Auf den Spuren großer Namen: Ost-West. Europäische Perspektiven 4/2023 3791734148, 9783791734149

Begriffe wie Heimat und Identität, Herkunft und Zughörigkeit bleiben gerade in Umbruch- und Krisenzeiten von hoher Bedeu

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German Pages 80 [83] Year 2023

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Table of contents :
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Editorial
„Das Leben ist manchmal auch anderswo“ – Herkunft und Ankunft
Das verlorene Haus. Marc Chagall und sein Witebsk
Wem gehört der Erfinder Nikola Tesla?
Helene Fischer und die drei Fäden ihrer Herkunft
Interview: Wenn man aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt an der Oder kommt Ein Gespräch mit dem Autor Dirk Oschmann
Madeleine Albright: Weltpolitik mit Prager Wurzeln
Kaiser Konstantin der Große und Niš
Frédéric Chopins Musik und die polnische Heimatliebe
„Noch‘n Gedicht“ – Der Komiker aus Riga
Czernowitz – Stadt der Dichterinnen und Dichter
Ein Kölsche Jung aus Gliwice
Weiterführende Lektüre
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Auf den Spuren großer Namen: Ost-West. Europäische Perspektiven 4/2023
 3791734148, 9783791734149

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Impressum Herausgeber: Renovabis, Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, Pfarrer Prof. Dr. Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer, Domberg 38/40, D-85354 Freising, Tel.: 08161 / 5309-0, Fax: 08161 / 5309-11 [email protected] · www .renovabis.de und Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), Marc Frings, Generalsekretär, Schönhauser Allee 182, 10119 Berlin, Tel.: 030 / 166380-600 [email protected] · www.zdk.de Redaktion: Gemma Pörzgen, Berlin (Chefredakteurin) · Prof. Dr. Thomas Bremer, Münster · Matthias Dörr, Freising · Dr. Matthias Kneip, Regensburg · Joachim Sauer, Freising · Redaktionelle Mitarbeit: Joachim Henn, Thomas Hartl. Anschrift: Redaktion „OST-WEST. Europäische Perspektiven“, Renovabis, Domberg 27, D-85354 Freising Tel.: 08161 / 5309-70, Fax: 08161 / 5309-44 [email protected] · www.owep.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung bzw. die Ansicht der Autorin/des Autors wieder und stimmen nicht unbedingt oder in jedem Fall mit der Meinung der Redaktion überein. Erscheinungsweise: 4 x im Jahr, Ende Januar, April, Juli und Oktober. Bezugspreis: Einzelheft 7,50 € Jahresabonnement 22,80 € (jeweils zzgl. Versandkosten). Bezugsbedingungen: Bestellungen sind an den Verlag zu richten; die Kündigung eines Abonnements ist bis sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums {nur schriftlich) möglich, ansonsten verlängert sich dieses um ein weiteres Jahr. Verlag und Anzeigenverwaltung: Verlag Friedrich Pustet Gutenbergstraße 8, D-93051 Regensburg Tel. 0941 / 92022-0 · Fax 0941 / 92022-330 [email protected] · [email protected] www.verlag-pustet.de ISSN 1439-2089 ISBN 978-3-7917-3414-9 eISBN 978-3-7917-7428-2 (pdf)

Inhaltsverzeichnis Auf der Vorderseite des Heftes: Nikola Tesla auf einem Wandgemälde in Osijek/Kroation (picture alliance / Pixsell / Dubravka Petric) – Gesamtgestaltung des Umschlags: Martin Veicht

Editorial

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Iris Wolff „Das Leben ist manchmal auch anderswo“ – Herkunft und Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Viktor Martinowitsch Das verlorene Haus. Marc Chagall und sein Witebsk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Thomas Bremer Wem gehört der Erfinder Nikola Tesla?

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Merle Hilbk Helene Fischer und die drei Fäden ihrer Herkunft 265

Interview: Wenn man aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt an der Oder kommt Ein Gespräch mit dem Autor Dirk Oschmann .

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Miroslav Kunštát Madeleine Albright: Weltpolitik mit Prager Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rastko Jović Kaiser Konstantin der Große und Niš

Marek Frysztacki Frédéric Chopins Musik und die polnische Heimatliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gemma Pörzgen „Noch‘n Gedicht“ – Der Komiker aus Riga

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Martin Treml Czernowitz – Stadt der Dichterinnen und Dichter 304 Thomas Urban Ein Kölsche Jung aus Gliwice

Weiterführende Lektüre

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Editorial Prägt der Ort, an dem ein Mensch geboren wurde, auch seine Persönlichkeit? Vermutlich ist es nicht so sehr der Geburtsort, sondern eher der Kontext, in dem man aufwächst und die entscheidenden Jahre seiner Kindheit und Jugend verbringt – das muss ja nicht notwendig mit dem Geburtsort zusammenfallen. Doch den Ort seiner Geburt kann man nicht mehr ändern, er bleibt mit einem verbunden, bis hin zu seiner Nennung in der Sterbeurkunde. In diesem Heft wollen wir den oft überraschenden mittel- und osteuropäischen Geburtsorten von bekannten Persönlichkeiten nachgehen. Unser Spektrum reicht dabei von der Antike bis in die Gegenwart – vom römischen Kaiser Konstantin, der nicht in Italien, sondern im heutigen Serbien geboren wurde, bis zum deutschen Schlagerstar Helene Fischer, die in Sibirien zur Welt gekommen ist. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihr Herkunftsort auch für ihr späteres Leben prägend war, selbst wenn sie dort nur relativ kurze Zeit verbracht haben. Mit der Frage nach dem Geburtsort sind auch Themen wie Heimat, Zugehörigkeit oder Identität verbunden. Diese Begriffe sind im Unterschied zum Geburtsort nicht eindeutig, sondern sie können sich entwickeln und ändern. Zudem werden sie Menschen nicht selten von außen zugeschrieben und sind mit positiven oder negativen Vorurteilen verbunden, wie einige unserer Beispiele zeigen. Um die Hintergründe dieser Zusammenhänge zu verdeutlichen, haben wir auch zwei Beiträge ins Heft aufgenommen, die sich näher mit Herkunft und Wahrnehmung befassen. Und noch ein Hinweis aus der Redaktion: Mit diesem Heft verabschieden wir unser Redaktionsmitglied Prof. Dr. Thomas Bremer, der seit der Gründung dieser Zeitschrift in der Redaktion mitgearbeitet hat und jetzt in den Ruhestand getreten ist. Wir danken ihm sehr herzlich für seinen langjährigen Einsatz und für seine Mitarbeit! Mit dem nächsten Heft wird Dr. Regina Elsner, Theologin und Orthodoxiespezialistin aus Berlin, in die Redaktion eintreten – wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihr!  Die Redaktion

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Iris Wolff

„Das Leben ist manchmal auch anderswo“ – Herkunft und Ankunft Die Schriftstellerin Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn. Heute lebt die Autorin zahlreicher Romane, darunter zuletzt „Die Unschärfe der Welt“, in Freiburg im Breisgau. Ihr literarisches Schaffen wurde mit vielen Preisen geehrt, unter anderem mit dem Marieluise-­ Fleißer-Preis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Adalbert-von-Chamisso-Preis.

Herkunftsorte werden zu Referenzräumen des Schreibens, weil sie verlorene Orte und Möglichkeitsräume sind. Dann wiederum können sie zum Mittelpunkt eines literarischen Werks werden, weil sie nie verlassen wurden.

Aneignung und Deutung „Landschaft die mich / erfand“, beginnt ein Gedicht der Lyrikerin Rose Ausländer über ihre Herkunftsregion, die Bukowina. Der „Viersprachenort“, an dem Deutsch, Jiddisch, Rumänisch und Ukrainisch gesprochen wurde, gehörte zum Fürstentum Moldau, dann zur Habsburger Monarchie und ist heute zwischen der Ukraine und Rumänien aufgeteilt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bukowina kaum mehr als ein Mythos, am Leben gehalten in der Literatur, etwa von Alfred Margul-Sperber, Selma Meerbaum, Paul Celan und Rose Ausländer. Die Dichterin spricht nicht von Prägung oder Herkunft, sondern wählt das Wort „erfand“, in dem andere Worte anklingen: dichten, entwerfen, vorstellen, phantasieren,­ ­gestalten, formen. Die Verbindung von Herkunft und Dichtung wird zum Kreis, zu einer sich bedingenden Bewegung  – Rose Ausländer geht in ­ihrer Dichtung an die Orte zurück, von denen sie erfunden wurde, und erfindet daraus Literatur. 242

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Orte und Menschen

Identität wird von Familie und Freunden, von gesellschaftlichen und politischen Systemen, Ideen und Lektüren bestimmt, aber eben auch ganz wesentlich von Landschaft. Es gibt ein bestimmtes Licht, Klänge und Gerüche, die ein Leben lang von den Orten sprechen, an denen man aufgewachsen ist; Erlebnisse sind daran geknüpft, Sagen, Sprichwörter. Man muss an sie zurückgehen (physisch oder in der Erinnerung), um herauszufinden, was einen zu dem Menschen gemacht hat, der man heute ist und auch: wer man sein möchte. „Was das Gedächtnis hergibt, sind nur Orte, doch treten diese mit so großer Deutlichkeit hervor, als sei jedes dort gesprochene Wort, jede dort erlebte Empfindung Stoff geworden, Stein, Blattgrün und Wasserschleier, als sei es nur nötig, das Außen zu beschwören, um alles andere wieder G ­ estalt werden zu lassen“, schreibt die Schriftstellerin Marie L ­ uise Kaschnitz in ihrem Buch „Orte und Menschen“. Sie bezeichnete sich selbst als „ewige Autobiographin“, ihre Phantasie, ihre Vorstellungskraft war an bestimmte Lebensthemen und Orte geknüpft. In dem 1966 veröffentlichten Prosaband „Beschreibung eines Dorfes“ erschafft Kaschnitz ein Bild des in Süddeutschland gelegenen Ortes Bollschweil. Waldränder, Wasserläufe, Schwalbenflugvorbereitungen, Häuser, Straßen, Kirchen­ glocken, Obstbäume – alles wird im Ton des Hypothetischen, bloß Mög-

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Bukowina in der Literatur lebendig. (Imago / H. Tschanz-Hofmann)

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Iris Wolff

lichen beschrieben, als ob es darum ginge, der zuletzt imaginierten Katastrophe die Kraft des Erinnerns entgegenzuhalten. In Karlsruhe geboren, in Potsdam und Berlin aufgewachsen, kam Kaschnitz erst im Alter von sechzehn Jahren nach Bollschweil und ging 1922 bereits wieder fort, um in Weimar eine Ausbildung als Buchhändlerin zu beginnen. Sie kam immer wieder zurück, heiratete im Ort, fand Zuflucht nach dem Krieg und wurde 1974 im Familiengrab beigesetzt. Bollschweil ließ sie nie los. Ich glaube, weil es in der Kindheit und Jugend eine Zugehörigkeit gibt, eine spielerisch-schöpferische Durchlässigkeit, Wachsamkeit, die es erlaubt, sich die Welt anzueignen und zu deuten. Aneignung und Deutung, nichts anders ist Schreiben. „Verlustkataloge“ gegen das Vergessen Herkunftsorte hinter sich zu lassen, bringt die Erfahrung mit sich, dass alles nur auf Zeit zu einem gehört: Freunde, Familie, Dinge, Lebensentwürfe; aber auch die Erkenntnis, das Wesentliche in der Erinnerung mitnehmen zu können. Der in Rumänien geborene ungarische Autor György Dragoman sagte in einem Gespräch bei den Europäischen Literaturtagen 2020, dass er „Verlustkataloge“ anlegte, um nichts zu vergessen, als er mit seiner Familie aus Siebenbürgen nach Ungarn zog. Die Inventur der zurückgelassenen Dinge erstreckte sich auf Porzellan, Möbel, Zimmer, Gassen, die ganze Stadt. Dieses „Erinnerungsspiel“ formte das Denken und blieb erhalten, weit über die Ausreise hinaus. Überführt man solche Orte (einzelne Häuser, ganze Städte) in Literatur, werden sie wieder lebendig, zugehörig, und mehr noch, sie werden zu einem Raum, den Leserinnen und Leser in ihrer Phantasie betreten können. Ein gutes Buch, sagte der russische Autor Vladimir Nabokov in seinen Vorlesungen über Literatur, lese man „nicht so sehr mit dem Gehirn, sondern mit der Wirbelsäule.“ In der Poesie Eine glückhafte Lektüre bedeutet geht es um das Erleben. Lesen ist kein reimmer auch inneren Nachvollzug, die zeptives, passives Tun, sondern eine schöpAnwesen­heit an den erzählten Orten. ferische Tätigkeit. Eine glückhafte Lektüre bedeutet immer auch inneren Nachvollzug, die Anwesenheit an den erzählten Orten. Doch ob es diese Orte, von denen Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen, wirklich gibt? Literarische Orte sind nach den Worten des indischen Theoretikers Homi K. Bhabha eine Art „Dritter Raum“, ein imaginäres, halb wirkliches Territorium, in dem Menschen unterschiedlichster kultureller Prägung 244

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Orte und Menschen

zusammentreffen. Literatur ist keine heimatkundliche Vermessung, kein Geschichtsunterricht. Herkunftsorte sind flüchtige, schwebende Räume, die Anziehungspunkt für das literarische Schaffen bleiben können und doch gleichzeitig etwas sind, was man hinter sich lassen will. Verlassene Orte sind Möglichkeitsräume „Ich schreib mir das Leben / her, schreib mir das Leben weg“, lautet das „Selbstportrait“ des im Banat geborenen und acht Wochen nach der Auswanderung in Frankfurt am Main durch Suizid verstorbenen Dichters Rolf Bossert. Man nimmt die Herkunft mit, sie beschwert die Zunge in dem fremden Idiom, sie ist eingenäht in Kleidung und Schuhe. Menschen lassen Orte zurück, wechseln mitunter ihre Denk- und Schreibsprache, Gegenstände reisen mit, Geschichten, Lieder, Sprichwörter. Sie geben Halt in der zunächst fremden Welt, in die man nicht ganz hineinpasst. Verlassene Orte sind Möglichkeitsräume. Es war ein anderes Leben für einen vorgesehen, und auch wenn es gelingt, sich ein neues zu erfinden, bleibt die Frage: Wer wäre man geworden, wenn man geblieben wäre? Dieser Konjunktiv, dieses andere, angefangene und zurückgelassene Leben, das In der Literatur gibt es eine stille sich auf merkwürdige Weise in der Erinne- Übereinkunft, die erzählte Welt mit all rung verselbstständigt, ist ein Verweis auf ihren Orten und Menschen, wenn nicht den Möglichkeitspakt, den Schreibende als wahre, dann als wahrhaftige, als und Lesende eingehen. In der Literatur gibt mögliche Welt zu betrachten. es eine stille Übereinkunft, die erzählte Welt mit all ihren Orten und Menschen, wenn nicht als wahre, dann als wahrhaftige, als mögliche Welt zu betrachten. Was erzählt wird, hätte sich so zutragen können. Das reicht. Würde man darauf beharren, Literatur müsse die sogenannte Wirklichkeit oder Realität verhandeln, beraubt man sie ihres Spielcharakters, ihrer ästhetischen Erkenntniskraft, die oft genug die Schreibenden selbst überrascht. „Josephstraße, Arkońska-Straße 3, Stary Sącz am Abend“  – die ­Gedichte des polnischen Lyrikers und Essayisten Adam Zagajewski be­ inhalten oft bereits im Titel Ortsbeschreibungen. In dem Gedicht „Musik der niederen Sphären“, folgt auf den Titel die in Klammern gesetzte ­Erläuterung: „Ich gehe durch die Karmelicka-Straße“. Das lyrische Ich beobachtet Spatzen, stellt fest, dass Regen aufzieht, erinnert sich an eine Katze, eine Flugreise, Gerüche der Kindheit; Sätze tauchen auf, scheinbar ohne Zusammenhang, und aus diesen beiläufigen Wahrnehmungen OST-WEST 4/2023

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und ­Gedanken trifft einen die letzte Zeile gänzlich unvorbereitet: „Wenn ich mein Herz öffnen könnte.“ Eben noch schmilzt Erdbeereis auf dem Asphalt und dann dieser bezwingend-gefühlvolle Satz. Er wurde, ohne dass ich es als Leserin bemerkte, von Vers zu Vers vorbereitet. Schon die Spatzen aus der ersten Zeile wussten um ihn, auch der nahende Regen und die frühe Dämmerung. Es ist der Ort selbst, der diesen Satz hervorholt, hervorbringt, ihn geradezu von dem Dichter fordert.

Die Dichtung des polnischen Schriftstellers Adam Zagajewski ging immer wieder an die Orte seiner Herkunft zurück. (Imago / Zuma Press / Artur Widak)

Zagajewskis Gedichte sind Suchbewegungen in der Sprache und ohne die dazu gehörenden Orte, Menschen und Erinnerungen nicht denkbar. Auch in der Zeit seines Pariser Exils (von 1976 bis 1989 durften seine Gedichte in Polen nicht veröffentlicht werden) geht seine Dichtung an die Orte seiner Herkunft zurück. Dennoch ist es Literatur, die sich nationalen Zugehörigkeiten und Vereinnahmungen verweigert, es sind überzeitliche Räume, die betreten werden können – um Sätze zu finden, die durch die Wirbelsäule gehen. 246

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Herkunftsorte werden zu Referenzräumen des Schreibens, weil sie verlorene Orte und Möglichkeitsräume sind. Dann wiederum können sie zum Mittelpunkt eines literarischen Werks werden, weil sie nie verlassen wurden. Dem Schweizer Autor Gerhard Meier reichte die alltägliche Welt seines Geburtsortes Niederbipp  – fiktionalisiert als Amrain  –, um die ganze Welt in sie hineinzuholen. „Existieren durfte ich im Verborgenen. / Und meine Schreibe ist ein bisschen daneben. Das Leben ist manchmal auch anderswo. Vielleicht im Rauschen russischer Weiten?“ schreibt Meier in seinen biografischen Skizzen. Seine Romane sind weniger durch Handlung und Figurenzeichnung geprägt  – Schauen, Reden, Spazieren, Erinnern reichen aus. Gegenstück zur Schweiz ist dabei ein erträumtes Russland mit seiner Musik und Weite, seinen Dichtern. Aus ähnlichen Kraftfeldern entstanden die Romane und Kurzgeschichten des Schriftstellers Hermann Lenz: seiner schwäbischen Heimatregion und dem Sehnsuchtsort Wien um die Jahrhundertwende. Die Protagonisten sind mit ihren Herkunftsorten durch eine tiefe Zugehörigkeit verbunden, wobei immer auch die Ahnung einer Vorläufigkeit, Endlichkeit mitschwingt: „Er ging über die Brücke des Burggrabens, sah aufs Schloss, das vom Weil die Autoren Meier und Lenz das Licht hell war, und dachte: dorthin gehörst Alltägliche, Nächstliegende zum du. Eine Weile noch darfst du hier sein“, so Gegenstand des Schreibens machen und gleichzeitig von einem „anderswo“ Lenz in seiner Erzählung „Der Letzte“. Auch wenn Meier und Lenz die Orte träumen, liegt jeder Text zwischen zwischen Herkunft und Sehnsucht schrei- Bekanntem und Unbekanntem, Aufbend kaum je verließen, ist ihre Literatur bruch und Ankunft. von Offenheit und Weite geprägt. Weil sie das Alltägliche, Nächstliegende zum Gegenstand des Schreibens machen und gleichzeitig von einem „anderswo“ träumen, liegt jeder Text zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Aufbruch und Ankunft. Wenn ich über Autorinnen und Autoren und ihre Herkünfte nachdenke, an Marica Bodrožić, Saša Stanišić, Nino Haratischwili, Ivna Žic, Katerina Poladjan, Olga Grjasnowa, Ernest Wichner, Alexandru Bulucz, Matthias Nawrat, Lena Gorelik und viele zeitgenössische Schreibende mehr, dann denke ich an Landschaften, Sprachmelodien, Wahrnehmungen der Welt; denke weniger an einzelne Länder und Nationalitäten, sondern an den Mut, nicht sprachlos zu bleiben angesichts des Schweigens, des fortwährenden Verschwindens. Unzählige Leben sind Teil des eigenen Seins, als Erinnerung, Er­ zählung, Erfahrung des Körpers. Der Raum wird zu einer Metapher der OST-WEST 4/2023

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fließenden Zugehörigkeit, Verwobenheit, aber auch des Vorläufigen, Wandelbaren, der Verluste und Hoffnungen. Orte sind geschichtete Zeit, individueller, familiärer Geschichte und überzeitlicher Historie. Wer schreibt, kann diese Schichten abtragen, sinnlich erfahrbar machen, hinterfragt die Narrative, die es in Familien und der Geschichtsschreibung gibt. Die Zeit vergeht schneller als sie (schreibend, deutend) festgehalten werden kann. Aber die Orte warten auf uns, erinnern sich an uns, bewahren Fragen auf, die gestellt werden müssen, immer wieder aufs Neue.

Zum Weiterlesen, Weiterhören, Weiterfragen: Rose Ausländer: Gedichte, Frankfurt am Main, Verlag S.Fischer (Fischer Klassik), 2012 Marie Luise Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1976 Vladimir Nabokov: Vorlesungen über Westeuropäische Literatur, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2014 Rolf Bossert: Auf der Milchstraße wieder kein Licht – Gedichte, Berlin, Rotbuch Verlag, 1986 Adam Zagajewski: Unsichtbare Hand, Gedichte, München, Carl Hanser Verlag, 2012 Gerhard Meier: Baur und Bindschädler. Amrainer Tetralogie, Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag, 2007 Hermann Lenz: Der Letzte, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1984 Ivna Žic: Wahrscheinliche Herkünfte, Berlin, Verlag Matthes & Seitz, 2023 Lena Gorelik: Wer wir sind, Berlin, Rowohlt Berlin, 2022 Katerina Poladjan: Hier sind Löwen, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2019 Das Leben erträumen? Iris Wolff und György Dragomán im Gespräch www.youtube.com/watch?v=Dm3ZKamHEXU

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Viktor Martinowitsch

Das verlorene Haus. Marc Chagall und sein Witebsk Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch, geboren 1977 in Aschmiany, studierte Kunstgeschichte in Minsk und promovierte mit einer Dissertation über die Witebsker Avantgarde. Seit 2005 unterrichtet er Geschichte und Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius, lebt aber in Belarus. Sein Roman „Paranoia“ wurde dort nach Erscheinen 2009 verboten und liegt ebenso wie weitere Werke auf Deutsch vor. Sein Buch „Rodina. Marc Chagall in Vitebsk“ ist bisher nur auf Russisch erschienen.

Was wäre die Odyssee, hätte Odysseus keinen Ort gehabt, an der er hätte zurückkehren können? Das Haus ist der Ort, den der Held nach seinen Taten wieder und wieder aufsuchen will, der Ort, von dem er die Freier verjagt, die seine Gemahlin belagern. Was, wenn es dieses Haus nicht gibt? Was, wenn die Beziehung zum Heimatland, zur Heimatstadt zum größten Drama deines Lebens geworden ist? Kann ein Baum ohne Wurzeln wachsen? Und sind Menschen Bäume? Nicht auszuschließen, dass der wurzellose Mensch nicht verdorrt, sondern zu fliegen beginnt. Genauso scheint es Chagall ergangen zu sein. Einem getreuen Sohn seines verlorenen Hauses.

