Rheinlands dd) Die Abtrennung des Saarlands ee) Deutschland in Europa 2. Die Wirtschaft«- und Finanzhilfe 3. Die Vermittlungsposition a) Die USA-bezogenen Emotionen und Erfahrungen b) Die UdSSR-bezogenen Emotionen und Erfahrungen II. Die Werte 1. Die kulturellen Werte a) Das kulturell-historische Erbe b) Die nationale Größe und Unabhängigkeit c) Die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen aa) Der amerikanische Kapitalismus bb) Der sowjetische Kommunismus 2. Die institutionellen Werte
25 25 26 27 29 32 33 34 37 38 39 39 40 41 44 48 48 48 50 52 52 54 58
XII
Inhaltsverzeichnis
C. Das außenpolitische Bewußtsein I. Das außenpolitische Interesse 1. Die Bevölkerung 2. Die Presse 3. Die politischen Subsysteme a) Die Interessengruppen aa) Der Unternehmerverband bb) Die Gewerkschaften cc) Die Katholische Kirche b) Die Parteien c) Das Parlament 4. Die »opinion leaders«
59 59 59 60 61 61 62 63 63 65 66 67
II. Die Wechselwirkung von Innen- und Außenpolitik in der öffentlichen Meinung
69
III. Der außenpolitische Informationsgrad
71
IV. Der »inhaltliche Filter«
74
Zweiter Teil: Die Wert- und Zielmodifikation des Systems
79
A. Die Sicherheit
82
I. Die Sicherheit vor Deutschland 1. Die Zielinformationen a) Die kommunistische Interpretation b) Die sozialistische Interpretation c) Die traditionelle Interpretation 2. Die Feldinformationen a) Die Solidarität mit der Sowjetunion b) Die Solidarisierung mit den Vereinigten Staaten aa) Die Pariser Außenministerkonferenz bb) Die Byrnes-Rede in Stuttgart cc) Die Moskauer Außenministerkonferenz dd) Der Marshall-Plan ee) Die Londoner Außenministerkonferenz ff) Die Londoner Empfehlungen II. Die Sicherheit vor der Sowjetunion
82 82 85 86 88 92 93 94 94 95 96 97 98 99 101
1. Die Zielinformationen a) Die Umorientierung nach der Pariser Außenministerkonferenz . . b) Die Umorientierung im Herbst 1947 c) Die Umorientierung nach der kommunistischen Machtergreifung in Prag
102 102 104 107
2. Die Feldinformationen a) Die Verweigerung der Solidarität 1946 b) Die Truman-Doktrin c) Der Brüsseler Pakt d) Die Blockade Berlins
110 110 112 114 116
Inhaltsverzeichnis
XIII
III. Die Lernergebnisse 1. Die Überlagerung der Bedrohungen
119 120
2. Die westeuropäische Einigung a) Die deutsche Komponente b) Die sowjetische Komponente
123 123 126
B. Die Wirtschaftshilfe I. Die Feldinformationen
129 131
1. Die Blum—Byrnes-Abkommen 2. Das Moskauer Kohleabkommen
132 135
3. Der Marshall-Plan a) Die Beteiligung der Sowjetunion b) Die Beteiligung Deutschlands c) Die Blockbildung
136 138 140 141
II. Die Wertinformationen 1. Die nationale Größe und Unabhängigkeit a) Die amerikanischen Motive b) Die Erwartungen aa) Die kommunistischen Erwartungen bb) Die konservativen Erwartungen cc) Die sozialistischen Erwartungen 2. Die gesellschaftliche Ordnung a) Das amerikanische Motiv: Antikommunismus b) Die Erwartungen aa) Die kapitalistischen Erwartungen bb) Die kommunistischen Erwartungen cc) Die sozialistischen Erwartungen III. Das Lernergebnis 1. Die Ergebnisse im Zielbereich 2. Die Ergebnisse im Wertebereich a) Die Betonung der nationalen Unabhängigkeit b) Die Einigung Europas
C. Die Vermittlerposition
143 143 143 144 144 145 147 148 149 150 150 151 151 154 154 155 155 157
158
