Frankreich und Heinrich Brüning. Ein deutscher Kanzler in der französischen Wahrnehmung 3515100962, 9783515100960

Die Rolle des Reichskanzlers Heinrich Brüning ist umstritten: Hat er zur Auflösung der Weimarer Republik beigetragen ode

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German Pages 462 [465] Year 2012

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Table of contents :
DANK
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
I DIE „SICHT DES ANDEREN“ UND DAS HISTORISCHE BEWUSSTSEIN
II DIE ROLLE HEINRICH BRÜNINGS UND DIE APORIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
III DIE FRANZÖSISCHE GESELLSCHAFT: DIE „BEOBACHTER“ BRÜNINGS
IV LEITENDE FRAGESTELLUNGEN
V DIE QUELLEN
VI METHODISCHER UND THEMATISCHER AUFBAU
DIE SICHT DES ANDEREN ODER DIE SCHAFFUNG EINES POLITISCHEN BILDES
I METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN ZU DEN BILDERN UND VORSTELLUNGSWELTEN IN DEN DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN
II DIE FRANZÖSISCHEN DEUTSCHLANDBILDER ZU BEGINN DER 1930ER JAHRE: FRÜCHTE EINES KULTURELLEN ERBES
III. DIE WEIMARER REPUBLIK ALS SPIEGEL FRANKREICHS? DIE FRANZÖSISCHE UND DIE DEUTSCHE SITUATION ANFANG DER 1930ER JAHRE
EIN BILD ENTSTEHT: HEINRICH BRÜNING AUS DEM BLICKWINKEL DER FRANZÖSISCHEN GESELLSCHAFT
I DER NEUE REICHSKANZLER
II BRÜNING, DER WIRTSCHAFTS- UND FINANZPOLITIKER
III BRÜNING, ZERSTÖRER ODER VERTEIDIGER DER DEMOKRATIE
IV BRÜNING, EIN NATIONALIST?
V BRÜNING DER KATHOLIK
VI DER STURZ
DER EINFLUSS DER KOLLEKTIVEN VORSTELLUNGSWELT AUF DIE FRANZÖSISCHE POLITIK
I DIE FRANZÖSISCHE SICHT AUF BRÜNING: EINE MISCHUNG AUS ÜBERLIEFERUNG UND NEUEN ELEMENTEN
II INSTRUMENTALISIERUNG ODER VERINNERLICHUNG DER DEUTSCHLANDBILDER IN DER FRANZÖSISCHEN POLITIK?
III DIE BEDEUTUNG DER BILDER FÜR DIE FRANZÖSISCHE DEUTSCHLANDPOLITIK
DIE „SICHT DES ANDEREN“ ALS GEGENSTAND DEUTSCH-FRANZÖSISCHER FORSCHUNG
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGEN
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Frankreich und Heinrich Brüning. Ein deutscher Kanzler in der französischen Wahrnehmung
 3515100962, 9783515100960

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Franziska Brüning Frankreich und Heinrich Brüning

Beiträge zur Kommunikationsgeschichte ---------------------------------------Herausgegeben von Bernd Sösemann Band 27

Franziska Brüning

Frankreich und Heinrich Brüning Ein deutscher Kanzler in der französischen Wahrnehmung

Franz Steiner Verlag

Die französische Erstausgabe erschien unter dem Titel La France et le Chancelier Brüning: imaginaire et politique, 1930–1932. Dijon: Éditions universitaires de Dijon, 2010.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10096-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany

DANK Das vorliegende Buch ist die Übersetzung meiner im Rahmen einer deutschfranzösischen Kooperation (co-tutelle de thèse) entstandenen Dissertation, die im Frühjahr 2007 an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität und der Université de Bourgogne in Dijon unter dem Titel „La France et Heinrich Brüning. Un chancelier allemand dans la perception française“ abgeschlossen wurde. Die Bibliographie entspricht dem Stand von Ende Dezember 2006. Die Arbeit wurde 2010 in Frankreich von den Editions Universitaires de Dijon unter dem Titel „La France et le Chancelier Brüning. Imaginaire et politique, 1930−1932“ in einer gekürzten Fassung publiziert. Mein herzlicher Dank gilt meinen Doktorvätern, Prof. Dr. Sönke Neitzel und Prof. Dr. Serge Wolikow, die als meine Betreuer und Förderer den jeweils besten Teil deutscher und französischer geisteswissenschaftlicher Forschungskultur zu meiner Promotion beigetragen haben. Ich danke ihnen sehr für ihre Unterstützung, ihre Ermutigungen, ihre Kritik und ihr Interesse an meiner Arbeit während meiner Promotionsjahre. Ebenfalls möchte ich mich bei den Mitgliedern der deutsch-französischen Promotionsprüfungskommission bedanken, Prof. Dr. Robert Frank, Prof. Dr. Patrick Charlot, Prof. Dr. Michael Kißener und ganz besonders Prof. Dr. Ludolf Pelizäus, der die Freundlichkeit hatte, die Rolle des „Président du jury“ zu übernehmen. Dank zweier aufeinander folgender Promotionsstipendien von der Graduiertenförderung Rheinland Pfalz und der Hanns-Seidel-Stiftung München konnte ich mich voll und ganz auf meine Forschungen konzentrieren. Ich möchte beiden Einrichtungen, vor allem aber dem Betreuer der Hanns-Seidel-Promotionsstipendiaten, Dr. Rudolf Pfeifenrath, sowie meinem Mainzer Vertrauensdozenten, Prof. Dr. Peter C. Hartmann, für die finanzielle und ideelle Unterstützung danken. Außerdem danke ich der Deutsch-Französischen Kulturstiftung, welche die Drucklegung meiner Arbeit in Deutschland unterstützt hat. Von Herzen möchte ich schon an dieser Stelle meinen Eltern, Ursula und Klaus Brüning, danken, weil sie immer an mich geglaubt und mich immer unterstützt haben. Dieses Buch ist ihnen gewidmet. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Bernd Sösemann, der meine Arbeit in seine Reihe beim Franz-Steiner-Verlag aufgenommen hat und meine Übersetzung mit großer Geduld und Nachsicht für jede weitere Bitte um zeitlichen Aufschub und vielen guten Ratschlägen begleitet hat. Ohne die wissenschaftliche Hilfe einer Vielzahl von Archivaren und Bibliothekaren folgender Einrichtungen wäre es für mich unmöglich gewesen, alle Quellen für diese Arbeit zusammenzutragen: die Archives du Ministère des Affaires Etrangères de Paris, die Archives Nationales de Paris, das Centre des Archives

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Dank

Diplomatiques de Nantes, der Service Historique de l’Armée de Terre, die Archives de la Fondation Nationale des Sciences Politiques de Paris, die Archives de l’Office Universitaire de Recherche Socialiste, die Archives de l’Institut d’Histoire Contemporaine de l’Université de Bourgogne, die Archives parlementaires de Paris, die Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine de Paris, die Bibliothèque Nationale de France (François Mitterrand), die Universitätsbibliotheken in Bonn, Dijon und Mainz. Besonders unterstützt haben mich Bénédicte Gavand von den Archives Parlementaires de Paris und AnneSophie Cras vom Centre des Archives Diplomatiques de Nantes. Ihnen beiden sei besonders gedankt. Im Rahmen dieser deutsch-französischen Zusammenarbeit gilt es auch zahlreichen Kollegen und Freunden zu danken: allen Mitarbeitern, Doktoranden und Lehrkräften im Institut d’Histoire Contemporaine de Dijon, dem Maison des Sciences de l’Homme de Dijon und dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Mainz, sowie Prof. Dr. Adolf Kimmel, Prof. Dr. Jacques Bariéty, Prof. Dr. Jean-Claude Delbreil, Prof. Dr. Sylvain Schirmann und noch einmal und ganz besonders Prof. Dr. Robert Frank für die vielen Gespräche, ihr Interesse an meiner Arbeit und ihre Ratschläge. Außerdem möchte ich mich bei Dr. Astrid Mannes, Dr. Peter Jackson, Dr. Frédéric Clavert und Christophe Bellon, Doktorand an der Ecole des Sciences Politiques de Paris für viele wertvolle Hinweise bedanken. Nicht genug bedanken kann ich mich bei meinen Freunden Geoffrey Begon und Lise Châlon, die mit größter Geduld und Freundlichkeit jeden Fehler in der französischen Originalfassung meiner Arbeit korrigiert haben, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu beschweren. Ohne sie hätte ich meine Doktorarbeit niemals auf Französisch schreiben können. Für die Unterstützung bei der Übersetzung und Korrektur meiner Arbeit für den Franz-Steiner-Verlag danke ich Dr. Alexander Brakel, Florian Seiller, Thomas Szücs , Andreas Walz und ganz besonders herzlich Renate Warttmann. Für die unterschiedlichsten Ratschläge und Formen der Hilfe danke ich Noemie Daucé, Maëva Begon, Xavier Moreau, Marion Diederich, Grégoire Jasson, Dr. Aurelia Vasile, Marion Lenoir, Farid Ameur, Dr. Morgan Poggioli, Dr. Olivier Jacquet, meinen Geschwistern Anke Schmitz und Axel Brüning, sowie allen, die ich vielleicht vergessen habe, in dieser Danksagung aufzuführen. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinem Mann, Joseph Dufouleur, bedanken, weil er nicht nur die Last meiner Doktorarbeit mitgetragen hat, obwohl er selbst schon genug mit seiner eigenen Promotion zu tun hatte, sondern auch noch die Jahre bis zu den Veröffentlichungen in Frankreich und Deutschland mit mir ausgehalten hat. Merci infiniment.

Für meine Eltern

VORWORT Diese Studie von Franziska Brüning ist keine Biographie Heinrich Brünings. Zwischen der Autorin und dem Protagonisten des Werkes besteht übrigens keine verwandtschaftliche Verbindung, sondern nur eine einfache Namensgleichheit. Es handelt sich hier um eine Untersuchung der französischen Wahrnehmung des zwischen 1930 und 1932 amtierenden Reichskanzlers. Die Arbeit lehrt uns folglich viel − nicht über Deutschland, sondern über die Franzosen, über die Art, wie sie sich ihren Nachbarn jenseits des Rheins vorstellten. Man erfährt, dass sich hinter dem Bild eines deutschen Politikers das Bild eines ganzen Landes verbirgt, das analysiert wird − mit allen Stereotypen, welche die Franzosen sich in ihrer Vorstellungswelt bezüglich des „Erbfeindes“ bildeten und mit dem sie zugleich einen dauerhaften Frieden zu erreichen hofften und trotzdem die Unabwendbarkeit eines Krieges fürchteten. Die Jahre, von denen hier die Rede ist, waren von entscheidender Bedeutung, denn sie fallen in eine Phase voller Veränderungen: Es ist die Zeit der Wirtschaftskrise und der wachsenden Arbeitslosigkeit in Deutschland; eine Zeit der politischen Krise der Weimarer Republik und des Aufstiegs des Nationalsozialismus; eine Zeit der internationalen Spannungen, die den seit 1925 von Briand und Stresemann ins Leben gerufenen Geist von Locarno und die Annäherung der beiden Völker in Frage stellen. So führt der konstruktivistische Ansatz der Autorin bezüglich der französischen Wahrnehmung Heinrich Brünings nicht zu einer simplen kulturgeschichtlichen Untersuchung von Bildern und Darstellungen; er leitet uns mittels einer entscheidenden Frage tief in die politische Geschichte hinein: Wie viel Einfluss hatte die französische Vorstellungswelt auf die Entscheidungen seiner Regierenden, die gegenüber Brünings Bitten um Zugeständnisse, gerade im Augenblick der nationalsozialistischen Gefahr, verschlossen blieben und ihm so wenig halfen, die deutsche Demokratie zu retten? Für diese Forschungsarbeit hat Franziska Brüning eine beeindruckende Menge an Dokumenten ausgewertet, um den Diskurs über Deutschland in vier französischen Milieus zu rekonstruieren: im Milieu der Diplomaten, der Presse, der Intellektuellen und der Akademiker, auch der Parlamentarier und der Politiker. Um die passenden Texte und Bilder ausfindig zu machen, zog sie das Diplomatische Archiv, Tageszeitungen, Zeitschriften, Fachliteratur und Aufsätze aus dieser Zeit ebenso wie Protokolle der Parlamentsdebatten heran. Diese Arbeit beruht vor allem auf einer besonders ausgereiften methodischen Herangehensweise. Der einleitende Teil ist besonders gelungen. Er bietet äußerst bereichernde Passagen über die Begrifflichkeiten der kollektiven Vorstellungswelt, der öffentlichen Meinung und der Stereotypen. Die Autorin beherrscht die Geschichte und die Geschichtsschreibung der Darstellungen sehr gut – besonders die Arbeiten von Pierre Laborie – und sie fügt interessante Einsichten hinzu. Sie zeigt das komplexe Verhältnis zwischen der Realität und der Wahrnehmung dieser Realität durch den Blickwin-

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Vorwort

kel der Zeitgenossen auf − einer Wahrnehmung, die schlussendlich die Ordnung der Dinge beeinflussen und selbst Schöpferin der Wirklichkeit werden kann, wenn sie an der Reihe ist. Robert Jervis hat schon auf das verhängnisvolle Gewicht von Fehlern in der Wahrnehmung der Wirklichkeit (misperceptions) im Rahmen außenpolitischer Entscheidungen verwiesen. Von diesem Standpunkt aus beeinflussten die stereotypen Vorstellungen der Franzosen von den Deutschen auf eine negative Weise die Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland unter dem Reichskanzler Heinrich Brüning. Allerdings lehnt die Autorin jede vereinfachende Erklärung, jede eindimensionale und lineare Analyse der französischen Haltung ab. Es ist ihr gelungen, diese Haltung in den komplexen Kontext des Systems französischer Darstellungen einzureihen und einzuordnen. Die Bilder und Gefühle werden sehr genau in ihrer Ambivalenz analysiert. Deutschfreundlichkeit und Deutschfeindlichkeit sind Geisteshaltungen, die man nicht penibel auseinanderdividieren könnte, denn sie existieren nur in ihrer Interaktivität: Die Germanophilen wie auch die Germanophoben in Frankreich beziehen ihre Vorstellungen und ihre Stereotypen, die nach einem bestimmten System funktionieren, aus derselben nationalen Vorstellungswelt. Das schöne, romantische, rheinische und idyllische Bild Deutschlands bei Madame de Staël wird sehr bald vom erschreckenden Bild des preußischen und militaristischen Deutschland überlagert. Seit dem 19. Jahrhundert kennt Frankreich zwei Deutschlandbilder, das „gute“ und das „schlechte“, das eine von Goethe, Schiller, den Philosophen und den Komponisten und das andere von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. Aber das eine Deutschland birgt in sich immerfort das andere. Dem idealisierten Bild ist das grauenhafte Bild nie gänzlich fern, und wenn das zweite Bild die Oberhand gewinnt, ist das erste nie ganz vergessen. Was Andris Barblan über das Gegensatzpaar Anglophilie−Anglophobie in Frankreich sagt, gilt genauso für das Paar Germanophilie-Germanophobie: Es sind nicht zwei voneinander unabhängige Strukturen, zwei getrennte Gesichter, sondern eine einzige Struktur, eine einzige Statue mit zwei Gesichtern, wie bei der römischen Gottheit Janus, die sich um sich selbst dreht und, ganz der Stimmung des Augenblicks folgend, je nach den aktuellen Geschehnissen das eine oder das andere Gesicht zeigt. Auf ein bestimmtes Land bezogen, definiert sich dies vom Betrachter her, der wahrnimmt und sein eigenes Weltbild gestaltet. Hieraus entsteht eine zweite Ambivalenz, die in der vorliegenden Studie klar herausgearbeitet wird: zum Binom der positiven und negativen Wahrnehmung addiert sich das Binom des Vertrauten und des Fremden. Das Betrachten des Anderen, bewusst oder unbewusst, entspricht dem Betrachten des eigenen Spiegelbildes. Die Konstruktion der Andersartigkeit dient – das ist wohlbekannt – hauptsächlich dazu, seine eigene Identität zu konstruieren. Sowohl das deutsche als auch das französische Bewusstsein hat sich kurz- wie langfristig im Kontrast zum jeweils Anderen und durch den Anderen gebildet. In der Tat erscheint das Bild des Anderen wie ein Spiegel des eigenen Selbst, dessen Erstellung sich in eine bestimmte Zeit einordnet, die ganz von den jeweiligen Sorgen des Augenblicks abhängt. Daher rührt auch die dritte Lesart, die Franziska Brüning gut genutzt hat, nämlich die der dreifachen Zeitdimension, von der die Vorstellungen vollständig durchdrungen sind: Diese bilden sich in der aktuellen Gegenwart, unter Berücksichtigung des Ererb-

Vorwort

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ten, der Erinnerungen und der Stereotype der Vergangenheit, aber auch in Abhängigkeit von den Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen in Hinblick auf die Zukunft. Ziel dieser Studie ist es, herauszuarbeiten, wie weit die französischen Vorstellungen von Heinrich Brüning die Gesamtheit der Vorstellungen über Deutschland umfassen und widerspiegeln − des doppelten Deutschlands, des Anderen, des eigenen Selbst, der Zeit, die verrinnt, des Zustands der Welt, der Hoffnungen und Ängste der Franzosen, und dies zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Epoche, die man im nachhinein als Scharnier bezeichnen kann: die Jahre 1930−1932. So sehr Brüning auch im Gegensatz zu Hitler das „gute Deutschland“ verkörpert, erscheint er doch als Repräsentant des „ewigen Deutschlands“, eines Deutschlands, dem die Franzosen misstrauen mussten, was bedeutet, dass sie in Brüning einen Politiker sehen, der nicht besser ist als der Anführer der Nationalsozialisten. In der Mehrzahl aller Fälle überschneiden sich die beiden Deutschlandbilder in ihm und enthüllen die Ratlosigkeit der Franzosen zu dieser Zeit. Es muss betont werden, dass die verschiedenen Facetten dieses Mannes und seiner Politik als Reichskanzler sich hervorragend für die komplexe Artikulation all dieser Darstellungen in der nationalen Vorstellungswelt eignen. Dieser deutsche Katholik vermag es, die französischen Katholiken zu beruhigen, aber er ruft einige unerwartete Positionswechsel zwischen der Linken und der Rechten hervor. Der Leser wird in dieser Studie die scharfsinnige Analyse der Entwicklungen verschiedener politischer Strömungen in Frankreich angesichts der Brüning’schen Politik entdecken. Die Linke ist gegenüber seiner konservativen Wirtschaftspolitik der Deflation kritisch eingestellt, weil sie befürchtet, dass diese auch von der französischen Rechten übernommen werden könnte; sie kann seinen autoritären Regierungsstil durch Notverordnungen, welche die Macht des Reichstags mindern, nicht gutheißen. Gleichzeitig ist sie ihm im Gesamten gewogen, denn sie schätzt seine Willenskraft, die aus ihm einen scheinbar guten Schutzwall gegen Hitler macht. Die nationalistische Rechte dagegen beobachtet ihn sehr kritisch, denn sie fürchtet seinen Nationalismus, der auf das Bild des ewig hassenswerten Deutschlands verweist. Auch die wirtschaftliche Konjunktur, die zu Regierungszeiten Brünings einer vollständigen Wandlung unterliegt, begünstigt übrigens eine Wiederbelebung französischer Ängste. Franziska Brüning zeigt auf, dass die Karten unter Berücksichtigung der „Ereignisse“ gespielt, wieder verwendet und unter den Franzosen erneut verteilt werden, weil diese „Ereignisse“ gerade in dieser Krisenzeit sehr leicht die emotionale Facette der französischen Wahrnehmung beleben. Das Verdienst dieser Studie liegt genau darin, dass sie zum Nachdenken über den Begriff „Ereignis“ selbst anregt. „Tatsachen“ werden „Ereignisse“, wenn sie sich im Bewusstsein der Menschen ausbreiten, wenn sie im Resonanzkörper der Vorstellungen ein Echo erzeugen. Von diesem Standpunkt aus geben drei Momente Anlass für eine gründliche Untersuchung der in Frankreich hervorgerufenen „kollektiven Emotionen“: die Reichstagswahlen in Deutschland vom 14. September 1930 mit dem ersten großen Erfolg der Nationalsozialisten; die Ankündigung einer Zollunion zwischen Deutschland und Österreich im Jahr 1931, die als Auftakt eines „Anschlusses“

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Vorwort

interpretiert wurde; und das Interview des Kanzlers vom 9. Januar 1932, in dem er seine Forderung nach Einstellung der Reparationszahlungen bekräftigt. In Anbetracht des zweiten Ereignisses war selbst Aristide Briand außer sich vor Wut. Briand, der so gern in Brüning den Nachfolger Stresemanns gesehen hätte, echauffierte sich am 3. März 1931: „Der Anschluss, das würde Krieg bedeuten!“ In der Folgezeit trägt das französische Nein zur deutschen Forderung nach Gleichheit in Rüstungsfragen sogar noch vor Hitlers Aufstieg in die Reichsführung zum Misserfolg der Genfer Konferenz bei. Heinrich Brüning hat als Reichskanzler viel unternommen, um die Regierungsübernahme der Nationalsozialisten zu verhindern, aber er wurde infolge der französischen Unnachgiebigkeit nicht ausreichend dafür belohnt. Seine Standhaftigkeit steht im Kontrast zu den Schwächen, die Frankreich und Großbritannien einige Jahre später im Umgang mit Hitler an den Tag legten. Die Zugeständnisse an Hitler reichten nicht aus, den Diktator zu „besänftigen“. Einige von diesen Zugeständnissen hätten zwischen 1930 und 1932 die deutsche Demokratie stärken können. Hätten sie diese auch retten können? Es ist unmöglich, diese Frage zu beantworten, und die Autorin riskiert dies auch nicht. In dieser Studie geht sie also nicht so weit, die Ursachen der deutschen Krise aus sich selbst zu erklären, sondern sie versucht die französische Krise so zu beleuchten, wie sie durch die deutsche Krise zutage trat. Kurz gesagt, ein ehrgeiziges Ziel wurde erreicht: nämlich − um den Titel eines berühmten Buches zu paraphrasieren − die zweite deutsche Krise des französischen Bewusstseins verständlicher zu machen.1 Robert Frank Professeur d’Histoire des relations internationales contemporaines Université Paris I-Panthéon-Sorbonne Directeur de l’UMR Identités, relations internationales et civilisations de l’Europe (IRICE/CNRS)

1

Digeon, Claude: La crise allemande de la pensée française, 1870−1914, Paris 1959.

INHA LTSVERZEICHNIS

DANK......................................................................................................................5 VORWORT .............................................................................................................9 INAHLTSVERZEICHNIS ....................................................................................13 EINLEITUNG .......................................................................................................19 I

Die „Sicht des Anderen“ und das historische Bewusstsein..........................21

II

Die Rolle Heinrich Brünings und die Aporie der Geschichtswissenschaft..23

III

Die französische Gesellschaft: Die „Beobachter“ Brünings ........................27

IV

Leitende Fragestellungen .............................................................................29

V 1. 2. 3. 4.

Die Quellen...................................................................................................30 Die Quellen zur kulturellen Elite..................................................................30 Die Presse .....................................................................................................31 Politische Reden ...........................................................................................41 Die diplomatischen/außenpolitischen Archive.............................................43

VI

Methodischer und thematischer Aufbau.......................................................46

DIE SICHT DES ANDEREN ODER DIE SCHAFFUNG EINES POLITISCHEN BILDES.......................................................................................48 I 1. 2. 3. II 1. 2.

Methodische Überlegungen zu den Bildern und Vorstellungswelten in den deutsch-französischen Beziehungen..................................................48 Ein neuer Blickwinkel auf die internationalen und die deutschfranzösischen Beziehungen ..........................................................................48 Die methodische Konzeption dieser Studie..................................................60 Die „kollektive Vorstellungswelt“: Ein „anderer politischer Ort“ ...............68 Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre: Früchte eines kulturellen Erbes ....................................................................73 Die enge Beziehung zwischen Literatur, Kultur und Politik in Frankreich .73 Geschichte und Herkunft der französischen Deutschlandbilder bis 1930....78

14

Inhaltsverzeichnis

3.

Die Funktionsweise der französischen Deutschlandbilder in der französischen Politik und ihre Bedeutung für das politische Klima zwischen Deutschland und Frankreich.........................................................................87

III.

Die Weimarer Republik als Spiegel Frankreichs? Die französische und die deutsche Situation Anfang der 1930er Jahre .................................106 Der Zustand der Republik in Frankreich und Deutschland bei Amtsantritt Heinrich Brünings............................................................................106 Die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Krise in Frankreich und Deutschland, Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen beiden Ländern...................................................................................................... 121 Die internationale Politik beider Länder und die politischen und kulturellen deutsch-französischen Beziehungen .................................129

1. 2. 3.

EIN BILD ENTSTEHT: HEINRICH BRÜNING AUS DEM BLICKWINKEL DER FRANZÖSISCHEN GESELLSCHAFT........................143 I

Der neue Reichskanzler..............................................................................143

II 1.

Brüning, der Wirtschafts- und Finanzpolitiker...........................................145 Brüning in der Vorstellungswelt der wissenschaftlich-universitären und politisch-kulturellen Kreise .................................................................147 Brüning, eine Ausnahmeerscheinung in einem Land sozialer Paradoxe ...147 Brüning, trotz guten Willens überfordert und machtlos.............................152 Brüning, ein unehrlicher Politiker ..............................................................156 Wo liegt die Wahrheit: „Ist Deutschland erfolgreich oder nicht“? ............157 Brüning in der Vorstellungswelt der Presse ...............................................159 Die Wahrnehmung des Ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931)............................................................159 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932)............................................................170 Brüning in der Vorstellungswelt der französischen Parlamentarier...........174 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 – 7. Oktober 1931)............................................................174 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932)............................................................182 Brüning in der Vorstellungswelt der diplomatischen Kreise .....................185 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931)............................................................186 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932)............................................................192

1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2

Inhaltsverzeichnis

III 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 IV 1.

15

Brüning, Zerstörer oder Verteidiger der Demokratie.................................196 Brüning in der Vorstellungswelt der universitären und politisch-kulturellen Kreise ........................................................................201 Brüning, eine schwache Stabilitätsgarantie in einer unvollendeten Demokratie .................................................................................................202 Brüning, hinsichtlich der Extremisten wenig vertrauenswürdig ................207 Brüning, ein jämmerlicher Republikaner auf dem Weg zu einer Diktatur.210 Brüning: Das düstere Bild eines Demokraten ............................................217 Brüning in der Vorstellungswelt der Presse ...............................................218 Die Wahrnehmung des ersten Brüning-Kabinetts (30. März 1930 – 7. Oktober 1931)............................................................219 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932)............................................................242 Brüning in der Vorstellungswelt der französischen Parlamentarier...........254 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931)............................................................255 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................260 Brüning in der Vorstellungswelt der Diplomaten ......................................262 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931)..............................................................263 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................267

Brüning, ein Nationalist?............................................................................273 Brüning in der Vorstellungswelt der universitären und politisch-kulturellen Kreise ........................................................................279 1.1 Auf dem Weg zu einem besseren Verständnis des Anderen als Basis einer Annäherung ........................................................................281 1.2 Brüning, Nationalkonservativer zwischen Pazifismus und ungewollter Kriegsbegeisterung.....................................................................................284 1.3 Der Kanzler ist unwichtig, Deutschland bleibt, was es immer war ...........292 2. Brüning in der Vorstellungswelt der Presse ...............................................300 2.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931)..............................................................300 2.2 Die Wahrnehmung des zweiten Brüning-Kabinetts (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................320 3. Brüning in der Vorstellungswelt der Parlamentarier..................................329 3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931)..............................................................330 3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................350 3.3 Brüning in der Vorstellungswelt der diplomatischen Kreise .....................354 3.3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931)..............................................................355

16

Inhaltsverzeichnis

3.3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................360 V 1. 1.1 1.2 1.3 2. 3. 4. 4.1 4.2 VI

Brüning der Katholik..................................................................................364 Brüning in der Vorstellungswelt der wissenschaftlich-universitären und politisch-kulturellen Kreise .................................................................366 Der Katholizismus: Motor für die deutsch-französische Annäherung.......366 Brüning, ein katholisches Hindernis für den nationalsozialistischen Aufstieg ......................................................................................................367 Hoffnung auf die Katholiken......................................................................369 Brüning in der Vorstellungswelt der Presse ...............................................369 Brüning in der Vorstellungswelt der Parlamentarier..................................373 Brüning in der Vorstellungswelt der Diplomaten ......................................374 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931)..............................................................375 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932)..............................................................378 Der Sturz.....................................................................................................384

DER EINFLUSS DER KOLLEKTIVEN VORSTELLUNGSWELT AUF DIE FRANZÖSISCHE POLITIK ..............................................................385 I 1. 2. 3. II 1. 2. 3. III 1. 2.

Die französische Sicht auf Brüning: Eine Mischung aus Überlieferung und neuen Elementen..........................................................385 Die stabilsten Strukturen von sehr langer Dauer........................................385 Stabile Strukturen von mittellanger bis langer Dauer ................................391 Die aktuelle öffentliche Meinung...............................................................403 Instrumentalisierung oder Verinnerlichung der Deutschlandbilder in der französischen Politik?.......................................................................411 Ein enges Geflecht: Das Schema der französischen Wahrnehmung und die Politiker .........................................................................................411 Bilder als Legitimation für die Ausrichtung der unterschiedlichen französischen Deutschlandpolitik...............................................................413 Einige Beispielfälle ....................................................................................418 Die Bedeutung der Bilder für die französische Deutschlandpolitik...........424 Die Ursache für den Einfluss der Vorstellungswelt auf die politische Haltungen ...................................................................................................424 Die zeitverschobene Wirkung der Deutschlandbilder................................427

DIE „SICHT DES ANDEREN“ ALS GEGENSTAND DEUTSCHFRANZÖSISCHER FORSCHUNG....................................................................429

Inhaltsverzeichnis

17

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS...............................................433 I 1. 2. 2.1 2.2

Quellen .......................................................................................................433 Unveröffentlichte Quellen..........................................................................433 Veröffentlichte Quellen ..............................................................................436 Deutsche Quellen .......................................................................................436 Französische Quellen .................................................................................436

II 1. 2.

Bibliographie ..............................................................................................438 Handbücher/Nachschlagewerke .................................................................438 Sekundärliteratur ........................................................................................438

ABKÜRZUNGEN ...............................................................................................465

EINLEITUNG „Unter Brüning, der gegenüber dem Ausland immer sehr ’brav’ war, hat man Deutschland nichts gegeben. Dem Verbrecher Hitler hat man in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft fast alles gegeben, was er wollte“,1 schrieb Konrad Adenauer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hat den Alliierten zeit seines Lebens vorgeworfen, gegenüber Heinrich Brüning eine Blockadepolitik betrieben zu haben.2 Deshalb drängt sich die Frage auf, welche Faktoren diesem Kanzler zum Nachteil gereichten. In zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Studien hat man versucht, diese Frage von einem wirtschaftlichen, finanzpolitischen, diplomatiegeschichtlichen und internationalen Blickwinkel ausgehend zu beantworten. Frankreich hat bei dieser „Blockadepolitik“ zweifellos eine wichtige Rolle gespielt, die mehrere bedeutende Spezialisten der deutsch-französischen Geschichte analysiert haben. Eine entscheidende Frage wurde dabei aber immer außer Acht gelassen: Wie beurteilten die Franzosen Heinrich Brüning und wie hat dieses Urteil die französische Deutschlandpolitik beeinflusst? Deshalb drängt sich die Frage auf, welche Faktoren diesem Kanzler zum Nachteil gereichten. In zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Studien hat man versucht, diese Frage von einem wirtschaftlichen, finanzpolitischen, diplomatiegeschichtlichen und internationalen Blickwinkel ausgehend zu beantworten. Frankreich hat bei dieser „Blockadepolitik“ zweifellos eine wichtige Rolle gespielt, die mehrere bedeutende Spezialisten der deutsch-französischen Geschichte analysiert haben. Eine entscheidende Frage wurde dabei aber immer außer Acht gelassen: Wie beurteilten die Franzosen Heinrich Brüning und wie hat dieses Urteil die französische Deutschlandpolitik beeinflusst? Eine wissenschaftliche Analyse der öffentlichen Meinung und des „Blicks auf den Anderen“ im deutsch-französischen Kontext der Zwischenkriegszeit haben bislang nur sehr wenige Historiker versucht. Die Romanisten scheinen sich mehr für dieses Thema zu interessieren – allerdings aus einer rein literaturgeschichtlichen Perspektive. Dabei waren (und sind bis heute) sämtliche deutschfranzösischen Beziehungen mit Klischees und Stereotypen aufgeladen, die sich im Denken beider Nationen über Jahrzehnte hinweg fest verankert hatten; deren Ein-

1 2

Auszug aus einem Brief Konrad Adenauers. Zitiert nach Morsey: Brüning und Adenauer, S. 31. Trotz aller Spannungen zwischen den beiden Politikern (Konrad Adenauer wurde in den 1950er Jahren scharf von Heinrich Brüning kritisiert) machte Adenauer immer deutlich, wie sehr er den ehemaligen Zentrums–Kanzler schätze. Vgl. Morsey: Brüning und Adenauer. Zwei Wege, S. 14.

20

Einleitung

fluss auf die gegenseitige Beurteilung und auf die daraus resultierenden politischen Entscheidungen darf nicht unterschätzt werden. Es handelt sich zwar um eine schwer messbare Einflussgröße, der man trotzdem entscheidende Bedeutung zuschreiben muss, wenn man versucht, die französische Deutschlandpolitik zu erklären.

I DIE „SICHT DES ANDEREN“ UND DAS HISTORISCHE BEWUSSTSEIN Wie kann man die französische Wahrnehmung Heinrich Brünings erfassen? Die Analyse dessen, was man in der französischen Geschichtswissenschaft „die Sicht des Anderen“ („le regard de l’autre“) nennt und in der deutschen Philosophie auch unter dem Begriff „historisches Bewusstsein“ behandeln könnte, offenbart schon die Grundproblematik dieser Frage. Einige grundlegende Überlegungen einleitender Art sind notwendig, um sich mit der Problemstellung dieser Studie vertraut zu machen. Im Jahr 1931 hat der Philosoph Karl Jaspers in seiner Abhandlung „Die geistige Situation der Zeit“ einen Gedanken vorgetragen, der hier als Wegweiser dienen kann. Jaspers stellte fest, dass die in einer Gesellschaft lebenden Menschen eine „Realität“ kennen (im Sinne von aktuellem Geschehen), die nicht zwangsläfig mit den „realen“ Begebenheiten1 der Gegenwart übereinstimmt.2 Diese (Ab)Bilder der „Realität“ entstehen und erscheinen in den Diskursen aller Menschen, unabhängig von ihren ideologischen Überzeugungen und Weltanschauungen. Die „Realität an sich“ und die Vorstellungen von ihr bedingen und produzieren sich gegenseitig. Jaspers stellt die Frage, ob die in der Gegenwart lebenden Menschen überhaupt die Möglichkeit und die intellektuelle Fähigkeit haben, diesen Mechanismus zu erkennen.3 Die „Realität an sich“ zu erfassen ist schon eine Hürde, wenn es darum geht, seine eigene Gesellschaft, sein eigenes Land, seine eigene Region oder gar sein persönliches Umfeld zu erfassen. Die Schwierigkeit erhöht sich aber noch einmal beträchtlich, wenn die „Realität“ einer anderen Gesellschaft, eines anderen Landes oder einer politischen und öffentlichen Figur dieses anderen Landes verstanden werden soll. Das Wissen über diese „Realität“ wird – um nur einige entscheidende Faktoren zu nennen – durch die historische Vergangenheit, durch politische, wirtschaftliche, kulturelle, soziale und sprachliche Differenzen beider Länder beeinflusst, und zwar von dem Einen, der beobachtet und urteilt, und dem Anderen, der beobachtet und beurteilt wird. Auch die Tatsache, dass es sich um zwei Nachbarländer handelt, erleichtert die Aufgabe nicht: Selbst wenn die geographische Nähe den Eindruck vermittelt, den Anderen gut zu kennen, mag sich dieser Eindruck als Täuschung herausstellen. Wenn man die französische Wahrnehmung des deutschen Kanzlers Heinrich Brüning Anfang der 1930er Jahre analysieren möchte, sieht man sich zahlreichen grundlegenden Schwierigkeiten gegenüber: Da ist das Problem, als Beobachter jener Jahre zwischen der Wahrnehmung der „Realität“ und der „Realität an sich“

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„Reale“ Begebenheiten als Inbegriff dessen, was ins Dasein getreten ist und als Wirksames oder Gewirktes erkennbar ist, im Gegensatz zum Fiktiven, Scheinbaren und Illusorischen. Definition nach Lalande: Vocabulaire und Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Vgl. Jaspers: Geistige Situation, S. 31–32. Ebd., S. 30.

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zu unterscheiden; der historische Abstand und die „Fremdheit“ der Person Brünings für die damaligen und heutigen Beobachter; schließlich die Vielfalt der Blickwinkel, weil es sich nicht um einen einzigen Beobachter Brünings handelt, sondern um die französische Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Individuen und Gruppierungen mit ihren ganz unterschiedlichen Sichtweisen, Erinnerungen, persönlichen und sozialen Umfeldern zusammensetzte. Der Untergang der Weimarer Republik ist ein klassisches Thema der deutschen Zeitgeschichte, das lange darunter litt, dass die erste deutsche Demokratie immer von ihrem unrühmlichen Ende her beurteilt wurde.4 Mehr als bei jedem anderen Thema kommt es bei dieser Studie darauf an, sich nicht von den heutigen Kenntnissen über die Ereignisse nach 1933 in die Irre führen zu lassen. Um die französische Sichtweise zwischen 1930 und 1932 wirklich verstehen zu können, ist es angebracht, sich auf den damaligen zeitgenössischen Kontext zu konzentrieren, ohne dabei in die Falle eines simplen Historismus zu tappen. Die Entwicklung eines „historischen Bewusstseins“ im Sinne Hans-Georg Gadamers5 ermöglicht es dem Historiker gleichzeitig in den Kategorien des damaligen historischen Kontextes, der Geschichtlichkeit des heutigen Wissens und aktuellen Sichtweisen zu denken.6 Ohne Zweifel ist diese Vorgehensweise für jede geschichtswissenschaftliche Arbeit wichtig, allerdings erweist sich dieser hermeneutische Anspruch bei der vorliegenden Studie als besonders bedeutsam, weil der historische Abstand eher ein Hindernis als eine Hilfe bei der Rekonstruktion und Analyse der damaligen Mentalitäten ist.

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Vgl. Hierzu Möller: Weimarer Republik. Gadamer: Problem, S. 4. Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode.

II DIE ROLLE HEINRICH BRÜNINGS UND DIE APORIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning wurde am 26. November 1885 als sechstes Kind eines Wein- und Essighändlers in Münster geboren.1 Nach seiner Kindheit in einer streng katholischen Familie und seinem Abitur an einem humanistischen Gymnasium in Münster studierte er zehn Jahre lang Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie in München und Straßburg. Sein Studium beendete er im März 1915 in Bonn mit einer Promotion über ein nationalökonomisches Thema, bevor er sich als Freiwilliger an die Front meldete. Obwohl er die Verteidigung seines Vaterlandes als die Erfüllung seiner natürlichen Pflichten als Staatsbürger ansah, zog er aus den drei Jahren Kriegsdienst, in denen er es bis zum Leutnant der Reserve brachte, die Erkenntnis, dass sich alle Versuche, einen Krieg zu rechtfertigen – mit den Worten Hannah Arendts gesprochen –, als „nihilistische Banalitäten“ erweisen.2 Die Erfahrungen eines totalitarisierten Krieges – die Brüning im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nicht zum Gründungsmythos einer neuen politischen Ordnung verklärte3 – und seine Interesse am Gemeinwesen, das der Volksverein für das katholische Deutschland4 in ihm weckte, veranlassten ihn schließlich, in die Politik zu gehen. 1919 arbeitete Brüning zunächst in Berlin als Mitarbeiter Carl Sonnenscheins,5 bevor er bis 1921 persönlicher Berater Adam Stegerwalds6 und schließlich Leiter des christlich-nationalen Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und Chefredakteur der Berliner Tageszeitung „Der Deutsche“7 wurde. 1924 kam er als Abgeordneter der ZentrumsPartei in den Reichstag, wo er von 1919 bis März 1930 das Amt des ZentrumsFraktionsvorsitzenden innehatte und am 30. März zum Reichskanzler ernannt wurde. Sein Mandat dauerte bis zum 30. Mai 1932 und war damit eine der längsten Amtszeiten deutscher Reichskanzler während der Weimarer Republik. Über sein politisches Leben, besonders über die 26 Monate seiner Kanzlerschaft, stehen den Historikern heute viele unterschiedliche Quellen zur Verfü-

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Zu seiner Biographie, vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 19–63; Hömig: Brüning (I), S. 27– 115. Vgl. Arendt: Elemente, S. 699; Hömig: Brüning (I), S.66. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 65. Der Volksverein für das katholische Deutschland wurde 1880 gegründet und entwickelte sich zu einer der größten Organisationen in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Ziel des Vereins war die religiöse, kulturelle, soziale und politische Bildung der Katholiken in Deutschland, ohne aber die Monarchie als Regierungsform in Frage zu stellen. Der Pfarrer Carl Sonnenschein (1876–1929) leitete das „Sekretariat Sozialer Studentenarbeit“, das sich wie der Volksverein darum bemühte, über die akademische Elite die Arbeiter zu einer politischen und sozialen Arbeit anzuspornen. Dr. Adam Stegerwald: Minister und Vorsitzender der Christlichen Gewerkschaften. 1921 gegründete Zeitung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

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gung, wie die Akten der Reichskanzlei oder seine politischen Reden.8 Brünings eigene Erinnerungen, die einige Monate nach seinem Tod im Jahr 1970 veröffentlicht und sowohl von Historikern als auch einer breiten interessierten Öffentlichkeit mit großer Ungeduld und Neugier erwartet wurden, erweisen sich bis heute als problematisch, weil die Authentizität seiner Memoiren zu Recht angezweifelt wird. Sie helfen wenig bei der Bewertung seiner Politik in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Der Historiker Frank Müller hat sich mit den Schriften Heinrich Brünings in Harvard auseinandergesetzt und eine Bestandsaufnahme erarbeitet.9 Der ehemalige Reichskanzler hatte testamentarisch festgelegt, dass seine Selbstzeugnisse in den Archiven der Universität Harvard aufbewahrt werden sollten.10 Zu den dort aufbewahrten Schriftstücken gehören vor allem Briefe, die zwischen 1936 und 1969 geschrieben wurden. Die für diese Studie interessante Korrespondenz ging jedoch zum Teil in den Kriegswirren verloren oder wurde 1934 von Brüning vor seiner Flucht selbst vernichtet, weil er eine Hausdurchsuchung fürchtete.11 In Harvard findet man dafür heute noch alle Vorträge, die Brüning auf Konferenzen in den USA zwischen 1937 und 1946 gehalten hat, die sogenannten Tageszettel, kurze Notizen über das politische Tagesgeschehen, die von Brünings Sekretär Hermann Pünder verfasst und hin und wieder von Brüning kommentiert wurden, sowie das sogenannte Daily Journal, eine Chronologie der privaten und geheimen Gespräche, die Brüning vom 1. Januar 1930 bis zum 22. Mai 1932 geführt hat.12 Die Tageszettel und das Daily Journal bilden die Grundlage, nach der Brüning seine Memoiren verfasste. Deren Veröffentlichung und die darauf folgenden Debatten vermitteln einen Eindruck davon, wie umstritten Heinrich Brüning war. „This is not the same man I knew“, sagte beispielsweise der englische Historiker und langjährige Freund Brünings, John Wheeler-Bennett, nachdem er die Memoiren gelesen hatte.13 Zahlreiche Historiker und Zeitgenossen Brünings beklagten den großen Unterschied zwischen dem Mann, den sie zum Teil persönlich gekannt und erlebt hatten, und dem, den er selbst in seinen Memoiren beschrieb. Dies war 1975 Anlass für den Historiker Rudolf Morsey, der Entstehung der Brüningschen Memoiren und ihren inhaltlichen Widersprüchen nachzuspüren.14 Brünings Memoiren wurden in mehreren Etappen und in mehreren Manuskripten von ihm selbst zu Papier gebracht und anschließend von verschiedenen 8

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Vgl. Akten der Reichskanzlei; Longerich: Erste Republik; Maurer/Wengst: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus; Morsey: Protokolle der Reichstagsfraktion; Vernekohl: Heinrich Brüning. Müller: Die Brüning–Papers. Selbstzeugnisse; Idem: Die Brüning–Papers. Nachlass. Davor wurden seine Schriften in den USA von Brünings langjähriger Assistentin und späteren Erbin Claire Nix in 15 Kartons aufbewahrt. Vgl.: Müller: Die Brüning–Papers. Selbstzeugnisse, S. 7. Vgl. Müller: Die Brüning–Papers. Nachlass, S. 392–393. Vgl. ebd., S. 392–407. Zitiert nach ebd., S. 18. Morsey: Zur Entstehung.

II Die Rolle Heinrich Brünings und die Aporie der Geschichtswissenschaft

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Personen ins Reine geschrieben, überarbeitet und korrigiert.15 Nach Brünings Tod haben Claire Nix, der Herausgeber Felix Berner und Theoderich Kampmann die Druckfahne nach drei Manuskriptversionen erstellt und ihre eigenen Korrekturen hinzugefügt, die in dem veröffentlichten Text nicht eindeutig gekennzeichnet wurden. Bis heute fehlt eine kritische Ausgabe seiner Erinnerungen, deren Widersprüche 1970 in Deutschland die zweite Historikerdebatte zum Thema Heinrich Brüning auslösten.16 Die erste geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung fand ihren Ausgangspunkt in der Veröffentlichung von Karl Brachers Werk „Die Auflösung der Weimarer Republik“. Bracher vertrat darin die These, dass die Auflösung oder vielmehr die Selbstauflösung der Weimarer Republik in der Regierungszeit Brünings stattfand, weil in diesen Jahren die durch die wirtschaftliche und soziale Krise geschwächte Demokratie den totalitären politischen Angriffen nicht mehr standhielt.17 Dieser These folgend bildete sich eine Gruppe von Historikern, die in Brüning den Wegbereiter Adolf Hitlers und ein Symbol für den Niedergang der Weimarer Republik sah.18 Zu den ersten Gegnern dieser These zählte Werner Conze19 und später Knut Borchardt, der mit seiner Studie über die Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre die dritte Etappe in der Historikerdebatte um Heinrich Brüning einläutete.20 Nach Borchardt befand sich die deutsche Wirtschaft schon vor der Kanzlerschaft Brünings in einem krankhaften und anomalen Zustand, woraus Borchardt folgerte, dass es keine Alternative zu Brünings Politik gegeben habe. Auf diese Weise stellte Borchardt Brünings Verantwortung für den Untergang der ersten deutschen Demokratie in Frage.21 Viele Historiker sind seitdem Borchardts Ansichten gefolgt und verteidigen Brüning nicht nur als letzten demokratischen Kanzler vor Hitler, sondern feiern ihn sogar als letzten Schutzwall gegen die nationalsozialistische Diktatur.22 Seit Anfang der 1990er Jahre scheint die Geschichtswissenschaft 15 Die Versionen A2 und B1 wurden von Gisela von Alvensleben und ihrer Tochter ins Reine geschrieben. Die Version A3 wurde von Johannes Maier–Hultschin und die Versionen B1 und B2 von Claire Nix korrigiert. Vgl. ebd., S. 21–23. 16 Heute gelten Brünings Memoiren trotzdem als Quellen von herausragender Bedeutung. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Authentizität ist ein typisches Problem dieser Art von Quellen. Vgl. dazu Patch: Heinrich Brüning, S. 3. Zu der inhaltlichen Diskussion um Brünings Memoiren, vgl. Koops: Heinrich Brünings „Politische Erfahrungen“; Morsey: Brüning Staatsbild; Rödder: Dichtung und Wahrheit; Hömig: Brüning (I), S. 19–22. 17 Vgl. hierzu Becker: Heinrich Brüning in den Krisenjahren; Helbich: Brünings Wirtschafts– und Finanzpolitik, S. 46ff; Glashagen: Reparationspolitik Brünings. 18 Zum Beispiel Hans Mommsen. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 25. Arthur Rosenberg (1889– 1943) war einer der ersten Zeitgenossen Brünings, die den Reichskanzler einen Wegbereiter Hitlers nannten. Vgl. Conze: Brünings Politik, S. 530–531; Hömig: Brüning (I), S. 24. 19 Conze: Brüning; Ders.: Brünings Politik, S. 531–533; Ders.: Die Regierung Brüning; Ders.: Scheitern; Ders.: Sturz, S. 266. 20 Zu seiner These, vgl. Borchardt: Zwangslagen und Handlungsspielräume. 21 Vgl. ders.: Alternativen; Ders.: Wirtschaftspolitik Brüning; Ders./Ritschl: Brüning. 22 Zum Beispiel Lohe, Morsey oder Becker. Vgl. Lohe: Heinrich Brüning, S. 65 f.

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sich erneut für die ursprüngliche und bislang nicht eindeutig geklärte Frage in der Brüning-Debatte zu interessieren und dreht sich damit weiterhin im Kreis: War Brünings Politik der erste Schritt zur Auflösung der Weimarer Republik oder vielmehr der letzte Versuch, sie zu retten?23 Für die Historiker war es in den letzten Jahren umso schwieriger, die Person und die Politik Brünings zu bewerten, als es keine sachdienliche Biographie Heinrich Brünings gab, die einen Weg aus der historiographischen Sackgasse hätte weisen können. Diese Lücke wurde im Jahr 1999 von Astrid Mannes und 2000 von Herbert Hömig geschlossen.24 Diesen beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie Brüning in einem sehr positiven Licht darstellen. Die Biographie von Astrid Mannes ist allerdings sehr problematisch, weil eine kritische Auseinandersetzung mit Brünings Memoiren gänzlich fehlt. Herbert Hömig hingegen spart kein Detail zu Brüning aus und gibt akribisch genau die gesamte Forschungslage, auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion über Brüning wieder. Trotz des großen Umfangs seines Buches und des vielversprechenden Aufbaus bleibt aber zu beklagen, dass auch er nichts Neues zur Debatte beiträgt. Ein weitere Lücke stellte bislang auch die genaue Auseinandersetzung mit der Person Brünings und ihrem schwierigen Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland dar. Auch hier kommt Herbert Hömig das Verdienst zu, mit dem zweiten Band seiner Brüning-Biographie auch die Jahre nach der Weimarer Republik bis hin zur Brünings Tod bearbeitet zu haben.25 Aber auch der zweite Band geht über den Informationswert eines beeindruckenden Handbuchs nicht hinaus.26

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Rödder: Reflexionen. Mannes: Heinrich Brüning; Hömig: Brüning (I). Hömig : Brüning (II). Nach Beendigung dieser Dissertation, wurde außerdem folgende Arbeit veröffentlicht: Volkmann : Heinrich Brüning im amerikanischen Exil : Nationalist ohne Heimat. Eine politische Teilbiographie. Düsseldorf 2007. Peer Volkmann, Universität Augsburg, arbeitet derzeit an einer Neu–Edition der Brüning–Memoiren.

III Die französische Gesellschaft: Die „Beobachter“ Brünings

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III DIE FRANZÖSISCHE GESELLSCHAFT: DIE „BEOBACHTER“ BRÜNINGS Ohne die vergleichenden Überlegungen über die Situation Deutschlands und Frankreichs Anfang der 1930er Jahre vorwegzunehmen, muss an dieser Stelle schon gefragt werden, wie dieses Frankreich aussah, das zwischen 1930 und 1932 über Heinrich Brüning urteilte. Ganze sechs französische Regierungskabinette sind vom 2. März 1930 bis zum 10. Mai 1932 aufeinander gefolgt: zwei unter André Tardieu vom 2. März bis zum 4. Dezember 1930 und vom 20. Februar bis zum 10. Mai 1932; eins unter Théodore Steeg vom 13. Dezember 1930 bis zum 22. Januar 1931 und drei unter Pierre Laval mit Unterbrechungen zwischen dem 27. Januar 1931 und dem 16. Februar 1932. Nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Juni 1931 löste Paul Doumer als Staatspräsident Gaston Doumergue ab. Nur elf Monate später, am 6. Mai 1932, wurde Doumer unter nie ganz geklärten Umständen in Paris ermordet.1 Dieser brutale Mord und die Wahl Albert Lebruns zum neuen Präsidenten, dem jeder politischer Weitblick fehlte, beschäftigte die Öffentlichkeit mehrere Tage lang. In der ersten Hälfte des Jahres 1932 hatten die Franzosen schon um zwei weitere französische Staatsmänner getrauert, die jeder auf seine Weise die deutsch-französischen Beziehungen geprägt hatten: André Maginot, der am 7. Januar 1932, und Aristide Briand, der am 7. März 1932 starb. Der Mann, der die französische Politik in diesen Monaten häufiger und bedeutender Umbrüche dominierte, war André Tardieu. Er gehörte einer politisch rechts gerichteten jungen Politikergeneration an, die sich 1929 mit einer komfortablen Mehrheit in Paris etablierte, aber schon bei den Wahlen 1932 wieder scheiterte. Die 41 Millionen Franzosen zählende Gesellschaft war Anfang der 1930er Jahre von nachlassenden Spannungen zwischen Katholiken und Laizisten, vom Kampf zwischen Rechten und Linken, aber auch von dem Gefühl des Untergangs der westlich-europäischen Zivilisation auf der einen Seite und dem Trugschluss, von der Weltwirtschaftskrise verschont zu bleiben, auf der anderen Seite geprägt. Doch genau diese Krise sollte Schritt für Schritt die wirtschaftlichen und die außen- und innenpolitischen Strukturen Frankreichs erfassen. Die Regierungszeit Brünings und der Höhepunkt der deutschen Krise fielen mit dem Zeitpunkt schleichender Veränderungen in der französischen Gesellschaft zusammen, die auch eine Herausforderung für die französische Republik bedeuteten. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung Brünings in Frankreich. Sollten die Urteile, die unter diesen Umständen über Brüning gefällt wurden, sogar Auswirkungen auf die Handlungsspielräume des deutschen Reichskanzlers gehabt haben? Ohne die Debatte über die Zwangslagen und Handlungsspielräume Brünings noch

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Vgl. Chauvin: Paul Doumer.

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einmal aufrollen zu wollen – zumal der thematische und methodische Rahmen dieser Studie dazu keine Möglichkeit bietet –, begleitet diese Frage zwangsläufig die folgenden Überlegungen.

IV LEITENDE FRAGESTELLUNGEN In dieser Studie geht es keinesfalls darum, Heinrich Brüning und seine Politik zu analysieren und möglichst objektiv zu bewerten. Ziel ist einzig und allein, den Urteilen über Heinrich Brüning und seine Politik nachzuspüren, die zwischen 1930 und 1932 in Frankreich gefällt wurden. Mehrere Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wer interessierte sich überhaupt für den deutschen Reichskanzler? Auf welche Aspekte seiner Person und seiner Politik wurde hauptsächlich geachtet? Welche historisch gewachsenen französischen Deutschlandbilder spiegeln sich in der Bewertung Brünings wider? Beurteilten die Franzosen wirklich Brüning oder ist ihre Wahrnehmung nur ein Abbild französischer Klischees über Deutschland? Wie und warum bildeten sich die Urteile und aus welchen Facetten setzten sich die französischen Brüning-Bilder zusammen? In einem zweiten Schritt soll dann geprüft werden, ob und wie die französische – in ihrer Einheit vielgestaltige – Wahrnehmung Heinrich Brünings in der damaligen Zeit die politischen Entscheidungsträger in Frankreich zu bestimmten Vorgehensweisen gegenüber Deutschland veranlasst haben könnte. Fiel die öffentliche Meinung bei den außenpolitischen Entscheidungen überhaupt ins Gewicht? Der Historiker René Girault geht davon aus, dass Wahlen in Friedenszeiten mit innenpolitischen Themen gewonnen werden, während in Krisenzeiten außenpolitische Anliegen die öffentliche Meinung mitbestimmen.1 Instrumentalisierten die französischen Politiker also die vorherrschenden Brüning-Bilder, um bestimmte Ziele zu erreichen, oder gehörten ihre Brüning-Bilder einfach, ja geradezu unbewusst, zum politischen Diskurs? Um ein vages Phänomen wie die öffentliche Meinung analysieren zu können und das notwendige methodische Rüstzeug dafür zu entwickeln, bedarf es einer tiefgehenden methodischen und thematischen Einführung, die auf dem aktuellen Stand der historischen Forschung über Bilder und Vorstellungswelten in internationalen Beziehungen gründet.2

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Girault: France des années trente, S. 363–364. Reiner Marcowitz hat die vielversprechenden neuen Ansätze in dem Forschungsbereich der internationalen Beziehungen deutlich gemacht. Vgl. Marcowitz: Diplomatiegeschichte.

V DIE QUELLEN1 Neben der Qualität der Methodik ist auch eine genaue Identifizierung verlässlicher Quellen notwendig, um die französischen Brüning-Bilder erfassen zu können. Für diese Arbeit wurden vier Quellen-Kategorien ausgewählt, um – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einen bestmöglichen Querschnitt der französischen Gesellschaft und ihrer Brüning-Bilder aufzuzeichnen. Um einen Eindruck von den Sichtweisen der französischen Bildungselite zu gewinnen, wurden die wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen französischer Intellektueller und Hochschullehrer, auch deren öffentliche Reden vor einem akademisch gebildeten Publikum und die Archive der kulturellen deutschfranzösischen Beziehungen des Ministère des Affaires Etrangères zusammengetragen. Sämtliche zu Deutschland in ausgewählten Presseorganen veröffentlichten Artikel, Fotos und Karikaturen sollen der Analyse der in der französischen Gesellschaft am weitesten verbreiteten Brüning-Bilder dienen und einen Einblick in das Denken der Massen bieten.2 Auch die Standpunkte der französischen Abgeordneten und Politiker wurden durch die Analyse ihrer Reden im Parlament berücksichtigt. Die letzte Kategorie betrifft die französischen Diplomaten und Militärangehörigen; deren Meinungsäußerungen über das deutsch-französische Verhältnis zu Zeiten Brünings konnten in den entsprechenden Archiven zur Diplomatie- und Militärgeschichte eingesehen und durch die Lektüre der Memoiren ihrer wichtigsten Protagonisten vervollständigt werden.

1. Die Quellen zur kulturellen Elite Für diese Arbeit wurden 31 wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen konsultiert, die zwischen 1930 und 1931 in Frankreich erschienen.3 Unter den Autoren dieser Bücher, die entweder in Form von wissenschaftlichen Studien über Deutschland in Frankreich geschrieben oder als Reiseberichte in Deutschland selbst verfasst wurden, befinden sich Juristen, Historiker, Literaturund Sprachwissenschaftler, Politologen, Wirtschafts- und Finanzspezialisten, Mathematiker, Soziologen, Journalisten und Pädagogen. Neben diesen Büchern wur-

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Die Reihenfolge der vorgestellten Quellen folgt dem methodischen und inhaltlichen Aufbau der vorliegenden Arbeit. Vgl. Teil II. Der Begriff „Massen“ wird unter Vorbehalt verwendet, wie im folgenden Abschnitt über die Presse erläutert wird. Diese Publikationen wurden dank der folgenden Bibliographie ausfindig gemacht: Dermineur: Catalogue général. Außerdem wurden jene Publikationen bearbeitet, die in den zeitgenössischen Presseorganen rezensiert wurden.

V Die Quellen

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den die Archive des Centre des Archives diplomatique de Nantes über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen (Schriftverkehr, Briefe, Berichte usw.) und die Archive der Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen durchgesehen,4 die einen repräsentativen Eindruck von den kulturellen Kontakten zwischen Deutschland und Frankreich vermitteln – besonders was die Beziehungen zwischen französischen und deutschen Katholiken und Pazifisten betrifft. Alle Quellen aus diesem kulturellen Kontext wurden nach folgenden Kriterien untersucht: das wissenschaftliche oder kulturelle Fachgebiet des Autors; der persönliche und wenn möglich politische Werdegang des Autors; Art und Thema der Publikation; die in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen; die Argumentationsführung bei der Beschreibung Heinrich Brünings, seiner Politik und seines Landes. Da es nicht möglich war, die politische Ausrichtung jedes einzelnen Autors festzustellen, werden die folgenden Kapitel über die Brüning-Bilder der kulturellen Elite Frankreichs immer in wertender Reihenfolge mit den günstigsten Einschätzungen Brünings beginnen und den unfreundlichsten Beurteilungen enden. 2. Die Presse Die französische Presse ermöglicht den wohl facettenreichsten Blick auf die unterschiedlichen Strömungen der öffentlichen Meinung in Frankreich Anfang der 1930er Jahre. Emil Dovifat5 hat deutlich gemacht, dass die Presse allen Schichten einer Gesellschaft zugänglich ist und dass sie ihnen in den denkbar kürzesten, regelmäßigen Zeitabständen Berichte und Analysen über das aktuelle Zeitgeschehen liefert.6 Ohne Zweifel sind Zeitungen nicht nur eine ideale Quelle, um Tag für Tag die Neuigkeiten zu verfolgen, sondern sie ermöglichen dem damaligen und heutigen Leser auch, sich einen Überblick über die vorherrschenden Meinungen in der französischen Gesellschaft zu verschaffen und festzustellen, über welche Ereignisse im Nachbarland Deutschland berichtet wurde. Mehr als jede andere Publikationsform richtet sich die Zeitung an eine breite Öffentlichkeit, wobei die Anzahl der Leser je nach Zeitungsauflage, politischer Ausrichtung, Kosten und Werbestrategien variieren kann, um nur einige der wichtigsten Einflussgrößen zu nennen.7 Im Prinzip ist die Presse für jeden leicht zugänglich und ist die wohl wichtigste Instanz, die über öffentliche und politische Debatten berichtet und sie gleichzeitig beeinflusst. Dies trifft auf die französische Presse der Zwischenkriegszeit im besonderen Maße zu, weil es in keiner anderen Epoche so viele französische Zeitungen gab, die so eng mit der französischen Politik verknüpft

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BDIC, F Delta Res 798, Inventaire F pièce 7346, Kartons 40–44 und 69. Emil Dovifat führte 1920 das Studienfach Publizistik an der Universität in Berlin ein. Dovifat/Wilke: Zeitungslehre I, S. 16. Zitiert von Lehmann: Totengräber der Demokratie, S. 17. Vgl. Lehmann: Totengräber der Demokratie, S. 17.

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waren wie in den Jahren der III. Republik.8 Persönlichkeiten dieser Zeit wie André Tardieu, Ernest Pezet, Edouard Herriot und Léon Blum arbeiteten gleichzeitig als Politiker und Journalisten. Sie fungierten in doppelter Hinsicht als „Seismographen des öffentlichen Lebens und seiner Erschütterungen“.9 Allerdings konnten (und können noch heute) auch die Leser einen gewissen Einfluss auf die Art der journalistischen Berichterstattung ausüben, in dem sie beispielsweise bestimmte Zeitungen nicht mehr kauften, sich in Leserbriefen zu Wort meldeten oder sogar Abonnements kündigten, was die Redaktionen verpflichtete, ein Gespür für die Wünsche und Interessen der Leser zu entwickeln. Die einzelnen für diese Studie ausgewerteten Zeitungen wurden so ausgewählt, dass alle politischen Strömungen in der französischen Presselandschaft zwischen 1930 und 1932 repräsentativ vertreten sind.10 Es wurde versucht, nicht nur die wichtigsten,11 sondern auch die meinungsstärksten und scharfsinnigsten Blätter in der Vielzahl französischer Zeitungen ausfindig zu machen.12 Die exakte politische Ausrichtung einer Zeitung oder eines Artikels ist nicht immer genau festzustellen, weil die Gewerkschaft französischer Journalisten Anfang der 1920er Jahre festgelegt hatte, dass „jeder Journalist es ablehnen dürfe, einen Artikel zu schreiben – selbst wenn er seinen Namen nicht darunter setzen müsse –, sobald ihm Ideen aufgezwungen würden und er deswegen Skrupel habe“.13 Hinzu kam der bewegte Werdegang vieler Journalisten, die zwischen ideologisch unterschiedlich orientierten Zeitungen hin und her wechselten oder sogar gleichzeitig für verschiedene Blätter schrieben, deren politische Doktrin ihren persönlichen Überzeugungen nicht immer entsprach.14 Ein weitere Schwierigkeit beim Umgang mit der Presse ist der fehlende Berufsstatus der französischen Journalisten, der erst mit einem entsprechenden Gesetz am 29. März 1935 und der Einführung eines Journalistenverbandes, der seit 1936 Presseausweise vergab, genau definiert wurde. Über die etwa 3500 Journalisten hinaus, die im Jahr 1932 statistisch erfasst wurden, gab es noch unzählige Berufsanfänger, freie Journalisten und Autoren, die den Journalismus nur nebenberuflich ausübten und deren Werdegang und politi-

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Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 2. Emil Dovifat beschreibt auf diese Art die Rolle des Journalisten. Vgl. Dovifat: Handbuch der Publizistik (I), S. 48. Zitiert nach Lehmmann: Totengräber der Demokratie, S. 18. Die folgende Passage über die Presse folgt den Überlegungen Lehmanns. Ebd., S. 17–24. Für jede einzelne politische Strömung gäbe es noch eine Vielzahl weiterer Presseorgane auszuwerten, die in dieser Studie fehlen. Die Auswahl der hier verwendeten Zeitungen wurde auch im Hinblick auf die Überlegungen Christophe Charles über die Rolle und die Entwicklung der Presse in der Zwischenkriegszeit getroffen. Vgl. Charle: Siècle de la presse. Die Auswahl der wichtigsten politisch links gerichteten Zeitungen richtete sich auch nach Estier: Gauche hebdomadaire. Zur Geschichte der Presse, vgl. Albert: Presse française, S. 174 ff. Bulletin du syndicat des journalistes. April 1921, S. 2. Zitiert nach Martin: Médias et journalistes, S. 221. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird jeder Journalist bei Erstnennung in dieser Arbeit kurz in den Fußnoten vorgestellt.

V Die Quellen

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sche Überzeugungen häufig nicht festzustellen waren – zumal viele unter Pseudonym oder Künstlernamen schrieben und auf diese Weise ihre wahre Identität verbargen. Grundsätzlich fällt es schwer, alle wichtigen Zeitungen dieser Jahre genau zu identifizieren, weil abgesehen von wenigen Ausnahmen wie dem bibliographischen Aufsatz von Jacqueline Pluet-Despatin zur trotzkistischen Presse15 bis heute eine Presse-Bibliographie fehlt, die alle Zeitungen, Magazine und Zeitschriften der Zwischenkriegszeit aufführt und ihre politische Ausrichtung benennt. In der Bibliograhie de la presse française politique et d’information générale fehlt noch immer ein Band zur nationalen Presse, während andere Nachschlagewerke nur auf eine Publikationsform (z. B. Monatshefte) spezialisiert sind und keinen Gesamtüberblick über die französische Presse geben.16 Aus diesem Grund sind die Annuaires de la presse für die Jahre 1930, 1931 und 1932 von großem Nutzen. Insgesamt macht die Lektüre der französischen Presse in den Jahren 1920 bis 1939 deutlich, dass diese nicht immer in der Lage war, die Franzosen angemessen über die jeweilige Situation in Deutschland oder den Zustand der internationalen Beziehungen zu unterrichten.17 Zu oft verstellten ideologische Auseinandersetzungen und versteckte gesinnungspolitische Interessen, die die Zeitungen bedienten, den Blick auf die Realität; zu oft hat man versucht, die Leser im Kampf zwischen den Parteien und verschiedenen politischen Vereinigungen zu instrumentalisieren.18 Im Folgenden werden die einzelnen Zeitungen vorgestellt, die für diese Studie herangezogen wurden. Unter den politisch Mitte-rechts gerichteten Zeitungen galt die auflagenstarke Tageszeitung Petit Parisien als offiziöses Sprachrohr des Quai d’Orsay, von dem sie auch finanziert wurde. Chefredakteur Elie-Josèphe Bois unterhielt allem Anschein nach sehr gute Beziehungen zu Alexis Léger, dem Generalsekretär des Quai d’Orsay, Edouard Herriot und Joseph Paul-Boncour. Die Auflage betrug in den Jahren zwischen 1919 und 1935 ungefähr 1,5 Millionen. Ein anderes „Sprachrohr“, das ebenfalls vom Außenministerium subventioniert wurde, war die liberal-konservative Zeitung Le Temps, die es auf eine Auflage zwischen 70 000 und 80 000 brachte und die Interessen der führenden Wirt-

15 Pluet–Despatin: Presse trotskiste. 16 Vgl. Répertoire de la presse et des publications périodiques françaises. Bibliothèque Nationale. Paris 1981; Bellanger: Histoire générale de la presse française; Estier: Gauche hebdomadaire. Für die Jahre ab 1944 hingegen gibt es bibliographische Gesamtschauen. Vgl. Guillauma: Presse politique et d’information. Die Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine (BDIC) in Paris–Nanterre verfügt über einen gewaltigen Pressebestand für die 1930er Jahre (dazu Wilkens: Archivführer), allerdings fehlt auch hier eine spezialisierte Bibliographie zur Orientierung. 17 Vgl. hierzu: Albert: Histoire de la presse, S. 151. 18 Vgl. Bellanger: Histoire générale de la presse, S. 483; Feyel: Presse en France, S. 151. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Hintergrundinformationen zur französischen Presse aus folgenden Werken: Annuaires de la presse von 1930, 1931 und 1932; Bellanger: Histoire de la presse générale; Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus.

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schafts- und Finanzkreise vertrat, aus deren Umfeld die Zeitung ihre Chefredakteure Louis Mill (bis 1931), Jacques Chastenet und Emile Mireaux (ab 1932) rekrutierte. Innenpolitisch neigte die Zeitung deutlich dem rechten Lager zu. Le Temps verfügte über ein großes Korrespondentennetz, das regelmäßig über das Ausland berichtete und der Zeitung den Ruf verschaffte, ihre Leser in internationalen Fragen besonders zuverlässig und kenntnisreich zu informieren, was sie zu einer der meistgelesenen französischen Zeitungen außerhalb Frankreichs machte. Die einzige katholisch und national ausgerichtete Zeitung, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht eingestellt wurde, war La Croix, die sich hauptsächlich politischen und religiösen Themen widmete. Seit der Vatikan die Ziele der rechtsextremistischen Bewegung Action Française im Jahr 1926 verurteilt hatte, orientierte sich La Croix neu und schlug in ihren außen- und innenpolitischen Artikeln einen gemäßigteren Ton an. Die Zeitung bleib zwar dezidiert antimarxistisch, vertrat aber jetzt eine „briandistische“ Linie und äußerte sich vorsichtiger über die Politik der Radicaux und Sozialisten. Anfang der 1930er Jahre erreichte sie die Auflage von etwa 170 000 Exemplaren.19 Le Matin, eine andere rechtsgerichtete Tageszeitung, war dagegen nicht in der Lage, die nationalistische Färbung aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg dauerhaft zu modifizieren, was zu kontinuierlichem Leserschwund führte. Die Auflage von 1,1 Millionen im Jahr 1919 sank auf gerade mal 275 000 zu Beginn des Jahres 1930. Im Laufe der 1920er Jahre zeigte sich das Blatt Poincaré-freundlich und aufgrund der guten Beziehungen zwischen seinem Auslandsreporter Jules Sauerwein und Aristide Briand bis Ende 1930 bisweilen sogar „briandistisch“, bis schließlich wieder die ursprünglichen antiparlamentarischen und nationalistischen Positionen der Zeitung verteidigt wurden. Neben diesen klassischen Tageszeitungen gab es noch mehrere politisch rechts gerichtete Fachzeitungen, die sich thematisch spezialisiert hatten. Dazu zählten die täglich erscheinende Wirtschaftszeitung und Sprachrohr der französischen Wirtschaftsführungskräfte La Journée Industrielle und La Revue des Deux Mondes, eine konservativ-republikanische Zeitschrift, die mit einer Auflage von 50 000 alle zwei Wochen erschien. Die Wochenzeitung Gringoire, das politisch rechts orientierte Pendant zur Lumière, das 1928 unter der politischen Leitung von Georges Suarez und der kulturell-literarischen Leitung von Joseph Kessel gegründet wurde, richtete sich an ein liberal-konservatives Publikum. Der Politiker André Tardieu schrieb gelegentlich Artikel für diese Zeitung, die ab 1934 einen politischen Richtungswechsel vollzog und nunmehr die Ideen der nationalistischen, antiparlamentarischen und antisemitischen Rechten vertrat. Seit 1928 stieg die Auflage von Gringoire kontinuierlich – wurden 1930 noch ungefähr 155 000 Exemplare verkauft, waren es 1937 schon 650 000. Das katholische Bürgertum las bevorzugt die erzkonservative Zeitung L’Echo de Paris, die den Ruf hatte, dem militärischen Führungsstab nahe zu stehen. Ge-

19 Rémond/Poulat: Cents ans, S. 227f.

V Die Quellen

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neral de Castelnau wirkte regelmäßig an der Blattgestaltung mit und verwandelte L’Echo de Paris nach und nach in ein Sprachrohr der Fédération Nationale Catholique.20 Die jährliche Auflage sank von 300 000 im Jahr 1919 auf 200 000 im Jahr 1929.21 An diesem rechten äußeren Rand rangierte auch die Action Française, die zunächst alle 14 Tage als Revue erschien, bevor sie ab 1908 als Tageszeitung herausgegeben wurde und unter der Leitung von Charles Maurras und Léon Daudet dem integralen Nationalismus eine Stimme verlieh. Die Zeitung vertrat eine monarchistische, antiparlamentarische, antidemokratische und antisemitische Position und erreichte eine Auflage von 50 000−60 000 Exemplaren. Die rechtsextremistische Liga Action Française entwickelte sich im Umfeld der Zeitung, die im Jahr 1926 für Katholiken vom Vatikan zur Lektüre verboten wurde.22 Nicht zuletzt gab es ein satirisches Blatt, Cyrano, das am Anfang der 1920er Jahre unter der Leitung von François-Ignace Mouthon gegründet wurde, ein politisch rechts stehendes Lesepublikum bediente und ab 1930 in die Hände des Abgeordneten André Payer übergeben wurde. Im linken politischen Umfeld war die Presselandschaft weitaus komplexer und heterogener. L’Œuvre, die größte Tageszeitung der Radicaux, deren Auflage regelmäßig die 200 000 überschritt, spiegelte ziemlich genau die Meinungen und Überzeugungen der Partei wider – genauso wie die Tageszeitung L’Ere Nouvelle, die 1919 gegründet wurde und sich unter Chefredakteur George Ponsot zu einem offiziösen Sprachrohr der Partei entwickelte. Im Jahr 1930 kaufte Léo-Abel Gaboriaud die auflagenschwache Ere Nouvelle, die er im Jahr 1925 selbst geleitet hatte, und stellte sie in den Dienst gemäßigter Radicaux wie Herriot und Painlevé. In parlamentarischen und geschäftlichen Kreisen war der Einfluss der Ere Nouvelle beträchtlich. Die sozialistische Partei, die die Humanité an die Kommunisten verloren hatte, wählte sich Le Populaire de Paris als neues Stammblatt aus, allerdings befand sich diese Tageszeitung wie alle der sozialistischen Partei SFIO nahe stehenden Blätter in einer fortwährend schwierigen Situation. Nur in den Zeiten des Front Populaire 1936 schaffte es die von Léon Blum zwischen 1927 und 1940 geführte Zeitung auf Verkaufszahlen von etwa 300 000 Exemplaren. Neben dem Populaire gab es mehrere Magazine und Wochenzeitungen, die die verschiedenen politischen Tendenzen innerhalb der SFIO veranschaulichen. Eines der wichtigsten sozialistischen Blätter, die Vie Socialiste (1920−1935) gab dem rechten Parteiflügel der „réformistes participationnistes“ um Vincent Auriol, Paul-Boncour und Alexandre Varenne eine Stimme. Die Vie Socialiste bildete das Gegengewicht zur

20 Die Fédération Nationale Catholique war ein religiöser Interessenverband, der 1924 gegründet wurde, um die katholischen Anliegen gegen die Angriffe der Antiklerikalen des Cartel des gauches zu verteidigen. Unter der Leitung von General de Castelnau sollte die Organisation die Basis einer zukünftigen rechten katholischen Partei werden, dieses Projekt verlief allerdings im Sande. 21 Rémond: Catholiques dans la France, S. 257. 22 Vgl. ebd., S. 255.

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Einleitung

Bataille (1921−1934), der Zeitung, in der die Meinungen des linken SFIO-Flügels um Jean Zyromski und Bracke veröffentlicht wurden. Der Bulletin Mensuel Du Service De Documentation war ebenfalls dem linken Parteiflügel treu. Seit dem 14. Mai 1927 verfügte die Linke der Radicaux und Socialistes über eine politische und literarische Wochenzeitung, die Lumière, die von ehemaligen Journalisten des Quotidien gegründet und von einem der solidesten Journalisten der Zeit, George Boris, geführt wurde. Spätere Magazine wie Marianne (1932) und Vendredi (1935) orientierten sich stark an der Lumière, die antifaschistische, antiklerikale, antikapitalistische und republikanische Prinzipien vertrat und in ihren Artikeln sowohl allgemeine Schwierigkeiten der Presse als auch jene in der Wirtschaft, der Politik und der Kultur im jeweiligen internationalen Kontext beleuchtete.23 Die Journalisten der Lumière traten sowohl für eine Beteiligung der SFIO an der Regierung als auch für eine Koalition zwischen Sozialisten und Radicaux ein. Die Zeitung wurde allerdings von sehr wenigen gelesen – im Jahr 1934 lag die Auflage bei nur 40 000.24 Im Umfeld der jungen Sozialisten erschienen einige Zeitungen, die widerspiegeln, wie heftig ihre Debatten waren und wie viel Einfluss die Partei auf ihre politischen Prinzipien nahm. Für diese Studie wurden zwei von ihnen ausgewertet, der Etudiant Socialiste, das Monatsheft der belgischen, französischen und schweizerischen Gruppen der Internationale des étudiants socialistes, und der Cri des Jeunes, das zweimal im Monat erscheinende Blatt der sozialistischen Jugend (SFIO), das sowohl unter der Kontrolle der sozialistischen Partei als auch des CNM des Jeunesses stand. Für den Etudiant Socialiste schrieben vor allem sozialistisch geprägte Studenten, die nicht über eine eigene Zeitung verfügten und den Ideen einer neuen sozialistischen Strömung um den Belgier Henri de Man anhingen,25 einem Politiker und Sozialpsychologen, dessen politische Überzeugungen in Frankreich durch André Philip populär gemacht wurden. Dann gab es noch einige Zeitungen, die sich an ein Publikum wandten, das sich am extrem linken Rand der Sozialisten bewegte und häufig auch den Kommunisten nahe stand, wie die Révolte und die Révolution Prolétarienne, die von 1925 bis zum Zweiten Weltkrieg von Monatte geführt wurde und für die Boris Souvarine,26 der Gründer der Critique Sociale (1931−1934), ebenfalls Artikel schrieb. Die Critique Sociale, eine Zeitung, die sich politischen Ideen und der Literatur widmete, war, wie Anne Roche schreibt „un lieu de rencontre à la fois épistémologique et politique, et en même temps un lieu de non-espoir politique, de repli sur le théorique“.27 Souvarine, der ehemalige Sekretär des Komitees der III. Internationale, Chef des Bulletin communiste und zentrale Figur im Spaltungsprozess der SFIO, führte die Revue zu der Zeit, als er sein kritisches Buch

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Vgl. Feyel: Presse en France, S. 166. Ebd., S. 166. Vgl. Borne/Dubief: Crise, S. 83–84. Genannt Boris Lischnitz (1895–1984). Roche: Boris Souvarine, S. 248.