Witebsk als Erzieher Von seiner Geburt 1887 an verbrachte Chagall 20 Jahre in Witebsk, ehe er nach Petersburg ging, später noch einmal sechs Jahre von 1914 bis 1920. Insgesamt also 26 Lebensjahre, davon die letzten sechs in einer besonders fruchtbaren Schaffensperiode. Wie viele Freundschaften hat er in dieser Zeit geschlossen? Über wie viele Menschen in Witebsk hätte er sich äußern können wie über eine Begegnung mit dem Schweizer Schriftsteller und Abenteurer Blaise Cendrars in Paris, deren Bedeutung für sein Leben er mit der Russischen Revolution verglich? Nur ein Mann findet bei ­Chagall OST-WEST 4/2023

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im Nachhinein positive Erwähnung. Nur mit einem Mann steht er nach seinem Weggang aus der Stadt 1920 noch im Briefwechsel. Nur einen einzigen Witebsker nennt Chagall ohne sardonisches Lächeln „maître“. Dieser Mann ist sein erster Lehrer, Jehuda Pen. Und selbst hier noch bleibt ein Fragezeichen. In seinem Werk „Mein Leben“, das mit sorgsam dosierten Mystifikationen gespickt ist, wie es sich für die Autobiografien großer Genies gehört, erklärt Chagall, er habe bei Pen nur zwei Monate gelernt. „Ich bekam von meinem Vater die fünf Rubel und ging knapp zwei Monate lang in die Schule von Pen zu Witebsk. Was machte ich da? Ich weiß es nicht.“ Als Chagall seine Memoiren schrieb, Tatsächlich waren es nicht zwei Monate, hatte er bereits seine eigene, vom Kubismus und Expressionismus sondern fünf Jahre, von seinem 14. bis zum 19. gleichermaßen weit entfernte Lebensjahr. Und Jehuda Pen erließ ihm schon Handschrift entwickelt. nach kurzer Zeit das Schulgeld, wie er das häufig bei Schülern aus armen Familien tat. Aber Chagall und Pen entstammten unterschiedlichen Welten. Pen tat, was in der Provinz sehr gefragt war. Als Vertreter der realistischen Schule unterwies er auch seine Schüler im Realismus. Als Chagall seine Memoiren schrieb, hatte er bereits seine eigene, vom Kubismus und Expressionismus gleichermaßen weit entfernte Handschrift entwickelt. Wie hätte er da einräumen können, dass sein Weg als Künstler in der Schule eines Realisten begonnen hatte, der die Wirklichkeit penibel kopierte und seine Schüler im Grunde zu Schildermalern heranzog, die appetitliche Mohnsemmeln für die Schaufenster der Witebsker Läden malen sollten? Auch wenn seine Verehrung für Pen so groß war, dass er ihn als Lehrer für die Vorbereitungsklassen der Kunstakademie berief, während alle anderen Dozenten Vertreter „neuer Schulen und Richtungen“ waren und ihn offen herausforderten. 1923 empfahl Chagall von Berlin aus Pen für das Amt des Akademiedirektors, wollte ihm also den Posten vermachen, den er selbst zuvor innegehabt hatte. Aber man folgte seiner Empfehlung nicht, und Pen kam 1937 unter ungeklärten Umständen ums Leben – nicht auszuschließen, dass der sowjetische Geheimdienst NKWD seine Finger im Spiel hatte und dass der rege Schriftverkehr zwischen Pen und dem im Ausland lebenden Chagall eine Ursache für die Ermordung war. Was konnte Chagall von Pen lernen? Gewiss nicht das Kopieren von Stillleben oder die Darstellung von Alltagsszenen, die in Europa schon Ende des 18. Jahrhunderts aus der Mode gekommen waren, sich in Witebsk aber bis ins 20.  Jahrhundert hinein einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Pen war für Chagall wohl weniger Lehrer denn Erzieher, in dem 250

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Marc Chagall und Witebsk

Sinne wie Nietzsche von „Schopenhauer als Erzieher“ sprach. Er lehrte ihn, ein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu entwickeln. Vielleicht brachte er ihm auch bei, die Welt zu sehen. Alle weiteren Schritte auf dem Weg zum Künstler musste Chagall selbst gehen. Er ging sie eher seinem Erzieher zum Trotz. Offenbar bedeutet Erziehung bisweilen gerade zu zeigen, wie etwas nicht geht, damit der Schüler selbst heraus­ finden kann, was seine Handschrift ist. Witebsk als Lehrer Petersburg, die Gesellschaft zur Förderung der Künste und schließlich Paris, wohin Chagall mit einem Stipendium des Mäzens und Duma-Abgeordneten Maxim Winawer reiste, nehmen in den Memoiren des Künstlers ungleich mehr Raum ein. Er ist froh, entkommen zu sein, das wird in diesen Texten deutlich. Das Leben der Bohème begeistert den Mann aus der Provinz, die Bekanntschaft mit Apollinaire und Robert Delaunay verdreht ihm den Kopf. In Paris besucht er die Académie de la Palette und lebt in der Künstler­ kolonie „La Ruche“, wo er rasch seine Eigenständigkeit einbüßt und sich zu einem zweitklassigen, minderbegabten Epigonen fremder Sujets und

Das heutige Museumshaus von Chagall in Witebsk wurde von dessen Vater in den frühen 1900er Jahren gebaut. (Imago / Pond5 Images)

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Bildsprachen zurückentwickelt. Der Einfluss der kubistischen Académie de la Palette zeigt sich nicht allein in Chagalls „Halb vier Uhr“ (19111912), das traditionell mit der Académie in Verbindung gebracht wird, sondern beispielsweise auch in „Trinker“ (1911-1912), „Der heilige Droschkenkutscher“ (1911-1912) oder „Der Dichter Mazin“ (1911-1912). Hier wird das eifrige Bestreben deutlich, dem kubistischen Kanon zu genügen: Fragmentierung der Objekte und Verdrehung der Fragmente, bis sie möglichst überzeugend erscheinen. Aber der Pariser Chagall ist nicht nur ein schlechter Kubist. Der Pariser Chagall ist zudem ein schlechter Cézannist und ein schlechter Fauve. Chagall musste erst nach Witebsk zurückkehren, eine ganze Reihe von Rückschlägen hinnehmen und auf völliges Unverständnis stoßen, um er selbst werden zu können. Im Juni 1914 traf er in Witebsk ein, um Bella Rosenfeld zu heiraten, eine Intellektuelle und Tochter eines vermögenden Witebsker Juweliers. Chagall plante, im September 1914 nach Paris zurückzukehren. Chagalls Gemälde finden keine Käufer – wer sollte auch etwas Der Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. mit ihnen anfangen können in Juli machte diese Hoffnungen zunichte. Chagall einer halb verhungerten Stadt? saß in Witebsk fest wie Jack Torrance im Kubrick-Film „Shining“ im eingeschneiten Overlook-Hotel. Die nachfolgende Oktoberrevolution stürzte seine Schwieger­ eltern in den Ruin. Chagall selbst beschrieb die Enteignung der Rosenfeldschen Reichtümer zwischen Dezember 1919 und dem Beginn des Jahres 1920 wie folgt: „Eines Nachmittags hielten sieben Wagen der Tscheka vor den glänzenden Schaufenstern, und die Soldaten begannen alles aufzuladen, was die drei Läden enthielten, Gold, Silber, Uhren und Edelsteine. Sie sind sogar in die Wohnung eingedrungen, um auch hier nach Schmuck zu suchen. Sie haben sogar aus der Küche das Tafelsilber mitgenommen, das man gerade vom Tisch abgeräumt hatte, vom Tisch, der noch halb gedeckt war.“ Chagalls Gemälde finden keine Käufer – wer sollte auch etwas mit ihnen anfangen können in einer halb verhungerten Stadt? Begünstigt durch Anatoli Lunatscharski, in Paris ein kaum bekannter Kunstkritiker, der erste Lobeshymnen über Chagalls Malerei geschrieben hatte, nun nach der Revolution Volkskommissar für Bildung, erhält Chagall eine Verwaltungsstelle. In seinem Mandat heißt es: „Bevollmächtigter in ­Sachen Kunst im Gouvernement Witebsk“. Ihm obliegt die „Organisation von Schulen, Museen, Ausstellungen“. Das klingt nach einem Erfolg, wenn auch in einem Land, dessen Zeitungen regelmäßig lakonische 252

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Marc Chagall und Witebsk

­ itteilungen über Erschießungen wegen „Versäumnissen beim Ausheben M von Gräben“ veröffentlichen. Aber die Sache ist kompliziert: Chagall ist immer noch ein Parvenu, niemand nimmt den „Kunstkommissar“ ernst. Sein Amt wurde ihm an der Witebsker Regionalverwaltung vorbei vermittelt, die ihn mit allen Mitteln zu verdrängen sucht. Sein erstes großes Projekt als Kunstkommissar ist die Dekoration der Stadt für den ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Chagall wirft alles in die Waagschale, was er in Paris über die „neue Kunst“ verstanden zu haben glaubt. Er versieht Gebäude mit avantgardistischen Wandbildern, stattet sie mit Harlekinen und Papageien aus, kombiniert die Ästhetik der modernistischen „Welt der Künste“ mit linken, nicht repräsentativen Strömungen – sogar ein schwarzes Rechteck ist vertreten. All das gestaltet er mit der ihm eigenen Offenheit unverhohlen nach seinem persönlichen Geschmack. So treten bei diesem offiziellen Anlass Motive aus gerade erst entstandenen Gemälden auf, die so prägend für seine Bildsprache wurden, dass sie bis an sein Lebensende in unterschiedlichen Kombinationen wiederkehrten. „Der Spaziergang“ mit der am Himmel f liegenden Geliebten, ein Lunatscharski gewidmetes Wandbild, ist ein ­

Chagalls Ölgemälde „Above/over Vitebsk“ von 1914 zeigt seine belarussische Heimatstadt. (picture alliance / Godong / Julian Kumar)

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e­ indrückliches Beispiel hierfür. Außerdem veranstaltet er Umzüge, bei denen Proletarier und Parteiaktive angesichts der Papageien und Harlekine ratlos zurückbleiben. Witebsk ist nicht Paris. Und hinter Lunatscharski stehen Lenin und der „rote Terror“. In diesem Fall geht es noch ohne Haftstrafe ab, aber in den roten Zeitungen beginnt man, gegen Chagall zu hetzen. Ihm wird die Ausrichtung der Feierlichkeiten zum nächsten Jahrestag der Revolution entzogen. Im Jahr darauf beschränkt man sich auf Blumenschmuck. Berücksichtigt man die schwierige Wohnungs- und Finanzsituation und den Weggang sämtlicher Schüler (dazu später mehr), wird das Wunder, das Chagall in den Jahren 1919/20 erlebt, verständlicher. Unter dem Druck von Witebsk, den Ärgernissen, dem Unverständnis erwacht der Chagall in Chagall zum Leben. Der Künstler, den wir heute kennen. Der Epigone stirbt. Vorbei ist es mit schwachen Variationen auf ein Matisse-­ Thema, mit verkrampften Cézanne-Tönen und Kubismus. Chagall ersteht. Die Verliebten in seinen Gemälden beginnen zu schweben. An diesem Ort beginnen die Farbkombinationen, für die er heute so berühmt ist: violett und smaragd, rot und blau. An diesem Ort beginnen in der Zeit zwischen 1918 und 1920 sämtliche Motive, die ihn zeitlebens begleiten werden: Kirchen, Hähne, Ziegen, Engel, Geigen. Witebsk hat den Menschen Marc Chagall gekränkt. Es hat ihm genommen, was vor Augen ist. Witebsk hat den Künstler Marc Chagall beschenkt. Es hat ihm gegeben, was dem Auge verborgen bleiben muss. Was ein Genie bereichert. Witebsk als Schüler Wenn die eigenen Landsleute einen nicht verstehen, bleibt einem nur die Wahl, das Land zu verlassen oder sich gute, verständige Landsleute heranzuziehen. Das hatte Marc Chagall wohl auch im Sinn, als er seine Kunstakademie Chagall und Lenin verstanden „Revolutiaufbaute. on in der Kunst“ ganz unterschiedlich. Für kurze Zeit deckten sich seine BeChagall hatte mitnichten vor, eine den ungebildeten Massen verständliche mühungen mit den Absichten der BolscheSprache zu sprechen. Vielmehr sollten wiki, mit den Ausführungen Lenins: Nach sie mit dem Künstler wachsen. der Gesellschaft sollte die Revolution auch die Ästhetik erfassen und ihr alles „Bourgeoise“ austreiben. Nur verstanden Chagall und Lenin „Revolution in der Kunst“ ganz unterschiedlich. Chagall hatte mitnichten vor, eine den ungebildeten Massen verständliche Sprache zu sprechen. Vielmehr sollten sie mit dem Künstler wachsen. Aber nach der Eröffnung der Kunstakade254

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mie kam es im Winter 1919 zum großen Drama. Auslöser war die Einladung von Chagalls Schüler und Freund El Lissitzky an den Künstler Kasimir Malewitsch, als Lehrer nach Witebsk zu kommen. Der hatte sich in Moskau und Petrograd bereits einen Namen gemacht und hoffte nun, in Witebsk seine Schrift „Über die neuen Systeme in der Kunst“ veröffentlichen zu können – in der von Hunger und Niedergang gebeutelten Metropole sah er dazu keine Möglichkeit mehr. In nicht einmal einem Jahr gründet Malewitsch innerhalb der Akademie die suprematistische Vereinigung UNOWIS (Bestätiger der neuen Kunst) und wirbt dafür sämtliche Chagall-Schüler ab. Chagall versuchte, seinen Schülern Die massenhafte Abwanderung der Schüler zu ihrer eigenen Bildsprache zu lässt sich leicht erklären: Chagall hatte bereits verhelfen, indem er sie zum Beispiel seine eigene künstlerische Handschrift entwi- Akte mit ledigllich zwei Farben ckelt, die er niemanden lehren konnte. Wozu malen ließ. auch? Es konnte keine zwei Cézannes, Matisses oder Picassos geben, das wusste er aus eigener Erfahrung. Daher unterrichtete er nach einer komplizierten Methode. Er versuchte, seinen Schülern zu ihrer eigenen Bildsprache zu verhelfen, indem er sie zum Beispiel Akte mit lediglich zwei Farben malen ließ. Sie sollten ihre Sicht allein in Violett und Smaragd ausdrücken. M ­ alewitschs Sprache dagegen war nicht individuell, sondern kollektivistisch. In ihr konnte man aufgehen, nachahmen, Teil der UNOWIS-Kommune werden. „Nach ein bis zwei Monaten in der Malewitsch-Klasse galten die Schüler als komplette Künstler, schlossen sich den UNOWIS-Aktivitäten an und durften Schriften und Bücher mitgestalten. Natürlich galt die Malewitsch-Methode bald als besonders fortschrittlich, da sie binnen kurzer Zeit junge Künstler hervorbrachte – schließlich wollte niemand jahrelang mit kaum sichtbaren Ergebnissen an der Akademie zubringen. Schnelle, messbare Resultate – darum ging es vielen jungen Menschen, die sich dort einschrieben.“ Verkannt und vertrieben Aber Malewitsch riss sich nicht nur Chagalls Schüler unter den Nagel. Auch die Dreizimmerwohnung im Schulgebäude, die Chagall mit seiner Frau und ihrer kleinen Tochter bewohnte, musste er auf Betreiben der Regionalverwaltung räumen. Außerdem erteilte Stadtkommissar Sergijewski dem Kunstkommissar eine Rüge wegen „separatistischer Umtriebe“. Der Künstler wurde regelrecht aus seiner Wohnung gejagt, wie er in „Mein Leben“ schreibt: „Als ich wieder einmal unterwegs war, um Brot, OST-WEST 4/2023

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Farben und Geld heranzuschaffen, revoltierten sämtliche Lehrer und ­zogen in ihren Aufstand auch meine Schüler mit hinein. Gott verzeihe ihnen! Und gestärkt von all dem, was ich mitgebracht hatte, mit Brot und Aufträgen versehen, fassten sie den Beschluss, mich binnen vierundzwanzig Stunden von der Schule zu vertreiben.“ Die Räumlichkeiten waren eigentlich für ein Museum der modernen Kunst vorgesehen, aber Malewitsch nahm sie in Beschlag. Zudem betrug das Gehalt des Stars aus Moskau das Dreißigfache des Gehalts von Direktor und Akademiegründer Chagall. Einer Beschwerde darüber bei der Gewerkschaft wurde nicht stattgegeben. Das alles hätte er ertragen können, hätten seine Schüler auch nach ihrer Hinwendung zu Malewitsch Chagall noch als Künstler respektiert. Aber sie missachteten nicht nur sein Schaffen, sie Chagalls Schüler missachteten nicht übermalten buchstäblich seine Bilder. In Winur sein Schaffen, sie übermalten tebsk verschwanden mehr als ein Dutzend Gebuchstäblich seine Bilder. mälde, die Chagall bei seiner Abreise dort zurückgelassen hatte. Nicht ein einziges seiner für das Museum der modernen Kunst bestimmten Gemälde ist erhalten. Die Erinnerungen eines damaligen Schülers geben Aufschluss darüber, was aus ihnen geworden sein könnte: „Chagall hat seine Leinwände häufig in Einbauschränken im Atelier aufbewahrt. Wenn man die Treppe ins Ober­ geschoss hinaufging, war links eine lange Wand. Da waren die Einbauschränke, dann kam ein halbrundes Vestibül und drei Türen zu den Ateliers der Jermolajewa, Malewitschs und Lissitzkys. In diesen Schränken wurden die Arbeiten aufbewahrt, die besten Arbeiten der Schüler und der Lehrer. Und da gab es viele Leinwände Chagalls. Wenn wir im ersten Stu­ dienjahr keine Leinwand hatten, sind wir da hin und haben uns welche rausgezogen. Gut möglich, dass das Bild so verschwunden ist.» Abschied von der Vergangenheit Als Marc Chagall 1973 als inzwischen renommierter französischer Künstler in die Sowjetunion reiste, um eine Einzelausstellung in der Tretjakow-­ Galerie zu eröffnen, schlug man ihm vor, auch Witebsk zu besuchen. Er lehnte ab und führte verschiedene Gründe an: Erschöpfung, Erkältung. In der UdSSR gab er damals nur ein einziges Interview, das erst 14 Jahre später veröffentlicht wurde. Darin sagte er: „Ich liebe meine Geburtsstadt Witebsk über alles, nicht nur […] weil ich dort ein für alle Mal die Farbe meiner Kunst gefunden habe. Wissen Sie, ich habe lange geschwankt, bis 256

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ich entschieden habe, jetzt auf eine Reise nach Witebsk zu verzichten, obwohl ich mein Leben lang an die Stadt zurückdenke. Ich verzichte gerade, weil ich daran zurückdenke. Denn ich bekäme dort sicherlich etwas anderes zu sehen als das, was ich erinnere, ein anderes Leben. Das wäre ein schwerer Schlag für mich. Es ist so schwer, sich endgültig von seiner Vergangenheit zu verabschieden!“ Chagall malte Witebsker Zäune und Ziegen in die Kuppel der Opéra Garnier, er brachte sie auf den Prospekt für Mozarts Zauberflöte an der Metropolitan Opera, platzierte sie neben dem Eiffelturm am Pariser Nacht- In Witebsk erinnert ein Denkmal an Chagall. himmel. Aber er konnte sich nicht (picture alliance / VisualEyze) dazu entschließen, zu ihnen zurückzukehren. Wusste er doch, dass der von seinen Landsleuten unverstandene Künstler nur in der Fantasie ein Zuhause haben kann. Als ich 2002 meine abgeschlossene Dissertation über Marc Chagall vor der zuständigen Kommission am Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Kunstkritik der belarussischen Staatsuniversität in Minsk verteidigen wollte, war Chagall immer noch unerwünscht. Gleich mehrfach musste ich mit hohem Aufwand Kleinigkeiten ändern, etwa sämtliche Fußnoten in Endnoten umwandeln und diese wiederum in Fußnoten in eckigen Klammern (und das in Zeiten noch unfähiger Textverarbeitungsprogramme), und als ich das alles erledigt hatte, ließ man mich am langen Arm verhungern. Die Verteidigung meiner Chagall-Arbeit in Minsk, der Hauptstadt des Landes, in dem auch Witebsk liegt, wurde einfach nicht angesetzt. Ich musste nach Vilnius wechseln, eine Promotion an der Europäischen Humanistischen Universität beginnen und meine Arbeit als erster externer EHU-Doktorand an der Kunstakademie Vilnius verteidigen. 2008 wurde mir der Doktortitel verliehen, und ich schrieb meinen Debüt­ roman „Paranoia“. So begann mein Fortgang aus dem verlorenen Haus, aus einem Land und einer Kultur, die ich weiterhin über alles liebe. Aus dem Russischen von Thomas Weiler OST-WEST 4/2023

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Wem gehört der Erfinder Nikola Tesla? Thomas Bremer, geboren 1957 in Essen, war von 1999 bis 2022 Professor für Ökumenische Theologie und Ostkirchenkunde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die orthodoxen Kirchen in Ost- und Südosteuropa. Er ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift seit ihrer Gründung.

Die Frage, welche Nationalität der berühmte Erfinder und Elektrophysiker Nikola Tesla hatte, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Er war Sohn serbischer Eltern, die in Smiljan, einem kleinen Ort im heutigen Kroatien lebten. Deshalb erheben Serbien und Kroatien Anspruch auf ihn. Dabei emigrierte Tesla bereits als junger Mann nach New York und verbrachte dort als amerikanischer Staatsbürger den größten Teil seines Lebens. Auch seine Erfindungen und Patente meldete er in den USA an. In der Erinnerung an ihn spiegeln sich wichtige Grundzüge der serbisch-kroatischen Probleme, die bis heute andauern.

Debatte bei Wikipedia Auf dem Titelbild dieser Ausgabe von „Ost-West. Europäische Perspektiven“ ist ein Wandbild zu sehen, das den berühmten Erfinder Nikola Tesla umgeben von elektrischen Entladungen und physikalischen Phänomenen zeigt. Ein Passant geht vorbei, der mit seiner rechten Hand sein Mobiltelefon ans Ohr hält und dadurch zufällig eine ähnliche Armhaltung wie Tesla einnimmt. Rechts unten steht: Nikola Tesla . Die lateinischen Buchstaben zeigen, dass sich das Wandbild in Kroatien befindet. Dasselbe Bild könnte man auch in Serbien finden, allerdings stünde dann in kyrillischen Buchstaben „Hикола Tеслa“ darunter. Wer auf der Suche nach der Biografie des Erfinders den deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag liest, findet dort keine Aussage zu dessen Na­ tionalität. Öffnet man die Diskussionsseite der Internet-Enzyklopädie, so fällt sofort ein rot eingerahmter Hinweis auf: „Die Frage der Nationalität von Tesla war schon mehrfach Gegenstand der Diskussion. Bitte erst das 258

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Archiv lesen und nur bei Vorliegen wirklich neuer Erkenntnisse oder Argumente diese Diskussion von Neuem beginnen.“ Trotz dieses Hinweises thematisieren vier der acht neueren Diskussionsbeiträge sehr wohl die Frage nach Teslas Nationalität. Im serbischsprachigen Wikipedia-Artikel heißt es, Tesla war „ein serbischer und amerikanischer Erfinder“. In der kroatischen Version war er „ein kroatisch-amerikanischer Erfinder und Ingenieur serbischer Abstammung“. Wie kann es sein, dass es auch 80 Jahre nach seinem Tod keine Einigkeit über seine nationale Zugehörigkeit gibt?