I. Die Ziel- und Feldinformationen
159
1. Die Zielinformationen 2. Die Feldinformationen a) Die Deutschlandpolitik b) Die Spaltung Europas c) Die Kriegsfurcht
159 163 163 166 167
II. Die Wertinformationen 1. Die sowjetisch-kommunistischen Informationen und Erwartungen 2. Die amerikanisch-kapitalistischen Informationen und Erwartungen
168 . 169 . 173
XIV
Inhaltsverzeichnis
III. Das Lernergebnis 1. Das Europa der dritten Kraft a) Die Beschränkung auf Westeuropa b) Das überseeische Hinterland Buropas c) Die Integration Europas 2. Das gaullistische Europa der dritten Kraft 3. Das sozialistische Europa der dritten Kraft a) Die gesellschaftliche Ordnung in Europa b) Die »nationale« Unabhängigkeit Europas D. Der Lerninhalt I. Der Konsensbereich 1. Die Konzentration auf die europäische Einigung 2. Der Inhalt und der Umfang der europäischen Einigung 3. Die Konsensformel II. Der Dissensbereich 1. Der »traditionelle« Lerninhalt 2. Der »sozialistische« Lerninhalt 3. Der »kommunistische« Lerninhalt
178 . . 179 180 180 181 182 184 185 187 189 189 189 190 193 194 194 195 196
Dritter Teil: Die Veränderungen im System
199
A. Die Mobilisierung der Reserven
202
I. Die Bildung der Regierung Gouin II. Die Entlassung der kommunistischen Minister
203 205
III. Die Gründung des »Rassemblement du Peuple Francais«
207
IV. Die Bildung der »Dritten Kraft«
212
V. Die Gründung des »Rassemblement Démocratique Révolutionnaire« . . 215 VI. Die Spaltung der CGT VII. Die Gruppierungen B. Die Zielrelevanz der Mobilisierungen I. Die Kommunisten II. Die Gaullisten m . Die Dritte Kraft
217 220 223 223 227 228
Schlußbetrachtung
239
Anhang
245
Abkürzungsverzeichnis
255
Inhaltsverzeichnis
XV
Bibliographie
259
A. Quellen
261
B. Literatur
269
Personen- und Sachregister
277
Einleitung Der Staat ist die wichtigste Handlungseinheit im internationalen System. In ihm trifft er mit anderen Staaten zusammen, mit denen er zur Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung um Macht und Einfluß ringt. 1 Dabei können Konflikte entstehen, in denen sein Handeln, gleich ob mit physischer oder psychischer Gewalt, f ü r eine längere Zeit gebunden wird. Der Staat ist mit einer außenpolitischen Herausforderung konfrontiert, auf die er antworten muß, wenn er sich nicht selbst aufgeben will: Wie verhält er sich in einer außenpolitischen Konfliktsituation ? Eine Analyse dieses Verhaltens kann mit einer institutionellen, psychologischen und/oder sozio-ökonomischen Analyse der Gesellschaft die Entscheidungen von Regierung, Parlament, Parteien, Interessengruppen usw. zum Mittelpunkt haben. Sie kann aber auch versuchen, das »politische Klima« zu erfassen, das bestimmte Entscheidungen erst ermöglicht und andere ausschließt; sie kann die Bandbreite des kulturell, geistig oder psychologisch Möglichen messen; sie kann den Rahmen abstecken, in dem sich die Außenpolitik des Staates bewegt. In dieser Arbeit wird es mit der Analyse des »politischen Klimas« u m die Bestimmung der Grundorientierung gehen, die ein Staat zu seiner Selbsterhaltung im internationalen System einschlägt. Frankreich in derZeit zwischen 1946 und 1948 bietet für eine solche Untersuchung in mehrfacher Hinsicht günstige Voraussetzungen. Der Ausbruch des Ost-West-Konflikts war f ü r Frankreich eine außenpolitische Herausforderung, die den Rahmen des »Normalen« zu sprengen schien, die alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens erfaßte: Die objektive wie die subjektive Bedeu1