V Die Quellen

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über die Situation in Russland schrieb. Die Critique Sociale, die verschiedene politisch links gerichtete Ströme in sich vereinte, spiegelt bereits den Abstand wider, den Souvarine zum Kommunismus und zum Trotzkismus gewann. Die kommunistische Presse erzielte höhere Auflagen als die Blätter der SFIO, obgleich die Sozialisten mehr Wähler für sich begeistern konnten. L’Humanité, die unter Marcel Cachin zum Parteiblatt der PCF wurde, ist ein gutes Beispiel dafür: Im Jahr 1939 erreichte die Zeitung eine Auflage von 350 000. Annie BurgerRoussenac stellt fest, dass L’Humanité genauso wie die links gerichteten Revuen ein Forum für die kommunistischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit bot, auch wenn die hauptberuflichen Journalisten und Intellektuellen verdächtigt wurden, nicht das Leben der Massen zu teilen, sie deswegen nicht zu verstehen und eher von einer Verbrüderung der Klassen zu träumen, als dem KlassenkampfBefehl der Kommunistischen Internationale zu folgen.28 Unter den kommunistischen Zeitschriften fand sich auch Regards, ein Monatsheft, das im Januar 1932 erstmals erschien und im Dezember desselben Jahres schon vierzehntäglich und schließlich ab Januar 1934 wöchentlich herausgebracht wurde.29 Thematisch stand bei Regards die Sowjetunion im Mittelpunkt, aber mit der Zeit rückten auch die Ereignisse in Deutschland immer mehr in den Fokus. 1936 überstieg die Auflagenzahl bereits die 100 000 und stellte damit auch einen ersten vorzeigbaren kommerziellen Erfolg dar. Mit der Zeit durften dann auch Schriftsteller, Journalisten und Politiker für Regards schreiben, die der kommunistischen Partei PCF nicht nahe standen. Regards folgte damit dem Vorbild des ersten Foto-Magazins Vu, das am 21. März 1928 von Lucien Vogel30 gegründet wurde und das erste Magazin mit Fotoreportagen war. Spezialausgaben von Vu wie „Vu au pays des soviets“ im November 1931 waren regelrechte Ereignisse in der Pressewelt.31 Die Spezialausgabe zu Deutschland, die im April 1932 veröffentlicht wurde, beruhte noch auf einer politisch links gerichteten Analyse. Später wurde Vu zunehmend apolitisch.32 Das kosmopolitische Denken der Kulturschaffenden in den 1930er Jahren förderte die Gründung von vielen politisch links ausgerichteten literarischen Zeitungen, in denen viele ausländische Kollegen publizierten. Heinrich Mann zum Beispiel veröffentlichte seine Texte in Europe,33 einem Monatsheft, das im Februar 1923 von dem Verleger Rieder gegründet wurde,34 der es Anfang der 1920er Jahre als Erster wagte, Texte der ehemaligen

28 Vgl. Burger–Roussenac: Intellectuels du PCF, S. 173–175. 29 1934 arbeiteten in der Redaktion André Gide, Romain Rolland, André Malraux, Maxim Gorki, Charles Vildrac, Eugène Dabit und Wladimir Pozner. 30 Vgl. Feyel: Presse en France, S. 164 ff. 31 Vgl. Borne/Dubief: Crise, S. 259. 32 Vgl. Feyel: Presse en France, S. 166. 33 L’Europe positionierte sich zunächst eindeutig links, bevor es 1936 zum kommunistischen Blatt der sogenannten „compagnons de route“ avancierte. Vgl. Racine: Revue Europe, S. 632ff. 34 Vgl. Racine: Jacques Robertfrance, S. 142.

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Einleitung

deutschen Feinde zu veröffentlichen.35 Zahlreiche französische Intellektuelle wie Aragon, Jean-Richard Bloch oder Jean Prévost schrieben ebenfalls regelmäßig für Europe.36 Auf Anregung Raymond Arons interessierten sich die Mitarbeiter von Europe ab 1931 immer mehr für die politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland und für die wachsende nationalsozialistische Gefahr. Gleichzeitig blieb Europe seiner Tradition treu und veröffentlichte regelmäßig Texte über den deutschen Humanismus und die pazifistischen Bewegungen im Nachbarland, ohne allerdings eine hellsichtige Analyse der politischen Situation in Deutschland zu vernachlässigen.37 Monde (1928−1935), die kommunistische Wochenzeitung Henri Barbusses, die über literarische, künstlerische, wissenschaftliche, soziale und Wirtschaftsthemen informierte, verfolgte die gleiche Zweiteilung in der Berichterstattung über Deutschland.38 Es muss hinzugefügt werden, dass die Zeitschriftenlandschaft in ihrer Berichterstattung keinesfalls uniform war, weder auf politischer noch auf ideologischer Ebene. Jede Zeitschrift war für sich genommen ein „milieu“,39 ein „tissu humain“,40 der weniger von einer Gruppe als von einer Person verkörpert wurde, von der die eigentlichen Impulse ausgingen; jede einzelne Zeitschrift war ein „Treffpunkt“ von Individuen, die einem gemeinsamen Credo anhingen, wie Jacqueline Pluet-Despatin zutreffend schreibt.41 Im Jahr 1929 gründete Leo Trotzki mit der kleinen Gruppe seiner Anhänger42 die Vérité, eine Zeitung die den Zusammenschluss einer linken Opposition innerund außerhalb der kommunistischen Partei fördern sollte. Die Gruppe derer, die sich um die Vérité scharten, repräsentierte die französische Sektion der Ligue Communiste Internationaliste,43 die für den Wiederaufstieg der Kommunistischen Internationale kämpfte und sich als Fraktion im Inneren jener Internationalen betrachtete.44 In der Vérité wurden konsequent die Meinungen der damaligen Kommunistischen Internationale kritisiert. Aus der Sicht Trotzkis war es beispielsweise ein Fehler der Kommunistischen Internationalen, in Deutschland einen Zusammenschluss mit den Sozialdemokraten abzulehnen, die als „Sozialfaschisten“ diffamiert wurden, weil nach seiner Ansicht nur ein gemeinsames Vorgehen mit

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Vgl. Racine: Revue Europe, S. 651. Zu den Intellektuellen, vgl. Racine: Jacques Robertfrance, S. 143 ff. Vgl. Racine: Revue Europe, S. 651. Henri Barbusse war Schriftsteller und Sprecher verschiedener Organisationen der Kommunistischen Internationale, außerdem literarischer Direktor der Humanité von 1926 bis 1929. Gotovich: Komintern, S. 141. Pluet–Despatin: Contribution à l’histoire des intellectuels, S. 126. Ebd., S. 126. Vgl. ebd. S. 126–127. Dazu zählten Alfred Rosmer (einer der Gründer der III. Internationale), Pierre Naville, Gérard Rosenthal, Pierre Franck und Raymond Molinier – sehr junge marxistisch geprägte Aktivisten, denen es an praktischer politischer Erfahrung fehlte. Die internationale Opposition, die sich um Trotzki gesammelt hatte. Vgl. Pluet–Despatin: Presse trotskiste, S. 4.

V Die Quellen

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den Sozialdemokraten es erlaubt hätte, erfolgreich gegen den erstarkenden Nationalsozialismus zu kämpfen.45 Bis 1934 etablierte sich die Vérité als Sprachrohr der Massen und setzte sich für den Arbeiterkampf ein.46 Nicht zuletzt sollen noch zwei politisch links orientierte satirische Zeitungen genannt werden: zunächt der Canard Enchaîné, eine Wochenzeitung, die sich als unabhängig von politischen, antiklerikalen, pazifistischen und antikolonialistischen Einflüssen bezeichnete und zwischen 1930 und 1932 dezidiert gegen die rechts gerichteten Politiker anschrieb, aber auch die Linken nicht mit Kritik verschonte.47 Im Canard Enchaîné wurden zahlreiche Karikaturen veröffentlicht, darunter auch einige zu Brüning.48 Der Cri du Jour, dessen Chefredakteur Albert Livet war, bezeichnete sich ebenfalls als Pamphletblatt einer unabhängigen Linken. Zwischen 1930 und 1932 erreichte er eine Auflage von 20 000 Exemplaren.49 Alle Artikel dieser Zeitungen, die über Heinrich Brüning und Deutschland zwischen März 1930 und Juni 1932 berichten, habe ich in Anlehnung an die methodischen Vorschläge der schweizerischen Historikerin Marianne Lehmann systematisch ausgewertet.50 Die Artikel wurden nach folgenden Kriterien bearbeitet: Titel der Zeitung; politische Orientierung; Veröffentlichungsdatum (in chronologischer Reihenfolge); Thematik/Rubrik; Umfang des Artikels; Name und Werdegang des Journalisten/Verfassers; Titel des Artikels. Anschließend wurde eine quantitative Bestandsaufnahme der dominanten Themen zu Heinrich Brüning vorgenommen und untersucht, wie oft und wer in jeder Zeitung über Deutschland schrieb. Zum Schluss folgt die inhaltliche Analyse jedes Artikels; es wurde untersucht, wie die einzelnen Themen dargestellt und kommentiert wurden. Auf diese Weise konnten 4157 Artikel und 30 Karikaturen bearbeitet werden, in deren Zentrum Heinrich Brüning, die Situation Deutschlands oder die deutsch-französischen Beziehungen standen. 3378 der Artikel stammen dabei aus dem politischen Spektrum von Mitte-rechts bis zur extremen Rechten und 812 Artikel aus dem Spektrum von Mitte-links bis zur extremen Linken.51 45 46 47 48

Ebd. Ebd., S. 45. Vgl. Martin: Canard Enchaîné. Politische Zeichner waren Anfang der 1930er Jahre in erster Linie Journalisten. Vgl. dazu Delporte: Crayons de la propagande, S. 13; Zur Geschichte der Presse und der politischen Zeichnung vgl. Delporte: Dessinateurs de presse. 49 Vgl. Annuaires de presse von 1930, 1931 und 1932. 50 Vgl. Lehmann: Totengräber der Demokratie, S. 42–43. 51 Die Anzahl der Artikel pro Zeitung sieht für das rechte Spektrum von Mitte–rechts bis zur extremen Rechten im Detail folgendermaßen aus: Le Petit Parisien (395); La Croix (397); Le Matin (620); La Journée Industrielle (307); La Revue des Deux Mondes (16); Gringoire (76); L’Echo de Paris (609); L’Action Française (938); Cyrano (20). Bei den Zeitungen von Mitte– links bis zur extremen Linken sieht die Verteilung folgendermaßen aus: L’Ere Nouvelle (366); Le Populaire (78); La Vie Socialiste (31); Le Bulletin Mensuel du Service de Documentation (24); La Lumière (73); L’Etudiant Socialiste (24); Le Cri des Jeunes (2); La Révolution Prolétarienne (5); La Révolte (3); La Correspondance Internationale (39) ; La Critique Sociale (5) ; L’Europe (2) ; L’Humanité (18) ; Monde (53) ; Regards (4) ; La Vérité (8) ; Le

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Einleitung

Dem starken Gefälle zwischen der Anzahl der in rechten und linken Zeitungen veröffentlichten Artikel ist geschuldet, dass nur zehn politisch rechts positionierte Blätter für diese Studie ausgewertet wurden. Um auch ein Bild von den Themen oder Ereignissen zu erhalten, die in den links orientierten Zeitungen kaum oder gar nicht behandelt wurden, wurden auch die Privatarchive im OURS und die Archive der Komintern stichprobenartig ausgewertet und die zwei Mal wöchentlich erscheinende Correspondance Internationale52 komplett bearbeitet. Während die Auswertung der Korrespondenz von Paul Faure wenig Aussagekräftiges geliefert hat,53 erwies sich die Analyse der Dokumente von und zu Léon Blum für die Bewertung der Brüningschen Politik aus sozialistischer Sicht als sehr aufschlussreich.54 Die Archive der Komintern spiegeln die „sektiererhafte Orientierung“55 der französischen Kommunisten wider, wie sie von Stalin gefordert wurde56 und die auch die Correspondance Internationale ausmachte, eine Art Informationsbörse für die kommunistische Presse. Mit Blick auf die Presse kann man ohne Übertreibung feststellen, dass die Person und die Politik Heinrich Brünings Anfang der 1930er Jahre in Frankreich ein zentrales Thema war. Die wichtigsten Reporter, die über Deutschland berichteten, waren Camille Loutre für Le Petit Parisien, der Deutsche W. Duesberg, unter den Pseudonymen B. Deru oder Henri-Jean Duteil für La Croix, René Lauret für Le Temps, Henry Korab und der Intellektuelle Joseph Kessel für Le Matin, Huard für L’Echo de Paris, Jacques Delebecque für L’Action Française, Albert Milhaud und Bertrand Nogaro für l’Ere Nouvelle, Salomon Grumbach für Lumière, Oreste Rosenfeld für den Populaire, Paul Rive und Marcel Déat für La Vie Socialiste, Gabriel Péri für L’Humanité und Angelo Rossi für Monde. Die Anzahl der Intellektuellen, Abgeordneten und politischen Aktivisten unter den Journalisten, die über Deutschland schrieben, war auffallend hoch und gibt schon einen Vorgeschmack darauf, wie sehr politische Interessen und die Urteile über den Reichskanzler sich gegenseitig bedingten. In dieser Studie sind die verschiedenen Facetten der Meinungen, die über Brüning in der Presse geäußert wurden, in der chronologischen Reihenfolge der beiden Kabinette Brünings und nach der politischen Orientierung der Zeitungen geordnet – von Mitte-links zur extremen Linken und von Mitte-rechts zur extremen Rechten.

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Canard Enchaîné (22) ; Le Cri du Jour (33) ; VU (22). Die Artikel, die in Le Temps und in L’œuvre erschienen, sind nicht mitgezählt, weil ich diese beiden Zeitungen nur zu besonders wichtigen Ereignissen konsultiert habe. La Correspondance Internationale. Bi–hebdomadaire. Band X–XII: 1930–1932. OURS, Fonds Roger Dehuz 1929–1954, 37 APO 1: Correspondance avec Paul Faure; Fonds René Hug 1929–1960, 18 APO 1: Correspondance arrivée et départ de Paul Faure. OURS, Fonds André Blumel 1923–1939, 14 APO: Dossier Léon Blum, 1929–1939, discours et propos de Léon Blum. Frz.: L’Orientation sectaire, vgl. Gotovich : Komintern, S. 519. Vgl. Wolikow: Internationale Communiste, S. 15ff.

V Die Quellen

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3. Politische Reden Die politischen Reden im französischen Parlament waren die dritte Quellengruppe, die für diese Studie ausgewertet wurden. Um die parlamentarische Welt in Frankreich zwischen 1930 und 1932 besser einordnen zu können, sei im Folgenden kurz die Zusammensetzung und Arbeitsweise des französischen Parlaments in der III. Republik erläutert.57 Drei Verfassungsgesetze der III. Republik regelten die juristische Grundlage des republikanischen Systems in Form eines „bicaméralisme égalitaire – eines egalitären Zweikammersystems“. Diese Gesetze legten auf der einen Seite die Kompetenzen des Staatspräsidenten fest und auf der anderen Seite die Zuständigkeiten der Chambre des Députés (600 Mitglieder, die für vier Jahre gewählt wurden) und des Senats (300 Mitglieder, deren Neubesetzung in den ersten Jahren der III. Republik immer wieder nach einem neuen Verfahren geschah), die zusammen die Assemblée Nationale (Nationalversammlung) bildeten, die wiederum den Staatspräsidenten für ein siebenjähriges Mandat mit Berechtigung auf eine Wiederwahl wählen konnte. Die Chambre des Députés/ Deputiertenkammer und der Senat, vor denen sich die Minister verantworten mussten, konnten Gesetze erlassen und den Staatshaushalt bestimmen. Infolge der Änderungen der französischen Verfassung in den 1870er Jahren blieb dem Staatspräsidenten nur eine repräsentative Rolle vorbehalten. Das Parlament erhielt die absolute Vormachtstellung und der Président du Conseil/„Ministerpräsident“ besetzte die Schlüsselrolle für die verschiedenen Institutionen und hatte als Regierungschef als einziger die Exekutivgewalt.58 Die parlamentarische Sitzungsperiode begann immer am zweiten Dienstag im Januar und dauerte in der Regel fünf Monate. Die Sitzungen waren öffentlich und die Protokolle jeder einzelnen Sitzung wurden im Journal Officiel veröffentlicht, das die breite Öffentlichkeit über die Inhalte der vergangenen Sitzungen informieren sollte. Auf diese Protokolle stützt sich die in den weiteren Kapiteln folgende Analyse. Der Einfluss der Parteien (mit Ausnahme der links orientierten Parteien) auf die Parlamentarier, die sich in Fraktionen organisierten, blieb gering. Infolge des fehlenden Fraktionszwangs und der sogenannten „majorités de reflux – den fluktuierende Mehrheiten“ („la manifestation, en cours de législature, d’une majorité sensiblement différente de celle qui résultait des élections législatives“)59 konnte die politische Mehrheit im Parlament im Laufe einer Legislaturperiode wechseln, ohne dass dafür die Wähler an die Wahlurnen gerufen oder das politische Personal ausgetauscht worden wäre – was auf Dauer die Kontinuität der Regierungspolitik garantierte. Die Arbeit der Chambre des Députés und des Senats wurde darüber hinaus von 20 Kommissionen begleitet und überwacht, die je einem spezifischen

57 Die Beschreibung stützt sich auf Chevallier/Conac: Histoire des institutions; Hartmann: Französische Verfassungsgeschichte; Mayeur: Vie politique. 58 Die Unterschieden zwischen dem französischen und dem deutschen parlamentarischen System in der Zwischenkriegszeit werden im Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit beschrieben. 59 Delcros: Majorités de reflux, S. 11.

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Einleitung

politischen Ressort zugeordnet waren und deren Mitglieder am Anfang jeder Legislaturperiode bestimmt wurden, unter Berücksichtigung der Mandatsverteilung der Fraktionen in der Assemblée Nationale (Nationalversammlung). Die Sitzungen der Commission des Affaires Etrangères, deren 44 Mitglieder jeden Mittwoch unter Ausschluss der Öffentlichkei tagten, wurden ebenfalls bearbeitet.60 Für diese Studie wurde systematisch der Inhalt der Reden und politischen Debatten im französischen Parlament ausgewertet, sobald sie sich um Deutschland unter Heinrich Brüning drehten. Das Auswertungsschema war dasselbe wie für die Presse und die wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen: Anzahl und Daten der Debatten, die sich um Deutschland drehten; Thema der parlamentarischen Sitzung und der Rede; Name, Werdegang und politische Zugehörigkeit des Redners; Argumentationsführung und die Art, wie Deutschland und Heinrich Brüning gesehen wurden. In den 26 Monaten der Regierung Brüning beschäftigten sich die Franzosen in 45 parlamentarischen Sitzungen (16 in der Chambre des Députés, 3 im Senat und 26 in der Commission des Affaires Etrangères/ Kommission für Auswärtige Angelegenheiten) mit Themen, in denen Deutschland eine Rolle spielte. Die Person Heinrich Brüning wurde selten direkt erwähnt, aber seine Politik und die Situation im Nachbarland wurden zu einem zentralen Thema im französischen Parlament, sobald man sich mit der französischen Außenpolitik beschäftigte. In den meisten Fällen sprachen immer wieder dieselben Abgeordneten in den drei Institutionen über Deutschland und vertraten dort ihre Partei oder ihre Fraktion. Jede Fraktion verfügte über Redner, die deutlich engagierter als andere auftraten und sich auf bestimmte Themen spezialisiert hatten, zu denen sie immer wieder das Wort ergriffen. Zustimmung oder Ablehnung ihrer Reden äußerte sich in Form von Applaus oder lautstarkem Protest, der in den Parlamentsprotokollen festgehalten wurde und Rückschlüsse auf vorherrschende Meinungen innerhalb einer Fraktion erlauben. In der vorliegenden Arbeit wurden die politischen Reden in der chronologischen Reihenfolge der Kabinette Brüning bearbeitet und nach der politischen Ausrichtung der Fraktionen von Mitte-links bis zur extremen Linken und von Mitte-rechts bis zur extremen Rechten geordnet. Es ist dabei verhältnismäßig schwierig, die genaue politische Orientierung der Fraktionen zu bestimmen, weil infolge der historischen Entwicklung der politischen Landschaft in Frankreich Anfang der III. Republik und infolge des Phänomens des „sinistrisme“61 – der nominellen Linkslastigkeit der Fraktionen beider Kammern – die Bezeichnung „links/gauche“, die in der republikanischen politischen Szene Frankreichs als vielversprechend galt, keineswegs eine im Sinne der Bezeichnung „linke Politik“ bedeutete.62 So situierten sich die Fraktionen der Gauche radicale, der Gauche unioniste et sociale, der Action démocratique et sociale, der Républicains de gauche und der Gauche républicaine démocratique in der rechten Mitte der politischen Landschaft, während die Fraktionen, die sich 60 AN, C 14874: Commission des Affaires étrangères 61 Kittel: Provinz, S. 118–120. 62 Vgl. Raithel: Spiel, S. 67; Gauchet: Droite et gauche.

V Die Quellen

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Républicain radical et radical-socialiste, Républicain socialiste, Parti républicain et socialiste français und Indépendants de gauche nannten, sich Mitte-links des politischen Spektrums befanden. Dezidiert links situierte sich der Parti Socialiste (SFIO), gefolgt von den extremen Linken, den Communistes. Die Union républicaine démocratique stand rechts, während die extremen Rechten ohne Zusammenschluss in einer Fraktion agierten. Die hier gewählte politische Zuordnung folgt der von Frano Ilic, der sich selbst auf Jean-Marie Mayeur, Jean VavasseurDesperriers und Pierre Avril stützt.63 Um die Urteile besser bewerten zu können, die die Démocrates Chrétiens (Christdemokraten) über Heinrich Brüning fällten, wurden die Archive von Ernest Pezet, einem Abgeordneten des PDP, konsultiert, die sich im Centre d’Histoire de l’Europe du XXe siècle befinden, einer Dépendance der Fondation nationale des sciences politiques.64 Da sich die deutsche Zentrumspartei mit den anderen christdemokratischen Parteien in Europa für eine Aussöhnung und internationale Verständigung engagierte, erschien diese Forschungsperspektive vielversprechend. 4. Die diplomatischen/außenpolitischen Archive Die vierte und letzte für diese Arbeit ausgewertete Quellengruppe betrifft die diplomatischen Archive. Zunächst wurden die Archive des Ministère des Affaires Etrangères im Quai d’Orsay und die Archive im Centre des Archives Diplomatiques in Nantes konsultiert.65 Die Archive des französischen Heeres (l’Armée de Terre) im Ministère de la Défense/Verteidigungsministerium wurden ebenfalls bearbeitet, um eine mögliche gegenseitige Beeinflussung zwischen dem Quai d’Orsay und dem Militär in Hinblick auf ihre Beurteilung Brünings ausmachen zu können.66 Die Berichte, die von Angehörigen des diplomatischen Corps nach Paris gesendet wurden – in Form von Briefen, Telegrammen und Telefonanrufen – sind das Fundament der Analyse. Leider fehlen die Antworten des Quai d’Orsay auf diese Schreiben weitestgehend in den Archiven. Sie hätten womöglich einen konkreten Nachweis des Einflusses der diplomatischen Korrespondenz auf die

63 Ilic: Frankreich und Deutschland, S. 41; Mayeur: Vie politique, S. 295–323; Vavasseurs– Desperriers: Impossible retour à l’avant–guerre, S. 79 ; Avril: Personnel politique français, S. 87. 64 FNSP, Archives d’Ernest Pezet, PE 3, PE 5, PE 8–9, PE 13, PE 15. 65 Dort werden die Archive der französischen Botschaft aufbewahrt, die den Krieg, im Keller eingemauert, überstanden haben. Ein großer Teil dieser Archive, die dem CADN übergeben wurden, ist noch nicht geordnet und im Archivverzeichnis erfasst (Série en vrac), was die Suche nach Dokumenten erheblich erschwert und ohne die freundliche Unterstützung des Archivpersonals sogar unmöglich wäre. Dennoch waren die Archive im CADN für diese Studie von großem Nutzen, weil mit ihrer Hilfe Lücken in den teilweise unvollständigen Archiven im Quai d’Orsay geschlossen werden konnten. 66 Vgl. folgende Fußnote und Vaisse: Sécurité d’abord.

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Einleitung

französische Deutschlandpolitik liefern können.67 Eine Analyse der Korrespondenz der französischen Botschafter in Berlin – Pierre Jacquin de Margerie (Botschafter in Berlin 1922−1931) und André François-Poncet (Botschafter in Berlin ab September 1931) − war für diese Arbeit besonders wichtig, weil eine vergleichende Studie zur Tätigkeit der beiden Botschafter in Deutschland bislang fehlt.68 Ihre ganz unterschiedlichen Urteile über Deutschland sind gleichwohl nicht ohne Einfluss auf die französische Deutschlandpolitik geblieben. Die Auswertung der diplomatischen Korrespondenz folgte dem gleichen methodischen Schema, das für die übrigen Quellen angewendet wurde mit diesen Aspekten: Datum und Art des Dokuments; Name und Funktion des Absenders; Name und Funktion des Empfängers; die Häufigkeit der Korrespondenz; die Thematik des Dokuments; Argumentationsführung und Sichtweise auf Heinrich Brüning und Deutschland. Von einer politischen Zuordnung wurde abgesehen, weil die Zugehörigkeit zum diplomatischen Corps die französischen Staatsrepräsentanten im Prinzip zur politischen Neutralität verpflichtete, auch wenn man ihre politische Orientierung durch einen Vergleich ihrer Amtszeiten mit den jeweiligen Regierungsantritten und -wechseln in Frankreich erschließen kann. Der Blick auf die Ergebnisse der folgenden Analyse und die einschlägige Literatur zu den deutschfranzösischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit reicht als Rahmen aus, um

67 Für diese Arbeit wurden folgende Archivbestände konsultiert: 1) Quai d’Orsay: MAE, Série Z, Sous–Série Allemagne; die Fonds nominatifs oder papiers dits d’agents von Edouard Herriot (PA AP 89), von René Massigli (PA AP 217), von André d’Ormesson (PA AP 129) und von André Tardieu (PA AP 166). 2) CADN: Fonds d’administration centrale; Fonds de l’Ambassade de France à Berlin (Série A, B, C); Fonds de l’Institut Culturel Français; Fonds du Consulat de France à Cologne; Fonds du Consulat de France à Karlsruhe. 3) Ministère de la Défense: SHAT, 7N 2584–2589. Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, noch ergänzend die Collection de Chiffre im Quai d’Orsay zu konsultieren, einem Verzeichnis in chronologischer Reihenfolge aller Schriftstücke, die vom Quai d’Osay aus Paris versandt wurden. Leider kann man nur die Telegramme einsehen, deren Nummer man angeben kann. Angesichts des lückenhaften Zustandes der Archive für den Zeitraum der Zwischenkriegszeit und angesichts des Themas dieser Arbeit, müsste man allerdings sämtliche aus Paris versendeten Telegramme etc. einsehen, um einen klaren Eindruck von den Urteilen gewinnen zu können, die von den Vertretern des Quai d’Orsay in Paris gefällt wurden. Was Aristide Briand betrifft, gibt es überhaupt keine Archivbestände, die für diese Arbeit von Nutzen wären. Er hat keine Memoiren oder andere autobiographische Bücher verfasst. Der Ort seines Privatarchivs ist unbekannt, allerdings besitzt die Association Aristide Briand de Saint–Nazaire einige Bestände (Papiers Briand). Die Papiers Briand in den Archives diplomatiques des MAE, sowie die Bestände der Archives Nationales sind von geringem Interesse für diese Arbeit. Auch die Dokumente und Fotos, die von Familienangehörigen Aristide Briands aufbewahrt werden und die ich einsehen konnte, haben zu keinem verwertbaren Rechercheergebnis geführt. 68 Zu Pierre de Margerie ist bislang generell wenig publiziert worden. Vgl. André François– Poncet; Messemer: André François–Poncet; Schäfer: André François–Poncet; Batantou: Ambassade de Pierre de Margerie (unveröffentlichte Magisterarbeit); Auffray: Pierre de Margerie. Für diese Arbeit wurden außerdem die Memoiren François–Poncets bearbeitet. François– Poncet: Souvenirs d’une ambassade; Ebd.: De Versailles à Potsdam.

V Die Quellen

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die Diplomaten in der französischen Politikszene zu einzuordnen. Die Kapitel dieser Arbeit, die sich den Diplomaten widmen, sind chronologisch geordnet in der Reihenfolge des ersten Brüning-Kabinetts, während dessen das Mandat Pierre de Margeries endete, und des zweiten Brüning-Kabinetts, dessen Beginn in etwa mit dem Amtsantritt André François-Poncets zusammenfiel. Diese Studie folgt damit den wichtigsten politischen Ereignissen von April 1930 bis zum Sommer 1932.

VI METHODISCHER UND THEMATISCHER AUFBAU Diese Studie besteht aus drei Hauptteilen. Im ersten Hauptteil wird das methodische Fundament vorgestellt, dann die mentalen Strukturen der französischen Gesellschaft in Hinblick auf ihre Sicht auf Deutschland Anfang der 1930er Jahre skizziert und die politischen, sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten Frankreichs mit den Verhältnissen in Deutschland zu Beginn der Kanzlerschaft Brünings verglichen, um das thematische und methodische Instrumentarium zur Auswertung der für diese Studie ausgewählten Quellen an der Hand zu haben. So soll nicht nur ein neuer Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen Anfang der 1930er Jahre fallen, sondern auch die enge Beziehung zwischen der Kultur, der öffentlichen Meinung und der französischen Deutschlandpolitik aufgezeigt werden. Auch der Einfluss der republikanischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Traditionen und Konzeptionen in Frankreich auf die Wahrnehmung Heinrich Brünings dort soll deutlich werden. Auf diese Weise wird versucht, das damalige mentale Klima der deutschfranzösischen Beziehungen zu rekonstruieren. Im zweiten Teil wird die Wahrnehmung Heinrich Brünings in Frankreich beschrieben. Die einzelnen Kapitel sind nach den wichtigsten Themen geordnet, in deren Zusammenhang sich die Franzosen für Brüning interessierten – „Brüning und die Wirtschaft“, „Brüning und die Demokratie“, „Brüning und der Nationalismus“, „Brüning und der Katholizismus“. Innerhalb dieser Themen wurden die vier aufgeführten Quellengruppen getrennt, um Überschneidungen und Unterschiede der Denkstrukturen im politisch-kulturellen und journalistischen Milieu und in der Welt der Politiker und Diplomaten kenntlich zu machen und gegenseitige Beeinflussungen nachzuweisen. Eine kurze Zusammenfassung der historischen Fakten am Anfang der vier großen thematischen Kapitel soll dem besseren Verständnis der französischen Urteile über Brüning dienen und den einzelnen Kapiteln als chronologischer und thematischer Wegweiser vorangehen. Insgesamt ist der zweite Hauptteil wie eine kommentierte Quellensammlung konzipiert. Entsprechend zahlreich werden die Quellen auch zitiert, weil allein schon die zeitgenössischen sprachlichen Formulierungen das Verständnis für den Charakter der öffentlichen Meinung in Frankreich im Hinblick auf Deutschland und Heinrich Brüning fördern. Die Analyse eines Phänomens wie der öffentlichen Meinung macht ein solches Vorgehen notwendig, um dem Leser den mentalen Puls der Zeit spüren zu lassen. Teilweise sprechen die Zitate schon für sich und bedürfen im Grunde genommen keines weiteren Kommentars. Aber man kann der Analyse im dritten Hauptteil besser folgen: Dort sollen die Schnittpunkte und Parallelen der Meinungen in den verschiedenen oder zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Frankreich aufgezeigt werden. Auf breiter Quellengrundlage wird man schließlich beurteilen können, ob die öffentliche Meinung in Frankreich die Haltung der französischen Politiker gegenüber Deutschland wirklich beeinflusste und was dies für die deutsch-französischen Beziehungen bedeutete.

VI Methodischer und thematischer Aufbau

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Alfred Grosser hat mit dieser Frage den Weg gewiesen: „Kann ich mich wirklich mit den Haltungen, Überzeugungen und Gefühlen des Anderen beschäftigen, ohne mich zu fragen, warum ich denke, was ich denke, warum ich denke, wie ich denke?“1

1 Vgl. Grosser: Identités difficiles, S. 8.

DIE SICHT DES ANDEREN ODER DIE SCHAFFUNG EINES POLITISCHEN BILDES I METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN ZU DEN BILDERN UND VORSTELLUNGSWELTEN IN DEN DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN 1. Ein neuer Blickwinkel auf die internationalen und die deutsch-französischen Beziehungen Welche Faktoren veranlassen einen Politiker, bei einem Problem von internationaler Tragweite diese oder jene politische Entscheidung zu treffen? Wie sehen seine Motivationen im Entscheidungsfindungsprozess aus und ist er sich ihrer vollständig bewusst? Über Heinrich Brüning und seine Politik, über das Frankreich Anfang der 1930er Jahre und die deutsch-französischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit scheint alles gesagt und geschrieben zu sein. Zahlreich sind die Publikationen, die sich mit den Reparationen, der Abrüstung und den Handlungsspielräumen und Zwangslagen der deutsch-französischen Politik bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers beschäftigen. Zahllose Historiker haben die diplomatischen und nationalen Archive der beiden Länder bearbeitet. Wie Wilfried Loth1 jedoch zu Recht beklagt, hat man nur sehr selten den Primat der Außenpolitik in Frage gestellt, um stattdessen systematisch die gegenseitige Beeinflussung von Gesellschaft und Außenpolitik, vom innenpolitischen Kontext und vom Kontext der internationalen Politik,2 von Bildern, öffentlicher Meinung und Außenpolitik zu diskutieren.3 Außerdem kann man bedauern, dass ein disziplin-übergreifender Austausch zwi-

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Vgl. seine Einleitung zu Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte. Jean–Baptiste Duroselle hat deutlich gemacht, dass keine Außenpolitik ohne Einflüsse durch Aspekte der Innenpolitik eines Landes existiert. Duroselle gibt dafür vier Beispiele: 1. Entscheidungen in der internationalen Politik, die innenpolitische Folgen haben; 2. Entscheidungen auf Ebene der Außenpolitik, die aus einem gemischten Kalkül aus innen– und außenpolitische Überlegungen herausgetroffen werden; 3. außenpolitische Entscheidungen, deren Ziel die Auslösung innenpolitischer Propaganda ist; 4. Innenpolitische Entscheidungen, die außenpolitische Reaktionen hervorrufen. Vgl. Duroselle: Tout empire périra, S. 43–44. Man könnte andere außenpolitische Kalküle hinzufügen: politische Ablenkungsmanöver um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von innenpolitischen Problemen ab– und auf die Außenpolitik hinzulenken; der Versuch, bestimmte Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen, z.B. Spannungen im Inland abzufedern etc. Vgl. Guillen: Politique intérieure, S; 111–124. Was Brüning und Frankreich betrifft, gibt es allerdings die zwei folgenden Ausnahmen. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus; Hörling: Opinion française.

I Methodische Überlegungen zu den Bildern

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schen Franzosen und Deutschen fehlt; er würde es zweifellos erlauben, die deutsch-französischen Beziehungen unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Er würde dazu beitragen, die Rolle von Bildern und Vorstellungswelten in den internationalen Beziehungen zu klären und ihren Einfluss beispielsweise auf die konkrete Außenpolitik zweier Nachbarländer zu beleuchten. In dieser Hinsicht könnte eine Zusammenarbeit zwischen Historikern und Politologen nur gewinnbringend sein; außerdem wäre es interessant, für den Forschungsbereich der internationalen Beziehungen eine methodisch standfeste Brücke zur Sozialpsychologie und kognitiven Psychologie zu schlagen.4 So hat der amerikanische Politologe R. Jervis im Jahr 1976 eine komplexe Analyse zur Problematik der Wahrnehmung des Anderen in der internationalen Politik vorgelegt, die sich auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten und Erkenntnisse der Sozialpsychologie stützte, dabei aber jede „Psychologisierung“ der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen vermied.5 Dank zweier historiographischer Schulen in Frankreich, den Annales und der sehr innovativen Forschungsbewegung, die 1964 durch das Werk L’Introduction à l’Histoire des Relations Internationales von Jean-Baptiste Duroselle und Pierre Renouvin ausgelöst wurde, interessieren sich die französischen Historiker (wie ihre englischen und US-amerikanischen Kollegen)6 seit langer Zeit für kollektive Haltungen und Einflussstrukturen von langer Dauer in den internationalen Beziehungen.7 Sie haben methodische Konzepte entwickelt, die sich bei der systematischen Analyse der Kontexte als hilfreich erweisen, innerhalb derer politische Entscheidungen auf internationaler Ebene entstehen und getroffen werden, vor allem was die Wechselwirkungen zwischen öffentlicher Meinung, Innenpolitik und geopolitischen Überlegungen auf der einen Seite und der internationalen Politik auf der anderen Seite betrifft. Mit Hilfe dieser methodischen Überlegungen kann der Blick auf die internationalen Beziehungen ausgeweitet und die französische Sicht auf Heinrich Brüning nicht nur als entscheidender Faktor für den Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der Zwischenkriegszeit ausgemacht, sondern auch auf überzeugender Grundlage analysiert und nachvollzogen werden. „Les conditions géographiques, les mouvements démographiques, les intérêts économiques et financiers, les traits de mentalité collective, les grands courants sentimentaux, voilà quelles forces profondes ont formé le cadre des relations entre

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Vgl. dazu die Einleitung von Wendt: Deutschlandbild, S. 10. Jervis: Perception. Zitiert von Wendt: Deutschlandbild, S. 43. Es existiert ein US–amerikanischer Sammelband mit Beiträgen über methodische Überlegungen zu Mentalitäten und internationalen Beziehungen. Sie behandeln Fragen der Einflussnahme zwischen Psychologie, öffentlicher Meinung, „mental maps“, Ideologie, Kultur und Internationalen Beziehungen, ohne jedoch klar zwischen diesen fünf Aspekten zu unterscheiden und ohne sie klar zu definieren. Vgl. Hogan/Paterson: Explaining. Robert Frank hat eine exzellente Bilanz der bis zum Jahr 2000 erschienenen Publikationen zum Thema Mentalitäten, Bilder und Internationale Beziehungen geliefert. Frank: Mentalitäten.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

les groupes humains et, pour une large partie, déterminé leur caractère.“8 Trotz der veralteten und oft ungenauen Terminologie, auch mit einem noch recht zaghaften Vorstoß in ein neues Forschungsgebiet9 bleibt L’Introduction à l’histoire des relations internationales ein wegweisendes Standardwerk, weil es der erste Versuch war, auf systematische Weise die Beziehungen zwischen Mentalitäten und internationalen Beziehungen nachzuweisen,10 und das in der klar formulierten Überzeugung, dass Mentalitäten zu den sogenannten „forces profondes/tiefen Kräften“ zählen. Diesen beiden französischen Historikern kommt das Verdienst zu, ihren Kollegen und Nachfolgern neue thematische und methodische Forschungsperspektiven eröffnet zu haben. Pierre Renouvin hat den Begriff der „forces profondes/tiefen Kräfte“ geschaffen, mit denen er gleichzeitig die „forces matérielles/materiellen Kräfte“ (zum Beispiel geographische, demographische und wirtschaftliche Bedingungen) und die „forces d’esprit/geistigen Kräfte“ oder „kollektive Psychologie“ (zum Beispiel Nationalismus, Pazifismus, nationale Gefühle etc.) bezeichnete, die nach seiner Meinung die internationale Politik beeinflussen. Der etwas undurchsichtige Begriff „kollektive Psychologie“ gilt heute als veraltet, allerdings verwendete Pierre Renouvin schon damals gelegentlich den stellvertretenden Begriff „kollektive Mentalitäten“,11 den die Annales-Schule populär gemacht hat. Seit 1974, als Jean-Baptiste Duroselle und Jacques Feymond die Revue Relations Internationales gründeten, wurde die provisorische Definition der „kollektiven Mentalitäten“ zum bevorzugten Begriff, mit dem man so schwierig zu fassende Phänomene vereinen wollte, wie „Meinung“, „Haltung“, „Mentalität“, „Mythos“ oder „Ideologie“.12 Begriffe wie „geistige Kräfte“ oder „kollektive Mentalitäten“ sind insofern problematisch, als sie nicht genau definiert werden und nicht eindeutig zuzuordnen sind. So wurde zwar festgestellt, dass es sogenannte „kollektive Emotionen“ gibt, die im außenpolitischen Entscheidungsfindungsprozess eine Rolle spielen, aber gleichzeitig wurde den Historikern kein methodisches Instrument an die Hand gegeben, das ihnen dieses Phänomen näher zu analysieren erlaubt hätte. Robert Frank hat im Jahr 2000 in einem Artikel – einer Bilanz der Arbeiten von Pierre Renouvin und Jean-Baptiste Duroselle – die Schwachpunkte ihrer Arbeiten benannt, aber eben auch ihre zahlreichen wissenschaftlichen Impulse, die den Grundstein zu dem nun schon seit 40 Jahren bestehenden Forschungsbereich zu Fragen der „Mentalitäten und internationalen Be-

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Renouvin/Duroselle: Introduction, S. 2. Zum zwanzigjährigen Jubiläum der Geschichte der internationalen Beziehungen hat Pierre Milza die Vorzüge und Schwachstellen des Werkes von Renouvin und Duroselle deutlich unterstrichen. Vgl. Milza: Mentalités collectives. 10 Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass schon vor Renouvin und Duroselle ein Teil der Überlegungen über die Wechselwirkung von Mentalitäten und den internationalen Beziehungen aufgegriffen wurden. Vgl. Digeon: Crise allemande; Rémond: Etats–Unis; Renouvin: Histoire contemporaine. 11 Renouvin/Duroselle: Introduction, S. 245. 12 Vgl. Duroselle: Opinion.

I Methodische Überlegungen zu den Bildern

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ziehungen“ gelegt haben.13 Gestützt auf diesen Artikel soll im Folgenden die Entwicklung dieses vor allem französisch-angelsächsischen Forschungsbereiches nachgezeichnet werden, bevor die für diese Studie entwickelten methodischen Konzepte vorgestellt werden, mit deren Hilfe die französische Sicht auf Brüning systematisch analysiert werden soll – und zwar mit der Absicht, terminologische Ungenauigkeiten zu vermeiden. Eine ungenaue Analyse würde die Geschichtsforschung weder zum dem Thema der deutsch-französischen Beziehungen, noch zur innenpolitischen Lage beider Nachbarländer während der Zwischenkriegszeit weiterbringen. Schon Pierre Renouvin hat deutlich gemacht, dass sich das, was er unter „Mentalitäten“ versteht, aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt, zum Beispiel „kollektive Emotionen“, Ideologien oder Religionen. Er hat auch das Augenmerk der Historiker auf die Unterscheidung zwischen handfesten Überzeugungen und weniger greifbaren Gefühlen, zwischen bewussten Wahrnehmungen und unbewussten Einflüssen, zwischen Rationalem und Irrationalem, zwischen Fakten und deren Beurteilung und zwischen Nationen und konkreten Personen auf der einen Seite und den Bildern von Nationen und Personen auf der anderen Seite gelenkt. Er hat auch aufgezeigt, dass „kollektive Mentalitäten“ Entscheidungen von Politikern beeinflussen können, die diese aufnehmen und/oder sogar instrumentalisieren. Auch Duroselle und Renouvin haben die Bedeutung der Presse und der Schule für die Verbreitung von Bildern und Ideen hervorgehoben, dazu den Einfluss des Ausbildungsweges von Politikern (Schule, Universität...) und ihres persönlichen Umfeldes (Familie, Freunde...) auf ihre Art, politisch zu denken.14 Aber sie lassen die Bedeutung der öffentlichen Meinung völlig außer Acht und gehen sogar so weit, ihr jegliche Bedeutung für die Außenpolitik abzusprechen.15 Darüber hinaus verwenden sie selbst Stereotypen, die sie unter dem Begriff „nationale Temperamente/tempéraments nationaux“ zusammenfassen, um damit die internationalen Beziehungen zu erklären. Frank bringt die Kritik an Duroselle und Renouvin auf den Punkt: Aus Mangel an begrifflicher Klarheit (sie beschreiben verschiedene Phänomene mit Begriffen, über die sie sich selbst nicht einig sind) bleibt ihr Zugang zur Geschichte der internationalen Beziehungen am Ende einer klassischen Vorgehensweise verhaftet. Nach Duroselle und Renouvin bestand die einzige Bedeutung der „tiefen Kräfte/forces profondes“ in den internationalen 13 Frank: Mentalitäten, S. 160 ff. 14 Nach Hugh De Santis, beeinflussen die politische Kultur, das soziale und das private Umfeld die Art und Weise, wie der Andere gesehen wird. Infolgedessen ist die wahrgenommene Realität ein Konstrukt, das sich aus dem zusammensetzt, was wir mit allen, einigen oder auch nur einer Person teilen. Vgl. De Santis: Diplomacy, S. 4. 15 Robert Frank stellt in diesem Zusammenhang eine berechtigte Frage: Warum soll das Problem der öffentlichen Meinung überhaupt behandelt werden, wenn sie für den Ausbruch der beiden Weltkriege nur eine sekundäre Rolle gespielt hat? Frank: Mentalitäten, S. 165. Darauf kann mit einer Feststellung von Alain Girard geantwortet werden: Die öffentliche Meinung macht weder die Innen– noch die Außenpolitik, aber es ist offenkundig unmöglich, ohne oder gegen sie Politik zu machen. Girard: Sondages d’opinion.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

Beziehungen in der Instrumentalisierung dieser Kräfte durch die Politiker.16 Man könnte nun hier der Einfachheit halber aufhören und den scheinbar aussichtslosen Versuch unterlassen, zu klären was öffentliche Meinung oder Mentalitäten eigentlich sind und sie für die Geschichte und den Verlauf der internationalen Beziehungen für bedeutungslos erklären. Es wäre ganz überflüssig zu untersuchen, wie die etwa in der französischen Presse, in den französischen politischen Debatten oder in den populärwissenschaftlichen Publikationen geäußerten Sichtweisen die „öffentliche Meinung“ zu Brüning geprägt haben oder wie diese „öffentliche Meinung“ wiederum die französische Deutschlandpolitik beeinflusste. Man muss hier vor allem bedenken, dass für die Presse – die womöglich nicht nur am nachhaltigsten die „öffentliche Meinung“ geformt hat, sondern wegen ihrer Vermittlerrolle „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“ zwischen den Politikern und der breiten Öffentlichkeit auch als wichtigstes Medium der „öffentlichen Meinung“ im Zeitraum der Zwischenkriegszeit gelten kann17 – weder die genauen Auflagenzahlen noch die Anzahl der Leser pro Artikel bekannt sind und somit allein schon eine quantitative Einschätzung des Faktors „öffentliche Meinung“ unmöglich ist. Tatsächlich liegt der Fragestellung weniger ein quantitatives als ein methodisches und terminologisches Problem zugrunde:18 Man läuft Gefahr, sich in ungenaue Feststellungen zu verlieren, ambivalente Vermutungen anzustellen und erzwungene und inkohärente Kausalitäten zwischen „öffentlicher Meinung“ und „historischen Fakten“ herzustellen.19 Was die Methodik betrifft, warnt der deutsche Historiker Reinhard Meyers davor, eine komplexe Konstruktion auf eine lineare und vereinfachte Interpretation folgenden Stils zu reduzieren: Wahrnehmung des Ereignisses / Schaffung eines Bildes des Ereignisses / Erklärung der Situation / politische Entscheidung / Übersetzung in praktische Politik – aus der man eine automatische und mechanische Abfolge machen könnte.20 Tatsächlich ist die Analyse der öffentlichen Meinung als „heuristischer Imperativ“ unabdingbar in der Geschichtswissenschaft, und zwar aufgrund ihres Einflusses auf die 16 Frank: Mentalitäten, S. 165. 17 Dietmar Hüse macht auf diese Vermittlerrolle in „zwei Richtungen“ aufmerksam. Vgl. Hüser: Frankreich, S. 42. 18 Der Einwand, dass der Historiker nicht einmal in der Lage ist, einen statistischen Nachweis für den Einfluss der „öffentlichen Meinung“ auf die Politik zu liefern, ist durchaus legitim, verfehlt aber die eigentliche Problematik der Fragestellung. 19 „Il n’est pas facile de dire en effet à quel moment l’opinion publique est une force active ou un élément passif de l’histoire, quand elle en est spectatrice ou actrice. Par sa variété, ses aspects multiformes, ses mutations brusques du moins en apparence, elle lance un défi permanent aux historiens. De tous les secteurs de l’histoire, c’est l’un de ceux où il est le plus difficile de savoir. Mais peut–on considérée comme achevée l’exploration d’une période sans avoir recherché la représentation que les contemporains se sont faits des événements qu’ils ont vécus ? Peut–on les expliquer, du moins le comprendre, si on ignore comment ile les ont compris ? Ce problème […] peut–il donc être totalement éclairé en négligeant le contexte de l’opinion publique ?“ Becker: 1914, S. 10. 20 Wendt: Introduction, S. 9.

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internationalen Beziehungen und damit auf den Verlauf der Geschichte; eine solche Analyse hilft zu verstehen, in welchem gesellschaftlichen Klima politische Entscheidungen getroffen wurden.21 Das Problem der Definition bleibt bestehen. Was sind „kollektive Mentalitäten“? Ist dieser Begriff passend und reicht er aus? Es ist keinesfalls notwendig, alles im Detail zu wiederholen, was zu diesem Thema schon geschrieben wurde, zumal Historiker wie Robert Frank die Frage weitaus kompetenter beantworten könnten. Aber ein kurzer, zusammenfassender Blick auf die Forschungslage soll hier das Fundament für weitere Überlegungen liefern. Die Historiker, die sich bislang mit der Frage der „Mentalitäten“ beschäftigt haben, konnten alle bestimmte Teilaspekte dieser „Mentalitäten“ benennen, ohne aber eine übergreifende Definition zu formulieren. So stellte Jean-Baptiste Duroselle fest, dass es verschiedene Formen von „Mentalitäten“ gibt, die sich durch ihre Herkunft, Intensität, Ausdehnung und ihre Stabilität unterscheiden,22 klammerte aber nicht nur die Ideologien, sondern auch die „öffentliche Meinung“ aus seiner provisorischen Konzeption der „Mentalitäten“ aus,23 eine Konzeption, die nicht nur zu restriktiv, sondern auch problematisch ist, wie Robert Frank zutreffend kritisiert.24 Frank hat es unternommen, alle Erklärungsversuche des Phänomens „kollektive Mentalitäten“ zu resümieren, unter anderem von Jean-Baptiste Duroselle, Piere Milza, Michel Vovelle und Jacques Le Goff:25 Eine kollektive Mentalität ist die Gesamtheit intellektueller Haltungen, die das alltägliche Leben einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche kennzeichnen.26 Er schließt politische Ideologien27 nicht aus den „kollektiven Mentalitäten“ aus, weil sie eine dominierende Rolle für die Mentalitäten des 19. und 20. Jahrhunderts spielten und die nationale und internationale Politik dieser Jahrhunderte maßgeblich beeinflussten. Karl Dietrich Bracher zeigt diese Rolle in seinem Werk „Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert“,28 ohne jedoch methodische oder begriffliche Über-

21 Vgl. Hüser: Frankreich, S. 23f. 22 Duroselle: Opinion, S. 5ff. 23 „[N]otons que „l’ opinion publique“, cette fameuse opinion publique“ dont on parle depuis tant depuis la fin du XIXe siècle, soit pour l’assimiler à une „volonté générale“ qui ne saurait errer, à la façon de Rousseau, soit pour y déceler, comme Metternich, le fondement même du désordre, n’est pas la mentalité collective. Disons qu’elle est la collection des mentalités existantes, dans une domaine ou une situation donnée.“ Duroselle: Opinion, S. 5. 24 Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 166. 25 Duroselle: Opinion; Milza: Opinion publique; Vovelle: Idéologies et mentalités; Le Goff: Mentalités, une histoire ambiguë. Zitiert von Frank: Mentalitäten, S. 166. 26 Frank: Mentalitäten, S. 167. 27 In dieser Arbeit wird der Begriff der Ideologie im kritischen bis abwertenden Sinne von Doktrin verwendet, auf der sich eine Regierung oder eine Partei beruft. Deshalb wird zwischen „politischen Ideologien“, „philosophischen/weltanschaulichen Überzeugungen“ und „religiösen Überzeugungen“ (Glaube) unterschieden. Siehe das Schema zur kollektiven Vorstellungswelt in diesem Kapitel. 28 Bracher: Zeit der Ideologien.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

legungen anzustellen, weil dies nicht das Thema seiner Arbeit ist. Robert Frank bringt unter anderem das Beispiel einer totalitären Ideologie wie den Kommunismus,29 dessen Einfluss auf die Mentalitäten der Völker der ehemaligen Sowjetunion nach 1981−1991 nicht etwa mit dem Zerfall der kommunistischen Systeme verschwunden ist – das kann man auch in Deutschland nach dem Fall der Mauer beobachten. Für die Zwischenkriegszeit ist das am Beispiel monarchistischer Tendenzen gut abzulesen, die noch Anfang der 1930er Jahre – über zehn Jahre nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs – Teil der politischen Reden in der Weimarer Republik waren. Zwei Phänomene spielen hier ineinander: die kohärenten und systematischen Ideen (der harte Kern der Ideologien) und der Nebel der Gefühle der Sympathie oder Antipathie, die diese Ideologien begleiten und manchmal genauso stark wie die Ideologien selbst bei der Zusammensetzung der „kollektiven Mentalitäten“ ins Gewicht fallen.30 Hier sei das Augenmerk auf die Beziehung zwischen „kollektiven Mentalitäten“ und internationaler Politik gerichtet. Auf der Ebene der internationalen Politik haben die politische Ausrichtung und die Ideologie (zwei Bestandteile der „kollektiven Mentalitäten“) eines jeden Politikers bedeutenden Einfluss auf seine Art zu handeln und zu entscheiden. Aber es ist schwierig, diesen Prozess zu analysieren. „To establish the relationship between ideas31 and foreign policy is always a difficult task, and it is no accident that it has attracted so few historians”, schreibt zutreffend Gordon Craig.32 Wie die „kollektiven Mentalitäten“ in ihrer Gesamtheit, sind ihre Bestandteile, wie etwa die Ideologie, nicht leicht zu definieren. Es handelt sich um unklare Begriffe, weswegen es auch so schwer fällt, ihren Einfluss auf die Politik nachzuweisen. Michael Hunt unterstreicht die Verbindungen zwischen „the deep cognitive mindness“ und dem „decision-making-system“, zwischen „foreign-policy ideology“ und „national moral“.33 Der Nationalismus zum Beispiel kann eine heilsame Kraft sein, die zu „cultural pride and social cohesion“ anregt und demokratische Werte wieder stärkt, aber er kann genau so gut „arrogance and aggressiveness“ fördern, die „overflow into chauvinictic and rigid foreign policies“.34 Hunt zweifelt nicht 29 Der Kommunismus ist wie alle anderen Ideologien dieser Zeit „diversité unifée par un projet“. Vgl. Dreyfus: Siècle des communismes, S. 9. Man kann deswegen mit Recht die Verwendung des Singulars kritisieren. Für die methodischen Überlegungen in diesem Kapitel ist eine genauere Differenzierung zwischen verschiedenen Kommunismen aber nicht notwendig. 30 Frank zitiert hierzu die Arbeit von Antoine Prost, in der Prost zeigte, dass „kollektive Gefühle“, wie sie zum Beispiel der Pazifismus und der Nationalismus hervorrufen, im Denken einer Person koexistieren können. Die ehemaligen Soldaten („anciens combattants“), über die Antoine Prost schreibt, waren gleichzeitig Pazifisten („Nie wieder Krieg!“) und Nationalisten bzw. Chauvinisten. Vgl. Prost: Les anciens combattants et la société française. Zitiert von Frank: Mentalitäten, S. 169. 31 Die Geschichte der Bilder und Vorstellungswelten und die Ideengeschichte sind einerseits nicht voneinander zu trennen, andererseits aber grundlegend verschieden. Hierzu Laborie: Opinion française, S. 54. 32 Craig: Political and diplomatic history. Zitiert von Hunt: Ideology, S. XI. 33 Ebd., S. 2f. 34 Ebd., S. 3.

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daran, dass „some of the central ideas in foreign policy are closely intertwined with domestic values and arrangements, which continue to sustain them“.35 Es kommt vor, dass Ideologien Bilder, Stereotypen und Vorurteile schaffen; so hat der in der Zwischenkriegszeit verstärkte Antikommunismus des Vatikans Anfang der 1930er Jahre zu einer nachlassenden Aufmerksamkeit für die wachsende Gefahr des Nationalsozialismus geführt. Häufiger schöpfen die Ideologien jedoch aus Bildern, die schon seit langer Zeit bestehen: Noch in den 1930er Jahren haben die anti-deutsch geprägten französischen Vorstellungswelten den französischen Nationalismus befeuert und das Urteil der Franzosen über die Absichten der demokratisch gesinnten deutschen Politiker, wie auch Heinrich Brüning, nachhaltig verzerrt. Schon bestehende Stereotypen wurden instrumentalisiert, die durch die Presse, Schulbücher oder Gedenkfeiern weitergegeben wurden. Es handelt sich um relativ stabile Bilder, die sich zwar mit der Zeit ändern konnten, aber auch den politischen Verlauf mitbestimmten. So hat sich das französische Deutschenbild im Verlauf der Jahrhunderte von den „Erbfeinden“ zur „Freundschaft“ und zum „deutsch-französischen Motor“ in Europa gewandelt. Natürlich haben die beiden Nationen nicht nur positive Bilder voneinander, aber die sogenannte „deutsch-französische Freundschaft“ ist ein so starkes Bild geworden, dass europäische Intellektuelle heute hoffen, dass sie anderen Staaten wie Griechenland und der Türkei als Vorbild für eine Aussöhnung beider Völker dienen könnte.36 Geschichte und Erinnerung sind nicht die einzigen Faktoren, aus denen sich die „Bilder von dem Anderen“ speisen. Sie werden auch durch sogenannte „mental maps“37 (im geopolitischen, geographischen und klimatischen Sinne) geformt:38 In Verbindung mit den Erinnerungen an 1871 und an den Ersten Weltkrieg haben die objektive geographische Nähe Deutschlands und die subjektive französische Wahrnehmung Deutschlands als ein kaltes, regnerisches Land und ein dadurch geprägtes rohes Volk im Frankreich der Zwischenkriegszeit das Ge-

35 Ebd. 36 Vom 27. bis zum 30. Januar 2005 haben das Goethe–Institut, das Institut français und die Papandreou–Stiftung ein Symposium für griechische, türkische, französische und deutsche Studenten, Wissenschaftler und Künstler zum Thema „Welcher Clash zwischen den Kulturen?“ organisiert. Es handelte sich um eine Fortsetzung eines Konferenz–Zyklus unter dem Oberthema: „Die europäische Geschichte ohne Stereotype und Vorurteile: die deutsch– französische Freundschaft als Beispiel/Vorbild“. 37 Vgl. Henrikson: Mental Maps; Lacoste: Géographie. Objektive und subjektive Wahrnehmungen spielen bei der Bildung von Bildern des Anderen eine Rolle. 38 „[L]’histoire et la politique trouvent un allié précieux dans la géographie. Chaque nation semble disposer d’une espace prédestiné, d’un lieu réservé depuis toujours sur la terre. Cet espace est d’autant mieux mis en évidence qu’il est encadré par des frontières naturelles.“ Was Frankreich betrifft, „la mer, les Pyrénées, les Alpes et le Rhin dessinent une frontière idéale et particulièrement nette. La tentation d’atteindre partout ces limites constitue une des „clés“ de l’histoire de France“. Der Rhein erklärt „dans une grande mesure l’antagonisme franco–allemand, la valeur symbolique du fleuve efface tout autre argument ». Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 196f.

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fühl einer Bedrohung durch die Deutschen verstärkt. Mit solchen Überlegungen wurde unter anderem der Bau der Maginot-Linie begründet.39 Neben diesen stabilen Einflussgrößen von langer Dauer im Denken, wie den Ideologien, den Bildern, die man von den Anderen hat, und den geopolitischen Wahrnehmungen, kann auch der Einfluss von mentalen Haltungen kurzer Dauer nachgewiesen werden, wie zum Beispiel der Einfluss von kollektiven Emotionen (die Kriegsbegeisterung im Jahr 1914, der kollektive Frust in Krisenzeiten wie 1929/1930 in Deutschland und in den 1930er Jahren in Frankreich) auf die internationale Politik.40 Jean-Baptiste Duroselle hat diese allerdings aus seiner Konzeption „kollektiver Mentalitäten“ ausgeschlossen und sich nur auf Phänomene von langer oder mittlerer Dauer konzentriert.41 Auch „kollektive Emotionen“, „vorübergehende Ausbrüche“, die direkt an ein historisches Ereignis geknüpft sind, wie bestimmte Moden oder unvermittelte Hassausbrüche, darf man nicht übergehen. Solche ephemeren Erscheinungen sind zwar häufig das Produkt von Phänomenen weitaus längerer Dauer oder Bedeutung, aber auch sie haben einen beachtlichen Einfluss auf die Politik und das, was man gemeinhin „öffentliche Meinung“ nennt. So hat etwa das unter den Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs weit verbreitete Gefühl, sich in der modernen Zeit nicht mehr zurecht zu finden, seinen direkten Niederschlag in der Avantgarde-Bewegung der Mode, der Kunst, der Literatur, der Philosophie gefunden. Das in die Kunst übersetzte Gefühl der Orientierungslosigkeit war das unmittelbare Ergebnis der erlebten Geschichte, des Verlaufs und der Traumata des Ersten Weltkrieges. Dadaismus und Surrealismus, die Kritik am Bürgertum, der Krieg als einziges literarisches Thema, die Gemälde von Otto Dix und anderen und der ungeheure Erfolg des Jazz illustrieren das Phänomen „vorübergehender mentaler Ausbrüche“ als Folge historischer Umbrüche (Erster Weltkrieg), die auch die Politiker jener Zeit beunruhigten. Der Hass auf die „Boches“ stand ebenfalls im direkten Zusammenhang zum Erlebnis des Ersten Weltkriegs und konnte nur durch die Verständigungspolitik zwischen Briand und Stresemann allmählich gemildert werden. Allein die Vorstellung einer deutschösterreichischen Zollunion im Jahr 1931 reichte aus, um erneut die Angst vor den Deutschen zu wecken, wenn auch zu dieser Zeit nicht mehr von einer allgemeinen

39 Vgl. hierzu die Debatten im französischen Parlament zum Thema „Organisation der Verteidigung der Grenzen“. Annales de 1925, 1930, 1931. 40 Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 172. 41 Duroselle unterscheidet zwischen „Stimmung“ (von mittellanger Dauer) und „Haltung“ (von langer Dauer). Aus seiner Sicht ist die Stimmung abhängig von einem Ereignis und verschwindet mit diesem. Ein Beispiel wäre der Defätismus der mit dem Ende eines Krieges seine Daseinsberechtigung verliert. Eine Haltung hingegen erweist sich nach Duroselle als widerstandsfähiger und verschwindet erst nach einer ganzen Ereigniskette. Hier nennt er die Idee der „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen. Vgl. Duroselle: Opinion, S. 9– 10. Jean–Baptiste Duroselle richtet sich nach der Unterscheidung zwischen „Stimmung“ und „Haltung“ von Marlies Steinert. Vgl. Steinert: Evolution. Frank wiederum resümiert die Überlegungen von Duroselle zu „Stimmung“ und „Haltung“. Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 172.

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Deutschenphobie der Franzosen gesprochen werden kann – zu zahlreich waren die Versuche einer „zweiten“ Annäherung. Wir nähern uns der „öffentlichen Meinung“, die Pierre Renouvin und JeanBaptiste Duroselle aus ihrer Konzeption der „tiefgreifenden Kräfte/forces profondes“ und/oder der „kollektiven Mentalitäten“ ausgeschlossen haben. Für Renouvin war die öffentliche Meinung nur das Resultat der „tiefgreifenden Kräfte“, während Duroselle sie als eine Art Sammlung von Mentalitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt ansah.42 Beide Positionen vermögen nicht zu überzeugen. Der Historiker Robert Frank stellt noch einmal die entscheidende Frage: Wie soll zwischen einer „Meinung“, die als eine Art Reflex gilt, und einer „Mentalität“, die aufgrund ihrer lange währenden Wirkung als eine „tiefgreifende Kraft“ interpretiert wird, unterschieden werden?43 Es ist durchaus notwendig, in einer Dialektik von langer und kurzer Dauer zu denken, aber die Termini, die man bislang verwendet hat, reichen nicht aus, um größere Klarheit zu gewinnen. Pierre Milza hat schon weiter gedacht, indem er zwischen „globaler Meinung“ und „aktueller Meinung“ unterscheidet. Robert Frank hat die Überlegungen Milzas zusammengefasst:44 Die „aktuelle Meinung“ ist eine Realität des Augenblicks, die davon abhängt, wie die politischen Verhältnisse wahrgenommen werden. Sie kann mittels Umfragen durch die Medien oder spezialisierte Meinungsforschungsinstitute gemessen werden.45 Aber man kann sie nicht als ein isoliertes Phänomen betrachten, weil sie integraler Bestandteil der „globalen Meinung“ ist, die in den Mentalitäten fester als die „aktuelle Meinung“ verankert ist. Sie findet dort stabile Strukturen von langer Dauer, wie etwa Ideologien, nationale Stereotype, Bilder und Mythen. Die Unterscheidung zwischen „aktueller Meinung“ und „globaler Meinung“ veranschaulicht das komplexe Spiel von Stabilität und Flüchtigkeit der „Mentalitäten“.46 42 43 44 45

Vgl. hierzu die Erklärung von Robert Frank. Frank: Mentalitäten, S. 172 Ebd. Frank: Mentalitäten, S. 172f. Hier muss daran erinnert werden, dass Anfang der 1930er Jahre noch keine Meinungsumfragen existierten: „Devenue l’objet d’investigations rigoreuses, grâce à la technique des sondages [ab 1936 in den USA und ab 1938 in Frankreich, wo Jean Stoetzel das Institut Français de l’Opinion Publique, kurz IFOP gründete], l’opinion publique devint inséparable, sous des différents aspects, de la conscience et de la mesure que, soudain, la société en prenait. […] [L]’opinion, sous le double empire des mass media et de la montée des conformismes, cesse progressivement d’être la source privilégiée d’inspiration des gouvernants pour devenir un instrument entre leurs mains.“ Jacob: Encyclopédie Philosophique, Tome II. Kann man vor diesem Hintergrund vermuten, dass die „kollektive Vorstellungswelt“ die französischen Politiker mehr inspirierte, als dass sie sie für ihre Zwecke instrumentalisierten? Dieser Frage wird im III. Kapitel dieser Arbeit nachgegangen. 46 Pierre Bourdieu schrieb zu der mit Umfragen gemessenen öffentlichen Meinung: „[E]alle est un artefact pur et simple dont la fonction est de dissimuler que l’état de l’opinion à un moment du temps est un système de forces, de tensions et qu’il n’est rien de plus inadéquat pour représenter l’état de l’opinion qu’un pourcentage ». Bourdieu: Opinion publique, S. 224. Da es noch keine Umfragen zu dem in der vorliegenden Arbeit behandelten Thema gab, besteht

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Und doch bleiben viele Fragen offen. Der französische Historiker Pierre Laborie macht deutlich, wie schwierig es ist, einen Faktor wie die öffentliche Meinung zu erfassen: „Das Nicht-Fassbare zu greifen, eine Wirklichkeit, die sich der Analyse entzieht, auf eine indirekte Art und Weise wiederherstellen, das heißt oft, ernüchtert feststellen zu müssen, dass man zum schon wieder an den Ausgangspunkt zurückverwiesen worden ist oder im besten Falle in dessen unmittelbare Nähe. Dieses mühselige Vorankommen und dessen immer wechselnde Geschwindigkeit sind ein Teil der spezifischen Probleme des Historikers, der sich mit der Geschichte der öffentlichen Meinung beschäftigt: Er kann sich nicht auf helfende Gewissheiten stützen und ist immer wieder von Neuem mit andauernd gestellten methodischen Fragen konfrontiert, die das gesamte Forschungsfeld einnehmen können, sogar bis zu dessen völligen Durchdringung und Gleichstellung damit. Und so läuft man Gefahr, einen um Fachwörter ringenden Diskurs zu führen, der die Geschichte der öffentlichen Meinung zum Objekt der Spekulation macht und ihr eher eine unklare Gestalt gibt, als sie praktisch umzusetzen.“47 Ein Historiker, der sich der Geschichte der öffentlichen Meinung widmet, muss vor allem anderen sein Forschungsgebiet genau festlegen und sich dabei auch der Methoden der Politologen, Soziologen und Psychologen bedienen, ohne dabei die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden zu vernachlässigen; er gerät zwangsläufig in die unangenehme Lage, seine Forschungsweise und sein Forschungsgebiet permanent rechtfertigen zu müssen.48 Früher oder später kommt ein die Versuchung nicht, die Frage der öffentlichen Meinung auf zu vereinfachende Art und Weise zu behandeln. Die öffentliche Meinung wird hier als Referenzsystem gedacht, welches auch durch die Kritik Bourdieus gestützt wird. 47 Übersetzung des Originalzitats: „Tenter de saisir l’insaisissable, reconstituer de manière détournée une réalité qui se dérobe à l’analyse, c’est avoir souvent l’impression décourageante d’être renvoyé pour la énième fois à la case départ ou, au mieux, à ses environs immédiats. Cette progression embarrassée et son rythme incertain créent en partie le malaise particulier de l’historien de l’opinion, privé de certitudes rassurantes, inlassablement confronté à des questions de méthode toujours présentes et toujours reposées, envahissantes, prêtes à investir la totalité du champ de recherche jusqu’à l’absorber et à ce confondre avec lui. Avec, dans ce cas, le risque d’un discours logomachique autour d’une histoire de l’opinion devenue thème de spéculation, détourné vers un statut équivoque d’entité au détriment d’une volonté concrète de mise en œuvre.“ Laborie: Enjeux, S. 102. 48 Pierre Laborie bringt diese Schwierigkeit auf den Punkt: „Man kann nach dem Wesen der öffentlichen Meinung fragen, über ihre Materialität, seine Einheit oder seine Pluralität nachdenken und am Ende des Gedankenganges dann sogar seine Existenz gänzlich infrage stellen. Diese ritualisierte Diskussion wird niemals enden, vor allem, wenn man beharrlich Widersprüche, die aber in einigen Fällen fälschlicherweise als sich gegenseitig ausschließend bezeichnet werden, als zueinander inkompatibel darstellt. An dieser Stelle soll dieses Thema, das für seine Komplexität und die Gefahr des Abdriftens bekannt ist, nicht diskutiert werden. Eine eingehende Betrachtung des Gesamtkomplexes, die bislang vernachlässigt wurde, ist notwendig und darf sich nicht darauf versteifen sich auf formelle Inkompatibilitäten ideologischer und/oder methodischer Art zu beschränken. Es macht keinen Sinn, Verbote auszusprechen und den Forschungsbereich, den die öffentliche Meinung darstellt, von dem des Historikers abzugrenzen. Trotz der Probleme, die sich aus der Uneindeutigkeit des Untersuchungs-

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weiteres Problem hinzu: Historiker, die sich mit Mentalitätsgeschichte beschäftigen (vor allem dann, wenn sie diese im Zusammenhang mit der Geschichte der internationalen Beziehungen betrachten), sind gezwungen, gleichzeitig Wirtschaftshistoriker, Sozialgeschichtler, Kulturhistoriker, Ideengeschichtler, außerdem Geographen, Demographen und Experten für militärstrategische Fragen zu sein, oder wie Milz schreibt, Generalisten und Spezialisten, die sich schnell ihrer mangelnden Kompetenz auf diesen vielen verschiedenen Fachgebieten bewusst werden.49 Um die französische Perzeption Heinrich Brünings analysieren zu können, muss man außerdem unbedingt in die Debatten der damaligen Philosophen, Intellektuellen und Katholiken einsteigen und die deutsch-französische Diplomatiegeschichte kennen. Darüber hinaus muss man die politischen Systeme beider Länder erfassen, mit all ihren spezifischen wirtschaftlichen, finanzpolitischen, militärischen, institutionellen, kulturellen, demographischen, religiösen, ideologischen, pressepolitischen und intellektuellen Besonderheiten – um nur einige Bausteine zu nennen –, die einzeln oder im Zusammenspiel zu einer politischen Entscheidung auf außenpolitischer Ebene beitrugen. Ein solches Unternehmen ist allerdings ohne eine klare Methodenwahl und eine begriffliche Klärung zum Scheitern verurteilt.50 Pierre Laborie, der ein innenpolitisches Thema bearbeitet hat – die französische öffentliche Meinung zu Zeiten Vichys –, hat für die Bearbeitung seines Themas das entsprechende Vokabular aus der Soziologie entlehnt:51 Bilder, gesellschaftliche Vorstellungswelt und „System der Vorstellungswelt“.52 Diese Terminologie kann man auch auf ein geschichtswissenschaftliches Thema anwenden, das sich mit den internationalen Beziehungen beschäftigt. Diese Begriffe aus der Soziologie eröffnen nicht nur einen neuen Blickwinkel, sondern bieten auch eine neue analytische Vorgehensweise, die sich als vielversprechend erweist.

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gegenstandes ergeben, ist die spezifische Vorgehensweise des Historikers, unentbehrlich für die Erklärung des massenpsychologischen Phänomens, das sich in dem Konzept der öffentlichen Meinung ausdrückt – vor allem wenn sie sich der Psychologie und der Soziologie öffnet, ohne dabei aber auf die für die Geschichtswissenschaft typischen Vorgehensweisen und Ziele zu verzichten“. Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 44–45. Milza: International au transnational, S. 232. Hierzu merkt der rumänische Historiker Lucian Boia, Spezialist für Vorstellungswelten und die französische Historiographie, an: „Eine allgemeine Theorie der Vorstellungswelten setzt ein Epochen und Kultur übergreifendes Verständnis voraus – eine Voraussetzung, welche die traditionelle Ausbildung eines Historikers bei weitem übersteigt.“. Boia macht deutlich, dass es illusorisch ist zu glauben, eine gute Methode führe automatisch zu einem guten Resultat. Vielmehr hängt der Erfolg einer solchen Studie von dem Historiker selbst ab, „de son habilité, de son horizon culturel, de ses attaches idéologiques“. Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 13 u. 46. Vgl. Jodelet: Représentations sociales. Baczko: Imaginaires sociaux. Mauss, Durkheim; Serge Moscovici und Edgar Morin müssen ebenfalls genannt werden. Vgl. Laborie: Opinion française.

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„Die gesellschaftliche Vorstellungswelt“ umfasst das ganze Spektrum unterschiedlichster kollektiver mentaler Mechanismen – von den öffentlich gemachten Meinungen bis zu bewussten und unbewussten Gefühlen, von politischen Ideen bis zu politischen Bildern, von theoretischen Wissenschaftsmodellen bis zu dauerhaften oder flüchtigen Emotionen. Dieses Konzept hat zum einen den Vorteil, dass unter dem Begriff „Vorstellungswelt(en)“ so disparate Phänomene wie „Ideologien“, „Meinungen“ und „Mentalitäten“ vereint werden können. Zum andern erlaubt dies, den Begriff „System“ einzuführen, der es möglich macht, die verschiedenen „mentalen Operationen“ nicht als unabhängig voneinander zu betrachten, sondern sie im Zusammenspiel zu sehen, in dem je nach politischem Kontext der eine oder andere Baustein mehr Einfluss und Gewicht hat. Jede Gesellschaft verfügt über eine Vielfalt von Bildern, über eine „gesellschaftliche Vorstellungswelt“, ein „System der Vorstellungswelt(en)“, die sich im Laufe der Zeit gebildet haben und je nach Zeitpunkt unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Aus diesem Blickwinkel ist die „öffentliche Meinung“ weder die Summe aller individuellen Meinungen, die sich in einem Vorstellungssystem wiederfinden, noch der mechanische Reflex nationaler Mentalitäten angesichts eines Ereignisses oder einer bestimmten Epoche. Die öffentliche Meinung ist vielmehr – nach Robert Frank – das System der Vorstellungswelt(en), wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt und bezogen auf ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Situation in Erscheinung tritt.53 2. Die methodische Konzeption dieser Studie Zunächst soll hier das methodische Grundkonzept der Arbeit in Form einer methodisch und terminologisch klar strukturierten Überblickstafel vorgestellt werden. Eine entsprechende klare Struktur fehlt selbst in den Überlegungen Robert Franks zum Thema Bilder und Vorstellungswelt(en). Auch bei Frank finden sich, genauso wie bei Pierre Laborie oder anderen Historikern, die das Forschungsfeld der internationalen Beziehungen bearbeiteten, immer wieder begriffliche und methodische Ungenauigkeiten. Die Frage nach der Perzeption des Anderen entpuppt sich als überaus wichtiges Forschungsanliegen, weil es die Augen dafür öffnet, dass man in der Regel aufgrund der eigenen Wahrnehmung der Realität reagiert und nicht etwa aufgrund der Realität a priori, die man immer nur in Ausschnitten kennt. Auch in der Politik orientiert man sich mit Hilfe einer sogenannten „kognitiven Karte“:54 „Eine kognitive Karte ist vor allem ein Querschnitt, der die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigt. Sie spiegelt die Welt so wider, wie ein Mensch glaubt, dass sie ist, sie muss nicht korrekt sein. Tatsächlich sind Verzerrungen sehr wahrscheinlich.“55 Das folgende Schaubild soll einen schematischen 53 Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 173f. 54 Niedhart: Perzeption, S. 41. 55 Downs/Stea: Kognitive Karten, S. 24.

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Überblick über die Komponenten und die Funktionsweise dieser „kognitiven Karte“ oder präziser, dieser „kollektiven Vorstellungswelt“ geben. Er soll darüber hinaus verdeutlichen, dass der Ursprung einer Meinung nicht zwangsläufig im Bereich der Wahrheit zu finden ist, sondern im persönlichen Lebens- und Ausbildungsweg, auch in den gesellschaftlichen Gewohnheiten.56

Kollektive Vorstellungswelt(en) Ebene B: Aktuelle öffentliche Meinung Kollektive Vorstellungswelt(en)/ System der Vorstellungswelt

* spiegelt die kollektiven Haltungen der öffentlichen Meinung wider * (ersetzt den ungenauen Begriff der « kollektiven Mentalitäten »)

Das System der Vorstellungswelt im Erscheinungszustand eines bst. Momentes/ Augenblicks z. B. : Flexible und unbeständige politische, wirtschaftliche, soziale etc. Ansichten; spontane Stellungnahmen ; Auftreten vorrübergehender Emotionen…

EBENE A 2: STABILE STRUKTUREN VON MITTELLANGER BIS LANGER ZEITLICHER DAUER Politische Ideologien; Religiöse Überzeugungen (Glauben) ; Weltanschauliche (und politische) Überzeugungen; kollektive Gefühle z. B.: Pazifismus, Nationalismus, Katholizismus… ; sowie Gefühle der Sympathie oder der Antipathie, die diese Strömungen begleiten

Ebene A 1 : Sehr stabile Strukturen von sehr langer zeitlicher Dauer BILDER, STEREOTYPE / BILDER DES ANDEREN z. B. Französische Deutschlandbilder; geopolitische Wahrnehmungen; Erinnerungen an die Geschichte; Mythen, Archetypen

Ebene A: Globale Öffentliche Meinung

Nach der methodischen Konzeption dieser Arbeit, die sich aus den Vorschlägen der vorgestellten Historiker speist und versucht, diese präzise und gewinnbringend zu vereinen, ist die „kollektive Vorstellungswelt“ ein theoretisches Modell aus den immer wiederkehrenden Phänomenen oder Strukturen einer gesellschaftlichen Vorstellungswelt, das zu konstruieren unerlässlich ist, wenn man die „öffentliche Meinung“ an sich bearbeiten möchte.57 Das Modell der kollektiven Vorstellungswelt setzt sich aus zwei Hauptfaktoren oder -ebenen zusammen: Der „globalen öffentlichen Meinung“ (A) und der „aktuellen öffentlichen Meinung“ (B). Die „globale öffentliche Meinung“ setzt sich aus den stabileren Strukturen von langer Dauer zusammen, während die „aktuelle öffentliche Meinung“ die flexiblen

56 Vgl. ebd., S. 89. 57 Der Begriff „Meinung“ erlaubt nicht, unter ihm alle Phänomene zu erfassen, die die „öffentliche Meinung“ bilden. Aus diesem Grund war es notwendig, andere Termini einzuführen.