Die 5000-Dinar-Banknote im ehemaligen Jugoslawien schmückte das ­Portrait des Erfinders Nikola Tesla. (Imago / Gemini Collection)

Nikola Tesla wurde am 10. Juli 1856 im Dörfchen Smiljan geboren. Sein Vater war dort orthodoxer Priester. Smiljan ist heute ein Ortsteil der kroatischen Stadt Gospić, die sich in einer „Lika“ genannten Region befindet. Der Ort liegt im karstigen Hinterland der Adriaküste Kroatiens. Bis zum Meer sind es etwa 30 Kilometer Luftlinie, während die direkte Entfernung von Gospić bis zur Grenze zwischen den Staaten Kroatien und Bosnien und Herzegowina ungefähr 50 Kilometer beträgt. Zum Zeitpunkt von Teslas Geburt lag dort, wo heute eine Außengrenze der Europäischen Union verläuft, die Grenze zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen (Türkischen) Reich. 1527 hatten die Osmanen Gospić und seine Umgebung erobert, und sie beherrschten die gesamte Lika bis 1689. Als die Österreicher die Herrschaft über das karge und bevölkerungsarme Land wieder erlangten, führten sie dort die „Militärgrenze“ ein, wie sie auch andernorts in der Monarchie schon existierte. Dieser Begriff bezeichnet einen Streifen an der Grenze zum Osmanischen Reich, der nicht zu Kroatien oder Ungarn OST-WEST 4/2023

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gehörte, sondern vom Wiener Kriegsministerium beziehungsweise seiner Vorgängerorganisation, dem Hofkriegsrat, direkt verwaltet wurde. Hier wurden seit dem späten 17.  Jahrhundert zumeist orthodoxe Flüchtlinge aus den türkisch beherrschten Gebieten angesiedelt, die auf österreichisches Gebiet geflohen waren. Die Siedler bekamen Privilegien zugesagt: Sie konnten ihre orthodoxe Glaubenszugehörigkeit behalten und eine Kirchenstruktur unter ihrem Patriarchen aufbauen. Sie genossen Steuerprivilegien, doch mussten sie im Kriegsfall Truppen stellen, die im Verbund mit Österreich gegen die Osmanen kämpfen sollten. So kam es, dass auf der österreichischen Seite der Grenze zum Osmanenreich, also entlang der heutigen Grenze zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina, eine Bevölkerung mit mehrheitlich orthodoxem Glauben siedelte. Das blieb bis zum Ende des 20.  Jahrhunderts so und endete erst, als im Verlauf der jugoslawischen Zerfallskriege die in der ehemaligen Militärgrenze in Kroatien lebenden Serben zunächst eigene Staatsgebilde ausriefen und nach deren Zusammenbruch Kroatien größtenteils verließen. Bis heute ist zwischen beiden Seiten umstritten, ob es sich dabei um eine Flucht handelte oder um eine Vertreibung durch die kroatische Armee. Fragen nach der Zugehörigkeit Die Familie Tesla gehörte also zu jener Bevölkerungsgruppe, die damals in der Militärgrenze lebte – erst 1886 wurde sie aufgelöst, nachdem Österreich Bosnien und die Herzegowina 1878 besetzt hatte und keine Kriegsgefahr mehr bestand. Seither gehörte die Region zu Kroatien, das damals Teil des KönigAls 1941 in Kroatien das Ustascha-­ reichs Ungarn in der Doppelmonarchie war. Regime an die Macht kam, fanden in Smiljan Massaker an der serbischen Der Ort Smiljan hat im 20.  JahrhunBevölkerung statt, die einige hundert dert, lange nach Teslas Emigration in die Menschen das Leben kosteten. USA, noch ein trauriges Schicksal erlitten. Er war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein relativ großes Dorf mit mehr als 2.000 Bewohnern, die in verschiedenen Ortsteilen lebten. Die meisten von ihnen waren katholisch, eine Minderheit von gut einem Viertel war orthodox. Bis zum frühen 20. Jahrhundert halbierte sich die Einwohnerzahl. Das jugoslawische Königreich der Zwischenkriegszeit war ein Staat, in dem die Serben eine dominante Position innehatten. Als 1941 in Kroatien das Ustascha-Regime an die Macht kam, fanden in Smiljan Massaker an der serbischen Bevölkerung statt, die ei260

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nige hundert Menschen das Leben kosteten. Auch der Nachfolger von Teslas Vater im Amt des orthodoxen Ortspriesters wurde ermordet, die Kirche und das Pfarrhaus wurden schwer beschädigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Smiljan nur noch knapp 750 Einwohner. Der Anteil der serbischen Bevölkerung lag nun bei weniger als zehn Prozent. Die Zahl stieg langsam wieder auf 835 Personen an, um dann aufgrund der schlechten Wirtschaftslage erneut abzusinken. Bei der letzten Volkszählung 2021 lebten in Smiljan nur noch 392 Menschen. Der andauernde Streit über Teslas Nationalität hat also seine Grundlage darin, dass er in einem Dorf geboren wurde, das (heute) zu Kroatien gehört, dass er aber Abkömmling einer orthodoxen und damit serbischen Familie war, die aufgrund der geschilderten Umstände dort lebte. Auch der Zusammenhang zwischen der serbischen Identität und dem orthodoxen Glauben ist umstritten: Hatten die orthodoxen Siedler im 17.  Jahrhundert ein serbisches Nationalitätsbewusstsein, oder hat sich das Serbisch-Sein aus der Zugehörigkeit zur Orthodoxie entwickelt? Diese und ähnliche Fragen werden mit großer Verve weiter diskutiert. Nikola Tesla besuchte die Grundschule in seinem Heimatort und anschließend das Gymnasium in Karlovac. Darauf folgten Studien und Tätigkeiten in Graz, Maribor, Prag, Budapest und Paris. Tesla schloss keinen Studiengang ab, konnte aber in technischen Berufen Anstellungen erlangen. Im Jahr 1884 wanderte er im Alter von 27 Jahren nach New York aus. Dank einer Empfehlung konnte er anfangen, bei dem Elektroingenieur Thomas A. Edison zu arbeiten. Allerdings überwarf sich Tesla mit ihm schon nach einigen Monaten wegen Geldangelegenheiten, und zwischen den beiden Erfindern blieb seither ein Rivalitätsverhältnis bestehen. Tesla gewann aber in den USA rasch an Ansehen. Seine Idee eines Wechsel- Nikola Tesla 1899 mit Feuerbällen in der blanken stromsystems machte es möglich, Hand. (Imago /Gemini Collection) OST-WEST 4/2023

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dass das 1896 fertiggestellte Wasserkraftwerk an den Niagarafällen über Hochspannungsleitungen auch die mehrere hundert Kilometer entfernte Stadt New York versorgte. Wechselstrom ermöglichte es, elektrische Energie auch über weitere Entfernungen zu transportieren. Teslas Leben in den USA war von Erfolgen, aber auch immer wieder von Rückschlägen gezeichnet. So sprangen Geldgeber ab, weil er im Umgang mit Geld nicht sehr geschickt war. Mehrfach brannten seine Labore ab, und seine wissenschaftlichen Interessen (vor allem die drahtlose Energieübertragung) entsprachen nicht notwendig denen seiner Sponsoren, für die Geldsorgen bedrückten den Erfinder immer wieder. Dazu trug auch sein im Vordergrund stand, dass die Anwendung extravaganter Lebensstil bei. Tesla wirtschaftlich rentabel war. Geldsorgen bewohnte mit Vorliebe im Hotel statt in drückten den Erfinder immer wieder. Dazu einem eigenen Haushalt. trug auch sein extravaganter Lebensstil bei. Tesla wohnte mit Vorliebe im Hotel statt in einem eigenen Haushalt. Zugleich erhielt er zahlreiche Ehrungen, vor allem ­Ehrendoktorate (insgesamt elf) für seine bahnbrechenden Erfindungen, darunter den Drehstrommotor oder den Vakuumkondensator. 1937 wurde er für den Physik-Nobelpreis nominiert, den er allerdings nicht erhielt. Im Januar 1943 starb Tesla in seinem New Yorker Hotelzimmer im Alter von 86 Jahren. Konkurrierende Erinnerungen Tesla war 1891, nur wenige Jahre nach seiner Ankunft in New York, amerikanischer Staatsbürger geworden. Da er alle seine bedeutenden Erfindungen und Entdeckungen in den USA gemacht hat und dort auch die meisten seiner Patente angemeldet sind, ist es tatsächlich angemessen, ihn als US-amerikanischen Erfinder zu bezeichnen. Doch das Dilemma um seine nationale Zugehörigkeit ist damit nicht gelöst. Denn nach dem Tod des Erfinders erbte ein Neffe den gesamten Nachlass und übereignete ihn 1951 dem jungen sozialistischen Staat Jugoslawien. Ein Jahr später wurde in der Hauptstadt Belgrad ein Tesla-Museum eröffnet, in dem die Asche des Erfinders in einer kugelförmigen Urne aus Metall ausgestellt wurde (und bis heute ausgestellt ist). Tesla war zwar Serbe aus Kroatien, hatte aber eigentlich mit Serbien nichts zu tun. Er war nur ein einziges Mal im Juni 1892 für knapp drei Tage in Belgrad. Dort wurde seine Aufnahme in die Serbische Akademie der Wissenschaften zunächst abgelehnt. Erst zwei Jahre später wurde er 262

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korrespondierendes und sogar erst 1937 ordentliches Mitglied. Doch wurde an ihn als Jugoslawe, nicht als Serbe erinnert. So gab es mehrere Banknoten des sozialistischen Jugoslawiens, die Tesla zeigten. Nach dem Zerfall Jugoslawiens änderte sich das jedoch, und an Tesla konnte nicht mehr als „Jugoslawe“ erinnert werden. Mit den Balkan-­ Kriegen der 1990erJahre trennten sich die Erinnerungslinien an ihn. Im unabhängigen Kroatien wurde 2006 sein Geburtshaus in Smiljan (das ehemalige orthodoxe Pfarrhaus) als Museum zu seinen Ehren neu eröffnet  – ein Museum war hier schon 1956 entstanden, zum 100. Geburtstag von Tesla. Ebenfalls im Jahr 2006 Der Belgrader Flughafen ist nach ­Nikola Tesla benannt. wurde in Belgrad der (picture ­alliance / ImageBroker/ G. Thielmann) größte serbische Flughafen in „Nikola-Tesla-Flughafen“ umbenannt. 2015 erhielt das Technische Museum in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, das schon seit einigen Jahrzehnten existierte, den offiziellen Namen „Technisches Museum Nikola Tesla“. Als in Kroatien zu Beginn des Jahres 2023 der Euro neu eingeführt wurde, kam es zu einer Verstimmung mit Serbien, weil auf den kroatischen Münzen zu 10, 20 und 50 Cent jeweils Nikola Tesla abgebildet wurde. Diese Auswahl war nach einer Befragung der Bevölkerung so zustande gekommen. Die serbische Nationalbank warf nun Kroatien vor, sich durch diese Motivwahl das kulturelle und wissenschaftliche Erbe Serbiens aneignen zu wollen. Kroatische Politiker verwiesen jedoch darauf, dass es eine Entscheidung der kroatischen Bevölkerung gewesen sei. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić kritisierte, dass man das Genie Tesla, das der ganzen Menschheit gehöre, nur auf kleinen Münzen abgebildet habe. Seitdem der Euro offizielles Zahlungsmittel in Kroatien ist, kann man den Erfinder jedenfalls auf der Rückseite der kroatischen Messingmünzen sehen. OST-WEST 4/2023

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In Serbien gibt es zahlreiche Institutionen, die nach Tesla benannt sind, und ebenfalls viele Denkmäler zu seinen Ehren. Sein Geburtstag am 10. Juli gilt in Serbien seit 2010 als „Tag der Wissenschaft in Serbien“. 2014 wurde ein Abkommen zwischen der Serbischen Orthodoxen Kirche und der Regierung geschlossen, wonach die Urne mit Teslas Asche im Eingangsbereich der neuerbauten Kirche des Hl. Sava beigesetzt werden sollte – was nie umgesetzt wurde. Wohl aber finden sich in anderen serbischen Kirchen Fresken, auf denen Tesla wie ein Heiliger dargestellt wird, wenn auch ohne Heiligenschein. Ganz anders verhält es sich mit der Erinnerung an Tesla in der restlichen Welt. 1960 erfuhr der Erfinder die größte Ehre, die einem Physiker wohl zuteilwerden kann. Es wurde eine Einheit nach ihm benannt, nämlich die für die magnetische Flussdichte. Ein T entspricht 10.000 G (für Gauss). Streit um Firmennamen Tesla Außerdem wurde 1946 in der damaligen Tschechoslowakei ein Elektronikunternehmen namens Tesla gegründet, dessen Produkte vor allem im Ostblock wegen ihrer Qualität einen guten Ruf genossen. 2003 wurde die US-Autofirma Tesla gegründet, die auf Elektroautos spezialisiert und unter ihrem Firmenchef Elon Musk weltweit erfolgreich ist. Im ersten Quartal 2023 war ein Tesla das weltweit meistverkaufte Auto. Schon 2010 wurde ein Streit mit dem tschechischen Unternehmen Tesla um die Verwendung des Namens beigelegt. Und was sagte Tesla selbst zur Frage, welcher Nationalität er sich nun zugehörig fühlte? Von ihm sind einige Aussagen bekannt, die nahelegen, dass er sich der Problematik bewusst war und seine serbische Nationalität ebenso geschätzt hat wie seine kroatische Heimat. In einem Telegramm an den kroatischen Politiker Vladko Maček (1879–1964), in dem er sich für dessen Glückwünsche bedankte, schrieb Tesla 1936: „Ich bin gleichermaßen stolz auf meine serbische Abstammung wie auf meine kroatische Heimat. Es leben alle Jugoslawen!“ Auch andere Äußerungen Teslas gehen in diese Richtung. Es scheint, als habe er die Vorstellung gehabt, dass ein jugoslawischer Staat, in dem Serben und Kroaten gleichberechtigt miteinander leben könnten, viele Probleme lösen würde – doch hat es einen solchen Staat nie gegeben. Auf jeden Fall hat Tesla keinen Anlass gegeben, ihn eindeutig nur einer der beiden nationalen Erinnerungskulturen zuzuschreiben. 264

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Helene Fischer und die drei Fäden ihrer Herkunft Die Journalistin Merle Hilbk, geboren 1969 in Düsseldorf, war nach dem Jura-Studium Redakteurin im Dossier der Wochenzeitung „Die Zeit“, bevor sie ihr Interesse für Sibirien entdeckte. Dort lernte sie die ersten russischen Laute. 2017 war sie Preisträgerin des „Recherchepreises Osteuropa“ von Renovabis. Heute lebt sie als Feature- und Hörspiel-Autorin in der Nähe von Berlin. Wie Helene Fischer hat sie russlanddeutsche Verwandte.

Die Sängerin Helene Fischer gehört heute zu den Superstars im deutschen Schlagergeschäft. Die Russlanddeutsche kommt aus dem sibirischen Krasnojarsk, über das sie immer wieder sagt, es sei ihre Heimatstadt. Dabei war sie vier Jahre alt, als sie mit der Familie aussiedelte.

Identität und Heimat Man könnte mit einem Begriff beginnen, der die Gegenwart derzeit intellektuell zu prägen scheint: Identität. Die Debatte darum ist in den Feuille­ tons der Tagespresse, in Instagram-Postings von Schriftstellern und Schauspielern, aber auch in Aufrufen zum politischen Widerstand in ­Belarus und der Ukraine allgegenwärtig. So ist es kein Wunder, dass die Einordnung „Russlanddeutsche“ folgt, wenn der Name Helene Fischer fällt. Die 1984 im russischen Krasnojarsk geborene Schlagersängerin ist seit Jahren ein preisgekrönter ­Megastar im Musikgeschäft. Mit mehr als 18 Millionen verkauften Tonträgern zählt sie zu den kommerziell erfolgreichsten und bestverdienenden deutschen Sängerinnen. Russlanddeutsche Organisationen haben sie längst zu einer Art Identitätsbotschafterin erklärt: eine von uns, die uns in vorbildlicher Weise repräsentiert – talentiert, fleißig, erfolgreich. Die den Stolz auf diese Identität fördert, die in Deutschland von medialen Bildern bestimmt ist: von grimmig dreinblickenden Männern, die es mit den deutschen Gesetzen nicht so genau nehmen und das R rollen wie Russen, OST-WEST 4/2023

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von sorgsam geschminkten Frauen mit aufreizendem Hüftschwung. Zum einen. Zum anderen von besonderer Gefühltiefe, der russischen Seele, die auch in Helene Fischer wohnt – nach dem Empfinden der Youtube-Kommentatoren, die sich auf ihr „Russisches Medley“ zu Wort melden. Eine im Internet viel geklickte Melange russischer Volkslieder ist eine der seltenen Gelegenheiten, in denen die Schlagersängerin russisch singt. Mit deutschem Akzent – obwohl sie doch Krasnojarsk in Interviews als Heimat bezeichnet. Das russische Krasnojarsk, das mit heute fast einer Million Einwohnern die drittgrößte Stadt Sibiriens ist – 3400 Kilometer und vier Zeitzonen östlich von Moskau. Heimat – was ist das? Man könnte auch mit der Frage beginnen, was Heimat eigentlich ist? Kann ein Ort Heimat sein, den ein Mensch als Kleinkind bereits verlassen hat? In einem Alter, in dem die bewusste Erinnerung erst einsetzt? „Kindheitsamnesie“ nennt die Psychologie das Nicht-Erinnern frühkindlicher Erfahrungen. Ein Nicht-Erinnern, das seine Ursache nicht darin hat, dass das Gehirn Erlebtes noch nicht abspeichern könnte. Auf jeden Fall nicht in sprachlicher Form, weil der Sprach­erwerb Jelena Petrowna Fischer war gerade in diesem Alter noch ganz am Anfang steht. mal vier Jahre alt, als sie Krasnojarsk Mit den Erfahrungen sind noch keine Wörzusammen mit ihrer russlanddeutschen ter verknüpft. Familie verließ. Sie begann in Wöllstein Wenn Helene Fischer Krasnojarsk in ein neues Leben als Helene Fischer. zahlreichen Interviews als „Heimat“ tituliert, dann ist ihre „Heimat“ vermutlich etwas Unbeschreibliches. Ein Gedächtnisinhalt, der nicht beliebig abrufbar ist. Eine vorsprachliche Erinnerungsspur, die wie ein Trauma das spätere Leben beeinflusst, aber nicht mitteilbar ist, weil die Worte dazu fehlten. Vielleicht ist das der Grund, warum die Sängerin so wenig von dieser Heimat erzählt. Denn Jelena Petrowna Fischer war gerade mal vier Jahre alt, als sie Krasnojarsk zusammen mit ihrer russlanddeutschen Familie verließ. Sie begann im rheinland-pfälzischen Wöllstein ihr neues Leben als Helene Fischer. Oder man beginnt mit Krasnojarsk, dieser Stadt mit dem russischen Wort „krasni“ im Wortstamm – was so viel heißt wie „schön“ oder auch „rot“. Schöner, roter Abhang: ein Name, abgeleitet von der früheren, turksprachlichen Bezeichnung des Ortes. Ein Vorposten auf dem Weg zur Eroberung Sibiriens. 266

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1628 errichteten ein Kosakenverband eine hölzerne Festung am Ufer des Flusses Jenissei, um die Kirgisen von der Siedlung Jenisseisk fernzuhalten, dem damaligen Umschlagplatz für Pelze und Gold. Wirtschaftliche Bedeutung erlangte die Stadt aber erst 1896 mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnbrücke über den Fluss wurde Krasnojarsk zum Transportknotenpunkt in Sibirien. Dennoch hatte die Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg nicht mehr als 40.000 Einwohner. Während des Krieges entschied die Sowjetregierung in Moskau, Teile der Schwerindustrie aus dem Westen Russlands nach Ostsibirien zu verlagern: Metall-, Maschinenbau- und Chemie-Kombinate wurden dort wieder aufgebaut, ein Aluminiumwerk errichtet. Um den Energiebedarf zu decken, wurden der Jenissei und mehrere seiner Nebenflüsse zu einem 388 Kilometer langen See aufgestaut. Das dazugehörige Wasserkraftwerk versorgte nicht nur die Werke mit Strom, sondern auch die Stadt Krasnojarsk-26, in der ab 1950 in unterirdischen Anlagen Uran angereichert wurde. Wegen des geheimen Status der sowjetischen Atomindustrie war die Stadt deshalb zu sowjetischer Zeit auf keiner Landkarte verzeichnet und ebenfalls geheim.

Der Fluss Jenissei prägt die sibirische Stadt Krasnojarsk, den Geburtsort von Schlagerstar Helene Fischer. (picture alliance / dpa / Itar Tass)

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Errichtet wurden die Industriekomplexe größtenteils von Zwangsarbeitern, einer Million Verbannter, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Region deportiert worden waren. Unter den Verbannten waren auch Helene Fischers Großeltern Ottilie und Peter. Sie stammten ursprünglich aus Straßburg, einem deutschen Dorf in der ukrainischen Sowjetrepublik an der Grenze zu Moldau. Deutschsprachige Bauern hatten es 1808 gegründet, nachdem ihnen die Anwerber des Zarenhofs dort Land versprochen hatten. Mehr Land als die Zarin Katharina die Große in den ersten Anwerbewellen den Wolgadeutschen versprochen hatte. Besseres Land mit Schwarzerde, in der nicht nur Korn, sondern auch Obst auf das Beste gedieh. Mit der Anwerbung der Deutschen sollte nicht nur der Boden am Schwarzen Meer nutzbar gemacht werden, sondern auch  – wie bei der Gründung von Krasnojarsk  – in dem in den Kriegen mit dem Osmanischen Reich eroberten Gebiet die russische Herrschaft gefestigt werden. Heute wird in der Heimat von Helene ­Fischers Großeltern wieder ein Krieg um Kann ein Ort, an den man zwangsverschleppt wurde, zur Heimat werden? die russische Vorherrschaft geführt. Eine Heimat, aus der die dort seit knapp 150 Jahren ansässigen deutschstämmigen Sowjetbürger einst deportiert wurden. Nachdem die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion eingefallen war, hatte der sowjetische Diktator Josef Stalin die Nachkommen der einst angeworbenen Deutschen pauschal zu „Spionen und Volksverrätern“ erklärt und befohlen, sie nach Sibirien und Kasachstan umzusiedeln. In den ersten Jahren mussten sie Zwangsarbeit in den Kolonnen der „Trudarmee“ leisten. Auch Helene Fischers Großeltern wurden als Schwarzmeerdeutsche mehr als 5.000 Kilometer weit Richtung Osten verschleppt. 1948 wurde die Verbannung der deutschen Minderheit von Stalin für „auf ewige Zeiten“ erklärt. Kann also ein Ort, an den man zwangsverschleppt wurde, zur Heimat werden? Die sibirische Millionenstadt Krasnojarsk ist eine Stadt inmitten einer grandiosen Landschaft: Felsige, teils bewaldete Höhenzüge umschließen einen gewaltigen Strom, den Jenissei. Er ist 4.000 Kilometer lang, teilweise kilometerbreit und vom Wasser sibirischer Flüsse mit märchenhaft klingenden Namen gespeist: Angara, Bor, Kan, Kast, Steinige Tunguska. Östlich der Stadt hat er sich ein Durchbruchstal durch das Sajan-Gebirge gebahnt, westlich strömt er durch Felder und horizontweite Wiesen. Zwischen Flussufer und Bergen breitet sich die Stadt aus, die wegen ihrer architektonischen Vielfalt in Reiseführern als „Schönheit“ firmiert. 268

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Helene Fischer und Krasnojarsk