Den gleichen Ausgangspunkt nehmen A R O N , R . : P a i x et guerre entre les nations. Calman-Levy, 3. Aufl. 1962, S. 17 u. 18, u n d R E N O U V I N , ] ' . / D U B O S E L L E , J.-B.: Introducticn ä l'histoire des relations internationales. Colin 1964, S. 1, hier zitiert f ü r viele andere. 2
2
Einleitung
tung dieses Konflikts war sehr hoch. Die Antwort auf die Herausforderung bestimmte die politische, wirtschaftliche und soziale Grundorientierung der Nation mindestens für die nächsten zwanzig Jahre. Im internationalen System machten die geographische Lage, das wirtschaftliche und das menschliche Potential aus Frankreich einen mitbestimmenden Faktor in der beginnenden Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Es war sowohl im Innern in der wichtigsten Konfliktursache, in den ideologischen Gegensätzen, als auch im Äußeren im wichtigsten Konfliktanlaß, im Deutschlandproblem, stark engagiert. Am 20. Januar 1946 markierte der Rücktritt des ersten Chefs der Provisorischen Regierung, General de Gaulle, das Ende der Kriegseintracht zwischen den politischen Kräften, das Ende der Festlegung auf nichtkontroverse Ziele wie die nationale Befreiung und den militärischen Sieg. Es war zugleich der Beginn einer Phase, in der die Führung der Außenpolitik von den Diskussionen und Entscheidungen der politischen Gruppen in Frankreich wieder direkt abhing. Stärkeverhältnisse und Machtstrukturen waren noch so wenig gefestigt, daß sowohl eine Mehrheit der Mitte als auch eine eindeutig linke oder rechte Mehrheit wenigstens potentiell möglich schien. Der Herrschaftsapparat war nach dem Umbruch durch die Befreiung noch relativ wenig verfilzt. Auf den meisten Ebenen des Willensbildungsprozesses war noch eine große Publizität und Transparenz gegeben. 2 I n der Außenpolitik wurde diese erste Phase im Juni 1948 mit der Annahme der Londoner Empfehlungen zu der für Frankreich zentralen Deutschlandfrage abgeschlossen. In der Innenpolitik verbreiterte der Sturz der Regierung Schuman am 19. Juli und die Bildung der Regierungen Marie und Queuille am 24. Juli und 11. September 1948
2
Als eklatantestes Beispiel dafür sei hier nur die »Entdeckung« des Briefes von General Billotte an M. Schumann anläßlich der Bildung der Regierung Gouin angeführt: ELGEY, G.: La République des illusions 1945—1951 ou la vie secrète de la IV. République. Fayard 1965, S. 8 u. S. 102 f., durchdrungen von der Bedeutung dieses Dokuments, glaubt, seine Existenz sei bis dahin unbekannt geblieben. Sie irrt, denn M. Schumann selbst hat die wesentlichen Absätze des Briefes am 22. 6. 1948 im AUBE veröffentlicht. Er nannte damals nur nicht den N a m e n des Generals. — Man kann davon ausgehen, daß in, einem politischen und sozialen System wie dem französischen in den ersten Jahren nach der Befreiung der größte Teil der »Geheimnisse« in der Presse veröffentlicht wurde. Sie wurden nur in ihrer historischen Bedeutung nicht erkannt und gingen dem Bewußtsein der Öffentlichkeit, der Politiker und der Wissenschaftler verloren.