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Strukturen von kurzer Dauer aufzeigt. Was die Dauer betrifft, geht der Aufbau von den stabileren Strukturen (A 1 und A 2) zu den flexibleren und flüchtigen Strukturen (B), ohne jedoch zu hierarchisieren oder ihren jeweiligen Einfluss auf politische Entscheidungen zu gewichten. Jede einzelne Komponente hat ihre Rolle und ihr Gewicht im Zusammenspiel. Auf der Ebene A der „globalen öffentlichen Meinung“ wird zwischen sehr stabilen Strukturen von sehr langer Dauer (wie kollektive Erinnerungen und Vorstellungen, so etwa französische Deutschlandbilder) (A 1) und stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer unterschieden, wie Ideologien, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, außerdem kollektiven Gefühlen wie Pazifismus, Nationalismus und Katholizismus und den jeweiligen Sympathie- oder Antipathiebekundungen, die diese Ideologien oder Überzeugungen begleiten (A 2). Unter „aktueller öffentlicher Meinung“ (Ebene B), werden die flexiblen und flüchtigen politischen, wirtschaftlichen und andere Ansichten verstanden, die spontanen politischen Stellungnahmen und das Auftreten vorübergehender Emotionen – zusammenfassend gesagt das System der Vorstellungswelt(en) in der Erscheinungsform eines bestimmten (historischen) Zeitpunkts. Die Ebenen A1 und A2 der „globalen öffentlichen Meinung“ spielen zusammen und bilden in gewisser Weise das Fundament der „aktuellen öffentlichen Meinung (B). Bei der Verwendung von Begriffen wie „Haltung“, „Meinung“ (die hier vorzugsweise „Ansicht“ genannt wird, um Verwechslungen mit dem Begriff „öffentliche Meinung“ zu vermeiden), „Emotion“, „Ideologie“, „Überzeugung“, „Gefühl“, „Glaube“ und „Mythos“ ist eine genaue begriffliche Definition erforderlich, um keine Verwirrung zu stiften. Grundlage für diese Definitionen ist die Encyclopédie Philosophique Universelle und das Vocabulaire technique et critique de la Philosophie von André Lalande.58 Je nach gesellschaftlicher Gruppe oder Person variieren die Wahrnehmungen von Ereignissen oder Situationen und führen zu Widersprüchen und Debatten innerhalb einer Gesellschaft; es bilden sich Untergruppen in der „kollektiven Vorstellungswelt“ (die politisch Rechten oder Linken, Nationalisten oder Liberale etc.), die aber durch eine gemeinsame nationale Identität und eine gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungswelt miteinander verbunden sind.59 Trotz ideologischer Unterschiede haben die französischen Nationalisten und die französischen Pazifisten in den 1920er Jahren ihre Argumente aus der Angst vor oder dem Hass auf Deutschland und aus der Furcht vor einem neuen Krieg gespeist. Die Vorstel-

58 Die Definitionen von „Meinung“ und „Gefühl“ richten sich nach Jacob: Encyclopédie Philosophique. Die Definitionen von „Haltung“, „Emotion“, „Ideologie“, „Überzeugung“, „Glauben“ und „Mythos“ orientieren sich an Lalande: Vocabulaire. Der Begriff „Archetyp“, als „Konstante“ oder „organisatorisches Schema“ des „menschlichen Geistes“ richtet sich nach Boia. Er verwendet diesen Begriff als „konstituierendes Element der Vorstellungswelt“. Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 17. 59 Siehe das Schema zur politischen Aktivität einer Person oder einer Partei innerhalb der „kollektiven Vorstellungswelt“ in der vorliegenden Studie.

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lung eines „doppelten Deutschlands/les deux Allemagnes“60 zum Beispiel wurde als Bild in den Reden der Kommunisten wie auch der Nationalisten verwendet; bestimmte Bilder treten also wie eine Art Stenogramm des Wissens über den Anderen auf und werden im Diskurs aller Teilnehmer einer Gesellschaft verwendet. Da sich die politischen Reden der Rechten und der Linken auf dasselbe kollektive Bildmaterial stützen und nur dessen Interpretation variiert, kann die Frage gestellt werden, ob diese Bilder bewusst benutzt oder sogar bewusst geschaffen wurden. Es wäre in jedem Fall interessant, dieser Frage in Zusammenarbeit von Historikern und Linguisten nachzugehen, um eine sprachhistorische Analyse des französischen Gesellschaftsdiskurses zu erstellen, mit der mitunter aufgezeigt werden könnte, ob die französischen Reden über Deutschland durch die kollektive Vorstellungswelt strukturiert oder sogar determiniert waren. Handelte es sich also um „motivierte Bilder“?61 Eine zweite Besonderheit dieses „Systems einer Vorstellungswelt“ besteht in seinem komplexen Verhältnis zur Zeit und zur Realität eines historischen Augenblicks oder Ereignisses, die eine Vorstellungswelt ändern können, aber auch von ihr abhängen, weil Bilder einer Realität diese verändern können, indem sie selbst Handlungen oder Ereignisse auslösen.62 Die Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland hing natürlich von wirtschaftlichen, politischen und strategischen Faktoren ab, aber die französische Perzeption Deutschlands hat oft eine genauso wichtige Rolle in der politischen Entscheidungsfindung gespielt. Pierre Laborie beschrieb dieses Phänomen wie folgt: „Die Wahrheit verknüpft und vermischt zwei Arten der Wirklichkeit: auf der einen Seite die materiellen Fakten, die durch eine intellektuelle Denkleistung herausgearbeitet und zueinander in Verbindung gesetzt worden sind, und auf der anderen Seite die Wahrnehmung dieser Fakten/Ereignisse durch die gesellschaftlichen Akteure, just in dem Moment, in dem sie diese erleben. Diese Bilder von der Wirklichkeit sind von den realen Fakten/Ereignissen nicht mehr zu trennen und schaffen auf ihre Weise Realität. Die Grundvorstellungen die sich durch sie im Denken der gesellschaftlichen Akteure verankern werden zu einer mächtigen „historischen Realität“, deren Folgen und Bedeutung manchmal genauso groß, wenn nicht sogar größer als die eigentliche und als objektiv bezeichnete Realität sind. In der Politik gibt es eine Fülle von Situationen, in denen Bilder von der Wirklichkeit, von bestimmten Personen oder Denksystemen mehr Gewicht im politischen Entscheidungsprozess hatten als die eigentliche Realität.“63 Oder um es mit den Worten des rumänischen Historikers Lucian Boia zu sagen: In der Regel sieht man, was man sehen möchte und lernt, was man bereits weiß64 – und speist daraus auch die Politik. Duroselle hat in die60 DieVorstellung eines doppelten Deutschlands wird im Kapitel I.2 der vorliegenden Arbeit erläutert. 61 Diese Überlegungen stützen sich auf Link: Modell, S. 63–92. 62 Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 174. 63 Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 47. 64 Vgl. Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 27.

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sem Zusammenhang festgestellt, dass es den Politikern, die für die Außenpolitik zuständig waren, häufig an „Ernsthaftigkeit“ fehlte; oft bereiteten sie sich nicht einmal auf die Gespräche mit den Regierungschefs anderer Länder vor, noch wurden sie über die dortige aktuelle Situation informiert.65 Wenn man der umfangreichen Arbeit von Jacques Bariéty glauben darf, führte beispielsweise Edouard Herriot die schwierigen Verhandlungen im Jahr 1924 zum Dawes-Plan, ohne je die Unterlagen dazu richtig studiert zu haben.66 Ohne Zweifel hat er sich mehr auf seine Vorstellungen und seine Wahrnehmungen von der Realität gestützt als auf die Tatsachen an sich.67 Diese Beobachtung trifft sowohl auf die 1920er als auch auf die 1930er Jahre zu. Es drängt sich in der Regel der Eindruck auf, dass die Innenpolitik die meiste Aufmerksamkeit und Zeit der Politiker beanspruchte und dass sie mit einer gewissen Unkenntnis auf außenpolitische Herausforderungen reagierten. Die Lektüre des Journal Officiel zwischen 1930 und 1932 bestätigt diesen Eindruck. Armand Bérard macht gerade diese Unwissenheit Paul Boncour und Léon Noël dem Politiker Laval zum Vorwurf.68 Das Informationsdefizit über die Nachbarländer – zum Teil durch die Regierenden selbst verschuldet, zum Teil auf mangelhafte Berichterstattung von Presse und Diplomatie zurückzuführen, auch auf die Unmöglichkeit, ein Ereignis oder eine politische Situation zum Zeitpunkt ihres Geschehens vollständig zu erfassen69 – hat zum stärkeren Gewicht der „kollektiven Vostellungswelt“ im Entscheidungsprozess der französischen Politiker auf internationaler Ebene beigetragen. Dazu bemerkt Pierre Laborie wieder zutreffend: „Die Wahrheit, die die Haltungen der gesellschaftlichen Akteure beeinflusst, ist nicht die Wahrheit des Ereignisses, das die Historiker im Nachhinein und auch nicht immer rekonstruieren. Sie ist einzig und allein die Wahrheit des Moments, in dem sie geschehen ist und wie sie sich den gesellschaftlichen Akteu-

65 Vgl. Duroselle: Décadence, S. 16. 66 Vgl. Bariéty: Relations franco–allemandes, S. 49. 67 „Was die kollektiven Haltungen betrifft, so kann man mit Gewissheit feststellen, dass diese Phänomene der Transfiguration einen entscheidenden Einfluss auf den Entscheidungsmechanismus haben und dass sie viel schwerer wiegen als die „Wahrheit“ der Tatsachen. Hinzu kommt, dass diese Wahrheit der breiten Öffentlichkeit nur selten zugänglich ist, zumindest unmittelbar. Also nimmt die Wahrheit dessen, was man sich vorstellt, in den meisten Fällen den Rang einer Tatsache ein und so wird die Wahrheit des erdachten Ereignisses, des erdachten Menschen und der erdachten Rede dadurch zur „echten Wahrheit“ und wirkt sich als solche auf das Verhalten der gesellschaftlichen Akteure aus“. Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 47–48. 68 Vgl. Bérard: Danger allemand, S. 371–372; Noêl: Illusions, S. 40. 69 Die Gründe für den Mangel an „gültigen“ Information über den Anderen (das andere Land) sind vielfältig: „Im öffentlichen wie im privaten Leben kommt es immer wieder vor, dass Entscheidungen auf Fehleinschätzungen beruhen – vielleicht als Folge von Stress zum Zeitpunkt der Entscheidung, oder mangels Informationen. In jedem Fall besteht ein Unterschied zwischen der wahrgenommenen Realität und der „objektiven“ Realität. Der Betrachter hat kein vollständiges Bild der Situation im Kopf, sondern nur eine wahrgenommene Realität.“ Vgl. Niedhart: Perzeption, S. 39.

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ren gezeigt hat.“70 Pierre Laborie hat dieses Phänomen als ein „allgemeines“ und „fortwährendes“ erkannt, das nicht nur die damalige französische Innenpolitik, sondern im besonderen Maße auch die französische Außenpolitik kennzeichnet: „Das Frankreich der 1930er Jahre und auch das Frankreich während des Krieges ist ein gutes Beispiel für Krisensituationen, in denen das Irrationale auf seine charakteristische, teilweise extreme Weise das kollektive Denken beeinflusst.“71 Das Verhältnis zur Zeit, zum Raum und zur eigenen Nation setzen Dynamiken in der „kollektiven Vorstellungswelt“ in Gang, die die internationalen Beziehungen beeinflussen können.72 Eine dieser Dynamiken beschreibt Frank so: „Die unterschiedlichen sozialen Vorstellungswelten bringen alle möglichen mentalen Haltungen, flüchtigen Wahrnehmungen, stabilere Doktrinen und Empfindlichkeiten hervor, die in der weit zurückliegenden Vergangenheit und im Unterbewusstsein wurzeln, aber gleichzeitig auch der Zukunft in Form von Vorhaben zugewandt sind.“73 Auf Basis der ausgewählten Quellen und Archive wird im Weiteren dieser Feststellung Robert Franks auf den Grund gegagngen, indem die verschiedenen Arten der Entstehung einer „kollektiven Vorstellungswelt“ nachverfolgt werden – und zwar auf Basis von Grundschemata, die man entwickeln muss, wenn man die Sicht(weise) des Anderen studieren will. Wir stellen zunächst die Existenz eines Filters fest, der auf die jeweilige Kultur des Betrachters zurückzuführen ist: Die „kollektive Vorstellungswelt“ ist das Resultat des historischen Erbes einer Gesellschaft, das weit wie auch erst kurz zurückliegen kann, aber sie wird auch in Hinblick auf die erhoffte Zukunft geschaffen. Die Bilder und Vorstellungen vom Anderen dienen häufig dazu, Zukunftsängste auszutreiben. Eine andere Dynamik gründet auf der ambivalenten Wahrnehmung der Welt und des Raumes: Ein Blick auf eine Karikatur genügt, um zu begreifen, dass es äußerst schwierig ist, ein anderes Land oder eine andere Nation ohne vorgefertigte Bilder im Kopf zu betrachten. Diese Bilder sind ambivalent, weil sie eine negative wie auch eine positive Seite haben, die je nach Verwendung unterschiedliche Entscheidungen und Handlungen legitimieren können, wie das folgende Beispiel zeigt: Ob die Franzosen der 1930er Jahre nun deutschenfreundlich oder deutschenfeindlich waren, sie bedienten sich beide desselben französischen Deutschlandbildererbes – nur die Politik, die daraus resultierte, unterschied sie. In der Literatur dieser Zeit ist diese Ambivalenz geradezu frappierend. Der Schriftsteller Vercors zum Beispiel hat sich in seinem Roman „Das Schweigen des Meeres“ des ganzen Bilderspektrums bedient, das sowohl die Liebe für Deutschland gefördert als auch den Hass auf Deutschland geschürt hat. Mit Rückgriff auf dieses ambivalente Bildererbe wollte er in seinem überaus politischen Roman im Jahr 1942 die Franzosen daran erinnern, dass sich hinter einer noch so sympathischen Erschei-

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Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 18. Zitat in Übersetzung nach ebd., S. 18f. Zitat in Übersetzung nach Frank: Mentalitäten, S. 175. Ebd.: Images et imaginaire, S. 5.

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nung eines Deutschen ein „zweites Gesicht“, und zwar das eines diabolischen Systems verberge. Im Grunde ist das Bild vom Anderen häufig nur ein Vorwand, um von sich selbst zu sprechen; so wurden auch die Weimarer Republik und die Person Heinrich Brüning eine Art Spiegel Frankreichs,74 der es erlaubte, eigentlich und vor allem über die innerfranzösischen Probleme zu diskutieren. Durch die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung einer Realität und der Realität an sich75 kann schließlich eine Nation ein Bild von sich selbst entwerfen.76 Dieses Spiel mit dem Spiegel ändert sich je nachdem, wer gegenübersteht. Um sich von den Franzosen zu unterscheiden, heben die Deutschen noch heute bestimmte Charakterzüge hervor, die sie sich selbst zuschreiben: Ordnung, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. In Hinblick auf die Amerikaner loben sich die Deutschen für ihre eigene Kultur, für Goethe, Schiller und Kant. Mit Hilfe scheinbarer und echter Unterschiede wird eine Demarkationslinie zwischen den Anderen und der eigenen Nation gezogen; regelrechte „Nationalcharaktere“ werden geschaffen, die aus dem Anderen je nach Situation entweder ein Vorbild oder ein abschreckendes Beispiel machen.77 Sich ein Bild vom Anderen zu machen bedeutet, dass man den Anderen anhand der eigenen Vorstellungswelt beurteilt. In der Politik wie in der Geschichte dreht sich alles um sich und den Anderen, schreibt Lucian Boia.78 „Ethnische und nationale Identitäten definieren sich immer durch Gegenüberstellung. So kann man zeigen, dass sich die französische Identität Anfang des 20. Jahrhunderts zum Teil über die Opposition zu Deutschland definiert. […] neben den Unterschieden, die auf die Entfernung zurückzuführen sind, gibt es auch solche, die auf die Nähe zurückzuführen sind und genauso wichtig zu sein scheinen: das Verlangen nach einem Anderssein, nach Unterschieden und nach einer eigenen Identität“, bemerken J. R.

74 Bilder und Stereotype, die den Anderen betreffen, ermöglichen uns, über uns selbst zu sprechen, und lehren uns im Endeffekt mehr über jene, die diese Bilder schaffen und von Generation zu Generation weitergeben, als über die Nationen, die Gegenstand jener Bilder sind. Vgl. hierzu Tachin: Grande–Bretagne, S. 4. 75 Hier kann noch einmal Bezug auf Robert Frank genommen werden: „Auch wenn die zeitgenössischen Bilder der Realität eines Ereignisses, einer Politik oder einer politischen Persönlichkeit Verzerrungen der Realität sind, die vom Historiker im Nachhinein herausgearbeitet werden können, so tragen sie dennoch zu einer zeitverschobenen Gestaltung dieser Realität bei.“ Zitat in Übersetzung nach Frank: Images et imaginaire, S. 6. 76 Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder einer Nation entsteht auch dank der Bilder, die man von den Anderen und sich selbst hat. Diese Bilder helfen, sich von dem anderen zu unterscheiden und eine eigene Identität zu entwickeln. Vgl. hierzu Frank: Mentalitäten, S. 180. 77 Vgl. Einleitung Wendt: Deutschlandbild, S. 12. 78 „Man kann ihn bewundern und ihn als ein Modell betrachten. Aber der Andere kann auch dazu dienen, einen Unterschied hervorzuheben, um unsere eigenen Werte und ideologischen und kulturellen Wertvorstellungen zur Geltung zu bringen. Wenn man die Unterscheidung noch mehr betont, wird der Andere sogar gegnerischen Wertvorstellungen zugeordnet.“ Zitat in Übersetzung nach Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 191.

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Ladmiral und E. M. Lipiansky zu diesem Thema.79 Hans Nicklas verwendet die Begriffe „ingroup−outgroup“ für dieses Phänomen,80 was sich auch mit „Selbstbild“ und „Fremdbild“ übersetzen ließe. Die Frankophilie oder die Deutschenfreundlichkeit sind im übrigen nur die andere Seite der Franzosen- und Deutschenfeindlichkeit – es handelt sich um ein systematisches Missverständnis der Realität. Dieses Missverständnis ist keineswegs Zufall, sondern hat eine stabilisierende Funktion für eine ganze Gesellschaft, eine ganze Nation.81 Indem das Bild des anderen Konturen annimmt, wird es möglich, sich selbst zu definieren.82 Aufgrund dieser gesellschaftlichen Funktion von Bildern ist es so schwierig, sie zu verändern oder sogar zu demontieren. Auf offizieller Ebene werden diese Bilder sogar zu einem wichtigen Faktor der internationalen Politik. Sie sind quasi ein Abbild dieser Politik.83 Dabei darf nicht vergessen werden, dass Stereotype zwar eine lange Halbwertszeit haben, aber keinesfalls unvergänglich sind – es gibt Zeiten der Veränderung und des Übergangs, wie weiter unten dargelegt wird.84 „Die Vorstellungswelt vereinfacht die Gegebenheiten der realen Welt und reduziert das Komplexe auf das Rudimentäre“.85 Die linken und rechten Extremisten haben diese simplifizierende Darstellung des Anderen systematisch in ihrer Propaganda verwendet, aber man findet den Einfluss von irrationalen Bildern auch in den Reden der politischen Mitte. So stellt sich noch einmal die Frage: Wurden solche irrationalen Überlegungen bewusst von den Politikern instrumentalisiert, oder schlichen sie sich unbewusst in den politischen Diskurs ein? René Girault stellt in diesem Zusammenhang eine weitere Frage, die sich logisch ergibt: „Handeln Regierungen nach den langfristig wirkenden Entwicklungen der öffentlichen Meinungen oder sind sie eher empfänglich für kurzfristige mentale Veränderungen?“86

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Zitat in Übersetzung nach Ladmiral/Lipiansky: Communication interculturelle, S. 172. Nicklas: Vorurteile, S. 62. Ebd. „Frankreich und Deutschland haben sich immer aneinander gemessen. Das Interesse für den Anderen wird von Eigeninteressen und von der Suche nach der eigenen Identität geleitet. So spiegelt das französische Deutschlandbild in diesem Prozess historischer Interaktion immer ein Bild Frankreichs wider. Auf gleiche Weise spiegelt das deutsche Frankreichbild immer das schwierige Nachdenken Deutschlands über sich selbst wider.“ Vgl. Picht: Fremdheit, S. 194. In der politischen Psychologie ist der Begriff System schon seit Langem Bestandteil der Überlegungen zur Vorstellungswelt, zu Vorurteilen und Fremdbildern. Zum Begriff Vorurteil vgl. Six: Vorurteil. Die Beschäftigung mit Geschichte und Erinnerung kann einen Einfluss auf das Bild des Anderen haben. Seit sich die Franzosen zunehmend für ihre eigene Geschichte während des Zweiten Weltkriegs interessieren, insbesondere für die Geschichte des Vichy–Regimes, hat sich ihre Sicht auf Deutschland geändert. Vgl. Stephan: Macht der Bilder, S. 103. Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 50f. Zitat in Übersetzung nach Girault: France des années 1930, S. 382.

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3. Die „kollektive Vorstellungswelt“: Ein „anderer politischer Ort“ Die französischen Politiker der Zwischenkriegszeit haben in Deutschland eine regelrechte Kulturpolitik und -diplomatie verfolgt, die zum Ziel hatte, die „deutsche Mentalität“ und die deutsche Sicht auf Frankreich zu ändern.87 Alle Nationalstaaten nutzten (und nutzen noch heute) die Kultur zu diesem Zweck, weil sie sich der Bedeutung der Bilder für das politische Klima bewusst waren, in der ihre internationalen Beziehungen ablaufen sollten. Die Kulturpolitik war Bestandteil der klassischen Machtpolitik. Frankreich hatte dabei als herausragende Militärund Kolonialmacht eine gesonderte Stellung, weil die Franzosen der kulturellen Außenpolitik in der Ära Briand unter den prägenden Generalsekretären am Quai d’Orsay Philippe Berthelot und dem Dichter Saint-John Perse alias Alexis Léger zwischen 1920 und 1933 und zwischen 1933 und 1940 besonders viel Gewicht verliehen. Alexis Léger bereitete nicht nur Locarno und den Briand-Kellogg-Pakt vor, sondern schrieb auch den Großteil des Europa-Memorandums Briands im Jahr 1930. Im Umfeld der Diplomaten und Intellektuellen Paul Morand, Paul Claudel und Jean Giraudoux hatte sich eine regelrechte intellektuelle Internationale gebildet,88 die nachhaltige Spuren in den „kollektiven Vorstellungswelten“ beider Länder hinterließ. Waren sie sich darüber im Klaren, dass auch sie mit vorgefertigten Bildern operierten? Machten sie sich diese Bilder bewusst zunutze? Es besteht kein Zweifel, dass auch die höchsten Repräsentanten des Staates durch Bilder beeinflusst waren.89 Die Kultur hat auf der Ebene der internationalen Beziehungen eine Rolle gespielt, die nicht nur auf den Austausch unter kulturellen und politischen Eliten beschränkt war.90 Die Beschäftigung mit der Geschichte der „kollektiven Vorstellungswelten“ in den Internationalen Beziehungen ist nicht zuletzt auch eine Studie der grenzübergreifenden Beziehungen unterschiedlichster Gruppen verschiedener nationaler Gesellschaften.91 Eine in der Geschichtswissenschaft immer wiederkehrende Frage zu Heinrich Brüning lautet, welche Handlungsspielräume und Zwangslagen seine Politik bestimmten. Diese Frage begleitet unausweichlich die Überlegungen zur französischen Perzeption Heinrich Brünings. Die Selbstauflösung der ersten deutschen Demokratie kündigte sich schon vor 1930 und vor der unglücklichen Politik Hein-

87 Vgl. Bock: Entre Locarno et Vichy. 88 Vgl. Trebitsch: Internationalisme, S. 23f. 89 Hüser bemerkt hierzu, dass selbst Diplomaten, die täglich mit dem Ausland zu tun haben und deren Arbeit die Kenntnis politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, mentaler und kultureller Veränderungen unabdingbar macht, nicht vor Stereotypen gefeit sind. Sie trennen sich nur selten von ihren schon zu Beginn ihrer diplomatischen Karriere verinnerlichten Bildern. Hüser: Frankreich, S. 26. 90 Vgl. Frank: Mentalitäten, S. 183f. 91 Frank hat bereits darauf hingewiesen. Vgl. ebd., S. 185. Kultur und Vorstellungswelt gehören zusammen.

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rich Brünings an;92 zahlreiche strukturelle, politische und soziale Probleme hatten sich in Deutschland schon in den Jahren der illusorischen inneren Stabilität93 von 1924 und 1929 angesammelt und trugen schließlich zum Untergang der Republik Anfang der 1930er Jahre bei. „Die Weichenstellung für den Untergang der Republik erfolgte, bevor die aktuelle Krise 1929/30 ausgebrochen war“, schreibt Detlev Peukert,94 begeht aber nicht den Fehler, ein zwangsläufiges und unabwendbares Ende der Weimarer Republik zu behaupten. In der Tat verfehlen alle Versuche, den Untergang der ersten deutschen Demokratie auf einen einzigen Grund zurückzuführen, den komplexen historischen Kontext der Weimarer Republik. Auch wenn es selbstverständlich ist, soll es hier noch einmal erwähnt werden: Man muss auch die internationalen Rahmenbedingungen und vor allem die Rolle Frankreichs und den Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen während der letzten Jahre der Weimarer Republik in die Betrachtung einbeziehen. Hatte die französische Wahrnehmung Frankreichs Einfluss auf die deutsche Politik zwischen 1930 und 1932? „Es gibt in der Geschichte nie einen einzige Ursache für etwas und wenn einem nach dem Abwägen von Kontingenz und Notwendigkeit eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Parameter des Komplexen gelingt, dann nur, um festzustellen, dass sie selten stimmig und transparent sind.“95 „Die Mehrdeutigkeit ist immer präsent“96 − das zeigt sich schnell bei der Beschäftigung mit der französischen „kollektiven Vorstellungswelt“ und ihrer Rolle für die deutschfranzösischen Beziehungen. „Die öffentliche Meinung zu untersuchen“, bemerkt Pierre Laborie, „heißt, in der Überlagerung von Wirklichkeit und Symbolischem zu entschlüsseln, welchen ständig wechselnden Einfluss die Vorstellungswelten auf die Verhaltensweisen der Menschen haben. Ohne zu rechtfertigen oder zu verurteilen, geht es zunächst darum zu verstehen, um was es überhaupt geht; bevor man also versucht zu erklären, warum Ereignisse sich zugetragen haben, sollte man versuchen zu erklären, wie sie sich zugetragen haben“97 − eine Arbeitsanweisung auch für diese Studie. Die „kollektive Vorstellungswelt“ ist heterogen. Man kann sie mit einem Kaleidoskop vergleichen, bei dem die einzelnen Glassplitter je nach Motiv, das sich bildet, gut, nur ein wenig oder gar nicht zu sehen sind und immer wieder neue Kombinationen bilden: „Die öffentliche Meinung ist ein kollektives Phänomen, das eine dominante Position innerhalb einer sozialen Gruppe widerspiegelt und bekräftigt. Als solche muss sie klar von den konfliktträchtigen Äußerungen verschiedener anderer nicht mehrheitsfähiger Strömungen abgegrenzt werden, aber man darf auch deren Wechselwirkungen nicht unterschätzen: Sie wirken sich auf 92 93 94 95 96 97

Vgl. Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 510ff. Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 204. Ebd. Zitat in Übersetzung nach Laborie: Opinion française, S. 25. Zitat in Übersetzung nach ebd. Zitat in Übersetzung nach ebd.

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die Entwicklung einer gemeinsamen öffentlichen Meinung aus, zumal eine von ihnen den Keim einer potentiell mehrheitsfähigen Haltung enthalten kann.“98 Die Zusammensetzung und die Weiterentwicklung der „kollektiven Vorstellungswelt“ variiert oder dreht sich sogar je nach historischem Kontext um. Dem Individuum bietet sie jedoch permanent „die Möglichkeit, sich als Teil einer Gemeinschaft mit gemeinsamen Ansichten zu begreifen, mit der beruhigenden Überzeugung, dass der vorgebrachte Standpunkt von der Mehrheit der Gruppe geteilt wird und mit der Identität der Gruppe harmonisch übereinstimmt“.99 Man spricht von der „öffentlichen Meinung“, obwohl man weiß, dass es eine ganze Vielfalt von Meinungen in einer naturgemäß heterogenen Gesellschaft gibt, was eigentlich auch als Beweis dafür dienen könnte, dass es die „öffentliche Meinung“ gar nicht gibt. Hierzu schreibt René Rémond: „Es ist kein Widerspruch zu behaupten, dass die beiden Ansätze komplementär sind“100 – vor allem, wenn man die Terminologie entsprechend ändert, wie es in dieser Studie getan wird. Die Meinungsvielfalt ist der eigentliche Gegenstand der Recherchen. Die verschiedenen Standpunkte in einer Gesellschaft müssen analysiert werden, die unterschiedlichen Meinungen der Mehrheiten und der Minderheiten, aber auch andere Aspekte, die im öffentlichen Diskurs nicht erwähnt werden. Häufig verraten bestimmte Themen, die vermieden und nicht angesprochen werden, genausoviel über die aktuelle Situation der Politik und der Gesellschaft wie andere, die im Zentrum des öffentlichen Diskurses stehen. Natürlich ist dieser Aspekt nicht neu. Pierre Laborie hat ihn schon deutlich hervorgehoben, und er darf auch hier nicht vergessen werden.101 Die Analyse des französischen Urteils über Heinrich Brüning folgt dem methodischen Schema, das für die Bearbeitung der „kollektiven Vorstellungswelt“ entwickelt wurde. Nach der Beschreibung der französischen Deutschlandbilder bis 1930, die den stabilen Strukturen von sehr langer Dauer der globalen öffentlichen Meinung entsprechen (Kapitel I.2), folgt ein zusammenfassender Blick auf die soziopolitische, wirtschaftliche und mentale Lage Deutschlands und Frankreichs zwischen 1920 und 1930 und auf dieser Basis werden die stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer der globalen öffentlichen Meinung sichtbar gemacht (Kapitel I.3). Das gesamte zweite große Kapitel ist der Darstellung der kollektiven Vorstellungswelt im Erscheinungszustand eines genauen Zeitpunkts gewidmet, also der französischen Perzeption Heinrich Brünings zwischen 1930 und 1932. Das dritte große Kapitel soll dann das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren innerhalb der „kollektiven Vorstellungswelt» verständlich machen: Die Mechanismen der verschiedenen Meinungen; die Dynamiken der Meinungen von Mehrheiten und Minderheiten; das Stillschweigen über bestimmte Themen; die Arithmetik der Stellungnahmen im oder ohne Zusammenhang zu einem konkreten Ereignis; die Manisfestierung verschiedener Ansichten mit ihren unter98 99 100 101

Zitat in Übersetzung nach Laborie: Enjeux, S. 103. Zitat in Übersetzung nach ebd., S. 104. Zitat in Übersetzung nach Rémond: Introduction. In: Becker: 1914, S. 7–8. Vgl. Laborie: Enjeux, S. 110.

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schiedlichen Halbwertszeiten und Ursprüngen – und ihr Einfluss auf die deutschfranzösischen Beziehungen. Der Geschichtswissenschaftler „kann nur die Perspektive von geschichtlichen Vergleichen einnehmen“.102 Diese Perspektive wird es erlauben festzustellen, welche Aspekte der französischen „kollektiven Vorstellungswelt“ zu Heinrich Brüning und Deutschland zwischen 1930 und 1932 kulturelles Erbe waren oder neu geschaffen wurden, welche von langer, mittellanger oder kurzer Dauer waren – und welche Aspekte entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen nahmen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei auch, welche Gruppen Träger bestimmter Informationen und Bilder über Deutschland waren.103 Die Analyse der „öffentlichen Meinung“ ist zwangsläufig eine Analyse der „veröffentlichten Meinung“.104 Es ist für das ausgewählte Thema mangels Quellen praktisch unmöglich, etwa Gespräche im Café, auf der Straße, in der Familie oder im beruflichen Umfeld zu analysieren. Die Presse ist vor diesem Hintergrund eine unersetzliche Quelle, weil die Journalisten mit den Menschen ihrer Gesellschaft direkt in Kontakt kommen konnten, aber sie ist nicht die „öffentliche Meinung“: „[…] Sie ist eines ihrer greifbarsten Echos und ein sehr einfaches Mittel, um zu versuchen, sie zu identifizieren, aber man darf die Presse nicht als exakte Wiedergabe der Reaktionen einer Bevölkerung betrachten, sondern nur als ein Hilfsmittel, das zu deren Analyse nützlich sein kann, eine Art Träger der öffentlichen Meinung, den man mit Fingerspitzengefühl aufarbeiten muss.“105 Die Ausdrucksmöglichkeiten der „kollektiven Vorstellungswelt“ sind zahlreich und vielfältig : Die Presse aller politischen Richtungen und für jedes Publikum; politische Reden und Debatten; wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen; schriftlich festgehaltene Reflexionen von zeitgenössischen Denkern und Intellektuellen; Literatur und Philosophie; Briefwechsel und Tagebücher; diplomatische, militärische, politische, öffentliche und kirchliche Archive; schriftlich festgehaltene öffentliche Reden von politischen und kulturellen Vereinigungen, Vereinen und Aktionsgruppen; soziale Rituale (Feste, Demonstrationen...); Plakate. Radiosendungen; Wochenschauen im Kino; Kunst, Theater und Lieder...106 Die Recherchemöglichkeiten scheinen endlos, und doch gibt es eine entscheidende Schwierigkeit: die Analysierbarkeit und der überaus unterschiedliche Informationswert der verschiedenen Quellentypen. An erster Stelle steht – abgesehen von Kunst und Literatur – bei den meisten Quellentypen das politische Ereignis, und erst dann offenbart sich die „kollektive Vorstellungswelt“.

102 Zitat in Übersetzung nach ebd., S. 106. 103 Die Perspektive des Beobachters spielt eine wichtige Rolle. Es existiert sogar eine gewisse Konkurrenz zwischen den Perspektiven unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Vgl. Link/Wülfing: Einleitung. In: Ebd.: Nationale Mythen, S. 11ff. 104 Helmut Berschin unterscheidet zwischen „öffentlicher Meinung“ und „veröffentlichter Meinung“. Berschin: Deutschland, S. 60. 105 Zitat in Übersetzung nach Laborie: Enjeux, S. 111. 106 Die vorliegende Studie gründet nur auf den in der Einleitung vorgestellten Quellen.

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So steht der Historiker vor zwei grundlegenden Schwierigkeiten: Bis zu welchem Grad ist er wirklich in der Lage, die Realität an sich und die durch die verschiedenen Beobachter wahrgenommene Realität zu erkennen? Und ist die Analyse und Unterscheidung zwischen beidem wissenschaftlich solide?107 Zusammenfassend soll der Versuch einer Analyse der „kollektiven Vorstellungswelt“ zu Heinrich Brüning von drei Leitlinien geprägt sein: von der Bedeutung der grenzüberschreitenden Perzeption für die Politik, vor allem die internationale Politik; vom Mechanismus der selektiven Wahrnehmung der Realität eines Anderen und seiner Übersetzung in politische Bilder im Spannungsfeld von Selbstbild und Fremdbild; von der Verbindung zwischen individuellen Standpunkten und Einschätzungen einer Situation, sowie von Bildern und politischen Entscheidungen.108 Eine genaue und rigorose Analyse ist dafür unabdingbar: Der historische Kontext, in dem sich die kollektive Vorstellungswelt formt, muss genau dargestellt werden; der Diskurs der öffentlichen Meinung, der bestimmte Ideologien kaschiert, muss entziffert werden. Die Geschichte der „kollektiven Vorstellungsgeschichte“ ist eine Problemgeschichte.109 Wenn man die zahlreichen Verknüpfungen zwischen der kollektiven Vorstellungswelt und der internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit betrachtet,110 wird man sich des erkennbaren Zusammenspiels dermaßen bewusst, dass man die „kollektive Vorstellungswelt“ ohne Weiteres als einen „autre lieu du politique“ – als einen weiteren politischen Schauplatz – bezeichnen darf.111

107 Niedhart stellt diese Fragen. Vgl. Niedhart: Perzeption, S. 46; Und auch Lucian Boia beschäftigen diese Fragen: „Où est la frontière entre la réalité et l’imaginaire?“ Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 15. 108 Vgl. Niedhart/ Perzeption, S. 39. 109 Vgl. Laborie: Enjeux, S. 110ff. Ruth Amossy schreibt: „Le stéréotype est une construction de lecture ». „ Il n’existe pas en soi, il n’est pas visible, il faut le reconstruire à partir d’un travail de déchiffrage […]. Le lecteur doit sélectionner, interpréter les termes qui lui semblent pertinents », schlussfolgert Agnès Tachin. Vgl. Amossy/ Idées réçues, S. 21; Tachin: Grande– Bretagne, S. 10. 110 Die Tagung zum Thema Außenpolitik und öffentliche Meinung [Veranstalter siehe folgende Literaturangabe] gibt einen Eindruck davon, wie sehr bestimmte Faktoren der „kollektiven Vorstellungswelt“ die Außenpolitik eines Landes beeinflussen können. Vgl. Ecole française de Rome: Opinion publique, Bd. II. 111 Diese Schlussfolgerung ist Ergebnis der Diskussionen innerhalb der CNRS– Forschungsgruppe „Les autres lieux du politique. Europe, XIXe siècle–XXIe siècle“ des Institut d’Histoire Contemporaine der Université de Bourgogne in Dijon.

II DIE FRANZÖSISCHEN DEUTSCHLANDBILDER ZU BEGINN DER 1930ER JAHRE: FRÜCHTE EINES KULTURELLEN ERBES 1. Die enge Beziehung zwischen Literatur, Kultur und Politik in Frankreich Literatur und Politik sind in Frankreich seit langem eng verbunden. Während in Deutschland die literarisch-künstlerische Ausbildung oder Begabung eines Politikers und Staatsmannes eher als exotisch, oder sogar als lächerlich oder unpassend beurteilt würde, wird die Literatur in Frankreich als die einzig adäquate Ausdrucksform wahrgenommen, die der eigenen Nation gerecht wird.1 „Darum darf und soll hier der Politiker auf den literarischen Kollektivbesitz der Nation zurückgreifen; ja, er muss sich auch literarisch ausweisen, gleichsam um sich durch seine literarische Tätigkeit eine zusätzliche Legitimation zu verschaffen.“2 Dominique de Villepin ist ein heutiges Beispiel für einen Literaturkenner auf der politischen Bühne. In den 1930er Jahren kamen zu den zahlreichen Politikern dieses Schlags andere hinzu, die gleichzeitig Dichter und Schriftsteller waren und beide Berufe ausüben konnten, ohne das Risiko einzugehen, von ihren Kollegen und den Wählern nicht mehr ernst genommen zu werden.3 Im Gegenteil, sie profitierten und profitieren noch heute von einem besonderen politischen, kulturellen und nationalen Prestige: so zum Beispiel der katholische Diplomat und überzeugte Anhänger der deutsch-französischen Aussöhnung Paul Claudel (1868−1955); der „Normalien“4 und Liebhaber des romantischen Deutschlands Jean Giraudoux (1882−1944); oder Aristide Briands Kabinettdirektor (1925−1932) und Generalsekretär des Quai d’Orsay (1934-1940) Saint-John Perse5 [Alexis Léger] (1887−1940). Sie standen in der Tradition kulturschaffender Politiker wie François-René Vicomte de Chateaubriand (1768−1848) oder dem „poète engagé“ Alphonse de Lamartine (1790−1869) und bereiteten den Boden für Nachfolger wie André Malraux (1901−1976), den späteren Informationsminister unter Charles de

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Die literarische Durchdringung der französischen Gesellschaft ist das Ergebnis einer frühen nationalen Einheit des Landes und einem verbindenden Nationalgefühl und einer starken nationalen Identität, die dadurch geschaffen wurde. Ein weiterer Grund ist die Breitenwirkung und kulturelle Schaffenskraft der französischen Hauptstadt als kulturelles Zentrum der Intellektuellen, sowie der Aufstieg eines (kulturnahen) Bürgertums in der französischen Gesellschaft, als Gegengewicht zur feudalen Macht. Vgl. Jurt: Schriftsteller und Politik, S. 135. Ebd., S. 133. Ebd. Absolvent der Ecole Normale Supérieure. Alexis Léger gehörte zu der französischen Delegation, die Aristide Briand und Pierre Laval während ihres Belinbesuches im September 1931 begleitete. Cointet geht davon aus, dass Pierre Laval über die schriftstellerischen Aktivitäten seines Delegationsmitglieds nicht informiert war. Vgl. Cointet: Pierre Laval, S. 106.

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Gaulle und engagierten Kämpfer gegen den Faschismus in den 1930er Jahren (Schriftstellerkongress in Moskau, Präsident des Internationalen Befreiungskomitees für Dimitroff, Rede in Berlin, Präsidiumsmitglied der LICA).6 Frankreich war und ist bis zu einem gewissen Grade noch immer eine „République des Lettres“.7 Die größte Gruppe der politischen Denker aber bestand aus engagierten Schriftstellern, von Voltaire bis Jean-Paul Sartre, jenen Intellektuellen, die bis heute eine Besonderheit Frankreichs sind. Der Anfang der 1930er Jahre war in dieser Hinsicht einen wichtiger Wendepunkt: Eine neue, überaus politisch geprägte Schriftstellergeneration betrat die gesellschaftliche Bühne, um dort beispiellos für ihre demokratischen, monarchistischen, faschistischen oder kommunistischen Überzeugungen zu kämpfen, genauso wie es ihre Vorgänger noch für die Kunst, den Surrealismus, Dadaismus oder Kubismus getan hatten. Diese neue Autorengeneration war sogar bereit, zugunsten der Politik auf ihren autonomen kreativen Status zu verzichten.8 Die Verbindung zwischen der Welt der Literaten und der Politiker wurde noch enger und hinterließ gleichzeitig Spuren in der praktischen Politik und einer politisierten Literatur. Mehr als je zuvor hatten die literarischen Produktionen der Zeit eine vorausschauende Funktion – die Schriftsteller dechiffrierten schon die Anzeichen einer sich verdüsternden Zukunft und zerstörten die Illusionen einer Gesellschaft, die sich noch in der Sicherheit einer scheinbaren politischen und wirtschaftlichen Sicherheit wiegte. Sie griffen zukünftige Strömungen der aktuellen öffentlichen Meinung in der kollektiven Vorstellungswelt voraus. Viele dieser politisch aktiven Schriftsteller schrieben auch für die Presse und fanden dort ein Forum für ihre Sicht auf die französische, deutsche und internationale Politik. Der rasante Aufschwung des Faschismus und des Nationalsozialismus, für oder gegen den sie sich stark machten, erklärt, warum so viele Autoren Seite an Seite mit den Politikern kämpften. Auch wenn sich der richtige intellektuelle Wendepunkt erst im August 1932 anlässlich des Internationalen AntiKriegskongresses in Amsterdam vollzog, stellten sich schon vorher immer mehr Schriftsteller in den Dienst des Faschismus oder, was einen Teil der Katholiken und die Kommunisten betrifft, in den Dienst des Anti-Faschismus.9 Der spätere Front Populaire hat sehr von dieser literarischen Bewegung profitiert, weil sie zu

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Die Informationen über die Schriftsteller wurden folgendem Werk entnommen: Julliard/Winock: Dictionnaire des intellectuels. Grimm: Französische Literaturgeschichte, S. 309. Ein anderes Beispiel für die enge Bindung zwischen Politik und Literatur in der Zwischenkriegszeit ist die Académie Française – offizieller Repräsentant der französischen Kultur und direkt an den Staat gebunden – die als wichtigste vermittelnde Instanz zwischen Politik und Literatur beurteilt wird. Nach Ansicht Gisèle Sapiros hat die Académie Française seit dem 19. Jahrhundert extraliterarische Interessen erfüllt, wie der Erhaltung der moralischen Ordnung oder auch die Bewahrung der sozialen Ordnung, sobald diese von außen bedroht war. Wie François Mauriac schreibt sie der Académie Française eine politische Rolle bei der Vorbereitung des Vichy–Regimes zu. Vgl. Sapiro: Guerre des écrivains, S. 250ff. Vgl. Jurt: Schriftsteller und Politik, S. 139. Vgl. Jurt: Schriftsteller und Politik, S. 146.

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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dem Klima beitrug, das einen politischen Wechsel ermöglichte.10 Aber auch auf der Ebene der internationalen Politik und besonders was die deutschfranzösischen Beziehungen betrifft, gestalteten die intellektuellen Publikationen in Form von Presseartikeln, Prosa, Poesie, Essais oder politischen Manifesten das Denken der damaligen Politiker. Jede politische Bewegung hatte damals ihre literarischen Vordenker: Louis Aragon (1897−1982), der mit den Surrealisten brach, um 1932 ein engagiertes Mitglied des PCF zu werden; André Gide (1869−1951), der im Umfeld der Nouvelle Revue Française mit dem Schriftsteller Ernst Robert Curtius in den 1920er Jahren für einen deutsch-französischen Dialog eintrat und in den Jahren 1931 und 1932 zum Wegbegleiter des PCF wurde, bis er sich 1937 definitiv vom Kommunismus lossagte; André Malraux, Autor des Buches „La condition humaine“, der ebenfalls ein Wegbegleiter der Antifaschisten wurde; der Katholik und Royalist Georges Bernanos (1888−1948), der, nachdem er sich lange Jahre für die Action Française engagiert hatte, sich gegen die Nationalsozialisten stark machte und zum Fürsprecher der Armen und Missachteten entwickelte;11 und schließlich Pierre Drieu La Rochelle (1893−1945), Kopf des intellektuellen Faschismus und Freund Otto Abetz’, der im Bewusstsein, einen politischen Irrweg eingeschlagen zu haben, am Ende der Vichy-Zeit seinen dritten Selbstmordversuch nicht überlebte... – die Liste der Autoren, die hier genannt werden könnten, ist noch lange nicht vollständig.12 Zahlreich waren auch die Schriftsteller in der Zwischenkriegszeit, die von Deutschland fasziniert oder abgestoßen waren und versuchten, das ewige „deutsche Rätsel“13 zu verstehen: Marcel Proust, Jules Romains und viele weniger bekannte Autoren wie Paul Morand, Alexandre Arnoux, Pierre Benoît, Pierre Mac Orlan, Jean Mistler, Pierre Hamp, Jean Cassou und André Chamson.14 Paul Achard, Jean Giradoux, Philippe Soupault und Pierre Mac Orlan haben sich sogar zwischen 1930 und 1933 längere Zeit in Deutschland aufgehalten.15

10 Ebd. 11 Joseph Jurt hat die Beziehung studiert, die Bernanos zu Deutschland unterhielt. Während seiner Kindheit in Lothringen lernte er die deutsche Sprache und kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er sprach immer mit Respekt von Deutschland, lehnte aber den von Briand und Stresemann propagierten Pazifismus ab, den er als opportunistisch bezeichnete. Aus diesem Grund engagierte er sich auch gegen die von Henri Barbusse und Erich–Maria Remarque propagierten Deutschland– und Frankreichbilder. Vgl. Jurt: Bernanos, S. 701–714. 12 Die Informationen über die einzelnen Schriftsteller sind folgenden Werken entnommen: Sapiro: Guerre des écrivains; Julliard/Winock: Dictionnaire des intellectuels. 13 Das Deutschland der Zwischenkriegszeit wird regelmäßig als ein Rätsel wahrgenommen. Das Magazin VU widmete dem deutschen Rätsel im Jahr 1932 eine ganze Sonderausgabe. Vgl. VU, April 1932, Nr. 213: „ L’Enigme Allemande », Numéro spécial. 14 Georges Pistorius hat zu diesen Autoren und ihren Deutschlandbildern eine umfangreiche Studie verfasst. Diese Schriftsteller schrieben über Deutschland, ohne sich ein Beispiel an der Autorengeneration des Ersten Weltkriegs zu nehmen, die in Deutschland ausschließlich die Verkörperung des Bösen sah. Vgl. Pistorius: Image de l’Allemagne. 15 Vgl. Kapitel II der vorliegenden Studie und den Artikel von Reichel: „A Berlin! A Berlin!“.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

Die französischen Intellektuellen und Staatsmänner haben ihr Deutschlandbild nicht ex nihilo geschaffen; sie waren auch durch die Literatur und die Kultur, in der und mit der sie aufgewachsen waren, geprägt. Ihre Deutschlandbilder hatten sie auf zweierlei Weise geerbt: zum einen durch die zentralisierte Schulbildung in Frankreich, die der gesamten Gesellschaft bestimmte Sichtweisen auf das Nachbarland in den Fächern Geschichte, Geographie, Französisch und Fremdsprachen beigebracht hatte; zum andern durch die prestigeträchtige kulturelle Bildung in den Pariser Grandes Ecoles, zu deren Absolventen ein immer größer werdender Teil der Intellektuellen zählte.16 Die Idee der „Nation“, ein Erbe der Französischen Revolution, die vor allem durch die Literatur an künftige Generationen weitergegeben wurde, fand erst im 19. Jahrhundert ihren Eingang in die Schul- und Studienlehrpläne, als der Pädagoge Ernest Lavisse (1842−1922) sie systematisch in der Schul- und Hochschulausbildung etablierte.17 Die patriotischen oder sogar nationalistischen Gefühle, auch die französischen republikanischen und demokratischen Werte wurden häufig als ein Gegenmodell zu Deutschland gelehrt.18 In einem zentralisierten Frankreich, in dem ein literarischer Kanon zum Zweck moralischer Wiederaufrüstung entwickelt wurde,19 wuchsen Generationen von Schülern und Studenten mit einer latenten Antipathie gegen Deutschland auf, die sogar zu einer identifikationsstiftenden Säule der III. Republik wurde. Diese Antipathie gegen die Deutschen war dann ein Antrieb, das Nachbarland besser kennen und die Sprache dieses unheim16 In der Zwischenkriegszeit steigt die Anzahl von Lehrern im Parlament (vor allem bei den Linken), aber auch immer mehr „Normaliens“ (Bezeichung für die Absolventen der Elitehochschule ENS) arbeiten im Parlament, vor allem bei den Linken, aber auch bei den Rechten und Rechtsextremisten. Normaliens wie Paul Painlevé, Léon Blum, Edouard Herriot und André François–Ponçet bildeten einen politischen Mikrokomos, der eng mit dem universitären, intellektuellen Milieu und dem Literaturbetrieb verknüpft war (Académie française), die selbst durch Generationen von Normaliens geprägt waren. Vgl. Sirinelli: Génération intellectuelle, S. 128ff. Was die Geschichte der Ausbildung an der Ecole Normale Supérieur und die Geschichte der „République de lettres“ betrifft, vgl.Compagnon: Troisième République; Gerbod: Enseignants; Smith: Ecole Normale Supérieure. In diesem Zusammenhang muss auch auf eine Magisterarbeit hingewiesen werden, die die Verbindungen zwischen Normaliens und der Politik näher beleuchtet, vgl. Baudant: Ecole Normale Supérieure. Aber auch die Politiker, die an anderen Universitäten studiert hatten, waren von zentralisierten Lehrplänen geprägt, die ihnen das kulturelle Erbe überlieferter Deutschlandbilder vermittelten. 17 Ernest Lavisse war eine zentrale Figur für die intellektuelle und politische Elite der Dritten Republik. Zum Lern– und Lehrstoff in Frankreich und der Idee der Nation, vgl. Albertini: Ecole en France; Birnbaum: France aux Français; Engelmayer: Deutschlandideologie; Jeismann: Vaterland der Feinde; Terral: Ecole de la République; Winock: Antisémitisme. 18 Jaques Gandoulny hat die Reaktionen auf die Niederlage innerhalb der Schulsysteme in Deutschland und Frankreich nach 1870 und 1918 verglichen und festgestellt, dass die Niederlage in beiden Fällen zu einer kulturellen Krise und einer Infragestellung der eigenen Nation geführt hat. In beiden Ländern wurden die Gefahren analysiert, die die eigene Nation bedrohten und eine Debatte über eine notwendige Reform der Lerninhalte, vor allem an den Grund– und Volksschulen geführt. Vgl. Gandoulny: Réponse à la défaite, S. 145. 19 Vgl. Christadler: Funktion kollektiver Mythen, S. 199f.

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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lichen Gegners erlernen zu wollen.20 In direkter Folge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 wählten 80 Prozent der französischen Schüler Deutsch als erste Fremdsprache.21 Noch im Jahr 1913 zogen es 53,2 Prozent der Schüler vor, Deutsch zu lernen, während sich nur 40,4 Prozent für Englisch entschieden; an der renommierten Ecole Polytechnique und in Saint-Cyr war Deutsch noch immer Pflichtfach für die Aufnahmeprüfung.22 Die Überlegenheit der Deutschen beschäftigte die Franzosen so sehr, dass sie sich in besonderem Maße für die deutsche Pädagogik und deutsche Lehrmethoden interessierten23 – mit dem Ziel diese durch eigene Regeln zu vervollkommnen und zu übertreffen und sie in den Dienst einer geschlossenen französischen Nation und ihres durch Jules Ferry systematisch verbreiteten kulturellen Erbes zu stellen.24 Die Sprache des Feindes sollte den Kindern Frankreichs beigebracht werden, damit diese besser die deutsche Hegemonie überwinden und den deutschen Feind besiegen könnten: So lautete der Auftrag, den der französische Staat an die Professoren und Lehrer richtete.25 Und als dieser Appell an den französischen Patriotismus nicht mehr verhindern konnte, dass in der Zwischenkriegszeit die Zahl der Deutschschüler sank,26 versuchten die französischen Politiker mit anderen Maßnahmen, das Interesse für den Deutschunterricht wieder zu anzuregen und die Studien über Deutschland fortzuführen.27 Diese französische Sicht auf Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts war zwar dominant, aber nicht die einzige Art, das Nachbarland zu betrachten. Das französische Deutschlandbild gab und gibt es auch heute nicht – es war vielmehr immer ein Mosaik individueller, subjektiver und sehr häufig widersprüchlicher Bilder, die von zwei Faktoren abhingen und abhängen: vom Beobachter und vom

20 „Qu’est–ce qu’étudier une langue? C’est étudier une nation », schrieb Charles Schweitzer, agrégé (Studienrat) in Deutsch und Urgroßvater von Jean–Paul Sartre. Zitiert von Mombert: Enseignement, S. 161. 21 Vgl. Narcy: Enseignement, S. 68; Zur Geschichte des Unterrichts in den Fächern Fremdsprachen, Geschichte und Geographie an französischen Schulen, vgl. Henry: Siècle de leçons d’histoire; Garci/Leduc: Enseignement de l’histoire; Lucas: Enseigner l’histoire; Moniot: Des manuels à la mémoire; Prost: histoire générale de l’enseignement; Cents ans d’enseignement de l’histoire 1881–1991. Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine (Hors Série) 1984. 22 Vgl. Gandoulny: Réponse à la défaite, S. 146. 23 Hier muss auf die vielen von Ferdinand Buisson verfassten Artikel im Dictionnaire de pédagogie et d’instruction primaire (3 Bände) hingewiesen werden, die sich mit deutschen Pädagogen beschäftigen. Vgl. Nora: Dictionnaire de pédagogie, S. 352ff. 24 Gandoulny: Réponse à la défaite, S. 153ff. 25 Das Erlernen einer Fremdsprache garantiert weder eine Annäherung zwischen zwei Völkern noch ein besseres Verständnis oder eine bessere Kenntnis des anderen. Die Schwierigkeit – auf sprachlicher Ebene – ,das Denksystem des anderen zu erfassen, bleibt ein Hindernis. Vgl. Koch: Schwierige Dialoge, S. 187. 26 Vgl. Mombert: Enseignement, S. 167. 27 Es handelte sich hierbei vor allem um verwaltungstechnische Maßnahmen, mit denen Deutsch als Pflichtfach für die Aufnahmeprüfung an der Ecole Polytechnique und der Ecole de Saint–Cyr wieder eingeführt wurde und mit denen auch das Bewertungssystem für das Abitur verändert wurden. Vgl.ebd., S. 168.

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beobachteten Objekt.28 Mehrere verschiedene Bilder konnten durchaus gleichzeitig bestehen oder sich sogar gegenseitig ersetzen –, aber eine vollständige Aufzählung dieser Bilder ist weder möglich noch im Rahmen dieser Studie erforderlich. Stattdessen sollen gewisse Konstanten in den Deutschlandbildern aufgezeigt und sozusagen ein „Fahndungsbild“ Deutschlands gezeichnet werden, wie es Anfang der 1930er Jahre in der kollektiven Vorstellungswelt der Franzosen bestand. Die Arbeiten der Romanisten Wolfgang Leiner, Helmut Berschin, Marielouise Christadler, Hilde Hess, Peter Brockmeier, Hermann Wetzel, Günter Trautmann, Georges Pistorius und vieler anderer machen das möglich.29 Um die Urteile der Franzosen in der Zwischenkriegszeit über die Deutschen verstehen zu können, ist eine kurze Rückschau auf die französische Literatur und die französische kollektive Vorstellungswelt im Wandel der Jahrhunderte nützlich. Das Deutschlandbild in der französischen Literatur war keineswegs nur ein literarisches Spiel, sondern hatte vielmehr politische Bedeutung. Hinter Artikeln in der französischen Presse Anfang der 1930er Jahre wie „La Psychologie du peuple allemand“30 in der Revue de Deux Mondes oder „Une entente franco-allemande est-elle possible?“31 des katholischen Abgeordneten Ernest Pezet verbirgt sich eine kollektive Vorstellungswelt, die tief in den vorausgegangenen Jahrhunderten wurzelt. 2. Geschichte und Herkunft der französischen Deutschlandbilder bis 1930 Die Schullektüre von Tacitus oder Ronsard vermittelte den Franzosen das Bild von den physisch und militärisch herausragenden Qualitäten32 der Deutschen33, die dem einmal Unternommenen treu blieben – sie förderte aber auch eine gewisse Verachtung für ihre angeblich ungehobelte Seite, für ihre Launenhaftigkeit und Trunksucht. Das Klima, die strenge Kälte und die raue Natur im Norden dienten den Franzosen seit der Antike als Erklärung für den deutschen Charakter und prä28 Diese Grundidee des Perspekivismus wurde von Nietzsche vertreten: „Perspektivimus bedeutet, dass wir die Wirklichkeit davon ausgehend auffassen, wer wir sind [...]. Unsere Perspektive entscheidet unsere Wirklichkeitsauffassung.“ Es existiert eine regelrechte Perspektivenkonkurrenz zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Grupppen. Vgl. Link/Wülfing: Einleitung. In: Ebd.: Nationale Mythen, S. 10ff. 29 Vgl. Berschin: Deutchland; Brockmeier/Wetzel: Französische Literatur, Bd. 3; Christadler: Deutschland–Frankreich; Hess: Deutschlandbild; Leiner: Deutschlandbild; Pistorius: Image de l’Allemagne; Traumann: Die hässlichen Deutschen; Krapoth: France–Allemagne. 30 Revue de Deux Mondes, 15/06/1932, Rivaud: Psychologie du peuple allemand, S. 755–772. 31 La Revue franco–allemande, Mai 1932, Pezet: Une entente franco–allemande est–elle possible ? In: FNSP, Archives d’Ernest Pezet, PE 8 Notes de voyages, Dossier I: Allemagne 1922–1952. 32 Die positiven Bilder von den Deutschen als gute Soldaten und Militärstrategen ziehen sich bis ins 16. Jahrhundert durch die französische Literatur. 33 Die Bezeichnung „Deutsche“ wird in dem Wissen verwendet, dass er nicht für alle beschriebenen Epochen historisch korrekt ist.

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gen ihre kollektive Vorstellungswelt bis heute. Ein komisches Beispiel sind die Asterix-Bände von René Goscinny und Albert Uderzo. Trotzdem sind die französischen Deutschlandbilder nicht immer gleich geblieben, sondern haben sich infolge der politischen und kulturellen Veränderungen fortentwickelt – verursacht durch die allmähliche Spaltung des Ost- und Westreiches, die einst im Karolingerreich vereint waren, bis zur Reformation Luthers auf der einen und zum erneuerten Katholizismus auf der anderen Seite.34 In der Zeit von Montaigne bis zur Französischen Revolution galt „Deutschland“ schlicht als Transitland, das man auf den Reisen nach Österreich, Italien und Russland durchquerte und aus französischer Sicht wegen eines typischen zivilisatorischen Phänomens bewunderte: der verbreiteten Urbanisierung.35 Michel de Montaigne (1533−1592), der durch die politischen und religiösen Wirren in seinem eigenen Land geprägt war, begeisterte sich während eines vierwöchigen Aufenthalts in mehreren süddeutschen Städten für die Sauberkeit, den Komfort, das Recht und die Sicherheit, die diese Orte nach seiner Meinung auszeichneten.36 Auch er erwähnte die militärischen Tugenden der Deutschen, wies aber auch darauf hin, dass sie großspurig, cholerisch und häufig betrunken seien. Seine allerdings weitestgehend freundlichen Beschreibungen der Deutschen konnten seine Landsleute erst seit dem 18. Jahrhundert beeinflussen, weil sein Reisetagebuch erst 1774 entdeckt und veröffentlicht wurde – fast 200 Jahre nachdem Montaigne seine Eindrücke niedergeschrieben hatte. Montaignes Zeitgenossen und Nachfolger, Jean Barclay, Jean-Baptiste Chassignet, Sieur de Prechac, Théophile de Viau, Charles Sorel und Charles Patin – um nur einige zu nennen – beschrieben die Deutschen hingegen als ein Volk, das nur für schwere Arbeit gemacht sei und nicht für Arbeiten des Geistes, weil es titelverliebt, trunksüchtig, plump, ungehobelt, militaristisch,37 geschmacklos und ohne jedes „savoir vivre“ sei.38 Dass es den Deutschen aus Sicht der Franzosen des 17. und 18. Jahrhunderts an Geist und Humor fehlte und dass sie darüber hinaus als streitsüchtig galten, spiegelt sich in französischen Redewendungen jener Zeit wider: „ein deutscher Streit“ (Bedeutung: ein grundloser Streit); „jemanden für einen Deutschen halten“ (Bedeutung: Jemanden für einen Dummkopf halten); „das ist Hochdeutsch für ihn“39 (Bedeu-

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Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 25 und S. 31f. Vgl. Tiesset: Voyage, S. 10. Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 33ff. Im Laufe der Jahrhunderte, besonders aber seit Friedrich II., hat sich die dunkle Seite des guten deutschen Soldaten, der „Militarist“ in der französischen kollektiven Vorstellungswelt durchgesetzt, auch wenn eine gewisse Bewunderung für die militärischen und strategischen Tugenden des deutschen Volkes weiter damit einherging. 38 Cf. Leiner: Deutschlandbild, S. 42ff. 39 Bouhours zum Beispiel schrieb aufgrund der kehligen Aussprache der deutschen Sprache: „Les Allemands ont une langue rude et grossière ». Zitiert von Leiner: Deutschlandbild, S. 51. Voltaire fügte hinzu: „L’Allemand est pour les chevaux et les soldats“. Zitiert von ebd., S. 69.

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tung: Das ist unverständlich) oder „Trunksüchtig wie ein Deutscher“.40 Während Frankreich unter Ludwig XIV. eine kulturelle Blüte erlebte, lagen die zahlreichen deutschen Kleinstaaten in ständiger Rivalität untereinander, was den Deutschen den Ruf bescherte, ein streitsüchtiges Volk zu sein. Aber alle diese negativen Eigenschaften konnten je nach Situation auch als Qualitäten wahrgenommen werden: Die Deutschen galten als arbeitsam und ehrlich, auch als ernsthafte, fleißige Wissenssammler.41 Dieses Deutschlandbild hellte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Voltaire, der sich für verschiedene diplomatische Missionen mehrfach in Deutschland aufhielt (1740, 1743) und drei Jahre lang als Gast und Freund Friedrichs des Großen in Berlin lebte (1750−1753), beschrieb Deutschland als Paradies für Philosophen und nannte es ein gelobtes Land.42 Mit der Zeit kam ihm allerdings immer mehr von dieser Sympathie abhanden, zum einen weil er durch die Meinung des militärbegeisterten Preußen Friedrich II. über sein eigenes Land beeinflusst wurde, zum andern weil ihn der König enttäuscht hatte: Deutschland erschien ihn nunmehr als ein kulturell unterentwickeltes und militaristisches Land. Seine ironische, aber nicht karikierende Sicht auf Deutschland,43 die einen Eindruck davon vermittelt, wie oft subjektive Gefühle bei der Beurteilung des Anderen eine Rolle spielen, wurde zum Modell der französischen Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. 44 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich die hinsichtlich Deutschland tendenziell negative französische Vorstellungswelt dank der französischen Übersetzungen der Werke Lessings, Wielands, Goethes, Schillers, Klopstocks, Campes und Pestalozzis, die starkes Interesse für die deutsche Literatur und die deutsche Sprache weckten.45 Man wandte sich vom Geist, dem „bel esprit“ zur Natur oder dem Natürlichen hin, das die Deutschen verkörperten. Den Anstoß gaben hier die französischen Emigranten in Deutschland wie Charles de Villiers oder Benjamin Constant, die vor der Französischen Revolution geflüchtet waren.46 Begeistert von der „Natürlichkeit“ und der deutschen „Tugend“, der Philosophie Kants und dem deutschen Idealismus, bereiteten sie den Weg für Madame de Staël, die dieses idealistische Bild Deutschlands als Asyl der Philosophie und der Natürlichkeit mit ihrem Buch De l’Allemagne festigen sollte. Obgleich ihr Buch nicht nur ein Loblied auf die Deutschen war und man in ihm äußerst kritische Passagen über Preußen, die „deutsche Langsamkeit“ und die „deutsche Schlaffheit“ finden konnte, wurde es zum Gegenmodell der französischen Aufklä-

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Berschin: Deutschland, S. 52. Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 53ff. Ebd., S. 64f. Zu dieser Zeit veranlassten die deutschen Sitten und Gebräuche französische Beobachter zur Ironie, wurden aber noch nicht in Karikaturen festgehalten. Vgl. Tiesset: Voyage, S. 10. 44 Leiner: Deutschlandbild, S. 75. 45 Als Hommage an ihren geistvollen Stil wurden Klopstock, Schiller, Campe et Pestalozzi sogar zu französischen Staatsbürgern erklärt. Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 80. 46 Ebd., S. 82ff.

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rung und der Epoche Napoleons.47 Madame de Staël schuf das romantische Bild des Deutschen, der philosophischer sei als der Italiener und poetischer als der Franzose; sie sah in den Deutschen alle Tugenden, die sie sich für die Franzosen wünschte: Der Deutsche war für sie der gute Wilde – im Stile des „Emile“ von Jean-Jacques Rousseau – mit reinen Gefühlen, einer unbeschadeten Seele und gesegnet mit einer Ur-Unschuld, auf die man fest vertrauen konnte.48 Im Jahr 1810 ließ Napoleon Bonaparte aufgrund der Kritik an seinem Regime und der Idealisierung der Deutschen die erste Ausgabe des Buches von Madame de Staël einstampfen.49 Ihr Deutschlandbild wurde dennoch zu einem Mythos, der die französische Vorstellungswelt bis über die 1930er Jahre hinaus beherrschte. Ihr Buch war die „Deutschlandbibel“50 einer wohlhabenden und intellektuellen Elite und löste Anfang des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Deutschlandtourismus aus, der bis 1870/71 nichts von seiner Intensität verlor:51 Gérard de Nerval (1807−1854), der in Deutschland die „Mutter“ aller sah; Jules Michel, der die Naivität, die Poesie und die Metaphysik als typisch deutsche Eigenschaften pries; Ernest Renan (1823−1892), der Deutschland „wie einen Tempel“ betrat; Edgar Quinet, der Deutschland als das „Land der Seele“ verklärte; Victor Hugo, der sagte, dass er, wenn er nicht schon Franzose wäre, sich gewünscht hätte, ein Deutscher zu werden; Gabriel Monod, der Deutschland als das zweite Vaterland aller Denker bezeichnete; Hippolyte Taine, der voraussagte, dass Deutschland alle Denker und Intellektuellen mindestens ein halbes Jahrhundert lang beschäftigen werde; François-René de Chateaubriand, der als Patriot überall in Deutschland Anzeichen französischer Größe sah; der Protestant François-Pierre-Guillaume Guizot, der sich positiv voreingenommen und auf religiöser Ebene für seine Nachbarn interessierte; Alexandre Dumas, der das Rheinland verehrte...52. In all diesen Reiseberichten findet man Bilder, die von ihren Autoren in Deutschland selbst geschaffen oder bestätigt wurden, aber auch solche, die den Werken des Tacitus, Voltaires und vor allem Madame de Staëls entnommen waren. Unter ihnen reihen sich ganz heterogen Anspielungen auf die Disziplin, den Gehorsam, die Ungeschicklichkeit, den Militarismus, die Langsamkeit und den wissenschaftlichen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Fortschritt der Deutschen aneinander, aber auch Bemerkungen über die kulturelle Unterentwicklung der Deutschen, aber auch die Begeisterung für die deutsche Spiritualität und Musik, für die Märchen und die Legenden im Rheinland.53 Allerdings deutet sich 47 48 49 50

Ebd., S. 88ff. Vgl. Tiesset: Voyage, S. 18. Vgl. Gödde–Baumanns: Unrast und Festigkeit, S. 27. Obwohl dieses Buch einer Elite vorbehalten war, fanden die darin propagierten Deutschlandbilder ihren Weg in die allgemeine kollektive Vorstellungswelt. Vgl. Mieck: Leipzig/Kassel, S. 130–138. 51 Bis 1870 wurde das Buch von Madame de Staël 20 Mal neu aufgelegt. Vgl. Berschin: Deutschland, S. 40. 52 Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 98ff. 53 Ebd., . 105ff.

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auch schon die Angst vor einem revolutionären und vereinten Deutschland an sowie ein gewisses Unbehagen angesichts eines wachsenden Nationalismus und eines sich abzeichnenden Wandels der Beziehungen zwischen den europäischen Mächten54 – kaum dass die Franzosen ihr zweites intellektuelles Vaterland gefunden hatten, beschlich sie auch schon das Gefühl, es wieder zu verlieren. Während der Rhein-Krise55 im Jahr 1840 entdeckten sie ein Deutschland, dass sich selbst „rätselhaft“ war und aus französischer Sicht nicht aufhörte, sich die Frage zu stellen „Was ist Deutschland?“ Die Angst der Franzosen vor einer neuen Gefahr, vor etwas absolut Neuem und Unbekanntem war erwacht.56 Nach und nach zeichnete sich das Bild eines aggressiven und militaristischen Deutschlands ab, das 1870/71 schließlich definitiv die französische kollektive Vorstellungswelt prägte. Erste französische Stimmen, die ihre Landsleute warnten und das idealistische Deutschlandbild Madame de Staëls kritisierten, waren schon seit dem Erscheinen ihres Buches De l’Allemagne zu hören: Der Deutsche Heinrich Heine war der berühmteste Kritiker dieses idealistischen Deutschlandbildes; Edgar Quinet und die Revue des Deux Mondes (eine Revue, die auch noch in den 1930er Jahren existierte) teilten die Schwärmerei für Deutschland nicht und ihre Kritik bekam fast prophetischen Charakter;57 Stendhal nannte Deutschland ein politisch zurückgebliebenes Land58, und auf politischer Ebene wetterte Napoleon schon 1805 gegen die Deutschen.59 1886 überlegte Ernest Renan schließlich, ob die revolutionäre, aggressive Politik der Deutschen sowie ihr Militarismus nicht mit einem intellektuellen Niedergang einherging, gleichzeitig hoffte er aber weiter, dass das reformierte Christentum in Deutschland zu einer neuen christlichen Blüte in Frankreich beitragen könnte – ein Wunsch, den er mit vielen anderen Franzosen teilte.60 Der Krieg von 1870/71 zerstörte nachhaltig die Hoffnungen und das Vertrauen, das die Franzosen in ihre deutschen Nachbarn gesetzt hatten, und teilte den Deutschen die Rolle der Feinde zu, die bis dahin von den Engländern besetzt war.61 Diese beiden grundlegenden und gegensätzlichen Deutschlandbilder, die Madame de Staëls Idylle und der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 geschaffen hatten, prägten die französische Vorstellungswelt auf lange Zeit. Das Trauma, das der Krieg 1870/71 und die Annexion Elsass-Lothringens ausgelöst hatten, war umso größer, als das positive Deutschlandbild Madame de Staëls fest im französischen Denken verankert war. Die Franzosen waren nach 1870/71 tief von „ihrem“ Deutschland enttäuscht, just zu dem Zeitpunkt, als der deutsche Nationalstaat geschaffen wurde und die rhetorische Opposition von Nord und Süd 54 Ebd., S. 119–123. 55 Die Rheinkrise entstand infolge der französischen Ansprüche auf die „natürliche Grenze“ des Rheins, auf die deutsche Journalisten und Autoren mit Protest reagierten. 56 Vgl. Tiesset: Voyage, S. 18f. 57 Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 124ff. 58 Ebd., S. 163. 59 Ebd., S. 158. 60 Ebd., S. 137f. 61 Vgl. Werner: France et Allemagne, S; 29.

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wieder auftauchte, die schon bei Tacitus zu lesen war: Der Militarismus sei eine Eigenschaft Norddeutschlands, des Preußens, das von Friedrich II. geprägt und mit einer starken, dominanten und expansiv operierenden Armee ausgestattet war. Es mutet fast wie eine Ironie der Geschichte an, dass die Franzosen schon vergessen zu haben schienen, dass sich Preußen auf militärischer und verwaltungstechnischer Ebene an seinem großen Vorbild Frankreich orientiert hatte und das erst die Vormachtstellung Napoleons I. dazu geführt hatte, dass sich Deutschland schneller als jedes andere Land modernisierte.62 Der Süden, zu dem auch das Rheinland gezählt wurde, wurde dagegen mit viel mehr Nachsicht beurteilt, wie Jean-Luc zutreffend schreibt.63 Manche gingen sogar so weit, wie Roman Rolland es noch im 20. Jahrhundert tat, und sprachen dem Süden ganz seinen „deutschen Charakter“ ab. Viele französische Intellektuelle verdrängten ihren Verdruss über Deutschland und versuchten angestrengt hinter der Fassade der Reichsregierung unter Bismarck oder Kaiser Wilhelm II. das romantische Bild eines sanften, natürlichen, poetischen und musischen Volkes wiederzufinden, dass der Welt und besonders Frankreich so viel zu geben habe. Sie sahen die eigentliche Aufgabe darin, die Deutschen vor dem Dämon zu beschützen, der in ihnen selbst hauste. Es mag verwundern, dass die Franzosen so krampfhaft und so verzweifelt an ihrem positiven Deutschlandbild festhielten, aber viele von ihnen konnten sich lange Zeit nicht eingestehen, dass sie sich von einem selbst geschaffenem Trugbild oder Traum hatten verführen lassen. Die antithetische Sicht auf das Deutschland der vergangenen Jahrhunderte, die Weigerung, in dem idealisierten Deutschland einen Traum der Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts zu sehen, auch der Mangel an überzeugenden Erklärungen für die (überraschende) politische Entwicklung Deutschlands erlaubten es den Franzosen, eine regelrechte Theorie oder auch einen Mythos von einem „doppelten Deutschland“ zu entwickeln.64 Deutschland oder genauer: Preußen wurde von Victor Hugo angeklagt, verräterisch, brutal, barbarisch und hinterhältig zu sein und Frankreich vergewaltigt zu haben; Hugo führte den Appell „Revanche“ ein, der das deutsch-französische Verhältnis über ein halbes Jahrhundert lang prägen sollte.65 In diesen Jahren des Hasses entstand das Bild vom „Erbfeind“ auf beiden Seiten des Rheins66 und in eben diesen Jahren führte Ernest Lavisse einen Unterricht in den französischen Schulen ein, der einer patriotischen und moralischen Aufrüstung Frankreichs dienen sollte und auf der Erinnerung an die Demütigung von 1870/71 und die Hoffnung auf Wiedergutmachung gründete67 – der Gründungsmythos der III. Republik.

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Ebd. , S. 42f. Der folgende Abschnitt stützt sich auf Tiesset: Voyage, S. 18f. Vgl. Leiner: 1870/71, S. 34ff. Vgl. Ebd.: deutschlandbild, S. 149ff. Vgl. Becker: Krieg, S. 21f. Eine Analyse von Geschichte und Erinnerung bietet sich hier an, wie sie von Etienne François, Hagen Schulze, Horst Möller und Jacques Morizet unternommen wurde. Vgl. François/Schulze: Deutsche Erinnerungsorte; Möller/Morizet: Franzosen und Deutsche.

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Das zweigeteilte Deutschlandbild,68 das mehrere Jahrhunderte lang schon unterschwellig bestand und sich ab 1870/71 definitiv in der kollektiven Vorstellungswelt durchsetzte, hat die Urteile der Franzosen über Deutschland in der Politik, der Literatur und in öffentlichen Diskussionen bis nach 1945 beeinflusst. Die gesamte französische kollektive Vorstellungswelt wurde auf diese Weise strukturiert. Auf der einen Seite fand man nun den Mythos eines bösartigen, materialistischen und naturgemäß antifranzösischen Deutschlands, das durch Preußen verkörpert wurde, einem uniformtragenden, berechnenden, dominanten, expansionistischen, gefährlichen, unberechenbaren, martialischen, beunruhigenden, kadavergehorsamen, charakter- und persönlichkeitslosen, minuziös operierenden, düsteren und maßlosen Kollektiv – und ein von diesem abgestoßenen, vergewaltigten guten Deutschland, einem träumerischen und mystifizierten kulturellen, philosophischen und religiösen Paradies eines Goethe oder Kant, einem Land der Musik, des Wissens, des Idealismus, der Kunst und der Metaphysik.69 Franzosen, denen es nicht gelang, die politischen Veränderungen in Europa und in ihrem eigenen Land zu verstehen, fanden einen gewissen Trost in der Vorstellung, dass Deutschland seit gut einem Jahrhundert in der Hand eines guten, spirituellen Engels und eines bösen, materialistischen Dämons lebte, die um die deutsche Seele in einem offenen Krieg kämpften, der 1870/71 vom deutschen Dämon gewonnen wurde.70 Von 1870 bis zur Zwischenkriegszeit waren Intellektuelle wie Marcel Prévost, Ernest Raynaud, Romain Rolland und selbst Georges Clemenceau überzeugt, dass die Seele des guten Deutschlands von dem bösen Kriegsgeist pervertiert und instrumentalisiert worden sei.71 Man sprach nicht mehr von den „Deutschen“, sondern von den „Germanen“, weil man in Preußen all jene typisch germanischen Charaktereigenschaften wiederzuentdecken glaubte, die schon bei Tacitus oder im Rolandslied (um 1100) beschrieben wurden.72 Die Franzosen fühlten sich zudem mehr und mehr von den deutschen Denkern verraten, weil diese auf die politische Entwicklung in Deutschland stolz waren, anstatt sie zu verdammen. Der Deutsche oder „Preuße“ wurde per Definition „unehrlich“ und zu einer Gefahr für sich selbst: Die wachsende Macht musste Deutschlands Geist beschädigen und das Land würde sich am Christentum und am Alkohol berauschen.73 Der Ers-

68 Der amerikanische Psychoanalytiker Sander Gilman geht davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen generell von einer binären Wahrnehmung der Welt bestimmt wird, was wiederum möglicherweise erklärt, warum das System der Vorstellungswelt ebenfalls durch Binome strukturiert ist. Allerdings sollte man als Historiker diese Überlegung nicht so weit verfolgen, wie es Agnès Tachin tut, und damit eine „Psychologisierung“ einer geschichtswissenschaftlichen Analyse riskieren. Vgl. Gilman: L’Autre et le moi, S. 12ff; Tachin: Grande– Bretagne, S. 40ff. 69 Cf. Leiner: Deutschlandbild, S. 154ff. 70 Ebd., S. 168. 71 Georges Clemenceau schrieb 1930, dass sich die Deutschen allen anderen Menschen moralisch und intellektuell überlegen fühlten. Vgl. Clemenceau: Grandeurs et misères, S. 238. 72 Vgl. Tiesset: Voyage, S. 16; Leiner: 1870/71, S. 41. 73 Vgl. Leiner: Deutschlandbild, S. 175.