Mittendurch wie mit dem Lineal gezogen, verläuft der „Prospekt Mira“, übersetzt die „Allee des Friedens“. So heißt die von klassizistischen Prachtbauten eingerahmte Hauptachse nach ihrer fünften Umbenennung heute. In den Straßen dahinter reihen sich stalinistische Bauten an Jugendstilhäuser, mit Schnitzereien reich verzierte Holzhäuser an kubistische Gebäude. Drei Blöcke vom Hafen entfernt liegt der Bahnhof, der die Ankommenden heute wie eine Hollywood-Version von King’s Cross empfängt, ein langgestreckter, pastellfarbener Baukörper mit leuchtend grünem Kuppeldach. Unten am Hafen liegt das Lenin-Museum wie ein gestrandetes Schiff. Über die Komunalny Brücke mit ihren geschwungenen Steinbögen, zwei Kilometer lang, erreicht man die Wohnbezirke auf der anderen Flussseite. In den Bergen über der Stadt thront die Paraskewa-Pjatniza Kathe­ drale, gekrönt von einer winzigen goldenen Kuppel. Ein Ort der Stille in einer lauten, geschäftigen Stadt, die dem, der sich ihr mit der Transsibirischen Eisenbahn aus dem Westen nähert, zunächst ihre Industriekulisse präsentiert. Verfallene Fabriken, verrostete Metalltürme, abgeknickte Strommasten und lecke Rohre ziehen am Fenster vorbei. Chemie- und Stahlwerke recken ihre Schlote in den rauchverhangenen Himmel. Schwierige Verhältnisse und große Karriere Es heißt, dass Helene Fischers Mutter Maria in einer Baracke an den Bahngleisen groß geworden sei. Bis heute wird in Krasnojarsk von einer Siedlung an den Bahngleisen erzählt, die „Reichstag“ genannt wurde. Eine Anspielung auf die nach Sibirien verschleppten Russlanddeutschen, die dort in Holzbaracken ohne Bad und Küche hausten. Die Bewohner mussten als Flößer Holz aus der Taiga über den Fluss transportieren oder in der Papierfabrik arbeiten. Eine ehemalige Bewohnerin, die genauso wie die Fischers später nach Deutschland aussiedelte, erzählt, dass sie in der Schule Kriegsfilme ansehen mussten, in denen die Deutschen wie Roboter sprachen. Dabei sei ihr zum ersten Mal bewusst geworden, „dass wir Feinde waren. Und dass wir besondere Leistungen erbringen mussten, um nicht immer nur nach unserer Herkunft beurteilt zu werden“. Helene Fischers Vater Peter wurde Lehrer, die Mutter Ingenieurin. Eine russlanddeutsche Nachkriegsgeneration, der es erstmalig erlaubt war zu studieren, wenn auch eine begrenzte Zahl von Fächern. Doch im sowjetischen Pass stand weiterhin neben der sowjetischen Staatsangehörigkeit als Nationalität verzeichnet: Deutsch. Ein Identitätsmakel. OST-WEST 4/2023

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Merle Hilbk

1988, noch vor der Auflösung der Sowjetunion, stellte die Familie einen Ausreiseantrag und kam nach Wöllstein, einer Ortschaft mit rund 4.000 Einwohnern im rheinhessischen Hügelland. Helene Fischer ist schon an der Realschule in Theater-AGs und Musicalkursen aktiv. Nach dem Mittleren Schulabschluss absolviert sie in Frankfurt am Main eine Musical-Ausbildung und hat erste Engagements. Ihre Mutter schickt 2004 ein Demoband an einen Musikproduzenten. Außerdem protegiert sie der damalige CDU-Beauftragte für Aussiedlerfragen Heinrich Zertik, selbst Russlanddeutscher, und stellt sie wichtigen Leuten vor. 2005 singt sie beim „Hochzeitsfest der Volksmusik“ ein Duett mit dem erfolgreichen Showmaster und Schlagersänger Florian Silbereisen – ihr erster Fernsehauftritt. Ihr erstes Album 2006 bekommt den Titel „Von hier bis unendlich“. Seither hat das Mädchen aus KrasDie Konzerte von Helene Fischer erreichen ein Massen­ publikum. (picture alliance / Jens Niering) nojarsk eine einzigartige Kar­ riere durchlaufen. Es ist nicht leicht, die drei Fäden ihrer Geschichte zusammenzuzurren. Denn die damit verbundenen Bilder sind als Wahrnehmungsschablonen spätestens seit dem Fe­bruar 2022 entzaubert: Identität, Sibirien, russische Seele. Vielleicht ist es das Versöhnliche eines Helene Fischer-Konzertes, diese Entzauberung vergessen zu lassen  – selbst wenn sie dabei lächelnd singt: „Ach, Helden der russischen Armee!“. Und das Pu­blikum begeistert mitklatscht. Sie fühle sich zu Hause, wenn sie Menschen Russisch sprechen höre, hat Helene Fischer gesagt, als sie wieder einmal gefragt wurde, wo sie, die Russlanddeutsche, zu Hause sei. Ein Zuhausegefühl, das der kindlichen Amnesie entspricht, bei der Krasnojarsk nicht mehr und nicht weniger war als ein russischsprachiger Ort, in dem Jelena Petrowna Fischer als Kind einst die ersten Laute wahrnahm. 270

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Wenn man aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt an der Oder kommt Ein Gespräch mit dem Autor Dirk Oschmann

Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann ist ein Bestseller. Seine Thesen über die Benachteiligung der Ostdeutschen finden viel Zustimmung, ernten aber auch viel Kritik. OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen sprach mit dem Autor über die Bedeutung von Herkunft und Geburtsorten im vereinten Deutschland. Welche Rolle spielen Geburtsorte und Herkunftsorte? Das sind natürlich die Orte, an denen man seine Sozialisation erfährt, von denen man kulturell, politisch und ideologisch geprägt sein kann – vielleicht auch religiös. Insofern spielt die Herkunft eine bedeutende Rolle, wenn auch in der Moderne nicht mehr so sehr wie früher. Heute ist man sehr viel mobiler und auch nicht mehr in einer Ständegesellschaft eingesperrt. Im besten Fall kann sich in einer freien Gesellschaft jeder seinen Platz im Leben selbst erkämpfen, erarbeiten oder aussuchen – je nachdem, unter welchen historischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen man aufwächst. Dennoch bekommt man vieles durch seine Herkunft mit auf den Weg. In Ihrem Buch wird deutlich, dass es auch im wiedervereinigten Deutschland immer noch eine Rolle spielt, ob jemand aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt/Oder stammt. Ist das tatsächlich immer noch so? Das ist so. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sich auch 2023 die Lebenschancen noch sehr ungleich verteilen, je nachdem, ob man aus Frankfurt am Main oder aus Frankfurt an der Oder kommt. Nicht nur weil Frankfurt am Main im Westen liegt, sondern auch weil sich damit ganz andere Vorstellungen verbinden, etwa Reichtum, Erfolg, Bürgerlichkeit, Urbanität, Internationalität etc. Es verbindet sich damit folglich ein anderes symbolisches Kapital als mit Frankfurt/Oder, von dem manche Leute nicht einmal wissen, dass es existiert und wo es überhaupt liegt. Das zeigt sich auch daran, dass mit „Frankfurt“ ohne Zusatzbestimmung imOST-WEST 4/2023

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Interview

mer automatisch die Mainmetropole gemeint ist und nicht die Stadt an der polnischen Grenze östlich von Berlin. Dabei geht es weniger um Geld als vielmehr um die Konnotationen, die mit diesen Orten assoziiert werden. Die Lebenschancen an diesen beiden Orten unterscheiden sich erheblich. Wenn Leute aus Frankfurt/Oder ihre Lebenschancen steigern wollen, müssen sie in den Westen gehen oder ins Ausland, um jenes symbolische Kapital zu erwerben, das man in Frankfurt/Main schon von vornherein besitzt. Solche Phänomene hat bekanntlich der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu beschrieben. Es gibt eine Studie der Universität Leipzig mit dem Titel „Der lange Weg nach oben“, die zeigt, dass die Benachteiligung von Menschen mit ostdeutscher Herkunft über die Jahre signifikant gleichgeblieben ist und bis heute fortbesteht.1 Gilt das nur für Menschen, die in der DDR geboren sind, oder auch für die Jüngeren, die schon im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen sind? Das gilt bis heute, denn auch die Jüngeren leiden unter den strukturellen, wirtschaftlichen, kulturellen, finanziellen, diskursiven und symbolischen Benachteiligungen und unter den Mustern und Bildern dieser negativen Wahrnehmung im und durch den Westen.

Die Verwaltungsgebäude von Banken prägen die Skyline von Frankfurt am Main. (picture alliance / dpa / Helmut Fricke) 1 Studie „Der lange Weg nach oben“, https://ostdeutscheswirtschaftsforum.de/wp-content/ uploads/2022/06/20220608_Der-lange-Weg-nach-oben_Ostdeutsche-Eliten.pdf

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Aus Frankfurt/Main oder Frankfurt/Oder

Was sind das denn für Bilder und Wahrnehmungen, von denen Sie sprechen? Es ist eine gängige Sichtweise, die besagt, dass der Osten prinzipiell rückständig und defizitär ist, dass er vielleicht sogar rechtsextrem ist, dass er dem Populismus zuneigt, dass er Verschwörungstheorien zuneigt. Das sind alles Zuschreibungen, die bis heute auch die Jüngeren erfahren und von denen sie berichten. Sie erleben, wie sie im Westen erst zu „Ostdeutschen“ gemacht werden, obwohl sie selbst vielleicht vorher nicht das Gefühl gehabt haben, „Ostdeutsche“ zu sein. Das ist ein Riesenproblem, dass sie fortwährend diese Art von negativen Zuschreibungen erfahren. Sie kommen außerdem meist aus Familien, die sehr viel weniger Kapital haben. Ob es um Gehälter, Vermögen oder Erbschaften geht  – die Startbedingungen sind einfach schlechter. Handelt es sich nicht oft einfach um Unkenntnis? Auf jeden Fall. Es ist nachweislich so, dass ungefähr 18 Prozent der Menschen aus den alten Bundesländern noch nie in den sogenannten neuen Bundesländern war. Deshalb spielt Unkenntnis eine große Rolle. Vielleicht auch Naivität oder eine gewisse Unbedarftheit. Da wird dann oft einfach das übernommen, was so im allgemeinen Diskurs im Umlauf ist. Was halt so über den Osten gesagt wird. Denn das ist komplett von der westdeutschen Perspektive bestimmt.

Angela Merkel hat erst in ihrer letzten Rede als Bundeskanzlerin ihre ostdeutsche Herkunft öffentlich thematisiert. (picture ­alliance /dpa / Felix Schröder)

Nun wird im Moment sehr viel über die AfD gesprochen, als wäre sie ein Ost-Phänomen. Dabei stammen führende AfD-Politiker wie Björn ­Höcke beispielsweise aus dem Westen, in seinem Fall aus Lünen in N ­ ordrhein-Westfalen. Was sagen Sie dazu? Das sind auf jeden Fall falsche Zuschreibungen. Natürlich hat der Osten ein riesiges Problem mit dem Rechtsextremismus, aber mit nur einer Ausnahme kommt die gesamte AfD-Spitze aus dem Westen. Sie ist auf dem braunen Boden im Westen gewachsen und hat den braunen Boden im Osten mobilisiert. Obwohl sich die DDR als antifaschistischer Staat beschrieben hat, gab es diesen braunen Boden auch da. Das wurde allerOST-WEST 4/2023

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dings tabuisiert und war kein Thema der Auseinandersetzung, zumal es gar kein Forum dafür gab, schon gar kein öffentliches. Es ist außerdem nachweislich so, dass z. B. die NPD aus Bayern in den 1990er Jahren Sachsen zum eigenen Aufmarschgebiet erklärt, dort Strukturen aufgebaut und dabei den vorhandenen braunen Boden im Osten aktiviert hat. Was könnten denn positive Assoziationen sein? Wäre es hilfreich, stärker zu vermitteln, wer alles an berühmten Literaten, Künstlern aus Ostdeutschland kommt? Könnten solche Spuren großer Namen hilfreich sein als positive Identifikation mit dem Osten Deutschlands? Das könnte sein, klingt aber auch etwas nach dem verzweifelten Rufen im dunklen Wald. Allerdings interessiert sich der Westen in der Regel für den Osten nur, wenn es irgendeine Meldung gibt, die skandalisiert werden kann. Wenn der Osten so stark als Herkunft begriffen wird, was bedeutet das dann für die Zukunft? Es gibt verschiedene Formen, mit dieser Herkunft umzugehen. Meine ­Generation und die Älteren in Ostdeutschland haben oft die Strategie ­gewählt, ihre Herkunft nicht weiter wichtig werden zu lassen. Angela Merkel hat erst in ihrer letzten Rede als Bundeskanzlerin ihre ostdeutsche Herkunft öffentlich thematisiert, weil sie als gesamtdeutsche Kanzlerin wahrgenommen werden wollte. Denn sie wusste genau, was passiert, wenn sie ihre ostdeutsche Sozialisation zu stark betont, nämlich dass sie mit erheblichen Stigmatisierungen würde rechnen müssen. Auch die Vize-­Präsidentin des Bundestages Katrin Göring-Eckardt hat auf ihrer Homepage stehen, warum sie ihre ostdeutsche Herkunft lange beschwiegen hat. Viele jüngere Leute gehen damit offensiver um, und darin erkenne ich bereits einen diskursiven Effekt. Sie versuchen, diese Zuschreibung positiv zu wenden und entwickeln ein neues Selbstbewusstsein. Einige von ihnen haben Plattformen entwickelt, wie die „3te Generation Ost“ oder „Wir sind der Osten“, um sich zu vernetzen, und setzen aktiv auf eine „Ost-Identität“.2 Das sind allerdings Portale von Jüngeren für 2 Die Dritte Generation Ostdeutschland ist eine Initiative, die der Debatte über Ostdeutschland seit 1990 neue Impulse geben will und sich dem Engagement in Ostdeutschland verschrieben hat. https://netzwerk.dritte-generation-ost.de Die Initiative „Wir sind der Osten“ macht Menschen in und aus Ostdeutschland sichtbar, die die Zukunft positiv gestalten. https://wirsindderosten.de

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Aus Frankfurt/Main oder Frankfurt/Oder

Jüngere, die in den 1980er, 1990er Jahren oder noch später geboren sind. Die gehen ganz anders damit um. Es gibt also unterschiedliche Formen des Umgangs, um sich in irgendeiner Weise für die Zukunft zu öffnen. Ich beobachte aber, dass es auch bei älteren Ostdeutschen zum Teil so etwas gibt wie ein neues Selbstbewusstsein. Sehen Sie das auch, dass die Debatte über Ihr Buch und die Fragen rund um die ostdeutsche Identität einige Menschen darin bestärkt, sich damit nochmal neu auseinanderzusetzen? Das kann ich zu einhundert Prozent bestätigen. Das zeigen mir auch die Tausende von E-Mails, die ich bekommen habe. Da geht es immer um Ermutigung, Stärkung und einen neuen Blick auf die eigene Biografie. Ich bin bei einer Lesung von einer Frau gefragt worden: „Warum haben wir das eigentlich mit uns machen lassen?“ Das ist eine Frage, die sich jeder selber stellen muss. Viele Leser schreiben mir, dass sie sich nach der Lektüre des Buchs entlastet und befreit fühlen und dass sie nun anders zu ihrem Leben stehen können. Waren Sie überrascht, dass Sie auf Ihr Buch so viele Reaktionen erhalten haben? Als Sie es geschrieben haben, war das vielleicht noch gar nicht so beabsichtigt. Ich hatte nur vage Vorstellungen davon, in welche Richtung die Resonanz gehen würde. Ich hatte erst vor einem kleinen Publikum mit etwa 150 Leuten einen Vortrag gehalten, dann einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für eine eher konservative akademische Leserschaft geschrieben. Nach dem Buch bekomme ich noch aus viel mehr Richtungen Rückmeldungen, die sehr breit gestreut sind. Da gibt es große Zustimmung und große Ablehnung. Die schärfsten Kritiker kommen aus dem Osten und sind vielfach sehr viel jünger als ich. Das hätte ich auch nicht vermutet. Wie lautet denn deren Kritik an Ihrem Buch? Sie sagen meistens, das ist doch längst abgefrühstückt, das interessiert doch keinen mehr, das sind vergangene Schlachten eines alten, weißen Mannes. Stoßen Sie denn auch auf eine neue Nachdenklichkeit über Ostdeutschland bei Ihren Lesern im Westen? Absolut. Die größte Resonanz kommt aus dem Osten. Da sind auch die Verkaufszahlen sehr viel höher. Aber ich habe auch zahlreiche nachdenkliche Reaktionen aus dem Westen bekommen. Da gibt es dann so OST-WEST 4/2023

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ein verstörtes Betroffensein, weil sich die Leute das Ausmaß der Benachteiligung nie klar gemacht haben. Viele Leser wissen nicht, dass die Lohn­u nterschiede riesig sind, oft weit über 20 Prozent. Sie wissen nur, dass es viel Aufbauhilfe gegeben hat für neue Straßen oder die Restaurierung der ostdeutschen Innenstädte. Kaum einer weiß, dass die meisten Häuser im Osten westdeutschen Eigentümern gehören. Das sind in Leipzig 90 Prozent der Häuser, in Halle 80 Prozent – wirklich unfassbar. Die Leute im Westen hatten eben das Geld, um Immobilien zu kaufen. Deshalb haben sich die Eigentumsverhältnisse jetzt so extrem verschoben. Der Schriftsteller Ingo Schulze hat darauf hingewiesen, dass nirgendwo in Europa den Leuten vor Ort so wenig Wohneigentum gehört wie in Ostdeutschland. Das ist Teil des Problems. Bei Lesungen im Westen, die jetzt zunehmen und auch ausverkauft sind, bemerke ich bei den Leuten ein großes Interesse und viel Aufmerksamkeit für diese Fragen. Sie sind dankbar, dass ich es so deutlich ausspreche, obwohl ich eigentlich gar nichts Neues sage.

Die Stadtbrücke in Frankfurt an der Oder dient als Grenzübergang nach Slubice in Polen. (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)

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Miroslav Kunštát

Madeleine Albright: Weltpolitik mit Prager Wurzeln Dr. Miroslav Kunštát, geboren 1958 in Prag, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationale Studien der Karls-Universität Prag. 1993 bis 2003 war unter Václav Havel tätig in der außenpolitischen Sektion der tschechischen Präsidentschaftskanzlei.

Madeleine Albright war unter Präsident Bill Clinton die erste Frau an der Spitze des US-Außenministeriums. Geboren wurde sie 1937 in Prag und ging mit ihrer Familie nach dem kommunistischen Putsch ins US-amerikanische Exil. Die mitteleuropäische Herkunft prägte sie als Diplomatin und Politikerin, besonders als sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die weitere Entwicklung maßgeblich mitgestalten konnte. Eine große Rolle spielte dabei ihre Freundschaft zum tschechischen Bürgerrechtler und späteren Präsidenten Václav Havel.

„Tschechische Botschafterin“ in Washington „Die Tschechische Republik ist das einzige Land, das in Washington zwei Botschafter hat.“ Diese Bemerkung machte 1994 der damalige US-Präsident Bill Clinton in humorvoller Übertreibung während eines Gesprächs mit dem tschechischen Präsidenten Václav Havel. Er meinte damit zum einen den damaligen tschechischen Botschafter in den USA, den Übersetzer, Schriftsteller und Diplomaten Michael Žantovský. Und zum anderen Madeleine Albright. Albright wurde 1937 in Prag als Marie Jana Korbelová (Korbelová) geboren und wuchs in der tschechisch-jüdischen Familie des tschechoslowakischen Diplomaten Josef Korbel und der Anna Korbelová, geborene Spiegelová, auf. Weltweit machte sie sich als enge Mitarbeiterin von US-Präsident Clinton einen Namen: am Anfang seiner ersten Präsidentschaft als Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen und seit Januar 1997 als erste US-Außenministerin. Während ihrer vierjährigen OST-WEST 4/2023

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Wirkungszeit führte sie auch die imaginäre Bestenliste der „mächtigsten Frauen der Welt“ an. Obwohl sie sich immer darum bemühte, den Eindruck zu zerstreuen, sie setze sich für den Teil der Welt ein, in dem sie einst geboren war, war sie sich immer ihrer mitteleuropäischen Wurzeln bewusst. Dies brachte sie auch am 23. Januar 1997 in ihrer ersten Ansprache im Weißen Haus zum Ausdruck: „Wenn ich heute in diesem Oval Office stehe, das die Kraft und den Sinn der Vereinigten Staaten symbolisiert, denke ich vor allem an meine Mutter und meinen Vater, die mich lehrten, die Freiheit zu lieben; an Präsident Václav Havel, der mich lehrte, die Verantwortung der Freiheit zu begreifen, und an Edmund Muskie, der mir das Selbstvertrauen gab, dass mich kein Hindernis, auch keine Mauer, beim Dienst für die Freiheit aufhalten können.“ Familiengeschichte als Wegweiser Albright verdankte ihre profunden Kenntnisse der mittel- und osteuropäischen Geschichte hauptsächlich ihrem Vater Josef Korbel, der 1949 kurz nach dem kommunistischen Putsch in der Tschechoslowakei politisches Asyl in den USA bekam. In den Jahren 1945–1948 war er tschechoslowakischer Botschafter in Jugoslawien, danach auch Mitglied der UN-Kommission für Kaschmir. Er verfasste 1951 eine erste umfangreichere, englischsprachige Publikation über das kommunistische Jugoslawien. Als er bereits als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität in Denver tätig war, schrieb er ein weiteres Buch, das die kommunistischen Umstürze in der Tschechoslowakei und Polen behandelte. Zudem veröffentlichte er ein Lehrbuch unter dem Titel „Die Tschechoslowakei im zwanzigsten Jahrhundert“. Die erste Belastungsprobe von Albright als US-Außenministerin hatte direkt mit ihrer Familiengeschichte zu tun. Keine zwei Wochen nach ihrer Amtseinführung am 4. Februar 1997 erschien auf der Titelseite der Tageszeitung „Washington Post“ ein großer Artikel über die „Familientragödie der Madeleine Albright“. Es mag unglaublich erscheinen, aber die Ministerin erfuhr erst aus diesem Artikel des Investigativjournalisten Michael Dobbs, dass drei ihrer Großeltern als Juden Opfer des Holocaust geworden waren. Es entstand in der Öffentlichkeit zunächst der Eindruck, als habe Albright ihre Familiengeschichte bisher verleugnet oder sich für ihre jüdische Abstammung gar geschämt. 278

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Madeleine Albright und Prag

Ihr Vater, für sie das ganze Leben lang beispielgebend, wurde in dem Artikel nahezu als gefühlskalter und zynischer Betrüger dargestellt. Für die überraschte und sichtbar in die Enge getriebene Albright begann eine schmerzhafte Trauerarbeit. Sie sichtete das Archiv ihres Vaters, das sich in einer alten Garage befand, betrieb Archivrecherchen und suchte nach weiteren Familienangehörigen in den USA, in Großbritannien und in Tschechien. Der Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte widmete Albright 2003 schließlich einen wesentlichen Teil ihrer Memoiren. Fortlaufend erfuhr sie immer weitere Tatsachen, die sie dazu bewogen, 2012 das Buch „Winter in Prag“ zu schreiben. Es ist als „persönliche Geschichte über das Gedächtnis, die Tschechoslowakei und den Krieg“ konzipiert. Es deckt die Jahre 1937 bis 1948 ab, also vom Geburtsjahr der Autorin bis zu dem Zeitpunkt, als die Familie Korbel nach dem kommunistischen Umsturz die Tschecho­ Die Eltern sprachen vor den Kindern slowakei verließ. Die Autorin konnte nur nicht über die Vergangenheit. spekulieren, warum ihr die Eltern ihre jüdische Herkunft und das tragische Schicksal ihrer Großeltern verheimlichten, die sie 1939 zuletzt gesehen hatte. Da war sie zwei Jahre alt. Die Eltern sprachen vor den Kindern nicht über die Vergangenheit. Gelegentliche Fragen beendeten sie mit der Erklärung, ein Großvater und beide Großmütter seien im ehemaligen Protektorat Böhmen und Mähren während des Krieges gestorben. Hierfür mag auch die allgegen­ wärtige Angst vor einem latenten Anti­semi­t ismus eine Rolle gespielt haben, mit dem sie nicht nur in der ehemaligen Tschechoslowakei, sondern auch im britischen Exil und teilweise auch nach 1949 in den USA konfrontiert waren. Diese Angst führte wohl auch dazu, dass die kleine ­Marie Jana (=  Madeleine) nach ihrer Geburt in einer römisch-katholischen Kirche getauft wurde. Die Eltern blieben bis zu ihrem Tod in konfessioneller Hinsicht völlig indifferent. Die Namen der ermordeten Großeltern, mütterlicherseits Růžena Spiegelová und väterlicherseits Arnošt und Olga Korbel, wurden nach dem Krieg in die Wand des Shoa-Denkmals in der Pinkas-Synagoge in Prag eingraviert  – auch davon erfuhr ­A lbright erst nach der Veröffentlichung des Artikels. Innige Beziehung zu Präsident Havel Gleich nach 1989 baute Albright eine innige Beziehung zum neuen Präsidenten Václav Havel auf. Er brachte sie, nachdem er sein Amt später abgeOST-WEST 4/2023

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geben hatte, sogar – halb scherzhaft, halb ernsthaft – als seine Nachfolgerin ins Gespräch. Vor der „Samtenen Revolution“ kannten sie einander nicht persönlich, allerdings erinnert sich Albright in ihren Memoiren an ältere, bis Ende der 1960er Jahre reichende Kontakte und persönliche Treffen mit Havels Mitstreiter in der Dissidenz und späteren tschecho­ slowakischen Außenminister Jiří Dienstbier. Albright hatte 1986 zu Beginn des Perestroika-Tauwetters wieder die Möglichkeit, ihre Geburtsstadt zu besuchen. Dort traf sie auch einige Unterzeichner der Charta 77, zum Beispiel den späteren tschechischen Botschafter in den USA Martin Palouš. Dienstbier selbst wurde allerdings, kurz bevor Albright zum vereinbarten Treffen ins Café Savarin kam, verhaftet. Der US-Botschafter hatte ihr von diesem Kontakt nachdrücklich abgeraten. Einen weiteren Besuch in Prag verwirklichte Albright erst wieder an der Spitze der Delegation des renommierten „National Democratic Institute“ unmittelbar nach der „Samtenen Revolution“ im Januar 1990. Außenminister Dienstbier besuchte damals mit ihr die Vorstellung von ­Havels Theaterstücks „Audienz“. Kurz darauf traf sie Havel auf der Prager Burg, und es begann „eine der kostbarsten Freundschaften meines

Den tschechischen Präsidenten Vaclav Havel und US-Außenministerin Madeleine ­Albright verband eine innige Freundschaft. (picture alliance / CTK / Stanislav Zbynek)

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­ ebens“, wie Albright später sagte. Sie bot seinem Büro ihre sofortige UnL terstützung an, die für Havels anstehende USA-Reise gleich genutzt werden konnte. Sie wurde zum Triumph: Auf Havels Rede vor beiden Kammern des Kongresses, zuvor sorgfältig auch mit Albright besprochen, folgte lang andauernder Applaus. Havel trat damals in Washington erfolgreich als Anwalt aller neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien auf.