Einleitung
3
die Basis der Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung so eindeutig nach rechts, daß auch in der Struktur des innenpolitischen Kräftefelds die grundsätzliche Orientierung der Außenpolitik sichtbar wurde. Diese Arbeit beschäftigt sich also mit dem Verhalten eines in seinen politischen Strukturen noch relativ beweglichen und transparenten Staates mittlerer politischer, wirtschaftlicher, geographischer und militärischer Größe während eines Zeitraums von zweieinhalb Jahren in einer außenpolitischen Konfliktsituation von objektiv und subjektiv fast säkularer Bedeutung. Das Verhalten eines Staates in einer außenpolitischen Konfliktsituation kann von verschiedenen politologischen Konzeptionen her betrachtet werden. So können zum Beispiel die institutionellen, die macht- und interessenpolitischen, die sozialpsychologischen oder die gesellschaftlichen Aspekte seines Verhaltens im Mittelpunkt stehen. Sein Handeln kann aber auch unter einem allgemein systemtheoretischen Ansatz untersucht werden. Innerhalb der Systemtheorie wiederum kann mit verschiedenen Modellvorstellungen gearbeitet werden.3 Diese Arbeit wird sich am kybernetisch-kommunikationstheoretischen Modell von Karl W. Deutsch orientieren.4 Der Staat wird als ein System begriffen, das durch Kommunikatior im Innern zusammengehalten und nach außen zum Handeln befähigt wird.5 Die Kommunikation mit der (internationalen) Umwelt geschieht durch den Empfang, die Verarbeitung und die Aussendung von Informationen aller Art. Sie umfassen festgestellte und vermutete Daten über die Umwelt des Systems und über sein eigenes Verhalten und zugleich auch die Interpretation solcher Daten im Hinblick auf die Motive des Handelns anderer Systeme sowie die gewünschte Interpretation, die das eigene Handeln von anderen Systemen erfahren soll. Die Informationen bilden ein »dichtes Netz von Botschaften, Wahrnehmungen und Erwartungen«,6 die das fremde Handeln erklären und das eigene begründen.
3
4
5
Etwa die strukturell-funktionale Analyse, die input-output-Analyse, die Verteilungsanalyse oder die Gruppenanalyse, vgl. dazu Y O U N G , O . R . : Systems of Political Science. Englewood Cliffs (Foundation of Modern Political Science Series) 1968 DEUTSCH, K . W.: The Nerves of Government. Models of political communication and control. New York/London 1966 vgl. F A G E N , R . R . : Politics and Communication. An analytic study. Boston 1966, S. 4; DEUTSCH, K . W . : op. cit., S. 77
6
F A G E N , R . R . , o p . c i t . , S. 5 2*
4
Einleitung
Das Handeln ist auf die Verwirklichung von Zielen gerichtet. 7 Das System befindet sich in einem Zustand ständiger Spannung oder in einem latenten Ungleichgewicht, der durch wiederholte äußere Reize — etwa durch eine außenpolitische Herausforderung — hervorgerufen wurde. Es hat die Neigung, das innere Ungleichgewicht durch die Verwirklichung bestimmter Ziele zu verringern oder aufzuheben, um sich dem Zustand eines (hypothetischen) Gleichgewichts anzunähern. 8 Ein Ziel ist ein vom System angestrebter Umweltzustand, von dem es aufgrund früherer und gegenwärtiger Informationen annimmt, daß die Verwirklichung dieses Zustands eine Verminderung der durch wiederholte (außenpolitische) Reize hervorgerufenen inneren Spannung herbeiführt. 9 Die Verwirklichung der Ziele strebt das System innerhalb bestimmter Werte an. Werte sind »kulturelle oder institutionelle Präferenzen«, »Abneigungen und Assoziationen«, die, verbunden mit wichtigen Erinnerungen und emotional festgelegten Reaktionsweisen, das Muster bilden, nach dem das System das Maß seiner Aufmerksamkeit gegenüber neuen Informationen bestimmt und nach dem es handelt. Sie sind die »Regeln«, nach denen das System bei der Verwirklichung seiner Ziele verfährt. 1 0 Werte müssen von Wertvorstellungen unterschieden werden. 11 Während Werte bereits vom System akzeptierte Regeln sind, haben Wertvorstellungen (noch) Zielcharakter. »Nationale Größe und Unabhängigkeit« etwa ist ein Wert bzw. eine Regel, die das System akzeptiert hat und die es bei der Verfolgung seiner Ziele, z. B. bei der Verwirklichung der »Sicherheit«, beachtet. Teile des Systems (oder das System selbst als Teil des internationalen Systems) können aber auch darauf hinarbeiten, daß das System allein (oder das internationale System insgesamt) bei der Verwirklichung seiner Ziele den Wert z. B. des »Internationalismus« beachten soll. »Internationalismus« wäre dann eine Wertvorstellung, die Zielcharakter besitzt. Sie unterscheidet sich zwar qualitativ von Zielen wie »Sicherheit« oder »Wirtschaftshilfe«, kann aber, solange sie noch angestrebt wird, d. h. solange sie als Wert des außenpolitischen Handelns noch nicht akzeptiert ist, wie 7
Hier trifft sich Deutach mit P A B S O N S , T . : Einige Grundzüge der allgemeinen Theorie des Handelns, in: Hartmann, H. (Hrsg.): Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. Stuttgart 1967, S. 155
8
v g l . DEUTSCH, K . W . : o p . cit., S. 9 1 f.