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te Weltkrieg erschütterte deshalb auch die Idee bis in die Grundfesten, wonach das gute Deutschland durch das dämonische Deutschland unterdrückt worden sei. Es formte sich ein neues Bild: Jetzt dominierte die Vorstellung, dass sich in jedem Deutschen eine dunkle Seite verberge, selbst in jenen, die gut zu sein schienen.74 Der Deutsche an sich wurde doppelbödig und damit noch rätselhafter: Der „Boche“ betrat die Bühne der kollektiven Vorstellungswelt. Die Theorie von einem doppelten Deutschland überlebte aber parallel zum ambivalenten Deutschen und fand nach 1945 sogar eine politische Bestätigung im geteilten Deutschland: die Bundesrepublik im Westen und die DDR im Osten, die zumindest für einen Teil der französischen Linken die Fortsetzung oder Wiedergeburt der guten deutschen Seele zu sein schien.75 In den 1860er Jahren tauchte das Wort „alboche“ auf, das wahrscheinlich die Worte „Allemand“ (Deutsch/er) und „caboche“ (u. a. Dickkopf) zu einem Begriff verknüpfte. Nach dem Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française von Paul Robert wurde die Abkürzung „Boche“ zum ersten Mal im Jahr 1889 verwendet. Paul Verlaine machte 1891 schon regen Gebrauch von diesem abwertenden Spitznamen, der durch die Presse (besonders von der Revue des Deux Mondes und dem Mercure de France) und Maurice Barrès populär gemacht wurde.76 Preußen und Germanien wurden als Konstanten der deutschen Geschichte entdeckt, und die Bezeichnung „Boche“ ersetzte von da an den „Deutschen“. André Suarès veröffentlichte 1915 einen Artikel über die „Boches“, in dem er rund 70 Wortschöpfungen rund um den Schimpfnamen „Boche“ anbot (z.B. „surboche“, „anti-boche“, „bochophil“, „Austroboches“ für die Österreicher oder „Bochie“ für Deutschland) und die Meinung propagierte, dass „Boche“ mit „Barbar“ gleichzusetzen sei.77 Dieser neue deutsche Barbar wurde wie folgt beschrieben: Er habe einen eckigen Kopf mit einer Brille; er sei eine Bestie mit Patenten für Erfindungen; er habe einen Doktor für die Kunst des Tötens, des Lügens, des Diffamierens und Feuerlegens; er sei eine Mensch gewordene Anmaßung; er sei zerstörungswütig und das auch noch im Namen Gottes; er sei die blinde Seele der Rassen und der Wissenschaften; er sei ein Menschenfresser und ein Narr...78 Die Bezeichnung „Boche“ ist ein gutes Beispiel für die Schaffung, die Funktion und die Haltbarkeit von Bildern und Erinnerungen an Geschichte in der „kollektiven Vorstellungswelt“. Um 1870/71 erfunden und durch den Gipfel des gegenseitigen Hasses im Ersten Weltkrieg befeuert, hat das Wort „Boche“ − trotz zurückgehender Verwendung dieses Schimpfworts während der Zwischenkriegszeit aufgrund des Umgangs mit einem demokratischen Deutschland – bis zum Zweiten Weltkrieg überlebt und war sogar noch nach 1945 Teil der französischen kollektiven Vorstellungswelt. „Nazi“ wurde ab den 1930er Jahren gleichwertig

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Vgl. Ebd.: 1870/71, S. 39. Vgl. Ebd.: Deutschlandbild, S. 179–180. Zur Geschichte und Herkunft des Wortes „boche », vgl. ebd.: 1870/71, S. 41ff. Suarez: Boches. Zitiert von Leiner: Deutschlandbild, S. 184. Vgl. Ebd., S. 185.

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mit „Boche“ oder als Ersatz dafür verwendet, aber man bezeichnete nicht die Gesamtheit der Deutschen als Nazis.79 Andere Spitznamen, die etwas seltener auftauchten, wie „chleuh“, „Fritz“, „Fridolin“ und „Frisé“, hielten sich ebenfalls bis nach 1945.80 Das Ende der deutschen Idylle machte 1870/71 einem tiefen Widerwillen gegenüber den Deutschen Platz, der zu einer regelrechten französischen Obsession wurde. Diese Obsession verstärkte sich in dem Maße, wie die Deutschen als eine Nation wahrgenommen wurden, die sich als auserwähltes Volk betrachteten und sich die anderen Nationen unterordnen wollten.81 Diese Überlegungen spiegeln sich in den damaligen französischen Interpretationen der Reden Johann Gottlieb Fichtes an die deutsche Nation wider, einer Vorlesungsreihe von 1807/08 an der Universität Jena, die zwar nach der totalen Niederlage Preußens in Jena und Auerstedt (1806) und während der französischen Besatzung Berlins gehalten wurde, aber mit der die Deutschen keinesfalls zu den Waffen aufgerufen werden sollten. Das beunruhigende und beängstigende „ewige Deutschland“, das einen ewigen Dämon in sich trug, bahnte sich seinen Weg durch die französische Vorstellungswelt und fand noch in der Zwischenkriegszeit seinen Niederschlag in den Deutschlandbildern von Charles de Gaulle, Charles Maurras, Jean Giraudoux, Paul Claudel, Georges Clemenceau und Jean Schlumberger.82 Obwohl diese französischen Deutschlandbilder für einen Deutschen in der Regel unangenehm sind, darf man sie nicht leichtfertig vom Diskussionstisch fegen. Sie setzen sich aus zahlreichen persönlichen Erfahrungen, Erzählungen von früheren Generationen, Erinnerungen an Geschichte, aus politischen Ereignissen und natürlich auch aus der eigenen Phantasie zusammen. Sie sind gleichzeitig Stereotyp, Wahrheit und Spiegelbild. Die Konstanten der widersprüchlichen Sicht auf Deutschland (kriegerisch und musisch etc.) prägten die französische kollektive Vorstellungswelt bis über die 1930er Jahre hinaus. Das Deutschland der Zwischenkriegszeit blieb ein Rätsel für die Franzosen, denen es nicht gelang, eine Verbindung zwischen der Idylle einer Mme de Staël – die ihre Fortsetzung in der ersten deutschen Demokratie zu finden scheint – und der durch den Hass und das Trauma des Ersten Weltkriegs vertieften Scham von 1870/71 herzustellen, die alte Deutschlandbilder nicht nur wieder zum Vorschein brachte, sondern auch noch verschärften. Ohne Kenntnis dieser Entwicklung können die französischen Urteile, die Anfang der 1930er Jahre über Deutschland gefällt wurden, nicht dechiffriert und verstanden werden. „L’imaginaire a une telle puissance qu’il finit par prendre le pas sur le réel“, stellt Claude Beyle fest angesichts der Wirkungskraft der kollektiven Vorstellungswelt(en) in den deutsch-französischen Beziehungen,83 die mindestens bis in die 1980er Jahre durch die Kriege und Spannungen von 1870/71 bis 1945 geprägt

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Vgl. Morita–Clément: Image de l’Allemagne, S. 118. Vgl. Leiner: 1870/71, S. 43f. Ebd.: Deutschlandbild, S. 198. Ebd., S. 206ff. Beylie: Stéréotype, S. 106.

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waren. Dank der französischen Filmproduktion zwischen 1920 und 1945 kann man den „typischen Deutschen“, der die französische kollektive Vorstellungswelt beherrschte, anhand von Rollenbildern auch optisch ganz eindrucksvoll nachvollziehen. In den damaligen Kinofilmen dominiert der hinterhältige, treulose Deutsche mit eckigem Profil und ausweichendem Blick, der im Nacken ausrasiert oder überhaupt kahlköpfig ist. Häufig ist er mit einer Ulanenuniform ausstaffiert oder trägt einen Stahlhelm. Meistens spielt er dann auch noch die Rolle des Spions und Gegners der Franzosen, die in der Regel sympathische Figuren sind. Einige Schauspieler (darunter auch solche deutscher Herkunft) spezialisierten sich auf die Rolle des Deutschen und festigten damit sein negatives Image: So Roger Karl, der den bösen Preußen spielte (in Mademoiselle Docteur von G. W. Pabst, 1936); Jean Galland, der zum Inbegriff des deutschen Junkers wurde (Deuxième Bureau, Nadia la femme traquée); Jean Max, der Monokel tragende bayerische Spion (Deuxième Bureau); Erich von Stroheim, der typische „Boche“, den man den „Mann, den sie gerne hassen werden“ nannte (Les cœurs du Monde von Griffith, La Symphonie nuptiale, Marthe Richard oder Ultimatum von Robert Wien, La Grande Illusion von Jean Renoir, 1937); und Howard Vernon in Le Silence de la Mer von Jean-Pierre Melville,84 einer Verfilmung des oben schon genannten Romans von Vercors. 3. Die Funktionsweise der französischen Deutschlandbilder in der französischen Politik und ihre Bedeutung für das politische Klima zwischen Deutschland und Frankreich Die Literatur und − in eingeschränktem Maße – das Kino Anfang der 1930er Jahre erweisen sich als eine Art Katalysator der Vermittlung und Wiederverwendung von Bildern, die man schon vergessen glaubte und die aufgrund einer „äußeren Aufregung“ eine neue Dynamik entfalteten.85 Wie aber stiegen sie zum Politikum auf? Der Versuch, den Einfluss der kollektiven Vorstellungswelt auf eine konkrete politische Entscheidung nachzuweisen, ist äußerst schwierig und heikel, zumal wenn ihn gegen andere Einflüsse abgrenzen muss. Man kann allerdings auch nicht abstreiten, dass bestimmte politische Entscheidungen getroffen wurden, weil die Politiker der öffentlichen Meinung, die sie zu kennen glaubten, Rechnung tragen wollten.86 Daniela Neri-Ultsch nennt als Beispiel die Politiker der Partei der Radi-

84 Zu den genannten Kinofilmen und Schauspielern, vgl. Beylie: Stéréotype, S. 106–112. Zur Geschichte des französischen Kinos in den 1930er Jahren, vgl. Chirat: Cinéma français; Ebd.: Atmosphères. 85 Vgl. Richtering: Mythen und Bilder, S. 15; Gödde–Baumanns: Unrast und Festigkeit, S. 16. 86 Vgl. Hüser: Frankreich, S. 19–20.

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caux, die selbst eine Zeitung besaßen und diese dazu nutzten, sowohl die Politik ihrer eigenen Partei als auch die Meinung ihrer Wähler zu beeinflussen.87 In der Politik wird nicht unabhängig von der kollektiven Vorstellungswelt entschieden – man ist ein Teil von ihr –, und die Entscheidungsträger des 20. Jahrhunderts waren sich der Wechselbeziehung zwischen Politik und Stimmung im Land bewusst. Die französische Kulturpolitik ist, wie oben beschrieben, ein Beispiel für diese Wechselbeziehung. Um die Entwicklung der kollektiven Vorstellungswelt und ihren konkreten Einfluss auf das politische Klima zu beleuchten, muss man zunächst nach dem politischen Kontext fragen und den Grund aufspüren, warum bestimmte „Bilder von dem Anderen“ ausgewählt und verwendet werden. Die Bilder, die Franzosen und Deutsche voneinander geschaffen haben, bilden ein Mosaik aus historischen und mehr oder weniger punktuellen Erfahrungen und überlieferten Perzeptionsmustern. Die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Besonderheiten der anderen Nation werden regelmäßig verallgemeinert, unterschlagen oder schlicht nicht beachtet. Einschneidende Ereignisse stellen zwangsläufig bestimmte Bilder in Frage und verändern die Perspektive des Beobachters,88 ohne dass die gewandelten Bilder dadurch „wahrer“ würden. Nach 1871, nach dem Ersten oder dem Zweiten Weltkrieg begann man die Welt mit „anderen Augen“ zu sehen. Diese neuen Bilder änderten nicht nur die Perspektive der Gegenwart, sondern auch den Blick auf die Zukunft und die Urteile über die Vergangenheit. Der Paradigmenwandel wird von einer Neuschreibung der Geschichte begleitet,89 was anhand der französischen Historiographie vor und nach 1871, 1945 oder 1989/90 genau abzulesen ist.90 Dieses Beispiel zeigt, dass das angebliche Wissen über den Anderen, selbst wenn es immer wieder nachgeprüft wird, immer ein wenig fehlerhaft bleibt. Sehr oft ändert sich auch nicht das Bild selbst, sondern nur die Interpretation des Bildes: Eine bestimmte Haltung kann beispielsweise negativer beurteilt werden, als das vorher der Fall war. Den Romantikern erschien der seiner „Innerlichkeit“ zugewandte Deutsche als natürlich und philosophisch; nach 1871 erschien diese Haltung suspekt: Man sah darin den Deutschen, der heimlich einen Angriff vorbe-

87 Emile Roche beispielsweise hat seine Zeitung La République dazu genutzt, gegen die Einbindung der Radicaux in die Front Populaire (Volksfront) zu kämpfen, was schließlich im Laufe des Jahres 1937/38 zu einem Umschwung innerhalb der Parti Radical geführt hat. Vgl. Neri– Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 48–49. 88 Nach 1870/71 wurden schätzungsweise 5000 Bücher veröffentlicht, die den Zusammenbruch der nationalen Selbstdefinition der Franzosen nach der Annektion Elsass–Lothringens, die „nationale Demütigung“ und die Beziehungen zwischen den „Erbfeinden zum Thema hatten. Vgl. Berschin: Deutschland, S. 21. 89 Vgl. Richtering: Mythen und Bilder, S. 13. 90 Beate Gödde–Baumanns hat den Einfluss der Niederlagen von 1870 und von 1918 auf die Sichtweisen der Historiker analysiert. Sie spricht in ihrem Artikel die Schwierigkeiten an, die selbst Historiker damit haben, Bilder von dem Anderen und von sich selbst distanziert zu betrachten. Vgl. Gödde–Baumanns: Auseinandersetzung, S. 193ff.

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reitete. Diese beiden Interpretationen der deutschen „Innerlichkeit“ werden sich auch in der französischen Brüning-Perzeption wiederfinden, wie im zweiten Teil der Studie herausgearbeitet werden wird. Eine gewisse Denkfaulheit ist zweifellos ein wichtiger Faktor, der zur Schaffung von Fremdbildern beiträgt. Man nimmt nur wahr, was die bereits bestehenden Bilder zu vervollständigen oder zu belegen scheinen – eine Erschütterung der Bilder ist nur selten erwünscht, wie Beate Gödde-Baumanns feststellt,91 und erst viel später werden überraschende Aspekte in das bereits bestehende Bildregister aufgenommen und verankern sich in der kollektiven Vorstellungswelt. Das erklärt die zeitliche Verschiebung zwischen der kollektiven Vorstellungswelt und den historischen Ereignissen, also den verspäteten Korrekturen der Wahrnehmung von Ereignissen. Diese intellektuelle Schwerfälligkeit kann den grenzüberschreitenden Dialog erheblich konterkarieren. Nationale Krisen werden zum Nährboden für die Entstehung und den Erhalt von langlebigen Bildern. Sobald die politische, soziale oder territoriale Stabilität nicht mehr gewährleistet ist oder zu sein scheint, dient die kollektive Vorstellungswelt als Rückzugsort, um eine nationale Demütigung auszulöschen (wie die deutsche Besatzung in Frankreich nach 1871) und die nationale Identität von Neuem zu stabilisieren und zu stärken.92 Marieluise Christadler spricht hier von Mythen – als Teil der kollektiven Vorstellungswelt –, die eine regenerative Kraft für die Nation bedeuten und es ihr erlauben, Ereignisse heilbringend umzugestalten.93 Die französische Literatur nach 1871 war zum großen Teil diesem national-pädagogischen Dienst verschrieben.94 Die Romane von Jules Verne und Gaston Leroux beispielsweise haben während der französischen Ruhrbesetzung im Jahr 1923 zweifellos zur Verfestigung des Bildes des „deutschen Feindes“ beigetragen und zu der Vorstellung, dass die Deutschen für ihren „Fehler“ gegenüber den Franzosen im Jahr 1871 „büßen“ sollten.95 Neben anderen Einflüssen zeigt sich das Kräfteverhältnis zwischen Politik und Öffentlichkeit in Form der sozialen Kontrolle, die auf die Machthabenden ausgeübt wird, während diese wiederum die Öffentlichkeit instrumentalisieren und ihren Blick weg von innenpolitischen Problemen hin zur außenpolitischen Situation lenken können, um dadurch mögliche Unzufriedenheiten im Land zu

91 Ebd.: Unrast und Festigkeit, S. 19. 92 „Dans un monde réel qui ne peut être que décevant, l’imaginaire joue un rôle compensatoire. Il agit partout et à tout moment, mais ce sont surtout les périodes de crise qui amplifient ses manifestations, appelées à compenser les désillusions, à faire écran contre les peurs et à inventer des solutions alternatives », schreibt Lucian Boia hierzu. Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 27. 93 Christadler: Okkupationstrauma, S. 41; Ebd.: Funktion kollektiver Mythen, S. 199ff. 94 Vgl. den Appel an die französischen Schriftssteller im Jahr 1893 von Jules Simon (Ministre de l’Education). Vgl. Lagrillière–Beauclerc: Les contes de France, S. 40. 95 Vgl. Siepe: Bilder und Mythen, S. 92. Das ist wieder ein Beleg dafür, dass in der kollektiven Vorstellungswelt die Wahrnehmungen vergangener Generationen lange konserviert werden können, und dass es einer nur „politischen Irritation“ bedarf, um diese Bilder wieder an die Oberfläche zu treiben.

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kanalisieren. In außenpolitischen Belangen ist es leichter, die Öffentlichkeit zu beeinflussen, weil sich diese im Allgemeinen besser im Inland auskennt und weniger über das Ausland Bescheid weiß. Und doch schärft sich in Zeiten nationaler Krisen, Kriege oder Nachkriegsperioden die Aufmerksamkeit für die Ereignisse im Ausland.96 In der Zwischenkriegszeit waren die französischen Politiker gezwungen, das soziale Klima im Inland zu berücksichtigen und viel Fingerspitzengefühl bei der Behandlung deutsch-französischer Probleme an den Tag zu legen, wenn sie diese in ihren Reden behandelten. Sie durften eine bestimmte Schwelle allgemeiner Akzeptanz und Toleranz nicht überschreiten, ohne gleichzeitig die Rationalität ihrer politischen Entscheidungen zu gefährden97 und ohne ihrem persönlichen politischen Werdegang und den Erfolgsaussichten ihrer Partei bei den nächsten Wahlen zu schaden. Aristide Briand ist zweifellos das beste Beispiel für einen französischen Politiker, dem dieser Drahtseilakt zwischen den Vorgaben der kollektiven Vorstellungswelt, den Ansprüchen seines eigenen in der kollektiven Vorstellungswelt integrierten Idealismus98 und der gewünschten Rationalität politischer Entscheidungen lange Zeit gelang. Erst nach dem Tod Stresemanns, angesichts neuer politischer Rahmenbedingungen und seines schlechteren Gesundheitszustandes ermüdete Briands politische Akrobatik und er geriet ins Straucheln. Das Urteil der Frankfurter Zeitung nach Briands Tod, in dem es hieß, Briand sei nicht unterstützt worden, weil er zu europäisch für die Franzosen und für den Rest der Welt zu französisch war,99 erscheint mit Blick auf die damaligen kollektiven Vorstellungswelten geradezu verstörend hellsichtig. Man muss andererseits anmerken, dass die Vorstellung, die sich Politiker von der (aktuellen) öffentlichen Meinung und den jeweiligen Toleranz- und Akzeptanzschwellen ihrer Politik machen, nie ganz der (aktuellen) öffentlichen Meinung entsprechen, die nur ganz schwer im Augenblick des Geschehens wie auch im Rückblick nur annähernd nachzuvollziehen ist. Die Wahrnehmung der Politiker eines Phänomens wie der öffentlichen Meinung wird durch viele Faktoren bedingt: ihre eigene und individuelle Vorstellungswelt; die Auswahl, der Zugang zu

96 Gerbet/ Influence, S. 85ff. 97 Dieses Problem der französischen Politiker hat Hüser für die Jahre 1944 bis 1950 beschrieben. Vgl. Hüser: Frankreich, S. 85. 98 Man denke hier an sein Europaprojekt, dass er mit Hartnäckigkeit, Ehrgeiz und voller Hoffnung verfolgte. Dieser Idealimus wurde aucg von Notre Temps propagiert, einer 1926 gegründeten, europäisch orientierten Revue, die vom Quai d’Orsay stillschweigend subventionniert wurde. Zu seinen Mitstreitern zählten bis 1939: Jean Luchaire, Jacques Chabannes, Pierre Brossolette, Pierre Mendès–France, Philippe Berthelot, Alexis Léger, Bertrand de Jouvenel und Gaston Bergery. Am 18. Januar 1931 veröffentlichte die Revue ein Manifest verschiedener Intellektueller (wie Jean Cocteau, Jean Giono, Paul Morand, Marcel Pagnol, Jules Romains…) für Europa, in dem es hieß: „Il importe que ce pays riche d’un passé généreux proclame que la Nouvelle Europe et l’entente franco–allemande qui en est la clé de voûte ne pourront naître que d’accords librement consentis par les peuples apaisés ». Vgl. Oudin: Aristide Briand, S. 533f. + S. 536f. 99 Zitiert nach Herre: Deutsche und Franzosen, S. 236.

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und die Vertrauenswürdigkeit von Informationen, die sie erhalten; die Sichtweise(n) beratender Komitees (wie der Commission des affaires étrangères de la Chambre des Députés); auch die in ihre Recherchen investierte Zeit zum aktuellen sozialen Klima. Dietmar Hüser spricht hier von einer Dichotomie zwischen der realen und der wahrgenommenen Haltung der Öffentlichkeit, denn es ist keineswegs die reale (aktuelle) öffentliche Meinung, sondern ihre beispielweise durch Zeitungsartikel gefilterte Wahrnehmung, die in den politischen Entscheidungsprozess Eingang findet und dort die Rolle einer aktiven (aktuellen) öffentlichen Meinung spielt.100 Um politische Entscheidungen in der Außenpolitik und deren Umsetzung in praktische Politik nachvollziehen zu können, sei das Beispiel zweier Männer angeführt, die Heinrich Brüning und seinen Außenminister Curtius am 18. und 19. Juli 1931 in Frankreich empfingen und zwei Monate später, vom 27. bis 29. September, als erste französische Regierungsdelegation seit dem Berliner Kongress von 1878 die deutsche Hauptstadt besuchten: Aristide Briand und Pierre Laval.101 Bei beiden finden wir Aspekte der kollektiven Vorstellungswelt in ihrer Politik gegenüber Deutschland und in ihren Urteilen über Heinrich Brüning wieder. An ihrem Beispiel können zwei politische Karrieren vor dem Hintergrund der französischen kollektiven Vorstellungswelt betrachtet werden, zwei Politiker, die von der Vorstellungswelt ihrer Partei und des politischen Spektrums geprägt waren, in dem sie sich bewegten.102 Sechs Hauptfaktoren sollen unterschieden werden, die potentiellen Einfluss auf ihre Wahrnehmung Deutschlands und Brünings nahmen: ihre familiäre Herkunft (sozialer Status, familiäre Prägung, persönlicher Charakter...), ihr (Bildungs-)Werdegang (Schule, Universität, erstes politisches Engagement...), ihr erreichter sozialer Status (ihre Position in der Gesellschaft, Beruf(e), soziale Kontakte, über die Partei hinausgehende Mitgliedschaften), ihre persönlichen Überzeugungen (Religion, Weltanschauung...) und vor allem ihre Partei und ihr politisches Umfeld. Als Historiker sollte man allerdings davon Abstand nehmen, Fragen der politischen Soziologie und der Psychologie zu beantworten. Aus diesem Grund sollen nur die Bereiche zur Sprache kommen, die mit Hilfe geschichtswissenschaftlicher Methoden untersucht werden können: Bildung und Ausbildung, politisches Engagement, die Partei und das politische Umfeld (die Gesamtheit der Parteien von extrem links über links, Mitte links, Mitte, Mitte hin zu Mitte rechts, rechts und extrem rechts). 100 Hüser: Frankreich, S. 25. 101 Sie wurden begleitet von Philippe Berthelot, Alexis Léger, Hesnard (er war schon in Thoiry dabei), Coulondre (der spätere Botschafter in Deutschland) und zahlreiche Journalisten. 102 Keine dieser individuellen Vorstellungswelten ist statisch. Sie sind Teil der kollektiven Vorstellungswelt, die sich ebenfalls wandelt. Sie befinden sich in ständiger Veränderung und im Austausch miteinander und mit der kollektiven Vorstellungswelt. Es kann also nicht von Abweichungen gesprochen werden, wenn individuelle Vorstellungswelten oder Vorstellungswelten bestimmter Gruppen singular erscheinen. Ihre Besonderheit ist Teil der kollektiven Vorstellungswelt.

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Aristide Briand103 wurde am 28. März 1862 in einer katholischen Familie geboren, die in Nantes ein bescheidenes Café unterhielt. Er wuchs in Saint-Nazaire auf, wo er Jules Verne begegnete, der ihm in den Jugendjahren zum väterlichen Freund wurde. 1883 begann er in Paris ein Jurastudium (wo er durch Zufall Victor Hugo begegnete, von dem er ein Leben lang beeindruckt blieb) und arbeitete gleichzeitig als Schreiber für einen Anwalt. Er wurde selbst Anwalt und Journalist (La Démocratie de l’Ouest, L’Ouest républicain, La Lanterne) und setzte sich mit Leidenschaft für die Sozialisten und Gewerkschaftler ein. Dieses politische Engagement ging mit einer gemäßigten anti-klerikalen Einstellung einher. Auf dem Kongress von Marseille der Fédération des syndicats im Jahr 1892 ließ er für das Prinzip des Generalstreiks stimmen und kandidierte drei Mal erfolglos bei den Parlamentswahlen. Er traf sich mit Leuten aus dem Umfeld der Anarchosyndicalistes, trat 1901 der französischen Sozialistischen Partei bei, die Jean Jaurès mit den Reformsozialisten gebildet hatte, und wurde ihr Generalsekretär. Bis 1905 blieb er Jaurès treu, dessen Politik er als Journalist für L’Humanité, während des Kongresses der Internationalen in Amsterdam im Jahr 1904, während seines Mandats als Abgeordneter der Loire-Region von 1902 bis 1905104 (als er sich schon immer weiter vom Sozialismus entfernte) und schließlich als Berichterstatter für die Trennung von Kirche und Staat in der Chambre des Députés unterstützte. In diesen Jahren nahmen auch seine guten Beziehungen zu dem Schriftsteller Anatole France ihren Anfang und der Grundstein für seine beeindruckende Ministerkarriere wurde ebenfalls gelegt. Seinen ersten Ministerposten (L’Instruction publique, des Beaux-Arts et des Cultes) erhielt er 1906 im Kabinett Sarien. Er wurde insgesamt 22 Mal Minister, elf Mal im Quai d’Orsay und elf Mal als Président du Conseil. Der soziale Fortschritt in der Republik war zeit seines Lebens sein politisches Programm. Während seiner ganzen politischen Karriere soll ihn alles Schriftliche abgeschreckt haben. Auf seinem Schreibtisch lagen Kriminalromane und Zigarettenpapier. Er selbst öffnete nie Unterlagen und bat seine Mitarbeiter, ihm nur die entscheidenden Passagen aus der Zeitung vorzulesen. Als er das Außenministerium übernahm, verfuhr er auf dieselbe Weise mit den Dossiers, welche die aktuelle Politik betrafen. In all den Jahren als Politiker begnügte er sich mit den mündlichen Zusammenfassungen, die ihm seine Mitarbeiter lieferten. Genauso ungern schrieb er selbst und vertraute auf sein phänomenales Gedächtnis105 und auf seine 103 Die Informationen zu Aristide Briand sind folgenden Werken entnommen: Chabannes: Aristide Briand; Hesse: Aristide Briand; Margueritte: Aristide Briand; Oudin: Aristide Briand; Siebert: Aristide Briand; Suarez: Briand; Unger: Aristide Briand; Vercors: Moi, Aristide Briand. 104 In der Realität dauerte sein Mandat bis 1919, aber er distanzierte sich schon seit 1905 von Jaurès. 105 In seiner Briand–Biographie erzählt Bernard Oudin folgende Anekdote: Bei seinen Reden scheute er nicht vor einem Bluff zurück. Das zeigte sich auch bei den Debatten über die Trennung von Kirche und Staat, als er der Rechten damit drohte, eine Akte zu öffnen, von der er wusste, dass sie leer war. Diese Taktik war nicht immer erfolgreich. Eines Tages wedelte er

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Qualitäten als guter Zuhörer und Redner.106 Von seinem Erfolg bestärkt, wurde er immer ehrgeiziger. Der Junggeselle und große Verführer Briand trug sich als unabhängiger Sozialist ein und behielt nichts von den revolutionären Überzeugungen, die ihn als junger Mann geprägt hatten. Er zeigte sich pragmatisch und realistisch und distanzierte sich von den extremistischsten Anti-Klerikalen, indem er die religiösen Auseinandersetzungen, die Frankreich spalteten, schlichtete. Er ließ 1910 die Streiks der Eisenbahner während seiner Regierungszeit von 1909 bis 1911 niederschlagen, was scharfe Proteste seitens seiner ehemaligen sozialistischen Wegbegleiter auslöste. Von 1915 bis 1917 war er wieder in der Regierung. In dieser Zeit des Krieges prägte die Expédition de Salonique (1915−1916) und die Öffnung der Balkan-Front seine Politik, während er selbst zwischen einer kriegsbefürwortenden Haltung in der Öffentlichkeit und seinen pazifistischen Überlegungen als Privatmann schwankte. Bei Kriegsende gehörte er nicht zu denen, die den Versailler Vertrag ausarbeiteten, auch wenn dieser Vertrag bis zu seinem Lebensende zum Dreh- und Angelpunkt seiner Politik werden sollte. Von 1921 bis 1922 war Briand wieder Président du Conseil, der sich politisch links von der Mehrheit des Bloc National positionierte und dann noch vier Mal von 1925 bis 1932 mit jeweils linken oder rechten Mehrheiten, die er zur politischen Mitte hin zu orientieren suchte. Diese Position als Scharnier zwischen Links und Rechts erlaubte es ihm, ohne Unterbrechung an der Regierung zu bleiben. Als er beschloss, die französische Deutschlandpolitik durch den Anfang eines grenzüberschreitenden Dialogs mit der jungen Weimarer Republik und einer Politik der Versöhnung zu ersetzen, und sich bereit zeigte, auch bei den Reparationen Zugeständnisse zu machen, wollten ihm viele Franzosen nicht mehr folgen – sein erklärter Feind Georges Clemenceau taufte ihn in dieser Zeit „le voyou de passage“. Briand, der an sich immer anglophil gewesen war, provozierte mit seinen ersten Schritten in Richtung Deutschland in Cannes im Jahr 1922 eine wahre Protestwelle, die ihn zwang, von seinem Amt zurückzutreten. Trotz dieser schwierigen Anfänge wurde er als Verteidiger des Völkerbundes, der Abrüstung und der deutschfranzösischen Aussöhnung107 zum „pélérin de la paix“, der von 1925 bis zu sei-

vor der Abgeordnetenkammer mit einem Blatt Papier durch die Luft und begann Zahlen vorzutragen, um seine Ausführungen zu untermauern. Daraufhin unterbrach ihn ein sozialistischer Abgeordneter abrupt: „Auf Ihrem Blatt steht doch gar nichts! Sie sollten mich doch kennen…“ und Briand, der nicht besonders verlegen war, seufzte und steckte das Blatt wieder in seine Tasche. […] „Poincaré kennt die Aktenlage und Briand die Menschen“, sagte man damals. Clemenceau formulierte es ein bisschen spitzer: „Briand weiß nichts und versteht alles; und Poincaré weiß alles, versteht aber nichts…“. Zitat in Übersetzung nach Oudin: Aristide Briand, S. 175f. 106 Christophe Bellon relativiert die Angaben zu Briands Arbeitsweise. Nach seiner Meinung mochte Briand zwar keine geschriebenen Texte, bearbeitete dennoch auch selbst die Dossiers. Vgl. Aristide Briand et la délibération parlementaire (1902−1932). Laufende Promotion, betreut von Serge Berstein vom Centre d’Histoire de Sciences Po, Paris. 107 Er war davon überzeugt, dass eine Aussöhnung mit der Weimarer Republik – also nur mit einem demokratischen Deutschland – möglich war. Vgl. Oudin: Aristide Briand, S. 535.

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nem Tod am 7. März 1932 eine neue, dem französischen Sicherheitsbedürfnis gerechte Entspannungspolitik verfolgte, für die er 1926 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Zu seinen wichtigsten politischen Handlungen in dieser Richtung zählten der Vertrag von Locarno (1925), das Treffen mit Stresemann in Thoiry (1926), die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926), der Briand-Kellogg-Pakt zur Ächtung des Krieges (1928) und schließlich sein Vorschlag einer „Union fédérale européenne“ im Jahr 1930. In all diesen Jahren wurde er von den Linken, der politischen Mitte und den Gemäßigten unterstützt, während er zur Zielscheibe bösartiger Attacken von Seiten der extremen nationalistischen Rechten und der extremen Linken wurde.108 Pierre Jean-Marie Laval,109 der später unter Vichy die Kollaboration mit den Deutschen verteidigen sollte, wurde 21 Jahre nach Aristide Briand, am 28. Juni 1883,110 in der Auvergne geboren. Seine Eltern, die aus einem bäuerlichen Milieu stammten, führten ein kleines Hotel in Châteldon, einem Dorf in der Puy-deDôme. Der durch die republikanische und laizistische Schule geprägt, blieb er dennoch zeit seines Lebens dem Katholizismus verbunden. Ohne jede intellektuelle Unterstützung in seinem familiären Umkreis entwickelte er sich zum Einzelgänger und Autodidakten, der schon früh begann, als Schulaufseher zu arbeiten, um seine Ausbildung und sein Studium in Lyon, Autun, Saint-Etienne, Dijon und Paris zu finanzieren. Er beendete sein Studium mit zwei Abschlüssen (Licence) in den Naturwissenschaften111 und Jura, bevor er 1907 am Amtsgericht in Paris zugelassen wurde. Während seiner gesamten politischen Karriere verfolgte ihn das Stigma, nicht Absolvent der Ecole Normale Supérieure zu sein. Neben kultivierten Politikern mit bürgerlicher und finanziell abgesicherter Herkunft wie Edouard Herriot oder Léon Blum machte Laval immer eine bäuerische Figur. Sein politisches Interesse erwachte in Lyon, wo er die Bewegung von Georges Sorel und Hubert Lagardelle kennenlernte, die auch die Action Française und Benito Mussolini beeinflussten. 1903 trat er dem revolutionären Flügel der Sozialisten bei, dem Parti Ouvrier Français von Jules Guesde, und blieb dort 17 Jahre lang Mitglied. Während dieser Jahre setzte er sich als sozialistischer Aktivist für den pazifistischen und revolutionären Flügel der SFIO ein und arbeitete als Anwalt, der vor allem Gewerkschaftler vertrat. Am 20. Oktober 1909 heiratete er Jeanne-Elisabeth Claussat, die Tochter des Bürgemeisters der Radicaux und Arztes von Châteldon. 1914 wurde Laval zum sozialistischen Abgeordneten von 108 Die Texte von Léon Daudet und Charles Maurras sowie die Karikaturen von Sennep zeigen die Aggressivität und die Bosheit, deren Opfer Briand war. Daudet: Le voyou de passage; Maurras: Casier judiciaire d’Aristide Briand; Sennep: Grandeur et misère d’une conférence. Spezialausgabe von Candide vom 27.4.1930. 109 Die Informationen über Pierre Laval sind folgenden Werken entnommen: Cointet: Pierre Laval; Kupfermann: Pierre Laval; Warner: Pierre Laval. 110 Er gehörte der gleichen Generation wie Stalin oder Mussolini an, die auch 1883 geboren wurden. 111 Er interessierte sich sehr für Tiere, Botanik und Zoologie. Während der Londoner Konferenz nutzte er eine Pause, um in den Zoo zu gehen. Vgl. Cointet: Pierre Laval, S. 19.

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Aubervilliers gewählt, einem Ort, dessen Bürgermeister er 1923 werden sollte. Aufgrund gesundheitlicher Probleme wurde er ausgemustert und nicht für den Krieg eingezogen. In dieser Zeit setzte er sich mit einer sozialistischen Minderheit gegen die Parteiführungskräfte für einen Kompromissfrieden ein. Er stimmte gegen den Versailler Vertrag und wurde bei den Wahlen von 1919 geschlagen, was ihn veranlasste, ein unabhängiger Sozialist zu werden. 1924 erhielt er dank des Cartel des gauches et des intérêts de la banlieue, das sich aus Radicaux, Républicains socialistes, Sozialisten und ehemaligen Kommunisten zusammensetzte, wieder ein parlamentarisches Mandat. Am 7. April 1925 ernannte ihn Paul Painlevé zum Ministre des Travaux Publics. Von diesem Zeitpukt an blieb Laval bis zum Ende der III. Republik ohne Unterbrechung im Parlament: Bis 1927 war er Abgeordneter und bis 1940 Senator. Laval war ein Emporkömmling, der eine doppelte Karriere verfolgte: zum einen als Politiker, zum andern als Geschäftsmann.112 Ab 1925 wurde er im Wechsel Minister von Mitte-links-Kabinetten (Painlevé 1925, Briand 1926) und rechts positionierten Kabinetten (Tardieu 1930). 1926/27 brach er mit der Linken, und dieses Jahr bedeutete nicht nur seine politische Kehrtwende, sondern auch den Aufstieg von einem sehr wohlhabenden Mann zu einem schwerreichen Wirtschaftsboss. Er wurde von den Zeitungen gepriesen, die er sich zu Diensten gemacht hatte und war Teil einer neuen Politikergeneration, die an die Macht kommen wollte (Tardieu, Daladier, de Chautemps, Reynaud). Man sah in ihm einen möglichen Nachfolger Briands, als er 1931−1932 die Rolle des Président du Conseil einnahm. Dort gelang es ihm, sein Bild als Politiker mit Bodenhaftung und Freund der Journalisten zu kultivieren. Zu diesen befreundeten Journalisten zählte auch Julien Coudy vom Petit Parisien.113 Ohne eine Partei hinter sich zu haben, war Laval im Ministerrat einer der Führenden im Mitte-rechts-Lager, die seit dem Rückzug Raymond Poincarés nach einer neuen Führungsspitze suchten. Jean-Pierre Cointet hebt hervor, dass Lavals außenpolitische Konzeption zum einen durch das pazifistische Erbe seiner Zeit als Gewerkschaftsaktivist geprägt war, zum andern jedoch jeglicher Ideologie hinsichtlich der internationalen Beziehungen entbehrte. Laval traf sich mit so unterschiedlichen Politikern wie Eden, Brüning, Mussolini, Göring und Stalin und sprach mit ihnen auf Augenhöhe.114 Im Unterschied zu Briand beunruhigte ihn mehr Deutschlands Wiederbewaffnung als dessen innenpolitische Entwicklung zu einem autoritären Staat und später dann zu einer Diktatur.115 Obwohl er zunächst schlecht für die Lösung internationaler Probleme vorbereitet war, kam er auf den Geschmack und suchte Briands Pläne zu durchkreuzen, ohne es sich jedoch direkt mit ihm zu verscherzen. Deutschland gegenüber, beharrte er unermüdlich auf dem

112 Als Presseeigentümer (er besaß Le moniteur du Puy–de–Dôme, Le Lyon républicain, Radio– Lyon…) wurde er reich und konnte sich das Schloss in seinem Geburtsort kaufen. 113 Er hatte nichts dagegen, dass man ihn „Pierrot“ oder „Oncle Pierre“ nannte. Vgl. Kupfermann: Pierre Laval, S. 23. 114 Vgl. Cointet: Pierre Laval, S. 97. 115 Für Briand zählten die beiden Faktoren Abrüstung und Demokratie.

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Standpunkt, dass „gute Finanzen“ (also die Zahlung der Reparationen) mit Sicherheit einhergehen müssten. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Heinrich Brüning einen Brief an Lavals Schwiegersohn René de Chambrun, in dem er den tiefen Pazifismus Lavals hervorhob: „Als ich Herrn Laval kennen lernte, war er davon überzeugt, dass, solange Frankreich und Deutschland nicht innerhalb einer kurzen Frist zu einer friedlichen und konstruktiven Verständigung finden würden, eine neue Katastrophe Europa heimsuchen würde... Denn Herr Laval war nicht nur ein Patriot, sondern ein realistischer Pazifist, der selbst eine vorübergehende Unpopularität nicht fürchtete, um sein Ideal einer friedlichen Entwicklung Europas zu verwirklichen.“116 Nachdem Brüning im März 1932 von Briands Tod erfahren hatte, sprach er in Berlin auch von Briand als einem „ernsthaften und überzeugten Diener der Friedensidee“.117 Auf den ersten Blick vermitteln Brünings Äußerungen den Eindruck, als seien die politischen Profile Briands und Lavals sehr ähnlich gewesen. Beide teilten eine Herkunft aus einfachen Verhältnissen, ein Jurastudium und den Anwaltsberuf. Beide hatten sich im Laufe ihrer politischen Entwicklung von ihren ursprünglichen sozialistischen Idealen entfernt, sie teilten beide die Gabe politischer Improvisation und Intuition und einen tiefen Pazifismus, der sie zu den Lieblingszielscheiben der Angriffe der Action Française machten. Auf den zweiten Blick aber werden schon die Unterschiede zwischen beiden deutlich, ihre Zugehörigkeit zu zwei komplett unterschiedlichen Politikergenerationen und ihre politischen Entscheidungen, die sie seit 1920 immer weiter voneinander trennten. Auf der einen Seite machte Laval aus den Faktoren Wirtschaft und Sicherheit eine unerlässliche Bedingung für die politische deutsch-französische Annäherung. Briand kannte sich auf der anderen Seite weniger mit Finanz- und Wirtschaftsfragen aus, ohne jedoch ihre hohe Bedeutung zu unterschätzen, setzte dafür aber auf eine Politik der Absprachen als Friedensgarant und dachte schon in politischen Kategorien, die dem nationalen Rahmen der Politik der 1930er Jahre weit voraus waren. Das Schicksal der jungen deutschen Demokratie ließ ihn nicht gleichgültig. Der Geschäftsmann Pierre Laval glaubte nicht an die friedenstiftende Kraft des Völkerbundes und stand in seiner Politik dem Konservativen André Tardieu nahe, der auch nicht die Politik Briands unterstützte. Laval verschrieb sich zwar auch einer deutsch-französischen Annäherung, allerdings zu sehr viel härteren Bedingungen118 als der „pélérin de la paix – Pilger für den Frieden“, der ein wohl idealistischeres, aber auch weiter blickendes Verständnis für die deutsch-französische Situation entwickelt hatte, mitunter inspiriert durch seine zahlreichen Begegnungen und Freundschaften im kulturellen Umfeld. Briand nahm den relativ unabhängigen Standpunkt eines Visionärs auf der politischen Bühne Frankreichs ein, wenig beeinflusst von den durch Presse, Bücher und politische Dossiers verbreite116 Zitiert nach Cointet: Pierre Laval, S. 116. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. hierzu Oudin: Aristide Briand, S. 538f; Kupfermann: Pierre Laval, S. 76f.

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ten Deutschlandbildern, die er in Form mündlicher Resümees kannte. Wie sehr ihn die Sichtweisen seiner Mitarbeiter Philippe Berthelot oder Alexis Léger bei seinem Umgang mit Deutschland prägten, darf sicherlich nicht unterschätzt werden. Er bewahrte sich zeit seines Lebens große Freiheit im Denken, die seine gesamte internationale Politik beherrschte, aber nicht immer umzusetzen war. Pierre Laval dagegen stand in enger Verbindung mit der Presse, unterhielt viele Freundschaften mit Journalisten und war sich der Wirkungsmacht von Bildern bewusst, die er zu seinem eigenen Vorteil nutzte, unter deren Einfluss er aber auch sehr wahrscheinlich stand, wenn es darum ging, andere zu beurteilen. Diese Unterschiede in den Karrieren beider Politiker blieben nicht ohne Rückwirkung auf die deutsch-französischen Beziehungen. Im Umgang mit einem Laval oder einem Tardieu, der noch sehr durch die französischen Deutschlandbilder von 1870 geprägt war,119 hatte Brüning weitaus weniger Handlungsspielräume. Die politischen Werdegänge verschiedener französischer Minister zwischen 1930 und 1932 wie André Tardieu, Théodore Steeg (Gauche démocratique), Pierre Laval, André Maginot (Action démocratique et sociale), Louis Barthou (Union républicaine et radicale) und Briand verdeutlichen die Machtspiele unter den politischen Akteuren Frankreichs und die individuellen Einflüsse, die in der französischen Deutschlandpolitik eine Rolle spielten. Auf sie trifft – wie auf alle anderen, die in einer kollektiven Vorstellungswelt leben – eine Feststellung aus der politischen Soziologie zu: „In Situationen, in denen sich die öffentliche Meinung bildet, also vor allem in Krisensituationen, sehen sich die Menschen Meinungen gegenüber, die von Gruppen vertreten werden. Zwischen diesen Meinungen auszuwählen bedeutet, dass die Entscheidung für eine Meinung eindeutig auch die Entscheidung für eine bestimmte Gruppe ist. Das ist die Folge der Politisierung, die durch die Krise verursacht wird: Man muss zwischen Gruppen wählen, die sich über politische Ansichten definieren und Positionen immer mehr hinsichtlich explizit politischer Prinzipien definieren. Die verschiedenen öffentlichen Meinungen sind Machtfaktoren und die Verhältnisse verschiedener Meinungen zueinander sind Machtkonflikte zwischen den einzelnen Gruppen“.120 Das Urteil der französischen Politiker und der französische Gesellschaft über Deutschland wurde auch durch die Vorstellungen, die man sich von den scheinbar ähnlichen Schwes-

119 André Tardieu wurde am 22. September 1876 in einer Pariser Großbürgertumfamilie geboren. Extrem kultiviert erhielte er mehrere Preise in Literatur, Philosophieund Rhetorik und ging als Jahrgangsbester an die Ecole Normale Supérieur de lettres, wo er sich für die Diplomatie entschied. Im diplomatischen Rahmen kam er 1897 nach Berlin, wo er sein Deutsch perfektionnierte. Neben seiner Karriere in der Diplomatie, der Verwaltung und der Politik (im rechten Lager, aber als zutiefst überzeugter Republikaner), war er auch Schriftsteller, Künstker, Professor in Harvard und an der Ecole de guerres. Er veröffentlichte zwischen 1899 und 1939 tausende Artikel in den Zeitungen Le Petit Parisien (1899–1900), Le Figaro (1901–1903), Le Temps (als Außenpolitikchef + Leitartikler 1903–1914), L’Echo national (als Direktor 1922– 1924), La Revue des deux mondes, La Revue de Paris, L’Illustration (1933–34), La Liberté et Gringoire (1936–1939). Vgl. Junot: André Tardieu. 120 Bourdieu: Opinion publique, S. 231.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

ter- oder Oppositionsparteien machte, und den jeweiligen Analogien, die sie daraus ableiteten, beeinflusst.121 Die deutschen Parteien wurden durch die Brille der Erfahrungen, Besonderheiten, politischen Traditionen und Kämpfe in und unter den gleichlautenden Parteien in Frankreich gesehen, was zu überstürzten und verzerrten Schlussfolgerungen hinsichtlich der deutschen Parteienlandschaft führte. So ist davon auszugehen, dass sich der Parti communiste français mit der Kommunistischen Partei Deutschlands, die SFIO mit der SPD und der USPD, der Parti radical et radical-socialiste mit der Deutschen Demokratischen Partei (linksliberal),122 der Parti démocrate populaire mit dem Zentrum/Bayerische Volkspartei (Christdemokraten), die Alliance Démocratique mit der Deutschen Volkspartei (Rechtsliberale) und die Fédération républicaine mit der Deutschnationalen Volkspartei (Konservative)123 identifizierte und somit den Blick auf die deutsche Situation verstellte, weil die französischen Machtkämpfe einfach auf die deutsche politische Bühne übertragen wurden. Um einen Überblick über die Faktoren zu geben, die das politische Geschehen und die Haltung der französischen Politiker gegenüber Brüning mitbestimmten, auch das Zusammenspiel von Vorstellungswelten und Individuen, Parteien und Gesellschaft prägten, soll hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – noch einmal ein theoretisches Modell in Form eines Schaubildes präsentiert werden.124 Anhand dieses Schaubildes wird deutlich, dass der individuelle Werdegang und das Denken der Politiker aus allen Schichten/Ebenen der kollektiven Vorstellungswelt gespeist wird, aus ihrer Umgebung und ihrer Partei, mit denen sie sich austau-

121 Für die SFIO hatte die SPD Modellcharakter. In der Praxis war die SFIO aber mit den politischen Besonderheiten in Frankreich konfrontiert und konnte nicht wie die SPD agieren. Vgl. Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 50ff. Die Änlichkeiten zwischen beiden Parteien trugen aber zweifellos zu schnellen Urteilen über die deutschen Sozialdemokraten bei, ohne dass man auf die deutschen Besonderheiten (politischer Kontext, Parteiensystem, politische Traditionen) genauer geachtet hätte. 122 Diese Zuordnungen sind ungefähr. Damals verglich Bernard Lavergne zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten mit dem linken Flügel der Radicaux–Socialistes. Vgl. Lavergne: Esquisse des problèmes franco–allemands, S. 20. 123 Diese politischen Zuordnungen sind folgendem Werk entnommen. Raithel: Spiel, S. 570. 124 Dieses Modell lässt sich im Prinzip auf ganz verschiedene Akteure einer Gesellschaft (Politiker, Diplomaten, Journalisten, Wissenschaftler…) anwenden, die die Vorstellungswelt mitgestalten und von ihr geprägt werden. Natürlich können sich die Gruppen oder Strukturen, deren Teil sie sind, von obigem Beispielmodell unterscheiden (anstatt der Partei oder des politischen Umfeldes, stünden dann dort beispielsweise Institute, Redaktionen, Clubs, Universitäten, öffentliche Einrichtungen, Vereine, Botschaften etc.) Auch ihre individuellen Werdegänge und die kollektiven Vorstellungswelt greifen bei ihrer Sicht auf Deutschland ineinander und finden ihren den Akteuren eigenen offiziösen, offiziellen oder privaten Ausdruck (in Form von Artikeln, Büchern, Demonstrationen…), der die Politiker beeinflussen kann (vor allem auf Ebene B).

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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schen, und in und zu denen sie in Form politischer Machtkämpfe Position beziehen:125

125 Infolge der Skepsis gegenüber Parteien, die auf die französische Revolution zurückgeht, war die Dritte Republik noch durch das Modell eines „deliberativen Parlamentarismus“ geprägt. Um in der Chambre de Députés Mehrheiten zu bilden, konnten sich die Abgeordneten in parlamentarischen Gruppen zusammenschließen, die nicht zwangsläufig mit ihrer Partei übereinstimmten. Häufig verteilten sich die Abgeordneten einer Partei auf mehrere politisch unterschiedlich ausgerichtete Gruppen. Nur die linken Parteien (SFIO, PCF) unterlagen einem Fraktionszwang, der den Vorgaben ihrer Partei folgte. Vgl. Grüner: Einheitssehnsucht, S. 246; Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 17ff. Für das Thema dieser Arbeit ist das von besonderem Interesse, da die Abgeordneten über große Handlungsspielräume und individueller Redefreiheit verfügten. Dennoch wird in dieser Arbeit den Standpunkten der Parteien nachgespürt, da die Analyse der parlamentarischen Gruppen bzw. Fraktionen sich häufig als äußerst schwierig erweist. Thomas Raithel hat für die Jahre 1919 bis 1928 einen Überblick über die Zuordnung der Parteien und Fraktionen im französischen Parlament zusammengestellt. Die Zuordnungen sind oft nur ungefähr, da di Zusammensetzung der Fraktionen sehr häufig diffus war. Vgl. Raithel: Spel, S. 570. Die Hoffnung der Franzosen, das Parlament und die Regierung gleichzeitig zu reformieren und von einer traditionellen parlamentarischen Regierung zu einem disziplinierten Parteiensystem zu gelangen, das eine modernisierte parlamentarische Regierung bilden sollte, wurde in der Dritten Republik nicht erfüllt. Vgl. Rousselier: Gouvernement et parlement, S. 267. Der Politikwissenschaftler Michel Offerlé unterstreicht zurecht den Charakter der französischen Parteienorganisation als „relation sociale“ und „champs de concurrence“ selbst im Inneren der Partei. Vgl. Offerlé: Partis politiques, S. 13ff.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

Französische

Deutschlandpolitik

Politisches Umfeld: andere Parteien/Fraktionen

Französische kollektive Vorstellungswelt

Mitglied einer Partei (spezifische +/- freie Organisationsstruktur je nach Doktrin): Gruppe von Individuen, die sich individuell in die Vorstellungswelt integrieren; gemeinsame politische Doktrin/Überzeugungen; laizistisch; möglicher Zugehörigkeit der Parteimitglieder zu verschiedenen Fraktionen; möglicher Austausch mit der deutschen Partei scheinbarer gleicher Doktrin, (täuschende) Analogien mit den deutschen Parteien;

Der individuelle Politiker in der kollektiven Vorstellungswelt: Persönliche Standpunkte: religiöse und philosophische Weltanschauungen… Erreichter sozialer Status: Beruf(e), soziale Kontakte, Engagement in anderen Gruppen (Gewerkschaften, Vereine…)… Ausbildung: individueller Werdegang der Ausbildung und des politischen Engagements… Familiäre/soziale Herkunft: sozialer Status, Prägung, Charakter…

Niveau B

Niveau A 1

Niveau

↑ Die Einflüsse in der außenpolitischen ↑ Entscheidungsfindung

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis nach 1945 entwickelte sich zwischen Frankreich und Deutschland, sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene ein Modell der gegenseitigen Wahrnehmung, das sich aus den historischen Erfahrungen und den nationalen Bildern von dem Anderen speiste und sich derart zu Ungunsten des Anderen verschlechterte, dass es schließlich in ein regelrechtes Modell aus These und Antithese mündete.126 So scheint es offensichtlich, dass sich das wachsende Unbehagen der Franzosen gegenüber ihren deutschen Nachbarn auch auf ihr politisches Handeln niederschlug, vor allem nachdem Stresemann die politische Bühne verlassen hatte: Der Widerhall der kollektiven Vorstellungswelt(en) in den politischen Ansichten, die im

126 Ebd., S. 26f.

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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Quai d’Orsay, in der Abgeordnetenkammer, im Senat, in der Presse und in den anderen ausgewählten Quellen zum Vorschein kommen, geben Zeugnis davon. War die französische kollektive Vorstellungswelt zwischen 1871 und Anfang der 1930er Jahre eine Art „falsches Bewusstsein“, das „reellen“ Fakten und „reellen“ nationalen Identitäten gegenübergestellt werden muss? Kann man von einer variablen Zwitterform zwischen Fiktion, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg durch die Literatur und die Künste erhalten wurde, und den historischen Fakten sprechen?127 Oder kann man, inspiriert von Michel Foucault, davon ausgehen, dass die Bilder als diskursive Elemente die reellen „nationalen Charaktere“ schaffen?128 Die Geschichte der französischen Deutschlandbilder macht deutlich, dass sich diese Bilder aus einer Vielzahl stereotyper Charakterzüge (militaristisch, betrunken, diszipliniert...) repräsentativer historischer Ereignisse (vor allem Kriege: die Revolutions- und napoleonischen Kriege zwischen 1792 und 1815, der Deutsch-Französische Krieg, der Erste Weltkrieg...)129, dominanter Diskurse im kulturellen Bereich (Philosophen, Denker, Poeten...), klimatischer und geographischer Einflüsse (Nord/Süd, Preußen, Rheinland, Bayern...) und globaler Einschätzungen (mehr oder weniger sympathisch) zusammensetzen. Als Beispiel kann das Bild von der Kraft des Genies und des Weisen in Deutschland angeführt werden – einer Konstante in der französischen Vorstellungswelt. Auf literarischer Ebene generiert Deutschland in der französischen Vorstellungswelt das Bild des „verrückten Weisen“ oder des „Landes aller Möglichkeiten“; was die Charakterzüge betrifft, werden die Deutschen als „studieneifrig“ und „arbeitsam“ beschrieben; auf wirtschaftlicher Ebene wird viel von der „industriellen Macht Deutschlands“ gesprochen. Auf politischer Ebene schließlich findet sich die Figur des „Preußen“ Wilhelm II., der die Kraft des Genies in einen Militarismus ohne Grenzen verwandelte. Auf allen Ebenen dient diese „Kraft des Genies“ als Erklärung für die deutsche Situation und erscheint als deutscher Nationalcharakter, der immer wieder in der französischen Vorstellungswelt benutzt, reproduziert, neu erschaffen und komplettiert wird. Das Verschwinden einer der tragenden Komponenten, wie zum Beispiel der Niedergang der deutschen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, stellte keineswegs den Grundgedanken in Frage: Deutschland blieb ein potentiell mächtiges Land. Immer wieder sind bestimmte Reproduktionszyklen dieses typischen Habitus zu entdecken, die bestimmte Bilder (zum Bei127 Diese Überlegungen und die folgende Textpassage stützen sich auf Link/Wülfing: Einleitung. In: Link/Wülfing: Nationale Mythen, S. 7. Es wurde empirisch nachgewiesen, dass die Literatur und die Künste immer zur Mythenbildung beigetragen haben. Das lässt sich an historischen Figuren wie die Heilige Johanna von Orléans, Napoleon, Bismarck oder Hindenburg gut ablesen. Vgl. Wülfing: Historische Mythologie. 128 Vgl. Foucault: Ordre du discours. 129 Vgl. Berschin: Deutschland, S. 3. Hier soll daran erinnert werden, dass die drei deutsch– französischen Kriege in der Zeit von 1870/71 bis 1945 aus der französischen Perspektive die französische Vorstellungswelt und die Urteile über Deutschland mindestens bis in die 1980er Jahre geprägt und strukturiert haben (einige Elemente sind davon selbst heute noch zu finden.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

spiel den preußischen Militarismus) und Fakten (zum Beispiel die deutsche Wirtschaft betreffend) der jeweiligen historischen Situation entsprechend auf spezifische Weise verknüpfen (so wurden wirtschaftliche und angebliche militaristische Bestrebungen im Deutschland der Zwischenkriegszeit gleichgesetzt). Die Bilder vom Anderen entwickelten ihre volle Wirkungskraft erst in der Verbindung mit Fakten und Ideologien. Das Bild vom Erbfeind, also das eines fundamentalen Gegensatzes zwischen Deutschen und Franzosen, hat seit dem 19. Jahrhundert ein solches schematisches Denken erheblich gestärkt und vereinfacht. Die negativen französischen Deutschlandbilder, wie etwa die deutsche „Pedanterie“, wurden von den deutschen Nationalisten geradezu begrüßt und als „deutsche Gründlichkeit“ gefeiert, was wiederum zu einer Verfestigung des französischen Eindrucks beitrug. Ohne diese SelbstIdentifizierung mit den französischen Deutschlandbildern auf Seiten der Deutschen wären diese Bilder ein polemisches Spiel geblieben, so Ute Gerhard und Jürgen Link.130 Die ideologisch äußerst suggestive Kraft eines angeblich typischen nationalen Habitus konnte sich so hartnäckig in der kollektiven Vorstellungswelt verankern, weil sie so vollkommen mit den Ideen von nationaler Identität und Kontinuität verschmolz. Gerhard und Link haben einen Teil der deutschfranzösischen Bilder, die nach 1871 kursierten, in einem Schaubild zusammengetragen:131

Dynamik

Gewicht/

Tiere

Körper

Geschlecht

Material D

F

langsam

schwer

im Schritt

Eisen

schnell

leicht/

Affe

Schwach Prostituier-

Tanz/Cancan

Aluminium

Stier

Zersetzt

Croupier

Bär

Organis-

Hauptbe-

Straße/dreckig schäftigung

U-boot

Haus

Militär

Ballon

Gasse

Dekoration

Herz

Mutter

Organismus

Panzer

verheiratet

Wald

Soldat

Maschine

te

Transport- Haus/sauber

mus.Maschine mittel

_

Auto

frisieren

hysterisch

Diese Form gegenseitiger Abgrenzung ist an kein Jahrhundert gebunden, sie taucht im Mittelalter genauso wie im 19. oder 21. Jahrhundert und bis heute auf. Selbst die verschiedenen Bildkomponenten verändern sich nicht zwangsläufig. Meistens verändert sich nur ihre Bedeutung oder die Art und Weise, wie sie interpretiert werden.132 Nachdem die Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen als wahrer nationaler Gegensatz gesehen wurden, wurde es auch möglich, sie als Hinweise auf einen prinzipiellen moralischen Unterschied zwischen den beiden Nationen zu interpretieren. Scheinbar typische historische Entwicklungen im 130 Gerhard/Link: Kollektivsymbolik, S. 33. 131 Ebd., S. 44f. Hier wird ein Ausschnitt gezeigt. 132 Vgl. Jeismann: Stereotypen, S. 86.

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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Nachbarland wurden zur Argumentationsgrundlage für diesen moralischen Gegensatz: Aus diesem Blickwinkel führte der angebliche Militarismus Friedrichs II. logisch und unabwendbar in den Ersten Weltkrieg. Es war aber auch möglich, die scheinbar typischen historischen Entwicklungen als Folge dieses moralischen Gegensatzes und des angeblich typischen nationalen Habitus (der Deutsche ist von Natur aus ein „Militarist“ und ein „Angreifer“) des Anderen zu sehen, und gemäß dieser Parameter die eigenen politischen Aufgaben und Ziele zu definieren. Das erklärt zum Teil das Misstrauen und die Unerbittlichkeit, die zahlreiche französische Politiker im Umgang mit den Deutschen in der Zwischenkriegszeit an den Tag legten. Die Angst vor einem potentiellen deutschen Militarismus und die daraus resultierende ständige Verteidigungsbereitschaft waren tief in der französischen kollektiven Vorstellungswelt verankert und durch das Trauma des Ersten Weltkriegs nahezu unauslöschbar. Michael Jeismann geht davon aus, dass in dem Maße, wie sich Nationen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene annähern und eine internationale wechselseitige Abhängigkeit sich verstärkt, der Zwang zur Unterscheidung größer wird, auf dem die nationale Selbstidentifikation beruht. Im Falle eines Konflikts kann es so weit kommen, dass die Andersartigkeit des Gegners ausgelöscht werden soll, indem man ihn unterwirft.133 Letztendlich ist es die Instrumentalisierung der Bilder, die aus ihnen einen politischen Faktor macht. Von 1870 bis in die 1930er Jahre wurden die nationalen Selbstidentifikationen (die seit dem 18. Jahrhundert in Frankreich bestanden und seit dem 19. Jahrhundert auch in Deutschland geschaffen wurden) mit Modellen typischer historischer Entwicklungen verknüpft. Wandel und Kontinuität politischer Bilder zu betrachten macht also nur dann Sinn, wenn auch der politische Kontext und die damit verbundene Verwendung oder Instrumentalisierung der Bilder beachtet werden. Zunächst muss man die Elemente und das Entstehen des französischen Selbstbildes genauer beleuchten. Welche Bereiche der französischen Gesellschaft hängen von einem schematischen Denken in „ingroup“ und „outgroup“134 und nationalen Gegensätzen ab? Welche Unterschiede gibt es zwischen Deutschland und Frankreich? Bis zu welchem Grad hängen Fremd- und Selbstbilder von der eigenen sozialen, politischen oder kulturellen Stimmung ab und durch welche historischen Erfahrungen sind sie bedingt? Welche politischen Argumente ergeben sich aus dem nationalen Selbstbild, in welchen Bereichen werden sie verwendet und wo werden sie zu einem wirkmächtigen Faktor? Wie bedient man sich der Vorstellung eines prinzipiellen nationalen Gegensatzes innerhalb und außerhalb des Landes und bis zu welchem Punkt werden Konflikte zwischen beiden Ländern nach diesem schematischen Denken beurteilt? Welche gesellschaftlichen Gruppen beurteilen die politischen Fremdbilder als aussagekräftig und glaubhaft genug, um sie in ihren Argumentationen zu verwenden?135 133 Ebd., S. 89. 134 Vgl. Kapitel 1.1 dieser Arbeit. 135 Diese Fragen folgen Jeismann: Stereotypen, S. 90.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

Diese Fragen lassen erkennen, wie stark der politische Horizont durch das „prison de longue durée“136 der Bilder bestimmt ist und wie sehr nationale Definitionen von der eigenen und der anderen Nation die Möglichkeiten politischer Handlungen vorstrukturieren und scheinbare Notwendigkeiten vortäuschen. Die Selbstund Fremdbilder existieren nicht unabhängig voneinander, sie unterhalten eine wechselseitige und beständige Beziehung in einer teleologischen Perspektive, die je nach Epoche variiert. Dieser „Spiegelbild-Effekt“ und diese teleologische Bestimmung der Bilder von den Anderen prägten alle Gruppen und Personen der französischen Gesellschaft, die sich für Deutschland interessierten (Parteien, Politiker, Armeeangehörige, Journalisten...), variierten aber je nach nationaler, sozialer und religiöser Ausrichtung der betroffenen Personen und Gruppen, wie ich im zweiten Teil der Arbeit zeigen werde. Die Bilder von den Anderen haben eine wichtige Funktion für die Innenpolitik eines Landes, weil sie eine nationale Identität zu formen erlauben und den Gegner aus dem In- und aus dem Ausland disqualifizieren – in der Chambre des Députés, im Senat oder in den Zeitungen wurde häufig davon Gebrauch gemacht. Auf der Ebene der Außenpolitik können diese Bilder – wenn sie nicht auf propagandistische Weise instrumentalisiert werden – zumindest als politische Orientierungshilfe dienen.137 Man darf nicht vergessen, dass die deutschfranzösischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit von den Ereignissen 1870/71, vom Ersten Weltkrieg und von der Fortsetzung dieses Kriegs auf politischer, wirtschaftlicher und juristischer Ebene durch den Versailler Vertrag geprägt waren.138 Die Art, wie diese Konflikte geregelt werden sollten, hing sehr vom Wissen über den Anderen und von den politischen Bildern ab: In einem politischen Kontext wie dem zwischen Franzosen und Deutschen von 1870 bis 1930 fehlte ganz einfach der Wille, sich gedanklich in die Lage des Anderen zu versetzen und zumindest zu versuchen, die Positionen und Reaktionen des Anderen zu verstehen. Trotz allem bleibt die Analyse der kollektiven Vorstellungswelt als politische Einflussgröße in den deutsch-französischen Beziehungen eine Herausforderung. „What matters is how the milieu actually is, not how the environed individual or groupe imagines it to be“,139 meinten Harold und Margaret Sprout, nachdem sie

136 137 138 139

Ausdruck des französischen Historikers Fernand Braudel. Vgl. Berschin: Deutschland, S. 58. Vgl. Wendt: Deutschlandbild, S. 34; Niedhart: Perztion, S. 42. Vgl. Soutou: Deutschland, S. 73. Sprout: Ecological Perspective, S. 225. Sie richteten sich gegen die Vorstellung Kenneth Bouldings, nach der Bilder einen determinierenden Effekt haben. Vgl. Boulding: Leitbilder, S. 9.

II Die französischen Deutschlandbilder zu Beginn der 1930er Jahre

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drei Jahre zuvor Folgendes festgestellt hatten: “What matters in decision-making systems is how the actor imagines things to be, not how they actually are.”140 Der Ausgang dieser Debatte bleibt offen.141

140 Sprout: Foundations of International Politics, S. 124. 141 Hier soll an eine Fesstellung Lucian Boias erinnert werden: „Ja, die Vorstellungswelt kann dazu dienen, die Geschichte zu interpretieren und das ist umso legitimer […], wenn man herausstellt, welchen Einfluss sie auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften hat.“ Aber dabei sollten wir nie außer Acht lassen, dass die Geschichte „sich als sehr komplexes Netzwerk darstellt, in dem die Vorstellungswelt nur einen Teil ausmacht“.“ Zitat in Übersetzung nach Boia: Histoire de l’imaginaire, S. 209.

III. DIE WEIMARER REPUBLIK ALS SPIEGEL FRANKREICHS? DIE FRANZÖSISCHE UND DIE DEUTSCHE SITUATION ANFANG DER 1930ER JAHRE 1. Der Zustand der Republik in Frankreich und Deutschland bei Amtsantritt Heinrich Brünings Als Heinrich Brüning in Deutschland Reichskanzler wurde, durchlebten die Franzosen schon seit 1925/26 eine intellektuelle, moralische und ideologische Krise, die mit einem erheblichen Vertrauensverlust in ihr politisches System einherging und von Zeitgenossen als nationaler Niedergang Frankreichs und/oder als Krise der westlichen Zivilisation interpretiert wurde.1 Die vielfältigen Gründe für das Unbehagen, das sich in der französischen Gesellschaft breit machte, lagen in den demographischen Folgen des Ersten Weltkriegs,2 einem tiefen Pessimismus hinsichtlich der Zukunft der humanistischen Werte und einer wirtschaftlichen Rezession.3 Der Philosoph Henri Bergson glaubte im Jahr 1932, dass dieses Unbehagen daher rührte, dass der gigantische industrielle Fortschritt nicht mit einer ebenso bedeutenden Weiterentwicklung der menschlichen Seele einhergegangen sei.4 Der Dichter Paul Valéry schloss sich dieser Interpretation Bergsons an, als er im Jahr 1931 eine enthumanisierte Welt5 als Ursache für die Unfähigkeit des Homo faber6 1

2

3 4 5

In den 1930er Jahren wurde in Frankreich fieberhaft nach neuen Wegen gesucht; die intellektuellen Anstrengungen und die neuen Bewegungen, um die Krisensituation zu bewältigen, waren zahlreich: Planwirtschaftliche Überlegungen im Sinne Henri de Mans, die Bewegung der Spiritualisten, das Engagement und die revolutionäre Verlockung im kulturellen (Surrealisten) und politischen Bereich (Kommunisten, Trotzkisten) als Beispiele aus der linken politischen Hemisphäre. So waren die Surrealisten übrigens auch eng mit den politischen Gruppen der revolutionären Linken verbunden. Vgl. Short: Politik der surrealistischen Bewegung, S. 7ff. Der Krieg hatte viele Menschenleben gekostet. Die Franzosen betrachteten sich deswegen als ein gealtertes Volk, das nicht mehr in der Lage war, die großen Krisen in Europa zu bewältigen. Dieses Ohnmachtgefühl wurde durch die Presse, die Literatur und auch einige Politiker in Umlauf gebracht. Frankreich hatte 10,5 % seiner männlichen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg verloren, während in Deutschland in etwa 8 % der männlichen Bevölkerung gefallen waren. Vgl. Wilkens: Wachstum. Vgl. Berstein: France, S. 79f. Bergson: Sources, S. 283ff. Marjorie A. Beale hat die verschiedenen innovativen und konservativen Ideen der französischen Eliten analysiert, mit denen sie auf die Herausforderungen der Moderne, wie zum Beispiel die Demokratie oder die Kultur der Massen Anfang der 20. Jahrhunderts reagierten und dabei versuchten, einen großen Teil der traditionellen Werte zu erhalten. So hat sie sich u.a. mit der sozialen katholischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und ihrem Versuch den „Faktor Mensch“ wieder in den sozialen und industriellen Prozess zu integrieren, beschäftigt. Sie zeigt ebenfalls auf, wie sehr die französischen Eliten durch das Denken der Philosophen und Psychologen wie Henri Bergson, Théodule Ribot oder Hippolyte Bernheim geprägt wa-

III. Die Weimarer Republik als Spiegel Frankreichs?

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ausmachte, seine eigenen Erfindungen zu beherrschen.7 Anfang der 1930er Jahre kündigten überall in Frankreich Philosophen und Intellektuelle unterschiedlichster Couleur den Untergang der westlichen Gesellschaft und das Ende der humanistischen Werte an.8 Ab 1930−1932 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sah sich Frankreich weder wirtschaftlich, politisch noch gesellschaftlich „en mesure de peser sur le destin de l’Europe comme elle avait pu faire dans le passé“.9 Die Unfähigkeit der traditionellen politischen Kräfte, einen Weg aus der Krise zu bahnen, sowie das Gefühl vieler Franzosen einer gewissen Machtlosigkeit der liberalen Demokratie und die mangelnde ministerielle Stabilität der französischen Regierungen riefen nicht nur Zweifel am politischen System hervor, sondern ließen auch totalitäre Ideologien wie den italienischen Faschismus, den sowjetischen Kommunismus und den deutschen Nationalsozialismus immer attraktiver erscheinen.10 Anfang der 1930er Jahre verblasste der scheinbare Erfolg der parlamentarischen Demokratien, den sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs genossen hatten.11 Die meisten europäischen Demokratien ächzten unter dem Gewicht schwerwiegender Probleme, die mehrheitlich Folgen des Ersten Weltkriegs waren: Inflation, eine Konjunkturkrise, finanzieller Druck, ungelöste Fragen internationaler Sicherheit, und der schleichende Vertrauensverlust der parlamentarischen Regierungen, der mit einer wachsenden Macht extremistischer und antidemokratischer politischer Gruppen einherging. Aber während sich die Weimarer Republik immer mehr in diesem selbstzerstörerischen Netz verfing, gelang es der französischen Republik trotz der vielen Symptome erheblicher Schwäche, die politische Situation bis 1940 im Griff zu behalten. Erst dann erlebte sie, in erster Linie infolge der militärischen Niederlage und erst in zweiter Linie aufgrund der vielen in-

ren. Dieses Denken spiegelte sich in den großen zeitgenössischen Debatten wider, die sich um die Frage drehten, wie die Modernisierung der französischen Gesellschaft zu bewerkstelligen sei. Cf. Beale: Modernist Enterprise. 6 Homo faber: Der Mensch als Hersteller. Ein von Bergson geprägtes Konzept für die Bestimmung des Menschen als arbeitendes Wesen. 7 Valéry: Regards, S. 43. Gunther Mai sieht den zentralen Konflikt der Zwischenkriegszeit im Kampf um die Moderne, für die oder gegen die man sich engagierte. Diese Schwierigkeiten, sich der modernen Zeit anzupassen, förderten die Zunahme extremistischer Gewalt. Vgl. Mai: Europa, S. 10ff. Hobsbawm sieht in dieser Gewalt das Charakteristikum dieser Epoche. Vgl. Hobsbawm: Age des extrêmes. 8 Vgl. Berstein: France, S. 80. 9 Ebd., S. 81. 10 Vgl. Feyel: Presse, S. 151; Berstein: France, S. 82f. 11 Ende der ungarischen Demokratie 1919; faschistische Machtergreifung in Italien 1922; Errichtung eines autoritären Regimes in Polen 1926; Errichtung einer Diktatur in Portugal 1926; Militärdiktatur in Spanien zwischen 1923 und 1930 unter Miguel Primo de Rivera und vor dem Bürgerkrieg, der 1939 in der Diktatur Francos mündete; Errichtung einer Diktatur in Littauen 1926 und in Lettland im selben Jahr etc. Horst Möller iefert einen sehr guten Überblick über die vorherrschenden Probleme im Europa (Fragen der Demokratie, Wirtschaft und auf internationaler Ebene…) der Zwischenkriegszeit, sowie über die historiographischen Debatten zu den großen Themen dieser Epoche. Vgl. Möller: Europa.

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Die Sicht des Anderen oder die Schaffung eines politischen Bildes

nenpolitischen Probleme, ihren Niedergang. Horst Möller und Manfred Kittel haben 2002 einen Sammelband herausgegeben, in dem die vielen Besonderheiten der beiden demokratischen Systeme unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kontexte und Kausalitäten analysiert werden; hier kann man nachvollziehen, welche Strukturen, Traditionen und politischen Hintergründe dazu beitrugen, dass in dem einen Land die Republik stabilisiert (III. Republik) werden konnte, wohingegen sie im anderen Land zerstört wurde (Weimarer Republik).12 Die internationale vergleichende Demokratieforschung steht zwar erst an ihrem Anfang, liefert aber inzwischen entscheidende Hinweise, um das Urteil zu verstehen, das die Franzosen über die Deutschen unter Heinrich Brüning fällten.13 In den folgenden überblicksartigen Darstellungen zeige ich die Besonderheiten der beiden demokratischen Systeme und politischen Kulturen auf, um den Spiegelbildeffekt zwischen Frankreich und Deutschland zwischen 1930 und 1932 analysieren zu können. Folgende Aspekte stehen dabei im Vordergrund: Parlamentarismus und Parteiensystem, politisches Denken und politische Traditionen der Gesellschaft (inklusive Religion und Laizismus), der politische Extremismus und die Effizienz der politischen Mitte bei dem Versuch, das politische System zu stärken. Hier soll aber nicht die ungeheure Fülle geschichtswissenschaftlicher Werke über die 14 Jahre Weimarer Republik14 oder die fast 70 Jahre französische III. Republik15 rezipiert, sondern nur die Besonderheiten der beiden Demokratien unterstrichen werden, die Vergleiche, Kritik oder Unverständnis in der französischen Gesellschaft in Hinblick auf die junge deutsche Demokratie während der Kanzlerschaft Brünings hervorriefen.16

12 Möller/Kittel: Demokratie. 13 In den folgenden Werken wird ein vergleichender Blick auf die Demokratien in Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit geworfen: Kittel: Faktoren der Stabilität und Instabilität in der Demokratie der Zwischenkriegszeit, S. 807–831; Wirsching: Weltkrieg; Kittel: Provinz zwischen Reich und Republik; Grüner: Paul Reynaud; Möller/Kittel: Demokratie; Raithel: Spiel; Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux. 14 Dieter Gessner zeichnet die großen Linien der historiographischen Debatten nach. Vgl. Gessner: Weimarer Republik; Eberhard Kolb liefert einen guten Überblick über die Historiographie zur Weimarer Republik. Vgl. Kolb: Weimarer Republik. Vgl. ebenfalls Bracher/Funke/Jacobsen: Weimarer Republik; Bracher: Auflösung der Weimarer Republik; Bariéty/Droz: République de Weimar; Dederke: Reich und Republik; Erdmann/Schulze: Weimar; Göbel: Weimarer Republik; Heiber: Republik von Weimar; Jasper: Von Weimar zu Hitler; Marcowitz: Weimarer Republik; Möller: Weimarer Republik; Peukert: Weimarer Republik; Schulze: Weimar; Stürmer: Weimarer Republik; Wirsching: Weimarer Republik. 15 Vgl. Algulhon: République; Azéma/Winock: Troisième République; Berstein: Troisième République; Bloch: Dritte Französische Republik; Bonnefous: Histoire politique; Borne/Dubief: Crise; Bouju/Dubois: Troisième République; Chastenet: Histoire de la Troisième République; Dupeux: IIIe République; Mayeur: Vie politique; Winock: Fièvre hexagonale. 16 Ein Vergleich zwischen der Weimarer Republik in den Jahren 1930 bis 1933 und dem Vichy– Regime drängt sich auf, wie Möller deutlich macht. Vgl. Möller: Deutsche und französische Demokratie, S. 2.

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Die Einrichtung eines Präsidialsystems und die Schwächung des Parlaments unter Brüning, der trotz allem den deutschen Rechtsstaat aufrechterhielt, und die damalige Situation der Franzosen, die mit Unverständnis auf die politischen Veränderungen in Deutschland reagierten, folgen im Detail und unter Berücksichtigung des französischen Blickwinkels im zweiten Hauptkapitel. Die erste deutsche Demokratie wurde aus der Niederlage geboren, als Folge eines abrupten revolutionären Wandels eines politisches Systems in einem Land, das im Vergleich mit Frankreich deutlich stärker industrialisiert, urbanisiert und gesellschaftlich fragmentierter war.17 Die Deutschen waren durch den verlorenen Krieg traumatisiert, die Niederlage wurde als Demütigung der eigenen Nation und als Beleidigung der einstigen nationalen Größe erlebt. Die Frustration der Deutschen saß umso tiefer, als der Versailler Vertrag mit dem Artikel 231 den Deutschen die alleinige Kriegsschuld zusprach und das 14-Punkte-Programm Wilsons viele deutsche Hoffnungen genährt hatte, ohne sie zu erfüllen. Hinzu kam eine soziokulturelle Modernisierung, die Deutschland besonders heftig erfasste. Von Anfang an erlebte eine Mehrheit der Deutschen, die noch von der monarchistischen Vergangenheit geprägt war, die neue Republik als einen Fehler der Gesellschaft und als ein ihnen aufgezwungenes System, mit dem sie sich nicht identifizierten.18 Die Schärfe der politischen Kämpfe, die vielen politischen Morde, die häufig von Putschversuchen begleitet waren, die exzessiven politischen Kampagnen linker und rechter paramilitärischer Organisationen gegen verschiedene Politiker der Republik, die als „Kriminelle“ diffamiert wurden, belegen, wie sehr der Mangel an einer demokratischen politischen Kultur eine nationale Identifikation mit der jungen Republik erschwerte. Frankreich dagegen hatte die Entwicklung zur Republik ganz anders erlebt. Hier wurde die Republik und das allgemeine Wahlrecht für Männer nach der Französischen Revolution von 1789 und damit lange vor den anderen europäischen Nationen eingeführt. Vom Untergang des Absolutismus bis zur Schlacht von Sedan und zum Gnadenstoß, der dem zweiten Empire am 2. September 1870 versetzt wurde, hatte Frankreich mehrere despotische und monarchistische Kapitel durchlebt, die immer wieder durch neue Demokratisierungsversuche unterbrochen wurden. Die Dritte Französische Republik ist ebenfalls aus einer militärischen, politischen und moralischen Niederlage geboren, aber anders als die Deutschen hatten die Franzosen die Zeit die Krise zu überwinden und den notwendigen politischen Strukturwandel zu vollziehen, der dank einem republikanischen Erbe gelingen konnte, das die Franzosen zumindest auf mythischer Ebene bereits besaßen. Die französische Republik ging gestärkt aus den verschiedenen politischen Krisen, wie der Commune de Paris (18. März–27. Mai 1771), dem Boulangisme (1886−1889) und der Dreyfus-Affäre (ab 1894)

17 In der Folge trug das zur Erosion des Sozialsystems und zur Labilität der deutschen Mittelschicht bei, was wiederum dramatische Konsequenzen für das Wahlverhalten der Deutschen hatte. Vgl. Möller: Europa, S. 95; Charle: Crise, S. 327 ff. 18 Vgl. hierzu Schirmer: Deutungsmuster, S. 33–38.