Lobbyarbeit für den NATO-Beitritt Tschechiens Auch nach dem Zerfall der Tschechoslowakei spielte ab 1993 die enge Beziehung Havels zu Albright für dessen Außenpolitik eine Schlüsselrolle. Das nach dem Zerfall des Warschauer Paktes entstandene Sicherheitsvakuum brachte zweifellos Risiken mit sich. Havel drängte gemeinsam mit dem damaligen polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa bei der neuen amerikanischen Administration von Präsident Clinton darauf, dass beide Staaten schnell in die NATO aufgenommen werden. Anfangs stießen sie auf Zurückhaltung. Albright, damals UN-Botschafterin der USA, unterstützte von Anfang an die mitteleuropäischen Ambitionen und leistete Lobbyarbeit für deren Aufnahme in die Allianz. Clinton begann, vermutlich unter dem Einfluss von Havel, Wałęsa und Albright, seine ablehnende Haltung aufzugeben. 1993 drängte Havel den US-Präsidenten während eines privaten Abendessens bei Albright dazu, dass sich die US-Regierung im ehemaligen Jugoslawien mehr engagierten. „Sonst kön- Beim NATO-Gipfel im Juli 1997 wurden nen Blutvergießen, Greueltaten und eth- Polen, die Tschechische Republik und nischen Säuberungen bis in alle Unend- Ungarn zur Vollmitgliedschaft eingeladen. Die enge Verbindung von Havel und lichkeit dauern.“ Ein wichtiger Meilenstein war Albright spielte dabei eine wichtige Rolle. Clintons Reise mit einer Delegation nach Prag im Januar 1994. In Anwesenheit der Staatsoberhäupter der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) wurde hier das weiterhin funktionierende Programm „Die Partnerschaft für den Frieden“ verkündet. Viele, insbesondere die Polen, verstanden dies als Alibi für die Ablehnung einer NATO-Vollmitgliedschaft. Andere, wie Havel und Albright, sahen darin eher eine Vorstufe. Die US-Regierung trieb das weiter voran. Beim NATO-Gipfel im Juli 1997 wurden Polen, die Tschechische Republik und Ungarn zur Vollmitgliedschaft einge­ OST-WEST 4/2023

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laden. Die enge Verbindung von Havel und Albright spielte dabei eine wichtige Rolle. Vor allem nach ihrer Ernennung zur US-Außenministerin im Januar 1997 wurden ihre nicht formellen Kontakte immer intensiver. Albrights Mitarbeiter Ronald Asmus erinnert sich, dass beide Politiker ständig am Telefon waren: „Die Ministerin beriet mit Havel alles Mögliche: wie mit den Franzosen zu verhandeln sei, ob es nicht empfehlenswert sei, den Russen das Versprechen zu geben, dass in Mitteleuropa keine amerikanischen Basen gebaut werden – laufend wurden Unmengen solcher Angelegenheiten besprochen“. In Albrights Team waren nicht alle begeistert über diese enge Beziehung: Da Havel mit Albright tschechisch sprach, musste das Gesprächsprotokoll nachträglich und unter Schwierigkeiten erstellt werden. Die feierliche Zeremonie der Übergabe der Beitrittsdokumente fand erst am 12. März 1999 statt, nachdem alle NATO-Staaten den Beitritt ratifiziert hatten. Kurz davor schickte Havel an Albright ein „pseudo-hochverräterisches“ Dankschreiben, das beiläufig andeutet, dass die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft zum gegebenen Zeitpunkt einen NATO-­ Beitritt nicht eindeutig unterstützte: „Vertraulich! Geheim! Seid beim NATO-Beitritt streng zu uns! Wir sind ein Volk von Schwätzern.“ Zu Recht kann man annehmen, dass aus Warschau und Budapest nichts dergleichen zu hören war. NATO-Einsatz gegen Serbien beschädigt Albrights Ansehen Bereits zwölf Tage später kam (nicht nur) für die tschechische NATO-Mitgliedschaft die erste Belastungsprobe: Luftstreitkräfte der NATO begannen, Ziele in Serbien zu bombardieren, um das Vorgehen des serbischen Militärs gegen die Kosovo-Albaner und „ethnische Säuberungen“ zu verhindern. Mitverantwortlich für diese Entscheidung war auch Albright, was für sie aufgrund ihrer Familiengeschichte ungeheuer schwer war, denn ihr Vater hatte als ehemaliger tschechoslowakischer Botschafter in Belgrad dort einige Freunde. Und Albright selbst auch. In Teilen der tschechischen Öffentlichkeit erntete ihr Engagement im Kosovo-Konflikt einige Kritik, die lange nachwirkte. Noch im Oktober 2012 veranstalteten pro-serbische Vereine in der Tschechischen Republik, unterstützt auch von dem bekannten Filmregisseur Emir Kusturica, eine Demonstration gegen eine Autogrammstunde von Albright. In der Buchhandlung Luxor auf dem Prager Wenzelsplatz zeigten sie große Fotos der serbischen Opfer des „Kosovo-Krieges“. Die Demonstranten beschimpften Albright unflä282

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Madeleine Albright und Prag

tig und beschuldigten sie der Kriegsverbrechen. Aufgrund dieser Aktion musste zur großen Enttäuschung der Anwesenden die Autogrammstunde abgebrochen werden. Diese unangenehme Episode zeigt die widersprüchlichen Bewertungen von Albright in ihrer Heimat trotz der großen Verdienste mit Blick auf den NATO-Beitritt. Konservative Feministin Als erste US-amerikanische Frau in einer so wichtigen Funktion wurde Albright nicht nur in ihrer Heimat besonders streng beurteilt, oft keineswegs mit Sympathie. Besondere Aufmerksamkeit fand ihre „Broschensprache“, denn Albright trug zu ihren Kostümen immer eine dem je­ weiligen Thema entsprechende Brosche aus ihrer legendären Sammlung. So drückte sie indirekt oder symbolisch ihre Einstellung zu einem vorliegenden Problem oder einer Person aus. Wie ein schadenfroher Kommentator anmerkte, habe sich Albright schon allein mit diesem unüblichen Kommunikationsmittel in die Geschichte der Weltdiplomatie eingeschrieben. Ihr Leben lang hielt Madeleine Albright die Verbindung nach Prag. Sie selbst hat ihre Mis- (picture alliance / dpa / Vladimir Houdek) sion sehr allgemein beschrieben. Im Buch „Faschismus. Eine Warnung“ von 2018 formulierte sie dies als ständigen „Kampf gegen Cäsaren“ aller Art. Als konservative Feministin schloss die 2022 verstorbene Politikerin ihre Memoiren mit dem unauffälligen Satz: „Und manche fügen vielleicht auch hinzu, dass ich der Generation der älteren Frauen beigebracht habe, mit hocherhobenem Haupt zu gehen, und der Generation der jüngeren Frauen, furchtlos zu intervenieren.“ Aus dem Tschechischen von Gudrun Heißig OST-WEST 4/2023

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Rastko Jović

Kaiser Konstantin der Große und Niš Rastko Jović, geboren 1978 in Derventa, ist orthodoxer Theologe und arbeitet als außerordentlicher ­Professor an der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Universität in Belgrad. Sein Fachgebiet ist die praktische Theologie. Seit 2010 ist er aktives Mitglied der „Gender Advisory Group“ des Weltkirchenrats, seit 2017 außerdem Sekretär der Zeitschrift seiner Fakultät „Bogoslovlje“.

Dass der römische Kaiser Konstantin am Ende des 3. Jahrhunderts in der Stadt Naissus, dem heutigen Niš in Serbien, geboren wurde, ist nur wenig bekannt. Dabei gehörte er zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des frühen Christentums. Nach Jahrzehnten strenger Verfolgung gewährte Konstantin den Christen im Römischen Reich Glaubensfreiheit und bekannte sich gegen Ende seines Lebens auch selbst zum Christentum. Die Verlegung der Hauptstadt des Reiches von Rom in die nach ihm benannte Stadt Konstantinopel, heute Istanbul, und seine Sorge um die Einheit der christlichen Kirche sind weitere Merkmale seiner Herrschaft.

Wechselvolle Geschichte Der serbische Fürst Milan Obrenović rückte gegen Ende des serbisch-türkischen Krieges am 11. Januar 1878 in Niš, der Geburtsstadt von Kaiser Konstantin, ein. Damit wurde klar, dass die Stadt endgültig frei war und dass sie nach mehr als vier Jahrhunderten türkischer Besatzung wieder zu Serbien gehörte. Der junge, international anerkannte Staat Serbien machte die Stadt nach dem Berliner Kongress zum Teil seines Territoriums. Nach 1878 folgten Jahre des Umbruchs, der Kriege und der dynastischen Wechsel in Serbien. Sieben Jahre später begann der serbisch-bulgarische Krieg. 1903 kam es dann nach stürmischen historischen Ereignissen zu einem Dynastiewechsel. König Aleksandar Obrenović und seine Frau wurden ermordet, 284

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Konstantin der Große und Niš

und auf dem serbischen Thron folgte Petar Karadjordjević, der 1904 gekrönt wurde. Der als „Schweinekrieg“ bekannte Zollkrieg, ein Handelskonflikt zwischen dem Königreich Serbien und der österreichisch-ungarischen Monarchie, dauerte von 1906 bis 1911. Die Krise wurde durch die Annexion von Bosnien und Herzegowina 1908 noch verschärft, die in den ­Ersten Weltkrieg führte. Die Fortsetzung des Krieges mit der Türkei wurde mit den Balkankriegen 1912/13 abgeschlossen. Es gab nur wenig Erholung in diesen Zeiten und keine Kraft, um an wichtige Feierlichkeiten und bedeu- Nach dem Zweiten Balkankrieg 1913 tende Daten zu denken. war Niš nicht nur das Zentrum des Der Zweite Balkankrieg endete im Au- serbischen Staates, sondern betonte gust 1913, und der serbische Metropolit Di- auch die Bedeutung des Christentums mitrije sah für Niš zwei Anlässe zum Feiern und dessen besonderen Platz in der vor: 1.600 Jahre seit dem Edikt von Mailand Geschichte der neuen Welt. und 35 Jahre seit der Befreiung von Niš. Die Feier war für das Fest der Kreuzerhöhung am 14. September geplant, doch die Stadt Niš und ihre Umgebung wurden von einer Cholera-Epidemie erfasst. Deshalb musste die Jubiläumsfeier um zwei Monate verschoben werden. Den Feierlichkeiten wohnten Mitglieder der Herrscherfamilie Kadadjordejvić bei, Kronprinz Aleksandar und Prinz Pavle, sowie Delegationen der orthodoxen Länder und der Kirchen von Russland, Griechenland, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Montenegro, der ehemalige Gouverneur von Flandern und viele andere bekannte Persönlichkeiten.1 All das illustriert die Bedeutung der Identität, die der serbische Staat an Europa und die Welt übermitteln wollte. In diesem Jahr war Niš nicht nur das Zentrum des serbischen Staates, sondern betonte auch die Bedeutung des Christentums und dessen besonderen Platz in der Geschichte der neuen Welt. So wurde die Feier des Mailänder Edikts in Konstantins Geburtsstadt Niš zu einer Feier der Christentumsgeschichte in einer kurzen Erholungsphase zwischen Kriegen und Leiden. Denn schon sechs Monate später folgte ein neuer Krieg, bei dem das Land rund ein Viertel seiner Bevölkerung verlor. Die kurze Dauer des neuen Staates, des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien) wurde nach dem 1 Bei den Feierlichkeiten wurden Filmaufnahmen gemacht, die inzwischen restauriert wurden und online verfügbar sind: http://kinoteka.org.rs/di/efg/Http/EFG/Ser/sp_JKEFG144.html.

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Zweiten Weltkrieg vom sozialistischen Jugoslawien abgelöst. Der Name von Kaiser Konstantin hatte dort keinen guten Klang mehr, denn er erinnerte an die Ausbreitung des Christentums und das in einem Staat, der Religion als „Opium für das Volk“ betrachtete. Die Parallelen zu der 1.700-Jahr-Feier des Edikts von Mailand im Jahr 2013 sind augenfällig: Nach den Balkan-Kriegen der 1990er Jahren hatte sich Serbien erneut dazu entschlossen, das Edikt von Mailand in Konstantins Geburtsstadt Niš zu feiern. Ihm war es im Jahr 313 noch gelungen, als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen. Konstantin war damals im Ringen um die Vorherrschaft im Römischen Reich aus Gallien aufgebrochen, überquerte die Alpen und näherte sich Rom. Die Entscheidungsschlacht sollte sein Schicksal besiegeln, sein Leben und seine Karriere, seine gesamte „Mission“. Konstantin hatte sich entschlossen, gegen Rom zu ziehen, gegen die Ewige Stadt, gegen alles, was diese Stadt darstellte. Die Stadt wurde nicht nur von seinem Gegner Maxentius geschützt, sondern auch von ihren ­a lten Göttern. Die ganze Kraft der Tradition hatte über Jahrhunderte eine ruhmreiche Vergangenheit aufgebaut. Konstantin, der von dieser Kultur,

Der Konstantin-Bogen in Rom erinnert an den Sieg Konstantins über Maxentius. (picture alliance / akg-images)

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der Religion und den Denkmustern geprägt war, zog nicht nur gegen seinen Gegner in den Kampf, sondern wollte auch die bisherige Tradition abschaffen. Für seinen Einmarsch nach Rom war nicht nur eine starke Armee nötig, sondern auch eine neue Weltanschauung. Nach dem Sieg an der Milvischen Brücke erließ Konstantin ein Edikt, das den Christen Glaubensfreiheit gewährte. Aber es folgte noch kein Frieden, sondern es kam zu weiteren Konflikten. Konstantin berief 325 das erste Ökumenische Konzil nach Nizäa ein. Fünf Jahre später gründete er eine neue Stadt, Konstantinopel. All diese Entscheidungen sollten die Geschichte der nächsten Jahrhunderte prägen. Konstantinopel wurde später, im 5. Jahrhundert, mit Rom, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem zu einem der fünf Patriarchate der gesamten christlichen Kirche. Schon das zweite Ökumenische Konzil in Konstantinopel sollte 381 bestätigen, dass „der Bischof der Kaiserstadt den Vorrang an Ehre hat, nach dem Bischof von Rom, denn diese Stadt ist das neue Rom“ (Kanon 3). So legte Konstantin mit der Gründung von Konstantinopel die Grund­ lagen für die Kirchenstruktur, die bis heute die Geschichte prägt und durch das Agieren des Patriarchen von Konstantinopel die Entwicklung der ­orthodoxen Kirche beeinflusst. Im Edikt von Mailand aus dem Jahr 313 heißt es: „Daher haben wir uns, nachdem wir glücklich nach Mailand gelangt sind, darüber beraten, wie der allgemeine Nutzen und das allgemeine Wohl befördert werden können. […] Möge also im Schatten des Friedens jeder Freiheit genießen und in dem Glauben sein, in dem er sein will.“ Neben seiner Bautätigkeit und anderen Taten hat Konstantin eine neue politische Theologie inspiriert, die bis heute im orthodoxen Osten als dominantes Paradigma präsent ist. Der Anfang davon lässt sich in den Worten des Edikts selbst erahnen, man habe beraten, wie „der allgemeine Nutzen und das allgemeine Wohl“ befördert werden können. Die Idee des Gemeinwohls wurde als der Sinn dieses Aktes betont. Der Biograf Eusebios von Caesarea sollte anhand der Persönlichkeit von Konstantin eine besondere Beziehung zwischen ihm und der Kirche konstruieren. Denn Eusebios sah sich dafür verantwortlich, jetzt die neue Beziehung zu erklären, die zwischen Staat und Kirche entstanden war. Der Übergang des Römischen Reichs zum Christentum verlangte eine fundamentale Neuinterpretation der christlichen Haltung zur Gesellschaft. Vor Konstantin erlebten sich die Christen von Rom wegen ihres traumatischen Verhältnisses zum Staat als Bürger dieses Staates, aber gleichzeitig glaubten sie, dass sich die Bereiche von Religion und Staat bis zur UnverOST-WEST 4/2023

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Allein der Marmorkopf des Fragmentes einer Kolossalstatue von Kaiser Konstantin hat eine Höhe von 2,6 Metern. (picture alliance / Herve Champollion / akg-images)

söhnlichkeit scharf voneinander unterschieden. Jetzt aber war es nötig, eine theoretische Rechtfertigung und Erklärung der neuen Wirklichkeit zu liefern, nämlich eines Römischen Reichs, das immer christlicher wurde, wenn auch zunächst nur nominell. Eusebios von Caesarea hat diese schwere Aufgabe übernommen und versucht, die neuen Beziehungen zu rationalisieren. Der Gedanke der Einheit von Kirche und Staat Daher geht Eusebios von der Rolle des Herrschers und seinem Ort in der Schöpfung Gottes aus. Er kommt so zu dem Schluss, dass, solange der Herrscher der Welt Frieden und Gottesglauben gewährt, ihm das eine getreue Nachahmung der göttlichen Herrschaft ermöglichen und dass er auf diese Art der Herrscher der ganzen bewohnten Erde sein wird. Mehr noch, nach Eusebios wird ein solcher Herrscher der Vertreter Gottes auf der Erde. Kaisertum und Staat sind in den Augen von Eusebios zwei außerordentlich wichtige gesellschaftliche Begriffe. In der höchsten gedanklichen Stufe werden sie zu einem vereint und bilden das Himmelreich, das dem himmlischen Jerusalem gleichkommt. 288

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Konstantin der Große und Niš

Der Wunsch, dass sich die christliche Gesellschaft verbreitet, soll grenzenlos sein, was zu einer Fusion der christlichen Zivilisation mit der gesamten bewohnten Erde führen würde. Aus diesem Grund gibt es nach dieser Lesart kein besseres Herrschaftssystem als die Monarchie, denn nur sie ist Ausdruck des himmlischen Staates, der „Gott als den König des Alls“ preist. Rom blühte auf und expandierte, denn es schien die ideale Regierungsform zu haben. Das Werk des Eusebios hatte bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des christlichen Denkens. Die Konturen seiner Theologien haben tiefe Spuren hinterlassen und sind bis heute sichtbar, und zwar im Bedürfnis nach einer klareren Identifizierung der kirchlichen und der staatlichen Strukturen. Wie groß der Einfluss des Eusebios und seiner Sichtweise des Konstantin waren, lässt sich am besten tausend Jahre später erkennen. Patriarch Antonios IV. von Konstantinopel sagte dazu 1397: „Es ist unmöglich, dass die Christen eine Kirche haben, aber keinen Staat. Denn Kirche und Staate bilden eine große Einheit und Gemeinschaft. Es ist unmöglich, dass sie voneinander getrennt sind.“ Drei lebensprägende Städte Doch wer war Konstantin eigentlich im christlichen Sinne? Ist er wirklich Christ geworden? Die Taufe hat Konstantin sich erst auf dem Totenbett spenden lassen. Deshalb bleibt die Frage, was er bis dahin war. In seinem Leben gab es viele Sünden, ja sogar Verbrechen. Der Mord an seinem Sohn Crispus bleibt ein tragisches Familiendrama, das sich historisch niemals vollständig aufklären lässt. Dennoch strebte Konstantin immer zu Gott, es dürstete ihn nach dem Absoluten. Und er wollte wohl einen Teil des Himmelsreichs auch auf der Erde errichten. Mit ihm hat eine Idee vom Christentum gesiegt. Drei Städte waren in seinem Leben wichtig. Seine Geburtsstadt Niš, Rom, mit dem er konfrontiert war und das er beherrschte, und schließlich Konstantinopel, die Vision seines Lebens. Heute tragen in Niš viele Orte, Denkmäler, aber auch bedeutende Bauwerke den Namen „Kon­ stantin“. So heißt der internationale Flughafen der Stadt „Konstantin der Große“, ebenso eine der bedeutendsten Kirchen. Der Bau der Kirche des Heiligen Kaisers Konstantin und der Kaiserin Helena wurde symbolischerweise wieder zur Zeit von Unruhe und großer Instabilität begonnen, während der Bombardierung und des Angriffs der NATO auf Serbien 1999. OST-WEST 4/2023

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Niš und Serbien wollen Konstantin treu bleiben, indem sie alle großen Ideen und Visionen in Zeiten größter Schwierigkeiten, Probleme und Armut beginnen, die sie nicht daran hindern, den Hunger nach etwas Größerem zu zeigen, nach etwas, das sie übersteigt und auf den höheren Wert historischer Existenz verweist. Die physische Armut verwandelt sich zu geistigem Hunger. Konstantin wurde 272 in Niš geboren, in derselben Stadt wie seine Mutter, Kaiserin Helena. Niš bewahrt das Andenken an den großen Kaiser und belebt es neu, denn so belebt und bestätigt es zugleich die Identität seiner Ideen in der ganzen Zeit seiner Existenz. Die Ausgrabungsstätte Mediana in Niš ist ein archäologisches Fundgebiet aus der römischen Zeit, das von der WichWährend der Feierlichkeiten 2013 wurde beschlossen, dass in der tigkeit dieses Gebiets berichtet, wie auch die Stadt Niš siebzehn Brunnen altchristliche Basilika und das Martyrium im errichtet werden, um an die Vorort Jagodin-mali aus dem 4. Jahrhundert. siebzehn Jahrhunderte des Edikts Während der Feierlichkeiten 2013 wurde von Mailand zu erinnern. beschlossen, dass in der Stadt Niš siebzehn Brunnen errichtet werden, um an die siebzehn Jahrhunderte des Edikts von Mailand zu erinnern. Es gibt sie heute in der Stadt, zusammen mit vielen anderen Denkmälern, die als Teil eines Projekts vor den Feierlichkeiten 2013 gebaut wurden. Sie sollen an die Geschichte erinnern, aber auch an die Suche nach einem Raum jenseits der Geschichte, als Eingang in die Zeit einer neuen Zukunft. Ein neuer, achtzehnter Brunnen muss erst noch gebaut werden, um in der Zukunft die Persönlichkeit Konstantins und die Geschichte zu bezeugen, die sich in ihn eingebaut hat, den geistigen Hunger, die Ideen und Visionen, die noch darauf warten, endgültig geboren zu werden. Aus dem Serbischen von Thomas Bremer

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Marek Frysztacki

Frédéric Chopins Musik und die polnische Heimatliebe Marek Frysztacki, geboren 1964 in Oświęcim, studierte polnische Philologie an der Jagiellonen-­ Universität in Krakau. Er ist Miteigentümer des Reisebüros „Marco der Pole“, organisiert Kultur­ reisen in Polen und betreut deutsche Reisegruppen. Er lebt heute in Krakau.