9
vgl. dazu
PABSONS,
T.: Grundzüge, op. cit., S. 156
10
v g l . DEUTSCH, K . W . : op. cit., S. 9 4 ff. u n d
"
DEUTSCH, K . W . : o p . cit., S.
180
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Einleitung
5
diese nur innerhalb der bestehenden Werte bzw. Regeln verwirklicht werden: Ein Staat, der den Internationalismus zur Regel des internationalen Systems machen will, wird bis zur Durchsetzung dieses Werts und für dessen Durchsetzung innerhalb der alten (nationalstaatlichen) Werte handeln müssen. Ziele werden auf der für diese Arbeit praktikabelsten Abstraktionsstufe untersucht. Auf einer noch höheren Stufe könnte etwa das allgemeine Ziel jeden Systems, das Überleben, definiert werden. Die hier genannten Ziele würden dann den Charakter von Sekundärzielen, Hilfszielen oder auch Mitteln zur Erreichung dieses obersten Ziels erhalten. Entsprechendes gilt für die Stufe unterhalb der hier angesprochenen Ziele und so fort. Damit ist grundsätzlich jedes Ziel unterhalb des Überlebens zugleich auch Mittel (Sekundär- bzw. Hilfsziel). Auf so definierte Sekundärziele wird im Verlauf dieser Arbeit von Fall zu Fall zurückgegriffen werden. Bei dem Bestreben, seine Ziele zu verwirklichen, handelt das System als »sich selbst steuerndes Kommunikationsnetz« bzw. als »Lernnetz«. 12 E s ist in der Lage, auf die außenpolitischen Reize selbstregulierend, d. h. »lernend« zu antworten. »Lernen« bedeutet dabei, daß das System nicht nur ein selbstgesetztes Ziel über einen ständigen Rückkoppelungsprozeß sozusagen einkreisend erreichen kann, sondern daß es auch andere Ziele anvisieren und/oder sich neue setzen kann; daß es darüber hinaus sein Wertemuster — und damit die Regeln fürein Handeln — ändern kann. »Lernen« bedeutet schließlich, daß das System in seinem Innern genügend K r ä f t e freisetzt, die es nach den modifizierten oder neuen Regeln auf die Verwirklichung der modifizierten oder neuen Ziele ausrichten. Die strukturellen Veränderungen sollen es in die Lage versetzen, eine neue, möglichst effektivere Antwort auf einen oder mehrere wiederholte außenpolitische Reize zu geben. 13 Der Staat ist danach ein input-output-System, das, aufgeladen durch den Austausch von Informationen mit der Umgebung, mehr oder weniger anpassungsfähig reagiert. 14 Politik ist im wesentlichen die Steuerung und Koordination menschlicher Tätigkeit zur Verwirklichung bestimmter Ziele innerhalb bestimmter Werte. In dieser Arbeit wird das Frankreich von 1946 bis 1948 als ein politisches System verstanden, das sich aufgrund wiederholter außenpolitischer Reize in einem inneren Spannungszustand befindet, den es 12
v g l . DEUTSCH, K . W . : o p . cit., S. 8 0
13
v g l . D E U T S C H , K . W . : o p . c i t . , S . 9 2 f f . u. 1 6 4 f f .