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hervor, die das republikanische System radikal von der Revolution trennten,19 die Demokratie auf sichere Füße stellten, den Laizismus von Schulen und Staat etablierten, die institutionelle Vormachtsstellung des Parlaments schufen sowie Misstrauen gegenüber Nationalismus und Militarismus verankerten und das Versprechen auf sozialen Fortschritt und den Vorrang des Individuums vor der Gesellschaft als Prinzipien des Republikanismus festlegten.20 Dank dem „Mythos von 1789“,21 der tief in der kollektiven Vorstellungswelt verankert war, konnten die Franzosen eine republikanische Elite schaffen und die nationale Identifizierung mit der Republik fördern. Der Stolz auf die Französische Revolution diente als Fundament, um die Republik nach und nach in allen politischen Lagern der III. Republik zu legitimieren. Hinzu kam der Sieg von 1918 und der Versailler Vertrag, die dem französischen Volk, das einst durch die Niederlage gegen die Deutschen im 19. Jahrhundert traumatisiert und von diesen tief enttäuscht worden war, als weitere moralische Stütze dienten. Den Sieg über die Deutschen, der dem Empire Napoleons III. nicht gelang, hatte nun die Republik errungen.22 Schließlich ging auch der soziokulturelle Wandel in Frankreich weitaus weniger radikal als in Deutschland vonstatten. Die Folgen der Industrialisierung und der Urbanisierung traten langsamer und regional begrenzt durch das soziale Fundament der III. Republik (das Bürgertum und die große Landbevölkerung), die wirtschaftlichen Strukturen und den Arbeitsmarkt zutage.23 Manfred Kittel hat in seiner vergleichenden Analyse der „deux Frances“24 (katholisch und antiklerikal) und des deutschen Bi-Konfessionalismus (Katholizismus und Protestantismus) deutlich gemacht, welchen Einfluss die Konfessionen und der Laizismus bei der Errichtung einer Republik in beiden Ländern hatten.25 Bis heute ist die französische Gesellschaft vom Katholizismus auf der einen Seite und einem geradezu laizistischen Glauben auf der anderen Seite geprägt. Die Dritte Republik wurde gegen die Kirche errichtet, infolge der Kämpfe gegen die revisionistischen Kräfte der Bonapartistes und Royalisten und der DreyfusAffäre, in der sich die Katholiken auf die Seite der politischen Rechten gestellt hatten.26 Der französische Laizismus, der in den Schulen und in der Armee gelehrt

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Vgl. Winock: Fièvre héxagonale. Vgl. Berstein: Culture républicaine, S. 161 + 170. Möller: Methodische Überlegungen, S. 7f. Der Kampf gegen den Erbfeind diente seit 1870 als einheitsstiftendes Element für die französische Nation und Republik. Vgl. die Kapitel 1.2.2 und 1.2.3 der vorliegenden Studie. Vgl. Möller: Methodische Überlegungen, S. 7f; Ebd.: Europa, S. 94f. Die Trennung zwischen dem katholischen, monarchistischen und konterrevolutionären Frankreich und dem laizistischen, demokratischen und revolutionären Frankreich war so tief, dass man von einem doppelten Frankreich sprach. Kittel: Deux France, S. 33ff. Die folgende Passage stützt sich auf die Analyse von Kittel. Die Tatsache, dass die Rechte ursprünglich anti–republikanisch eingestellt war, machte es für einen deutschen Historiker so schwierig, die politische Orientierung der französischen Parteien festzustellen, zumal die politische Orientierung auch nicht zwangsläufig aus dem Parteinamen abzulesen ist. Die republikanische Rechte und die politische Mitte wählten nämlich

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wurde, bildete einen Dreibund mit dem Republikanismus und der Demokratie, während sich auf deutscher Seite die Protestanten skeptisch gegenüber einem demokratischen System zeigten, das ihnen unter anderem durch die fanatischen Kämpfe gegen die Kirche in Frankreich nach der Französischen Revolution diskreditiert erschien. Seit 1871 identifizierten sich die deutschen Protestanten mit einer durch die preußische Monarchie der Hohenzollern geprägten Nation. Die französischen Katholiken wurden nicht nur als Gegner jeglichen Fortschritts und der Wissenschaften diffamiert, sondern waren auch Opfer eines radikalen Antiklerikalismus, der es ihnen schwer machte, die Republik zu akzeptieren und sich in der neuen Parteienlandschaft zu etablieren.27 Die Mehrheit der Katholiken orientierte sich an der monarchistischen und reaktionären Rechten, nur eine Minderheit fühlte sich zu den kleinen Gruppen der christlichen Demokraten hingezogen.28 Aber nach dem Ersten Weltkrieg,29 in dem Katholiken Seite an Seite mit den Antiklerikalen für Frankreich gekämpft hatten, trugen der Geist der Union Sacrée, die Heiligsprechung der Johanna von Orléans und die Einrichtung ihres Namenstages als nationalen Feiertag, die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und dem Vatikan sowie die Verurteilung der Action Française durch den Papst im Jahr 1926 dazu bei, dass sich die Situation zwischen Laizisten und Katholiken entspannte. Zwischen 1920 und 1930 näherten sich die französischen Katholiken der Republik an30 und der politische Pluralismus in Frankreich erwies sich als stabilisierender Faktor, wie Manfred Kittel feststellt.31 In Deutschland trugen die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs dazu bei, dass sich die deutschen

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Parteinamen aus, die sie linksgerichteter erschienen ließen, als sie in Wirklichkeit waren. Der Begriff „radical“ zum Beispiel stand nicht etwa für einen exzessiven Sozialismus, sondern für eine Form des Liberalismus. Diese begrifflichen Schwierigkeiten stehen am Anfang eines neuen Forschungsbereiches, der sich mit dem Liberalismus und der politischen Mitte in Frankreich beschäftigt. Vgl. Duverger: Marais, S. 33–51; Höhne/Kolboom: Sozialliberalismus, S. 149–170; Grüner: Paul Reynaud. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es nur eine den Katholiken nahe stehende Organisation, die Ligue d’Action Française. Sie erfüllte aber nicht die Erwartungen einer wachsenden katholischen Gemeinde, die durch den Krieg gepägt war. Vgl. Mayeur: Catholiques, S. 71. Die Standardwerke zur Entwicklung der Katholiken und der Christdemokraten in der Zwischenkriegszeit sind noch immer Delbreil: Centrisme et Démocratie–Chrétienne; Rémond: Catholiques dans la France. Tom Buchanan und Martin Conway haben Studien zum politischen Katholizismus in Europa veröffentlicht, die einen vergleichenden Blick auf die Jahre der Zwischenkriegszeit erlauben. Vgl. Buchanan/Conway: Political Catholicism; Conway: Catholic politics. Ab 1919 orientierten sich die französischen Katholiken mehr in die Richtung der konservativen und gemäßigten Rechten und weniger in Richtung der Neo–Monarchisten. Vgl. Mayeur: Catholiques, S. 71. Vor allem seit den 1930er Jahren stellten die französischen Katholiken, die sich in den katholischen Organisationen oder in den Bewegungen der Action catholique engagierten, nicht mehr die Verteidigung ihres Glaubens an erste Stelle, sondern die soziale und bürgerliche Bildung. Dies führte dazu, dass sie die politischen Extreme von rechts und links ablehnten. Vgl. Mayeur: Catholiques, S. 77. Kittel: Deux France, S. 51f.

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Protestanten einer Situation annäherten, die der Zwangslage der Katholiken in Frankreich vor 1914 entsprach. Nach dem Untergang des Kaiserreichs hatten sie jede Möglichkeit der politischen Identifizierung verloren und konnten sich auch nicht wie die Katholiken auf eine moralische Instanz wie den Vatikan stützen. Die ehemaligen Feinde der Monarchie, das katholische Zentrum,32 die SPD,33 und die Linksliberalen34 führten nun die junge Republik, was den Graben zwischen Protestantismus und Republikanismus nur noch vertiefte. Das Misstrauen der Protestanten gegenüber der Republik spiegelte sich immer wieder in ihrem Wahlverhalten: Im Jahr 1925 zum Beispiel stimmten sie mehrheitlich für Hindenburg, einen Vertreter der alten Ordnung, der den neuen Staat ablehnte. Die liberalen deutschen Protestanten hatten nicht genug Anhänger, um dieser politischen Entwicklung entgegenzuwirken. Aber auch die Katholiken – abgesehen vom katholischen Zentrum, vor allem vom linken Flügel dieser Partei und den katholischen Republikanhängern in der Reichsbanner-Bewegung35 − traten nicht leidenschaftlich für die Demokratie ein.36 Kittel vertritt die These, dass ihnen eine parlamentarische Monarchie wohl besser entsprochen hätte.37 Wenn es mehr und schnell sichtbare Erfolge in der Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik gegeben hätte, dann wäre es den politischen Führern in Deutschland vermutlich leichter gefallen, die neue Staats- und Regierungsform positiv zu besetzen. Sie hätten mit der Zeit eine republikanische Elite schaffen und besser auf die schnellen soziopolitischen Veränderungen reagieren können – doch derartige Erfolge stellten sich nicht ein. Eine allgemeine Staatsideologie, die von der gesamten Gesellschaft vertreten und ak32 Trotz seiner Rolle in der Opposition zu Zeiten der Monarchie, hatte das katholische Zentrum keine republikanische Tradition und betrachtete sich direkt nach der Revolution nicht als republikanischer Partei. Aufgrund ihres pragmatischen Charakters und geprägt durch christliche Werte, glaubte die Partei der neuen Regierung am besten zu dienen, wenn sie auch Regierungsverantwortung übernehme. Im Laufe der Jahre zeigte sich die Zentrumspartei dem neuen Staat eng verbunden und erwies sich als treue Stütze des Rechtsstaats, obwohl sie eine gewisse Distanz zur Weimarer Republik behielt. Vgl. Ruppert: Dienst am Staat, S. 409ff. 33 Die SPD kultivierte genau wie das Zentrum seine Reserviertheit gegenüber der Weimarer Republik. Vgl. Möller: Weimarer Republik, S. 95; Klenke: SPD–Linke. 34 Die DDP war die einzige Partei in der Weimarer Republik, die die neue Demokratie vorbehaltlos unterstützte. Sie stellte das Fundament für einen politischen und intellektuellen Neustart dar. Vgl. Möller: Weimarer Republik, S. 95ff. 35 Vgl. Lehnert: Fragmentierung, S. 77ff. 36 Eine genaue Analyse der Verflechtung von Katholiken, Parteien, Gemeinde und den katholischen Gewerkschaften in der Weimarer Republik und den Schwierigkeiten der Katholiken, sich in dem neuen politischen System zu positionieren, bieten: Grothmann: Verein der Vereine; Kotowski: Boden der Tatsachen, S. 159–180. 37 Auch Manfred Kittel schlägt zurecht vor, den autoritären Wandel der Republik unter Brüning in diese Richtung hin zu bewerten. Diese Ansicht scheint sich durch die Sympathien zu bestätigen, die Brüning für die Monarchie hegte und seinen Wunsch, zu einer Bismarckschen Verfassung zurückzukehren, wie er in seinen Memoiren schreibt. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass er die Republik als Staat niemals in Frage stellte. Vgl. Kittel: Deux France, S. 54; Brüning: Memoiren, S. 290; Hömig: Brüning (I), S. 213ff. Zu den Haltungen der Katholiken gegenüber der Weimarer Republik, vgl. Breuning: Vision des Reiches.

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zeptiert wurde, wie der Mythos der Französischen Revolution oder des laizistischen Republikanismus, wurde in Deutschland nie aufgestellt.38 Den Deutschen mangelte es an politischen Traditionen mit Symbolcharakter wie dem 14. Juli als Nationalfeiertag, der Marseillaise oder dem 11. November als Gedenktag an das Ende des Ersten Weltkriegs in Frankreich. Derartige politische Symbole hätten alle politischen Lager vereinen können, aber sie zu schaffen erwies sich als unmöglich in einem Land, das den Krieg und die Republik mit der Scham der Niederlage verband, mit der Dolchstoßlegende und mit dem Verrat der „Novemberverbrecher“. Der Hauptfehler der Weimarer Republik war das Fehlen eines groß angelegten republikanischen Bildungsprogramms, das mit dem der III. Republik zu vergleichen gewesen wäre, bemerkt Christophe Charle.39 Dieses Ziel erwies sich als um so schwieriger zu erreichen, als die politischen Machthaber kein alternatives Gesellschaftsmodell zu entwerfen wussten, das die Mehrheit der Deutschen hätte zufrieden stellen können, die den Untergang der Monarchie als einen Verlust erlebt hatten und sich in der neuen Staatsform an nichts orientieren konnten.40 In einem Deutschland, das politisch weitaus stärker zersplittert war als Frankreich, löste das Erbe des Krieges politische Gewalt aus, während es in Frankreich die politischen Gruppen zumindest in den 1920er Jahren befriedete.41 Trotz vergleichbarer Elemente wie der traumatisierenden Erfahrung des Ersten Weltkriegs, des Erlebnisses unvergleichlicher Gewalt und der Gesamtheit struktureller Schwächen beider Demokratien, die auch in Frankreich gewaltsame politische und extremistische Proteste auslöste, waren die Probleme, die Deutschland zu bewältigen hatte, ungleich schwieriger und komplexer als bei ihren französischen Nachbarn. Dies löste in Deutschland einen weitaus „extremeren“, weil stärker ideologisierten und gewaltsameren politischen Extremismus von links und rechts aus,42 wie Andreas Wirsching überzeugend darlegt.43 Die III. Republik hat nie eine solche gesellschaftliche und politische Radikalisierung kennen gelernt wie die Weimarer Republik in den Krisenjahren 1923 oder 1932 und sie hat auch nie den Kampf gegen politische Gewalt aufgekündigt.44 Die rechtsextremistischen Bewegungen wie die Action Française von Charles Maurras und Léon Daudet, die Jeunesses Patriotes von Pierre Taittinger oder die Croix de Feu des Colonel de LaRoque45 hatten nie einen solch destruktiven Charakter wie die NSDAP und verfolgten trotz ihrer parlamentarismusfeindlichen Haltung – was zum Beispiel 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Möller: Methodische Überlegungen, S. 8. Charle: Crise, S. 357. Vgl. ebd. Vgl. Wirsching: Politische Gewalt, S. 149f. Ebd., S. 622. Ebd.: Weltkrieg. Vgl. hierzu ebd.: Politische Gewalt, S. 146. Anfang der 1930er Jahre wurde die Action Française von neuen rechtsextremistischen Verbänden überholt. Die Jeunesses Patriotes zählten 160000 Mitglieder im Jahr 1932 und die Croix de Feu 650000 Mitglieder im Jahr 1936. Vgl. Millman: Ligues, S. 79.

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die Jeunesses Patriotes betrifft – die Integrierung des rechten politischen Flügels in die „republikanische Synthese“,46 die in Frankreich existierte und funktionierte.47 Die gleiche integrative Kraft des republikanischen Konsens funktionierte auch bei den Kommunisten, die in den Jahren des Front Populaire begannen, die französische Republik zu verteidigen.48 Auch die Existenz von Kräften in der politischen Mitte (sowohl Mitte-links als auch Mitte-rechts), wie der Alliance démocratique und dem Parti Radical, die sowohl die Loyalität der Konservativen als auch der Linken zur Republik förderten, hat das französische politische System stabilisiert. Diese Sichtweise wird auch von Rosemonde Sanson vertreten, die die Regierungen von 1922 bis 1924, von 1926 bis 1932, von 1934 bis 1936 und von 1937 bis 1940 als „digue [centriste] contre les dérives communistes et fascistes“49 bezeichnet. Die Historikerin Daniela Neri-Ultsch hat in ihrer Habilitation ebenfalls die Stärke der politischen Mitte unterstrichen, die ihrer Meinung nach durch die konstruktive Zusammenarbeit des Parti Radical und der SFIO gesichert wurde, sowie durch die abwechselnde Folge rechter und linker Regierungsmehrheiten, die die parlamentarische und polarisierte Mehrparteien-Demokratie der III. Republik stabilisierten und so zu ihrer Krisenresistenz beitrugen.50 Ganz anders in Deutschland: Hier erwies sich das demokratische System durch die konstante Schwächung der politischen Mitte als weitaus instabiler. Das für die Weimarer Republik charakteristische Parteiensystem, also die Entwicklung der Parteienstrukturen weg vom ehemaligen Kaiserreich hin zur Republik, hat sich zwischen 1919 und 1924 ausgebildet. Die Dreiteilung des politischen Spektrums in extremistische Linke, extremistische Rechte und politische Mitte festigte sich und hielt sich im Prinzip bis 1932 .51 Im Wahlverhalten der Deutschen erkennt man allerdings schon jene im Vorfeld bereits beschriebenen Probleme und Standpunkte, die das parlamentarische Profil der Republik seit Anfang der sogenannten „stabilen“ Jahre gefährdeten.52 Bis in die Jahre 1930 bis 1932 übten die rechten und linken Extremisten permanenten Druck auf die Parteien der politischen Mitte aus, auch wenn dieser Umstand zunächst die republikanischen Mehrheitsbildungen nicht unmöglich machte. Der KPD beispielsweise gelang es, die Position der SPD zu schwächen, ohne jedoch die eigene revolutionäre

46 Hoffmann: Paradoxes, S. 1ff. Das Modell der „republikanischen Synthese“ wird verwendet von Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux , S. 31ff. 47 Müller: Faschismus, S. 105–106. Die Kritik Müllers ist zutreffend, nach der der Begriff „Faschismus“ – vor allem im bezug auf Frankreich – aus der wissenschaftlichen Debatte ausgeklammert werden sollte. Gründe hierfür sind seine unhistorische Verallgemeinerung und sein polemischer Gebrauch. In dieser Arbeit wird deswegen nur von der extremen Rechten in Frankreich gesprochen. Der Begriff „Faschismus“ wird nur in Form von Zitaten im Text auftauchen. Vgl. Müller: Faschismus, S. 92ff. 48 Vgl. Wolikow: Front Populaire. 49 Sanson: Alliance démocratique et parti radical, S. 217. 50 Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux. 51 Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 207. 52 Die Passage stützt sich auf ebd., S. 207f.

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Strategie vorantreiben zu können. Die SPD und das Zentrum blieben relativ stark, zeigten aber kaum politische Dynamik. Den Sozialdemokraten gelang es nicht, sich zwischen dem integrativen Weg einer Volkspartei mit Regierungsverantwortung und einem sozialistischen Weg in der Opposition zu entscheiden. Das Zentrum wiederum war ununterbrochen in der Regierung, fürchtete aber um sein immer diffuseres politisches Profil. Die Partei, für die Brüning seit 1924 als Abgeordneter im Reichstag saß, zeichnete sich durch ihre konfessionelle Bindung und ihre breite Wählerschaft aus, die sehr unterschiedliche soziale Schichten abdeckte, darunter vor allem die antibürgerlichen Gruppen, die dem Kapitalismus misstrauisch gegenüberstanden: Priester, Adelige, aber auch Bauern und Arbeiter. Das katholische Zentrum war eine verfassungsgerechte, nationale und soziale Partei, offen gegenüber den Kirchen und ohne festgelegte politische Prinzipien.53 Häufig wurde sie als eine Partei des „nicht nur...sondern auch...“ beschrieben: Religion und Vaterlandsliebe, Zentralismus und Föderalismus, Macht und Recht, Deutschland und Europa etc.54 Parteien wie die linksliberale DDP oder die rechtsliberale DVP litten unter rapidem Wählerschwund und trugen auf diese Weise zur Stärkung der Nationalsozialisten und zur Lähmung der politischen Mitte bei. Was ihre politischen Konzepte betraf, fehlte es allen Parteien in der politischen Mitte an langem Atem und Durchhaltevermögen. Die ersten Anzeichen einer Abkehr der Deutschen von der Demokratie hin zu einem autoritären Staat zeichneten sich schon seit den 1920er Jahren ab. Ein anderes Problemfeld der Weimarer Republik betraf die verschiedenen Regierungskoalitionen. Die meisten gesellschaftlichen, regionalen und ideologischen Spannungen wurden nicht durch die Suche nach einem gemeinsamen und tragfähigen Programm aufgelöst, sondern von einer „Koalitionsarithmetik“55 maskiert und blieben somit bestehen. Nach einer der am häufigsten von Historikern vertretenen Thesen, warum die großen Koalitionen in Weimar keinen Erfolg hatten, suchten die Politiker nicht nach Kompromissen und es fehlte ihnen an politischer Verantwortung. Thomas Raithel stellt diesen Erklärungsansatz in Frage:56 Aus seiner Sicht wird die Kompromissereitschaft der Parteien aus der politischen Mitte unterschätzt. Der Misserfolg der Koalitionen war vielmehr der Komplexität der Probleme geschuldet, die die Kräfte der einzelnen Parteien überstiegen, deren Parteiprogramme und politische Prinzipien nicht unterschiedlicher hätten sein können. Den Parteien fehlte es weder an politischem Verantwortungsbewusstsein noch am Willen, zusammenzuarbeiten. Man akzeptierte vielmehr weder das parlamentarische System noch die neue Staatsordnung, dem sich die verschiedenen Parteien und sozialen Gruppen nur ohne großes Engagement und in der Erwartung des Augenblicks fügten, in dem sie ihre eigene Parteiideologie verwirklichen

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Vgl. Bracher: Brünings unpolitische Politik, S. 115. Vgl. Neumann: Parteien, S. 41ff. Ebd., S. 209. Raithel: Spiel, S. 529f.

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konnten.57 Tatsächlich lehnten sie die junge Demokratie in ihrem damaligen Zustand ab und bereiteten sich auf progressive oder reaktionäre Weise auf einen erhofften sozialistischen oder monarchistischen Wandel vor,58 ohne die reale Gegenwart wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Es ist geradezu symptomatisch für die Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik, dass zwischen politischem Geist oder politischem Denken und der realen politischen Macht keinerlei Verbindung bestand. „Der [...] Intellektuellenkultur von Weimar fehlte die notwendige Verbindung zur politischen Wirklichkeit der Republik“, heißt es bei Klaus Hildebrand,59 der dieses Phänomen als charakteristisch für die deutsche Geschichte betrachtet. Die Weimarer Verfassung fand in den Augen der deutschen Bevölkerung keinerlei Legitimierung, auf die die Politiker hätten aufbauen können.60 Nach den Jahren scheinbarer Stabilität hatte jede Partei die Erfahrung eines Misserfolgs gemacht61 und immer mehr Menschen, die bis dahin nicht den extremistischen Parteien KPD und NSDAP zuneigten, erlagen der totalitären Versuchung.62 Raithel stellt hier treffend fest, dass das Modell der großen Koalition nicht der politischen Realität entsprach und die Weimarer Zeit noch immer durch einen Dualismus von Parlament und Regierung und nicht etwa durch eine Kooperation beider Institutionen geprägt war.63 In Frankreich bildeten sich die drei politischen Richtungen – politische Mitte, politische Rechte und politische Linke – im 19. Jahrhundert heraus. Während die Linke für die Republik eintrat, propagierte die Rechte eine monarchistische, klerikale und autoritäre Staatsform. Der Parti radical et radical-socialiste, der sich in der politischen Mitte positionierte und sich zum Repräsentanten republikanischer Traditionen ernannte, konnte sowohl mit der Rechten als auch mit der Linken Koalitionen eingehen. In der Zwischenkriegszeit erweiterte sich das französische politische Spektrum insoweit, als es nun von vier politischen Strömungen be-

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Vgl. Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 510. Ebd. Ebd., S. 512. Wenn man nach der These von Max Weber drei idealtypische Formen der Legitimation von Macht unterscheidet – der traditionellen, der rationellen und der charismatischen – stellt man fest, dass keine der drei auf die Weimarer Republik zutrifft. Die Republik brach mit der Tradition der Monarchie, niemand identifizierte sich mit der Verfassung und kein Politiker – Stresemann vielleicht ausgenommen – verfügte über ausreichende Präsenz auf der politischen Bühne, um die Menschen für den Parlamentarismus zu begeistern. Cf. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. S. 122ff und S. 548ff. 61 Das sozialistische Modell hatte seine Niederlage schon 1919/20 erlebt; die Kommunisten waren durch den abgeblasenen Putsch vom Oktober 1923 traumatisiert; die Sozialdemokraten und die Liberalen blieben, seit sie keine Mehrheiten mehr hatten, in der Defensive; das Zentrum isolierte sich in seiner bröckelnden Mittelposition; die liberalen Parteien verloren ihre Wähler; den Anhängern eines konservativ–autoritären Wandels blieb die Erfahrung des Misserfolgs für die Jahre 1930 bis 1932 vorbehalten. Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 217. 62 Die Demokratie und der Parlamentarismus waren von Anfang an kompromittiert. Vgl. Brandt: Weg in die demokratische Moderne, S. 175. 63 Raithel: Spiel, S. 529f.

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herrscht wurde, die aber allesamt Anhänger der Republik waren: Die konservative Rechte (die Fédération Républicaine, die 1924 zur Union républicaine démocratique wurde),64 die bügerliche politische Mitte (die Alliance Démocratique65 und der Parti républicains-socialiste),66 die Radicaux-Socialistes (Parti radical et radical-socialiste)67 und die Sozialisten (SFIO).68 Die Krise und Aushöhlung der politischen Doktrin der SFIO in der Zwischenkriegszeit führte zur Entstehung

64 In dieser Partei existierten parallel ganz unterschiedliche Strömungen: Liberale, die sich vorbehaltlos der Republik verbunden fühlten (wie Laurent Bonnevay, die Senatoren Doubs de Moustier...); Abgeordnete, die nicht mit der Republik sympathisierten und sich ab den 1930er Jahren in autoritäre Richtung orientierten (Philippe Henriot...); Nationalisten, die trotzdem Briand unterstützten (Louis Marin, François de Wendel, Georges Pernot); ein klerikaler Flügel und solche, die mehr Distanz zur Kirche forderten (Marin, Wendel, Bonnevay…). In der Zwischenkriegszeit forderte der Vatikan eine Unterstützung der Annäherungspolitik mit der Weimarer Republik und einen internationalen Vergleich, was die gemäßigten Rechten beeinflusste. Vgl. Mayeur: Vie politique, S. 298ff; Rémond: Droites; Sirinelli: Histoire de droites, 3 Bd. 65 Seit dem Ende des Kriegs bis 1926 nannte sich die Partei Parti républicain démocratique et social, kehrte 1926 dann aber wieder zu ihrem ursprünglichen Namen zurück. Aufgrund ihrer sehr freien Struktur, die typisch für die damaligen Parteien der Rechten und der politischen Mitte war, kann man sie nicht nach den Kriterien einer Massenpartei beurteilen. In der Alliance Démocratique existierten verschiedene Strömungen, ohne feste politische Ideen oder Strategien, abgesehen von ihrer republikanischen Einstellung. Sie war geprägt durch eine Verbundenheit zur sozialen Ordnung und zum Wirtschaftsliberalismus, sowie durch ihre Treue zum Laizismus und ihre Distanz zum Klerus. Es gab Abgeordnete, die bereit waren mit den gemäßigten Rechten zusammen zu arbeiten, wie der Fédération républicaine (Tardieu…) und solche, die die Radicaux bevorzugten (Barthou, Leygues, Poincaré). Je nach ihren politischen Freundschaften, ihren Präferenzen und ihrer Klientel unterschied sich das politische Personal dieser Partei (die „Alten“ Barthou, Leygues, Poincaré auf einer Seite, und die neue Generation um Maginot, Lebrun, Flandin, Reynaud, Petsche… auf der anderen Seite). Vgl. Mayeur: Vie politique, S. 298ff. 66 Der Parti républicain socialiste hatte eine Scharnierfunktion zwischen den Radicaux und den Sozialisten. In dieser Partei fanden sich Politiker der linken Mitte zusammen, die eine Parteidisziplin ablehnten und denen ihre Mehrheitsstützende Rolle einen beachtlichen Anspruch auf die Besetzung von Ministerposten einbrachte (wie Briand oder Painlevé). Sie suchten nach einem dritten Weg, ohne den Marxismus der SFIO und in der Nähe der Radicaux. Vgl. ebd., S. 310. 67 Der 1901 gegründete Parti radical war eine Konsenspartei, die in der Zwischenkriegszeit keine ideologische Erneuerung erlebte. Sie war geprägt durch ganz unterschiedliche Konzeptionen und erlebte in den Jahren 1920 bis 1930 eine politische Identitätskrise. Als Vertreter der Mittelschicht und der Landbevölkerung war sie einer liberalen Wirtschaft verbunden, was sie zu Gegnern der SFIO machte und im Inneren der Partei kämpfe auslöste, zwischen Anhängern einer linken Moral und Anhängern einer rechten Praxis. Das führte zu der Bewegung der Jeunes–Turcs, in der junge Pariser Intellektuelle versuchten, den Radicalisme zu erneuern und ihn den Problemen des Nachkriegsfrankreich anzupassen. Vgl. Berstein: Histoire du parti radical, 2 Bd. 68 Vgl. Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 24.

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einer extremen Linken, dem kommunistischen PCF,69 der sich während des Congrès de Tours, im Dezember 1920 von der SFIO abspaltete.70 Danach vertrat ab 1924 der neue Parti démocrate populaire die Interessen eines republikanischen und sozialen Katholizismus. Die politische Rechte, die sich nun – ganz entgegengesetzt zu ihrer Position vor dem Krieg – der Republik verbunden fühlte und als Partner der Abgeordnetengruppe der Radicaux auftrat, dominierte bis 1936 die politische Bühne in Frankreich. Das war die Epoche der Regierungen von Raymond Poincaré (1922−1924, 1926−1929), André Tardieu (1930, 1932) und Pierre Laval (1931−1932). Die politischen Allianzen der Linken jedoch (des Cartel des gauches von 1924 bis 1926, die Union des gauches von 1932 bis 1934 und der Front Populaire von 1936 bis 1938) nährten – trotz fehlender nachhaltiger Erfolge auf politischer Ebene – die Hoffnung der Franzosen auf eine parlamentarische, systemkonforme Alternative, die zugleich Fortschritt, Frieden und soziale Gerechtigkeit bedeutete – was erheblich zur relativen Stabilität und Legitimierung der

69 Die einzige Partei, die keine Krise ihrer Doktrin erlebte, war vielleicht der Parti communiste. Als eine Partei der Massen war sie eine der Folgen des Kriegs und der Enttäuschungen in der Nachkriegszeit. Die bolschewistische Revolution in Russland war ihr Modell. Das Scheitern der SFIO 1919 und 1920 ließ die Parteiführer Louis Frossard und Marcel Cachin zu Anhängern der III. Internationalen (Komintern, 1919–1943) werden. Von nun an gab es zwei Lager: Die SFIC, die die Bedingungen der kommunistischen Internationalen akzeptierte, die von Lenin vorgegeben waren und die SFIO, die trotz des Verlustes von ¾ ihrer Mitglieder, die Mehrheit der Wähler für sich behalten konnte. Die neue kommunistischen Partei unterwarf sich sofort der Internationalen, die von 1924 bis 1927 die Bolschewisierung der Partei forderte und ab 1927 den Klassenkampfbefehl gab, der sie zwang gegen die Sozialisten zu kämpfen, denen vorgeworfen wurde, die Arbeiter von der Revolution abzubringen. Bis 1934 war die kommunistische Politik durch antimilitaristische und antikolonialistische Konzeptionen geprägt, sowie durch eine sektiererhafte Flucht nach vorn. Erst nach Hitlers Machtergreifung galt der Kampf gegen den Faschismus als erste Priorität. Dafür durfte man sich nun auch mit anderen Parteien der Linken zusammenschließen – eine Alternative, die aus ideologischen Gründen bislang unmöglich erschienen war. Zur Geschichte des PCF, vgl. Courtois/Lazar: Histoire du PCF; Bodin/Racine: Parti communiste. Zuum Einfluss der Kommunistischen Internationalen auf den PCF, vgl. Broué: Histoire de l’Internationale Communiste; Wolikow: Rapports entre le PCF et l’IC. In Frankreich gibt es eine Fülle an Literatur zur Geschichte der extremen Linken. 70 Die SFIO sah sich als eine „Partei des Klassenkampfes“ und kombinierte republikanische und marxistische Traditionen. Die 1905 gegründete Partei wurde 1914 dank Jean Jaurès zu einer der stärksten politischen Kräfte in Frankreich, erlebte aber eine tiefe Krise in der Zwischenkriegszeit. Die Parteimitglieder konnten sich nicht zwischen Revolution und Reformkurs entscheiden. Nach 1920 gelang es Léon Blum und Paul Faure den Parti socialiste wieder zu konstituieren. Sie verloren aber trotzdem ihre Zeitung Humanité an die Kommunisten und konnten auch die Ambivalenz ihrer Doktrin nicht auflösen. Die „Guesdistes“ um Paul Faure versuchten die orthodoxe marxistische und revolutionäre Doktrin zu restaurieren, während die reformierten Abgeordneten im Parlament die Geschicke der bürgerlichen Republik zu leiten suchten. Auf außenpolitischer Ebene verteidigte die SFIO den Pazifismus, den Genfer Rechtsfrieden und die Politik Briands. Zur Geschichte der französischen Sozialisten, vgl. Dreyfus: Europe des socialistes; Droz: Histoire générale du socialisme.

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französischen Republik beitrug.71 Eine solche mythisch überhöhte, aber die Demokratie stabilisierende Alternative einer republikanischen Allianz der Mittelinks orientierten Parteien fehlte in Deutschland gänzlich. Die französische Besonderheit der rechten und in der politischen Mitte stehenden Parteien bestand darin, dass sie nicht immer mit den parlamentarischen Gruppen oder Fraktionen identisch waren, was ein Mangel an Organisation und Abstimmungszwang, aber auch einen ausgeprägten Individualismus, personenbezogene politische Beziehungen und einen tief verwurzelten „discours délibératif“72 zu Folge hatte und auf diese Weise sowohl Reformversuche verhinderte als auch die Instabilität der verschiedenen Kabinette der Zwischenkriegszeit verursachte.73 Aber die Loyalität, die die französischen Parteien gegenüber der Republik aufwiesen, verhinderte immer eine Gefährdung des parlamentarischen Systems in Frankreich,74 während die moderne und gut entwickelte Organisation der deutschen Parteien keine ausreichende Kraft entwickelte, um die junge deutsche Republik zu stärken – den Deutschen fehlte es im Gegensatz zu den Franzosen an einer republikanischen Kultur.75 Thomas Raithel hat versucht, die beiden parlamentarischen Systeme in Frankreich und Deutschland in den 1920er Jahren miteinander zu vergleichen; dieses Thema wurde bislang von der Geschichtswissenschaft vernachlässigt.76 Die Grundstruktur beider Länder war eine parlamentarische Demokratie mit einem Präsidenten an der Spitze; seiner Funktion und seinen Kompetenzen waren in Frankreich deutlich 71 Vgl. Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 6. 72 Bedeutung: freier Meinungsaustausch bzw. Konsultationen. Es gibt keinen entsprechenden Begriff auf Deutsch. 73 Zwischen 1900 und 1914 wurde die sehr offene Organisation der französischen Parteien durch strengere Organisationsformen, die deutlichere Bildung nationaler Parteien und durch eine wachsende Organisation der sozialen Bereich durch die Gründung von Gewerkschaften, politischen und wirtschaftlichen Verbänden ersetzt. Die parlamentarischen Gruppen/Fraktionen wurden erst 1932 vollständig anerkannt. Währen der Dritten Republik wurde aber das Parteiensystem weder vollständig reformiert, noch vollständig modernisiert. Die parlamentarische Diversität der politischen Parteien blieb während der gesamten Dritten Republik bestehen. Vgl. Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 22 + S. 45. 74 Nicolas Rousselier schreibt hierzu: „Die Frage einer Parlamentsreform, einer Modernisierung des Staates oder einer Verwaltungsreform waren alte Themen, die aber weder vor, noch nach dem Ersten Weltkrieg zwangsläufig eine radikale Infragestellung des parlamentarischen Regierungssystems beinhalteten“. Rousselier: Gouvernement et parlement, S. 267 75 Die politischen Stile in beiden Ländern unterschieden sich durch die informelle, mündliche und unabhängige Kommunikation der Parteien in Frankreich und dem etablierten und schriftlich festgehaltenen Entscheidungsmechanismus im deutschen Parlament. Dieser Umstand erklärt auch den Unterschied zwischen den parlamentarischen Archiven Deutschlands und Frankreichs. Vgl. Raithel: Spiel, S. 28. Es fehlt eine empirisch fundierte Gesamtschau der Parteien in der Dritten Republik, die einen besseren Vergleich mit den Parteien der Weimarer Republik möglich machen könnte. Neri–Ultsch weist zurecht darauf hin und liefert eine gute Beschreibung der Historiographie rund um die französischen Parteien. Vgl. Neri–Ultsch: Sozialisten und Radicaux, S. 6ff. 76 Vgl. hierzu Raithel: Spiel, S. 10ff.

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engere Grenzen gesetzt als in Deutschland. Um eine parlamentarische Mehrheit bilden zu können, mussten in dem Mehrparteiensystem Koalitionen gebildet werden, die in Frankreich – wie bereits erwähnt – besser zusammenarbeiteten, weil alle Parteien dieselbe republikanische Kultur teilten. Die parlamentarischen Handlungsspielräume waren deshalb in Frankreich weitaus größer als in Deutschland. Was die deutsche Verfassung betraf, verursachte der Dualismus zwischen dem mit sehr begrenzter Macht ausgestatteten Reichstag und dem Reichspräsidenten Probleme, auch wenn diese Besonderheit, die noch heute die Vereinigten Staaten oder die Fünfte französische Republik prägen, nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch der verfassungsrechtlichen Ordnung führen muss. Politische Instrumente wie die Notverordnungen, der Artikel 48,77 oder das Recht der Parlamentsauflösung konnten durchaus sinnvolle politische Instrumente sein. Ein starker Reichspräsident konnte in Zeiten politischer Unsicherheit ein Garant für die politische Stabilität des Landes sein, wie es zum Beispiel unter Friedrich Ebert der Fall war.78 Die Rolle des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik erwies sich erst nach der Wahl Hindenburgs als Schwäche des deutschen Parlamentarismus.79 Die Weimarer Republik hat einen Niedergang grundlegender parlamentarischer Funktionen erlebt, die im Präsidialsystem Brünings mündeten, der der nationalsozialistischen Machtergreifung parlamentarisch den Weg ebnete und gleichzeitig die letzte Option zur Rettung des bürgerlichen Rechtsstaates darstellte.80 Trotz aller Probleme des Parlamentarismus in Frankreich hat die Chambre des Députés nie ihre Funktion als Stütze der Regierung verloren. Auch die Aufgebung legislativer Funktionen blieb immer nur auf bestimmte thematische Fragen beschränkt, ohne dass es jemals zu einer destruktiven Anwendung wie bei den deutschen Notverordnungen und dem Artikel 48 gekommen wäre.81 In zwölf Jahren hatte die Weimarer Republik das ganze Spektrum politischer Handlungen durchlaufen und dies stellte – in Verbindung mit der einseitigen juristischen Urteilssprechung,82 dem Abdriften der deutschen Beamten nach rechts und der starken Stellung der wenig republikanisierten Reichswehr – nur einen Teil der Probleme dar, die Heinrich Brüning seit April 1930 zu lösen hatte. Die Gründe für die Wandlung der Weimarer Republik hin zu einem Präsidialregime konnten die Franzosen, die ihr parlamentarisches Regierungssystem zu schützen wussten, nur schwer verstehen. Die meisten Schwierigkeiten, denen Deutschland seit 1919 gegenüberstand, wie die mangelnde Laizisierung der Politik und die fehlende Etablierung einer republikanischen Kultur, waren in Frankreich schon in den ersten zwei Dritteln der III. Republik gelöst worden. Die Probleme, die Frankreich dann

77 Der Artikel 48 erlaubte es dem Präsidenten, Notverordnungen zu erlassen und gegen die Regierungen der Länder zu handeln. Vgl. hierzu Boldt: Artikel 48, S. 288ff. 78 Vgl. Möller: Weimarer Republik, S. 11ff. 79 Vgl. Göbel: Weimarer Republik, S. 33. 80 Vgl. Raithel: Spiel, S. 588. 81 Ebd., S. 563. 82 Agitationen von links wurden härter bestraft, als Agitationen von rechts.

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in der Zwischenkriegszeit zu bewältigen hatte, waren weitaus einfacher und bedeuteten eine geringere Belastung für die Regierung. So muss hier die Hypothese aufgestellt werden, dass die Franzosen zwar die Entwicklung der Weimarer Republik hin zu einem autoritären Regime bemerkten, dass ihnen aber nicht bewusst war, welch ungeheure Anstrengungen die deutschen Politiker schon unternommen hatten, um Deutschland zu demokratisieren. Gleichzeitig entging ihnen das Potenzial des deutschen Parlamentarismus, der ins Stocken geriet, weil es ihm an Unterstützung aus dem In- und Ausland fehlte.83 Man kann davon ausgehen, dass die Urteile über die Weimarer Republik und Brüning nicht nur durch die historisch gewachsenen Deutschlandbilder getrübt waren, sondern auch dadurch verzerrt wurden, dass eine Nation auf Brüning blickte, die die Krisen ihrer Republik schon überwunden hatte. Frankreich überschätzte die Stabilität und die Widerstandskraft gegen politische Extreme der deutschen Demokratie und unterschätzte die Komplexität und die Radikalität der Gefahren, gegen die die demokratischen Politiker in Deutschland gezwungen waren zu kämpfen. Seit 1919 und bis zum Ende der 1920er Jahre beschäftigte sich Frankreich vornehmlich mit den Fragen der Außenpolitik und der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Man kann vermuten, dass die Franzosen die Schwierigkeiten der Deutschen im Kontext des Niedergangs ihres eigenen Landes sahen und dass sie die Lage in beiden Ländern gleichsetzten, ohne wahrzunehmen, dass sowohl der Beginn als auch die Ausprägung der deutschen und der französischen Probleme unterschiedlich waren. 2. Die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Krise in Frankreich und Deutschland, Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen beiden Ländern Zur strukturellen und parlamentarischen Krise Deutschlands gesellte sich der kontinuierliche Abschwung der Konjunktur. Durch den Versailler Vertrag hatte das Deutsche Reich weite Landesteile84 verloren: 11 Prozent seiner Wälder, 20 Prozent seiner freien Flächen, 15,6 Prozent seiner Ackerflächen und 24 Prozent seiner Weinanbaugebiete.85 Der Viehbestand war reduziert worden und die Transportmittel und -wege funktionierten nicht mehr so gut wie vor dem Krieg (vor allem in den Ostgebieten wegen des polnischen „Korridors“). Hinzu kam, dass die Ackerböden infolge einer exzessiven Nutzung während des Krieges ausgelaugt waren, so dass die landwirtschaftliche Produktion erst ab 1928 wieder ihr Vor-

83 Vgl. zum relativen Erfolg der Weimarer Republik, Möller: Weimarer Republik. 84 Alle Kolonien; Elsass–Lothringen ging an Frankreich; das Saarland kam in die Verwaltung des Völkerbundes und andere Gebiete wurden zur Abstimmung gestellt (Eupen, Malmedy, Nordschleswig, der Süd–Osten Preußens und Oberschlesien); Westpreußen und Posen, sowie Teile Ostpreußens, Pommerns und anderer Teil Oberschlesiens, die an Polen gingen; das Memelgebiet ging erst an die Allierten und dann an Litauen; Danzig wurde als Freie Stadt deklariert und unter Aufsicht des Völkerbundes gestellt. 85 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 69.

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kriegsniveau erreichte. Die Inflation, die auf die durch den Krieg bestimmte Wirtschaftspolitik folgte, befreite die Bauern von ihren Hypotheken, hatte aber auch negative Konsequenzen für ihr Kapital. Aufgrund der hohen Kreditzinsen, die auf die Währungsstabilisierung im Jahr 1923 folgten, sowie der großen Konkurrenz aus den anderen europäischen Ländern und aus Übersee, standen die deutschen Landwirte lange Zeit weit abgeschlagen auf dem Weltmarkt. Die weltweite landwirtschaftliche Überproduktion löste schließlich eine neue Welle von Verschuldungen aus. Im Jahr 1925 erreichten die Schulden der deutschen Landwirte 3 223,2 Milliarden Reichsmark und stiegen Ende 1929 auf 7 333,5 Milliarden an.86 Die Krise vor der Krise87 zeigte sich auch in den Bereichen der industriellen Produktion, deren Gewinne von den laufenden Gehaltserhöhungen zwischen 1926 und 1929 und den teuren Krediten überholt wurden. Die Löhne stiegen schneller als die Lebenshaltungskosten. Die Gesamtheit dieser Entwicklungen führte zu einer – häufig zusammenhanglosen – Rationalisierung der industriellen Produktion, deren technologischer Fortschritt sich seit 1924/1925 deutlich verlangsamte: Vor allem die Automobilindustrie und die Kohleförderung erwiesen sich als zu teuer und wenig rentabel. Dazu kamen weitere Fehlentscheidungen: Einige Investitionsfehler führten in bestimmten Branchen zur Überproduktion; Preisgarantien von Kartellen, die zur Aushöhlung der deutschen Industrieproduktion beitrugen etc.88 Infolge dieser Modernisierungswelle, die erhebliche Funktionsstörungen in diesen Sektoren auslöste, stieg die Arbeitslosenzahl schon vor dem großen Börsenkrach im Jahr 1929 erheblich an. Was die internationalen Wirtschaftsbeziehungen in den 1920er Jahren betraf, stützte sich die erhoffte Konsolidierung der deutschen Wirtschaft und Außenpolitik auf die Vereinigten Staaten. Auf diese Weise gewann Deutschland eine realistischere Regelung der geforderten Reparationszahlungen, mehr Spielraum bei den Krediten und einen bescheidenen Platz auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig machte sich Deutschland damit aber von dem oft unsicheren Weltmarkt und von der US-amerikanischen Wirtschaft abhängig.89 Die Investitionen gingen ab 1927/1928 in Deutschland zurück. Seit 1928 spekulierten die Amerikaner, die einen regelrechten Börsenboom erlebten, bevorzugt in ihrem eigenen Land. Hinzu kam, dass die Franzosen ihr Kapital im Zuge der Verhandlungen um den Young-Plan aus Deutschland abzogen. Der Exportzuwachs und die weitreichenden Programme zur Wohnraumschaffung und Ausstattung der öffentlichen Hand, die mit einem öffentlichen Haushaltsdefizit finanziert wurden, verdeckten lange Zeit die kommende Krise.90 Die Folgen des schwarzen Freitags und der aus ihm resultierenden Weltwirtschaftskrise waren besonders tragisch für Deutschland. Schon 1928/29 erreichte das deutsche Staatsdefizit eine Milliarde

86 Vgl. ebd. 87 Ausdruck von Schirmann: Crise, S. 25 + 71. Vgl. ebenfalls Borchardt: Wachstum. 88 Der Abschnitt über die Schwierigkeiten der industriellen Produktion in Deutschland stützen sich auf die Krisenanalyse von Schirmann: Crise, S. 28 + 71. 89 Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 192. 90 Vgl. Schirmann: Crise, S. 72.

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Reichsmark und das trotz der „goldenen Jahre“ von 1925 bis 1929.91 Die öffentliche Verschuldung stieg von 11 Milliarden im Jahr 1926 auf 23,5 Milliarden Reichsmark im Jahr 1930 und der Regierung Müller gelang es nicht mehr, ein klares Wirtschafts- und Finanzprogramm zu entwickeln.92 Im Jahr 1930 stand Brüning 3,7 Millionen Arbeitslosen, einem katastrophalen Preisrutsch, einem massiven Rückgang der Einkommen und einer Agrarkrise gegenüber, deren erste Anzeichen schon 1929 erkennbar gewesen waren. Die Weltwirtschaftskrise und die Reparationsfrage begannen ineinanderzugreifen und auch die Fragen der Innen- und Außenpolitik (vor allem was die deutsch-französischen Beziehungen betraf)93 vermischten sich immer mehr.94 Die Reparationen erwiesen sich trotz des Dawes- und des Young-Plans als massive Belastung für die junge deutsche Demokratie. Die Reparationssumme von 132 Milliarden Goldmark, die 1921 festgelegt wurde und bis 1988 abgezahlt werden sollte, hatte allerdings weitaus größere psychologische als wirtschaftliche Auswirkungen.95 Die Akzeptanz extremistischer politischer Ideen gewann infolgedessen alle sozialen Schichten – vor allem aber Arbeiter und Bauern; die Weltwirtschaftskrise nährte überall in Deutschland den Wunsch, den Versailler Vertrag zu revidieren. Als die Deutschen im Jahr 1929 von der Weltwirtschaftskrise hart getroffen wurden, glaubten die Franzosen noch, von ihr verschont worden zu sein und stattdessen eine Blütezeit ihres Wohlstandes zu erleben, weil zum einen die finanziellen Reserven Frankreichs von 18 Milliarden Francs im Jahr 1927 auf 80 Milliarden Francs im Jahr 1930 stiegen und zum andern Rekorde in allen Sparten der Industrieproduktion gefeiert wurden.96 Die ersten Anzeichen der Krise in der Textil-, Kautschuk- und Autoindustrie wie auch in der landwirtschaftlichen Produktion wurden weder von den französischen Politikern noch von der französischen Bevölkerung bemerkt. Tatsächlich setzte die Krise in Frankreich erst im Herbst 1930 und damit verspätet ein, sollte aber dort länger dauern als in allen anderen Ländern.97 Die gesunde Finanzlage und die optimale Industrieproduktion nährten lange Zeit die Illusion der Franzosen, auf einer Insel der Glückseligen zu leben: Der nach der Stabilisierung des Franc (1926−1928) erfolgte Kapitalfluss von 1928 bis 1930 erlaubte es der Banque de France, ihre Goldreserven von 31,9 Milliarden Francs im Jahr 1928 auf 53,5 Milliarden Francs im Dezember 1930 zu erhöhen. Zwischen 1927 und 1929 verfügte die Staatskasse über eine Reserve von 17 Milliarden Francs, und noch 1930 und 1931 warf der Haushalt ein Haben von mehr als 5 Millarden Francs ab. Die Industrieproduktion erreichte 1930 ihre Spitzenleistung, so dass es in diesem Jahr in Frankreich nur 1700 Arbeitslose gab, die von

91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 69. Vgl. ebd., S. 70f. Vgl. Hagspiel: Verständigung. Vgl. Knipping: Anfang vom Ende, S. 211ff. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 72. Vgl. Berstein: France, S. 25. Vgl. Borne/Dubief: Crise, S. 21.

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der Wohlfahrt versorgt wurden.98 Das Handelsbilanzdefizit konnte durch Kapitalerträge, Invisibles und die deutschen Reparationszahlungen ausgeglichen werden.99 Aber schon seit 1930 untergrub die verspätete Wirtschaftskrise Stück für Stück das französische Wirtschaftssystem: Der Handel, die Stahlproduktion, die Textilindustrie, auch der Bergbau und die Landwirtschaft waren als erste betroffen. Schon 1931 war der Staatshaushalt mit 5 Milliarden Francs im Minus und die Arbeitslosenzahl kletterte auf 100 000. Serge Berstein erklärt, dass Frankreich „[avait été] protégée des effets de la dépression mondiale par le caractère archaïque de ses structures économiques»,100 also durch seine Politik kleiner Betriebe, ohne direkten Kontakt mit dem modernen Weltmarkt. Der Verlust des Gleichgewichts zwischen den französischen und den Weltmarktpreisen infolge der Entwertung des Pfund Sterling im September 1931 löste schließlich auch in Frankreich die Krise aus: Die französischen Preise lagen von da an über den Weltmarktpreisen, was 1934/1935 die französischen Exporte zusammenbrechen ließ. Die Talfahrt der französischen Konjunktur wurde immer rasanter, weil infolge der Abwertung des Dollars 1933 trotz der Schutzzölle immer mehr ausländische Produkte auf den französischen Markt kamen.101 Die französische Bevölkerung bekam diese Krise, die die französischen Politiker regelrecht überforderte,102 in Form eines massiven Einkommensrückgangs und hoher Arbeitslosigkeit zu spüren. Die Angestellten, das im Handel tätige Bürgertum und die selbstständige Mittelschicht, die kleinen Industriellen wie auch die Bauern und kleinen Einzelhändler waren davon am stärksten betroffen.103 Schließlich vertiefte die Krise auch die strukturellen Schwächen der Exekutive.104 Die französische Wirtschaftskrise resultierte schließlich doch kaum aus der Weltwirtschaftskrise: Andere Faktoren, wie die schwachen Strukturen der französischen Landwirtschaft,105 die unter anderem von der Parzellierung der Anbaugebiete herrührte, vom Mangel an moderner Technik und von der schlechten Anpassung der Industrie106 an die Bedingungen des Weltmarktes. Die zu hohen Preise und ihre negativen Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen und die Investitionsbereitschaft107 waren die weitaus

98 Die Beschreibung der finanziellen und wirtschaftlichen Situation Frankreichs in ihrer Blütezeit stützt sich auf Schirmann: Crise, S. 75. 99 Ebd. 100 Berstein: France, S. 35. 101 Ebd., S. 34ff; Borne/Dubief: Crise, S. 20ff. 102 Vgl. Duroselle: Décadence, S. 26. 103 Vgl. Berstein: France, S. 48f. 104 Vgl. Duroselle: Décadence, S. 15. 105 Drei Produkte waren von der Krise besonders betroffen: Rüben, Wein und Weizen. Vgl. Berstein: France, S. 27f. 106 Die Krise der Industrie war selektiv, aber schwer. Am meisten waren die alten, nicht modernisierten Bereiche betroffen, sowie der Bergbau, die Textilbranche und die Stahlindustrie. Vgl. Berstein: France, S. 29ff. 107 Vgl. hierzu Berstein: France, S. 33f.

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bestimmenden Faktoren.108 Als Deutschland 1932 den Höhepunkt der Krise erlebte, begannen die Franzosen erst unter der Krise zu leiden.109 Während Großbritannien und Deutschland 1934 und 1935 wieder das wirtschaftliche Niveau erreichten, das sie vor dem Börsenkrach 1929 gehabt hatten, dauerte die Krise in Frankreich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs an.110 Andreas Wilkens hat darauf hingewiesen, dass die Entwicklung des deutschen und des französischen Bruttoinlandprodukts zwischen 1820 und 2000 auf den ersten Blick ähnlich verlief. Mit dieser Feststellung kann er noch besser die besonderen Unterschiede zwischen beiden Ländern in der Zwischenkriegszeit111 herausarbeiten. Die Arbeitslosenzahl in den beiden Nachbarländern zeigt, dass Frankreich und Deutschland in dieser Zeit eine entgegengesetzte wirtschaftliche Entwicklung erlebten. In den 1920er Jahren, als zwischen beiden Ländern ein regelrechter Wirtschaftskrieg tobte,112 erlebte Frankreich einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung, während die Weimarer Republik, die abwechselnd Krisen und kurzzeitige konjunkturelle Wachstumsphasen erlebte, insgesamt wirtschaftlich stagnierte. Zum Wechsel der Jahrzehnte erlebte Frankreich sein „goldenes Zeitalter des Imperialismus französischer Prägung“,113 aber schon 1932 änderte sich die Situation radikal: Frankreich dominierte von nun an nicht mehr finanziell Europa, sondern wurde Opfer einer wirtschaftlichen Depression, die sich bis 1937 hinzog. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt erholte sich aber im Laufe der wirtschaftlichen Expansion, die in Deutschland auf das Ende der großen Weltwirtschaftskrise folgte.114 Frankreich war zwar auch nach dem Ersten Weltkrieg erheblich geschwächt durch die ungeheure Zahl von Gefallenen und einen in Europa unvergleichlichen Geburtenrückgang,115 auch durch die Staatsverschuldung, die durch die US-amerikanischen Anleihen verschlimmert worden war,116 aber paradoxerweise schien Frankreichs Macht nach außen ungebrochen, dank des „effacement de l’Allemagne“,117 was durch den Versailler Vertrag geradezu vollständig gelungen erschien. In den Nachkriegsjahren waren Wirtschafts- und Politikfragen auf der Ebene der deutsch-französischen Beziehungen nicht nur omnipräsent, sondern auch eng miteinander verwoben. Eine Neuorientierung der deutsch-französischen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen – die sich von der Fortsetzung des Krieges mit finanziellen Mitteln bis hin zu einem Beginn grenz-

108 Vgl. Ders. 109 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Frankreich Anfang der 1930er Jahre geben die folgenden Bücher einen guten Überblick. Braudel/Labrousse: Histoire économique et sociale; Sauvy: Histoire économique. 110 Vgl. Weber: France, S. 50. 111 Wilkens: Wachstum, S. 11. 112 Vgl. Soutou: Problèmes, S. 580ff. 113 Zitat in Übersetzung nach Frank: Hantise, S. 283. 114 Vgl. Wilkens: Wachstum, S. 22f. 115 Ebd., S. 12f. 116 Schirmann: Crise, S. 25. 117 Frank: Hantise, S. 283.

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überschreitender Solidarität entwickelten – rückte zum ersten Mal infolge des deutsch-französischen Handelsvertrags von 1927 in greifbare Nähe. Aber zur Zeit der großen Krise in Deutschland im Jahr 1930 wurde diese neu geschaffene Solidarität schon wieder in Frage gestellt. Während Frankreich „alles Gold der Welt anzog“, blutete die deutsche Republik infolge des Abzugs ausländischen Kapitals finanziell aus. Frankreich erklärte sich aber nur unter der Bedingung bereit, diesen Kapitalabzug zu beenden, wenn Heinrich Brüning von seinem internationalen Kurs Abstand nehme, der von den Franzosen als ein Versuch gewertet wurde, den Versailler Vertrag zu demontieren.118 Nach Sylvain Schirmann – der als erster Historiker die deutsch-französischen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen ab 1929 umfangreich beschrieben hat – blieb Heinrich Brüning unter diesen Umständen nichts anderes übrig, als sich auf die Interessen seines Landes zu besinnen,119 was Frankreich auf der anderen Seite ebenfalls tat. Die Franzosen glaubten durch diese Isolierung die französische Sicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand garantieren zu können. Sowohl der deutsche als auch der französische Rückzug machten jedoch die Aufbruchstimmung von 1927 wieder zunichte.120 Sowohl Aristide Briands Europa-Plan, den er am 17. Mai 1930 an verschiedene Regierungen verschickte, als auch der 1929 vom Völkerbund initiierte Vorschlag einer zollpolitischen Waffenruhe hätten Europa aus der politischen, wirtschaftlichen und finanzpolitischen Sackgasse führen können, die sich abzeichnete,121 aber die Reaktionen auf diese Versuche waren allesamt negativ. Auch Versuche der Kooperation, wie die Schaffung einer deutsch-französischen Wirtschaftskommission am 28. September 1931, konnten den Beginn eines Wirtschaftskrieges zwischen beiden Ländern nicht verhindern, der mit Quoten, Gebührenzuschlägen für Wechselgeschäfte, Aufschlägen auf Zollrechte, Preisdumping, Überwachung der Wechselgeschäfte etc. geführt wurde.122 Schirmann unterteilt drei Phasen der europäischen Wirtschaftskrise zwischen 1929 und 1933:123 Die erste Phase von 1929 bis Frühling/Sommer 1931 war durch den Versuch gekennzeichnet, eine europäische Wirtschaftsföderation zu organisieren. Hier standen Vertreter liberaler Positionen und Gegner des Versailler Vertrags, die einen ungehemmten Wirtschaftsaustausch als Lösung der europäischen Probleme ansahen, Protektionisten und Anhängern des Versailler Vertrags gegenüber, die eine Organisation propagierten, die sich auf wechselseitigen Handel stützte. Die Anhänger der Versailler Ordnung – also Frankreich und seine Verbündeten (Polen und die Staaten der Kleinen Entente) – befürworteten einen Wirtschaftsbund der Staaten in der Mitte Europas, der einen 118 Vgl. Schirmann: Relations économiques et financières, S. 2. 119 Zu Brünings Positionen in der internationalen Wirtschaftspolitik, vgl. Becker: Probleme der Außenpolitik, S. 265ff; Glashagen: Reparationspolitik. 120 Schirmann: Relations économiques et financières, S. 2. Es handelte sich dabei um ein europäisches Phänomen. Überall in Europa vebreitete sich eine Politik des Protektionismus, der Isolation und der nationalen Autarkie. Vgl. Möller: Europa, S. 89. 121 Vgl. Schirmann: Crise, S. 29. 122 Ebd.: Relations économiques et financières, S. 74. 123 Der folgende Abschnitt stützt sich auf ebd.: Crise, S. 355f.

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Vorsprung der Deutschen verhindert hätte. Allerdings fehlten den Franzosen die wirtschaftlichen Mittel und der politische Wille, um dieses Vorhaben zu realisieren. Deutschland dagegen gehörte zu den Gegnern der Versailler Nachkriegsordnung und förderte die Idee eines wirtschaftlich geprägten „Mitteleuropas“, das gegen den Einfluss Frankreichs gerichtet sein sollte und dessen erste Etappe die deutsch-österreichische Zollunion darstellte. Eine Kollision der wirtschaftlichen, finanzpolitischen und auch der politisch-diplomatischen Interessen war unvermeidlich, ohne dass sich ein Sieg für die eine oder die andere Seite abgezeichnet hätte.124 Die deutsch-österreichische Zollunion löste schließlich die Finanzkrise von 1931 aus, die – vom Bankrott der Creditanstalt bis zur deutschen Bankenkrise und der Entwertung des Pfunds im September 1931 – den Anfang der zweiten Krisenphase einleitete, die bis Juli 1932 und damit über die Amtszeit Brünings hinaus andauern sollte. Während etwa 16 Monaten wurde Europa von einer Finanzkatastrophe geschüttelt, die sich in Transferproblemen bis zur wirtschaftlichen Depression in Zentral- und Osteuropa widerspiegelte und von der Reparationsfrage dominiert wurde. Das war auch der zentrale Punkt des HooverMoratoriums (20. Juni 1931), der Versammlungen der Wiggin- und BeneduceKomitees und der Konferenz in Lausanne, die am 8. Juli 1931 die Reparationen abschaffen sollte und so in einer dritten Phase zur Revision der wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Ordnung Europas bis 1933 beitrug. Die unmittelbaren Konsequenzen dieser Krise in Deutschland, also der Spirale aus Elend und Verzweiflung Anfang der 1930er Jahre, waren besonders schwerwiegend: Fast ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung waren im Winter 1932/1933 von der Massenarbeitslosigkeit betroffen (6 Millionen Arbeitslose, von denen eine Million ohne finanzielle Hilfen lebte), darunter vor allem junge Arbeiter im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die von der Arbeitslosenversicherung, die damals nur in Deutschland und Großbritannien existierte, nicht komplett aufgefangen werden konnten.125 Diese dramatische Krise löste einen verzweifelten gesellschaftlichen Kampf aus, der sich in einem starken Anstieg der Kriminalität, u. a. Diebstähle von Lebensmitteln in großen Städten wie Berlin (ab 1931), manifestierte – einer Entwicklung, der die wirtschaftlich gelähmte Landwirtschaft nicht gegensteuern konnte.126 Wachsende Orientierungslosigkeit machte sich in der Gesellschaft breit. Sie wurde vom Hunger und vom Verlust der Würde jener Generationen genährt, die schon unter den Folgen des Ersten Weltkriegs gelitten hatten.127 In der Regierungszeit Brünings begannen die Franzosen erst die Krise zu spüren und kümmerten sich hauptsächlich um den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Schutz ihres eigenen Landes, das eine wirtschaftliche und gesellschaft-

124 Dass die „projets économiques ont été mis au service d’objectifs politico–diplomatiques nationaux […] est une cause majeure de l’échec de la fédération économique européenne“, nach Schirmann. Vgl. Schirmann: Crise, S. 355. 125 Vgl. hierzu Marcowitz: Weimarer Republik, S. 21ff. 126 Charle: Crise, S. 340ff. 127 Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 247ff.

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liche Modernisierung erlebte. Bis 1932 glaubten die Franzosen, dass Deutschland, wenn es denn einmal von den Reparationszahlungen befreit sei, gerade auf Handelsebene „plus dangereuse qu’elle ne l’est déjà“128 sei. Darum setzten sie sich dafür ein, Deutschland die „Aufrechterhaltung der Reparationszahlungen bei gleichzeitiger Lastenauferlegung, welche die deutschen Expansionsmöglichkeiten beschränken sollten“, schmackhaft zu machen.129 So drängt sich der Eindruck auf, dass die Franzosen auf dem Höhepunkt ihres Wohlstandes, als sich die ersten Anzeichen der Krise in Frankreich erst schleichend bemerkbar machten, die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Entwicklung in Deutschland wohl mit Teilnahme verfolgten (einer Folge aus der deutsch-französischen Annäherung unter Briand und Stresemann), aber die Deutschen für diese dramatische Krise selbst verantwortlich machten. Die Franzosen waren so besessen von dem Bild eines auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene gefährlichen Deutschlands (hier muss an die Reproduktionszyklen eines typischen Habitus der deutschen Nation in der französischen Vorstellungswelt erinnert werden), dass ihnen ein tieferes Verständnis der Lage in Deutschland und der Entscheidungen Brünings völlig abging. Jean-Baptiste Duroselle schreibt, dass die Franzosen erst im Januar 1932, nachdem die Zahl der Arbeitslosen im eigenen Land auf 248 000 gestiegen war, begriffen, dass die deutschen Reparationszahlungen – die schon zur Zeiten relativen Wohlstandes unrealistisch gewesen waren – während einer Weltwirtschaftskrise geradezu absurd waren.130 Frankreich sah sich angesichts der schwachen Position des Landes gezwungen, eine realistischere Politik zu akzeptieren – ein Zugeständnis, das ihnen aber durch das oft unehrliche politische Spiel Heinrich Brünings nicht leicht gemacht wurde. Brüning instrumentalisierte nämlich nicht nur das Thema Reparationen,131 die durch den Young-Plan schon erträglicher gestaltet worden waren,132 sondern versuchte die Verantwortung für den Wahlerfolg der Extremisten im Jahr 1930 den Alliierten und besonders Frankreich aufzubürden, das er beschuldigte, der Weimarer Republik nicht genügend Konzessionen zu machen.133

128 „Schreiben vom 14/11/1931 von der Direction des Relations commerciales des Ministère des Affaires Etrangères an Aristide Briand.“ Archives Diplomatiques, Serie Relations commerciales, Unterserie Allemagne, Bd 70. Zitiert nach Schirmann: Relations économiques et financières, S. 4 129 Zitat in Übersetzung nach ebd. 130 Vgl. Dursoselle: Décadence, S. 13. 131 Aus der Sicht Edward Bennetts “the Chequers and Paris visits were for Brüning merely opportunities for broaching the reparations questions or getting a loan; all the secret talk of friendship with France was hardly more than an effort to induce the French to grant a credit, or possibly to entice them into accepting a part of the German program”. Bennett: Germany and the Diplomacy, S. 308. Zur Debatte, ob Brüning die Reparationsfrage instrumentalisiert hat, vgl. Heyde: Ende der Reparationen, S. 21ff; Schuker: American Reparations, S. 54. 132 Vgl. Schuker: Frankreich und die Weimarer Republik, S. 106. 133 Ebd., S. 107.

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3. Die internationale Politik beider Länder und die politischen und kulturellen deutsch-französischen Beziehungen Auf wirtschafts- und finanzpolitischer wie auch auf internationaler Ebene war Brünings Regierung Teil der „années tournantes“134 Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, die eine Machtverschiebung zwischen Frankreich und Deutschland ankündigten.135 Bis zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich das deutschfranzösische Verhältnis durch einen Antagonismus aus. Auf der einen Seite verfolgte Deutschland eine Taktik, die darauf abzielte, den Versailler Vertrag teilweise zu revidieren. So wollten die Deutschen nicht etwa den Status quo von 1914 wiederherstellen, sondern erhofften ein Mindestmaß an Zugeständnissen, um die Scham der Niederlage auszulöschen.136 Die französische Politik hatte zum Ziel, eben diese Revision des Versailler Vertrages zu verhindern und sowohl die Verträge als auch den neuen territorialen Status quo Europas zu erhalten. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg beherrschte auch noch Anfang der 1930er Jahre das internationale Parkett. Die wachsende Bedrohung durch die unerwartete Krise in Frankreich hatte ebenfalls großen Einfluss auf die Atmosphäre, in der die Franzosen ihre Außenpolitik betrieben. Ein Ereignis von derartiger Bedeutung musste schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der internationalen Beziehungen haben, stellt JeanBaptiste Duroselle zutreffend fest.137 Anfang der 1930er Jahre war Frankreichs Auftreten, was seine internationale Rolle betraf, durch die gleiche Unsicherheit geprägt, die das Land auch in anderen politischen und gesellschaftlichen Bereichen kennzeichnete.138 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, als die Verhandlungen um den Versailler Vertrag stattfanden, hatte Frankreich zwei essentielle Anliegen: Reparationen und Sicherheit.139 „L’Allemagne paiera“ lautete Frankreichs Forderung, bis 1924/1925 Edouard Herriot und Aristide Briand die französische Außenpolitik neu definierten. In den Jahren des Cartel des Gauches, als die durch den Krieg ausgelöste Schwäche Frankreichs und seine Unfähigkeit, ohne Unterstützung durch die Alliierten zu agieren, offensichtlich wurde,140 wandelte sich die französische Außenpolitik, die nunmehr zwei neue Ziele verfolgte: die deutschfranzösische Annäherung und internationales Einvernehmen im Rahmen des Völ-

134 Der Begriff der „années tournantes »wurde das erste Mal verwendet von Daniel–Rops, Henry: Les années tournantes. Paris 1932. Franz Knipping verwendet ihn für das Ende der „Locarno–Ära“. Vgl. Knipping: Deutschland. 135 Vgl. ebd., S. 1. 136 Der deutsche Politiker Werner von Rheinbaben (DVD) hat diesen politischen Wunsch der Deutschen in seinem Memorandum „Deutsche Revisionspolitik“ von 1930 formuliert. Zitiert nach Rödder: Julius Curtius, S. 37. Vgl. ebenfalls dazu Niedhart: Revisionismus, S. 251ff. 137 Duroselle: Histoire diplomatique, S. 138. 138 Vgl. Berstein: France, S. 155; Weber: France: S. 153–198. 139 Vgl. Duroselle: Décadence, S. 13; Schumacher: Frankreichs Sicherheits– und Deutschlandpolitik, S. 1–43. 140 Man denke hier an die Zeit der Ruhrbesetzung. Vgl. Berstein: France, S. 81.

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kerbundes.141 Aber das Misstrauen gegenüber den Deutschen blieb, wie Stephen A. Schuker unterstreicht,142 und die Konzessionen gegenüber Deutschland wurden nach „comptes-gouttes“ bemessen.143 Die Deutschen wiederum zeigten angesichts dieser Konzessionen nicht die erwartete Dankbarkeit. Der französische Rückzug aus dem Rheinland, der ursprünglich für 1935 vorgesehen war, aber dann schon 1930 erfolgte, ist ein gutes Beispiel dafür, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit noch erläutert werden wird. Seit 1919 hatten die Franzosen hinsichtlich des (noch) entwaffneten Deutschlands ein geradezu traumatisches Sicherheitsbedürfnis, das auch noch Anfang der 1930er Jahre ihr Denken beherrschte; die Franzosen waren „in der paradoxen Lage eines Siegers, der Angst vor dem Besiegten hat“144, und dieser Zustand wurde durch die fehlende Unterstützung seitens der Briten und US-Amerikaner, auch durch die Erinnerung an zwei Kriege und die deutsche Frankreichpolitik seit Bismarck noch verschärft. Nach Ansicht von Anthony Adamthwaite fehlte den Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg „a victory culture – an assumption of a right to rule and dominate Europe. Vis-à-vis Britain and the United States, the French always had a chip on their shoulder.“145 Maurice Vaïsse hat das geradezu besessene französische Sicherheitsbedürfnis im Detail beschrieben und deutlich gemacht, wie sehr hier der Einfluss der Armeeführung auf den Quai d’Orsay im Besonderen und die französische Gesellschaft im Allgemeinen eine Rolle gespielt hat.146 Im Folgenden werden nur die zentralen Gedanken aus diesen Arbeiten wiedergegeben, um anschließend die französische Perzeption Heinrich Brünings besser einordnen zu können. Die Jahre, von denen hier die Rede ist, waren maßgeblich von der Abrüstungsfrage geprägt (vor allem zwischen 1931 und 1934), was sowohl den Versailler Vertrag als auch das Gleichgewicht der europäischen Mächte berührte. Dabei kollidierten die französische Herangehensweise – erst befrieden, dann abrüsten – und die britische – erst abrüsten – bis in die 1930er Jahre. Ein anderes Dilemma stellten die interallierten Schulden und die deutschen Reparationszahlungen dar, wobei letztere im Sommer 1932 aufgehoben wurden. In der Regierungszeit Brünings verloren die Franzosen nach und nach alle ihre Sicherheitsgarantien (u. a. die Rheinlinie), und die französische Armee, die mehr schlecht als recht in den 1920er Jahren abgerüstet hatte, sicherte nur noch scheinbar ihre Vormachtstellung in Europa: Sie erwies sich infolge ihrer schlechten Organisation, ihrer mangelhaften Ausstattung und ihrer strategischen Lähmung als „principal facteur d’insécurité“.147 Zusätzlich wurde sie durch die antideutsche Propaganda von Armeeangehörigen wie Général Weygand und Général

141 142 143 144 145 146 147

Vgl. Berstein: Frankreich, S. 155. Schuker: Frankreich und die Weimarer Republik, S. 104. Vgl. Duroselle: Décadence, S. 13. Zitat in Übersetzung nach Vaïsse: Sécurité d’abord, S. 19. Adamthwaite: Grandeur and misery, S. 230. Vgl. Vaïsse: Sécurité d’abord; Doise/Idem: Diplomatie et outil militaire, S. 324ff. Vaïsse: Sécurité d’abord, S. 59.

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Requin geschwächt, die die scheinbaren Zeichen einer heimlichen Wiederbewaffnung Deutschlands systematisch überschätzten148 und fortlaufend Druck auf die Politiker im Quai d’Orsay ausübten. Die Verdrängung Aristide Briands von der politischen Bühne zugunsten Lavals und Tardieus, die sehr offen für die in der französischen Armee vertretenen Ansichten eintraten (der Plan Tardieus, der am 5. Februar 1932 in Genf vorgestellt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür), spiegelt die neue Blüte einer verhärteten französischen Deutschlandpolitik Anfang der 1930er Jahre wider, die Frankreich auf internationaler Ebene isolierte und die (aktuelle) öffentliche Meinung radikalisierte, die entweder vehement für oder gegen die Abrüstung Partei ergriff.149 Der radikal-sozialistischen Mehrheit, die im Mai 1932 gewählt wurde, gelang es nicht, diese Entwicklung aufzuhalten, auch weil ihr beim Sturz der Regierung Brüning und mit dem Amtsantritt von Papens dazu die politischen Möglichkeiten fehlten. Die Isolation Frankreichs Anfang 1932 ist das Ergebnis einer „konservativen und phantasielosen Diplomatie“ und die Folge eines „Jahres nicht genutzter Möglichkeiten“[1931],150 urteilt Maurice Vaïsse. Anfang der 1930er Jahre war Frankreich weit entfernt davon, seine auf internationaler Ebene gesteckten politischen Ziele zu erreichen, und kaum in der Lage, eine dominante Rolle in Europa zu spielen, was Adamthwaite zu seiner bedauernden Hypothese verleitet: „A French Europe after 1919 would have made most Europeans happier and more secure.“151 Die Deutschen wiederum stellten sich auf internationaler Ebene unter Brüning unermüdlich den Franzosen entgegen und ließen keinerlei Bemühungen erkennen, 148 Zweifellos war die deutsche Wiederbewaffnung schon vor 1933 eine Realität, die selbst Stresemann seit 1927 unterstützte. General Groener und von Schleicher förderten diese Entwicklung seit 1928/29 und ab 1931 stellte das Militär geheime Pläne auf für eine für die Jahre 1933 bis 1938 vorgesehene Aufrüstung. 1931 schlugen von Schleicher und von Hammerstein dem Botschafter François–Poncet sogar eine militärische deutsch–französische Annäherung vor, um eine Gleichheit der Rechte zu erwirken. Vgl. Bennett: Rearmament; Vaisse: Sécurité d’abord, S. 84ff. Deutschland unter Brüning stellte aber noch keine reale militärische Gefahr für Frankreich dar. Nichtsdestotrotz, seit 1930 „il s’agissait pour les Français de montrer que les Allemands n’étaient pas aussi désarmés qu’ils le proclamaient à la face du monde. On totalisait donc tout ce qu’on pouvait trouver comme formations capables de porter une arme. Cette hantise aboutit à une mauvaise estimation du danger réel “. Vgl. Doise/Vaisse: Diplomatie et outil militaire, S. 367. 149 „[F]or the vast majority pacifism meant nor more than a vague internationalism – condemnation of war, support fort he League and disarmament. It did not signify readiness to accept foreign occupation rather than fight. Most were prepared to fight for national frontiers and interests. […] With the darkening of the international horizon after 1930 the pacifist majority broke into two groups: those who wanted disarmament yet insisted that security came first; second, the campaigners for general disarmament », schreibt A. Adamthwaite hierzu. Adamthwaite: Grandeur and misery, S. 188. Il n’est pas possible de quantifier le soutien public du mouvement pacifiste. 1930 wollte die Ligue des Droits de l’Homme bis Herbst 1931 eine Million Unterschriften für den Frieden und Abrüstung sammeln. Sie erhielten aber nur 109 000 Unterschriften für die Abrüstung und 111000 Unterschriften für den Frieden. 150 Ebd., S. 78. 151 Adamthwaite: Grandeur and misery, S. 231.