Frédéric Chopin (1810–1849) ist der wohl bekannteste polnische Komponist. Seine Musik wird von vielen Menschen in der Welt geliebt und geschätzt. Schon zu seinen Lebzeiten war er für die Menschen in Polen ein nationales Symbol und galt als fortschrittlicher Künstler, der den formalen Kanon der Musik veränderte und die Kunst des Klavierspiels neu definiert hat. Seine Musik wurde als Ausdruck der polnischen Identität und des Widerstandsgeistes gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft verstanden.

Die Kindheit und Jugend Der Vater von Frédéric Chopin war im Alter von 16 Jahren aus Lothringen nach Polen gekommen. Nicholas Chopin (1771–1844) war Hauslehrer, unterrichtete die französische Sprache und sprach gut Polnisch. Er heiratete die polnische Adlige Justyna Krzyżanowska (1782–1861), mit der er vier Kinder hatte, die im patriotischen polnischen Geiste aufwuchsen. Frédéric (polnisch: Fryderyk) wurde als zweites Kind auf dem Landgut der Adelsfamilie Skarbek in Żelazowa Wola geboren, etwa 40 Kilometer westlich von Warschau, wo sein Vater als Privatlehrer arbeitete. Das Geburtshaus war ein Nebengebäude auf dem Gutshof der Familie Skarbek und steht bis zum heutigen Tag, während das Herrenhaus 1812 abbrannte. Mehrfach umgebaut, erhielt es schließlich die Gestalt ­eines kleinen, romantischen Adelshäuschens, dessen Eingang von zwei Säulen getragen wird. In seiner bewusst stilisierten Form hat das Geburtshaus des Komponisten heute wenig gemeinsam mit seinem ­ OST-WEST 4/2023

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­ rsprünglichen Aussehen. In seiner heutigen Form entspricht es, maleu risch gelegen inmitten eines im 20. Jahrhundert angelegten Parks, dem romantischen Werk des Komponisten und unterstreicht die polnischen Wurzeln seiner Musik. Bald nach der Geburt von Frédéric zog die Familie nach Warschau, wo der Vater am angesehenen städtischen Lyzeum als Französischlehrer unterrichtete. Warschau war die Hauptstadt des 1815 infolge des Wiener Kongresses entstandenen Königreichs Polen, das weitgehend unter russischer Herrschaft stand. In diesem Umfeld formte sich die Identität des jungen Komponisten. Er ging in Warschau zur Schule, besuchte später ein Konservatorium, knüpfte erste Freundschaften und erlebte seine erste Liebe und in den städtischen Kaffeehäusern die von starker Abneigung gegen Russland geprägten politischen Diskussionen. Im Alter von sieben Jahren komponierte Chopin sein erstes musikalisches Werk, ein Jahr später durfte er sein erstes Konzert vor Publikum geben und wurde bald als „zweiter Mozart“ gefeiert. Schließlich trat er vor dem gerade in Warschau weilenden russischen Zaren Alexander I. (1777–1825) auf. Die nationale Bedeutung in Chopins Schaffen Doch Anfang November 1830 verließ der junge Fryderyk Polen für immer. Nur wenige Tage später brach in Warschau ein nationaler Aufstand aus, der später als Novemberaufstand bezeichnet wurde und binnen eines Jahres von russischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen wurde. Aus Wut und Verzweiflung darüber soll Chopin eines seiner bekanntesten Stücke komponiert haben, das auch als „Revolutionsetüde“ bezeichnete Werk in c-Moll op.10 Nr. 12. Dies war der Beginn der Legende vom „natio­ nalen“ Komponisten der Polen. 20 Jahre seines kurzen Lebens verChopin verstand es wie kein Zweiter, brachte der Künstler in Paris. Dort feierte seinen virtuosen Stil brillant mit Motiven er schon bald als Pianist und Komponist der polnischen Volksmusik zu verbinden große Erfolge. Der Komponist Robert und griff dabei gekonnt traditionelle Schumann (1810–1856) kommentierte das Formen von Musik und Tanz auf. erste Chopin-Konzert an der Seine so: „Meine Herrschaften, Hut ab, hier spielt ein Genie.“ Chopin stieg schnell in die künstlerische und geistige Elite Frankreichs auf. Er war ein Künstler par excellence und griff in seinem Schaffen vor allem auf europäische musikalische Traditionen zurück. 292

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In Paris wurde der Migrant aus dem Weichselland trotz seines französischen Namens und seiner tadellosen Sprachkenntnisse immer als Pole gesehen. Für französische Ohren klang seine Musik ungewöhnlich, originell, aber auch fremdartig. Chopin verstand es wie kein Zweiter, seinen virtuosen Stil brillant mit Motiven der polnischen Volks­ musik zu verbinden und griff dabei gekonnt traditionelle Formen von Musik und Tanz auf. Die Ambivalenz der Emotionen, der rasche Wechsel der Stimmungen und Leidenschaften, oftmals in einem einzigen Werk des Meisters enthalten, wurden ebenfalls als etwas typisch Polnisches angesehen.

Chopin spielt 1829 auf Einladung von Fürst Anton Radziwill in dessen Salon in Berlin. (Imago / Gemini Collection)

Dieser polnischen Launenhaftigkeit stand der klare, rationale französische Geist gegenüber. Kritiker von Chopin sahen in seiner Musik die Verkörperung der polnischen Seele. Der Dichter Heinrich Heine (1797– 1856) meinte: „Polen hat ihm eine ritterliche Gesinnung verliehen und den Schmerz der Geschichte aufgezeigt“. Der Dramatiker Ernest Legouve (1807–1903) schrieb: „In Chopin haben wir zwei Wesen, den Patrioten und den Künstler. Die Seele nährt den ersten, das Genie den zweiten.“ Der Komponist Franz Liszt (1811–1886) behauptete, Chopin sei „die Verkör­ perung des poetischen Gefühls einer ganzen Nation“ und die von ihm OST-WEST 4/2023

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verwendeten volkstümlichen Formen lediglich ein Mittel, um eine bestimmte, den Polen eigene Art des Fühlens auszudrücken. Wenn nun Chopin für die Franzosen, die Deutschen und die Engländer ein wahrhaft polnischer Künstler war, was musste er dann erst für die Polen bedeuten, die seiner Musik lauschten und von denen viele Tausende nach dem Novemberaufstand nach Paris emigrierten. Sie hörten die Klänge ihres genialen Landsmannes und fanden in seiner Musik ihr eigenes Schicksal und ihre Emotionen wieder. Oftmals sahen sie in seinen Werken patriotische Motive und Inhalte. Die Polonaise A-dur op.  40 sollte den militärischen Sieg des polnischen Königs Jan III. Sobieski (1629–1696) über die Türken bei Wien im Jahr 1683 darstellen, die Polonaise As-dur op. 53 eine der Schlachten des Novemberaufstandes. Die ­Polonaise Es-Moll op. 26, auch die „Sibirische“ genannt, war dem Schicksal der nach Der Zar sah in Chopins Musik eine Gefahr für die staatliche Ordnung und Sibirien verbannten Polen gewidmet. untersagte daher alle Aufführungen in Heute mögen den meisten Hörern den russischen Teilungsgebieten. diese Hintergründe kaum noch bekannt sein, damals jedoch wusste das Publikum, worum es ging. Mit seiner Musik erreichte Chopin die Herzen der polnischen Verbannten und stärkte ihre Heimatliebe. Allgemeine Beachtung in seinem schöpferischen Werk fanden auch Elemente des Zornes und der Rebellion. Schumann behauptete: „Die Werke Chopins sind unter Blumen verborgene Kanonen“. Ähnliche Ansichten vertrat auch der russische Zar Nikolaus I. (1796 – 1855), der den Novemberaufstand auf grausame Art und Weise niederschlagen ließ. Der Zar sah in Chopins Musik eine Gefahr für die staatliche Ordnung und untersagte daher alle Aufführungen in den russischen Teilungsgebieten. Während des polnischen Januaraufstandes 1863 stürmten russische Soldaten in einer Vergeltungsaktion in Warschau den Zamoyski-Palast, zerstörten die Inneneinrichtung und warfen den Flügel, auf dem Chopin als Kind gespielt hatte, aus dem Fenster. Daraufhin schrieb der polnische Dichter Cyprian Kamil Norwid (1821–1883) in einem Gedicht die berühmten Worte „Das Ideal, es hat das Straßenpflaster erreicht“. Bis zum heutigen Tag sehen die Polen darin ein Symbol für russische Barbarei und eine russische Verachtung polnischer Kultur. Während des Zweiten Weltkrieg waren sich auch die deutschen Besatzer des umstürzlerischen Charakters der Musik Chopins bewusst und der besonderen Gefühle, die diese Klänge bei vielen Polen hervorriefen. Bereits im September 1939 wurden öffentliche Aufführungen von Cho294

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pins Werken verboten ebenso das Abspielen von Schallplatten mit seiner Musik. Das Denkmal des Komponisten in Warschau, eines der Wahrzeichen der Stadt, wurde auf Befehl des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete Hans Frank in die Luft gesprengt. Dabei verehrte Frank den Komponisten und war selbst ein ausgezeichneter Pianist. Er gab in Warschau gelegentlich Konzerte für Generäle und Offiziere der Wehrmacht und SS und spielte Werke von Chopin. 1943 organisierte Frank in Krakau eine Ausstellung, die dem Komponisten gewidmet war. Weil Chopins Vater ursprünglich aus Lothringen stammte, kam der Generalgouverneur zur folgenden Deutung: „Friedrich Schopping war ein Genie, daher ist es klar, dass er kein Pole gewesen sein kann. Er ist der größte Komponist, den Deutschland je hervorgebracht hat.“ Früher Tod und Vermächtnis Chopin starb bereits im Alter von 39 Jahren in Paris an Tuberkulose. Er wurde auf dem berühmten Friedhof Père-Lachaise beigesetzt. Sein letzter Wunsch war, dass sein Herz nach Warschau zurückkehren sollte. Dies zu erfüllen, lag in den Händen seiner Schwester Ludwika. Sie brachte das Herz des Bruders heimlich in einem Gefäß, mit Spiritus konserviert, nach Polen. Dort fand es schließlich seinen Platz in einer Säulenmauer in der Heilig-Kreuz-Kirche. Die polnische Inschrift auf der Gedenktafel lautet: „Für Frédéric Chopin – von seinen Landsleuten“. Darüber prangt ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ Diese Geschichte fügte sich gut in die Legendenbildung rund um Chopin als natio- Chopin in Polen war wie die Luft, er war allgegenwärtig, so wie ein leises, nalen Schöpfer und Künstler. Dieses etwas vereinfachte Bild des Pia- leichtes, unaufhörliches Rauschen. nisten blieb in Polen über Jahrzehnte erhalten. Ihm zu Ehren wurden Denkmäler errichtet, und seine Musik wurde zu einem nationalen Wahrzeichen, auch unter kommunistischer Herrschaft. Seine Musik war in Polen allgegenwärtig, ob auf schulischen Festveranstaltungen oder zu Nationalfeiertagen. Auf großen Staatbegräbnissen erklang sein „Trauermarsch“, Gedenken an die heldenhaften polnischen Aufständischen und Soldaten untermalte seine „Revolutionsetüde“. Die Schönheit der polnischen Natur sowie die wirtschaftlichen Errungenschaften des Sozialismus umrahmte die „Polonaise-Fantasie As–Dur“. Chopin in Polen war wie die Luft, er war allgegenwärtig, so wie ein leises, OST-WEST 4/2023

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leichtes, unaufhörliches Rauschen. Selbst vor der öffentlichen Verkündigung des Kriegsrechts in Polen 1981 durch General Wojciech Jaruzelski im polnischen Staatsfernsehen waren Akkorde der Fantasie f-Moll von Chopin zu hören. Somit wurde der Komponist gewissermaßen deklassiert auf das Niveau eines musikalischen Begleiters im Rahmen der kommunistischen Staatspropaganda. Die Weide, typisch für die Landschaft Masowiens, galt als untrennbar mit Chopin verbunden, wie ein Symbol für Heimweh nach dem Vaterland. Wer in Polen eine Weide sieht, denkt an Chopin. Wer den Klängen seiner Musik lauscht, der mag wiederum an Weiden denken. Chopin und seine Bedeutung für Polen heute Gleichzeitig zeigten jedoch Umfragen schon 2010, dass in Polen nur 0,2 Prozent der Befragten in der Lage waren, Chopins populärste Werke beim Hören zu erkennen und korrekt zu benennen. Chopin schien zwar überall zu sein, blieb jedoch oftmals unerkannt. Im gleichen Jahr wurde im Land das Chopin-Jahr gefeiert. Polen, vor allem Warschau, erlebte nun eine Flut von bunten Gedenk- und Souvenir-Artikeln, ­ Plakaten und Chopin-Wandbildern, die zuweilen billig und kitschig wirkten. Wiederkehrende Motive waren die große Nase des Komponisten, seine charakteristische Frisur, Klaviertasten oder die Weide – das ganze oft in grellen Farben. Chopin sollte so vom Sockel geholt und eine Art cooler Kumpel werden. Das funktionierte aber nicht. Geblieben sind seither in Warschau neben einem multimedialen Museum fünfzehn Bänke aus Ein Denkmal in Żelazowa Wola, dem Geburtsort schwarzem Granit. Sie waren an des Komponisten, erinnert an Frédéric Chopin. (Matthias Kneip) Orten aufgestellt worden, die im 296

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­ eben des jungen Chopin eine Rolle spielten. Man kann dort sitzen, sich L ausruhen und auf Knopfdruck Fragmente seiner populären Musik hören. Trotz aller PR-Kampagnen, Initiativen und Marketing-Events reicht es vielen Polen zu wissen, dass Chopin eine große Persönlichkeit war. Diejenigen mit einer höheren Bildung werden wohl hinzufügen, dass Chopin in seiner Musik Polen und Europa verbindet. Er verlieh der lokalen Musiktradition einen Das bewusste Hören seiner Musik universalen Wert und begeistert mit seinen entführt viele Polen in eine idealisierte Werken noch heute Menschen in der gan- geistige Heimat, abseits der alltäglichen Streitigkeiten und Konflikte in Politik zen Welt. Doch es sind nicht nur die Mazurken, und Gesellschaft. Kujawiaks und Polonaisen, auf die Chopin in seinem Werk zurückgriff und durch die seine Musik ein dauerhaftes Element der nationalen Identität, der polnischen geistigen Gemeinschaft und des nationalen kulturellen Kults wurde. Das bewusste Hören seiner Musik entführt viele Polen in eine idealisierte geistige Heimat, abseits der alltäglichen Streitigkeiten und Konflikte in Politik und Gesellschaft. Lauscht man diesen Klängen, wird einem bewusst, dass wir so sind wie diese Musik: emotional, im Wechselbad der Gefühle, mit einem Hang zum Drama. Wir stellen unsere Vorstellungskraft über die Logik und das Herz über den Verstand, ungestüm. Wir sind impulsiv und zuweilen sehr schnell begeistert, verfallen aber genauso plötzlich in Trauer und Melancholie. Die Musik von Chopin zeigt uns, wie schön wir sein können, wenn wir einfach nur so sind, wie wir sind. Danke, Frédéric! Aus dem Polnischen von Christian Prüfer

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Gemma Pörzgen

„Noch‘n Gedicht“ – Der Komiker aus Riga Gemma Pörzgen ist freie Journalistin mit Ost­europa-­ Schwerpunkt. Seit April 2020 ist sie Chef­redakteurin von „Ost-West. Europäische Perspek­tiven“. Sie arbeitet in Berlin als Autorin und Veranstaltungs­ moderatorin sowie als Online-­Redakteurin beim Deutschlandfunk. Davor war sie als Auslandskorrespondentin für verschiedene Zeitungen in Belgrad und Tel Aviv tätig.

Dass der Komiker Heinz Erhardt aus Riga stammt, ist kaum bekannt. Auch in der lettischen Hauptstadt erinnert heute wenig an ihn, außer einer Stadtführung. Dabei war der Kabarettist sein Leben lang seiner Heimatstadt eng verbunden.

Auf Spurensuche in Riga Der Komiker Heinz Erhardt ist bis heute der Inbegriff deutschen Humors der Nachkriegszeit. Während junge Leute eher mit den Achseln zucken, haben ältere Menschen den Humoristen mit der schwarzen Hornbrille noch in bester Erinnerung. Seine witzigen Reime waren einst legendär. Dass der kabarettistische Alleinunterhalter 1909 in Riga geboren wurde, stößt allerdings meist auf großes Erstaunen und ist nur wenigen Leuten bekannt. Auch in seiner Geburtsstadt ist Erhardt heute eher unbekannt. Es gibt keine einzige Erinnerungstafel, die dort an ihn erinnern würde. Wer sich also in Riga auf Erhardts Spuren begibt, ist gut beraten, sich der Stadtführerin Sandra Leikarte anzuschließen. Sie arbeitete einst als Fernsehproducerin im ARD-Büro und eignete sich damals viel Wissen über Erhardt in Riga bei der Mitarbeit an einer TV-Dokumentation an. Das weckte ein anhaltendes Interesse an der Geschichte des Komikers, dem sie jetzt mit viel Engagement in ihrer Stadtführung nachgeht. Die freundliche Lettin trägt einen eindrucksvollen großen Hut und versucht schon mit ihrer Erscheinung, zu einer Zeitreise in die Jugendstilzeit von Riga einzuladen. Ihre „Heinz Erhardt-Tour“ stößt vor allem bei deutschen Touristen älteren Semesters auf Interesse. 298

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Die wichtigste Station dieses dreistündigen Spaziergangs durch Riga ist ein stattliches gelbes Haus im Stadtzentrum in der Nähe des Freiheitsdenkmals. Dort befand sich einst die Musikalienhandlung von Erhardts Großvater mütterlicherseits, Paul Neldner. Sein Name hat in Lettland bis heute einen besonderen Klang, denn er war aus lettischer Sicht weitaus prominenter als sein komödiantischer Enkelsohn. Neldner verlegte zu seinen Lebzeiten alle lettischen Kompositionen, verkaufte neben Noten die besten Klaviere und Flügel und verkehrte regelmäßig am Hof des russischen Zaren. Auch väterlicherseits gehörte Erhardts Familie damals zur privilegierten Oberschicht. Seine deutschbaltische Familie wanderte 1760 aus der Pfalz in die damalige russische Ostseeprovinz ein. Sein Großvater ­Johann Jakob war während des Ersten Weltkriegs kommissarischer Bürgermeister von Riga, sein Onkel Robert kurzzeitig der zweite Finanzminister der 1918 neu gegründeten Republik Lettland. Als Heinz Erhardt in Riga aufwuchs, Seine Eltern trennten sich bereits in war die lettische Hauptstadt eine blühende seiner frühen Kindheit. Der Vater ging Ostseemetropole mit drei Sprachen und ge- nach Deutschland. Die Mutter zog hörte noch zum Russischen Reich. Der Junge nach St. Petersburg, sodass der kleine sprach deshalb deutsch, russisch und let- Heinz zunächst bei den Großeltern mütterlicherseits in Riga aufwuchs. tisch. Seine Eltern trennten sich bereits in seiner frühen Kindheit. Der Vater ging nach Deutschland, wo er als Kapellmeister Erfolge feierte. Die Mutter zog nach St. Petersburg, sodass der kleine Heinz zunächst bei den Großeltern mütterlicherseits in Riga aufwuchs. Kurz bevor er eingeschult wurde, holte ihn seine Mutter zu sich, aber der Junge konnte sich in St.  Petersburg nicht eingewöhnen, wie er die „Entführung“ später selbst beschrieb. Weil sein Heimweh so stark wurde, kehrte er schließlich zu den Großeltern nach Riga zurück und ging dort in die Schule. Musik als erste Leidenschaft Als der kleine Heinz zehn Jahre alt war, lebte er wieder bei seinem Vater, der ihn auf eine Konzerttournee durch Deutschland mitnahm. Das brachte dem Jungen ständige Schulwechsel ein, die sich nach der erneuten Rückkehr 1924 zu den Großeltern nach Riga auf seine Leistungen auswirkten. Sein Gymnasium in Riga ist heute der Sitz der Kunstakademie, ein prächtiger Backsteinbau mit idyllischem Garten, der auch eine Station der OST-WEST 4/2023

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Stadtführung ist. Auch hier deutet heute nichts auf den einstigen Schüler hin. Wer das imposante Treppenhaus betritt, findet sich in den Obergeschossen zwischen Kunstinstallationen wieder, der Duft von Ölfarben liegt in der Luft. An das einstige Städtische Deutsche Gymnasium erinnert in der Kunsthochschule nichts mehr. „Oben in der Aula hat er einst Orgel gespielt“, erzählt die Stadtführerin. Für den kleinen Heinz war die Schule allerdings kein glücklicher Ort, denn er war ein schlechter Schüler, der schließlich alles hinwarf und 1926 ohne Abitur die Schule verließ. Zwei Jahre lang besuchte er das Konservatorium in Leipzig und ­studierte Klavier und Komposition. Doch für seinen Traum von einer Karriere als Pianist fand er bei seinem Großvater wenig Verständnis. Großvater Neldner beschäftigte den Enkel stattdessen in seiner Musikalienhandlung. Zeitzeugen beschreiben das Ambiente in dem Geschäft

Heinz Erhardt stillte das Unterhaltungsbedürfnis der bundesdeutschen Gesellschaft in der Wirtschaftswunder-Ära. (picture alliance / United Archives / Roba Archiv)

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als sehr gediegen – ein Teppich mit einem Venedig-Motiv über dem türkischen Sofa und an den Wänden Künstlerfotos mit Autogrammen. „In der Mitte des Saals wie ein großer Wal schlummert der große Flügel“, heißt es. Aber auch am Geschäftsleben fand Heinz offenbar wenig Gefallen. Es langweilte ihn, Tag für Tag im Laden Noten, Blockflöten oder Klaviere zu verkaufen. Dabei wollte ihn Großvater Neldner eigentlich zu seinem Nachfolger ma- Seine musikalische Begabung hatte chen. Stattdessen klimperte Heinz lieber auf Erhardt vermutlich von seinem Vater den Klavieren herum, die zum Verkauf be- Gustav geerbt, mit dem er später stimmt waren. Er wollte Pianist werden und auch gemeinsam auftrat. komponierte bereits erste eigene Werke. In seiner unvollendeten Autobiografie lässt Erhardt anklingen, wie unwohl er sich damals fühlte: „Im großväterlichen Musikgeschäft befand ich mich mitten hehrster Kunst – dachte ich! In Wirklichkeit ist es völlig wurscht, ob man mit Käse handelt oder mit Musik: Immer kauft man billig ein, um teurer zu verkaufen. Als ich diese meine rein persönliche Meinung in aller Öffentlichkeit preisgab, verhüllte mein von hanseatischem Kaufmannsgeist erfüllter Großvater sein Haupt.“ Später feierte der Alleinunterhalter in seiner Heimatstadt erste, kleine Bühnenerfolge. So war in der „Rigaschen Rundschau“ zu lesen, wie der „immer heitere Heinz Erhardt“ bei bunten Abenden und in den Kaffeehäusern der Stadt auftrat. Dort trug er anfangs Gedichte und selbstkomponierte Lieder vor. Jahre danach wurde er für seine lustige Wortakrobatik im Deutschen Schauspiel gefeiert. Seine musikalische Begabung hatte Erhardt vermutlich von seinem Vater Gustav geerbt, mit dem er später auch gemeinsam auftrat. 1933 berichtet die „Rigasche Rundschau“ über die Operette „Seine kleine tapfere Frau“, die mit Vater und Sohn im Deutschen Theater von Riga erfolgreich Premiere feierte. „Heinz Erhardt – das ist der Schöpfer der Musik und der Gesangstärke der neuen Operette“, schreibt der Kritiker über die Vorstellung. „Heinz Erhardt – das ist doch der bestbekannteste Interpret humoristischer Unterhaltsamkeiten, der noch vor nicht langer Zeit überall dort zu finden war, wo etwas los war in der Stadt. Jetzt gibt es also Premierenfieber und winken Ruhmeskränze.“ Und über den Vater heißt es weiter: „Gustav Erhardt, der Vater des Komponisten, manchen Älteren in Riga noch wohlbekannt als Gustl Erhardt, der muntere Musiker, der vor langen Jahren ins Ausland ging und sich dort als Kapellmeister einen Namen von beachtlichem Klang erworben hat. Nun wird er die neue Operette seines Sohnes dirigieren.“ OST-WEST 4/2023