14
v g l . F A G E N , R . R . : o p . c i t . , S. 1 1
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durch die Verwirklichung von bestimmten außenpolitischen Zielen innerhalb bestimmter Werte verringern muß. Mit dem Ausbruch des Ost-West-Konflikts wurde Frankreich gezwungen, entweder durch Ziel- und/oder Wertmodifikationen und darauf bezogene Strukturveränderungen zu »lernen« oder durch äußeren Eingriff bzw. durch inneren Zusammenbruch zugrunde zu gehen. Da der französische Staat 1946/48 nicht zugrunde gegangen ist, lautet die Kernfrage nicht, ob er gelernt hat, sondern was und wie er gelernt hat. Zur Beantwortung dieser Frage müssen drei Schritte unternommen werden: Der ursprüngliche Zustand des Systems muß analysiert, das Entstehen neuer Wert- und Zielsetzungen muß beobachtet und die strukturellen Veränderungen im Hinblick auf diese neuen Wert- und Zielsetzungen müssen untersucht werden. Wollte man den kommunikationstheoretischen Ansatz von Deutsch im ganzen oder auch nur für Teilbereiche voll ausschöpfen, müßte mit einer großen Menge spezifisch und exakt zu gewinnenden Materials f ü r eine relevante Zahl von Faktoren der Systemanalyse gearbeitet werden. Das kann und will diese Arbeit, die historisch vorgegebenes Quellenmaterial benutzt, nicht leisten. Sie geht jedoch von der Voraussetzung aus, daß Erkenntniswert auch der Versuch hat, das Modell von Deutsch wenigstens stellenweise einmal mit historischem Material zu füllen, das für einen bestimmten Bereich (Außenpolitik), für ein bestimmtes System (Frankreich von 1946-1948) und für einen bestimmten Fall (Ausbruch des Ost-West-Konflikts) gewonnen wurde. E s geht daher nicht um die Gewinnung exakter Daten, auch nicht um einen neuen Beitrag zur Systemtheorie, sondern um die Benutzung eines theoretischen Modells zur Analyse und zur Beurteilung eines konkreten Falls. Wenn eine Arbeit über das Verhalten eines Staates im internationalen Kraftfeld Aussagen machen will, wird sie Potenzen und Gegenpotenzen, Aktionen und Reaktionen inj internationalen System untersuchen. Eine Arbeit, die einen entscheidungstheoretischen »approach« wählt, wird bei den Aktionen und Interaktionen von Personen, Gruppen und Institutionen innerhalb des politischen Systems ansetzen. Für den kommunikationstheoretischen Ansatz einer Untersuchung des Lernens und der Lernfähigkeit eines politischen Systems bieten sich die Kommunikationskanäle, durch die die Informationen laufen, als Ansatzpunkte an. Dabei wären grundsätzlich drei Kanäle zu berücksichtigen: 15 Persönlich-öffentliche bzw. persönlich-vertrauüche 15
K. W.: op. cit., S. 152, unterscheidet hier zu unscharf nur »face-to-face contacts« von Presse, Rundfunk usw. Anders als Deutsch
DEUTSCH,
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Kontakte wie Gespräche mit Verwandten, Freunden, Bekannten, Untergebenen usw.; unpersönlich-vertrauliche Kontakte durch dienstliche Briefe, Denkschriften, Dossiers usw. und unpersönlich-öffentliche Kontakte über Presse, Rundfunk, Film, Parlamentsreden, Regierungserklärungen usw. Diese Arbeit gewinnt ihr Material in erster Linie aus unpersönlichöffentlichen Kontakten, vor allem aus der Presse, teilweise auch aus dem Rundfunk, dem Film und aus Parlaments-, Parteitags- und Kundgebungsreden sowie Pressekonferenzen. In zweiter Linie wurden Meinungsumfragen als Mittel der Erhellung persönlich-vertraulicher Kont a k t e benutzt. Auf die Verwendung von Briefen, Memoranden, Noten usw. wurde bis auf wenige Ausnahmen verzichtet, da