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das französische Bedürfnis nach politischen Garantien zu verstehen. Die komplexen innen- und außenpolitischen Probleme, die Brüning zu lösen hatte und die ausführlich in der Geschichtswissenschaft beschrieben wurden, erklären zum Teil die deutsch-französischen Dissonanzen, die zwischen 1930 und 1932 fast den Charakter eines „kalten Krieges“ annahmen. Was die deutsche Haltung in diesen Jahren betrifft, soll und kann auch hier nicht die gesamte Forschung referiert werden, sondern nur die Grundlinien der deutschen Politik unter Brüning. Die Wirtschaftskrise in Deutschland zeigt, wie eng innen- und außenpolitische Fragen in der Weimarer Republik miteinander verknüpft waren und wie schwer es ist, zwischen diesen Bereichen zu trennen.152 Das ist besonders bedeutsam für das Verständnis der diplomatischen Beziehungen unter Gustav Stresemann von 1923 und 1929 und die Beurteilung der internationalen Ausgangssituation für Heinrich Brüning. Es stellt sich unausweichlich die Frage, ob die Zwangslagen und Handlungsspielräume auf innen- und außenpolitischer Ebene, mit denen Brüning zu kämpfen hatte, durch die internationale Politik Stresemanns geschaffen wurden. Welche Politik hat Brüning nun betrieben, welchen Platz nahm er als Nachfolger der „Legende Stresemann“ ein – also der Legende eines „Anhängers der Republik und Demokraten, der die deutsche Demokratie gerettet hätte, wenn er länger gelebt hätte“, und „eines ‚Europäers‘ und ‚Garanten für den Frieden‘, der Europa vor der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hätte bewahren können“?153 Ist es legitim, Stresemann als den „guten Europäer“ darzustellen, wie Christian Baechler es tut und wie er Brünings Diplomatie und Politik nicht nur als Folge der innenpolitischen und wirtschaftlichen Krise in Deutschland zu beschreiben, sondern auch als Rückkehr zur deutschen Machtpolitik, wie sie vor Stresemann betrieben wurde und als Ablehnung jeglichen Kompromisses ?154 Die Politik des ehemaligen Monarchisten Stresemann, der sich 1923/1924 zum Anhänger der Republik gewandelt hatte,155 zeichnete sich durch verschiedene sehr widersprüchliche Elemente156 einer ansonsten außergewöhnlich konstruktiven Außenpolitik aus.157 Stresemann handelte als Realist,158 der die vertraglichen Pflichten und Machtverhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg als Ausgangspunkt für eine Politik akzeptierte, die den Versailler Vertrag erfüllen wollte, ohne jedoch eine Revision des Vertrags aus den Augen zu verlieren, die er als notwendig erachtete, sie aber nicht als Bedrohung für die anderen europäischen Mächte erscheinen lassen wollte.159 Und doch setzte er die traditionelle Rhetorik der Natio152 153 154 155 156

Vgl. Elz: Weimarer Republik. Baechler: Gustave Stresemann, S. 22. Ebd., S. 899f. Ebd., S. 893. Zur Politik Stresemanns vgl. Krüger: Versailles. Dazu und zur Weimarer Republik vgl. Kolb: Weimarer Republik; Elz: Weimarer Republik, S. 328; Dederke: Reich und Republik; Niedhart: Deutsche Geschichte. 157 Der folgende Abschnitt stützt sich auf Peukert: Weimarer Republik, S. 192ff. 158 Vgl. Baechler: Gustave Stresemann, S. 891. 159 Ebd., S. 897; vgl. ebenfalls Krüger: Versailles, S. 257.

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nalisten ein, um eine nationalistische Öffentlichkeit zu beschwichtigen, und schuf damit in Deutschland eine Erwartungshaltung, die ihn schließlich überforderte. Im europäischen Kontext wiederum entwickelte der Minister eine Politik der Verständigung, vor allem was Frankreich betraf, und bereitete Schritt für Schritt die Rückgewinnung der Souveränität Deutschlands vor, die das Land durch den Versailler Vertrag verloren hatte. Er war überzeugt, dass sein Land eine machtvolle Position wiederfinden und konsolidieren werde, ohne dabei gegen die Sicherheitsinteressen der anderen Nationen zu verstoßen. Klaus Hildebrand urteilt vollkommen richtig, wenn er die Locarno-Politik bei einem Vergleich mit der Politik unter Wilhelm II. als „qualitativ neu“ bezeichnet.160 Trotz der Verhandlungspolitik und der Annäherung an den Westen161 blieb die Situation im Osten – vor allem die Regelung der Grenzfrage, die Stresemann offen ließ – eine „offene Flanke der internationalen Verständigung“.162 Sowohl Rapallo als auch die Polen und die der Tschechoslowakei angebotenen Schiedsverträge zur friedlichen Konfliktlösung änderten daran nichts. Alles in allem blieb das Verhältnis zwischen dem Ziel einer Revision des Versailler Vertrags und den politischen Methoden der Verständigung unklar. Die Krise der Stresemannschen Außenpolitik im Jahr 1928-1929 konnte im Prinzip nur durch eine härtere Vorgehensweise oder den Verzicht auf eine Revision der Verträge gelöst werden.163 Bis zum Tod Stresemanns im Oktober 1929 blieb diese Entscheidung offen. In gewisser Weise ist es geradezu tragisch, dass ihm von Seiten der Franzosen und Briten nicht mehr Konzessionen gemacht wurden.164 Das erleichterte es nämlich seinen Nachfolgern, auf seine Verständigungspolitik zu verzichten – trotz der politischen Erfolge Stresemanns: Dawes-Plan, Locarno, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund im Jahr 1926, der Briand-KelloggPakt und der Young-Plan. Stresemann hätte aber noch mehr Erfolge auf internationaler Ebene gebraucht, um in Deutschland Unterstützung zu erhalten.165 Wenn man die Politik vor und nach Stresemann betrachtet, so fällt auf, dass sich zwar die Methoden radikal geändert haben, aber die politischen Ziele die gleichen blieben.166 Unter Historikern besteht kein Zweifel darüber, dass die deutschen Politiker ab 1929/1930 den Stresemannschen Weg der Verständigung und der politischen Annäherung verließen.167 Deutlich wurde dieser Kurswechsel durch die Nominierung des rechten Nationalisten und Revisionisten Bernhard Ernst von Bülow als Staatssekretär im Außenministerium und zeigte sich auch in 160 161 162 163 164 165

Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 503ff. Vgl. Bariéty/Droz: République de Weimar, S. 32–47. Peukert: Weimarer Republik, S. 192. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. Elz: Weimarer Republik, S. 311. Aus diesem Grund macht Hildebrand auch die Franzosen für den Misserfolg der Stresemann’schen Politik verantwortlich, auch wenn es ihm nicht an Verständnis für die Positionen beider Länder fehlt. Vgl. Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 475ff und S. 497ff. 166 Vgl. Elz: Weimarer Republik, S. 371. 167 Vgl. Kolb: Weimarer Republik, S. 210.

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der mangelnden Aufmerksamkeit für die Berichte und sorgfältigen Analysen des deutschen Botschafters in Paris, Leopold Hoesch, einem deutschen Patrioten, der seit 1921 in Paris lebte und dem die französische Situation vertraut war und trotzdem oder gerade aus diesem Grund ein überzeugter Anhänger der deutschfranzösischen Annäherung war.168 Brüning und Curtius ersetzten den „Revisionismus durch Verständigung“ ihres Vorgängers durch einen „Revisionismus durch Verhandlungen“, der sich fortwährend weiterentwickelte.169 Nach Andreas Rödder verfolgte Curtius noch eine maßvolle Politik, aber es gelang ihm nicht, seine Ideen in einem immer stärker nationalistischen Klima durchzusetzen.170 Hermann Graml hingegen zeichnet ein deutlich negativeres Bild des deutschen Außenministers Julius Curtius und seines Nachfolgers Heinrich Brüning, der ab Oktober 1931 sowohl das Amt des Reichskanzlers als auch des Außenministers inne hatte.171 Ohne Zweifel wandelten (und verschlechterten) sich die deutschfranzösischen Beziehungen im Rhythmus der Amtswechsel in Diplomatie und Politik. Die Ergebnisse politischer Verhandlungen hingen in hohem Maße von ihren Akteuren ab: einem Briand, einem Poincaré, einem Laval oder einem Tardieu für Frankreich und auf deutscher Seite einem Stresemann, einem Schubert oder einem Curtius, einem Brüning und einem von Bülow, die handelten, ohne die französische Position zu berücksichtigen.172 Die Ernennung André FrançoisPoncets als Nachfolger des französischen Botschafters in Berlin, Pierre de Margerie, hatte ebenfalls bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschfranzösischen Beziehungen und auf die französische Vorstellungswelt. Diesen neuen Botschafter, der in engem Kontakt zu Tardieu und zum Mayrisch-Comitée stand, ohne den Idealismus einer deutsch-französischen Annäherung zu teilen, schätzte Brüning weit weniger als zuvor de Margerie. François-Poncet übersah zudem aufgrund seiner Sympathie für die Nationalkonservativen vollständig, wie gefährlich der Nationalsozialismus war.173 Eric J. Hobsbawm geht so weit, die Epoche vom Anfang des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – die „Ära der Katastrophen“ – als eine Form eines 31 Jahre währenden Weltkriegs zu bezeichnen.174 Die Bedeutung der handelnden Politiker für den Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen zumal in der Zwischenkriegszeit zeigt indes, dass es zahlreiche Momente politischer Handlungsspielräume gab, trotz der vielen strukturellen Zwänge – auch in den spannungsgeladenen Jahren 1930 bis 1932. Der Einfluss der kollektiven Vorstellungswelt auf die deutsch-französischen Beziehungen darf im Kontext dieser Krisenzeit zu keinem Zeitpunkt unterschätzt werden. Nichts war im vorhinein

168 169 170 171 172 173 174

VgL. Graml: Zwischen Stresemann und Hitler, S. 30f. Rödder: Julius Curtius, S. 276. Ebd., S. 282. Vgl. Graml: Zwischen Stresemann und Hitler. Vgl. Knipping: Deutschland, S. 225f. Cf. Messemer: André François–Poncet, S. 505ff. Hobsbawm: Age des extrêmes, S. 43ff.

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festgelegt. Was die deutsche Frankreichpolitik in diesen Jahren betrifft, so muss man noch hinzufügen, dass es keineswegs leicht fällt nachzuweisen, ob der diplomatische Kurswechsel im vollen Bewusstsein seiner Konsequenzen vollzogen wurde oder vielmehr der wirtschaftlichen und politischen Lage Deutschlands geschuldet war. Die verantwortlichen Politiker, allen voran Heinrich Brüning, sollen hier näher betrachtet werden – die französische Perspektive ist dabei von größtem Interesse. Was die Gesamtheit der deutsch-französischen Beziehungen betrifft, so darf man hier auch die kulturellen Kontakte zwischen beiden Ländern nicht vernachlässigen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Spuren sie in der französischen kollektiven Vorstellungswelt hinterließen, welche Schnittpunkte es zwischen den bilateralen deutsch-französischen kulturellen Beziehungen und der deutsch-französischen Politik gab. Im Zentrum des Interesses steht eine kulturelle Elite als eine Minderheitenströmung in der kollektiven Vorstellungswelt, deren Einfluss auf die konkrete Politik und das Denken der französischen und deutschen Gesellschaften zwangsläufig sehr eingeschränkt blieb. Natürlich waren die kulturellen Beziehungen den politischen, wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen dieser Zeit untergeordnet, aber die offiziellen und offiziösen Kulturbeziehungen, die Frankreich und Deutschland unterhielten, dienten auch politischen Zwecken.175 Dass sie in Form kultureller Expansion und Propaganda instrumentalisiert wurde, wird beispielsweise im Rheinland bis 1930 deutlich.176 Im Rahmen dieses Kapitels beschreibe ich überblicksartig die erreichten Resultate und die Hoffnungen, die man in die Intellektuellen und die Kulturträger setzte, und ich zeige ihre durch die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen wie auch ihre durch eine wenig wohlwollende aktuelle öffentliche Meinung eng begrenzte Wirkungsmacht auf. Aus diesem Grund wird hier nicht nur eine kurze Darstellung der Kulturpolitik als Machtpolitik erfolgen, sondern versucht, die Gesamtheit der offiziellen, offiziösen und privaten kulturellen Beziehungen als ein kulturelles Kommunikationssystem zwischen den beiden Ländern zu deuten.177 Im Rahmen dieser Arbeit ist es natürlich nur möglich, einige Aspekte aus diesem Forschungsfeld zu nennen, dem für sich allein eine ganze Studie gewidmet werden könnte, wie das vom DAAD und dem IHTP organisierte Kolloquium zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen zwischen Locarno und Vichy deutlich macht.178 Auch wenn dem kulturellen Dialog auf offizieller Ebene enge Grenzen gesetzt waren, so entwickelten sich auf offiziöser und privater Ebene zahlreiche unterschiedliche Positionen und Ansichten, die einer Offenheit geschuldet waren, wie sie den Politikern

175 Die Kulturpolitik als Machtpolitik wird gewinnbringend diskutiert von Milza: Culture et relations internationales, S. 361–379. 176 Vgl. Marès: Puissance et présence culturelle, S. 80; Arend: Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, S. 131–149; Kapitel 1.1 der vorliegenden Arbeit. 177 Ich stütze mich dabei auf die großen Forschungsrichtungen von Bock: Locarno und Vichy. Forschungsfeld, S. 27f. 178 Bock: Entre Locarno et Vichy.

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und der Gesamtgesellschaft der Gesellschaft unmöglich war.179 Seit der Konferenz von Locarno im Jahr 1925 hat der „Geist von Locarno“ in den kulturellen Eliten Frankreichs immer mehr Anhänger gefunden, die in der Zwischenkriegszeit überzeugt waren, dass die kulturellen Kontakte mit Deutschland eine andere Form der nationalen Verteidigung bieten konnten.180 Grenzüberschreitende Verständigung und eine deutsch-französische Annäherung wurden zum Anliegen der kulturellen Eliten, die sich im Spannungsfeld zwischen dem Geist von Locarno und dem gegenseitigen Hass der beiden Erbfeinde positionierten. Zahlreiche Initiativen bildeten sich, um den deutsch-französischen Dialog wiederzubeleben, der selbst in der Zeit diplomatischer Kälte im Jahr 1930 und noch nach der nationalsozialistischen Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik 1933 bestehen blieb, obwohl gerade das zweite Datum einige nachhaltige Veränderungen im deutschfranzösischen Verhältnis nach sich zog. Von Anfang an war der grenzüberschreitende Dialog aufgrund der ideologischen Unterschiede in beiden Ländern nicht unproblematisch: Auf französischer Seite fanden sich republikanischer Konsens und universalistischer Geist und auf deutscher Seite liberale, konservative und nationalistische Überzeugungen.181 1910 gründeten das französische Ministère des Affaires Etrangères und das französische Ministère de l’Instruction Publique das Office National des Universités et Ecoles Françaises, das zum Ziel hatte, den Austausch unter Schülern und Studenten zu fördern. Im selben Jahr wurde außerdem das Bureau des écoles et des œuvres françaises à l’étranger gegründet, dessen Aktivitäten später durch den 1920 vom Quai d’Orsay ins Leben gerufenen Service des œuvres françaises à l’étranger fortgesetzt und ausgeweitet wurden. Erst zu diesem Zeitpunkt entdeckte auch Deutschland die kollektive Vorstellungswelt des anderen Landes als Zielscheibe außenpolitischer Politik und Propaganda und gründete im Gegenzug im Jahr 1920 die Abteilung IV für Auswärtige Kulturangelegenheiten des Außenministeriums und 1924 den Akademischen Austauschdienst, einen Vorläufer des heutigen DAAD. Zu diesen offiziellen Kultureinrichtungen gesellte sich 1925 das Institut International de Coopération Intellectuelle, das vom Völkerbund gegründet und von Deutschland seit 1928 unterstützt wurde. Der französische „Boykott“ deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, dem ein „Anti-Boykott“ von deutscher Seite gefolgt war, wurde 1925 infolge des offiziellen Besuches des Ministre de l’Instruction Publique Anatole de Monzie bei seinem preußischen Kollegen Carl Heinrich Becker aufgehoben. Dieses Ereignis ließ die offiziellen transnationalen Kulturbeziehungen wieder aufleben, die sich allerdings auf das Institut International de Coopération (für das sich Albert Einstein und Thomas

179 Fernand L’Huillier hat diese Feststellung formuliert in L’Huillier: Dialogues franco– allemands, S. 8. 180 Vgl. Arend: Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, S. 138. L’Huillier geht sogar so weit, die Zeit vor Locarno als „no man’s land“ zwischen den intellektuellen Eliten beider Länder zu bezeichnen. Vgl. L’Huillier: Dialogues franco–allemandes, S. 13. 181 Bock: Locarno und Vichy. Kulturbeziehungen, S. 32.

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Mann engagierten) beschränkten, sowie auf die Arbeit des Office National des Universités et Ecoles Françaises, das 1928 ein Bureau des relations avec l’Allemagne et l’Autriche einrichtete und den Deutschen Akademischen Austauschdienst, der 1930 in Paris eine Außenstelle eröffnete. Im selben Jahr gaben das Ministère français de l’Instruction Publique und der Quai d’Orsay ihr Einverständnis für die Eröffnung eines Institut Français in Berlin, das französische Forscher wie Raymond Aron, Henri Brunschwig (Studienjahr 1931/1932) und JeanPaul Sartre (Aufenthalt im Jahr 1934) in Deutschland empfing. Neben diesen institutionalisierten und offiziellen Strukturen, die eher schlecht koordiniert waren, kamen vor allem nach Locarno zahlreiche offiziöse bilaterale Kulturkontakte zustande, die – mit Ausnahme des ersten Beispiels – nicht nur die Genehmigung, sondern sogar die Unterstützung von den Außenministerien beider Länder erhielten: Die deutsche Abteilung der Ligue des Droits de l’Homme, der Bund Neues Vaterland, der 1922 gegründet wurde und Beziehungen zu seinem französischen Namensvetter unterhielt; die drei wichtigsten Initiativen nach Locarno, das Comité franco-allemand d’information et de documentation oder auch MayrischKomitee genannt, eine französisch-luxemburgischen Initiative zur europäischen Wirtschaftsintegration, das 1926 gegründet wurde,182die Deutsch-Französische Gesellschaft, eine deutsche Initiative aus dem Jahr 1926; und schließlich die 1928 von Franzosen gegründete Ligue d’Etudes Germaniques. Das deutliche Bedürfnis nach einem deutsch-französischen Gedankenaustausch, das sich innerhalb dieser drei wichtigsten Initiativen einen Weg bahnen konnte, wurde durch den ideellen, symbolischen und physischen soziokulturellen Transfer von Privatpersonen erweitert und vertieft, die aus Jugendbewegungen, Gewerkschaften, Veteranenvereinigungen, Universitäten oder Kirchen kamen oder nur durch privates (kulturelles, touristisches) Interesse, unabhängig von jeglicher Organisation angetrieben wurden. Auf diese Weise bildeten sich bis 1933 und zum Teil darüber hinaus mehrere intellektuelle deutsch-französische Netzwerke: Die sehr unterschiedlichen Paare Heinrich und Thomas Mann183 oder Friedrich Sieburg und Paul Distelbarth waren beteiligt,184 ebenso die Anhänger eines integralen Pazifismus, die Non-Konformisten aus Deutschland und Frankreich, der Sohlbergkreis um

182 Zur Geschichte des Komitees und der Familie Mayrisch, vgl. Bariéty: Sidérurgie, S. 7–12; Muller: Les Mayrisch. 183 Zu den Mann–Brüdern. Vgl. Bibliographie in Bock: Entre Locarno et Vichy, Bd. 2, S. 873ff; Mayer: Bruderzwist. 184 Sieburg entwickelte die Idee der deutschen Überlegenheit und der Notwendigkeit eines deutsch–französischen Zusammenschlusses, wobei er den Franzosen geschickt viele Komplimente machte „Que ne pouvons–nous crier à la France: sauve ton image dans notre cœur? “, schrieb er. Sieburg: Dieu est–il français, S. 279. P aul Distelbarth hingegen verteidigte Frankreich als ein Land in seiner kulturellen Blüte und engagierte sich für eine deutsch– französische Annäherung zwischen gleichwertigen Partnern. Vgl. Distelbarth: Lebendiges Frankreich. Zu Paul Distelbarth, vgl. Badia: France vue par Paul Distelbarth, S. 175ff; Taureck: Esprit, S. 187ff.

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Otto Abetz und Jean Luchaire,185 die christlichen Netzwerke, die universitären Begegnungen zwischen Romanisten, Germanisten, Historikern, Philosophen, Anthropologen, Psychoanalytikern, aber auch Naturwissenschaftlern.186, außerdem Begegnungen zwischen Architekten, Schriftstellern,187 Verlegern, Journalisten, Künstlern und Jugendlichen. Ein Teil der deutsch-französischen „Vermittler“ wollte sich der Aspekte bewusst werden, die beide Nationen trennten, und mithilfe deutsch-französischer Begegnungen eine Art kulturelle Konfrontation suchen, um den Anderen verstehen zu können, ohne die eigenen nationalen Besonderheiten zu verleugnen. Ziel dieser Gruppe war nicht, gemeinsame Interessen zu entdecken. Sie engagierten sich vor allem in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und wollten eine Verständigung zwischen beiden Ländern erreichen, von der die Mehrheit der Bevölkerung aber ausgeschlossen wurde. Der andere Teil der intellektuellen Eliten verfolgte einen neuen Ansatz: Obwohl sie denselben gehobenen Gesellschaftsschichten angehörten wie die anderen „Vermittler“, suchten sie eine Annäherung zwischen beiden Ländern zu verwirklichen, die vielen unterschiedlichen sozialen Schichten offen stand. Ziel war es, alte Feindbilder abzubauen und einen gesellschaftlichen Konsens als Basis für wirtschaftlichen Frieden und politische Aussöhnung zu schaffen, und dieser Ansatz diente schließlich der deutschfranzösischen Aussöhnung nach 1945 als Vorbild.188 Anfang der 1930er Jahre ließ der anfängliche Optimismus des wiedererwachten deutsch-französischen Dialogs wegen der politischen Kehrtwende in Deutschland nach.189 Trotz der vielfältigen Ermüdungserscheinungen in den kulturellen Beziehungen bildeten sich neue Formen der grenzüberschreitenden Kommunikation. Auf offizieller Ebene des Institut Français in Berlin und des DAAD in Paris dominierte zwar weiterhin ein nationalistisches, antagonistisches und konkurrierendes Denken zwischen beiden Ländern, aber die utilitaristischen Interessen beider Länder waren mindestens genauso gut entwickelt und dienten als Basis für den Aufbau eines pädagogischen und universitären Austauschs zwischen beiden Ländern. Aristide Briand ernannte Oswald Hesnard, den Rektor der Universität von Grenoble, zum Direktor des Institut Français in Berlin.190 Hesnards Auftrag lautete: „Permettre à des jeunes savants de poursuivre de près le mouvement

185 Jean Luchaire ließ sich wie Paul Distelbarth von dem Erfolg der Nationalsozialisten nach 1933 begeistern. Vgl. Lévy: Jean Luchaire, S. 121ff. 186 Zum universitären/akademischen Austausch. Vgl. Bock: Entre Locarno et Vichy, Bd. 1+2. 187 Zu den Deutschlandreisen französischer Schriftsteller Anfang der 1930er Jahre, vgl. Reichel: A Berlin! A Berlin, S. 661ff. 188 Figuren wie Karl Erdmann, Arnold Bergsträsser und Ernst Robert Curtius verteidigten das erste Konzept. Henri Lichtenberger, eine Gruppe in der DFG, und die „Briandistes“ standen für das zweite Konzept. Vgl. Arend: Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, S. 141ff. 189 Ein Beispiel hierfür ist die Deutsch–Französische Gesellschaft. Vgl. Bock: Deutsch– Französische Gesellschaft, S. 57ff. 190 Zur Situation des Berliner Institut Français in den 1930er Jahren, vgl. Bosquelle: Institut Français, S. 217–250.

III. Die Weimarer Republik als Spiegel Frankreichs?

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scientifique allemand“.191 Der Germanist Henry Jourdan übernahm die Leitung der Verwaltung und der Direktor der Sorbonne, Charlety, wurde Direktor des Conseil Scientifique, der zwei Mal im Jahr im Quai d’Orsay tagte. Auch wenn das Institut Français zum Knotenpunkt aller Arten von deutsch-französischen Jugendbeziehungen wurde, war zumindest zu Anfang nicht vorgesehen, französische und deutsche Jugendliche einander näher zu bringen, sondern jungen und sehr begabten französischen Wissenschaftlern mittels finanzieller und materieller Förderung einen Forschungsaufenthalt in Deutschland zu ermöglichen.192 Wie ihre französischen Kollegen am Institut Français betrachteten sich auch die Deutschen beim DAAD in Paris (Hans Göttling und andere) vor allem als unpolitische Vertreter nationaler Interessen und nicht als Vorreiter einer deutsch-französischen Versöhnung.193 Dieser mit angezogener Handbremse betriebene Dialog profitierte auch nicht von der Gründung des Sohlberg-Kreises im Sommer 1930, dessen Anhänger sowohl von individuellen Interessen als auch von den Leitlinien verschiedener Jugendorganisationen (ab August 1931) zu diesem Engagement motiviert wurden, dessen Ziel im Jahr 1930 zunächst Annäherung durch Dialog war. Aber schon 1931 trieb Otto Abetz einen Keil zwischen die Mitglieder des SohlbergKreises, indem er die eigentlich politisch heterogen zusammengesetzten deutschen Anhänger aufforderte, immer aggressivere revisionistische und nationalistische Ideen zu vertreten.194 Alternativen der politischen Rechten zum Pazifismus oder zum Briandismus, wie sie Heinrich Mann vertrat,195 formten sich aus Vorschlägen der 1930 infolge des Engagements Alexandre Marc-Lipianskys gegründeten Bewegung Ordre Nouveau oder des Club du Moulin Vert, eines ökumenisch-religiösen Begegnungszentrums, das die Ideen des Sohlberg-Kreises in eine nicht-konformistische und revolutionäre Richtung leiten wollte. Der Ordre Nouveau fand seine Anhänger in national-revolutionären deutschen Kreisen und formulierte im Februar 1932 anlässlich des Kongresses in Frankfurt das Ziel, eine gemeinsame europäische revolutionäre Front zu bilden, die auf der Verständigung der deutschen und französischen (nicht-konformistischen) Jugend gründen sollte.196 Die Generation deutscher und französischer Katholiken in der Zwischenkriegszeit, die um 1905 geboren war,197 versuchte ab 1930 die katholische kultu-

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Auszug aus den Statuten des Institut Français, zitiert von Tiemann: Zweigstelle, S. 293f. Ebd., S. 294. Ebd. Vgl. Thalmann: Cercle de Sohlberg, S. 67ff. Zur ambivalenten Haltung Otto Abetz’ vgl. Lambauer: Otto Abetz; Ray: Annäherung an Frankreich. 195 Vgl. Nudin: Briandisme, S. 149ff. 196 Cf. Hellman/Roy: Personnalisme, S. 203–215. Zu den Non–Konformisten vgl. Eckert: Konservative Revolution; Loubet Del Baye: Non–conformistes; Droz: Non–conformistes, S. 439ff; Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 180ff. 197 Die deutsch–französischen Vermittler dieser Bewegung waren Jean Lacroix, Paul L. Landsberg, Walter Dirks, Balduin Schwarz, Johannes Maßen, Waldemar Gurian, Karl Thieme, Johannes M. Österreicher, Max Müller, Hans Urs von Balthasar, Reinhold Schneider, Stefan Andres, Eugen Kogon, Franz Stock, Paulus Lenz, Hans Dankworth, Alexandre Marc, Emma-

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relle Offensive in Deutschland mit der neuen katholischen Blüte in Frankreich in einer Bewegung zusammenzuführen, die bundesgenössisch funktionieren, sich der sozialen und gesellschaftlichen Probleme bewusst sein und die Würde des Menschen verteidigen sollte – also eine katholische Alternative zu den Gesellschaften der Weimarer Republik und der III. Republik bilden sollte, die als bürgerlich und kapitalistisch angesehen wurden. Unter diesen anti-liberalen und traditionellen jungen Katholiken fanden sich sogar Gegner des Völkerbundes, die aber folgende Ansichten teilten: Die Souveränität der Nationen müsse geschwächt, der Krieg als Mittel geächtet und internationale juristische Instanzen geschaffen werden.198 Ein anderer Kreis von Katholiken wiederum sammelte sich um den lothringischen Adeligen und Mitglied des Parti démocrate populaire Jean de Pange und den Germanisten Robert d’Harcourt. Diese beiden organisierten vor allem zwischen 1928 und 1932 verschiedene Gespräche und Begegnungen zwischen französischen Wissenschaftlern und deutschen Forschern aus den großen Städten im Rheinland (Mainz, Köln) – eine Initiative, die ganz besonders von dem jungen katholischen Oberbürgermeister der Stadt Köln, Konrad Adenauer, unterstützt wurde. Diese katholische Bewegung, in deren Rahmen sich ein richtiges Netzwerk grenzüberschreitender enger Freundschaften bildete, regte den Parti démocrate populaire an, seine Annäherung an die deutsche Zentrumspartei fortzusetzen – diese Frage stellte sich der PDP schon seit 1925 mit Blick auf eine mögliche internationale Kooperation christlich-demokratischer Parteien. Der PDP, die deutsche Zentrumspartei, die italienische Volkspartei, die Ligue des travailleurs chrétiens de Belgique (Fraktion des Bloc catholique belge) und die polnische christdemokratische Partei gründeten das Secretariat international des Partis démocratiques d’inspiration chrétienne (SIPDIC) mit Sitz in Paris. Im Bewusstsein der nationalsozialistischen Gefahr und durch ihre sehr intellektuelle Herangehensweise an das deutsch-französische Verhältnis geprägt, vertrauten Jean de Pange und seine Mitstreiter auf die demokratische Politik Brünings und darauf, dass die deutschen Katholiken den Frieden wollten. Nach 1945 engagierte sich Jean de Pange an der Seite Robert Schumans und Konrard Adenauers für den Wiederaufbau Europas.199 Alle im Dienst einer katholischen Verständigung stehenden Bewegungen wuchsen zwar, blieben aber zerstreut und heterogen. Ihre Anhänger waren hin- und hergerissen zwischen den Wegen des Briandismus, des Internationalismus oder des Nationalismus, zwischen den „realistischen“ Positionen gemeinsamer Interessen, einer politischen und wirtschaftlichen Aussöhnung

nuel Monier, Maurice de Gandillac, Etienne Borne, Henri Guillemin, Joseph Folliet, Francois Perroux. Vgl. Keller: Katholische Europa–Konzeptionen, S. 219. 198 Vgl. ebd., S. 222ff. 199 Zum Thema Jean de Pange und der deutsch–französischen Annäherung, vgl. Réau: Jean de Oange, S. 241ff.

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(Wladimir d’Ormesson,200 PDP), einer moralischen, kulturellen und intellektuellen Annäherung (Jean de Pange) oder einer psychologischen – aber wie auch immer ihr Ansatz ausfiel, sie blieben letztendlich eine Minderheit.201 Die katholischen Anhänger einer deutsch-französischen Annäherung, die gleichzeitig auch für die beiden Republiken eintraten, setzten ihre ganze Hoffnung auf Brüning. Trotz der Anstrengungen verschiedener katholischer Kreise vor allem rund um den PDP202 weisen diese verschiedenen Beispiele eines versuchten deutschfranzösischen Dialogs immer mehr und klarere Anzeichen einer Rückkehr zum anfänglichen Misstrauen und zu einem nationalen Antagonismus auf, aber auch eine immer gefährlichere Infragestellung der beiden Republiken infolge der Wirtschaftskrise, der Verschlechterung der offiziellen deutsch-französischen Beziehungen und des Aufstiegs der Nationalsozialisten seit den Septemberwahlen im Jahr 1930. Die Komplexität der häufig so vielversprechenden politischen und kulturellen deutsch-französischen Beziehungen und die gleichzeitig zunehmende Verengung diplomatischer Möglichkeiten führen zu folgenden Hypothesen: Die politischen Methoden Brünings auf innen- und außenpolitischer Ebene weckten die alten Ängste der Franzosen vor Deutschland aufs neue, die durch die von Briand und Stresemann propagierte Annäherung nur abgeschwächt, nicht aber begraben waren. Dies wiederum führte zu einem mangelnden Verständnis für die deutsche Lage und zu einer Verhärtung der französischen Positionen. Wenn man die Lebensdauer und die Verankerung von Bildern im kollektiven Denken berücksichtigt, muss man folgern, dass die Annäherung dieser Jahre nicht genügend Durchschlagskraft hatte, um in Frankreich und in Deutschland einen Willen zur Annäherung dauerhaft zu etablieren; er konnte ja so leicht durch die unglückliche Politik des deutschen Zentrumskanzlers wieder zunichte gemacht werden. Die französischen Deutschlandbilder, die Brüning zu bestätigen schien, ermutigten die französischen Politiker nicht, auf Deutschland zuzugehen. Mit Blick auf die Forschung zu den kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern muss man aber auch davon ausgehen, dass Brüning als gläubiger Katholik – trotz aller politischen und diplomatischen Probleme zwischen beiden Ländern – sogar laizistischen Franzosen Anlass zu Hoffnung gab, was die Zukunft Deutschlands und der deutschfranzösischen Beziehungen betraf. In jedem Fall häuften sich die Schnittpunkte zwischen französischer Politik und französischer kollektiver Vorstellungswelt.

200 Wladimir d’Ormesson interessierte sich ab 1923 für das deutsch–französische Verhältnis und widmete diesem Problem zehn Jahre seines Lebens. Vgl. L’Huillier: Dialogues franco– allemandes, S. 23. 201 Vgl. Delbreil: Catholiques, S. 216ff. 202 Zur Regierungszeit Brüning betraf das unter anderem Auguste Champetier de Ribes oder Ernest Pezet.

EIN BILD ENTSTEHT: HEINRICH BRÜNING AUS DEM BLICKWINKEL DER FRANZÖSISCHEN GESELLSCHAFT I DER NEUE REICHSKANZLER Am 28. März 1930, einem Tag nach dem Rücktritt der Regierung Hermann Müller, beauftragte Hindenburg den damals 44-jährigen Heinrich Brüning, eine neue Regierung ohne Bindung an eine Koalition zu bilden.1 Im Gegensatz zu früheren Regierungen war es also keine Mehrheit im Reichstag, die dem Reichspräsidenten einen Reichskanzler vorschlug, sondern Hindenburg selbst, der Brüning ernannte.2 Das Reichswehrministerium und der rechte politische Flügel der Konservativen (DDP) bis zur volkskonservativen Gruppe favorisierte Brüning schon seit 1929 als Kandidaten für das Amt des Reichskanzlers. Brüning selbst hatte sich nicht aufgedrängt, um Kanzler einer auf Notverordnungen gestützten Regierung zu werden. Er sah die Amtsübernahme unter den gegebenen Umständen vielmehr als seine moralische Pflicht an:3 Nur wer die Politik ernsthaft als seine Pflicht betrachtet, kann schöpferisch und in aller Freiheit tätig sein, lautete seine Devise.4 Der neue Reichskanzler war national-konservativ gesinnt und politisch katholisch, aber auch sozial geprägt.5 Seine persönlichen Überzeugungen stimmten genau mit dem politischen Fundament seiner Partei überein. Für ihn war der uneigennützige Einsatz des Soldaten und Staatsmannes – der im Idealfall auch Philosoph sein sollte – im Dienst des Gemeinwesens die einzig legitime Form öffentlichen Handelns.6 Diese Überzeugung war bei Brüning mehr durch die Erfahrungen in einer Monarchie als in einer Demokratie geprägt, auch wenn er die Weimarer Verfassung immer respektierte.7 Vorgeblicher Realismus, Unbestechlichkeit, persönliche Bescheidenheit, Diskretion und Zurückhaltung prägten seinen Ruf. Schwächen soll er weder bei sich selbst noch bei anderen akzeptiert haben.8 Mit seiner eigenen Nation ging er hart ins Gericht.9 In der Politik interessierte er sich 1 2 3 4 5

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Vgl. Die Kabinette Brüning I und II. Bd. I, S. XX. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 65. Vgl. Morsey: Brüning und Adenauer, S. 14. Vgl. Treviranus: Ende von Weimar, S. 34. Brüning interessierte sich sehr für die Arbeit der Gewerkschaften, wo er seine Lohnpolitik anzuwenden suchte und eine positive Haltung der Arbeiter zum Christentum und zur Nation fördern wollte. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 47ff. Diese Überzeugung gewann Brüning bei der Lektüre Platons. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 39f. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 213ff. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 63. Vgl. ebd., S. 52.

I Der neue Reichskanzler

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vor allem für Finanz-, Wirtschafts- und Steuerfragen,10 weswegen Alfred Grosser in ihm auch einen „technicien des finances publiques“ sieht, der „profondément au salut par la ‚rigueur’“ glaubte.11 In nur zwei Tagen bildete Brüning das neue Kabinett,12 nicht ohne Schwierigkeiten, weil seiner Entscheidungsfreiheit von Seiten Hindenburgs Grenzen gesetzt waren. Durch den Reichspräsidenten wurde er gezwungen, sich politisch nach rechts zu orientieren – ohne die SPD – und sich im Innern auf die Landwirtschaft zu konzentrieren.13 Seine Regierungsarbeit begann er am 31. März 1931 mit einer Ministerbesprechung.14 Seine Minderheitenregierung wurde durch das Zentrum, die BVP, die DVP, die DDP und die Wirtschaftspartei getragen. Am 1. April 1930 stellte er sein politisches Programm vor, das folgende Punkte umfasste: Unabhängigkeit des Kabinetts gegenüber dem Parlament, auf Wunsch des Reichspräsidenten; Warnung, dass die Regierung es nur einmal und zum letzten Mal versuche, den Reichstag an der Suche nach einer Lösung für die Probleme in Deutschland teilhaben zu lassen; Erhalt und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Reiches durch erhebliche Einschnitte in allen Bereichen des öffentlichen Lebens; Herabsetzung der Preise und Gehälter bei gleichzeitiger Gesundung des Reichshaushalts durch Erhöhung der Steuern; Reduzierung der Personal- und Verwaltungskosten des Staates; Gesundung der landwirtschaftlichen Betriebe; Zusage erhöhter Wachsamkeit gegenüber den politischen Extremisten; Ankündigung, dass Brüning bei Notwendigkeit nicht zögern werde, den Reichstag aufzulösen und mit Hilfe des Artikels 48 zu regieren.15 Ab Ende März/Anfang April 1930 nahmen die vier Hauptthemen Gestalt an, die die Franzosen während der gesamten Regierungszeit Brünings beschäftigen sollten: auf innenpolitischer Ebene seine Wirtschafts- und Finanzpolitik und seine Haltung zur Demokratie und auf außenpolitischer Ebene sein nationalistisches Auftreten und die Hoffnungen, die auf Brünings Katholizismus als Motor einer deutsch-französischen Annäherung gesetzt wurden. Die Diskussionen, die in Frankreich zu diesen Themen geführt wurden, sollen nun im Detail verfolgt werden.

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Vgl. Golla: Zielvorstellunen, S. 3. Vorwort von Alfred Grosser zu Brüning: Mémoires, S. 13. Zur Zusammensetzung des Kabinetts, vgl. Anhang. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 73. Vgl. Die Kabinette Brüning I und II, Bd. 1, Dokument Nr. 1, S. 1ff. Vgl. Erklärung des Reichkanzlers Brüning vom 1. April 1930. Die erste Republik, S. 420ff.; Mannes: Heinrich Brüning, S. 76.

II BRÜNING, DER WIRTSCHAFTS- UND FINANZPOLITIKER Das erste Problem, das Brüning zu lösen hatte, war der Staatshaushalt1 und das enorme Defizit in der Arbeitslosenversicherung. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, setzte er in seiner Finanz- und Wirtschaftspolitik auf drei Ziele: Sicherung und Ausweitung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands durch eine Senkung der Preise und Gehälter; Gesundung des Reichshaushalts durch eine Erhöhung der Steuern (wie etwa die Erhöhung der Biersteuer im April 1930)2; Senkung der materiellen und personellen Aufwendungen des Staates und Rettung der deutschen Landwirtschaft durch Schuldenerlass.3 Diese Maßnahmen waren durch den Young-Plan praktisch vorgegeben, der Deutschland zwang, den Wert der Reichsmark stabil zu halten.4 Den orthodoxen Positionen der Wirtschaftsexperten seiner Zeit folgend, interpretierte und nutzte Brüning die wirtschaftliche Depression als eine Krise der „Selbstreinigung“ der Konjunktur.5 Nach den Wahlen im September 1930 änderte er allerdings seinen Kurs: Sein Hauptziel war nunmehr, die Weimarer Republik von den Reparationen zu befreien,6 die nach seiner Ansicht die außenpolitische Freiheit Deutschlands einschränkten und die Zahlungsfähigkeit des Landes überschritten. Brüning stellte mit Hinblick auf dieses Ziel ein breit angelegtes Programm verschiedener Notverordnungen vor, eine Kombination aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Deflationspolitik, einem radikalen Sparkurs, was den Haushalt betraf, und einer Senkung der Preise und Gehälter.7 Zusätzlich brachte er das Osthilfe-Gesetz auf den Weg, ein Schuldenmoratorium, mit dem verschuldete Güter vor der drohenden Zwangsversteigerung geschützt werden sollten.8 Im Juli 1931 kam zum chronischen Staatsdefizit und der großen Not in Deutschland noch die Banken- und Kreditkrise hinzu. Brüning, der ohne Zweifel nach bestem Recht und Gewissen handelte, verschlimmerte mit seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik, der es sowohl an antizyklischer Ausrichtung9

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Die Regierung Müller hinterließ ein Haushaltsdefizit von 330 Millionen Reichsmark. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 76. Ebd., S. 76f. Vgl. Golla: Zielvorstellungen, S. 20. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 76. Vgl. Golla: Zielvorstellungen, S. 14f.; Klausinger: Alternativen zur Deflationspolitik, S. 23. Vgl. Golla: Zielvorstellungen, S. 22. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 235f. Vgl. ebd., S. 262. Brüning war aber nicht der erste, der ein protektionistisches Programm für die Landwirtschaft entwarf. Hier sei an das Reichsnotprogramm zur Behebung dringender Notstände in der Landwirtschaft von 1928 erinnert. Vgl. Kim: Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik, S. 236f. Man darf hier nicht übersehen, dass die Wirtschaftsexperten der Zeit kein antizyklisches Konjunkturprogramm anboten und auch mit ihren Prognosen, was die Konjunkturentwicklung betraf, nicht richtig lagen. Vgl. dazu Borchardt: Wirtschaftspolitik Brünings, S. 36.

II Brüning, der Wirtschafts- und Finanzpolitiker

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als auch an einem größeren gesellschaftspolitischen Engagement fehlte, die Folgen der Weltwirtschaftskrise und des Massenelends in Deutschland. Das zweite Kabinett Brünings sah sich gezwungen, eine Bilanz der bisherigen Wirtschaftspolitik zu ziehen, weil der britische Außenhandel, dessen Position sich infolge der Abwertung des Pfunds im September 1931 deutlich verbessert hatte, die deutschen Konkurrenten unter Druck setzte und ihre wirtschaftspolitischen Ziele (vor allem, was die Reparationen betraf) gefährdete.10 Brüning lehnte eine Entwertung der Reichsmark ab und setzte seine Deflationspolitik und seinen Kurs der Preis- und Lohnsenkung fort. Er glaubte an einen heilsamen Gesundschrumpfungsprozess der Wirtschaft, wo nach dem Erreichen des Tiefpunkts der Aufschwung unweigerlich folgen müsse.11 Mit diesem Ziel vor Augen ließ er einen Wirtschaftsbeirat zusammenstellen, der es ihm ermöglichen sollte, alle verschiedenen Interessengruppen der Wirtschaft zu konsultieren.12 Die Regierung machte sich daran, neue Programme zur Arbeitsbeschaffung für die im Februar 1932 registrierte ungeheure Zahl von 6 128 000 Arbeitslosen zu entwickeln13 und die Osthilfe für die Landwirte umzustrukturieren,14 deren wirtschaftliche Situation sich rapide verschlechterte. Zur Osthilfe kam nun auch eine neue Siedlungspolitik hinzu. Auf diese Weise sollte aus Angst vor einer polnischen Annexion des bevölkerungsarmen deutschen Ostens nicht nur ein Bollwerk gegen die „slawische Gefahr“ geschaffen werden,15 sondern auch – infolge der aus der Weltwirtschaftskrise gewonnenen Erfahrungen – arbeitslose Industriearbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt werden.16 Wie die Notverordnung vom 6. Oktober 1931 schon gezeigt hatte, war Brüning aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Herr über die deutsche Wirtschaft und deren drohenden Zusammenbruch.17

10 Vgl. Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. LXXXVII; Ebd., Bd. 2, Dokument Nr. 483, S. 1723ff. 11 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 127. 12 Zur Gründung des Wirtschaftsbeirats vgl. Akten der Reichskanzlei, Bd. 3, Dokument Nr. 515, S. 1823ff. 13 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 128. 14 Preußen nahm ab November 1932 nicht mehr am Osthilfe–Programm teil. Der Dualismus zwischen dem Reich und Preußen existierte von nun an nicht mehr. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 131. Zum Thema Osthilfe vgl. Wengst: Schlange–Schöningen, Ostsiedlung, S. 538ff. 15 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 144. 16 Vgl. Köhler: Arbeitsbeschaffung, S. 289. 17 VgL. Hömig: Brüning (I), S. 396. Was Brünings Deflationspolitik betrifft, so weiß man heute, dass sie Schaden anrichtete und nicht der wirtschaftlichen Situation angemessen war. Andererseits entsprach Brünings Politik den damals vorherrschenden Wirtschaftstheorien. Vgl. dazu Conze: Brünings Politik, S. 531.

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Heinrich Brüning aus dem Blickwinkel der französischen Gesellschaft

1. Brüning in der Vorstellungswelt der wissenschaftlich-universitären und politisch-kulturellen Kreise Es gab eine doppelte Sicht auf die soziale Situation Deutschlands, nach der zwischen einem reichen und verschwenderischen Land auf der einen Seite und einem armen und hungernden auf der anderen Seite unterschieden wurde. Die französischen Autoren von kulturellen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen und Reden fragten sich Anfang der 1930er Jahre zum einen, ob Brüning wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen anwenden wolle und könne, um das Ausmaß der sozialen und wirtschaftlichen Krise einzudämmen, und zum andern, ob die Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland wirklich existiere oder nur künstlich herbeigeführt (sprich hausgemacht) sei. 1.1 Brüning, eine Ausnahmeerscheinung in einem Land sozialer Paradoxe Zwischen 1930 und 1932/33 wurden in Frankreich mehrere juristische Doktorarbeiten veröffentlicht, die das Interesse der französischen Wissenschaftler für die Wirtschafts- und Finanzsituation im Nachbarland und die von der deutschen Regierung angewendeten Maßnahmen zur Lösung der drängendsten Probleme unterstrichen. Henry Bonjours Arbeit über die Festlegung, Ausführung und Kontrolle des Reichshaushalts bis März 193018 verschaffte den französischen Juristen einen Eindruck von der Komplexität der Finanzfragen, die Brüning ab April 1930 zu lösen hatte. Paul Joachim Fromhold analysierte die Schwierigkeiten in den Bereichen der Aktiengesellschaften und des Gesetzesentwurfs von 193019 und lieferte damit eine kritische Betrachtung der Nachkriegswirren in den deutschen Banken und Aktiengesellschaften. Der Jurist Adrien Grosbuis wiederum behandelte die Fragen der öffentlichen Schulden in Deutschland seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zur nachfolgenden Währungskrise.20 Auch wenn diese Arbeiten keinen direkten Aufschluss über das Urteil der französischen Juristen über Brüning geben, zeigen sie doch, dass sich die französische Wissenschaftswelt über das finanzielle und wirtschaftliche Durcheinander in Deutschland infolge des Ersten Weltkriegs im Klaren war. Sie spiegeln auf eine ganz typische Weise wider, wie die deutsche Finanz- und Wirtschaftspolitik Anfang der 1930er Jahre gesehen wurde. Der Antikommunist Bernard Lavergne, Jahrgang 1884, der als Juraprofessor tätig war und der linken Bewegung der Coopérateurs angehörte,21 kritisierte die

18 Bonjour: Le Budget du Reich. Paris 1931. 19 Fromhold: Les problèmes posés en Allemagne par les perturbations d’après–guerre dans le domaine des Sociétés par actions et le projet de loi 1930. Paris 1931. 20 Grosbuis: La Dette publique allemande depuis 1914 et la crise monétaire. Paris 1930. 21 Alain Chatriot stellt die Zuordnung der „coopérateurs“ zu den politisch links stehenden Bewegungen in Frage. Vgl. Chatriot: Coopérateurs, S. 91.

II Brüning, der Wirtschafts- und Finanzpolitiker

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mangelnden Kenntnisse der Franzosen und Deutschen über das jeweilige Nachbarland.22 Er wollte die deutsch-französischen Probleme mit größerer Objektivität betrachten, was ihn zu der Feststellung führte, dass Deutschland nicht nur eine tiefe Krise erlitt, sondern vergeblich nach einem wirtschaftlichen Gleichgewicht (wie auch in vielen anderen Bereichen) suchte. Das Leitmotiv seiner Analyse, das dem Leser immer wieder begegnet, ist das Bild eines maßlos verschwenderischen Deutschlands, in dem die Regierung Brüning – „von der Wirtschaftskrise in die Enge getrieben“23 – trotz allem eine Ausnahme darstellt. Brüning habe die undankbare Aufgabe, ein Volk, das sehr verschwenderisch sei und wenig Geschmack an dieser Art Aufgabe finde, zu einer strengen Strafe zu verurteilen.24 Indem er die Einkünfte reduziere und gleichzeitig die Steuern erhöhe, habe der Reichskanzler „mehr Verdienst als Beliebtheit in der Bevölkerung, obwohl die Eliten seinen Charakter und seine Schaffenskraft sehr schätzen“25, meint Lavergne, ohne seine eigene Wertschätzung für Brüning zu verbergen, dem es nicht vergönnt sei, „zahlreiche auf das Ganze zielende Reformen, die aufzuschieben schwerwiegend wäre, zu Ende zu führen“.26 Auch dafür hatte Lavergne eine Erklärung: Ohne Zweifel sei der Sparsinn der Franzosen geradezu exzessiv, aber die Deutschen überschritten jedes Maß.27 Die Hauptursache für die bedauernswerte wirtschaftliche Situation in Deutschland sah Lavergne in der angeborenen verschwenderischen Neigung eines jeden Deutschen, sei es im privaten oder öffentlichen Rahmen.28 Dieses für eine akademische Analyse erstaunlich vereinfachend anmutende, wenn nicht sogar beschränkte Urteil spiegelt dennoch das vorherrschende Denken in den wissenschaftlichen Arbeiten französischer Wissenschaftler Anfang der 1930er Jahre wider. Auf dieser Argumentationsführung beruhten auch alle weiteren Einschätzungen Lavergnes. So stellte er zu Recht fest, dass die deutsche Regierung taumele und dass ein verschuldeter Staat verletzlich sei. Er warnte: „Das Haushaltsdefizit ist eine Quelle von zahllosen Dilemmata für die Regierung Brüning, der es leider nicht an Anlässen zur Sorge fehlt.“29 Die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands zählte er zu den ernsthaftesten, die das Land zu bewältigen habe. Er stellte fest, dass ein Großteil der Bevölkerung Hunger leide, dass 15 Millionen Angehörige des „Industrie-

22 Lavergne: Esquisse des problèmes franco–allemands. De l’utilité d’une collaboration économique entre la France et l’Allemagne. Paris 1931. 23 Übersetzung des Zitats „pris à la gorge par la crise économique“. Ebd., S. 23. 24 Vgl. ebd., S. 24. 25 Übersetzung des Zitats „beaucoup plus de mérite que de popularité auprès de masses, encore que les élites rendent pleinement hommage à son caractère et à son énérgie“. Ebd. 26 Übersetzung des Zitats „de mener à bien nombre de réformes d’ensemble dont l’ajournement ne laisse pas d’être grave“. Ebd. 27 Ebd., S. 25. 28 Vgl. ebd. 29 Übersetzung des Zitats „[L]e déficit budgétaire est une source d’embarras pour le gouvernement Brüning qui, hélas ! n’en est pas à manquer de causes d’anxiété“. Diese und alle folgenden Zitate Lavergnes sind seinem Werk auf folgenden Seiten zu entnehmen: Ebd., S. 27–33.

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Heinrich Brüning aus dem Blickwinkel der französischen Gesellschaft

proletariats“ (40 %) von der öffentlichen Fürsorge abhängig seien und dass sowohl das Problem der Arbeitslosigkeit als auch der Stabilität der Banken zur „Zwangsvorstellung“ werde, die „jedes deutsche Gehirn heimsuche“. Im November 1930 war er überzeugt, dass die Krise nun auch Frankreich mit ganzer Macht ergriffen habe, und er glaubte erste Anzeichen für eine Krise im Nachbarland schon 1927 zu erkennen. Die kontinuierliche Anhebung der Gehälter, wie sie die SPD betrieb, und die übertriebene Rationalisierung technischer Verfahren in der Industrie habe zu der vorzeitigen Krise in Deutschland geführt, die die Vorstellungskraft der deutschen Massen übersteige, die zwar litten, aber nicht verstünden. Die Hilfen, die das Reich den Arbeitslosen zukommen lasse, seien in einem Land, wo die Lebenshaltungskosten deutlich höher als in Frankreich seien, nicht ausreichend, um eine Familie zu ernähren, schrieb Lavergne, der für Deutschland ein düsteres Szenario der Not entwarf, die ein „fataler Ratgeber für Verzweiflungstaten“ sei. Trotz allem äußert sich Lavergne in seiner Studie vorsichtig optimistisch. Er erklärt den französischen Lesern, dass er seine Hoffnung auf die Leidensfähigkeit und die Schicksalsergebenheit der deutschen Massen setze, die wohl auch noch im kommenden Winter den bolschewistischen Versprechungen wie auch denen der „hitlériennes“ widerstehen sollten. Diese Vorstellung, dass zwar die innere Lage Deutschlands revolutionär, der Deutsche selbst aber nicht revolutionär veranlagt sei, war sein zweites Bild in der Argumentationsführung, auf das sich seine Überzeugung stützte, Brüning werde seine Wirtschafts- und Finanzpolitik durchhalten können. Die schwierige Position Brünings, der versuchen muss, einem geteilten Volk (die einen, die über ihre Verhältnisse leben, und eine leidende und instabile Mehrheit auf der anderen Seite) gerecht zu werden, bestimmte auch die Rede des Publizisten und späteren kommunistischen Conseiller municipal (in Issy-les Moulineaux ab 1935) Gabriel Roger: „Seit 1923 hat sich die Hälfte der Deutschen satt essen können; ein Viertel (die Arbeitslosen) lebt von der allgemeinen Wohlfahrt. Somit kann man die Stimmung verstehen, die heute das ganze Reich ergriffen hat: Angst und Verzweiflung… Das hungernde und gedemütigte Deutschland leidet in seinem Innersten. Und es leidet umso mehr, als dass diesem extremen Elend und der noch weiter verbreiteten Armut, Reichtum, Luxus und Egoismus nahezu direkt (die Mittelschicht ist verschwunden) und mit einer skandalösen Zurschaustellung gegenüberstehen.“30 Das Ausmaß der Not in den Jahren der Regierung Brüning bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten und steigenden Steuern, aber auch die unver-

30 Übersetzung des Zitats „Depuis 1923, la moitié des Allemands a rarement pu se rassasier; un quart (les chômeurs) vivent de la charité publique. Cela aide à comprendre ce sentiment qui s’est emparé aujourd’hui de tout le Reich, l’angoisse, le désespoir… L’Allemagne, affamée et humiliée, souffre maintenant dans ses nerfs. Et elle souffre d’autant plus qu’au–dessus de cette extrême misère et de cette pauvreté plus fréquente encore, apparaissent presque sans intermédiaire (les classe moyennes ayant disparu), la richesse, le luxe et l’égoïsme qui s’étalent avec une ostentation scandaleuse“. Roger: Hitler, l’homme qui vient. Paris 1932, S. 184.

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antwortliche Lebensweise der Deutschen standen im Zentrum der Analyse von Hermann Jaques. Er bezeichnet die Deflationspolitik als „großen Bluff “ und als eine „Periode der Kreditaufnahmen und der Thesaurierung, die die üblichen Exzesse nach sich zieht: Die makabren Tänze eines Volkes im Delirium“.31 Der Schein eines „wunderbaren opulenten und so soliden deutschen Lebens ist trügerisch“, fährt er fort.32 Das deutsche Volk stehe in seinem Land mit leeren Händen da, indem ihm das Land nicht gehöre und ihm auch nichts einbringe, weil die Früchte seiner Arbeit in ausländische Hände gerieten.33 Er kritisiert also gleichermaßen die deutsche Gesellschaft mit ihrer „responsabilité limitée“, wie es im Titel seines Buches heißt, und die geforderten Reparationszahlungen, die ihm vor dem Hintergrund der Not in Deutschland als verwerflich erscheinen. Ähnliche häufig polemische Stellungnahmen lassen sich auch in dem von Alice Cuénod ins Französische übersetzen Reisebericht des amerikanischen Journalisten H. R. Knickerbocker finden, der sich die Frage stellt, ob Deutschland untergehen wird.34 Auch wenn Knickerbocker Statistiken anspricht, die belegen, dass die deutsche Bevölkerung Hunger leidet, richtet er sein Augenmerk auf die erstaunliche potentielle Kraft der deutschen Industrie.35 Nach Ansicht des Journalisten ist die wirtschaftliche und finanzielle Schwäche Deutschlands von vorübergehender Natur: „Wenn die derzeitige Kreditklemme und die Lähmung der Wirtschaft überwunden sein werden, indem entweder die psychischen Faktoren wieder stabilisiert werden oder sich die wirtschaftlichen Faktoren ändern, in deren Folge die Reparationszahlungen eingestellt werden, entweder durch die Abschaffung der letzteren oder durch andere Maßnahmen, wird Deutschland wohl wieder damit anfangen, auf nationaler Ebene zu sparen und Kapital aufzubauen und so wieder seinen Weg unter die wichtigsten Nationen der Welt fortsetzen.“36 Knickerbocker warnte, dass

31 Übersetzung der Zitate „immense bluff“ und „période d’emprunts et de thésaurisation, traînant à sa suite les orgies habituelles: les danses macabres d’un peuple en délire“. Jaques: Allemagne, société à responsabilité limitée. Paris 1932, S. 181. 32 Vgl. ebd., S. 180. 33 Vgl. ebd. 34 Knickerbocker: Allemagne. Fascisme ou communisme. Paris 1932. Die bei Flammarion erschienene Übersetzung seines Reiseberichts erreichte viele Leser auch in den politisch– kulturellen Führungsetagen, wie Berichte aus der Presse und Dokumente aus den Archiven des CADN widerspiegeln. Vgl. Deutsch–französisches Studienkomitee. Bericht des deutschen Generalsekretärs über persönliche Eindrücke in Paris. Signé Clauss. 06/04/1930, S. 1– 10 (8). In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Série B, Carton 463: Echanges culturels. 35 Vgl. Knickerbocker, Allemagne, S. 154. 36 Übersetzung des Zitats „Quand la paralysie actuelle de crédit et de commerce sera surmontée, soit par le redressement des facteurs psychologiques ou l’amendement des facteurs économiques qui arrêtent le paiement des réparations, soit par la suppression de ces dernières, soit par d’autres moyens, l’Allemagne devrait […] reprendre son épargne nationale, la formation de son capital et sa marche en avant parmi les premières nations du monde“. Ebd., S. 222f.

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es den Amerikanern und anderen Alliierten teuer zu stehen komme, wenn sie die deutsche Wirtschaftskraft unterschätzten.37 Maurice Pernot rekapitulierte in seinem Buch „L’Allemagne de Hitler“ die Regierungsjahre unter Brüning und betonte wie Lavergne oder Roger die Schwierigkeiten Brünings, seine Wirtschafts- und Finanzpolitik durchzusetzen: „Das ist eine Reform [er spricht von der Finanzreform], deren gerechte Prinzipien und deren gut abgestimmtes Gefüge jeder lobt und bei der alle Fachleute die bemerkenswerteste und mutigste Anstrengung anerkennen, die seit Langem unternommen worden ist, um die Finanzen zu sanieren und eine sehr gefährliche Krise abzuwenden. […] Ganz Deutschland steht hinter dem Kanzler.“38 Trotz dieser scheinbaren Unterstützung Brünings, schreibt Pernot, fehle es seinem Wirtschaftsund Finanzprogramm an Unterstützung, weswegen Pernot die deutschen Parteien für den Misserfolg Brünings verantwortlich macht, seine Finanzreformen umzusetzen und den Haushalt abzuschließen: „Da gibt es einerseits den Reichstag und andererseits die Parteien und für beide scheint es die Hauptaufgabe zu sein, die Verantwortung für Maßnahmen, die im Volk unbeliebt sind, dem anderen zuzuschieben. Während der Unterredungen, die Herr Brüning mit den Fraktionsvorsitzenden geführt hat, hat er diese dazu aufgefordert, nicht nur Einwände gegen sein Projekt zu äußern, sondern auch konstruktive Gegenvorschläge zu machen. Entweder hat man keine Vorschläge eingebracht oder die Vorschläge hielten der genaueren Überprüfung nicht stand. Den von Vernunft geleiteten Parteien blieb nichts anderes übrig, als sich dem Programm der Regierung anzuschließen. Genau das haben sie aber nicht getan.“39 Der Sozialist Max Hermant versuchte ebenfalls, im Rahmen einer am 10. Mai 1933 im Musée Social abgehaltenen Konferenz, die „Origines économiques de la Révolution hitlérienne“ rückblickend zu verstehen. Er hält eine Lobrede auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings und behauptet sogar, die Deflationspolitik des Reichskanzlers habe Deutschland gerettet und die gegenwärtige deutsche Regierung werde noch von diesem „großen Werk“ profitieren, wobei Hermant aber auch nicht die gestiegene Arbeitslosigkeit und die Spannungen in der deutschen Gesellschaft vertuscht, die diese „strenge Poli-

37 Vgl. ebd., S. 213ff. 38 Übersetzung des Zitats „Voilà une réforme dont chacun loue les principes équitables et l’heureuse ordonnance, où tous les hommes compétents reconnaissent l’effort le plus remarquable et le plus courageux qui depuis longtemps ait été fait en vue d’assainir les finances et de conjurer une crise très dangereuse. […] L’Allemagne tout entière est derrière le chancelier“. Pernot: L’Allemagne de Hitler. Paris 1933, S. 82. 39 Übersetzung des Zitats „Il y a le Reichstag, il y a les partis, et pour chacun, la tâche essentielle paraît être de rejeter sur les autres la responsabilité de mesures impopulaires. Au cours des entretiens que M. Brüning a eus avec les chefs de fractions, il a invité ceux–ci à formuler non seulement des objections à son projet, mais un contreprojet positif. Ou l’on n’a rien proposé, ou les propositions avancées n’ont pas résisté à l’examen. Il ne restait donc plus aux partis raisonnables […] qu’à se rallier au programme du gouvernement. C’est précisément ce qu’ils n’ont point fait“. Ebd.

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tik“ verursacht habe.40 Sein ernüchterndes Fazit lautet darum: Man habe „den Eindruck, dass die ungeheuren wirtschaftlichen Abenteuer, die die deutsche Zeitgeschichte gesäumt“ hätten, „beinahe automatisch den ’Hitlerismus’ vorbereitet“ hätten.41 Auch der französische Germanistikprofessor Edmond Vermeil machte letztlich die gesamte Wirtschafts- und Finanzgeschichte Deutschlands für die Krise unter Brüning verantwortlich. Er sprach zwar nicht wie Hermant von deutschen „Abenteuern“, erklärte aber, die rapide deutsche Industrialisierung im 19. Jahrhundert sei die Ursache aller Probleme Anfang der 1930er Jahre: „Es ist gewiss, dass der wirtschaftliche Fortschritt Deutschlands […] schnell und ungesund war. Deutschland hat zu viele Schritte ausgelassen, um vor, während und nach dem Krieg verhindern zu können, eine Wirtschaftskrise und eine soziale Krise sehr großen Ausmaßes erleiden zu müssen.“42 Diese Krise bedeute zudem über den deutschen Rahmen hinaus eine große Gefahr für Europa. 1.2 Brüning, trotz guten Willens überfordert und machtlos Im einleitenden Vorwort der juristischen Analyse von Henry Delpech „Les aspects d’un fédéralisme financier“,43 sprach Delpechs Doktorvater und Juraprofessor an der juristischen Fakultät in Straßburg Henry Albert Laufenburger von der „diktatorischen Autorität“ und dem „energischen Menschen“ Erzberger, mit dem nur Brüning zu vergleichen gewesen sei.44 Auch Delpech ging mit seinem Urteil über den Reichskanzler in die gleiche Richtung. Hindenburgs Notverordnung zur Sicherung der Wirtschaft und der Finanzen vom 1. Dezember 1930 diente Delpech als argumentative Grundlage, um Brüning als einen weitsichtigen Poli-

40 Vgl. Hermant: Origines économiques de la révolution hitlérienne, S. 5. 41 Übersetzung des Zitats „bien le sentiment que les vastes aventures économiques qui remplissent l’histoire de l’Allemagne contemporaine ont préparé, d’une manière presque mécanique, l’avènement de l’hitlérisme“. Ebd., S. 4. 42 Übersetzung des Zitats „Il est certain que cette avancée économique de l’Allemagne était une avancée […] rapide et malsaine. L’Allemagne a brûlé trop d’étapes pour ne pas avoir subi, avant, pendant et après la guerre, une crise économique et une crise sociale de très grande envergure“. Konferenz vom 26/01/1931 im Centre Européen de la Dotation Carnegie in Paris. In: Vermeil: L’Allemagne et les Démocraties occidentales. Les conditions générales des relations franco–allemandes. Paris 1931, S. 41. Gefunden in den Archiven des CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Carton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands 43 Henry Delpech hat im selben Jahr (1933) auch seine Doktorarbeit veröffentlicht, die ihm vermutlich als Grundlage für sein Buch über die Aspekte eines finanzpolitischen Föderalismus diente. Vgl. Delpech: Le problème des rapports financiers entre l’empire, les pays et les communes (Der Finanzausgleich). Paris 1933; Ebd.: Les aspects d’un fédéralisme financier. L’exemple allemand. Paris 1933. 44 Laufenburger: Inroduction. In: Delpech: Les aspects d’un fédéralisme financier, S. VII.

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tiker zu beschreiben, der es verstanden habe, der deutschen Regierung das ganze Ausmaß des wirtschaftlichen, finanziellen und verwaltungstechnischen Desasters in seinem Land beizubringen und einen „harten“, „anhaltenden“ und komplexen Kampf gegen die Ursachen dieses Desasters zu führen.45 Der Jurist lieferte eine düstere Schau der Herausforderungen, vor denen der deutsche Reichskanzler stand und die sich seit Beginn der Weimarer Republik angesammelt hatten: „Seit der Revolution hat Deutschland zahlreiche finstere Jahre erlebt; das Wirtschaftsjahr 1931/1932 scheint die Krönung des Ganzen zu sein: Es ist das Jahr der Not mit den Problemen mit dem Ausland, dem unterschwelligen Bürgerkrieg und der finanziellen Not in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen des Verwaltungsapparats.“46 Zu diesen Schwierigkeiten zählte Delpech die angehäuften und nicht wieder gut zu machenden finanziellen Haushaltsdefizite, den Anstieg von Steuernachlässen und Steuerbetrügereien, die zu bekämpfen sich die deutsche Justiz als unfähig erweise, die mangelnden bis nicht existenten Steuereinnahmen, den Stillstand jeglicher Aktivitäten von Handel und Industrie, auf die Brüning 1931 nur mit „hitziger Aufregung“ und verschiedenen Gegenmaßnahmen reagiert habe, die „Verwirrung“ stifteten und den von Hilflosigkeit und Durcheinander geprägten Zustand der deutschen Führungsetagen offenbarten.47 Auch Brünings politische Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeiten hätten sich als „steril“ erwiesen. Dennoch glaubte Delpech ab Dezember 1931 eine effiziente und halbwegs gerechte Kurskorrektur der Brüningschen Politik zur Lösung der Finanz- und Wirtschaftsprobleme feststellen zu können, auch wenn diese die Bevölkerung weiter gegen Brüning aufbringen werde, „umso mehr, als diesmal die Haushaltskürzungen ausdrücklich den Ländern und Kommunen auferlegt wurden“.48 Delpech war sich hier in seiner Einschätzung mit Lavergne oder Hermant einig. Auch wenn er die politischen Maßnahmen der Brüningschen Regierung kritisierte – vor allem die Serie der Notverordnungen ab dem 16. Juli 1930 –, stellte er genauso wie Bernard Lavergne den Reichskanzler als Ausnahmerscheinung dar und als eine Person, die in einer Situation besonderen Mut bewiesen habe: Jeder „beschwor die Notwendigkeit einer Reform und eines schnellen Handelns, [aber] niemand wollte das Risiko eingehen“.49 Die Handlungsspielräume Brünings, um Deutschland Ende 1931 vor einem zweiten Bankrott zu retten – einem Jahr „das mit einer Flaute begann“ und „das mit einer absoluten Notlage 45 Vgl. ebd., S. 158. 46 Übersetzung des Zitats „Depuis la Révolution l’Allemagne avait compté bien des années noires; l’exercice 1931–1932 en paraît constituer le couronnement: c’est l’année de détresse (die Notjahre) [sic] avec les difficultés avec l’étranger, la guerre civile latente, la détresse financière sur les différents plans et aux différents paliers de l’organisation administrative“. Ebd., S. 162. 47 Ebd. 48 Übersetzung des Zitats „d’autant plus que, cette fois, les compressions ont été formellement imposées aux Pays et aux Communes“. Ebd., S. 163. 49 Übersetzung des Zitats criait à la nécessité d’une réforme et d’une action rapide [mais] nul ne voulait en courir les risques“. Ebd., S. 166.

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endete“50 –, waren nach Ansicht des französischen Wirtschaftswissenschaftlers verzweifelt begrenzt: „Alle Probleme Deutschlands kommen gleichzeitig auf und führen das Kabinett in eine tragische Sackgasse: Entweder nichts tun oder Maßnahmen ergreifen, welche die Regierung äußerst unbeliebt machen und der Opposition in die Hände spielen und die Regierung an den äußersten Rand der Verfassungsmäßigkeit und des Parlamentarismus führen würden.“51 Das Winterprogramm der Regierung, das am 8. Dezember 1931 im deutschen Rundfunk vorgestellt wurde, sowie die vierte Notverordnung Brünings zur Sicherung des wirtschaftlichen und finanziellen Gleichgewichts und zum Schutz des inneren Friedens im Land, die am gleichen Tag vom Reichskanzler unterschrieben wurde, veranlassen Delpech, nicht nur von Staatsinterventionimus zu sprechen, der in alle privaten Bereiche eingreife, sondern auch von einem „Vormarsch des Staatssozialismus“ und einem „extrem deutlichen und brutalen Eingriff des Staates in die Rahmenbedingungen und die Eigenständigkeit der Privatwirtschaft“.52 Delpech zeigte sich verwundert, dass ein moderner, parlamentarischer Staat die Prinzipien der Freiheit von Industrie und Handel opfere.53 Er unterstrich die Schwierigkeiten Brünings, seine Politik und sein Amt zu verteidigen in einer Situation, in der alle seine Maßnahmen massive Kritik von Seiten der Presse jeglicher politischer Couleur nach sich zog. Er warf Brüning deshalb vor, trotz seiner guten Absichten, die Grenzen dessen, was er den Deutschen abverlangen dürfe, nicht nur erreicht zu haben, sondern sie infolge falscher Einschätzungen von offizieller Seite weit überschritten und damit die desaströse Finanzsituation noch verschlimmert zu haben.54 In ihrer Gesamtheit qualifizierte Delpech die politischen Maßnahmen Brünings als Misserfolg auf der ganzen Linie ab, die zudem den allmählichen Untergang des deutschen Staates belegten. Er warf Brüning vor, die Schwere der Finanzkrise massiv unterschätzt zu haben und sich nicht weiter für das Schicksal der Gemeinden und die Auswirkungen seiner Politik auf deren Finanzen interessiert zu haben.55 Er hielt es deshalb geradezu für eine logische Folge, dass „Kanzler Brüning, dessen größter Fehler es war, die Krise als vorübergehend zu betrachten, und deshalb nichts gegen sie unternommen hatte, die Mehrheit im Reichstag

50 Übersetzung der Zitate „qui avait commencé dans le marasme“ und „ qui se terminait dans la détresse absolue“. Ebd., S. 168. 51 Übersetzung des Zitats „Tous les problèmes allemands sont soulevés à la fois, et emmènent le Cabinet à une impasse tragique: ou ne rien entreprendre, ou prendre des mesures qui, le rendant extrêmement inpopulaire, feront le jeu de l’opposition et le placeront sur le chemin d’un gouvernement en marge absolue de la constitutionnalité et du régime parlementaire". Ebd. 52 Übersetzung der Zitate „avance du socialisme d’Etat“ und „emprise extrêmement nette et brutale de l’Etat sur les conditions et la liberté de l’économie privée“Ebd., S. 169. 53 Ebd. 54 Vgl. ebd., S. 176. 55 Vgl., ebd. S. 179.

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verlor“.56 Die Brüningschen Regierungsjahre waren für Delpech Jahre der Abnutzung einer Regierung, die sich durch die zahllosen Hilfen, die sie hätte leisten sollen, überfordert sah, geschwächt durch den Rückgang staatlicher Einnahmen und machtlos, was das deutsche Gemeindewesen betraf, den „point le plus malade“, der die Regierung Brüning veranlasst habe, ab 1930 ganz offiziell vom Zusammenbruch des Systems und einer notwendigen Reorganisierung zu sprechen.57 Delpech verglich diese Zeit unter Brüning mit den dunkelsten Kapiteln der Inflationsjahre und bezichtigte den deutschen Reichskanzler wie auch seine Minister immer wieder der Gleichgültigkeit hinsichtlich der Kommunen und der Machtlosigkeit angesichts der Massenarbeitslosigkeit.58 Der Franzose glaubte, die eigentliche Ursache für die hoffnungslose deutsche Finanzsituation gefunden zu haben: „Die Krise um den Finanzausgleich59 erschien als eine der schwersten und gefährlichsten für den Finanz- und Verwaltungsaufbau des Weimarer Deutschlands und auch nicht minder für sein politisches Gleichgewicht: Dies rührt daher, dass das Wesen des Finanzausgleichs ein politisches Kernproblem war, weil sehr unterschiedliche Verhältnisse und komplexe Interessen im Spiel waren. Darum herum bildete sich eine täglich tiefer werdende Wunde aus Nervosität und Unordnung, die zum unerschöpflichen Quell für unterschwellige und interne Rivalitäten wurde“.60 Insgesamt also warf Delpech trotz seiner Anerkennung für Brünings Beharrlichkeit und dessen Willen, das deutsche Finanzsystem zu reformieren, dem Reichskanzler vor, aufgrund seiner falschen Einschätzungen, seiner diktatorischen Maßnahmen und seiner angeblichen Gleichgültigkeit gegenüber den deutschen Kommunen im Ganzen versagt zu haben. Für einen Großteil der Franzosen erschien Brüning als Gefangener des deutschen krisengeschüttelten Finanzausgleichs, dessen Probleme er obendrein mit seiner Politik noch verschärft habe.

56 Übersetzung des Zitats „le chancelier Brüning, dont la plus grande faute a été, peut–être, en considérant la crise comme passagère de ne rien entreprendre contre elle, [fût] mis en minorité au Reichstag “. Ebd., S. 178. 57 Ebd., S. 294. 58 Vgl. ebd., S. 294f. 59 Delpech übersetzt „Finanzausgleich“ mit „compromis fiscal“. Laufenburger spricht von „Règlement des rapports financiers“. Ebd.., S. VIII. 60 Übersetzung des Zitats „La C]rise du compromis fiscal est apparue l’une des plus graves et dangereuses pour la vie de l’édifice administratif et financier de l’Allemagne de Weimar, non moins que pour son équilibre politique: ce caractère lui est venu de cette nature du compromis d’être, par la diversité de ses rapports et la complexité des intérêts mis en jeu, un politisches Zentralproblem [sic] autour duquel se stabilisèrent depuis Weimar, formant une plaie tous les jours plus profonde, des ferments de nervosité et de désordre, fonds inépuisable de rivalités sourdes et intestines“. Ebd., S. 409f. Delpech stützt sich bei seiner Analyse auf die Theorien von J. Schumpeter.

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1.3 Brüning, ein unehrlicher Politiker Victor Louis de Marcé, Rechnungsprüfer am französischen Rechnungshof, Professor an der Ecole des Sciences Politiques (Lehrstuhl für öffentliche Finanzen) seit Mitte der 1920er Jahre, Mitglied des Conseil Supérieur de Statistiques und der Société de Statistique de Paris, hat eine ganze Serie von Publikationen der Finanzkontrolle im In- und Ausland gewidmet.61 In seiner umfangreichen Studie über Deutschland behandelte das Thema der öffentlichen Ausgaben, vor allem was das Militär und die Reparationen betraf, aber auch die Haushalte der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und des Strafvollzugs. Der herausragende Jurist und Finanzexperte de Marcé, 1864 geboren und von der Epoche der deutschfranzösischen „Erbfeindschaft“ geprägt, entwickelte in seiner Analyse das Bild eines Deutschlands, das sich maßlose Ausgaben erlaubt, weil der Dawes-Plan wie auch der Young-Plan den Umfang der Reparationen reduziert hätten.62 Frankreich, ein Kolonialreich, gebe im Vergleich zu Deutschland, so de Marcé, mit weitaus höheren finanziellen Belastungen, einem größeren Territorium und einer größeren Bevölkerungszahl nur 81 Milliarden Francs im Jahr aus, Deutschland aber 133 Milliarden.63 Wieder taucht hier das Bild eines Landes auf, das über seine Verhältnisse lebt: Deutschland könne seine Haushalte ohne zusätzliche Steuern ausgleichen, wenn es denn weniger auf Größe setze, spare und seinen Appetit zügele, meint de Marcé.64 Er wirft der Regierung Brüning vor, die Not in Deutschland schlimmer darzustellen, als sie in Wirklichkeit sei. Für de Marcé ist es das deutsche Volk, das dem Kanzler den rechten Weg weist – „le peuple allemand montre la bonne voie au Chancelier Brüning“ – und ihm Sparsamkeit vorlebt, was die Guthaben auf den deutschen Sparkassenkonten zeigten, die im April 1931 im Vergleich zum Vormonat noch einmal angestiegen seien.65 Polemisch schlussfolgert er: „Die Verbrauchsmengen von Zucker, Fleisch und Bier, die seit dem Krieg immerzu angestiegen sind, belegen, dass Deutschland noch nicht die großen Einschnitte erlitten hat, die Frankreich 1926 hinnehmen musste.“66 Die Zahlen, die de Marcé für seine Analyse verwendet hat und die tatsächlich mit den damaligen Angaben des deutschen Statistischen Reichsamts übereinstimmen67 – allerdings ohne dass de Marcé sie im wirtschaftlichen, finanzpolitischen und politischen Gesamtkontext der Weimarer Republik betrachtet hätte –, dienen ihm als 61 62 63 64 65 66

Marcé: Le contrôle des finances en France et à l’étranger. Paris 1931. Vgl. ebd., S. V. Vgl. ebd., S. VII. Ebd. Vgl. ebd., S. VIII. Übersetzung des Zitats „[L]es courbes de consommation de sucre, de viande et de bière, toutes en hausse depuis la guerre, prouvent aussi que l’Allemagne n’a pas fait encore la grande pénitence à laquelle les Français ont été conviés en 1926“. Ebd., s. VIIf. 67 Die von Victor de Marcé angegebenen Zahlen wurden mit den zeitgenössischen Statistiken des Statistischen Reichsamts verglichen; Vgl.: Statistisches Reichsamt: Wirtschaft und Statistik. Berlin 1931.