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Holprige berufliche Anfänge Ein weiterer Halt der Städtetour ist ein Haus, in dem Erhardt viele glückliche Ehejahre zubrachte. Im Frühjahr 1934 war er der Tochter des italienischen Konsuls, Gilda Zanetti, begegnet, seiner großen Liebe. Die beiden lernten sich zufällig im Aufzug kennen. Erhardt schrieb später über diese Begegnung: „Die Fahrstühle in Riga fuhren seinerzeit glücklicherweise sehr langsam. Das gab mir die Möglichkeit, ein paar Sätze mit der schönen Unbekannten zu wechseln.“ Das Paar heiratete, bekam vier Kinder und blieb 45 Jahre lang zusammen. Sandra Leikarte lädt dazu ein, das Wohnhaus zu betreten, das für Heinz Erhardt über einige Jahre zum Familienheim in Riga wurde. Aber finanziell erfolgreich war diese erste Etappe von Erhardts Karriere nicht. Ende der 1930er Jahre ging Erhardt deshalb nach Berlin. Mit rund 60.000 Deutschbalten habe es in Riga ein zu kleines deutschsprachiges Publikum für den Unterhaltungskünstler gegeben, erläutert die Stadtführerin Leikarte. Der Komiker habe mit seinen Auftritten nicht genug verdienen können, musste aber inzwischen Ehefrau und Kind ernähren. Auch in Deutschland erntete Erhardt zunächst vor allem Absagen. Oft habe er nichts anderes zu essen gehabt als die mittägliche Erbsensuppe, wird überliefert. Doch im Oktober 1938 engagierte ihn Willi Schaefers, der Altmeister des deutschen Kabaretts, und holte ihn an das renommierte „Kabarett der Komiker“. Endlich kam es für Erhardt zum ersehnten Durchbruch. Die Zeitung „Rigasche Rundschau“ schrieb am 19. Dezember 1938 darüber: „Das erste Engagement hatte Heinz Erhardt, der im Mai dieses Jahres Riga mit der festen Absicht verließ, ‚die Kiste zu schmeißen‘, im bekannten Breslauer Kabarett ‚Kaiserkrone‘“. Dann kam Berlin, und „Berlin“, so erzählt Heinz Erhardt „war für mich durch kühle Agentenmienen, nutzlose Ferngespräche, wundgeschriebene Offertenfinger und die tägliDas Gymnasium, das Heinz Erhardt in Riga besucht che 40 Pfennig Erbsensuppe gehat, ist eine feste Station auf der Führung der Stadtführerin Sandra Leikarte. (Gemma Pörzgen) kennzeichnet. Das ging so, bis ich 302

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Heinz Erhardt und Riga

am 9. Oktober Willi Schaeffers, den Direktor des Kabaretts der Komiker anrief und ihn fragte, ob ich ihn nicht sprechen könne.“ Von da an ging es mit der Karriere endlich aufwärts. Im Zweiten Weltkrieg wurde Erhardt 1941 zum Kriegsdienst einberufen und ging zum Musikkorps der Kriegsmarine. Auch dort wurde sein komödiantisches Talent schnell erkannt, sodass Erhardt bald die Standorte der Wehrmacht abreiste, um mit bunten Programmen für Unterhaltung zu sorgen. Erfolge in Film und Fernsehen Nach Kriegsende ließ er sich mit seiner Familie in Hamburg nieder und arbeitete als Radiomoderator beim NWDR, wo seine erste Unterhaltungssendung „So was Dummes“ hieß. Die Sendung wird zum Publikumsrenner, sogar die Briten hören gern zu: „Sie sind der einzige Deutsche, über den wir lachen können, ohne dass wir ein Wort verstehen“, heißt es. Es folgten dann ab 1957 große Erfolge in zahlreichen populären Filmkomödien wie „Witwer mit fünf Töchtern“ oder „Was ist denn bloß mit Willi los?“. Erhardt wurde in diesen Jahren geradezu zur Symbolfigur für den typischen Deutschen aus der Zeit des Wirtschaftswunders. Seine Markenzeichen waren vor allem eine von rechts nach links überkämmte Halbglatze und die große schwarze Hornbrille mit dickem Fensterglas. Sie diente dazu, dem Kurzsichtigen die Angst vor dem Publikum und das Lampenfieber zu nehmen. Erhardt wurde zum Star-Komiker der 1950er und 1960er Jahre. Der nette Dicke mit der Kassengestell-Brille, der mit unschuldigem Augenaufschlag einigen Unsinn erzählte, begeisterte viele Menschen mit seinem Wortwitz und seinen phantasievollen Sprachspielereien. Und doch klangen in seinen Gedichten auch ernste Themen an wie Vergeblichkeit, Vergänglichkeit oder der Tod – ein Mix, der vermutlich gut in die Gemütslage der Nachkriegszeit passte. Im fernen Riga verfolgte die „Rigasche Rundschau“ die Erfolge und schrieb freudig: „Der Weg, den Heinz Erhardt gehen mußte, ehe er sich durchbeißen konnte, zeigt jedoch, daß auch ein begabter Mensch nicht auf Rosen gebettet liegt, bis er ‚soweit‘ ist. Und uns freut es ganz besonders, dass es dieses Mal ein Kind unserer Stadt ist, das es geschafft hat.“ Heinz Erhardt bezeichnete zeitlebens Riga als seine geliebte Heimatstadt, in der er seine glücklichsten Jahre verbracht habe. Die Verbindungen dorthin seien nie abgerissen, sagt die Stadtführerin. OST-WEST 4/2023

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Martin Treml

Czernowitz – Stadt der Dichterinnen und Dichter Martin Treml, geboren 1959 in Linz an der Donau, ist Religions- und Kulturwissenschaftler. Er lehrt als DAAD-Professor derzeit an der Staatlichen Ilia Universität in der georgischen Hauptstadt Tbilisi. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die deutsch-­ jüdische Kulturgeschichte seit Moses Mendelssohn. Er edierte unter anderem Schriften von Martin Buber, Gershom Scholem und Aby Warburg.

Zwei der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts kommen aus Tscherniwzi, einer Stadt in der heutigen Ukraine, die von der jüdischen Tradition ebenso geprägt ist wie von ihrer österreichischen Vergangenheit. Nur unter Einbeziehung dieser versunkenen Welt kann das Werk von Rose Ausländer und Paul Celan verstanden werden.

Ausländer und Celan Die Stadt Czernowitz liegt heute in der Ukraine und heißt Tscherniwzi. Sie ist die Hauptstadt einer verschwundenen europäischen Kulturlandschaft, der Bukowina, des „Buchenlands“. Ich werde aber den alten Stadtnamen weiterverwenden, weil er zur Zeit der hier erörterten Dichterin und des hier erörterten Dichters in Gebrauch war. Die Lyriker Rose Ausländer (1901–1988) und Paul Celan (1920–1970) sind nicht die einzigen aus Czernowitz Gebürtigen, die Literatur verfassten, aber sicherlich die bekanntesten. Beide tragen einen „nom de plume“, einen Schriftstellernamen, nicht eigentlich ein Pseudonym, sondern eher eine Permutation oder besser eine Poetisierung. Bürgerlich hieß sie Rosalie Beatrice Scherzer, verheiratete Ausländer, er Paul Antschel. Dass er sich damit gleichsam „entjudete“ und europäischer machte, ist eine bittere Ironie gerade für einen Dichter, der so jüdisch war und sein wollte, aber das ist Teil der Tragik Celans. Es ist auch eine Korrektur der willkürlichen und oft bösartigen Verordnung von Familiennamen, die 304

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die Juden erleiden mussten, als sie in die entstehende, bürgerliche Gesellschaft seit 1800 zögerlich, von der Bürokratie jedoch brüsk aufgenommen wurden. Celan machte diesen Akt durch Selbstsetzung unwirksam und sich selbst zum Herrn über sich – allerdings mit fatalen Folgen. Man verstößt nicht leicht gegen die Ordnung von Herkunft und Namen, ist sie auch von oben diktiert. Ausländer und Celan schrieben fast ausschließlich Gedichte und taten das so unterschiedlich wie überhaupt nur möglich. Celan war hermetisch bis zur Unverständlichkeit, aber er musste das sein, weil er die Traumata der Nazizeit, die Ermordung seiner Eltern, seine eigene Verschleppung und Zwangsarbeit nicht anders ertragen konnte. Fast noch schlimmer aber waren für ihn nach 1945 das Weiterleben und der Fortbestand von Tätern, deren Überzeugungen und geräuschlose Integration in die Normalität der jungen Bundesrepublik. Das hat den Dichter schließlich in den Wahnsinn getrieben, und daran ist er gestorben, ertrunken in der Seine im Frühling von Paris, der Stadt der Liebe  – ein Frauenheld, starker Raucher und Trinker. Ausländer ist dagegen konkret und verständlich, schrieb Gedichte, die sich (er)öffnen, ohne jedoch in irgendeiner Weise flach zu sein. Ganz im Gegenteil sind sie reich an Bildern und Fügungen, sehr genau pointiert – so etwa in „Selbstporträt“: Jüdische Zigeunerin deutschsprachig unter schwarzgelber Fahne erzogen Grenzen schoben mich zu Lateinern Slaven Amerikanern Germanen Europa in deinem Schoß träume ich meine nächste Geburt Als Jüdin war sie erzwungenermaßen ortlos, eine Zigeunerin (die andere große Gruppe der Deplatzierten Europas) – schon ihr Name, Ausländer, verweist darauf –, wenn auch in eine genau angegebene Herkunft gestellt. Sie sprach Deutsch, aber tat das auf eine melodisch weiche, südöstliche OST-WEST 4/2023

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Weise, die fast ganz verschwunden ist, denn die Modulation ist nicht die heutige süddeutsche oder österreichische. Die schwarzgelbe Fahne weht nicht mehr. Dass Celan auch so sprach, sollte bei Treffen der Gruppe 47, des wichtigsten Schriftstellerzusammenschlusses der Bundesrepublik, für gewaltige Verwirrung sorgen. Ein Autor fühlte sich bei dessen Gedichtlesung sogar an Joseph Goebbels erinnert. Aber weiter zum Verständnis von Ausländers Gedicht. Nach ihrer Herkunft spricht sie von ihrer Gegenwart, darüber, dass Grenzen sie verschoben, zu Völkern, die einerseits imperial, andererseits ana­ chronistisch bezeichnet werden. Die Lateiner, das sind die Rumänen. Immerhin musste einer der größten römischen Dichter, Ovid, dorthin ins Exil, wahrscheinlich aus Liebesgründen. Und die Germanen, das sind die Deutschen, vor und nach 1945. An vielen Orten der Welt zuhause, wurde In die USA ging sie mehrmals, auf eine oft Rose Ausländers literarische Arbeit stark verwirrende Weise. Die Slawen, das sind durch ihren Geburtsort Czernowitz beeindie Sowjets. flusst. (picture ­alliance / dpa) In der dritten Strophe erscheint ihre Zukunft, Europa, was damals, zur Zeit der Verfassung des Gedichts, ganz utopisch war. Denn der Kontinent war durch den Eisernen Vorhang getrennt. Es gab ihn also nicht jenseits der Geografie. Aber das künftige Ich ist ja auch noch nicht geboren, sondern schlummert im Schoß, träumend. Kulturraum Bukowina Dichterinnen und Dichter sind nicht nur schöpferische Individuen, sondern auch Teil kultureller Räume, die es zu beschreiben gilt. Das trifft gerade auf Ausländer und Celan zu. Sie nannte die Bukowina „Landschaft die mich erfand“. Sie sind Übersetzer, weil sie hinübergesetzt haben und das in mehrfacher Hinsicht: zwischen den Räumen, den Regionen, den Religionen. Sie sind Exponenten einer Poetik Europas von den Rändern her, die dabei aber seine zentralen Probleme zur Darstellung bringen. Ge306

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rade Grenzsituation und Vertreibung haben sie dazu in die Lage versetzt, eben ihre Herkunft als Hinkunft. Die Bukowina gibt es eigenständig so wenig mehr wie Galizien, ihren Nachbarn, der sie bis 1849 umschloss, bevor sie ein eigenes Kronland im österreichischen Teil der Habsburger Doppelmonarchie wurde. Galizien wie Bukowina sind beide Teile der „Blood Lands“, von denen der US-Histori- In den „Blood Lands“ hatten die ker Timothy Snyder in seinem Buch schreibt. Nationalsozialisten und die Sowjets Orte von Genoziden und darum schwer mitten im 20. Jahrhundert vierzehn traumatisiert. Auch der gegenwärtige Krieg Millionen Menschen ermordet. Russlands gegen die Ukraine lässt die Stadt Tscherniwzi nicht unbehelligt, selbst wenn sie, im äußersten Südwesten gelegen, zumindest bisher kein Hauptziel von Angriffen war. Wir werden noch sehen, was daraus folgt, politisch, poetisch. Nichts davon lässt sich prognostizieren. In den „Blood Lands“ hatten die Nationalsozialisten und die Sowjets mitten im 20. Jahrhundert vierzehn Millionen Menschen ermordet. Diese Territorien umfassen ganz wesentlich auch den so genannten jüdischen Ansiedlungsrayon, in dem die russische Zarin Katharina die Große den Juden ihres Reiches zu wohnen erlaubt hatte und der von Pogromen oft erschüttert wurde. Östlichste Kolonie Habsburgs Czernowitz liegt also in einem historisch dichten Teils Europas, der deshalb immer wieder in Einzelteile zerrissen und hin- und hergeschoben wurde. Seit 1775 gehörte es, den Osmanen auf indirekte Weise durch russische Siege abgerungen, zum Habsburgerreich. Deutsche Siedler und viele Juden, die Jiddisch sprachen, prägten die Bevölkerung in den folgenden hundert Jahren. 1775 hatte die Bukowina noch knapp 70.000 Einwohner, hauptsächlich Rumänen. Danach wuchs vor allem der Anteil der ­U krainer, die Ruthenen genannt wurden. Ab 1880 bildeten sie die größte Bevölkerungsgruppe in der Bukowina, die offizielle Kultur war dennoch deutsch. Aus Anlass der hundertjährigen Zugehörigkeit zu Österreich gründete Kaiser Franz Joseph eine Universität, in der Deutsch die Unterrichtssprache war. Czernowitz war die Hauptstadt der östlichsten Kolonie Habsburgs. Blicken wir in die Hauptstadt. Zur gleichen Zeit träumte Wien vom Osten als Liebes- und Zauberreich. Das zeigt die Architektur. Die beiden OST-WEST 4/2023

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Haltestellengebäude der Stadtbahnstation am Karlsplatz sind funktionale Bauten in floralem Jugendstil als „Triebornamentik“. Diese fantastische Architektur, diese rational reduzierte Inge­nieurskunst nimmt auch Bezug auf das Obere Belvedere, das Prinz Eugen nach dem Sieg von 1683 über die Türken errichten ließ. Es brachte dort das Kriegszelt des gegnerischen Heerführers, Pascha Kara Mustafa, wieder zur Erscheinung, nun aber als ein Haus des Friedens und der Freuden, nur die steinernen Sphingen im Garten mit ihren spitzen Brüsten zeugen von den Schrecken, die glücklich überstanden sind. Sie wirken wie Lustgöttinnen, die gnädig auf die Wiener Kaffeehäuser – das erste datiert von 1685 – und damit auf so manche SüßigMit der „Todesfuge“ schrieb Paul Celan 1944/45 eines keit blicken, die wie sie selbst urder ergreifendsten deutschen Gedichte über eine Welt, die aus den Fugen geraten war. (picture alliance / dpa) sprünglich aus Ägypten kommt. Vielleicht ließe sich an diesem Komplex „kulturelle Aneignung“ differenzierter diskutieren. Das Habsburgerreich hatte viel von diesen Verwandlungen. Ausländer und Celan bezogen daher ihre poetische Energie. Ihr älterer Zeitgenosse Joseph Roth (1894-1939) hat die Verhältnisse am besten beschrieben. In seinen Romanen „Radetzkymarsch“ (1932) und „Die Kapuzinergruft“ (1938), den Geschichten von vier Generationen der Familie Trotta, kommen Militärs und Beamte auf der Seite der großen Leute, ostjüdische Fiaker und slowenische Maronibrater auf der der kleinen vor. Sie alle sind Verlorene, Müßiggänger um den Kaiser Franz Joseph, der so lange nicht starb, dass er sich an den „Helden von Solferino“ – der ihm 1859 in der Schlacht gegen das Königreich Sardinien und die verbündeten Franzosen das Leben gerettet hatte und deshalb in den Adelsstand erhoben worden war – zuerst nicht mehr zu erinnern wusste und dann dessen Enkel mit 308

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dem Sohn verwechselte. Als der Kaiser schließlich doch tot war, ging auch sein Staat schnell unter, und die Landschaften, in denen sie alle lebten, verschwanden wie die Bukowina. Der seltsamste Stand war der der Soldaten, genauer der Offiziere, die abends soffen, sich um ihre Ehre duellierten und von denen jeder „das Merkmal eines nahen, gewaltsamen Todes in seinem Antlitz“ trug. Bei Roth herrscht der Vater, während die Mutter immer abwesend oder tot ist. Ein letzter Rest davon findet sich noch bei der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973) in ihrer Erzählung „Drei Wege zum See“. Darin besucht die Protagonistin, Kärntnerin wie sie, eine Journalistin und Starfotografin, die einen letzten der Trotta geliebt hat, gerade ihren Vater. Bachmann war die Geliebte Celans, er ihre wohl größte Liebe. Sie hatten sich 1948 in Wien kennengelernt, wo sie Philosophie studierte und er, über Budapest nach Westen geflohen, seinen ersten Gedichtband veröffentlichte. Sie ist die Prinzessin von Kagran und er der fremde Osteuropäer, so in „Malina“, Bachmanns Wiener Roman, Jahrzehnte später verfasst. In Gedichten beziehen sie sich oft aufeinander, ein Netz über Europa legend. Denn so wie er in Paris lebte und an der Rue d´Ulm, der Ecole Normale, Deutschlektor war, so sie in Neapel, Zürich, Berlin und dann lange in Rom. Wechselhaftes Schicksal 1918 fiel die Bukowina  – und damit auch Czernowitz  – an Rumänien. 1940 besetzte die Sowjetunion den nördlichen Teil, aber Czernowitz wurde bald wieder rumänisch, weil das Regime mit den vorrückenden Nazis verbündet war. Für Ausländer und Celan bedeutete das Ausbeutung, Verstecke, Tod von geliebten Menschen. 1944 eroberte die Rote Armee die Stadt, die dann bis 1991, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, diesem letzten Vielvölkerreich angehörte. Heute ist die Stadt Teil der ­U kraine. Innerhalb von nicht einmal hundert Jahren hat die staatliche Zugehörigkeit also sechsmal gewechselt. Die Bukowina ist „Yidishland“, wie der am Ende des 19.  Jahrhunderts im östlichen Europa aufkommende Begriff lautet, heute jedoch ohne diese Sprache und weitgehend ohne Juden. Dort hatte es immer schon, auch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts, gewalttätige Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung gegeben. Es kam zu Pogromen, die oft von Ritualmordbeschuldigungen ausgelöst wurden. Aber auch säkulare Ereignisse OST-WEST 4/2023

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häuften Leid auf die Juden, so als 1914–1917 die Truppen des Zaren gegen die der Habsburger kämpften. Czernowitz selbst war mehrfach russisch besetzt. Jüdische Kontexte „Yidishland“ ist aber auch das Stamm- und Kernland des Chassidismus, der jüdischen mystischen Bewegung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Und Sadagora, heute ein Teil von Czernowitz, gelegen am linken Ufer des Pruth, war eines ihrer Zentren. Seit ihrer Gründung 1850 hatte eine chassidische Gemeinschaft dort bis 1914 ihren Sitz. In der Zwischenkriegszeit wurde die Dynastie von Rebbes in Wien und Przemyśl, Polen, weitergeführt, bis sie am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nach dem heutigen Israel verpflanzt worden ist, wo sie bis heute blühend existiert. Czernowitz war auch ein Ort des Was ist der Chassidismus? In grundsäkularen Judentums und dessen sätzlicher Treue zur Kabbala, der jüdischen Erneuerung um 1900. Denn nicht nur die Mystik bestimmte das Judentum Mystik seit dem Mittelalter, aber im Protest Osteuropas, sondern auch die Ideen der gegen ihre häretischen Richtungen entstanAufklärung wie der Menschenrechte. den, sucht er die Nähe zu Gott nicht nur über das Gesetz herzustellen, sondern vor allem über die Lebensführung. Die charismatischen Anführer der verschiedenen Gruppen dieser Bewegung wurden „Zaddikim“ (wörtlich: Gerechte) genannt. Sie lebten an Höfen und gründeten Dynastien. Sie brachten Lehre und Leben eng zusammen wie im Judentum zwar üblich, bereicherten dies aber durch Praktiken tiefer Versenkung und eine enthusiastische Gottesverehrung. Ihnen zeigte sich Gott in allen Dingen. Die Tora, der Inbegriff seiner Offenbarung für das Judentum, erkannten sie als überall wirkend an. Eines der Ziele, das die Chassidim anstrebten, war die Ekstase, erreicht durch gemeinschaftliches Singen und Tanzen. Das führte zu prophetischen Wachträumen und zu Visionen, in denen sie die Seelen Verstorbener, die nicht ruhen konnten, aber auch deren höhere Wurzeln zu sehen erhofften in der Überzeugung, dann zu ihrer Heilung beitragen zu können. Zu dieser Vorstellung von der Vervollständigung der menschlichen Seele trat die Idee einer weiteren und größeren, die die Schöpfung insgesamt erlösen sollte. Dies, „tikuun“ genannt, bildete die spirituelle Welt auch der Bukowina, die in den Gedichten von Ausländer und Celan weiterlebt, auch wenn beide nicht religiös oder fromm waren. 310

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Czernowitz und seine Dichter

Czernowitz war auch ein Ort des säkularen Judentums und dessen Erneuerung um 1900. Denn nicht nur die Mystik bestimmte das Judentum Osteuropas, sondern auch die Ideen der Aufklärung wie der Menschenrechte. Es ist die Welt der „maskilim“, die in die Wissenschaft des Judentums einmündete, aus der das heutige akademische Fach der Judaistik, der Jüdischen Studien hervorgegangen ist. Die Aufklärer lebten in den gelehrten Zentren Galiziens und der Bukowina, aber auch in Polen und im Baltikum. Sie ließen sich in Wien nieder, das bis in die 1930er Jahren immer noch einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Europa war. Auch ihre Spuren finden sich bei Ausländer und Celan. Lichtzwang Wir lagen schon tief in der Macchia, als du endlich herankrochst. Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln zu dir: es herrschte Lichtzwang. Das kurze Gedicht Celans findet sich in dem gleichnamigen Band „Lichtzwang“. Licht ist die Zentralmetapher der Aufklärung, die das Dunkel der Despoten, seien es weltliche oder geistliche Herren, verjagt, erinnert sei nur an Mozarts Oper „Zauberflöte“. Hier aber hindert es, dass das Du zu dem Wir kommt, das selbst im Dunkeln liegt. Doch das Dunkel ist kein heimisches, nicht der Geliebte empfängt die Geliebte zu Hause. Denn das Dunkel liegt in der Macchia, jenem mediterranen Gestrüpp, das den Widerstandskämpfern gegen den Faschismus Deckung und Schutz gab. Dort könnte es eine Begegnung geben. Aber die Suchscheinwerfer verhindern das, es herrschte Lichtzwang. Zugleich ist es eine Welt, die Gott verlassen hat. Dass wir darüber nicht verzweifeln sollen, das mahnt die jüdische Mystik in einer ihrer kühnsten Spekulationen. Gott tat dies, damit etwas Anderes als er selbst und also Welt überhaupt möglich werden konnte. Erst in dieses Nichts emanierte er sein Schöpfungslicht, das in den Gedichten Ausländers und Celans weiterleuchtet. Auch das ist Lichtzwang. OST-WEST 4/2023

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Thomas Urban

Ein Kölsche Jung aus Gliwice Thomas Urban, geboren 1954 in Leipzig, hat mit dem Fußballer Lukas Podolski drei Dinge gemeinsam: Die Eltern stammen aus Schlesien, er ist in Bergheim/Erft aufgewachsen, und in Köln hat sein Erwachsenen­ leben begonnen. Von 1988 bis 2012 war er als Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Augenzeuge der großen Umbrüche in Polen, anschließend hat er acht Jahre aus Madrid berichtet.