f ü r Frankreich in diesen Jahren von einer sehr hohen Transparenz in den wichtigen zur Diskussion stehenden Themen ausgegangen werden kann. F ü r diese Arbeit ließen sie kaum weitere Einsichten erwarten. D a es nicht um »Entscheidungsprozesse« im engeren Sinne, sondern um »Lernprozesse«, mithin nicht um das Messen von Einfluß, sondern um das Feststellen von Veränderungen im Wert- und Zielbereich und um darauf bezogene politisch-strukturelle Veränderungen innerhalb des Systems geht, ist das entscheidende Kriterium für die Relevanz einer Äußerung nicht das Gewicht, sondern der Inhalt. 1 6 Öffentliche Meinung kann daher im Folgenden im weitesten Sinne verstanden wer-
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unterscheidet FAGEN, R . R.: op. cit., S. 36 ff., institutionell vier Kanäle: Organisationen, Gruppen, Massenmedien und »besondere K a n ä l e zur Artikulation und Verdichtung v o n Interessen«. N a c h dieser Differenzierung würden in dieser Arbeit in erster Linie die Massenmedien untersucht werden. F.'s Definition scheint aber weniger fruchtbringend als die hier verwendete, etwas verfeinerte Deutsch-Definition. Daher braucht auch auf die noch immer nicht entschiedene Diskussion u m den Inhalt des Begriffs »öffentliche Meinung« keine Rücksicht g e n o m m e n z u werden. E s geht eben nicht u m den Wert oder U n w e r t der öffentlichen Meinung im allgemeinen und der Ergebnisse der Meinungsbefragung im besonderen für die Erkenntnis eines historischen Ablaufs oder für die Ermittlung eines Einflusses auf eine politische Entscheidung. Zu diesem Problem im übrigen sehr instruktiv DUROSELLE, J. B.: D e l'utilisation des sondages d'opinion en histoire e t en sciences politiques, in: I n s t i t u t universitaire d'information sociale e t économique. Brüssel 1957, Nr. 3; DUBOSEIXE, J . B.: Sondages et science des relations internationales. in: Sondages, 1958, Nr. 1 — 2; DUROSELLE, J. B . : L'opinion publique et la politique étrangère, in: Les affaires étrangères. Centre des Sciences Politiques de l'Institut d ' E t u d e s Juridiques de Nice, 1959, S. 213 — 234; GIRARD, A . : Manifestation e t Mesure de l'opinion publique, in: Institut universitaire de l'information sociale et économique. Brüssel 1958, Nr. 2 u. 3
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den. 17 Sie umfaßt Umfrageergebnisse ebenso wie formulierte Zeitungsansichten, Parlamentarierreden oder Äußerungen von Regierungsmitgliedern. Sie alle zeugen direkt oder indirekt vom Stand des Lernprozesses in einem politischen System. Gestattet es der Verzicht auf die vertikale Analyse der Entscheidungen, darüber hinwegzusehen, auf welcher Ebene der öffentlichen Meinung diese oder jene Äußerung getan wurde, so ist für die horizontale Analyse der Einfluß auf den Lernprozeß, d. h. die Verbreitung einer bestimmten Ansicht zu berücksichtigen. Nur dann läßt sich der Fortgang und das Ausmaß der Wert-, Ziel- und Strukturveränderungen bestimmen. Nicht das Gewicht zwar, wohl aber die Verbreitung einer bestimmten Meinung ist daher zu beachten. Nicht die Tatsache, daß Herr Bidault als Außenminister, als Inhaber der wichtigsten Position im außenpolitischen Entscheidungsapparat, etwas sagt, gibt seiner Äußerung eine größere Bedeutung als der des Herrn Dupont, sondern daß seine Ansicht als die eines gewählten Repräsentanten des Systems ungleich häufiger aufgenommen, verbreitet und reflektiert wird, ist in diesem Zusammenhang interessant. Bei den Äußerungen etwa eines hohen Beamten im Auswärtigen Amt bestünde der Gewichtsunterschied zu denen des einfachen Bürgers nicht mehr. Ähnliches gilt f ü r die Presse. Der »Einfluß« einer Zeitung (»Wer liest sie?