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Nachweis, dass die deutsche Regierung übertriebene und unrichtige Angaben veröffentliche. Sämtliche Regierungen der Weimarer Republik – die Brünings eingeschlossen – hätten „la volonté de mettre les budgets en équilibre vrai“ vermissen lassen.68 Hier handelt es sich übrigens um das Leitmotiv seiner ganzen Analyse: Den Regierenden in Deutschland fehle es am Willen zur Sparsamkeit, vor allem was das Militär angehe. Michel Gorel, Autor einer Art Hitler-Biographie, zu dem der Autorin allerdings weitere Informationen fehlen, geht in seiner Missbilligung Brünings noch weiter.69 Für ihn ist Brüning nur eine unbekannte, politisch rechts stehende Figur ohne Kompetenzen im Spiel Schleichers, ein „député vaguement spécialisé dans les questions financières“, der nicht in der Lage sei, Deutschland auf wirtschaftlicher und finanzpolitischer Ebene zu retten.70 In dem Buch „La situation actuelle en Allemagne“, das 1933 in Frankreich veröffentlicht wurde, beschreibt Ossip Piatnitski, Sekretär des Comité executif de l’Internationale Communiste, der 1924 nach Deutschland geschickt wurde, um dort die von Stalin geforderte Bolschewisierung der KPD voranzutreiben, Brüning rückblickend als einen Politiker, der ganz bewusst die arbeitende Bevölkerung benachteiligt habe.71 Wie Gorel lässt er kein gutes Haar an Brüning und macht ihn allein für die wirtschaftliche und soziale Krise in Deutschland verantwortlich. 1.4 Wo liegt die Wahrheit: „Ist Deutschland erfolgreich oder nicht“? In ihren Beschreibungen der deutschen Wirtschafts- und Finanzkrise schwanken die französischen Autoren zwischen einer massiven Kritik am scheinbaren Reichtum in Deutschland und Mitgefühl für die verelendeten Massen im Nachbarland. Henry Laufenburger, Spezialist für Wirtschaftspolitik, bringt in der drei Mal jährlich erscheinenden Publikation „Se Connaitre“ der Ligue d’Etudes Germaniques (LEG) dieses Paradox mit einer Frage auf den Punkt: „Où est la vérité, l’Allemagne est-elle prospère ou non?“72 Wie schon der Titel zeigt, war die deutsche Wirtschaft für die Franzosen ein Rätsel. Die Komplexität der deutschen Krise, die Brüning zu bekämpfen hatte, überforderte selbst die französischen (universitären) Spezialisten, die sich trotz ihrer wissenschaftlich und populärwissenschaftlich geprägten Analysen in ihren Deutschlandbildern verstrickten. Der Eindruck, dass ein wirkliches Verständnis der Ursachen der deutschen Krise auch bei 68 69 70 71 72

Ebd., S. X. Gorel: Hitler sans masque. Paris 1933. Ebd., S. 192. Vgl. Piatnitski: La situation actuelle en Allemagne, S. 6f. Laufenburger: L’énigme de l’économie allemande. In: Se Connaître N°2 (Avril 1930), S. 8–9 (9). Gefunden im CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Carton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands.

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den akademisch gebildeten französischen Beobachtern fehlte, wird durch einen am 6. April 1932 eingereichten Bericht des deutschen Generalsekretärs des Comité des Etudes Franco-Allemandes über seine persönlichen Erlebnisse in Paris bestätigt.73 Er resümiert die in der (aktuellen) öffentlichen Meinung vertretenen Standpunkte, die er in Gesprächen mit führenden französischen Vertretern der Kultur, der Wirtschaft und der Politik oder des Parlaments zusammengetragen hat. Er kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Wirtschaftskrise in Frankreich zwar intensiv wahrgenommen, nicht aber mit Verständnis oder gar Mitgefühl begleitet werde.74 Nach seinen eigenen Umfragen sähen die Franzosen in der deutschen Wirtschaftskrise das Resultat eines unkontrollierten Wirtschaftswachstums. Die deutsche Landwirtschaftspolitik, die Finanzpolitik und die Not in den deutschen Städten überfordere sogar ganz und gar das französische Verständnis. Die angebliche Verschwendung auf kommunalpolitischer Ebene für öffentliche Bauarbeiten, die Höhe der Gehälter und die Sozialpolitik, die häufig kritisiert würden, stünden – so der Bericht – aus französischer Sicht in krassem Widerspruch zu der Unfähigkeit der deutschen Gemeinden, die Arbeitslosen finanziell aufzufangen, die das Reich zu unterstützen nicht mehr in der Lage sei. Letztlich erscheine den Franzosen die gesamte Finanzordnung Deutschlands unhaltbar, zumal sie selbst an ganz andere Strukturen gewöhnt seien. Zudem sähen sie in der deutschen Krise vor allem eine Schuldnerkrise – der Versuch der Regierung, mit ihrer Finanzpolitik ihre internationalen Zahlungsverpflichtungen zu sabotieren, sei absurd. Ein neuer wirtschaftlicher Aufstieg Deutschlands, den einige Franzosen voraussähen, werde – vor allem seit dem Tod Stresemanns und dem Wiederauftauchen undurchsichtiger politischer Ziele der deutschen Regierung – als Bedrohung des wirtschaftlichen und militärischen Gleichgewichts in Europa wahrgenommen. Der Bericht eines deutschen Diplomaten macht deutlich, dass sich die Franzosen weniger auf die deutsche Wirtschaftskrise als auf die politischen Auswirkungen und Begleiterscheinungen dieser Krise konzentrierten.75 Tatsächlich stimmen viele Eindrücke aus diesem Bericht auch mit den hier aus diversen zeitgenössischen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen entnommenen Ansichten überein. Heinrich Brüning wurde allerdings trotz dieser eher negativ geprägten Sicht auf Deutschland in der französischen öffentlichen Meinung Anfang der 1930er Jahre häufig als Ausnahmeerscheinung wahrgenommen.

73 Vgl. Deutsch–Französisches Studienkomitee. Bericht des deutschen Generalsekretärs über persönliche Eindrücke in Paris. Signé Clauss. 06/04/1931, S. 1–10. In: CADN: Fonds de l’Ambassade de France à Berlin. Série B. Carton 463: Echanges culturels. 74 Vgl. Ebd., S. 7. 75 Vgl. ebd., S. 7f.

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2. Brüning in der Vorstellungswelt der Presse Im Gegensatz zu den Vertretern der intellektuellen, parlamentarischen und diplomatischen Kreise verfolgte die französische Presse praktisch tagtäglich die deutsche Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie die Ereignisse, die mit der Wirtschaftskrise in Deutschland einhergingen. Deshalb bietet sie uns auch die Möglichkeit, die Entwicklung der französischen Brüning- und Deutschlandbilder im Detail und chronologisch genau zu verfolgen. Auch in der Presse war die soziale Unterscheidung zwischen zwei widersprüchlichen Deutschlands die Basis für die journalistische Sicht auf Brüning.76 Auch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Konzeptionen der Linken und Rechten Anfang der 1930er Jahre waren für die journalistischen Urteile über Brüning bestimmend. Außerdem konzentrierten sich die Reporter der verschiedenen Zeitungen mit ganz unterschiedlicher Aufmerksamkeit auf diverse deutsche Themen. So befassten sich die politisch rechts stehenden Journalisten in den Regierungsjahren Heinrich Brünings viel stärker mit der klassischen deutschen Außenpolitik als die linken Kollegen. 2.1 Die Wahrnehmung des Ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931) a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Im April 1930 widmete die Ere Nouvelle fast täglich einen Artikel der deutschen Biersteuer, dem Landwirtschaftsprogramm Schieles, der Wirtschaftspolitik Brünings oder dem Haushaltsdefizit des deutschen Reiches.77 Am 16. Juni 1930 bezeichnete der Journalist Gabriel Cudenet die wirtschaftliche Situation Deutschlands – nach einem Bericht des amerikanischen Finanzanalysten Parker Gibert78 – als „glückliche Phase“: „Obwohl Deutschland nach Versailles isoliert dastand, ist es nun der Nutznießer eines sehr großen, internationalen Solidaritätsbestrebens. […] Es hat den Dawes- und den Young-Plan eher als Anreiz aufgefasst denn als

76 Um die nach den politischen Ausrichtungen der Zeitungen getroffene Aufteilung der nachfolgenden Kapitel über die Vorstellungswelt der französischen Journalisten verstehen zu können, bedarf es einer Anmerkung. Die Presse der politischen Mitte befand sich an der Schnittstelle zwischen der rechten und der linken Mitte, was ihre genaue Zuordnung häufig schwierig macht. Die Artikel der Ere Nouvelle beispielsweise, in der Sichtweisen des rechten Flügels des Parti radical zum Ausdruck kamen, ähneln häufig denen der rechten Mitte und bilden somit ein Scharnier zwischen der linken und der rechten Mitte. Um aber der politischen Einteilung im Parlament treu zu bleiben und um eine gewisse Homogenität und Klarheit in der Beschreibung und der Analyse der journalistischen Vorstellungswelt(en) wahren zu können, wird die Ere Nouvelle immer in der Kategorie „linke Mitte“ aufgeführt werden. 77 L’Ere Nouvelle vom 06/04/1930, vom 08/04/1930, vom 09/04/1930, vom 10/04/1930, vom 11/04/1930, vom 12/04/1930, vom 18/04/1930 und vom 28/04/1930. 78 Zu Parker Gilbert, vgl. Hömig: Brüning (I), S. 108ff.

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Hemmnis und es hat sogar in der Erfüllungspolitik eine Dynamik für eine Erneuerung gefunden.“79 Auch wenn die Zeitung die Existenz eines Haushaltsdefizits in Deutschland nicht leugnet, erklärt sie es doch nur für ein Resultat ungebremsten Ausgabenanstiegs (in Form von Zahlungen an die Länder und Kommunen; einem Anstieg der Kriegsschulden; erhöhten Sozialausgaben; Krediten und Investitionen; erhöhten Verwaltungsausgaben).80 Die gesellschaftliche Zweiteilung Deutschlands zeigt sich auch in dieser Wahrnehmung. Je besser die Radikalsozialisten die Situation in Deutschland realisierten, desto pessimistischer.urteilten sie auch. Schon im Juli, nachdem sie alle Aspekte der Finanzkrise aufgearbeitet hatten – den Anstieg der öffentlichen Schulden,81 die Brüningschen Maßnahmen zur finanziellen Sanierung82 und die Ursachen der Krise seit 1926-2783 –, sprachen die Journalisten von der Ere Nouvelle von der „tragischen Finanzsituation Deutschlands“.84 In der Lumière interessierte man sich weniger für die Wirtschaftspolitik in Deutschland und die verschiedenen wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen des jungen Reichskanzlers, sondern mehr für den gesamten internationalen Kontext, wie etwa für den Einfluss des Young-Plans auf die deutschfranzösischen Beziehungen.85 Salomon Grumbach86 allerdings widmete den Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die deutsche Psyche einen ganzen Artikel.

79 Übersetzung des Zitats „Isolée au lendemain de Versailles, elle est maintenant le bénéficiaire d’un immense effort de solidarité internationale. [...] Elle a senti dans les accords Dawes et Young plus un stimulant qu’une entrave, elle a trouvé dans la politique même d’exécution une dynamique de rénovation“. L’Ere Nouvelle vom 16/06/1930. Cudenet, Gabriel: Situation économique de l’Allemagne, S. 1. 80 L’Ere Nouvelle vom 29/10/1930. En marge des difficultés allemandes. Pourquoi le budget du Reich est–il en déficit, S. 1. 81 Vgl. L’Ere Nouvelle vom 02/12/1930. Georges, E.: La crise financière allemande. L’accroissement de la dette publique, S. 1. 82 Vgl. L’Ere Nouvelle vom 04/12/1930. La crise financière allemande. Les projets d’assainissement, S. 1 + 3. 83 Vgl. L’Ere Nouvelle vom 30/11/1930. Georges, E.: La crise financière allemande. Depuis l’exercice 1926–27 le budget est en déficit, S. 1. 84 L’Ere Nouvelle vom 13/07/1931. La tragique situation financière de l’Allemagne, S. 1. 85 Vgl. La Lumière vom 05/04/ 1930 und vom 12/04/1930. 86 Salomon Grumbach (1884–1952): Sozialistischer Abgeordneter. Er wurde im Elsass geboren und erhielt durch den Versailler Vertrag die französische Staatsbürgerschaft. Er blieb aber beiden Ländern und Kulturen verbunden. Grumbach arbeitete als Korrespondent für die Zeitung Vorwärts in Paris (1908) und schrieb für die Humanité über internationale Konflikte und Probleme. Er vermittelte darüber hinaus zwischen der deutschen SPD und der französischen SFIO und engagierte sich für die sozialistische Partei. Seine sozialistischen Überzeugungen gehörten zu den gemäßigsten und reformiertesten in der politischen Landschaft. Er war überzeugter Anhänger der Union des gauches, propagierte eine eventuelle sozialistische Regierungsbeteiligung und stimmte voll mit Renaudel und der politischen Ausrichtung der Vie socialiste überein. Als überzeugter Demokrat und Anhänger des parlamentarischer Systems begegnete er Déat, Marquet und Montagnon mit großem Misstrauen. Im Jahr 1933, als es zur sogenannten „neosozialistischen“ Spaltung kam, hielt er der SFIO die Treue.

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Das deutsche Volk ist für ihn „ein Volk, dessen Seele kränker ist als der Körper“ und das angesichts der Wirtschaftslage eine „wahrhaftige Psychose“ erlebt. Er lobt Brüning für seine Bereitschaft, auf seine Berater zu hören, und dafür, den psychischen Zustand der Deutschen verstanden und dabei mit Recht auf den Überschuss des deutschen Außenhandels in den letzten Monaten verwiesen zu haben.87 Mit diesem Hinweis habe Brüning bewiesen, dass er gegenüber den politischen Extremisten, die ihm vorwarfen, „die höchsten Interessen Deutschlands zu opfern“, den Mut habe, die Wahrheit auszusprechen.88 Am 8. November 1930, in Anbetracht des „schrecklichen Elends der Bevölkerung in Deutschland“, richteten die Journalisten von der Lumière zum ersten Mal einen Appell an die Europäer, sich zu einigen und sich „zusammmenzuschließen“.89 „Im Zentrum des Kontinents stirbt ein Volk an Hunger“, schrieben sie und beschuldigten die deutsche Politik der „Lüge“ und der „Paradoxie“: Auf alles würden dort Steuern und Gebühren erhoben und man höre nicht auf, immer neue zu erfinden. Dafür machten sie aber nicht Brüning selbst, sondern das „kapitalistische System“ verantwortlich. So glaubten sie, dass die aktuelle Situation Deutschlands, „so schlimm sie auch sei“, dieselbe Krise sei, die „Deutschland 1914 in den Krieg getrieben“ habe und nicht etwa eine direkte Folge der Brüningschen Politik. Anschließend warnten sie ihre Landsleute vor einem wachsenden politischen Extremismus in Deutschland, der von der „realen“ und „tiefen“ Wirtschaftskrise profitiere, deren „weiteres Fortbestehen eine Gefahr für die republikanische Verfassung und die europäische Wirtschaft“ bedeute;90 Frankreich müsse, wie Salomon Grumbach am 4. Juli 1931 bestätigte „ein vitales Interesse an der Gesundung [der deutschen Lage]“ haben.91 Am 18. Juli zeigte sich Grumbach noch besorgter, als er schrieb, Deutschland sei von „einem kompletten finanziellen Zusammenbruch bedroht; deswegen rief zur internationalen Hilfe auf, „weil jeder dafür Verantwortung trägt“.92 Für Brüning, dessen Politik er generell in einem zunehmend bissigen Ton beschreibt, zeigt er sogar Verständnis: „Die Präsenz in der Regierung von Männern wie Treviranus und Schiele […] hat dem Kanzler, dessen Herz

87 Übersetzung des Zitats „un peuple malade dans son âme plus que dans son corps“. Vgl. La Lumière vom 06/09/1930. Grumbach, Salomon: Dans une semaine l’Allemagne élira le nouveau Reichstag, S. 4 88 Ebd. 89 Vgl. La Lumière vom 08/11/1930. Reber, Charles: Spectacle de la rue à Berlin. La terrible misère du peuple en Allemagne trace à l’Europe le devoir de s’unir, S. 2. 90 La Lumière vom 4. 7. 1931. Grumbach, Salomon: Il y a, dans le Reich, une misère réelle, profonde, S. 3. 91 Ebd. 92 La Lumière vom 18/07/1931. Grumbach, Salomon: L’Allemagne est menacée d’un effondrement financier général, S. 2

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und Verstand nicht im Einklang standen, die notwendigen politischen Entscheidungen nicht mehr erleichtert“.93 Im Magazin Vu wurden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Brünings in Deutschland ebenfalls kaum bis gar nicht beachtet. Infolge des „krach monétaire“,94 glaubte der Journalist Roger Francq dann aber, die „wahre Lage Deutschlands“ erfasst zu haben: „Im Falle Deutschlands zeigt sich das verblüffende Schauspiel einer sehr stark rationalisierten Wirtschaft, die in allen Bereichen über eine überaus hochentwickelte Technik verfügt und deren Handelsbilanz positiv ist […] und eines Landes, dessen Haushaltsdefizit kaum das anderer Staaten übersteigt, die von der Krise betroffen sind, und das doch vor dem Abgrund zu stehen scheint“.95 Während Grumbach in der Lumière berichtet, dass Deutschland „eine Krise erleidet, wie sie noch kein anderes Land erlebt hat“,96 relativiert Francq: „Zweifellos leidet Deutschland unter der Arbeitslosigkeit und seine Erneuerungskraft ist erloschen, wenn man seine eingeschränkten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte bedenkt. Aber viele andere Länder sind in der gleichen Lage“.97 Am 19. August 1931 wird im Canard enchaîné gespottet: „Es kann keinem klardenkenden Patrioten entgangen sein, dass Kanzler Brüning sich mit seinen für morgen früh angekündigten Bankrottgeschichten einen Scherz mit den ehrlichen französischen Sparern erlaubt hat.“ Schon wieder habe es Frankreich „mit der entschiedenen und eklatanten Demonstration germanischer Unehrlichkeit“ zu tun. Weiter heißt es ironisch: Wenn Deutschland wirklich den Zusammenbruch wolle, müsse es nichts anderes tun, als Frankreich darum zu bitten, „Herrn Brüning zu erklären, wie man in Nullkommanix operative Reserven zum Schmelzen bringt“.98 In der Vie Socialiste wurde 1931 fast täglich die wirtschaftliche Situation Deutschlands im Kontext der internationalen Beziehungen und die innenpolitische Lage des Nachbarlands beleuchtet. Sie war die einzige Zeitung, die sich im Detail

93 Übersetzung des Zitats „La présence au sein du gouvernement d’hommes comme Treviranus et Schiele [...] n’a plus facilité au chancelier – dont le cerveau et le cœur sont en divorce – les décisions politiques nécessaires“. Ebd. 94 Vu vom Juli 1931. Francq, Roger: Le krach monétaire allemand, S. 1032–1003 [mit einer Fotoserie von Brüning]. 95 Übersetzung des Zitats „La situation allemande offre [...] ce spectacle ahurissant d’une économie poussée à un degré de rationalisation intense, munie d’une technique ultra– perfectionnée dans tous les domaines, dont la balance commerciale est bénéficiaire [...], dont le déficit du budget n’est guère plus élevé que celui des autres nations touchées par la crise, et qui, pourtant, semble au bord de l’abîme“. Ebd. 96 Vgl. La Lumière du 18/07/1931. Grumbach, Salomon: L’Allemagne est menacée d’un effondrement financier général, S. 2 97 Übersetzung des Zitats „Sans doute l’Allemagne souffre–t–elle du chômage, sa puissance de reproduction est–elle soufflée étant donnée sa richesse réduite de matières premières et ses possibilités de débouchés. Mais bien d’autres pays sont dans ce cas“. Vgl. Vu vom Juli 1931. 98 Le Canard enchaîné vom 19/08/1931. Dregerin: La banqueroute allemande se fait scandaleusement attendre, S. 1.

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für den Deutschen Wirtschaftsrat, die Umsetzung von Gesetzesvorhaben99 und die Arbeit der deutschen Gewerkschaften interessierte, die es aus Sicht der Zeitung mit einem Kabinett zu tun hatten, das „die finanziellen Operationen der Arbeitgeber und der besitzenden Klassen begünstigt“. 100 Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Brünings, wie die „Reduzierung der Gehälter und Löhne, die neuen Steuern, die Erhöhung der Zollgebühren“ seien ein Symbol für eine „unheilvolle Politik, die direkt in den Ruin führen“ und „der deutschen faschistischen Bewegung Aufwind“ geben werde.101 Für den Populaire stand die politische Lage unter Brüning von Anfang an unter negativen Vorzeichen: Brüning „lässt das Proletariat ausbluten, während er an die Industriellen und die Agrarier Geschenke verteilt“.102 Je weiter links die Journalisten standen, desto erbarmungsloser wurden die Urteile über Brüning. In der Revolution Prolétarienne wurde Brünings Politik schon 1930 als eine „Wirtschaftsdiktatur der Industriemagnaten“103 bezeichnet. In Monde wurde Brünings Politik, von der nur die „classes dirigeantes“ profitierten, sogar als „fiskalisches Verbrechertum“ gebrandmarkt.104 Im darauffolgenden September analysiert der dem PCF nahe stehende Kommunist Lucien Laurat105 die deutsche Wirtschaftspolitik. Er nennt sie „schwerwiegender und noch akuter als die der britischen Wirtschaft“ und glaubt, dass sie unglücklicherweise die „Schrumpfung des inländischen Marktes begünstigt“. Außerdem bemerkt er, dass „viele Arbeiter die Ursache für ihre Notlage im Young-Plan und im Versailler Vertrag sehen“.106 Am 31. Januar 1931 veröffentlicht Monde eine Karikatur aus dem deutschen Simplicissimus, die den Titel „Die zwei Brünings“ trägt. Während der eine Brüning darauf den Kopf hängen lässt, sagt der andere Brüning despo-

99 Vgl. La Vie Socialiste vom 04/04/1931. Perrin, Paul: Les conseils économiques en Allemagne, S. 7f. 100 La Vie Socialiste vom 18/07/1931. La Vie Internationale [Rubrik]: La catastrophe allemande et les organisations ouvrières, S. 17f. 101 Vgl. Ebd. 102 Übersetzung des Zitats „saigne le prolétariat à blanc, cependant il fait des cadeaux aux industriels et aux agrariens“. Le Populaire vom 22/03/1930. Sender, Tony: La bataille de classe en Allemagne, S. 1. 103 Übersetzung des Zitats „la dictature économique des magnats“. La Révolution Prolétarienne de 1930 [aufgrund der schlechten Mikrofilmqualität, kann der Erscheinungsmonat hier nicht angegeben werden, vgl. BNF Micr D–68]. Notes économiques. Avant le 14 septembre, S. 26/250–27/251. 104 Monde vom 03/05/1930. La Semaine Economique & Sociale [Rubrik]: Le banditisme fiscal en Allemagne, S. 15. 105 Lucien Laurat (1898–1973): Aktives Mitglied der österreichischen kommunistischen Partei und später in den 1920er Jahren Mitglied der Kommunistischen Internationalen, anschließend Diskussionsleiter der „groupe planiste – Planwirtschaftsgruppe“ in der SFIO. Volkswirtschaftler, Schüler Rosa Luxemburgs und „espérantiste“. Wirtschaftsdozent am Centre Confédéral d’Education Ouvrière der Vorkriegs–CGT. Schrieb für Monde, la Critique Sociale, le Combat Marxiste etc. 106 Übersetzung des Zitats „plus profonde et aiguë que celle de l’économie britannique“. Monde vom 27/09/1930. Laurat, Lucien: L’économie allemande dans l’impasse, S. 11.

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tisch: „Ich habe die Gehälter kraftvoll reduziert – auf dass die Lebenshaltungskosten nun von selbst sinken“.107 Gerade in den kommunistischen Zeitungen kam es häufiger vor, dass Karikaturen aus deutschen Zeitungen übernommen und für das französische Publikum übersetzt wurden. L’Humanité und die Correspondance Internationale bezogen ebenfalls Stellung gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings. Auch sie sprachen von der „gegen die Arbeiter gerichteten Politik der Brüning-Diktatur“ oder dem „diktatorischen Programm“, das „an gegen die Arbeiter gerichteter Feindseligkeit“ alles übertreffe, was es bislang in Deutschland zu sehen gab.108 b) Von der rechten Mitte bis zur extremen Rechten Die politischen Versuche Brünings, die Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland zu meistern, wurden von der rechten Mitte in Frankreich genau so nuanciert beurteilt wie von der linken Mitte. Aber für die Notlage der Bevölkerung, die in der Vorstellungswelt der Radikalsozialisten im Vordergrund stand, interessierten sich die politisch rechts stehenden Journalisten deutlich weniger. Der Petit Parisien unterzog das politische Programm des ersten Kabinetts Brüning einer strengen Analyse. Nach Ansicht des Chefreporters über Deutschland, Camille Loutre,109 enthielten die drei Säulen der Brüningschen Politik – der Ausgleich des Haushalts, die Agrarhilfen und das Osthilfe-Programm – eine Antilogie, die das Gelingen der gesamten Politik in Frage stellte. Die Unterstützung der Landwirte und der ostdeutschen Gebiete sei eine „höchst kostspielige Operation“, die das Gleichgewicht des Haushalts schnell in Gefahr bringen könne.110 Auch Camille Loutre glaubt an die Neigung der Deutschen, alle finanziellen Mittel zu verschwenden.111 In dieser Neigung erkennt er, verbunden mit der angeblichen „Überbevölkerung“ und der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland, die Hauptgründe für das Ausmaß der Krise im Land.112 Die Deutschen frönten schon immer der Maßlosigkeit und den Extremen: „Deutschland ist das Land der großen wirtschaftlichen und finanziellen Experimente, und da man dort nichts mit Maß

107 Monde vom 31/01/1931. Karikatur aus dem Simplicissimus: Les deux Brüning 108 L’Humanité vom 06/02/1930. Le chancelier Brüning a prononcé hier un grand discours au Reichstag. 109 Camille Loutre war wahrscheinlich ein Pseudonym. Es fehlen genauere Informationen zu diesem Journalisten. 110 Le Petit Parisien vom 21/04/1930. Loutre, Camille: La situation politique en Allemagne, S. 1. 111 Vgl. Le Petit Parisien vom 19/06/1930. Loutre, Camille: La situation financière en Allemagne, S. 1+3. 112 Vgl. ebd.

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macht, sind die Folgen dieser Experimente immer extrem.“113 Und gerade diese „fantasmagorie“ sei von „langer Dauer“.114 Angesichts des „Abscheus“, den die Deutschen empfänden, wenn „sie ihre Lebensweise in öffentlichen und in privaten Dingen zügeln“ müssten115 – ein Bild, das an die Strukturen von sehr langer Dauer in der französischen Vorstellungswelt erinnert –, versuche Brüning mit Mühe die Probleme der Arbeitslosigkeit und des Haushaltsdefizits zu lösen.116 Loutre unterstrich anerkennend, dass Brüning „bestimmte Fehler“ der Vergangenheit erkannt habe und den Mut aufbringe, eine schmerzhafte, aber umsichtige Politik zu verfolgen.117 So habe er den deutschen Preis- und Lohnregelungen den Krieg erklärt, einem System, das dafür verantwortlich sei, dass sich Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer bereichern könnten.118 Der Journalist Lucien Romier hingegen geizte nicht mit Kritik am Vorgehen des deutschen Reichskanzlers. Nach seinen Worten verfolgte Brüning eine „rückwärts gehende Politik“ und eine „lasterhafte Methode“, die in seiner Gewohnheit bestehe, „im Ausland zuzugreifen, um die Probleme, unter denen die innerdeutsche Wirtschaft leidet, zu mildern“.119 Romier hält es für unmöglich, der von der deutschen Regierung beschworenen Redlichkeit der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu vertrauen. Sein Kollege Camille Loutre hingegen glaubt weiter an die Bemühungen Brünings, die Krise in den Griff zu bekommen, die ihm „tragisch erscheint“ und die kurz davor stehe, „eine Katastrophe“ zu werden.120 Im Petit Parisien wurde infolge dieses Artikels – wenn auch nur für kurze Zeit – weniger an der Echtheit des Massenelends in Deutschland gezweifelt.121 In La Croix wird Heinrich Brüning als ein „Finanzexperte“ vorgestellt „der besonders dafür geeignet ist, die schwere Bürde der Sanierung der Reichsfinanzen

113 Übersetzung des Zitats „L’Allemagne est le pays des grandes expériences économiques et financières et, comme l’on n’y fait rien avec mesure, les conséquence de ces expériences sont toujours extrêmes“.Vgl. ebd. 114 Vgl. ebd. 115 Le Petit Parisien vom 28/06/1930. Revue de presse [Rubrik]: La situation de l’Allemagne, S. 3 116 Vgl. Le Petit Parisien vom 28/06/1930. Dernière Heure [Rubrik], Loutre, Camille: L’horizon politique s’éclaircit à Berlin, S. 3. 117 Vgl. Le Petit Parisien vom 19/08/1930. Dernière Heure: A la vieille des élections du Reich, S. 3; Le Petit Parisien vom 26/01/1931. Dernière Heure: Le chancelier Brüning à Cologne…, S. 3; Le Petit Parisien vom 04/02/1931. Dernière Heure: Demain au Reichstag discours du chancelier sur la politique générale, S. 3. 118 Vgl. Le Petit Parisien vom 03/03/1931. Loutre, Camille: Le chômage en Allemagne et la question des prix, S. 1–2. 119 Übersetzung des Zitats „de prendre à l’extérieur pour alléger les difficultés dont souffre son économie intérieure“. Le Petit Parisien vom 12/06/1931. Romier, Lucien: La marche à rebours c’est la méthode vicieuse que suit le Reich, S. 1. 120 Le Petit Parisien vom 13/07/1931. Loutre, Camille: La crise financière allemande. Le cabinet Brüning s’efforce de remédier à la situation qui paraît tragique, S. 1+ 3. 121 Vgl. Le Petit Parisien vom 10/09/1931. L’atmosphère actuelle en Allemagne et la visite projetée des ministres français, S. 1–2.

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auf sich zu nehmen“.122 Gegenüber einem Volk, dass sein Sozialsystem ausnutze, und trotz der schwierigen Bedingungen betreibe der Kanzler eine ziemlich gerechte Politik.123 Es erstaunt allerdings, dass es in dieser katholisch ausgerichteten Zeitung weitgehend an Mitgefühl für die soziale Misere der deutschen Bevölkerung mangelte. Jean Garet sieht die Ursachen für das Elend der Massen – ohne Berücksichtigung der internationalen Krise – in einer „unglaublich sorglosen Finanzpolitik“, „einer außergewöhnlichen Entwicklung der industriellen Ausstattung“ und einem „Lebensstandard, der nicht mit den vorhandenen Existenzgrundlagen vereinbar ist“; die deutsche Wirtschaft funktioniere nur noch „durch ein Wunder“, unabhängig von einer sehr guten Situation der Sparkassen, einer positiven Handelsbilanz und einem günstigen Devisenmarkt.124 Nach Meinung des Journalisten war auch Brüning für diese Situation verantwortlich, weil er den „Egoismus der Parteien“ nicht gebremst habe, der ebenfalls Ursache für das „finanzielle Durcheinander“ sei.125 Garet war sich auch bewusst, dass die soziale Lage in Deutschland die Menschen den politischen Extremisten in die Arme trieb, zeigte sich aber weniger beunruhigt, was die Zukunft Deutschlands betraf, als vielmehr, was es für sein eigenes Land bedeute, mit „dieser 65 Millionen Menschen starken Nation vor unserer Haustür“ zu leben, einer „furchterregenden Unbekannten“.126 Für seinen Kollegen Jean Darcy war der „Finanzexperte“ Brüning ohne Einschränkung der richtige Mann am richtigen Platz. Sein Portrait des Reichskanzlers erlaubte ihm aber auch, seiner Verachtung für die parlamentarischen Kreise in der Weimarer Republik Ausdruck zu verleihen: „Es ist bekannt, mit welcher Willenskraft Dr. Brüning sich an die Arbeit gemacht hat. Er bemüht sich, den Haushalt auszugleichen, er geht gegen hohe Lebenshaltungskosten vor, kürzt die Gehälter, zwingt aber die Wirtschaftsführer gleichzeitig auch, die Verkaufspreise zu senken. Seine feste Hand ist überall und zugleich spürbar, und sogar das Parlament, das sonst so schnell Widerstand leistet, leckt dem die Hand, die es unterdrückt“.127 „Man kann von Brüning halten, was man will [...], aber ob man es nun mag oder nicht, man kann sich nicht einer gewissen Sympathie für ihn er-

122 Vgl. La Croix vom 24/06/1930. La Vie Internationale [Rubrique]: La crise budgétaire en Allemagne, S. 1. 123 Vgl. La Croix vom 06/09/1930. De Tarlé, Antoine: Difficultés financières et sociales en Allemagne, S. 3. 124 Übersetzung der Zitate „politique financière incroyablement imprévoyante“, „un développement extraordinaire de l’équipement industriel“ und einem „train de vie incompatible avec [l]es ressources“. La Croix vom 24/01/1931. Garet, Jean: Les difficultés de l’Allemagne, S. 1. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Übersetzung des Zitats „On sait avec quelle volonté d’aboutir le Dr. Brüning s’est attelé à la tâche. Il s’efforce de rétablir l’équilibre budgétaire, il s’attaque à la vie chère, comprime les salaires, mais contraint par la même occasion le patronat à baisser ses prix de vente. Sa poigne de fer se fait sentir partout à la fois, et le Parlement, lui–même, d’ordinaire si prompt à la rébellion, lèche les mains de celui qui le mate“. La Croix vom 10/02/1931. Darcy, Jean: Lettre d’Allemagne, S. 3.

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wehren“, schließt er mit einem Zitat des deutschen Journalisten Theodor Wolff ab.128 La Croix war dann auch die einzige französische Zeitung, in der vorgeschlagen wurde, in Frankreich Brünings Politik zum Vorbild zu nehmen: „Die Reichsregierung wird tiefgreifende Einschnitte im Haushalt vornehmen und eine strenge Wirtschaftspolitik betreiben. Warum sollten wir das bei uns nicht auch tun, ohne darauf zu warten, von einer Finanz- oder Wirtschaftskrise dazu gezwungen zu werden? Sie wird auf ihren Größenwahn, ihre verschwenderischen Ausgaben verzichten, das Spiel der Spekulanten eindämmen, die Banken überwachen und ihre Vorgehensweisen genauer kontrollieren. Wieso sollten wir es nicht auch so machen, um Krisen, die unsere Nachbarn zu solchen Maßnahmen genötigt haben, zu vermeiden?“129 Jean Guiraud zog ganz praktische Schlussfolgerungen aus der deutschen Krise und verhehlte seine Wertschätzung Brünings nicht: „Es ist gut, das Übel zu heilen, und wir wünschen uns, dass die Deutschen sich von dem ihren erholen können, denn wir glauben an die Solidarität der Staaten in materieller und moralischer Hinsicht; aber am besten ist es, ihm zuvorzukommen, und das werden wir bei uns tun, weil wir aus den Lehren anderer lernen können und vorausschauend die Ursachen beseitigen, die das Übel zweifellos eines Tages in unserem Land hervorrufen würden“.130 Diese Sichtweise blieb eine absolute Ausnahme in der französischen Vorstellungswelt, denn sie hielt Frankreich einen Spiegel vor, indem sie der französischen Regierung „verschwenderische Ausgaben“ vorwarf, „die eher in fetten als in mageren Jahren wie diesen“ angebracht seien.131 Während der Dauer der beiden Kabinette Brüning behielt La Croix diese Ausnahmeposition in der rechten französischen Presselandschaft bei; immer wieder wurde dort Brüning als Ausnahmeerscheinung inmitten eines törichten Volkes beschrieben. Ganz anders bei der Tageszeitung Matin. Dort war man überzeugt, dass die Krise und die Not in Deutschland nicht real seien132 und dass die wenigen vorübergehenden Probleme Deutschlands auf unnötige Ausgaben zurückzuführen seien und auf das mangelnde Vertrauen, das Deutschland auf den ausländischen 128 Ebd. 129 Übersetzung des Zitats „Le gouvernement du Reich va opérer dans son budget des coupes sombres et pratiquer une sévère politique d’économie. Pourquoi n’en ferions–nous pas de même chez nous, sans attendre d’y être acculés par une crise économique et financière ? Il va renoncer à sa mégalomanie, à ses dépenses somptuaires, refréner le jeu de la spéculation, surveiller les banques et contrôler leurs opérations; pourquoi n’en ferions–nous pas autant pour prévenir les catastrophes qui ont acculé à de semblables mesures nos voisins ? “. La Croix vom 31. 7. 1931. Guiraud, Jean: Les leçons de la crise allemande, S. 1. 130 Übersetzung des Zitats „C’est bien de guérir le mal, et nous souhaitons que les Allemands guérissent du leur pour que nous croyions à la solidarité matérielle et morale des nations; mais il est préférable de le prévenir, et nous le préviendrons chez nous en profitant des leçons d’autrui et en supprimant d’avance les causes qui ne manqueraient pas de le déchaîner un jour dans notre pays“. Ebd. 131 Übersetzung des Zitats „dépenses somptuaires, mieux placées en périodes de vaches grasses qu’en périodes de vaches maigres telles que la nôtre“. Ebd. 132 Le Matin vom 13/09/1930. Dernière Heure [Rubrik]. En Allemagne. Le dernier effort des orateurs politiques, S. 3.

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Märkten generiere.133 Es reiche aus, den Ratschlägen Parker Gilberts zu folgen und endlich den Willen zu haben „eine vernünftige, normale Haushaltspolitik zu betreiben, die zu allen Zeiten und in allen Lagen genauestens ausgeglichen“ sei.134 Nach der Bankenkrise im Juli 1931 scheint, nach Ansicht des Matin, die Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings nun doch in die richtige Richtung zu gehen: „Da ist die Regierung in Berlin, die enorme Anstrengungen unternommen hat – das muss hervorgehoben werden –, um das in Notlage geratene germanische Schiff wieder aufzurichten, um es vor dem Untergang zu bewahren und um es wieder in normales Fahrwasser zu bringen. Wir werden sehen, was das Flottmachen der großen Maschinerie bringt. Die Experten erklären, dass es sich mit den getroffenen Maßnahmen wieder in Bewegung setzen müsste“.135 La Journée Industrielle verfolgte die Ereignisse in Deutschland ausschließlich unter einem ökonomischen Blickwinkel. Die politische Entwicklung wurde nur so weit beachtet, wie sie Rückwirkungen auf die Wirtschaft hatte. Die Artikel, die in den Monaten des Brüning-Kabinetts veröffentlicht wurden, verrieten allerdings, wie sehr die Journalisten der Journée Industrielle wegen der „unklaren politischen Lage“, dem „Kriegsvokabular“ und dem „Lärm der (Soldaten)Stiefel“ in Deutschland, der den Markt „ungünstig“ beeinflusste, beunruhigt waren.136 Trotz einer latenten Antipathie gegenüber Deutschland betrachteten die Journalisten dieser Zeitung Brüning vor dem Hintergrund der Krise als „kleinstes Übel“ und als eine Persönlichkeit, der es nicht an „gesundem Menschenverstand“ fehle.137 Am 10. April 1931 veröffentlichte Lucien Bourguès, Journalist beim Petit Parisien, in der Wochenzeitung Gringoire ein Porträt Heinrich Brünings, in dem er die vier Hauptthemen behandelte, welche die Franzosen im Zusammenhang mit Brüning interessierten. Er beschreibt den Reichskanzler als einen Wirtschafts- und Finanzexperten, der von der gesunden Lage der französischen Industrie beeindruckt sei und sie als Vorbild nutzen wolle, um ein Deutschland zu schaffen, das „mehr dem Land verbunden und weniger von Maschinen hypnotisiert“ sei.138 Bourguès lobt Brünings unabhängigen Geist und seine Stärke, die es ihm erlaubt

133 Le Matin vom 17/04/1930, vom 24/05/.1930 und vom 31/05/1930. 134 Übersetzung des Zitats „de pratiquer une politique budgétaire saine, normale et dans tous les cas et en tout temps parfaitement équilibrée“. Le Matin vom 16/06/1930. Le dernier rapport de M. Parker Gilbert sur la situation économique et financière allemande, S. 3. 135 Übersetzung des Zitats „Et voici le gouvernement de Berlin qui vient de faire un effort énorme – il est juste de le constater – pour redresser le navire germanique en détresse, pour l’arracher au naufrage, pour le ramener en mer libre. Nous allons voir ce qui va donner le déblocage de la gigantesque machine. Les experts déclarent qu’avec les mesures prises elle doit pouvoir se remettre en mouvement. “ Le Matin vom 03/08/1931. Lauzanne, Stéphane: La dictature de la confiance, S. 1. 136 Vgl. La Journée Industrielle vom 16/07/1930, vom 06/09/1930, vom 21/09/1930 und vom 07/10/1930. 137 Vgl. La Journée Industrielle vom 27/11/1930, vom 11/02/1931 und vom 04/08/1931. 138 Übersetzung des Zitats „plus attachée au sol et moins hypnotisée par la machinerie“. Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3.

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habe, „sich zu halten, wo ein anderer schon seit langem verloren hätte“. Brüning wird zudem als ein bescheidener, höflicher und geduldiger Mensch beschrieben, der aufgrund dieser Eigenschaften eine Ausnahme sei in einem Land, dessen wirtschaftliche Situation den „Schlüssel der politischen Stimmung“ darstelle.139 Brüning entwickle „Projekte mit großer Spannbreite und langem Atem“, mit denen er die Entwicklung der Landwirtschaft fördern und die Dominanz der Industrie zügeln wolle, weil er „die Gefahr einer einseitigen [wirtschaftlichen] Entfaltung“ erkannt habe. Bourguès machte aus seiner Bewunderung für Brüning kein Hehl und beschrieb ihn als einen ungewöhnlichen Charakter in diesem „germanischen“ Land.140 Nie attackierte die rechte französische Presse die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen Brünings mit großer Vehemenz. Stattdessen sprachen die Journalisten zumeist von einem überlegten und notwendigen Vorgehen in einem Land, das eine derartige Politik nicht gewöhnt sei. Konservative wirtschaftspolitische Überzeugungen, welche die politische Rechte in Frankreich mit Brüning teilte, kamen hier dem Reichskanzler zugute. Die gleichzeitige mangelnde Aufmerksamkeit für die soziale Notlage in Deutschland verhinderte wiederum eine genauere Analyse der Brüningschen Politik. Bei den extremen Rechten kam das Thema soziale Krise überhaupt nicht vor. Die Leser der Action Française beispielsweise wurden über die Not der Bevölkerung in Deutschland nicht einmal ansatzweise informiert.141 Die Vorstellung, dass die deutsche Regierung Lügen über die soziale Lage der deutschen Bevölkerung verbreite, konnte sich um so hartnäckiger in der Vorstellungswelt der französischen nationalistischen Rechten festsetzen, als die ersten Anzeichen einer Krise in Frankreich von der französischen Bevölkerung noch nicht bemerkt wurden. Wenn überhaupt etwas an Brüning relativ positiv beurteilt wurde, dann war es seine Sparpolitik, weil sie es aus Sicht der extremen Rechten den Deutschen erlauben würde, ihren Reparationsverpflichtungen gegenüber Frankreich nachzukommen. Die Journalisten der Action Française behielten immer die Auswirkungen der Brüningschen Politik auf die Zukunft Frankreichs im Hinterkopf: „Die Regierung Brüning hatte das Verdienst, dem Land eine notwendige Anstrengung aufzuerlegen. Es ist einer dieser Widersprüche dieser Zeit, dass die Halb-Diktatur, die sie ausübt, die Chancen auf friedliche Kompromisse erhöht.“142 Gleichzeitig wurde die Ehrlichkeit der Brüningschen Politik immer wieder in Frage gestellt: „Das große Reformprojekt von Kanzler Brüning war derart weise, dass es Misstrauen weckte. Die deutsche Finanzlage zu sanieren, indem man jedem ein Opfer abverlangte und letztendlich den Vorschlägen und Vorgaben von Herrn Parker Gilbert,

139 Ebd. 140 Ebd. 141 Vgl. hierzu Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 74. 142 Übersetzung des Zitats „Le gouvernement Brüning a eu […] le mérite d’imposer au pays un effort nécessaire. C’est un des paradoxes de ce temps que la demi–dictature qu’il exerce ménage les chances de compromis pacifiques“. L’Action Française vom 13/06/1931. Des vœux pour le chancelier Brüning, S. 1.

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dem letzten Befürworter von Reparationszahlungen, folgte, das war besser als alle Reden Stresemanns. Da war sie, die wahre Erfüllungspolitik, die nicht nur daraus bestand, Zahlungen zu versprechen, sondern Deutschland auch in die Lage versetzte, diesen Zahlungen nachzukommen. Aber irgendetwas sagte uns, dass dies zu schön war, um wahr zu sein.“143 Noch eindrücklicher wird das Misstrauen, das die Journalisten der Action Française Deutschland entgegenbrachten, durch den Vergleich der Osthilfe mit dem „Drang nach Osten, der immer zu den Zielen des kaiserlichen Deutschlands gehörte“.144 Die Journalisten des Echo de Paris und der Action Française waren sich in der gesamten Regierungszeit Brünings in ihren gemischten Gefühlen gegenüber der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik einig und teilten auch die Überzeugung, dass „der germanische Organismus nicht so krank ist, wie es scheint“.145 2.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932) a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Ab Herbst 1931 wurden im öffentlichen Diskurs der Linken die Frage nach der wirtschaftlichen Situation Deutschlands und nach dessen internationalen Zahlungsverpflichtungen fast immer miteinander verknüpft.146 Der politische Intellektuelle und Journalist bei der Lumière, George Boris,147 stellte im November 1931 die Frage, wie man „gleichzeitig“ die Finanzkrise in Deutschland meistern, eine kurzfristige Regelung der ausländischen Kredite finden und das Problem der Re-

143 Übersetzung des Zitats „Le grand projet de réforme du chancelier Brüning était si sage qu’il inspirait de la méfiance. Refaire les finances allemandes en imposant des sacrifices à tout le monde, suivre, en somme, les conseils et les prescriptions de M. Parker Gilbert, le dernier agent général des réparations, c’était mieux que tous les discours de Stresemann. La politique d’exécution, la vraie, celle qui consiste non pas à promettre de payer mais à se mettre en état de payer, elle était là. Quelque chose nous disait que c’était trop beau“.L’Action Francaise vom 08/10/1930. Le chancelier et le plan Young, S. 1. 144 Übersetzung des Zitats „Drang nach Osten [sic] qui a toujours constitué l’un des objectifs de l’Allemagne impériale“. L’Action Française vom 05/05/1930. Le Boucher, J.: La République allemande et la marche de l’Est, S. 1. 145 L’Echo de Paris vom 19/07/1930. Pertinax: Le Reichstag est dissous par le Président Hindenburg, S. 1. 146 Vorreiter hierfür war schon in der Zeit des ersten Brüning–Kabinetts die Lumière. 147 Georges Boris (1888–1960): Politischer Intellektueller. Sohn eines Eigentümers eines Import–Export–Handelshauses. „Ich bin links geboren“ war sein Standardsatz. Von 1909 bis 1922 war Boris Handelskaufmann und während des Krieges als Händler für die Versorgung der Alliierten zuständig. 1921 begann seine Karriere als politisch links stehender Journalist. Er schrieb für Le Progrès Civique und Le Quotidien und gründete 1927 La Lumière. Darin veröffentlichte er über 800 Artikel. Boris war Mitglied der SFIO und begann später eine lange Karriere in der Politik.

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parationen und interalliierten Kredite lösen könnte.148 Er schlug ein aus drei Punkten bestehendes Programm vor: „Konsolidierung des Kredits in Deutschland und der Reichsbank“, „Tilgung der eingefrorenen Kredite“149 und Zahlung der Reparationen und Kriegsschulden „in Naturalien oder vielmehr in deutscher Arbeit“150, von der er sich eine Reduzierung der Arbeitslosenzahlen in Deutschland erhoffte. In Leserbriefen wurde Boris für diese Idee gefeiert. So spricht ein anonymer Leser von einer „zugleich einfachen, einfallsreichen und zufriedenstellenden Lösung“.151 Einige Monate später, nachdem Boris festgestellt hatte, dass die Wirtschafts- und Finanzlage in Deutschland noch „unhaltbarer“152 geworden war, urteilte er mit größerem Verständnis über die Deflationspolitik Brünings153 und schlug einen Bogen bis zur Inflation im Jahr 1922, die das deutsche Volk so erschreckt habe, dass es keine andere Alternative mehr sehe als „die Erhaltung der Umtauschbarkeit der Mark in Gold“, einer Alternative, die mit den „grausamsten Leiden“ bezahlt worden sei.154 Boris’ Vorschlag, wie man die Probleme Deutschlands lösen könne, lautete nunmehr „Schaffung einer innerdeutschen, nicht umtauschbaren Währung“.155 Seine Vorschläge verraten nur die Hilflosigkeit der damaligen ausländischen Beobachter angesichts der Wirtschaftskrise in Deutschland vor Augen.

148 La Lumière vom 21/11/1931. Boris, Georges: Sur quelles bases peut–on résoudre simultanément: La crise financière intérieure en Allemagne. La question des crédits extérieurs à court terme. La question des réparations et des dettes interalliées, S. 3–4. 149 La Lumière vom 05/12/1931. Boris, Georges: Pour résoudre simultanément …, S. 12. 150 La Lumière vom 21/11/1931. Boris, Georges: Sur quelles bases peut–on résoudre simultanément… 151 La Lumière vom 05/12/1931. Boris, Georges: Pour résoudre simultanément … 152 La Lumière vom 02/04/1932. Boris, Georges: Où en est la crise mondiale, S. 6. 153 „ Alors que les autres pays se bornaient à subir une déflation désordonnée, au gré des circonstances, l’Allemagne la pratiquait méthodiquement, la poursuivit jusqu’à ses extrêmes conséquences logiques. Elle était la seule à accompagner la baisse des salaires et des traitements d’une réduction obligatoire des loyers, du taux de l’intérêt et des prix. “ La Lumière vom 02/04/1932. Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd.

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Marcel Déat156 sah die ersten Symptome der Kreditkrise in Deutschland in den „premiers retraits de capitaux “ und in „la fuite des avoirs allemands “, die durch die Artikel in der ausländischen Presse über die Wahlen im September 1930, die Aufmärsche der Nationalsozialisten, den Stapellauf des neuen Panzerkreuzers und den jähen Versuch eines „Anschlusses“ [deutsch-österreichische Zollunion] ausgelöst worden seien.157 Déat analysiert anschließend Schritt für Schritt die Entwicklung der deutschen Wirtschafts- und Finanzkrise und die politischen Maßnahmen Brünings vom Beginn der großen Banken- und Kreditkrise im Juli 1931 an über die Notverordnung vom 6. Oktober, den Protektionismus zugunsten der Landwirtschaft, die Gehalts- und Lohnoffensive bis zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Und obwohl er bei weitem nicht mit allem einverstanden ist, erkennt er, nicht ohne indirekte Kritik an seinem eigenen Land: „Das Reich hat eine große Anstrengung unternommen, um sich selbst zu retten, wie es die nationalistische, französische Presse heuchlerisch nahe legte.“158 Obwohl es den französischen Linken nicht an wirtschaftspolitischen Ideen und Konzepten mangelte, kapitulierten sie, sobald sich die ersten Anzeichen einer Krise in Frankreich bemerkbar machten,159 vor den komplexen wirtschaftlichen und finanziellen Problemen Deutschlands – ihre Gegenvorschläge zu Brünings Politik wurden immer seltener. Selbst ein Wirtschaftsexperte wie Louis Vallon,160 der den Kapitalismus in den letzten Zügen liegen sah und Paul Valérys Ansicht teilte, dass nun „die Zeit des Weltendes“ beginne, sah einzig und allein in der unmittelbaren Errichtung 156 Marcel Déat (1894–1955): Sohn kleines Beamten. An der Grande Ecole Khâgne in Paris begann er sich für den Sozialismus von Jean Jaurès zu interessieren und trat der SFIO bei. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg und bestand 1920 die Agrégation de Philosophie. Er fühlte sich zum rechten Parteiflügel (besonders von Renaudel) angezogen. 1922 wurde er Philosophielehrer am Lycée in Reims und begann in der Marne seine große politische Karriere. 1925 wurde er in Reims von der Liste des Bloc des gauches zum Gemeinderat gewählt und wurde in einer Nachwahl Abgeordneter der Marne–Region. Ab 1925 wurde er stellvertretender Bibliothekar an der Ecole normale supérieur, veröffentlichte Artikel in der Vie Socialiste und erschien als einer der Hoffnungsträger der SFIO. Er veröffentlichte außerdem sein Buch „Perspectives socialistes“, in dem er die Reformideen des „Néo–socialisme“ zusammenfasste (einem Gegenmodell zur Tradition guédiste“). Déat vertrat in den Folgejahren immer nachdrücklicher die in seinem Buch geäußerten Ideen. Als Kandidat bei den Parlamentswahlen im Jahr 1932 schlug er den Kommunisten Duclos, der 1928 an Blum vorbeigezogen war und versuchte, gestärkt von seinem Erfolg, seine Partei von seinen Reformideen (Vereinigung der Arbeiterklasse mit dem Mittelstand gegen den Kapitalismus etc.) zu überzeugen. 157 La Vie Socialiste vom 31/10/1931. Déat, Marcel: La crise allemande. II. La crise économique et l’évolution intérieure, S. 6–12. 158 Übersetzung des Zitats „le Reich a fait un effort énorme ’pour se sauver lui–même’’, comme le lui conseillait hypocritement la presse nationaliste française“. Ebd. 159 Vgl. La Vie Socialiste vom 12/12/1931 und vom 19/12/1931. Rives, Paul: La France devant la crise. 160 Louis Vallon: Absolvent der Ecole Polytéchnique. Mitglied der Gruppe X–Crise (1931), einer Vereinigung, die sich dem Gedankenaustausch über die Wirtschaftskrise seit 1929 widmete. Er war ebenfalls Mitglied des Plan du 9 juillet (1934), Symbol eines politischen Engagements, das schon Anfang der 1930er Jahre die Zeit des Non–Konformismus vorwegnahm.

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eines friedlichen Sozialismus einen Ausweg aus der Krise.161 Vu veröffentlichte im Dezember 1931 eine Fotoserie; sie zeigte auch die langen Schlangen der deutschen Arbeitslosen vor den Arbeitsämtern. Die vom Hunger ausgezehrten und vom Leben auf der Straße gezeichneten Gestalten auf diesen Fotos wurden als eine „Masse aus geduldigen und bis zur Fatalität resignierten Wesen“ beschrieben.162 Die Journalisten der kommunistischen Zeitung Regards sahen, ohne sich im mindesten um eine detaillierte Analyse zu bemühen, in der deutschen Krise, wie überhaupt in den wirtschaftlichen und finanziellen Problemen Europas, nichts anderes als den kapitalistischen Feind, der nun auch „seinen Wirbelsturm auf Frankreich ausgedehnt“ habe.163 Die französischen Kommunisten fürchteten sich vor allem davor, dass die Politik Brünings Einfluss auf ihr eigenes Land haben könnte: „Wenn Brüning die Gehälter in Deutschland kürzt, wirkt sich das sofort auf Frankreich aus. Wenn er beispielsweise eine Verordnung erlässt, bedeutet das, dass jede einzelne Verordnung sofort auf die Löhne in Frankreich Auswirkungen hat“164, denn Brünings Maßnahmen „werden der französischen Bourgeoisie als Vorwand für Gehaltskürzungen in Frankreich dienen“.165 Zur grundsätzlichen kommunistischen Kapitalismuskritik gesellte sich also die immer wieder aufgegriffene Warnung Maurice Thorez’166 vom 17. Januar 1932, als er die Befürchtung äußerte, die französischen Politiker könnten sich an der Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings ein Beispiel nehmen und mit dessen „wirtschaftskapitalistischen“167 Maßnahmen die Krise in Frankreich verschärfen. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Zum Zeitpunkt des zweiten Kabinetts Brüning war der zunächst eher nachsichtige Ton der Journalisten des Petit Parisien zur deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik fast vollständig aus ihren Artikeln verschwunden. Zwei Eindrücke dominierten jetzt in den Berichten über Deutschland: Die Notlage der deutschen Bevölkerung werde simuliert und die Deutschen seien ein verschwendungssüchtiges Volk.

161 La Vie Socialiste vom 07/11/1931. Vallon, Louis: L’action socialiste devant la crise, S. 5–7. 162 Vu vom Dezember 1931. Vallentin, Antonia: Y–a–t–il de la misère à Berlin, S. 2709–2711. [Fotoserie] 163 Vgl. Regards vom Januar 1932. Surproduction et chômage. Du travail ou du pain, S. 4. 164 Übersetzung des Zitats „Lorsque Brüning baisse les salaires en Allemagne [...] la répercussion en France est immédiate. Lorsque par exemple, Brüning fait paraître ses décrets, cela signifie que chaque décret va agir immédiatement sur les salaires en France“. IHP, Archives du Komintern (05/01/1932), S. 10. 165 Übersetzung des Zitats „serviront de prétexte à la bourgeoisie française pour la diminution des salaires en France“. IHP, Archives du Komintern (17/01/1932), S. 16. 166 Zu Maurice Thorez, vgl. Gotovich: Komintern, S. 529–538. 167 La Correspondance Internationale vom 28/10/1931. Keller, W.: Le conseil économique du gouvernement Brüning, S. 1089.

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So verglich Louis Roubaud den „offensichtlichen Luxus“ in Deutschland mit der Armut in Frankreich: „Nichts ähnelt dem Elend in Paris weniger als das Elend in Berlin. In Deutschland gibt es weder Lumpen noch Elendsquartiere.“168 „Ich würde sicherlich die Wut der Deutschen heraufbeschwören, wenn ich ihnen zu erklären versuchte, dass Deutschland selbst für seine Not verantwortlich ist“, heißt es bei ihm weiter und: „Im deutschen Haus geht Luxus vor dem Notwendigen.“169 Die Journée Industrielle lässt ebenfalls „Zurückhaltung“ und „Skepsis“ hinsichtlich Deutschland walten, bezeichnet die deutsche Wirtschafts- und Finanzsituation als „kränklich“ und vertraut Heinrich Brüning immer weniger.170 Diese Entwicklung zeichnete sich in allen Zeitungen von der rechten Mitte bis zur extremen Rechten – mit Ausnahme von La Croix – ab. Die Action Française schrieb am 8. Dezember 1931 sogar: „Einer Nation zu helfen, die uns töten möchte, wäre der allerschlimmste Verrat.“171 Auch dieser wenngleich radikale Standpunkt zeigt, in welche Richtung die Ansichten der französischen Rechten umschlugen. 3. Brüning in der Vorstellungswelt der französischen Parlamentarier Ein sozial zweigeteiltes Deutschland war auch im französischen Parlament das dominante Bild, das Debatten darüber auslöste, ob die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Deutschlands nun real sei oder nur ein Vorwand für Brüning, um seine außenpolitischen Ziele zu erreichen. Der Wunsch, Deutschland zu helfen, um die dortige Not zu lindern, oder die Forderung, Deutschlands potentieller Wirtschaftskraft Fesseln anzulegen, waren die beiden politischen Ansagen, welche die Abgeordneten in der Chambre des Députés, im Senat und in der Commission des Affaires Etrangères in zwei Lager spalteten. 3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 – 7. Oktober 1931) a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Den Vertretern der linken parlamentarischen Fraktionen und Parteien war das soziale Elend, das in Deutschland herrschte, bewusst. Aristide Briand (Republicain socialiste) gestand sogar während einer nicht-öffentlichen Sitzung der Commission des Affaires Etrangères ein: „Frankreich befindet sich zum jetzigen Zeit-

168 Le Petit Parisien vom 25/03/1932. Roubaud, Louis: Visions d’Allemagne, S. 1 + 4. 169 Vgl. ebd. 170 Vgl. La Journée Industrielle vom 01/10/1931, vom 17/11/1931, vom 15/03/1932 und vom 28/04/1932. 171 Vgl. L’Action Française vom 08/12/1931. Daudet, Léon: De Stresemann à Hitler, S. 1.

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punkt in der weltweit besten Lage.“172 Dieser Wohlstand verursache im Ausland „schlechte Laune“ und führe zu „Irritationen“, was wiederum Frankreich verpflichte, nicht so zu tun, als sei man selbst notleidend.173 Im November 1930 zeichnete Briand ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Lage Deutschlands: „Ein Land, gebeutelt durch eine fürchterliche Wirtschaftskrise, ein Land, in dem 3 500 000 Arbeitslose in Armut leben, ohne Aussicht auf Besserung, zumindest was die nächste Zukunft betrifft.“174 Hier bestätigt sich der Eindruck von Franco Ilić, der in seinem Buch gezeigt hat, dass Aristide Briand schon in den 1920er Jahren vorgefertigte Urteile über Deutschland ablehnte.175 Sehr früh schon zeigte sich der Franzose bereit, ausgewogen über Deutschland zu sprechen und politische Veränderungen in der Weimarer Republik auch wahrzunehmen. Ohne Zweifel lag der Grundstein für seine Bereitschaft zum ausgewogenen Urteil und für seine Politik der grenzüberschreitenden Kooperation in seinem doppelten Deutschlandbild, das er zunächst instrumentalisierte, an das er aber seit 1921 ernsthaft zu glauben begann.176 Am 24. Juni 1931 ergriff François de Tessan (Républicain radical et radicalsocialiste) in der Commission des Affaires Etrangères das Wort, um über seine kurz zuvor unternommene Deutschlandreise zu berichten. Er bestätigte, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie sehr sich die soziale Lage in Deutschland konstant verschlechtere, und berichtete, in allen sozialen Schichten großer Angst begegnet zu sein.177 Was den Kampf gegen die Krise betreffe, sei der Reichskanzler für ihn die Stimme der Deutschen, die guten Willens seien.178 In der linken Mitte gab es aber auch deutlich weniger Brüning zugetane Stimmen, was hauptsächlich auf die Ankündigung einer deutsch-österreichischen Zollunion zurückzuführen war. Nach Ansicht Alfred Margaines (Républicain radical et radical-socialiste) beispielsweise, waren die miserablen sozialen Bedingungen in Deutschland nur Täuschungen, hinter denen sich ein industriell hoch entwickeltes Land verstecke, das nur von seinen Reparationsverpflichtungen loskommen wolle: Deutschland „gibt sich als armes Land und will und muss diesen Eindruck weiterhin aufrecht erhalten. Es gibt seine Ersparnisse nicht preis, sondern investiert sie über die Banken in seine Industrie. Offiziell operiert das Land nur mit aufgenommenen Krediten. Und es wird weiterhin so vorgehen, bis es den Reparationszahlungen beige-

172 Übersetzung des Zitats „la France se trouve avoir à l’heure actuelle dans le monde la situation la meilleure“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Debatte vom 10/07/1930, S. 46. 173 Vgl. ebd. 174 Debatte in der Chambre des Députés am 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 104. 175 Die folgende Passage stützt sich auf Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 78–83. 176 Vgl. ebd., S. 181–182. Dieser Behauptung Ilićs soll auch für die frühen 1930er Jahre im dritten Teil dieser Studie nachgespürt werden. 177 AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 24/06/1931, S. 8. 178 Ebd., S. 9.

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kommen ist“.179 Diese Haltung, die zunächst nur eine Minderheitenfraktion der radikalsozialistischen Abgeordneten teilte, die sich von der deutschen Außenpolitik immer enttäuschter zeigte, verstärkte sich im Lauf der Regierungszeit Brünings immer mehr. Alfred de Margaine ist ein gutes Beispiel dafür. Am 26. Juni 1931 stellte er wieder in der Chambre des Députés die verzweifelte Wirtschaftsund Finanzlage Deutschlands in Frage. So behauptete er, die ungeheure Zahl der deutschen Arbeitslosen sei verzerrt, weil man nicht beachtet habe, dass sich unter ihnen etwa anderthalb Millionen Saisonarbeiter befänden; des weiteren seien die „wirtschaftlichen Unwetter“ in Deutschland vorübergehender Natur und die wirtschaftliche Lage Deutschlands sei im Grunde „exzellent“.180 Zudem habe Heinrich Brüning die Macht, diese Unwetter zu vertreiben, sobald er nur wolle: „Was dieses Land […] betrifft, so merken Sie sich gut, dass es im Grunde genommen nichts gibt, wovor man sich fürchten muss. Sein Fundament ist solide: Es ist Fels. Was verschwimmt, ist nur sein Erscheinungsbild, und das verschwindet, sobald Deutschland nur will.“181 Der Beifall, den Margaine anschließend für seine Rede aus den Reihen der Linken, der politischen Mitte und der Rechten erhielt, verdeutlicht, wie tief verankert und breit gestreut dieses Deutschlandbild in der Vorstellungswelt der französischen Parlamentarier war. Der radikale Abgeordnete Charles Dumont warf anlässlich einer Debatte im Senat am 5. April 1930 in seiner Eigenschaft als Referent der Commission des finances den Deutschen vor, zum Zeitpunkt des Dawes-Plans Kredite aufgenommen zu haben, die Deutschlands tatsächlichen Bedarf überstiegen, nur um den Wohlstand im Land systematisch auszubauen.182 Genauso wie die Beobachter Deutschlands aus dem kulturellen, universitären und journalistischen Umfeld bezichtigte Dumont das deutsche Volk „einer frenetischen Begeisterung für Ausgaben und Wohlleben“,183 die in einem hemmungslosen Bauboom von Arbeitersiedlungen, Theatern, Stadien und Autobahnen rund um die deutschen Städte ihren Ausdruck finde. Vor dem Senat verwendete er zwar nicht das Wort „Verschwendung“, sprach aber von „Prunkanleihen“ und von „Prahlerei“ der Deutschen.184 Diese beiden gegensätzlichen Positionen unter den radikalen Abgeordneten verdeutlichen die tiefe parteiinterne Spaltung in einen linken und einen rechten Flügel, die Parteichef Edouard Herriot zusammenhalten musste. Nach der Analyse

179 Übersetzung des Zitats „continue, elle veut continuer, elle a besoin de continuer l’attitude de la pauvreté. Elle ne laisse pas apparaître ses économies, elle les place toutes dans son industrie, par ses banques. Ouvertement, elle n’opère qu’avec des fonds d’emprunt. Et elle continuera d’agir ainsi, jusqu’à ce qu’elle soit venue à bout du payement des réparations“. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 21. 180 Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 685. 181 Übersetzung des Zitats „Pour ce pays […] mettez–vous bien dans l’esprit qu’au fond il n’y a rien à craindre. Sa fondation est solide: c’est du rocher. Ce qui est flottant, ce sont des apparences, et elles disparaîtront quand elle le voudra“. Ebd. 182 Debatte im Sénat vom 05/04/1930. Annales, Bd. 116, S. 943. 183 Ebd. 184 Vgl. ebd.

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von Frano Ilić beruhte die Wahrnehmung Deutschlands bei den Anhängern des Parti radical noch im Jahr 1930 auf einem doppelten Deutschlandbild, was zwar zu dem Bemühen führte, eine echte Zusammenarbeit mit den Deutschen zu ermöglichen, aber auch eine tiefe Skepsis gegenüber der Politik der deutschen Regierung schürte.185 Im Rhythmus der politischen Veränderungen in Deutschland verlagerten die radikalen Abgeordneten ihren politischen Schwerpunkt einmal auf einen nachsichtigen, dann wieder auf einen härteren Umgang mit der deutschen Regierung. Dank der Politik Stresemanns hatte eine Mehrheit des Parti radical bis zur Ernennung Brünings zum Reichskanzler noch an das „gute Deutschland“ geglaubt.186 Diese eher wohlwollende Sicht auf Deutschland ging im Laufe der Jahre 1930 bis 1932 zugunsten einer eher negativ geprägten Meinungsvielfalt im Inneren der Partei verloren. Auf Seiten der Sozialisten wurden häufig Vergleich zwischen der Wirtschaftsund Finanzsituation. Deutschlands Anfang der 1930er Jahre und der französischen Krise des Finanzwesens von 1924 bis 1926 gezogen. Léon Blum beispielsweise berief sich regelmäßig auf die täuschende Ähnlichkeit zwischen beiden Krisen. So wurden beide von ihm als äußerst bedenkliche Krisen eingestuft, wobei er die hohe Arbeitslosenzahl unter Brüning unterstrich, die es seiner Meinung nach noch schwieriger mache, die deutsche Krise zu meistern.187 Dieser Vergleich löste viel Mitgefühl für Deutschland aus, ganz im Gegensatz zu den Sichtweisen einer Abgeordnetenmehrheit von der politischen Mitte bis zur extremen Rechten.188 Hier darf nicht vergessen werden, dass die Anhänger der SFIO als Erste nach dem Weltkrieg eine nuancierte Sicht auf Deutschland einforderten und sich selbst dabei auf das Bild des zweifachen Deutschlands stützten, dessen gute Seite bis 1930

185 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 208–209. Ilić verwendet nicht den Begriff „Bild“, sondern spricht von der Theorie des zweifachen Deutschlands. Aus der Sicht der Autorin erscheint der Begriff „Theorie“ weniger angebracht als das „Bild“, weil es sich nicht etwa um eine intellektuelle, wissenschaftlich begründete und methodische Konstruktion handelte, sondern um eine eher intuitive, gefühlsgeleitete Sicht auf Deutschland, die von der aus der Literatur überlieferten Sichtweise etc. gespeist wurde und dazu führte, dass die Franzosen entweder von „les deux Allemagnes“ oder von einem einzigen homogenen und gefährlichen Deutschland (Stichtwot „boches“) sprachen. 186 Ebd., S. 212. 187 Ebd., S. 712. 188 Franklin–Bouillon beispielsweise zog den selben Vergleich, kam aber zu dem Schluss, dass der wahre Unterschied darin bestehe, dass Frankreich nicht wie Deutschland vom Ausland Hilfe erwartet und seine Situation eigenständig gelöst habe: „Comment pourrais–je ne pas dire à M. Brüning […] qu’en 1926, nous nous sommes trouvés dans une situation qui ressemblerait singulièrement à la situation actuelle de l’Allemagne et que nous n’avons pas, nous, fait appel au secours de l’étranger (Lebhafter Applaus von der politischen Mitte, von der Rechten und von verschiedenen Seiten), que nous nous sommes imposés de rudes sacrifices, que nous avons fait subir à ce pays des mesures draconiennes. (Applaus von der politischen Mitte und von den Rechten).“ Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 729–730.

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ihre politischen Argumente dominierte.189 Im Gegensatz zum rechten Flügel der SFIO (vertreten von Marcel Déat und Pierre Renaudel), der sich gegenüber Deutschland im Allgemeinen und gegenüber Brüning im Besonderen zurückhaltend verhielt, verteidigte der linke Flügel der SFIO unter Léon Blum bis über den Aufstieg Hitlers hinaus das Bild eines guten Deutschlands, das stärker sei als das andere düstere und gefährliche. Die Beschreibung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands von Léon Blum verdeutlicht die Spaltung zwischen beiden Parteiflügeln, die schon aus den damaligen Zeitungsartikeln herauszulesen war. Der Kommunist Jacques Doriot schließlich machte in erster Linie die „imperialistische“ Politik Frankreichs für die „erschreckende Not der Massen in den besiegten Länden“190 – darunter Deutschland – verantwortlich, bevor auch er die Regierung Brüning unter Beschuss nahm. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik des Reichskanzlers sei angesichts der Krise absolut machtlos und das Haushaltsdefizit des Reiches könne auch nicht mehr ausgeglichen werden. Getreu ihrer ideologischen Überzeugungen unterschieden die französischen Kommunisten zwischen einem Deutschland der bürgerlichen und industriellen Klassen (zu denen sie Brüning zählten) und einem der Arbeitermassen, das von ersterem regelrecht ausgeblutet werde. Angefangen von Hermann Müller bis Brüning hätten die kapitalistischen deutschen Regierungen die Arbeiter benachteiligt, indem sie soziale Gesetzgebungen abbauten und bewusst das Existenzniveau der Arbeiter senkten.191 Marcel Cachin, ebenfalls Kommunist, folgte bei seiner Rede vor der Chambre des Députés am 8. Mai 1931 über das deutsch-österreichische Vorhaben einer Zollunion selbstverständlich dieser Argumentation, als er Deutschland als ein kapitalistisches Land beschrieb, das von der SPD (dem Feind Nummer Eins der Kommunisten) und der „krisengetriebenen“ Regierung Brüning192 verkörpert würde.193 Das Spiegel-Modell, wonach der Andere als ein Abbild von einem selbst erscheint, kann man passgenau auf die französischen Kommunisten Anfang der 1930er Jahre anwenden. Für sie war die deutsche „bürgerliche und kapitalistische Reaktion“ ein Synonym für jenes Bürgertum, das in Frankreich operierte, genauso wie der PCF und die KPD in ihren Augen eine brüderliche Einheit inmitten des weltweiten Proletariats bildeten.194 Frano Ilić meint hier erneut die typische Unterscheidung zwischen zwei Deutschlands zu erkennen, einem proletarischen und einem kapitalistischen oder imperialistischen.195 Ohne Zweifel ist dieser Eindruck gerechtfertigt, obgleich man nicht übersehen darf, dass diese Unterscheidung ihren Ursprung in erster Linie im kommunistischen Gedankengut hat, wonach in der 189 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 186. 190 Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 88. 191 Vgl. ebd., S. 89–90. In allen seinen Reden vor dem Parlament behielt er diese Sichtweise bei. Vgl. zum Beispiel die Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 723ff. 192 Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 33. 193 Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 33. 194 Vgl. hierzu Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 257. 195 Vgl. ebd., S. 259.

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ganzen Welt zwischen einer herrschenden und einer Arbeiterklasse unterschieden wird. Nicht zuletzt muss man, was die parlamentarischen Stellungnahmen der französischen Kommunisten betrifft, daran erinnern, dass die Mitglieder der linken Parteien (Kommunisten und SFIO) im Gegensatz zu den übrigen politischen Parteien gezwungen waren, den Abstimmungs- bzw. Fraktionszwang und die Treue zur Grundideologie der Partei zu respektieren.196 Das erklärt die Einförmigkeit der linken Meinungsäußerungen vor dem Parlament, die häufig im Widerspruch zu den viel freieren Artikeln in der linken Presse standen. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Bei den Abgeordneten der französischen Rechten herrschte die gleiche Sichtweise auf Deutschland vor wie bei den Radicaux, also das Bild der Deutschen, die über ihre Verhältnisse leben, ohne jedes Maß verschwenden oder vielmehr mit dem Ziel, sich von den Reparationszahlungen zu befreien, um stattdessen ihrer Kriegsbegeisterung zu frönen. So jedenfalls urteilte beispielweise der Parlamentarier Henry Franklin-Bouillon (Gauche unioniste et sociale): „Wenn Deutschland nicht zahlt, liegt das nicht daran, dass es die Mittel nicht hat. Es liegt daran, dass es seit zehn Jahren seine Geldmittel durch ausufernde oder nicht notwendige Ausgaben verschwendet oder für militärische Zwecke einsetzt“.197 Ohne den Namen Heinrich Brüning zu erwähnen, richtete sich Franklin-Bouillon direkt gegen dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik und sprach von einer unehrlichen Politik.198 Einige Monate später modifizierte Franklin-Bouillon seine Argumentation, ohne die offensichtlichen Wiedersprüche in seinen Reden wahrzunehmen. Da nun die Fakten in Deutschland gegen den Vorwurf der „Verschwendung“ sprachen, vertrat der Abgeordnete nun die Meinung, es handle sich um einen „energischen Versuch, finanziell wieder auf die Beine zu kommen“, den Brüning aber nur unternommen habe, um der Kritik aus dem Ausland, vor allem von Seiten der „amerikanischen Gläubiger“ zu begegnen.199 Das Urteil Franklin-Bouillons über Deutschland war deutlich von seinem Bild eines „feindlichen Deutschlands“ bestimmt. Schon damals, als er noch Mitglied des Parti radical war, verfolgte ihn die Frage nach der französischen Sicherheit so sehr, dass er als einziger radikaler Abgeordneter den Versailler Vertrag nicht ratifizierte. Infolge der internen Machtkämpfe im Parti

196 Vgl. hierzu Kapitel 1.3.1 dieser Arbeit. 197 Übersetzung des Zitats „Si l’Allemagne ne paye pas, ce n’est pas parce qu’elle n’en aura pas les moyens. C’est parce que, depuis dix ans, elle gaspille ses ressources normales en dépenses somptuaires ou sans nécessité absolue, ou pour des buts militaires“. Debatte in der Chambre des Députés vom 06/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 31. 198 Vgl. ebd., S. 27. 199 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1411.

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Radical und seinem Unverständnis für dessen außenpolitische Konzeptionen, verließ er 1927 nicht nur die Partei, sondern gab auch den Vorsitz der Commission des Affaires Etrangères auf, um die Gauche unioniste et sociale zu gründen. Als überzeugter Patriot und beeinflusst durch die anti-deutsche Haltung seines Vaters, kultivierte auch er seine Deutschenfeindlichkeit und wurde nicht müde, von Deutschland als „ewigem Preußen“ zu sprechen.200 Die Vorstellung, dass die deutsche Regierung – ohne Interesse für die sozialen Belange im Land – ihre finanziellen Reserven nutze, um heimlich aufzurüsten, war im politischen Umfeld der rechten Mitte bis zur extremen Rechten übrigens weit verbreitet. Georges Scapini (Action democratique et sociale) war überzeugt, dass die übertriebene Industrialisierung Deutschlands, in Verbindung mit der Wirtschaftskrise, die Ursache für die beunruhigend hohe Zahl von 5 Millionen Arbeitslosen und für die „10 oder 15 Millionen Individuen ohne Brot“ sei.201 Zudem sei der deutschen Regierung nicht wirklich daran gelegen, diese Wirtschaftskrise zu beenden. Als Beweis für diese Behauptung führte Scapini finanzielle Hilfen an, die angeblich nicht an die Arbeitslosen verteilt, sondern abgezweigt würden, um „mit künstlichen Mitteln den Herstellungspreis von industriell hergestellten Produkten zu senken“.202 Die deutsche Finanzlage sei auf diese Weise „erschreckend schwierig“ geworden und stelle eine soziale wie auch eine politische Gefahr dar.203 Trotzdem kam es Scapini nicht in den Sinn, Deutschland Hilfe anzubieten, weil aus seiner Sicht eine zu enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarland dazu beitragen würde, dass es wieder erstarken und sich erneut zu einer Bedrohung für Frankreich entwickeln könnte.204 Im Rahmen seines Vortrags über die wirtschaftlichen Probleme Mitteleuropas vor der Commission des Affaires Etrangères im April 1931 begnügte sich Edouard Soulier damit, das Thema deutsche Wirtschafts- und Finanzprobleme nur zu streifen, um dann umso nachdrücklicher seine französischen Kollegen zu warnen, man müsse noch immer und trotz der Krise „Deutschland in seiner ganzen machtvollen Realität wahrnehmen“.205 Augenscheinlich durch die Ankündigung einer deutsch-österreichischen Zollunion kurz zuvor bestätigt, konnte der rechts stehende Abgeordnete das ganze politische und wirtschaftliche Gefahrenpotential Deutschlands in den düstersten Farben ausmalen und mit Hilfe einer mit vielen überlieferten Deutschlandbildern ausgeschmückten Prognose untermauern, die seinen Kollegen in der Commission des Affaires Etrangères einen Schauer über

200 Der Abschnitt über Franklin–Bouillon stützt sich auf die Analyse seiner Reden im Parlament von Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 215–219. 201 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 31. 202 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 13/02/1931. Annales, Bd. 166, S. 583. 203 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Vol. 168, S. 31. 204 Vgl. ebd. 205 AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 01/04/1931. Bericht von Edouard Soulier vor der Commission des Affaires Etrangères, S. 7.

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den Rücken jagen sollte: „Deutschland ist auf der Suche; das Land entwickelt Pläne und setzt sie auch um. Danach richtet Deutschland seine Handlungen, unbeirrt von den Zeitumständen, aus. Um einen Plan zu entwerfen, ist der Deutsche genau so einseitig wie ein Engländer in der Ausführung. Er ist auch genau so hartnäckig. In der Ausführung ist der Deutsche aber von viel größerer Findigkeit und auch innovativer in seinem Vorgehen.“206 Um jeden Widerspruch schon im Keim zu ersticken, fügte Soulier an, man solle die Dinge so sehen, wie sie seien.207 Wenige Wochen später setzte er vor der Commission des Affaires Etrangères mit Blick auf Brüning noch einmal nach: „Die führenden Politiker Deutschlands wollten all das, was zurzeit passiert. Sie haben absichtlich so gehandelt, um die Situation zu verschlimmern.“208 Das Beispiel Edouard Souliers zeigt, dass die Bekanntmachung einer geplanten deutsch-österreichischen Zollunion Anlass für die französischen Parlamentarier war, die potentielle Wirtschafts- und Finanzkraft Deutschlands zu diskutieren. Vor allem für die rechten Abgeordneten stand es dabei außer Frage, dass das deutsche Wirtschaftspotential nach wie vor groß, unverändert und durch die vorübergehende Krise nur verschleiert sei. Vor diesem Hintergrund kritisierte auch Etienne de Fougère (Républicain de gauche) die Brüningsche Wirtschaftspolitik scharf. Brüning betreibe eine industrielle Rationalisierung, ohne sich um die dadurch verursachte Not in seinem Land zu kümmern, weil er das Ziel habe, in Zukunft die europäische Wirtschaft zu dominieren: „Mit einer systematischen Anstrengung, die ohne Rücksicht auf soziale Folgen verwirklicht wurde, hat Deutschland seine Industrie neu ausgerichtet und rationalisiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland fast ganz allein die Bedürfnisse ganz Europas befriedigen könnte, wenn es die Industrien der anderen Länder ausreichend schwächt.“209 Von der rechten Mitte bis zur Rechten spiegeln die verschiedenen Stellungnahmen zur wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Lage Deutschlands und zu Brünings Maßnahmen tiefe Skepsis wider. So wurden im rechten politischen Lager nicht nur die ehrlichen Absichten der deutschen Regierung in Frage gestellt, sondern auch das Ausmaß der Wirtschafts- und Finanzkrise angezweifelt. Das Bild eines

206 Übersetzung des Zitats „L’Allemagne est chercheuse; elle élabore des plans, elle les arrête; puis, elle y conforme action sans distraction en temps et hors de temps. Pour tracer un plan l’Allemand est aussi simpliste que l’Anglais pour l’exécuter, il est aussi tenace; mais dans l’exécution, il est d’une ingéniosité beaucoup plus grande, plus renouvelée dans les procédés“. Ebd. 207 Vgl. ebd. 208 Übersetzung des Zitats „[L]es dirigeants de l’Allemagne ont eu la volonté de tout ce qui arrive. Ils ont, de propos délibéré, travaillé à aggraver la situation“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 17/06/1931, S. 9. 209 Übersetzung des Zitats „Grâce à un effort méthodique, poursuivi sans nul souci des conséquences sociales, l’Allemagne a concentré et rationalisé ses industries. [J]’ai la conviction qu’elle serait en mesure de suffire, presque seule, quand elle aurait suffisamment anémié les industries des autres pays, à tous les besoins de l’Europe“. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 19.