Lukas Podolski, mittlerweile 38 Jahre alt, ist nach wie vor weltweit einer der bekanntesten Fußballer. Sowohl in Köln, wo seine große Karriere begann, als auch in seiner Geburtsstadt Gleiwitz in Oberschlesien wird er nicht nur wegen seiner Ballkünste, sondern auch wegen seines sehr direkten Humors als „unser Junge“ verehrt. Zu Gleiwitz, das er als Kleinkind verließ, hat er ein besonderes Verhältnis bewahrt.

Abschied von Gleiwitz Eigentlich hat Lukas Podolski nur 30 Monate in Gleiwitz gewohnt. Er war zweieinhalb Jahre alt, als seine Eltern 1987 beschlossen, der Volksrepublik Polen den Rücken zu kehren. Das zum Sowjetblock gehörende Land steckte in einer tiefen Wirtschaftskrise, der jungen Generation schien es keine Perspektiven zu bieten. Den Alltag im realen Sozialismus prägten lange Schlangen vor den Geschäften, die Infrastruktur verfiel, die Behörden waren korrupt und am Wohl der Menschen nicht interessiert. Zwar fiel den Eltern der Abschied von den vielen Verwandten, die in Gleiwitz zurückblieben, nicht leicht; doch zusätzlich zum drückenden Klima in der Gesellschaft war die Stadt selbst kein angenehmer Ort zum Leben. Seit mehr als einem Jahrhundert war sie geprägt von den Schloten der Eisenhütten und den Fördertürmen der Bergwerke. Die Luft war verpestet, Staub von den riesigen Kohlehalden umhüllte nicht nur alle Gebäude, sondern auch alle Bäume und Sträucher mit einem Grauschleier. 312

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Lukas Podolski und Gliwice

Als Erwachsener erläuterte Podolski im Gespräch mit polnischen Medien die Gründe für die Ausreise der Familie: „Die Lebensbedingungen im Lande wurden immer schwieriger. Es ist meinen Eltern nicht leichtgefallen, sich für Deutschland zu entscheiden.“ Dennoch blieb Gleiwitz ein zentraler Bezugspunkt in seinem Leben, vor allem wegen seiner Großmutter mütterlicherseits, seiner „Babcia“, wie „Oma“ auf Polnisch heißt. Ihre Wohnung im ersten Stock auf der Ulica M. Reja 18 war sein Anlaufpunkt. Als Podolski, damals ganze 19 Jahre alt, 2004 sein Debüt in der deutschen A-Nationalmannschaft gab, versammelten sich unter der Wohnung einheimische Journalisten, sie wollten die „Babcia“ porträtieren oder gar interviewen, hatte der Enkel doch von ihr als seiner allerwichtigsten Bezugsperson in Polen geschwärmt. Doch Zofia Budzińska war vorgewarnt: Sie öffnete niemandem die Tür. Der neue Fußballstar präsentierte sich selbst wenige Monate später auf der Rej-Straße für die lokale Presse, die Fotografen kamen zu ihrem Recht, als er auf dem rissigen Asphalt mit dem Ball jonglierte, dabei breit in die Kameras grinste. Im Hintergrund ist auf den Fotos von 2004 deutlich die verwitterte schmutziggraue Fassade des zwei- Zofia Budzińska wurde als „Poldis Oma“ in Polen und Deutschstöckigen Eckhauses mit land zur prominenten ­Medienfigur. (Imago / Thomas Lebie) der Nummer 18 auszumachen, die Hecke des Vorgartens sieht zerzaust aus. Fast die ganze Straße besteht aus zwei Reihen identischer Häuser, es ist eine typische Arbeitersiedlung aus der Vorkriegszeit. Die Wohnungen sind deutlich größer als in den traditionellen Bergmannshäuschen, die einst die Randbezirke von Gleiwitz prägten. Obwohl die bekannteste Bewohnerin der Straße konsequent Journalisten aus dem Weg ging, wurde sie doch in Polen und Deutschland als „Poldis Oma“ zur Medienfigur. Zu ihr fuhren die Podolskis fast jeden Sommer für zwei, drei Wochen, nachdem sie sich nach ihrer Übersiedlung ins „Reich“, wie man damals in Oberschlesien die Bundesrepublik OST-WEST 4/2023

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nannte, in der Kreisstadt Bergheim/Erft im linksrheinischen Braunkohlerevier eingerichtet hatten. Lukas Podolski beschrieb diese Fahrten in seiner Kinderzeit: „Damals hieß das echt Stress: 18 Stunden im Bus von Köln bis Kattowitz, an der Grenze standen wir manchmal viereinhalb Stunden in der Schlange, so streng wurde kontrolliert.“ Zurück nach Berg­heim brachten sie polnische und schlesische Leckereien mit, immer wieder auch Eingewecktes und Selbstgebackenes von der Oma. „Schlonsakisch“ und „Wasserpolnisch“ Im Rheinland lebten bereits die Eltern von Lukas‘ Vater. Sie waren die ersten in der Familie, die die Möglichkeiten zur Ausreise als „Spätaussiedler“ nutzten. Sie waren Gleiwitzer Deutsche, nach dem Krieg hatten sie mühsam Polnisch lernen müssen, mit der polnischen Obrigkeit haben sie sich nach Schilderungen von Verwandten nie arrangiert. Gleiwitz hatte sich vor dem Krieg nur wenig von den Großstädten in den Industriegebieten an Ruhr und Saar unterschieden. Nach der Teilung Oberschlesiens infolge der Versailler Konferenz war die Stadt beim Deutschen Reich verblieben. Bei der Volksabstimmung 1921 hatten knapp 79 Prozent für Deutschland votiert, lediglich 21 Prozent verlangten den Anschluss an Polen. Oberschlesien, das seit dem 14. Jahrhundert zum Verband des deutschen Reichs gehörte, weist bis heute eine regionale Besonderheit auf: Ein Teil der Bevölkerung sind „Schlonsaken“, abgeleitet vom polnischen Wort Ślązak (Schlesier). Im Alltag bedienen sie sich traditionell einer westslawischen Mischsprache, von Fachleuten „Schlonsakisch“ genannt, in der Preußenzeit sprach man abwertend von „Wasserpolnisch“. Diese Sprache, die viele deutsche Begriffe assimiliert hat, unterscheidet sich erheblich vom Polnischen, in Warschau oder Krakau versteht man sie nicht. Nach vorherrschendem polnischen Verständnis sind die „Schlonsaken“ Landsleute. Allerdings haben polnische Regionalhistoriker nachgewiesen, dass diese Gleichsetzung die Fakten nur unvollkommen trifft. So hat bei der Volksabstimmung 1921 auch ein Großteil der zweisprachigen Oberschlesier für den Verbleib beim deutschen Reich gestimmt. In den folgenden Jahren wanderte ein Großteil der propolnischen Einwohner nicht zuletzt aufgrund behördlichen Drucks aus Gleiwitz in den zu Polen gekommenen Ostteil Oberschlesiens um Kattowitz ab. Von dort kamen Deutsche, die wiederum von der neuen polnischen Obrigkeit mittels vielfältiger Schikanen zur Auswanderung gedrängt wurden. 314

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Lukas Podolski und Gliwice

So machte der Anteil der Gleiwitzer mit Polnisch als Muttersprache am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nur noch wenige Prozent unter den 117.000 Einwohnern aus. Trotz ihres slawischen Familiennamens gehörten die Podolskis nicht zu dieser kleinen Bei den Budzińskis wurde „Schlon­ Minderheit. In den ersten Nachkriegsjahren blieb sakisch“ gesprochen. Möglicherweise war es der Einfluss der Oma, dass ihr ein beträchtlicher Teil der Einwohner des Enkel Lukas Polnisch ebenfalls mit oberschlesischen Industriegebiets von der starkem schlonsakischem Akzent Vertreibung der Deutschen verschont. Zum spricht, zum Amüsement der Wareinen wurden die deutschen Fachkräfte in schauer oder Krakauer. der Industrie und in den kommunalen Versorgungseinrichtungen zurückgehalten, weil es für ihre Tätigkeiten noch keine polnischen Spezialisten gab. Zu ihnen gehörte der Großvater Podolskis väterlicherseits, der sich indes mit dem Polnischen schwertat. Zum anderen betrachteten die polnischen Behörden die zweisprachigen Oberschlesier grundsätzlich als Polen, doch mussten die Einwohner der Region sich einer „Verifizierung“ unterziehen, in der ihre Kenntnisse des Polnischen überprüft wurden. Zu dieser Gruppe gehörten die Budzińskis, bei ihnen wurde „Schlonsakisch“ gesprochen. Möglicherweise war es der Einfluss der Oma, dass ihr Enkel Lukas Polnisch ebenfalls mit starkem schlonsakischem Akzent spricht, zum Amüsement der Warschauer oder Krakauer. Pfarrkirche der Budzińskis war die Maria-Hilf-Kirche im Gleiwitzer Stadtteil Sosnitza (heute: Sośnica). Das Gotteshaus mit seiner trutzigen Westfront, gekrönt von zwei grün angelaufenen Dachhelmen aus Kupfer, wurde in den 1920er Jahren gebaut. Hier wurde 1985 der jüngste Spross der Familie Podolski getauft und in der Schreibweise Łukasz Józef auch in das Geburtenregister des Standesamts der Stadt Gliwice als Bürger der Volksrepublik Polen eingetragen. Sosnitza war bis 1927 noch eine eigenständige Gemeinde gewesen. Der Name leitet sich vom polnischen Wort sosna (Kiefer) ab, im Wappen sind drei Kiefern abgebildet. Doch der ursprüngliche Kiefernwald, in den das Dorf gebaut wurde, musste schon im 19.  Jahrhundert der Industrie weichen. Die meisten Sosnitzer tickten anders als die Mehrheit der Gleiwitzer: Bei der Volksabstimmung 1921 hatten knapp 60 Prozent für Polen votiert. Ob ihre Vorfahren dazu gehörten, wissen die heute in dem Viertel wohnenden Budzińskis nicht zu sagen. Lukas Podolski weicht diesem Thema aus, das auch heute noch, ein Jahrhundert später, die Gemüter in Oberschlesien erhitzt. OST-WEST 4/2023

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In diesem Punkt unterscheidet er sich von dem anderen deutschen Torjäger aus Oberschlesien, Miroslav Klose. Dessen Familie kommt nicht aus dem Industriegebiet, sondern dem nordwestlich davon gelegenen landwirtschaftlich geprägten Oppelner Land. Nicht nur Miroslav, sondern auch sein Vater Josef haben wiederholt klargestellt, dass die Kloses immer Deutsche waren. In der Woiwodschaft Oppeln (Opole) befinden sich heute die Hochburgen der deutschen Minderheit in Polen, während im Industriegebiet von Kattowitz bis Gleiwitz die Bewegung für die Autonomie Schlesiens über eine starke Anhängerschaft verfügt. Ihre Aktivisten pflegen das „Schlonsakische“, pu­ blizieren Bücher und Artikel im Internet auf „Schlonsakisch“. Sie Auch in „seiner Straße“, der Ulica Reja in Gleiwitz, blieb Lukas Podolski ein gern g­ esehener Gast. (Imago /Newspix) sehen sich als Brückenbauer im Dreiländer­ eck zwischen Polen, Deutschen und Tschechen – und verehren Podolski als einen der ihren. Zwei Herzen in der Brust Für seine Gleiwitzer Ahnentafel ergibt sich folgendes Bild: Die Großeltern väterlicherseits waren Deutsche, die Großeltern mütterlicherseits sprachen zu Hause Schlonsakisch und lebten in dem ursprünglich überwiegend propolnischen Sosnitza, das von der benachbarten Großstadt eingemeindet wurde. Reichsbürger aber waren sie vor dem Zweiten Weltkrieg alle. Danach wurde in Oberschlesien der Gebrauch der deutschen Sprache mit Bußgeld belegt, die Standesämter polonisierten die deutschen Taufnamen: Aus Hans wurde Jan, aus Margarete Małgorzata. In den Schulen wurde kein Deutsch unterrichtet, deutsche Bücher wurden beschlagnahmt und meist vernichtet. So kam es, dass Waldemar Podolski, der Vater des Fußballers, als Kind nicht mehr gut Deutsch lernte. 316

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Lukas Podolski und Gliwice

Da aber das „Deutschtum“ mit administrativen Repressalien nicht auszurotten war, entschloss sich die kommunistische Führung in Warschau letztlich zuzulassen, dass ehemalige Reichsbürger im Rahmen der „Familienzusammenführung“ ausreisen konnten. Parteichef Edward Gierek begriff in den 1970er Jahren, dass sich mit den Ausreisewilligen ein Geschäft machen ließ. Er sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Ausreise von 125.000 Deutschstämmigen aus ganz Oberschlesien zu, im Gegenzug vermittelte dieser einen Kredit über eine Milliarde Deutsche Mark. Allerdings wurden Oberschlesier, die Ausreiseanträge stellten, meist von den Behörden schikaniert, viele von ihnen verloren ihre Arbeit. Wie es den Podolskis und auch den Kloses als „Spätaussiedler“ vor der Ausreise aus der Volksrepublik erging, dazu haben sich die Söhne nie öffentlich geäußert. Jedenfalls bekamen die Podolskis nach der Ankunft in Bergheim, wo sie zunächst in bescheidenen Verhältnissen in einem Wohnblock lebten, problemlos den begehrten grünen „Bundespass“, wie man in Polen sagte. So auch die Kloses, die zwei Jahre vor ihnen in die Bundesrepublik gekommen waren. Nach Artikel 116 des Grundgesetzes hatten alle Bürger des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 und deren Nachkommen das Recht, als Bundesbürger anerkannt zu werden. Mehr als anderthalb Millionen Spätaussiedler machten von diesem Recht Gebrauch. Dem kleinen Lukas gelang die Integration in die deutsche Gesellschaft auf dem Bolzplatz. Als er gerade einmal zehn Jahre alt war, wurde er von Talentsuchern des 1. FC Köln entPodolski schoss beide Treffer zum deckt, wo er dann auch Profi wurde. deutschen 2:0-Sieg gegen Polen bei Ganz Polen blickte auf ihn, als die Weider Europameisterschaft 2008, ßen Adler, wie die polnische Auswahl ge- versagte sich aber jeden Torjubel. nannt wird, bei der Europameisterschaft 2008 in Klagenfurt auf die DFB-Elf trafen. Aus Gleiwitz waren ein Onkel und der kleine Vetter Marek angereist. Podolski schoss beide Treffer zum deutschen 2:0-Sieg, versagte sich aber jeden Torjubel. Nach dem Trikottausch gleich nach der Partie lief er im roten Hemd mit dem weißen Adler zum polnischen Fan-Block  – und wurde gefeiert. Der kleine Marek aber vergoss Tränen, weil Polen wegen der Tore seines großen Cousins ausgeschieden war. In Polen waren die Meinungen geteilt: Die dem nationalistischen ­L ager nahestehende Presse schmähte Podolski und Klose, der ihm die Vorlagen zu seinen Toren gegeben hatte, als „Folksdojcz“. Die VolksdeutOST-WEST 4/2023

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Thomas Urban

schen, wie in der Zwischenkriegszeit die Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen genannt wurden, gelten in der polnischen Überlieferung als Verräter, weil ein Großteil von ihnen den Einmarsch der Wehrmacht 1939 begrüßt hatte. Nicht wenige von ihnen waren auch Helfer des NS-Terrorregimes im besetzten Polen. Die konservative Tageszeitung „Rzeczpospolita“ unterstellte Podolski und seinen Beratern gar eine Marketing­ strategie: „Das war ein geradezu geniales Meisterstück der PR – erst zweimal den Ball im polnischen Tor zu versenken, dann aber die Herzen der polnischen Fans zu erobern.“ Der Warschauer Presse sagte Podolski damals: „Ich spiele zwar für die Deutschen, doch mein Herz schlägt Polnisch.“ In Köln aber, wo er als „Prinz Poldi“ sogar eine Figur der Popkultur wurde und wie selbstverständlich bei den großen Karnevalsumzügen einen Ehrenplatz einnimmt, erklärte er: „Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein polnisches.“ Aus diesem Grunde singe er vor Spielen der DFB-Auswahl auch die deutsche Nationalhymne nicht mit. Klose gab dagegen zum Besten: „Ich singe lauter als jeder andere mit.“ Die polnische Hymne kenne er überhaupt nicht. Vom Sanierungsfall zur grünen Stadt In Gleiwitz hat man viel Verständnis dafür, dass Podolski es den Fans in beiden Ländern recht machen will, denn er hat ja nur, wie er es selbst sagte, „seine Aufgabe als Nationalspieler erfüllt“. Ein Nachbar der Familie aus der Ulica Reja meinte dazu lakonisch: „Wenn seine Eltern hiergeblieben wären, hätte er nicht diese systematische Förderung seines Talents erlebt und wäre nicht dieser Torjäger geworden!“ Trotz der Tore gegen Polen blieb der Fußballer in seiner Geburtsstadt ein gern gesehener Gast. Er erlebte mit, wie diese sich veränderte: Schon 1996 wurde die letzte Zeche in Sośnica geschlossen, die anderen Großbetriebe der Stadt, die die Umwelt Jahrzehnte lang verpestet hatten, folgten bald. Die noch verbliebenen Kohle- und Abraumhalden sind mit Büschen und Bäumen überwachsen. Gleiwitz ist auf dem Weg, eine grüne Stadt zu werden. Noch vor zwei Jahrzehnten galt die ganze Region als schwerer Sanierungsfall, doch längst ist offenkundig geworden, dass der Strukturwandel gelingt. Symbol für das moderne Gleiwitz ist das Palmenhaus, eine futuristische Glaskonstruktion, für die die berühmte Kristallkathedrale im ­k alifornischen Garden Grove Pate stand. Der renovierte Bahnhof leuch318

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tet in gedecktem Karminrot. Die Fassaden der Bürgerhäuser aus der Gründerzeit im 19.  Jahrhundert sind prachtvoll erneuert, der Rynek, der alte Marktplatz, mit dem barock-klassizistischen Rathaus ist ein Schmuckstück geworden. „Der Rynek ist einer meiner Lieblingsorte“, sagt Podolski. In den Bars und Clubs der Altstadt kennt man ihn. „Lukas ist ganz der Kumpeltyp geblieben, nicht eine Spur arrogant“, so hört man von den Kellnern und Barmännern. Podolski selbst sagt über Gleiwitz: „Ich liebe die Atmosphäre dort, ich liebe die offenen, herzlichen Menschen dort und fühle mich bei ihnen wie zu Hause.“ Er betont gern, dass seine Lieblingsmusik von polnischen Gruppen stammt, einen bekannten Rapper nennt er seinen Freund. Seine Frau ist Polin, sie Lukas Podolski in der Saison 2021/22 im Trikot von Górnik Zabrze (picture a­ lliance stammt aus dem niederschlesischen / augenklick / firo Sportfoto / Newspix) Liegnitz und hat keinen schlonsakischen Akzent, die Kinder werden zweisprachig erzogen. Nun leben auch sie in einer polnischsprachigen Umgebung, seitdem der Familienvater für den 14-maligen polnischen Meister Górnik Zabrze kickt. Zu seinem ersten Training im Juli 2021 kamen rund zehntausend Fans. Auf der anschließenden Pressekonferenz sagte er: „Ich habe es meiner Babcia versprochen, dass ich für Górnik spielen werde, und jetzt bin ich hier.“ Das Haus der Babcia, die 2019 im hohen Alter von 91 Jahren starb, ist nur sechs Kilometer vom Górnik-Stadion entfernt. Auch der Stadtteil Sośnica hat sich herausgeputzt: Die Häuser auf der Ulica Reja sind in freundlichem Beige verputzt, die Außenwände der Truppenhäuser dunkelrot abgesetzt, die Hecke davor ist sorgfältig geschnitten. Die Wohnung im 1. Stock rechts im Eckhaus mit der Nummer 18 ist im Besitz der Familie Budziński geblieben, Lukas kommt immer wieder auf einen Sprung vorbei. OST-WEST 4/2023

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Weiterführende Lektüre Bücher: Madeleine Albright: Winter in Prag. Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg, München, Siedler Verlag 2013. Madeleine Albright: Madam Secretary. Die Autobiographie, München, Goldmann Verlag 2005 Ingeborg Bachmann/Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2009. Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht, München, Verlag C.H. Beck, 2022. Rainer Berg und Norbert Klugmann: Heinz Erhardt. Die Biografie, Oldenburg, Lappan-Verlag 2009. Hartwin Brandt: Konstantin der Große. Der erste christliche Kaiser, München, Verlag C.H. Beck 2011. Helmut Braun (Hrsg.): Rose Ausländer  – Deiner Stimme Schatten. Gedichte, kleine Prosa und Materialien aus dem Nachlass, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2007. Paul Celan: Lichtzwang. Gedichte, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1970. Marc Chagall: Mein Leben, Sonderausgabe, Stuttgart, Hatje Cantz Verlag, 1959. Michael Krause: Wie Tesla das 20. Jahrhundert erfand, Weinheim, Wiley-­ VCH Verlag, 2010. Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin, Ullstein Verlag, 2023 Thomas Urban: Schwarze Adler, Weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen, Verlag Die Werkstatt, 2011. Webseiten: Heinz Erhardt Homepage: https://www.heinz-erhardt.de/index.php Tesla-Webseiten: https://teslauniverse.com/ und https://teslaresearch.jimdofree.com/ 320

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Europäische Perspektiven Die Zeitschrift für Mittel- und Osteuropa berichtet umfassend über gesellschaftliche Entwicklungen, politische Trends, kirchliches Leben und soziale Fragen in allen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, von Estland bis Albanien, von Polen bis Kasachstan.

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Im Februar erscheint Heft 1/2024 mit dem Schwerpunkt „Zeitenwende“: Kämpfen für den Frieden. Krieg in Europa  Abschied von alten Gewissheiten  Erfahrungen mit Konfliktlösungen  ISBN 978-3-7917-3507-8 Verlag Friedrich Pustet Unser komplettes Programm unter:

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