«) hat weniger Bedeutung als ihre Repräsentativität für eine bestimmte Richtung der öffentlichen Meinung (»Was schreibt sie, und wie viele lesen das?«): Die Meinungen im Entscheidungsapparat oder die Qualität der Leserschaft erhalten innerhalb dieses Ansatzes nur zweitrangige Bedeutung. Sie können im Folgenden vernachlässigt werden. Es ist zwar noch nicht gelungen, Gesetzmäßigkeiten in der Meinungsbildung und in der Haltung von Presse und Lesern aufzudecken. Es lassen sich aber für die Zeit von 1946 bis 1948 in Frankreich Tendenzen erkennen und Hypothesen aufstellen. 18 17
Zugrunde liegt hier die Definition von H O V L A U D , C . I . / J A N I S , I. L./ H. H . : Communication and Persuasion. New Haven 1 9 5 3 , S . 6 , Öffentliche Meinung ist danach »an implicit verbal response or 'answer' that an individual gives in response to a particular stimulus situation in which some general 'question* is raised.« Vgl. auch L A N E , R. E . / S E A B S , D. O.: Public Opinion. Englewood Cliffs (Foundation of Modern Political Science Series) 1964, S. 3 f. Für diese Arbeit irrelevant sind die für die Untersuchung des eigentlichen Entscheidungsprozesses sehr nützlichen Differenzierungen von R O S E N A U , J. N . : Public opinion and Foreign Policy. N e w York 1961, S. 19 ff. u. 28 ff. vgl. G I R A B D , A.: L'Opinion publique et la presse. Cours de l'IEP 1958/59, S. 2. Das I F O P stellte für die Zeit von 1946—1948 einige Korrelationen KELLEY,
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Die Gewohnheit war der Hauptgrund f ü r den Erwerb und die Lektüre einer bestimmten Zeitung unter den regelmäßigen Zeitungslesern. Die politische Orientierung des Blattes war erst in zweiter Linie ein Kaufgrund. Die Leser in Paris und in der Provinz zeigten ein unterschiedliches politisches Interesse. Während sich 28% der Leser einer Regionalzeitung überhaupt nicht für Politik interessierten, waren es nur 3% der Pariser Leser. Die außen- und innenpolitischen Informationen wurden nur von 27% gelesen, die Leitartikel nur von 14%; 1 9 zwar ohne wesentliche Unterschiede nach Berufsgruppen, aber abhängig von der Ausbildung. 20 Der Prozentsatz der Leser, die sich um Differenzierung und Meinungsbildung bemühten, war also relativ niedrig. Noch weniger dürfte die Zeitung lediglich als Informationsmittel für die Formulierung einer eventuell auch von ihr abweichenden Meinung benutzt worden sein. J e komplexer die Situation war, desto direkter war der Einfluß der Presse auf die Meinungsbildung der Leserschaft, desto größer die Identität von Zeitungsmeinung und Lesermeinung. 21 Diese Identität zeigte zwar im einzelnen durchaus Gradunterschiede, 22 im allgemeinen war jedoch für die Zeit 1946 bis 1948, gleich ob es sich um innenpolitische, außenpolitische oder wirtschaftliche Fragen handelte, »eine große Übereinstimmung zwischen den Positionen der verschiedenen Zeitungen zu bestimmten Fragen
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fest, vgl. Sondages, 1955, Nr. 3, S. 36 ff. Vgl. ferner die Übersicht von KLAPPER, J . T . : The Effects of Mass Communication. Glencoe ( I I I . ) 1960, Teil I. vgl. Sondages, 1955, Nr. 3, S. 43; in Paris für sich genommen lasen 50% die außen- und innenpolitischen Informationen »regelmäßig«, 2S% »manchmal«. Der Leitartikel wurde von 44% »regelmäßig« bzw. 3r