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zweifachen Deutschlands, aus dem die Linken ihre zumeist freundlichere Sicht auf das Nachbarland speisten, wurde in der rechten Mitte massiv in Frage gestellt und spielte – wie im Folgenden gezeigt werden wird – im nationalistischen Flügel der konservativen Rechten überhaupt keine Rolle.210 Für den nationalistischen Flügel, dem Louis Marin vorstand, war die Notlage weiter Teile der deutschen Bevölkerung irrelevant. Die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik von 1930 wurde von dem Abgeordneten der Fédération républicaine ausnahmslos als „imperialistisch“ bezeichnet. So beherrsche Dumping die Tagesordnung und der französische Markt werde von deutschen Produkten überschwemmt und sei von der imperialistischen Ausweitung des deutschen Handelsund Transportwesens bedroht.211 Von dieser Einschätzung bis zur militärischen Bedrohung, die Deutschland laut Marin auch darstellte, war es nur ein kleiner gedanklicher Schritt. In Marins Argumentation ist der Reproduktionszyklus eines typisch nationalen Habitus (Wirtschaft/Militär) zu erkennen, den Marin trotz des wirtschaftlichen- und finanziellen Abschwungs Deutschlands in der Zwischenkriegszeit bedienen konnte. Im Grunde bleibe Deutschland eine starke Wirtschaftsmacht, die Frankreich bedrohen werde, sobald man ihr zur Hilfe komme.212 Als gebürtiger Lothringer, der durch François de Wendel – einen der einflussreichsten Stahlmagnaten und leidenschaftlichsten Nationalisten Frankreichs – geprägt war, ließ Marin in seiner Rede keinen Zweifel. Er repräsentierte die konservative, dem Extremismus nahe stehende Rechte, für die Deutschland grundsätzlich eine uniforme und ewige Bedrohung bedeutete. 3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932) a) Von der linken Mitte bis zur extremen Linken Zu Beginn der zweiten parlamentarischen Sitzungsperiode von 1931 war die wirtschaftliche und soziale Situation Deutschlands noch immer ein Hauptthema in der Assemblée Nationale. Genauso wie in den Monaten des ersten Kabinetts Brüning verwirrten „die entsetzliche Not in den Armen- und Arbeiterschichten und besonders in dem großen Industrieproletariat, das sich in den großen Städten zusammendrängt“, auf der einen Seite und die „insolentes fortunes“213 auf der anderen Seite die französischen Parlamentarier, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen- und finanziellen Lage in ihrem Land zunehmend beunruhigt waren.

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Vgl. hierzu auch Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 233ff. Vgl. die Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 99. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 690–692. Übersetzung des Zitats „la misère effroyable qui règne […] dans les classes pauvres, dans les classes travailleuses et en particulier dans cet énorme prolétariat industriel massé dans les grandes villes“. Jean Mistler (Républicain radicale et radical–socialiste) während der der Debatte in der Chambre des députés vom 17/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 63.

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Das Gefühl, in einem immer schwächer werdenden Land zu leben, während die deutschen Nachbarn zweifelhafte politische Ziele verfolgten und wirtschaftlich potentiell stark blieben, veranlasste einige Mitglieder des Parti radical, eine immer vorsichtigere und zögerlichere Position hinsichtlich Heinrich Brünings zu vertreten – sogar wenn sie diesen als Person schätzten. Der Auftritt Jean Mistlers (Républicain radical et radical-socialiste) ist vor diesem Hintergrund besonders eindrücklich: „Herr Präsident, Sie werden den lobenswerten Anstrengungen von Kanzler Brüning Rechnung tragen; aber wenn Sie ihm heute Zugeständnisse machen, dann sollen diese nicht von der Art sein, dass sie morgen einer nationalsozialistischen Regierung dienen, deren Meinungsführer und Chefs Hitler und Hugenberg wären.“214 Der Gedanke, dass Konzessionen von Seiten der Franzosen die Position Brünings in der Weimarer Republik stabilisieren und stärken könnten, schien ihm nicht zu kommen. Auch sein Kollege Alfred Margaine aus derselben parlamentarischen Fraktion argumentierte in die gleiche Richtung wie Mistler, als er der deutschen Regierung vorwarf, im Hoover-Plan die Möglichkeit gesehen zu haben, „ihre ehemalige industrielle Vormachtstellung“ in Europa wieder herzustellen.215 Aus seiner Sicht hatte sich Heinrich Brüning nie für eine echte und ehrliche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Franzosen interessiert.216 Im Gegensatz zu diesen beiden Abgeordneten verteidigte César Chabrun die deutschen Nachbarn, indem er erklärte, dass sich kein Land freiwillig selbst ruiniere.217 Er warf den französischen Politikern sogar vor, trotz der „schmerzhaften Trilogie“ aus Arbeitslosigkeit, Handels- und Bankenkrise in Deutschland sowie dem Währungszusammenbruch218 die Gelegenheit der deutsch-französischen Begegnungen in Paris und Berlin nicht genutzt zu haben, um einer „kranken und geschwächten Nation“ wieder Hoffnung zu geben.219 Léon Blum pflichtete ihm übrigens in dieser Kritik bei.220 Eine Gesamtschau der Debatten im französischen Parlament während dieser Zeit zeigt, dass die deutschlandkritische Stimme des rechten Flügels der Radikalen zu den Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik des zweiten Kabinetts Brüning immer lauter wurde, während der linke Flügel der SFIO immer nachdrücklicher an die französischen Politiker appellierte, den Reichskanzler zu unterstützen. Diese Frage nach dem wirtschafts- und finanzpolitischen Umgang mit Deutschland trieb in den Jahren 1930 bis 1932 einen Keil zwischen die rechten und linken Flügel der Parteien von Mitte links bis zur sozialistischen Linken. Bei den Kom214 Übersetzung des Zitats „Vous tiendrez compte, monsieur le président du conseil, des efforts méritoires du chancelier Brüning; mais si vous lui faites des concessions aujourd’hui, qu’elles ne soient pas de nature à profiter demain à un gouvernement national–socialiste dont Hitler et Hugenberg seraient les présidents et les animateurs“. Ebd. 215 Debatte in der Chambre des Députés vom 17/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 66. 216 Vgl. ebd. 217 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 213. 218 Ebd. 219 Ebd., S. 214. 220 Ebd., S. 228.

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munisten dagegen blieb die durch die Kapitalismus-Kritik geprägte Wahrnehmung Brünings und der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland konstant. b) Von der rechten Mitte bis zur extremen Rechten Im November 1931 hielt Pierre Laval noch immer das Bild eines Deutschlands aufrecht, das mithilfe von Krediten nachlässig sein Geld ausgebe.221 Nach den Worten des Président du conseil würde sogar Heinrich Brüning zugeben, dass die öffentlichen und privaten Gelder in Deutschland fahrlässig verwaltet worden seien.222 Auf Lavals doch recht zurückhaltenden Vorschlag, nach einem wirtschaftlichen Arrangement mit Deutschland zu suchen, reagierte der Mitte-rechts stehende Abgeordnete Germain-Martin (Gauche radicale) ablehnend. Germain-Martin vertrat die Ansicht, dass die weltanschaulichen Unterschiede zwischen „einem großen Teil Deutschlands“ und Frankreich unüberwindlich seien und dass eine wirtschaftliche Annäherung deswegen geradezu unmöglich sei.223 Germain-Martin bezog diese Erkenntnis aus der globalen öffentlichen Meinung in Frankreich, also aus den Feindbildern des 19. Jahrhunderts, welche die Grundlage seiner Argumentation bildeten, deren Ziel es war, den wirtschaftlichen und politischen Gegensatz zwischen beiden Ländern nachzuweisen, sowie die Gefahr einer deutschen Wirtschaftsmacht, die Brüning und das deutsche Volk, trotz der Arbeitslosigkeit und Not breiter Bevölkerungsgruppen, noch immer für ihn bedeutete. Seine Vorstellung von Deutschland als Wirtschaftsmacht war stark axiomatisch und bildhaft: „Man kann einerseits die alte, romantische Auffassung vom Anfang des 19. Jahrhunderts beobachten, nach der das Wesentliche sich unmittelbar aus der Wirklichkeit und deren Entwicklung ergibt, die durch die Notwendigkeit ihre Rechtfertigung erhält.. Das Notwendige gehorcht keinem Gesetz; oder anders, das Naturrecht heißt „Leben“; alles, was dessen Verbreitung fördert, lässt sich aus dem Fakt selbst und nicht mit theoretischen Überlegungen über das Einhalten von Verträgen rechtfertigen. […] So wurde in Lauf des 19. Jahrhunderts die These entwickelt, dass alles, was zur germanischen Größe beiträgt, seine Rechtfertigung allein im Ergebnis findet.“224 Ohne die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik konkret anzusprechen, gelang es Germain-Martin, ein beunruhigendes Bild Deutschlands zu zeichnen, wonach es nicht möglich sei, den Deutschen jemals zu 221 222 223 224

Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 208. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 209. Übersetzung des Zitats „L’on constate, d’une part, la vieille conception romantique, datant du début du dix–neuvième siècle, d’après laquelle l’essentiel est dans la réalité immédiate et son évolution qui est justifiée par la nécessité. La nécessité ne connaît pas de loi; ou mieux, la loi naturelle est „la vie“; tout ce qui en permet le développement peut se légitimer par le fait et non par des considérations abstraites de respect des contrats. […] Ainsi a été élaborée, au cours du dix–neuvième siècle, cette conception que tout ce qui contribue à la grandeur germanique trouve sa justification dans le résultat obtenu“. Ebd., S. 209–210.

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vertrauen, weder was ihre scheinbare und trügerische wirtschaftliche Notlage noch ihre Außenpolitik betraf, mit der die deutsche Regierung allein ihre eigenen Interessen verfolge. Der Abgeordnete Franklin-Bouillon (Gauche unioniste et sociale) blieb ebenfalls überzeugt, dass Deutschland „bewusst schwach“225 sei und dass Brüning zu helfen bedeute, Hitler zu unterstützen: „Warum sollte man die Finanzlage Deutschlands regeln, wenn es darauf hinausläuft, morgen die Regierung Brüning abtreten und Hitler an die Macht kommen zu sehen?“226 Bis zu Brünings Regierungsjahren war die rechte politische Mitte in Frankreich durch eine konstante Skepsis hinsichtlich Deutschlands geprägt.227 Politisch pragmatisch denkend hatte Poincaré seit Mitte der 1920er Jahre bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1929 mehr oder minder die Politik Briands unterstützt, in der Hoffnung, dass eine deutsch-französische Annäherung die Sicherheit Frankreichs garantieren werde. Weiter rechts im politischen Spektrum dominierte aber weiterhin eine nationalistische und anti-deutsche Haltung, die sich in einer grundsätzlich negativen und monolithischen Wahrnehmung Deutschlands ausdrückte. André Tardieu, obgleich tief geprägt von den anti-deutschen Feindbildern, führte als Nachfolger Poincarés auch dessen pragmatischen Umgang mit Deutschland fort. So zeigte er sich bereit, mit den Deutschen zu verhandeln, was er zwar nicht als eine persönliche Herzensangelegenheit, aber seit Locarno als politische Notwendigkeit betrachtete. Dennoch war sein politisches Denken nach wie vor – wenn auch unausgesprochen – von einer einseitigen und düsteren Sicht auf Deutschland geprägt. Im Laufe der Regierungsmonate Brünings trug dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik jedoch dazu bei, dass bei den Abgeordneten der politischen Rechten die Ansicht wieder in den Vordergrund rückte, Deutschland sei insgesamt gefährlich. Die Stellungnahmen Germain-Martins, der übrigens Deutschland von privaten Besuchen her kannte, geben davon Zeugnis. 4. Brüning in der Vorstellungswelt der diplomatischen Kreise In den diplomatischen Kreisen Frankreichs wurde zwar die Frage nach den wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsspielräumen Heinrich Brünings gestellt, aber sie blieb durch das Bild eines sozial doppelgesichtigen Deutschlands bestimmt, das die Ehrlichkeit und die Wirksamkeit der Brüningschen Maßnahmen in Frage stellte. In den verschiedenen dem Quai d’Orsay übermittelten Eindrücken

225 Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 219. 226 Übersetzung des Zitats „A quoi bon régler la situation financière de l’Allemagne si c’est pour voir demain le gouvernement Brüning disparaître, Hitler arriver au pouvoir […] ?“. Ebd., S. 221. 227 Der folgende Abschnitt stützt sich auf Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 233ff.

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aus Deutschland flackerte die alte Angst vor der industriellen Macht und politischen Aggressivität der Deutschen immer wieder auf. 4.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931) Seit Brünings Amtsantritt war es für den französischen Außenminister alles andere als leicht, sich einen objektiven Überblick über das Ausmaß und die Dringlichkeit der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme zu machen, die Brüning in Deutschland zu bewältigen hatte. Die Briefe und Berichte, die ihm sein diplomatisches Personal und andere Korrespondenten nach Paris sandten, zeichneten kein einheitliches Bild, weder von Deutschland noch von dem neuen Reichskanzler – sehr häufig standen sie sogar im Widerspruch zueinander. Hinzu kam der unterschwellige Druck, den das französische Ministère de la Guerre konstant auf die Repräsentanten des Quai d’Orsay ausübte.228 Aus diesem Grund muss man auch die Vorstellungswelt der Militärangehörigen in die Analyse der Beurteilung Brünings durch die französischen Diplomaten einbeziehen. Mitte Mai 1930 sandte der französische Botschafter in Berlin, Pierre de Margerie, an Aristide Briand seine Studie über den Einfluss bestimmter Berufsgruppen, Korporationen und Wirtschaftsvertreter auf den Reichstag.229 Aufgrund der Behauptung, dass „die linken Milieus nach Belieben den Einfluss des Kapitals auf die politischen Akteure anprangern, während sich die Rechten dagegen über die Tyrannei der Gewerkschaften beklagen“,230 untersuchte er die Zusammensetzung der Mitglieder aller Parteien, um festzustellen, aus welchen sozialen Schichten sie ihre Anhänger rekrutierten, welche Wähler sie hatten und welche gesellschaftlichen Gruppen Einfluss auf die Partei ausüben könnten. Gemäß seinem Resümee waren zwei Drittel der Volksvertreter im Reichstag in irgendeiner Weise an außerparlamentarische Gruppen gebunden, wie etwa den Landbund, den Deutschen Bauernverein und den Deutschen Beamtenbund. De Margerie zog daraus den Schluss, dass die deutsche Regierung nicht ohne den Einfluss verschiedener Interessengruppen handle und dass ihre politischen, wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsspielräume dementsprechend begrenzt seien. Zu dieser sehr kritischen Sicht auf die Freiheit der Brüningschen Wirtschafts- und Finanzpolitik kam ein weiteres ungünstiges Bild, das die Aufrichtigkeit und die Wirksamkeit der Brüningschen Entscheidungen in Frage stellte. Am 2. September 1930 schickte das

228 Maurice Vaïsse hat die enge Verbindung zwischen dem Ministère de la Guerre und dem Quai d’Orsay eindrucksvoll aufgezeigt. Vgl. Vaïsse: Sécurité d’abord. 229 Brief von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 16/05/1930. In: MAE, Série Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 230 Übersetzung des Zitats „les milieux de gauche dénoncent à l’envie l’emprise du capital sur le personnel politique pendant qu’à droite, au contraire, l’on déplore la tyrannie syndicaliste“. Ebd.

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französische Konsulat in Königsberg einen Artikel über die Wirtschaftspolitik Brünings an Aristide Briand, dessen Autor Carl Fürst231 nachdrücklich darum gebeten hatte, dass man seinen Text an den französischen Außenminister weiterreiche.232 Dieser Artikel, der in dem politischen Propagandablatt Der Reichsbankgläubiger233 veröffentlicht wurde, war ein offener Brief an den Reichskanzler, in dem der Autor diesem vorwarf, eine bewusst auf Täuschung gebaute Wirtschaftsund Finanzpolitik zu betreiben, um das Ausland zu zwingen, den Versailler Vertrag für ungültig zu erklären. Offensichtlich wollte Carl Fürst seinen Standpunkt der französischen Regierung mitteilen, um damit zu beweisen, dass Deutschland die alleinige Verantwortung für seine Wirtschafts- und Finanzprobleme trage und dass es an sich zahlungsfähig sei. Heinrich Brüning wurde auf diese Weise zum Lügner abgestempelt. Carl Fürst ließ zwischen 1930 und 1932 regelmäßig Briefe und Artikel an das französische Außenministerium senden,234 immer mit dem Ziel, die „Unehrlichkeit“ des deutschen Kanzlers zu denunzieren, was dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik betraf. Am 28. September 1930 beschrieb der französische Konsul in Stuttgart in einem Brief an Aristide Briand die deutsche Wirtschaftslage als eine Situation mit zwei Gesichtern. Das eine zeige eine wahre Notlage, das andere ein Land und eine Politik, die sich grenzenloser Verschwendung hingäben.235 Der Ton, in dem er seine Beschreibung verfasst hatte, war sowohl was die Regierung Brüning als auch die deutsche Bevölkerung betraf, negativ, weil er das Elend in Deutschland dadurch zu relativieren suchte, dass er einzig und allein die Lage in Stuttgart beschrieb, in der Luxus nach wie vor verbreitet sei: „Die Wirtschaftskrise ist gewiss schwer, man hört hier oft davon, dass große Häuser Pleite gehen und dass Fabriken ein weiteres Mal die Zahl ihrer Arbeiter verringern mussten, und trotzdem sind die Geschäfte immer noch voller Käufer, die großen Geschäfte überbieten sich im Ausbau und einige bauen große, an den Kolonialismus erinnernde Gebäudekomplexe. Cafés, Konditoreien – und es gibt sie in einer unfassbar großen Anzahl – sind nie leer; ein großes, luxuriöses Kino wurde erst gebaut. Die Zahl der

231 Die Recherchen zu der Person Carl Fürst (u.a. über Deutsches Biographisches Archiv etc.) haben zu keinem Ergebnis geführt. Entsprechend der in den Archiven des Quai d’Orsay gesammelten Informationen geht die Autorin davon aus, dass Carl Fürst entweder Mitglied war oder zumindest der folgenden kleinen politischen Fraktion in Preußen nahe stand, die sich Nationale Opposition der vereinigten Reichsbankgläubiger und Marktgeschädigten nannte. 232 Offener Brief von Carl Fürst, adressiert an Heinrich Brüning und veröffentlicht in Der Reichsbankgläubiger. Weitergereicht an den Quai d’Orsay am 02/09/1930. In: MAE, Série Z, Karton 618: Presse 233 Der volle Titel des Blattes lautete Der Reichsbankgläubiger. Kampfblatt für alle Inflationsgeschädigten, besonders für die Reichsbankgläubiger. 234 In den Pressesammlungen (recueils de presse) findet man eine umfangreiche Dokumentation der Schreiben und Artikel, die an den Quai d’Orsay gesendet wurden. In: MAE, Série Z, Presse, Carton 618: Dossier général 235 Depesche von M. Hengiet, französischer Konsul in Suttgart, an Aristide Briand vom 28/09/1930. In: MAE, Série Z, Politique intérieure, Karton 674: Dossier général

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Autos steigt; die Industriellen lassen sich wahrliche Paläste bauen und ein Villenviertel entsteht bei Stuttgart, man hat wirklich nicht den Eindruck, es handle sich um ein verzweifeltes Land, das Not leidet.“236 In seiner Depesche betont der Konsul, dass er das Elend in Deutschland nur vom Hörensagen kenne, und stellt somit den Wahrheitsgehalt des Brüningschen Hilferufs um politische und wirtschaftliche Unterstützung Deutschlands in Frage. Das Bild eines Deutschlands, das über seine Verhältnisse lebt, war in diplomatischen Kreisen sehr verbreitet (bei denen, die in Deutschland lebten, wie auch bei anderen, die nicht dort tätig waren) und trug somit als ein Faktor unter vielen237 dazu bei, dass die Haltung Frankreichs, für jedes Zugeständnis an Deutschland politische oder wirtschaftliche Garantien zu fordern, legitimiert werden konnte. Dieses negative Deutschlandbild entbehrte nicht eines wahren Grundlage, wurde aber häufig übertrieben, um die äußerst reservierte Deutschlandpolitik der Franzosen weiter zu fördern. Auf diese Art ging auch der französische Botschafter in Italien das deutsche Wirtschafts- und Finanzproblem an, als er Carl Schubert antwortete, der anlässlich einer Unterredung in Rom die Finanzlage Deutschlands im Juli 1931 als sehr alarmierend beschrieben hatte: „Wir [Frankreich] sahen in den verschwenderischen Ausgaben vieler deutscher Städte den Beweis, dass das Reich nicht bereit war, eine harte Sparpolitik, wie sie in dieser Zeit angebracht gewesen wäre, zu betreiben, und die wir selbst in einer vergleichbaren Lage betrieben hätten. Die Regierung in Berlin sollte sich deshalb nicht darüber verwundert zeigen, dass wir Finanzhilfen, die für unser Land sehr große Opfer bedeuten, an politische und wirtschaftliche Garantien knüpfen“.238 Die geradezu extrem 236 Übersetzung des Zitats „La crise économique est certes sévère, on apprend souvent ici que d’importantes maisons sont en faillite et que des usines ont dû réduire encore le nombre de leurs ouvriers, malgré tous les magasins sont toujours remplis d’acheteurs, les grands magasins luttent à qui s’agrandira le plus et certains bâtissent des „Buildings“ coloniaux. Les cafés, les pâtisseries – et il y en a un nombre incroyable – ne désemplissent pas; un nouveau cinéma de grand luxe vient d’être construit. Le nombre des automobiles augmente; des industriels se font bâtir de véritables palais et une ville de villas continue à se bâtir autour de Stuttgart, on n’a vraiment pas l’impression d’un pays réduit au désespoir par la misère“. Ebd. 237 Weitere Faktoren waren u.a. die Besorgnis in Frankreich, die durch die Demonstrationen des Stahlhelm ausgelöst wurde, der Bau eines Panzerkreuzers, der Versuch, eine deutsch– österreichische Zollunion zu gründen etc. Vgl. dazu die folgenden Kapitel. 238 Übersetzung des Zitats „Nous [la France] trouvions […] dans les dépenses somptuaires de beaucoup de municipalités allemandes la preuve que le Reich n’était pas disposé à adopter la politique de stricte économie qui s’imposait en ce moment et que nous aurions su nous– mêmes adopter dans des circonstances analogues. Le Gouvernement de Berlin ne devait donc pas s’étonner de nous voir subordonner une aide financière entraînant de très lourds sacrifices pour notre pays à des garanties d’ordre politique et économique“. Unterhaltung zwischen M. Delarue Caron de Beaumarchais, französischer Botschafter in Italien und Carl von Schubert, in Form eines Berichts gesendet an den Quai d’Orsay am 06/07/1931. In: MAE, Série Z, Politique étrangère, Karton 713: Dossier général. Es handelt sich hier um einen zentralen Aspekt der französischen Deutschlandpolitik, der schon mehrfach von Historikern beschrieben und kommentiert wurde, nämlich dem französischen Anspruch, jede wirtschaftspolitische Konzession an Deutschland von politischen und wirtschaftlichen Garantien abhängig zu machen.

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strengen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen Brünings reichten nicht immer aus, um die Bilder eines finanziell auf großem Fuß lebenden Deutschlands und das eines unehrlich Regierenden zu auszutreiben. André Tardieu sah in der „mangelhaften Struktur der deutschen Wirtschaft selbst“ die Ursache für die deutsche Krise.239 Für ihn war die als selbstverständlich angenommene Tatsache, dass das deutsche Volk schon lange „über seine Verhältnisse“ lebe, der Hauptgrund für die deutschen Finanzschwierigkeiten.240 Alle weiteren möglichen Ursachen, wie die „weltweite Verlangsamung wirtschaftlicher Aktivitäten“, die „Reparationszahlungen“ oder die „politischen Unvorsichtigkeiten Deutschlands“, wurden von ihm schlichtweg vom Tisch gefegt.241 Für die französischen Militärangehörigen stand es außer Frage, dass Deutschland unter Brüning die deutschen Wirtschafts- und Finanzprobleme nicht nur selbst geschaffen habe, sondern auch bewusst aufrechterhalte, um sich auf schnellstem Weg von allen Verpflichtungen gegenüber Frankreich zu befreien.242

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Eine Notiz vom 29/06/1931 aus den Archiven von René Massigli drückt diese französische Erwartungshaltung deutlich aus: „Le problème actuel franco–allemand peut se résumer comme suit: Comment faire coïncider l’application d’un plan d’assainissement économique avec des mesures susceptibles s’amener un assainissement politique? Il est indispensable de trouver une solution car, l’expérience vient de le prouver encore, sans assainissement politique, l’Allemagne demeurerait à la merci d’une crise de confiance et toutes les mesures qui auraient pu être prises pour rétablir son équilibre économique se révèleraient vaines. D’autre part, si le Gouvernement français est amené à jouer un rôle décisif dans le rétablissement économique de l’Allemagne, il devient moralement responsable, non seulement devant la France, mais devant l’Europe, de l’usage que fera l’Allemagne de sa force restaurée. Le but final est de consolider la paix: On ne concevrait pas que l’on s’efforçât de le faire par des mesures d’ordre économique sans avoir parallèlement, dans le domaine politique, tenté tout ce qui est possible“. Übersetzung: „Das gegenwärtige deutsch–französische Problem kann man wie folgt zusammenfassen: Wie soll man die Durchführung des Vorhabens einer wirtschaftlichen Sanierung mit Maßnahmen zur politischen Stabilisierung verbinden? Es ist unabdingbar, eine Lösung zu finden, denn wir haben ein weiteres Mal gesehen, dass Deutschland ohne eine politische Stabilisierung weiterhin an mangelndem Vertrauen leiden würde und dass alle Maßnahmen, die zur Wiederherstellung seines inneren Gleichgewichts hätten ergriffen werden können, umsonst gewesen wären. Andererseits ist die französische Regierung, wenn sie eines Tages eine entscheidende Rolle in der wirtschaftlichen Wiederherstellung Deutschlands spielen soll, moralisch gesehen dafür verantwortlich – nicht nur vor Frankreich, sondern auch vor Europa – , wie Deutschland mit seinen wieder erstarkten Kräften umgehen wird. Letzten Endes ist das Ziel die Erhaltung des Friedens: Man würde es nicht verstehen können, wenn man sich nur bemühte, es mithilfe wirtschaftlicher Maßnahmen zu erreichen, ohne daneben auch politisch alles, was möglich ist, versucht zu haben“. In: MAE, Papiers René Massigli, PA AP 217, Vol 13: Direction politique. Nicht datiertes Dokument über die deutsche Finanzkrise. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 488: Fonctions Ministérielles. Ebd. Vgl. ebd. Depesche von Capitaine Mierry, stellvertretender Militärattaché an der französischen Botschaft, an André Maginot vom 23/07/1930. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920– 1940, Karton 7N2585.

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Die Finanzkrise wurde, selbst wenn sie an sich als „heftig“ oder „schwierig“ beurteilt wurde, als willkommenes Instrument in den Händen des Reichskanzlers dargestellt, der damit die französische Position dauerhaft schwächen könne.243 Die soziale Not in Deutschland wurde von militärischer Seite grundsätzlich relativiert.244 Am 9. Juli 1931, just zum Zeitpunkt einer Verschärfung der finanziellen Lage Deutschlands, beschrieb Colonel Chapouilly, der Militärattaché an der französischen Botschaft in Berlin, Deutschland und seine politischen Vertreter als ein Volk, dem die Unersättlichkeit angeboren sei.245 Für ihn war das eine Frage der „germanischen Mentalität“: „Das Hoover-Moratorium wird nun, da es beschlossen ist, von ganz Deutschland nicht mehr als eine glückliche Entwicklung gesehen. Man würde die germanische Mentalität schlecht kennen, denn für sie zählt die Großzügigkeit nichts mehr, sobald sie zum Ausdruck gebracht wurde, sondern nur die Zukunft zählt. Das Hoover-Moratorium ist – und alle sagen das – nur der Anfang, das Vorspiel der Revision der Reparationszahlungen.“246 Dieses historische Deutschlandbild diente ihm als Argument, um seiner Ablehnung, mit Deutschland nachsichtig umzugehen, Nachdruck zu verleihen. Seine gesamte Stellungnahme ist von der Angst geprägt, dass Deutschland eines Tages seine alte Machtposition in der Wirtschaft wiedererlangen könnte. Trotz allem kannte er die Verzweiflung weiter Teile der deutschen Bevölkerung, der sich Brüning gegenüber sah. Nur wenige Tage nach seinem Schreiben sandte er einen Bericht über die erhöhte Selbstmordrate in Deutschland nach Paris, die ihm als „Beweis für die krankhafte Nervosität dieses Volkes“ und als „Beweis für seine Verwandtschaft mit dem slawischen Volk“ erschien.247 Aber auch diesmal bediente er sich zweier Bilder, um ein Phänomen zu veranschaulichen, das er nicht durch konkrete Fakten erklären konnte oder wollte. Der Eindruck, dass Deutschland der einzige Verantwortliche für seine Krise sei, hatte sich aber ohnehin schon in der Vorstellungswelt der Mitarbeiter des Quai d’Orsay festgesetzt. So schrieb Aristide Briand im Sommer 1931 in einem Telegramm an Pierre de Margerie: „Obwohl die französische Regierung weiß, dass Deutschland größtenteils selbst für die Schwierigkei243 Vgl. ebd. 244 Vgl. u.a.: Analyse der Wirtschaftslage von Général Tournès, Militärattaché an französischen Botschaft in Berlin, gesendet an André Maginot am 06/05/1930; Analyse der Finanzsituation von Lieutenant–Colonel Chapouilly, Militärattaché an der französischen Botschaft in Berlin, gesendet am 29/04/1931 an André Maginot; Analyse der Finanzsituation von Colonel Chapouilly, gesendet am 09/07/1931 an André Maginot. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Kartons 7N2585 et 7N 2586. 245 Depesche von Colonel Chapouilly an André Maginot vom 09/07/1931. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2586 246 Übersetzung des Zitats „L’accord Hoover est considéré maintenant, par l’ensemble de l’Allemagne, qu’il est conclu, non comme un heureux événement en lui–même. Ce serait mal connaître la mentalité germanique pour laquelle toute générosité ne compte plus, une fois consentie, et pour laquelle seul le futur compte. L’accord Hoover, tout le monde le dit, est un point de départ, le prélude de la révision des dettes“. Ebd. 247 Depesche von Colonel Chapouilly an André Maginot vom 20/07/1931. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2586.

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ten, in denen es sich befindet, verantwortlich ist, ist sie dennoch bereit anzuerkennen, dass die Wirtschaftskrise, deren Ausmaß und Schärfe, auf welchen Gründen auch immer sie fußen, alle Voraussagen übersteigen, und dass aufgrund dieser Tatsache der Young-Plan vorübergehend angepasst werden kann.“248 Regelmäßig wurde das französische Außenministerium auch von französischen Diplomaten, die in anderen europäischen Ländern oder in den USA tätig waren, über die dortige Wahrnehmung Deutschlands und der deutschfranzösischen Beziehungen unterrichtet. Im Quai d’Orsay erhielt man so die amerikanische Warnung, dass Frankreich und die USA die einzigen Länder seien, die noch eine Machtstellung in Politik und Wirtschaft besetzten und dass den Franzosen daraus eine besondere Verantwortung für Deutschland erwachse.249 Der Bericht des französischen Botschafters in den USA vermittelte ein äußerst beunruhigendes Bild, nicht nur der deutschen Krise, sondern der gesamten Weltlage: „Die Wahrheit ist, dass die ganze Welt schwer krank ist.“250 Infolge der Konferenzen in Paris und London im Juli 1931 erreichte den Quai d’Orsay auf gleiche Weise auch eine Beschwerde von Seiten der Österreicher, die Paris vorwarfen, Deutschland bewusst zu ruinieren.251 In Österreich herrschte die Meinung vor, dass Deutschland am Abgrund stehe und sein Sturz Österreich mitreißen werde, dass Brüning zwar von allen Seiten bedroht werde, aber der einzige sei, der die Krise bannen könne, und dass es schließlich an Frankreich sei, die notwendigen Opfer zur Rettung der deutschen Regierung zu bringen.252 Von russischer Seite übermittelte die dortige französische Botschaft das Bild einer deutschen Wirtschaftskrise als Ausdruck einer internationalen Krise des Kapitalismus, wie sie auch in der Moskauer Presse kolportiert wurde.253 Aber insgesamt provozierten diese anderen Ansichten keine Veränderung der Deutschlandbilder, die

248 Übersetzung des Zitats „Toute en observant que l’Allemagne porte, pour une large partie, la responsabilité des difficultés dans lesquelles elle se trouve, le Gouvernement français est prêt à admettre que la crise économique, dont l’ampleur et l’acuité, quelles que soient ses causes, dépassent toutes les prévisions, puisse motiver un aménagement temporaire du plan Young “. Nicht datiertes Telegramm von Aristide Briand an Pierre de Margerie aus dem Sommer 1931. In: CADN, L’Ambassade de France à Berlin, Série en vrac. Es handelt sich hierbei um die Archive der französischen Botschaft in Berlin, die den Krieg im Keller eingemauert überstanden haben. Ein Großteil dieser Archive, die dem CADN übergeben wurden, war bis Ende 2006 noch nicht im Archivverzeichnis aufgenommen worden, was die Recherchen erheblich erschwert hat und ohne die Unterstützung der Archivare sogar unmöglich gemacht hätte. 249 Depesche von M. Claudel, französischer Botschafter in den USA an Aristide Briand vom 07/10/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 713: Dossier général 250 Ebd. 251 Vgl. Depesche der französischen Bortschaft in Wien an Aristide Briand vom 25/07/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 713: Dossier général. 252 Vgl. ebd. 253 Schreiben von M. Herbette, dem französischen Botschafter in Moskau an Aristide Briand zu Artikeln über die deutsche Wirtschaft, erschienen in der Moskauer Zeitung Izvestia. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 674: Dossier général

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dem Quai d’Orsay von seinem diplomatischen Personal aus Deutschland übermittelt wurden. 4.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932) Am 7. Januar 1932 schickte der Innenminister und Président du conseil Pierre Laval vertraulich einen anonymen Reisebericht aus Deutschland an Aristide Briand.254 In diesem Bericht, der auf den 25. Dezember 1931 datiert ist, beschrieb der anonyme Informant die Wirtschaftslage in München, Nürnberg, Magdeburg und Berlin und berichtete außerdem über den Inhalt seiner Gespräche mit Geschäftsleuten aus der Firma Krupp wie auch aus Finanz- und Handelskreisen in Berlin. Von Beginn seiner Reiseeindrücke an relativierte der Autor das Ausmaß des Wirtschafts- und Finanzdesasters in Deutschland: „Mit der Überzeugung angereist, deutlich sichtbare Folgen der schweren Krise vorzufinden, habe ich nirgends offensichtliches Elend gesehen, wenn man einmal vom Ruhrgebiet absieht.“255 Er unterstrich stattdessen den Ausbau der Eisenbahnwege und die industrielle Wirtschaftskraft des Landes und entkräftete damit die Klagen seiner Gesprächspartner. Ihm gegenüber hätten diese ohne zu zögern das Ende der Reparationszahlungen und die Rückgabe der durch den Versailler Vertrag verlorenen deutschen Gebiete gefordert und außerdem ihre Unzufriedenheit mit der Politik Heinrich Brünings – der „Schmach Deutschlands“ – und der Sozialdemokratie zum Ausdruck gebracht. Im Lauf der Gespräche hätten sich seine deutschen Gespächspartner als Nationalisten gezeigt, die einem starken Staat nachtrauerten. Auch hier versucht der Verfasser des Berichts der französischen Regierung die Botschaft zu vermitteln, dass die soziale und wirtschaftliche Krise in Deutschland keineswegs so schlimm sei, wie es Heinrich Brüning die Franzosen glauben machen wolle. Indirekt äußert auch der Autor selbst seine Zweifel an den Argumenten Brünings gegen die Reparationszahlungen. Trotzdem machte der Reisebericht auch deutlich, dass Brüning von allen Seiten politischen Bedrohungen ausgesetzt war, die vor allem von seinen rechten Gegnern ausgingen. Es bleibt zu vermuten, dass der Inhalt des Textes Pierre Lavals eigenen Ansichten entgegenkam, der dieses Dokument sicherlich nicht ohne Grund vertraulich an seinen Deutschland eher zugeneigten Außenminister weiterleitete. Einen Monat später erhielt Pierre Laval, der nach dem Ausscheiden Briands vorrübergehend die Aufgaben des Außenministeriums vom 14. Januar bis zum 16. Februar 1932 übernommen hatte, aus den Händen des französischen Konsuls in

254 Vertraulicher Brief von Pierre Laval an Aristide Briand vom 07/01/1932. In: MAE, Serie Z, Economie, Finances, Karton 762: Situation économique de l’Allemagne. 255 Übersetzung des Zitats „[A]rrivé avec la conviction de trouver des symptômes apparents de crise très grave […] je n’ai nulle part vu de misère apparente, exception faite toutefois pour […] la région de la Ruhr“. Ebd.

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Köln, Jean Dobler, einen Bericht, der in einem ganz anderen Ton geschrieben war.256 Dobler bedauert darin, dass ein französischer Journalist257 in der Illustration eine Serie von Artikeln veröffentlicht hatte, in der er Deutschland als ein Land beschrieb, das überhaupt nicht unter der Wirtschaftskrise leide, und dass er damit die Kritik und Enttäuschung Konrad Adenauers provoziert habe. Dobler selbst stimmte nur teilweise mit der Meinung seines Landsmanns überein und zögerte nicht, die in dessen Artikeln geäußerten Ansichten in Frage zu stellen: „Ich will die Zeitungsartikel, die immerhin einen Teilaspekt der Krise in Deutschland zu beschreiben scheinen, nicht kritisieren. Aber man muss auch bedenken, dass sie andere Teilaspekte der Wirklichkeit sehr oberflächlich behandeln, so vor allem das große, kaum wahrnehmbare und versteckte Elend der Arbeiter und des ruinierten Bürgertums und die großen Opfer, die Staat und Bürger seit einigen Monaten bringen.“258 Dobler hielt dabei auch nicht mit seiner Anerkennung für die von der Regierung Brüning unternommenen Anstrengungen hinter dem Berg und brachte seine Sorge zum Ausdruck, dass die Deutschen an den guten Absichten der Franzosen zweifeln könnten, wenn die kritisierte Artikelserie nicht durch eine Gegendarstellung komplettiert werden würde. Die französische Öffentlichkeit müsse „vollständig informiert werden“, um nicht von einem falschen Bild der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Herausforderungen in die Irre geleitet zu werden, denen sich Deutschland zu stellen habe. Jean Dobler gehörte zu den Wenigen aus den diplomatischen Kreisen, die sich die Mühe machten, authentische Berichte über die wirtschaftliche Lage Deutschlands und die Politik Heinrich Brünings zu liefern. Dabei war es umso schwieriger, im Quai d’Orsay für ein wirkliches Verständnis der deutschen Probleme zu werben, als die Zahl der Berichte, die in die entgegengesetzte Richtung wiesen und teilweise wie im Beispiel von Carl Fürst sogar von Deutschen selbst geschrieben waren, beträchtlich war. Der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, bestätigte, dass die Arbeitslosigkeit und die Not der Bevölkerung die beiden Probleme seien, denen sich Heinrich Brüning vor allen anderen widme. Der Wirtschafts- und Finanzexperte François-Poncet259 unterstreicht in seinem Telegramm an den Quai d’Orsay vom 29. Mai 1932, dass der Reichskanzler noch am Vorabend seiner Unterredungen mit Hindenburg in einer Rede vor ausländischen Pressevertretern am 28. Mai 1932 deutlich gemacht habe, dass seine einzige Sorge der Kampf gegen 256 Depesche von Jean Dobler an Pierre Laval vom 04/02/1932. In: MAE, Serie Z, Economie, Finances, Karton 762: Situation économique de l’Allemagne. 257 Es handelt sich um M. Nadeau. 258 Übersetzung des Zitats „Je ne prétends pas critiquer ces articles qui me paraissent présenter un des aspects de la vérité allemande. Il faut reconnaître toutefois qu’ils passent trop légèrement sur les autres aspects de cette vérité et notamment sur la grande misère décente et cachée des chômeurs et de la bourgeoisie ruinée et sur les sacrifices énormes que l’Etat et les citoyens s’imposent en Allemagne depuis quelques mois“. Ebd. 259 Es ist wichtig anzumerken, dass François–Poncet Anfang der 1930er Jahre noch immer die gleiche Konzeption der deutschen Wirtschaftspolitik hatte wie in den 1920er Jahren. Vgl. Messemer: André François–Poncet und Deutschland, S. 516.

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die Arbeitslosigkeit sei.260 Der Botschafter verwies dabei auch auf die strengen Maßnahmen Brünings, die Arbeitslosigkeit zu senken und die Arbeitsuchenden zu unterstützen: „Herr Brüning hat sich ein weiteres Mal jeglicher Inflation abgeneigt gezeigt und er schien großen Wert auf den Aufbau eines Bürgerdienstes und auf die Zuweisung von Flurstücken in der Umgebung großer Städte an Arbeitslose zu legen.“261 Genauso wie in den Monaten seines ersten Kabinetts wird Brüning abwechselnd oder sogar gleichzeitig entweder als disziplinierter Politiker beschrieben, der hart arbeitet und nicht zögert, auf autoritäre oder sogar diktatorische Mittel zurückzugreifen, um die Wirtschafts- und Finanzlage zu stabilisieren – oder als jemand, der äußerst bescheidene Erfolge vorzuweisen hat, zweifelhafte Ziele verfolgt und die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme im Land schlimmer darstellt, als sie in der Realität sind, ohne dabei eine wirkliche Verbesserung anzustreben, nur um Deutschland über kurz oder lang von den Reparationszahlungen zu befreien. So schreibt Colonel Chapouilly am 7. Dezember 1931, dass „Kanzler Brüning sich Anfang Dezember Tag und Nacht, wie man sagt, voll und ganz auf die Erarbeitung der Notverordnung konzentriert hat, welche die zentralen Leitlinien seiner Wirtschaftspolitik endlich genauer festlegen soll“262, und fügt am 21. Dezember 1931 hinzu, die Lage habe sich in den vergangenen Monaten weiter verschlechtert.263 Im Laufe der letzten Regierungszeit Brünings machte Chapouilly in seinen Berichten immer wieder auf die zunehmend angespannte Finanzsituation Deutschlands aufmerksam,264 die nach seiner Meinung schwerwiegende Eingriffe von Seiten Heinrich Brünings notwendig machten.265 Ganz im Gegensatz zu diesem nachsichtigen Ton, den Colonel Chapouillys in seinen Beschreibungen

260 Telegramm von André François–Poncet an den Quai d’Orsay. In: MAE, Serie Z, Economie, Finances, Karton 762: Situation économique de l’Allemagne 261 Übersetzung des Zitats „M. Brüning s’est déclaré une fois de plus hostile à toute inflation et […] il a paru attacher beaucoup d’importance à l’organisation du service civil et à l’attribution aux chômeurs de parcelles de terrains dans les environs des grandes villes“. Ebd. 262 Übersetzung des Zitats „pendant les premiers jours de décembre, le chancelier Brüning semble s’être consacré tout entier jour et nuit, dit–on, à l’établissement de la Notverordnung, où les grandes lignes de sa politique économique doivent être enfin précisée“. Depesche von Colonel Chapouilly an André Maginot vom 07/12/1931. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2587. 263 Vgl. Depesche von Colonel Chapouilly an André Maginot vom 21/12/1931. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2587. 264 Vgl. SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Kartons 7N 2587–7N 2589. 265 Depesche von Colonel Chapouilly an François Piétri (Républicain de gauche, von da an Ministre de la Défense Nationale) vom 08/03/1932. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2588. Colonel Chapouilly glaubte von diesem Zeitpunkt an, dass die Wirtschaftskrise seit 1930 die Ursache für den Rückgang von Geburten und Eheschließungen in Deutschland sei. Vgl. Depesche von Colonel Chapouilly an François Piétri vom 30/05/1932. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N 2589.

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Heinrich Brüning aus dem Blickwinkel der französischen Gesellschaft

Brünings anschlug, blieb André François-Poncet hart in seiner Kritik.266 Die „logisch geführte“ Wirtschafts- und Finanzpolitik Heinrich Brünings habe bis dato nicht die „erhofften Erfolge“ erbracht. So habe Brüning nur „vorübergehende und Teilerfolge“ erzielt und die Ereignisse hätten ihn vielfach gezwungen, seine harte Finanzpolitik abzumildern. So glaube er auch nicht, dass das Reich seine Wirtschafts- und Finanzlage stabilisieren könne, trotz der – im Bericht zunächst positiv anmutenden – „energischen Anstrengung“ und des „entschlossenen Willens“ auf Seiten Brünings. Einen Augenblick lang zeigt François-Poncet eine gewisse Anerkennung für die Besonnenheit Brünings, die für ihn der Grund dafür ist, dass „Deutschland seit der Krise im letzten Sommer den Beweis seiner Widerstandskraft erbracht habe“: „Die Regierung Brüning hatte das Verdienst, dass sie die Kraft des Landes aufrecht erhalten hat, Lösungen aufzeigen konnte, die, auch wenn sie nicht alle umgesetzt werden konnten, es dem Land doch ermöglichten zu überleben, sich der Zukunft zuzuwenden und sogar Hoffnungen zu wecken“.267 Aber dann kommt François-Poncet zu seiner eigentlichen Einschätzung der Lage. In ihrer Gesamtheit sei die Wirtschafts- und Finanzsituation in Deutschland „künstlich“ und vor allem „instabil“, weil es an einer wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit mit Frankreich mangele, für die sich Brüning nicht einsetzen würde. Die Wertschätzung des französischen Diplomaten für die Leistungen Brünings wird sogleich durch das Bild eines „Befürworters der Autarkie“ geschmälert, das Brüning mit seiner nationalistischen Kampagne abgebe, die auf die Abschaffung der Reparationen und die Wiederbewaffnung Deutschlands abziele. Wieder taucht hier die verdächtige Seite Brünings zwischen den Zeilen auf, die wiederholt in der diplomatischen Korrespondenz und Schriftverkehr beschrieben und kultiviert wurde.

266 Bericht von André Francois–Poncet über die Wirtschafts– und Finanzlage in Deutschland, gesendet an André Tardieu, am 24/02/1930. In: MAE, Serie Z, Economie, Finances, Karton 762: Situation économique de l’Allemagne. Die folgende Passage stützt sich auf diese Quelle. 267 Übersetzung des Zitats „Le Gouvernement Brüning a eu le mérite d’entretenir l’énergie de la nation, de suggérer des solutions qui, si elles n’ont pas pu être intégralement appliquées, ont permis du moins au pays de vivre, d’attendre l’avenir, et même d’éveiller des espoirs“. Ebd.

III BRÜNING, ZERSTÖRER ODER VERTEIDIGER DER DEMOKRATIE Der Reichskanzler stand unter ungeheurem Druck angesichts der vielfältigen und schwierigen Probleme im Land, die nach einer schnellen Lösung verlangten1 − darunter vor allem die politischen Angriffe und Agitationen von links und rechts. Er setzte zunächst seine Deflations- und Sparpolitik, auch seine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung um, die er angesichts der Krise entweder mit Hilfe von Notverordnungen (26. 7. 1930, 1. 12. 1930, 24. 8. 1931)2 oder durch die Auflösung des Reichstags (18. 7. 1930) durchsetzte.3 Die Präsidialregierung hing einzig und allein vom Vertrauen des Reichspräsidenten ab, der die Macht hatte, nach Gutdünken die jeweiligen Notverordnungen zu unterzeichnen. Mit der Aufstellung des „Hindenburg-Kabinetts“ durch Heinrich Brüning begann – wie es Eberhard Kolb treffend beschreibt – eine tiefgreifende und riskante Umwandlung des Regierungssystems.4 Da sich die politische und wirtschaftliche Lage in Deutschland fortschreitend verschlechterte und ein politischer Konsens unmöglich erschien, entschied sich Brüning, den Reichstag aufzulösen. Seine Wahlkampfstrategie richtete sich gegen die politischen Extremisten und gegen die Dominanz einer Partei, weil er dies als Interessensherrschaft interpretierte.5 Die Neuwahlen am 14. September 1930 zeigten, wie illusorisch Brünings Hoffnungen auf eine Stärkung der politischen Mitte waren – stattdessen eroberten die Extremisten politisches Terrain.6 Die Zentrumspartei hatte in erster Linie um ihre Stammwähler gekämpft,7 ohne auch nur zu versuchen, potentielle Wähler der linken und rechten Parteien abzuwerben – man gab sich damit zufrieden, die kommunistischen und nationalsozialistischen Gegner zu benennen und ihnen gegenüber Position zu beziehen.8 „Weder rechts noch links kommt für uns in Frage, wir nehmen die politische Vernunft da, wo wir sie

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Vgl. Borchardt: Wirtschaftspolitik Brünings, S. 34. Vgl. hierzu Kruedener: Brünings Deflationspolitik, S. 295; Mannes: Heinrich Brüning, S. 123. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 185. Vgl. Kolb: Weimarer Republik, S. 212. Vgl. Marquardt: Polis contre Polemos, S. 210ff. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 81. Vu beschrieb die Wähler des katholischen Zentrums folgendermaßen: „ Il est difficile d’imaginer un parti moins homogène comprenant à la fois des magnats de l’industrie et des ouvriers, des ecclésiastiques et des laïques, des réactionnaires et des démocrates, des nobles et des paysans, mais tous unis par les liens religieux “. Übersetzung: „Man kann sich schwerlich eine heterogenere Partei vorstellen, die zugleich Industriemagnaten und Fabrikarbeiter, Geistliche und Laien, Reaktionäre und Demokraten, Adlige und Bauern umfasst, in der aber alle durch das Band des Glaubens geeint sind“. Vu , August 1930. Leontin: Les élections allemandes, S. 902–904 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 191.

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Heinrich Brüning aus dem Blickwinkel der französischen Gesellschaft

finden“9, lautete ihr Slogan, der deutlich macht, dass die politische Konzeption des katholischen Zentrums weder als politisch links noch als politisch rechts einzuordnen war.10 Man bezeichnete die Nationalsozialisten schlichtweg als Verrückte, die das einfache Volk verachteten, und warf den Kommunisten Demagogie vor.11 Was die Sozialdemokraten betraf, zeigte sich die Zentrumspartei reserviert. Man verwies nur bei der Anwendung des Artikels 48 darauf hin, dass Friedrich Ebert während seiner Amtszeit als Reichspräsident 138 Mal auf diesen Artikel zurückgriff, und das, obwohl die jeweiligen politischen Situationen weit weniger angespannt waren als in Brünings Regierungszeit.12 Die Septemberwahlen brachten den Nationalsozialisten einen sensationellen Erfolg, wenn auch nicht die absolute Mehrheit ein: Hitlers Partei wurde mit einem Anstieg der Abgeordnetenanzahl von 12 auf 107 zur zweitstärksten Kraft im Parlament. Auch die Kommunisten gewannen mit 77 Mandaten hinzu, gegenüber 54 vor den Wahlen.13 Die SPD wie auch die DNVP und die DVP verloren an Wählerstimmen, während das Zentrum und die BVP leicht hinzugewannen. Das Parlament war von diesem Zeitpunkt an nicht mehr in der Lage, Koalitionen zu bilden. Die Septemberwahlen bedeuteten für die Sozialdemokraten einen Wendepunkt in ihrer Haltung gegenüber Heinrich Brüning. Sie setzten nun auf eine Politik der Toleranz und versuchten nicht mehr, selbst an der Regierung beteiligt zu sein.14 Was Brüning betraf, so war seine Politik trotz seiner sozialen Forderungen, die er mit der SPD teilte,15 anti-parlamentarisch und anti-marxistisch,16 womit er sich in absolutem Gegensatz zu den Kommunisten befand und mit der SPD ein schwieriges Verhältnis pflegte. Die SPD, die noch im Juli 1930 eine Forderung nach der Nichtanwendung des Artikels 48 eingereicht hatte und damit die Auflösung des Reichstags riskiert hatte, passte sich – nachdem sie sich der instabilen Lage der deutschen Demokratie nach den Wahlen bewusst geworden war – der als dringend empfundenen Notwendigkeit an, die Politik Brünings zu unterstützen. Nach den Sommermonaten 1931 hatte die Regierung mehrere Probleme zu bewältigen: Schnelle Entscheidungen mussten getroffen, die Notverordnungen

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Marquard: Polis contre Polemos, S. 207. Ebd., S. 213. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 191. Ebd., S. 192f. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 81. Auch noch nach dem Tod Hermann Müllers (am 20.03.1931) setzten die Sozialdemokraten ihre Politik fort, mit der sie einen Sturz Brünings verhinderten. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 264. 15 Vgl. Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik, S. 47. 16 Nach Alfred Grosser ist die antikommunistische Haltung Brünings so stark und derart in seiner tiefen Ablehnung der Revolutionsidee verwurzelt, dass er das Ausmaß der taktischen Neuorientierung, die Stalin 1928 durchgesetzt hatte und die zur Radikalisierung und Auto– Isolation der KPD führte, nicht erkannte. Vorwort von Alfred Grosser. In: Brüning: Mémoires, S. 12.

III Brüning, Zerstörer oder Verteidiger der Demokratie

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vom 24. August (eine erste Etappe der zentralistischen Umwandlung des Reichs) und vom 6. Oktober17 durchgesetzt werden und sie musste der weiteren Verschlechterung der Beziehungen zum Reichspräsidenten entgegenwirken. Zudem forderte Hindenburg eine weitere Ausrichtung der Regierung nach rechts.18 Während Brüning jetzt neben seinem Amt als Reichskanzler auch noch das Außenministerium übernahm, führte Wilhelm Groener gleichzeitig das Reichswehr- und das Innenministerium.19 Die Sozialdemokraten waren entschlossen, trotz ihrer Kritik an der Politik der Notverordnungen und der Änderungen im Kabinett die Regierung Brüning weiter zu tolerieren, um die Demokratie und den Parlamentarismus vor einer drohenden Diktatur zu schützen.20 Ab 1931 zeichnete sich das eigentliche Problem der Politik in Deutschland ab: der Kampf um die tatsächliche Macht im Staat. Mit dem Jahr 1932 folgte eine Phase politischen Terrors, die weitaus blutiger verlief als in den Jahren zuvor und besonders durch Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten gekennzeichnet war.21 Aufgrund dieser Gewalttaten, der politischen Herausforderungen, die von den rechten Parteien ausgingen22, und der Verschärfung der sozialen Belastungen23 durch die Notverordnung vom 6. Oktober –, die die Politik Brünings noch unpopulärer machte – sowie der ersten Überlegungen zu einer Regierungsbeteiligung der NSDAP24 erklärte die Regierung Brüning die Sicherung der Staatsautorität zu ihrer obersten Priorität. Bis zum Regierungsantritt Brünings hatte der Reichspräsident nie eine solche Machtfülle inne gehabt. Die starke Position Paul Hindenburgs äußerte sich im politischen Tagesgeschehen auf vielfache Weise: So griff er immer wieder in die Politik Brünings ein, etwa bei der Ernennung von Ministern25 oder mit seinem Widerstand gegen die neue Politik der Ostsiedlung. Auch forderte er, nicht nur die

17 „Dritte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“. Vgl. dazu Hömig: Brüning (I), S. 389. 18 Vgl. ebd., S. 378ff.; Mannes: Heinrich Brüning, S. 125. 19 Vgl. Mannes: ebd. 20 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 415. 21 Vgl. Striefler: Kampf um die Macht, S. 355ff. 22 Die Bildung des zweiten Brüning–Kabinetts wurde am 11. Oktober 1931 abgeschlossen, dem Tag des Harzburger Treffens, in dessen Rahmen sich die nationale Opposition gegen das demokratische und parlamentarische System aus NSDAP, DNVP und dem Stahlhelm zusammenfand, deren erklärtes Ziel der Sturz der Regierung Brüning war. Vgl. hierzu Hömig: Brüning (I), S. 399ff. 23 Die politischen Entscheidungen standen immer mehr unter dem Vorzeichen der Wirtschaftskrise. Im Jahr 1932 lag das deutsche Volkseinkommen 41 Prozent unterhalb des Volkseinkommens von 1928. Infolge dessen brachen die industrielle Produktion, die privaten Einkünfte und der Lebensstandard der Deutschen ein. Vgl. Petzina: Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik, S. 18. 24 Vgl. hierzu Becker: Brüning, Kaas, S. 87ff. 25 Man denke hierbei beispielsweise an seine Forderung nach einer Umstrukturierung des Kabinetts.

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SA und die SS zu verbieten, sondern auch die linke Reichsbanner-Bewegung.26 Das Schicksal der Republik drohte dem Reichskanzler zu entgleiten.27 Das Präsidialsystem, in dem er agieren musste, trug zu schwer an der Last eines geschwächten, altersverwirrten Hindenburg, der zudem unter dem Einfluss verschiedener Interessensgruppen stand.28 Der größte Vertrauensbruch zwischen Brüning und Hindenburg offenbarte sich nach einigen kleineren Spannungen anlässlich der Präsidentschaftswahlen im März 1932.29 Hindenburg, der die Wahl dank der Unterstützung der Weimarer Koalition im zweiten Wahlgang am 10. April 1932 mit 53 Prozent der Stimmen gegen Adolf Hitler (36,8%) und Ernst Thälmann (10,2%) gewann,30 empfand es als Schande, mit Hilfe der Stimmen der Sozialdemokraten und Katholiken Wahlsieger geworden zu sein.31 Er warf Brüning, seinem Wahlkampfleiter, den Verlust der rechten Stimmen, also seiner ehemaligen Wähler von 1925 vor.32 Tatsächlich befanden sich die Sozialdemokraten bei dieser Wahl wieder einmal in einer paradoxen Situation. Sie hatten für Hindenburg aus dem gleichen Grund gestimmt, der sie auch daran hinderte, Brüning zu stürzen, nämlich ihre Angst vor einer Stärkung der Nationalsozialisten und einem möglichen Erfolg Hitlers.33 Was Brüning selbst betraf, so hielt er trotz aller Probleme zu Hindenburg, weil ein nationalistischer oder national-sozialistischer Präsidentschaftskandidat alle seine Anstrengungen auf dem internationalen Parkett zunichte gemacht hätte, von denen zumindest teilweise auch die Lösung der innenpolitischen Probleme abhing.34 Nach den Septemberwahlen 1930 hatte Brüning begonnen, darüber nachzudenken, wie man Hitler und die NSDAP ausbremsen könne, zumal er im höchsten Maß beunruhigt war, dass so viele Beamte für die Nationalsozialisten gestimmt hatten.35 Im Kabinett zögerte man, entweder die NSDAP zu verbieten oder die Möglichkeiten auszuloten, Hitler für eine konstruktive Opposition und parlamentarische Zusammenarbeit zu gewinnen.36 Infolge dieser Überlegungen und trotz seiner persönlichen Antipathie gegen Hitler traf sich Brüning im Oktober 1930 ein erstes Mal mit ihm.37 Von Anfang an zeigte sich aber, dass Brüning weder der 26 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 122. 27 Wenn man die Politik Brünings an sich betrachtet, so kann man sie nicht als einen ersten Schritt in Richtung einer Diktatur beurteilen. Im Rahmen aber der von Hindenburg und seinem Umfeld gesteckten politischen Ziele, war sie fatal. Vgl. Bussche: Konservatismus, S. 359. 28 Vgl. Broszat: Etat hitlérien, S. 44. 29 Hindenburgs Konkurrenten waren Adolf Hitler (NSDAP), Theodor Duesterberg (DNVP und Stahlhelm) und Ernst Thälmann (Kommunisten). 30 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 524. 31 Vgl. Morsey: Brüning und Adenauer. Zwei Wege, S. 17. 32 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 137. 33 Vgl. Jäckl: Arrivée de Hitler au pouvoir, S. 354; Klenke: SPD–Linke, S. 118. 34 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 397. 35 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 138. 36 Ebd., S. 138. 37 Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd. I: Dokument Nr. 135, S. 510ff.

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Situation noch der Person Hitler gewachsen war. Sein tiefer Glaube, sein Wille, sich an Fakten zu halten, die Zurückstellung seiner Person zugunsten seines politischen Amtes und seine vernunftbedingte und den Prinzipien seiner Partei entsprechenden Ablehnung der nationalsozialistischen Überzeugungen förderten zwar seine absolute Gegnerschaft zu Hitler,38 verhinderten aber auch, dass er diesem entschieden die Stirn bot und ihn durchschaute. Zudem glaubten viele aus Brünings politischem Umfeld, dass sich die nationalsozialistische Bewegung in Wohlgefallen auflöse, sobald sie sich einer ersten praktischen politischen Aufgabe zu stellen habe.39 Ein Jahr später, am 10. Oktobe 1931, traf sich Brüning ein weiteres Mal mit Hitler. Am gleichen Abend empfing auch Hindenburg Hitler und Hermann Göring, was einer politischen Aufwertung Hitlers gleichkam.40 Brüning war von Hitler nicht besonders beeindruckt, bei Hindenburg hinterließ der Nationalsozialist einen ungünstigen Eindruck. Beide unterschätzten Hitler allerdings völlig41 – Hindenburg glaubte sogar, dass Hitler sich allenfalls als Postminister eigne.42 Auf die wachsende Agressivität der SA reagierte Brüning auf der Grundlage von Notverordnungen mit einem Demonstrations-, Uniform- und Abzeichenverbot.43 Im März 1932 fand die preußische Polizei bei einer Hausdurchsuchung die sogenannten Boxheimer Dokumente, die einen Putschversuch der Nationalsozialisten offenlegten.44 Die Bundesländer, darunter vor allem Bayern und Preußen, erhöhten ihren Druck auf die Reichsregierung, bis Brüning und Groener sich bei Hindenburg dafür einsetzten, dass dieser am 13. April 1932 die Notverordnung zur Sicherung der Staatsautorität unterzeichnete, die ein Verbot der SA und der SS vorsah.45 Dieses Verbot löste einen Sturm der Entrüstung gegen Hindenburg und dann gegen das Kabinett Brüning aus, der auf diese Weise die Unterstützung Hindenburgs verlor. Am 13. Mai 1932 gab Groener seinen Rücktritt als Reichswehrminister bekannt.46 Die Franzosen waren im Allgemeinen schlecht über Hitler informiert. Zum Teil rührte das daher, dass Hitler zwischen 1930 und 1932 in der Presse als lächerliche Figur dargestellt wurde, als eine schlechte Kopie Mussolinis und als Agitator ohne weitere Bedeutung für das politische Leben, dessen Schlüsselrolle in der nationalsozialistischen Bewegung zudem weitgehend unterschätzt wurde.47

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Vgl. Neumann: Parteien, S. 47f. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 139. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 397. Im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs zu Hitler spiegelten sich diese Fehleinschätzungen mehrfach wider. So sagte der Wiener Literat Karl Kraus (1874–1936) beispielsweise: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Zitiert von Bracher: Demokratie und Machtergreifung, S. 23. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 398. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 139. Vgl. hierzu Hömig: Brüning (I), S. 435ff. Vgl. Mannes: ebd., S. 140f. Ebd., S. 142. Vgl. hierzu Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, s. 62ff.

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1. Brüning in der Vorstellungswelt der universitären und politisch-kulturellen Kreise Bewahrt Brüning das demokratische und parlamentarische Regierungssystem in Deutschland, kehrt er zum Kaiserreich zurück oder bereitet er eine Diktatur vor? Welche Position bezieht das deutsche Volk: Ist es ausreichend demokratisiert oder trauert es noch immer der Monarchie nach? Welche Rolle spielt Hitler für Brüning? Solche und ähnliche Fragen beschäftigten die universitären und politischkulturellen Kreise in Frankreich. Man versuchte Brüning in dem politischen Gesamtbild, das man vom Nachbarland hatte, einzuordnen – auch hier trübte die spezifische Wahrnehmung der Deutschen immer wieder die verschiedenen Eindrücke. Zunächst soll hier aber die Rede vom politischen Klima in Frankreich sein, in dem sich die intellektuellen Diskussionen zu Deutschland abspielten. Auf der Ebene der offiziösen bilateralen Kulturbeziehungen veranschaulichen die verschiedenen Aktivitäten der Ligue des Droits de l’Homme das besondere Interesse der französischen Pazifisten für die politische Situation in Deutschland Anfang der 1930er Jahre. Außerhalb der üblichen Themenfelder der Ligue, wie das Verfassen von Anträgen in Kriegszeiten, die Rechte von Ausländern, Verteidigung öffentlicher Freiheiten, juristische Geschäfte, die Rechte von Militärangehörigen und die verwaltungstechnischen und privaten Anfragen, organisierten die Mitglieder und Verantwortlichen Begegnungen, Konferenzen und Demonstrationen zu Fragen der Abrüstung, des Pazifismus und des Antifaschismus, zu denen in den französischen Zeitungen öffentlich eingeladen wurde. Deutschland war dabei logischerweise ein wichtiges Thema.48 Mit Unterstützung des Comité Français des Amitiés Internationales, La Paix par le Droit, der Association des Femmes pour la Société des Nations, der Fédération des Jeunesses Laïques et Républicaines, La Jeune République und dem Syndicat des Instituteurs organisierte die Liga für Menschenrechte beispielsweise am 16. April 1931 eine Konferenz zum „Faschismus in Deutschland“.49 Zu dieser Veranstaltung lud man die deutsche sozialdemokratische Abgeordnete und Mitglied des Bund Neues Vaterland, Adele Schreiber-Krüger, ein, um sich einen objektiveren Eindruck von der Lage der Demokratie in Deutschland zu verschaffen, vor allem was die Folgen der Septemberwahlen von 1930 für die Zukunft des Landes betraf. Die Deutsche kommentierte und erklärte das nationalsozialistische Wahl- und Parteiprogramm und versuchte die Mittel zu erklären, die es Hitler möglich gemacht hatten, einen so bedeuteten

48 Vgl. BDIC, Archives de la Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, F Delta Res 798, Kartons 40–44: Réunions publiques (1924–1939), Dokumente 1–4. 49 Vgl. BDIC, Archives de la Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, F Delta Res 798, Karton 41: Réunions publiques (1924–1939).

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Wahlerfolg zu erringen.50 Weitaus interessanter als der thematische Inhalt dieser Vortragsreihen war die explosive Kraft dieser öffentlichen Veranstaltungen. Immer wieder gab es nämlich Beschwerden von Seiten der Ligue des Droits de l’Homme, deren Mitglieder sich darüber beklagten, dass die Veranstaltungen, die Deutschland zum Thema hatten, regelmäßig von Schlägertruppen der französischen Rechtsextremen heimgesucht wurden.51 Diskussionen über die Probleme Deutschlands, die das Ziel einer echten Verständigung vor Augen hatten waren – auch noch nach der Zeit der Annäherung zwischen beiden Ländern unter Briand und Stresemann – keine selbstverständliche Angelegenheit in der französischen Gesellschaft, deren Vorstellungswelt(en) noch immer nachhaltig von der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und vom Bild der Erbfeinde geprägt waren. Dies sollte auch bei den nachfolgenden Beschreibungen der Debatten im wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und politisch-kulturellen Umfeld nicht übersehen werden. 1.1 Brüning, eine schwache Stabilitätsgarantie in einer unvollendeten Demokratie Die Rolle Brünings in der deutschen Demokratie beherrschte die meisten Publikationen in ganz verschiedenen universitären Fachbereichen. In diesen Arbeiten waren die Fragen, die sich mit Brüning als Wirtschaftsfachmann, Demokrat, Nationalist und Katholik beschäftigten, eng verknüpft; deshalb werde ich hier immer wieder auf folgende oder vorausgegangene Kapitel Bezug nehmen. Edmond Vermeil, Germanist an der Universität Straßburg, war der Meinung, dass die Franzosen aufhören sollten, Vergleiche zwischen dem französischen und dem deutschen demokratischen System anzustellen. Er widmete sich direkt der schwierigen Analyse der Probleme, denen sich Brüning zu stellen hatte: „Im Mai 1930 nahm ich an den Konferenzen des Deutsch-Französischen Komitees in Heidelberg teil. Als einer von uns die französische Innenpolitik feinsinnig und sehr richtig erläuterte, hat man ihm applaudiert , aber es gab keine Diskussion mehr. […] Als aber ein Deutscher aufstand und die Lage in seinem Land zum Zeitpunkt der Brüning-Krise beschrieb, also vor den Wahlen, und zu dem Zeitpunkt, als die Nationalsozialisten eine hitzige Propaganda betrieben und Erfolge feierten, da sahen wir uns auf einmal so komplexen und vielschichtigen Problemen gegenüber, dass es noch mehrerer Sitzungen bedurfte, um sie zu diskutieren.“52 50 Nur 5% der Archive der Liue française des droits de l’homme in der BDIC behandeln die Zeit von 1919 bis 1934. Es ist daher nicht möglich festzustellen, wie oft derartige Versammlungen stattfanden. 51 Vgl. BDIC: Archives de la Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen. F Delta Res 798, Karton 43: Réunions publiques 1924–1939, Dokumente 2–3; Carton 44: Réunions publiques 1924–1939, Dokumente 1–5. 52 Übersetzung des Zitats „J’assistais, en mai 1930, à Heidelberg, aux séances du Comité Franco–Allemand. Quand l’un d’entre nous a exposé la politique intérieure de la France en termes élégants et parfaits, tout le monde l’a applaudi, mais il n’y a pas eu de discussion. […] Mais

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Deutschland sei durch eine Vielfalt von Problemen geschwächt, die geschichtlich tief verwurzelt und ein inhärenter Teil seines politischen Systems seien. So glaubte Vermeil, dass Deutschland schon seit dem Mittelalter darunter zu leiden hatte, dass das Land „immer unorganisiert ist, weil es sich zu gut organisiert“.53 Vermeil erklärte auf diese Weise die Existenz anti-demokratischer Gruppen, die gut organisiert einen unbezwingbaren Widerstand gegen die Regierung bildeten.54 Außerdem warf er den Deutschen Mangel an politischem Bewusstsein und nationalem Interesse vor, den er auf die Abwesenheit einer politischen Zentralisierung zurückführt: „Deutschland hat sich noch nicht von den Rahmenbedingungen befreit, die sein Territorialismus vorgezeichnet hat. Es ist noch nicht von seiner Krankheit geheilt, die man politische Teilnahmslosigkeit nennt und die darin besteht, dass man nach quasi alter Tradition das Gemeinwohl Führungspersonen überlässt, die von niemandem kontrolliert werden.“55 Um sich von dieser Last zu befreien, sei aber die Zeit seit 1919 zu kurz gewesen, fügt er hinzu. Die aktuelle Geschichte der Deutschen ist für Vermeil eine tragische, die 1815 begann und nun in die Regierung Brüning mündet.56 Das Fehlen überzeugender demokratischer Symbole und die unüberschaubaren verwaltungstechnischen, sozialen und parlamentarischen Probleme im deutschen Staat von 193157 führen ihn zu der Schlussfolgerung, dass das Deutschland Brünings noch immer „ein politisch unvollendetes Land“ sei, in dem die Republik „niemanden begeistert“58 und dem es an einer „rationalen Politik“ und einem „tiefen und gemäßigten Patriotismus“ fehle.59 Aus diesem politischen und mentalen Ungleichgewicht könne eine Handvoll Demagogen wie Hitler, Goebbels und andere „ihre Erfolge speisen, indem sie die politische Unzufrie-

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quand un Allemand s’est levé pour nous décrire la situation de son pays, au moment de la crise Brüning et avant les élections, au moment où les national–socialistes faisaient une propagande ardente et gagnaient du terrain, nous nous sommes trouvés tout de suite devant des problèmes si complexes et si multiples, qu’il eût fallu des séances et des séances encore pour les discuter“. Konferenz in Paris am 19/01/1931 im Centre Européen de la Dotation Carnegie. In: Vermeil: L’Allemagne et les Démocraties occidentales. Les conditions générales des relations franco–allemandes. Paris 1931, S. 41. Gefunden in den Archiven des CADN, Fonds d’administration centrale, Serie über den Service des Œuvres françaises à l’étranger, Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands. Übersetzung des Zitats „est toujours désorganisée parce qu’elle s’organise trop bien“. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 26f. Übersetzung des Zitats „En fait, l’Allemagne n’est pas encore sortie des cadres que ce territorialisme lui a tracés. Elle ne s’est pas guérie de la maladie politique qui est la sienne et qui s’appelle l’indifférence politique, basée sur ce fait qu’on confie, par une sorte de tradition acquise, la chose publique à des dirigeants que personne ne contrôle“. Ebd., S; 32f. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 42ff. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 49.

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denheit und die Not der Massen ausnutzen“.60 „L’angoisse du lendemain – Die Angst vor dem morgen“ regiere in einem Deutschland, das sein Gleichgewicht nicht wiedergefunden habe, schließt Vermeil.61 Jacques-Richard Grein nähert sich diesem Urteil an, wenn er das neue demokratische System in Deutschland als „abstrakt“ bezeichnet und es deshalb für wenig geeignet hält, die Deutschen zu begeistern.62 Dem Juristen Bernard Lavergne erscheint Deutschland ebenfalls als eine wankende Nation, die eine tiefe politische, wirtschaftliche, intellektuelle und moralische Krise durchlebt. Er richtete sich allerdings gegen die üblichen Vorwürfe der Franzosen, wonach die Deutschen revanchistisch seien und eine Kriegsgefahr darstellen würden, indem er den Unterschied zwischen den französischen Beschreibungen Deutschlands, nicht nur vom französischen Territorium aus, sondern auch anhand seiner eigenen Erlebnisse in Deutschland deutlich machte.63 Nach seiner Ansicht habe Deutschland noch immer keine Regierungsart gefunden, die seine Bevölkerung zufrieden stelle, und sei zudem durch eine „verzwickte Teilung der Deutschen in besonders heftig verfeindete Parteien“ gekennzeichnet, die ein politisches Chaos verursachten, aus dem nur „sehr selten die Idee einer Gemeinschaft und ein Gefühl für das Allgemeinwohl entsteht“.64 Er stimmt hier der Einschätzung Vermeils zu und geht sogar noch weiter, indem er das Bild des deutschen Herdentriebs und des schlaffen deutschen Charakters erweitert, das seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in der französischen Literatur auftaucht: „Obwohl der Deutsche sich gegenüber seiner Partei sehr diszipliniert verhält, weil er für gewöhnlich über keine starke, individuelle Persönlichkeit verfügt, ist der heutige Deutsche gegenüber seinem Staat sehr undiszipliniert. Abgesehen von starken Persönlichkeiten spürt und denkt der Deutsche nicht selbst, sondern nur als Teil eines Ganzen und durch die Gruppe, zu der er gehört.“65 Im Herzen dieser aus Schafen bestehenden Gesellschaft stehend, wird Brüning als eine machtlose Persönlichkeit beschrieben, die unfähig sei, ihren Willen durchzusetzen: „Was bleibt dem armen Reichskanzler anderes übrig, als zu handeln oder sogar zu betrügen, um die Stimmen jeder Gruppierung zu bezahlen, das heißt, mit möglichst geringen politischen Konzessionen zu ergattern? Normalerweise kann man in Deutschland nur regieren, indem man Gruppierungen kauft, im politischen Sinne des Wortes, aber wie soll man das bewerkstelligen, wenn die Forderungen der Partei-

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Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., 41. Vgl. grein: Ordre et desordre, S. 127. Vgl. Lavergne: Esquisse des probèmes franco–allemandes, S. 15f. Vgl. ebd., S. 18. Übersetzung des Zitats „Très discipliné à l’endroit de son parti parce que n’ayant pas d’habitude une forte personnalité individuelle, l’Allemand actuel est indiscipliné par rapport à l’Etat. A l’exception des fortes individualités, l’Allemand sent et pense non par lui–même, mais seulement en corps, par le moyen du groupement auquel il appartient“. Ebd., S. 18f.

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en überzogen sind und sich diametral gegenüberstehen?“66 Lavergne kritisiert anschließend die mangelnde Flexibilität der Wähler und den Einfluss der Parteien auf die Gesellschaft, wie sie sich beispielsweise bei der Stellenvergabe in der öffentlichen Verwaltung oder an den Universitäten offenbare, die häufig von einer Mitgliedschaft in der Zentrumspartei oder in der SPD abhänge. Das begünstige die Rekrutierung von nicht qualifizierten und korrumpierbaren Kandidaten, was wiederum die Republik schwäche.67 Lavergne befürchtet eine mögliche Restaurierung der Monarchie oder eine Diktatur in Deutschland, das wenig demokratisiert sei und schon jetzt die „legale Diktatur“ Brünings68 erlebe, der allerdings das letzte Bollwerk vor dem Schlimmsten sei: „Zurzeit wird Deutschland passabel, oder anders gesagt, so gut wie es unter diesen Umständen möglich ist, durch die Diktatur […] von Reichspräsident Hindenburg und Reichskanzler Brüning, die eng zusammenarbeiten, regiert. Die Zusammenarbeit dieser beiden Männer – der eine, Reichspräsident, mittelmäßiger Politiker, aber pflichtgetreu und entschlossen, der zweite, ein tatkräftiger und gewandter Mensch mit hohen moralischen Ansprüchen, ’der beste Kanzler, den wir seit Bismarck hatten’, sagen die Deutschen und fügen manchmal noch hinzu: ’Aber das ist noch zu wenig gesagt, denn seit dem eisernen Kanzler!…’ – diese glückliche Zusammenarbeit allein bewahrt Deutschland vor Chaos und Abenteuern.“69 Aber Lavergne honoriert nicht nur „diese katholische und recht reaktionäre Regierung“,70 sondern auch die Haltung der SPD, die „Europa und Deutschland vor dem schlimmen Durcheinander bewahrt hat, das der Machtantritt der ’hitlériens’ auslösen würde.“71 Und doch lässt er es sich nicht nehmen, noch einmal den fehlenden Rebellionswillen „à la française“ sogar bei den republikanisch gesinnten Deutschen zu unterstreichen, wovon allerdings die Regierung Brüning profitieren würde: „Man darf nicht verhehlen, dass die französischen Massen unter einer solchen Regierungsform schon längst zur Revolution übergegangen wären. Die Regierung des Deutschen Reichs müsste eigentlich der großen Zahl der Fabrikarbeiter ob ihrer Passivität und ihrer Trägheit sehr dankbar 66 Übersetzung des Zitats „Que peut le malheureux chancelier du Reich, sinon marchander toujours, maquignonner même, cherchant à payer au plus bas, c’est–à–dire par la concession politique le moindre possible, les voix de chaque groupe ? En règle générale, on ne gouverne en Allemagne qu’en achetant, au sens politique du mot, les groupes, mais comment y parvenir quand les prétentions des partis sont trop grandes et souvent diamétralement contraires ?“. Ebd., S. 19. 67 Ebd., S. 21f. 68 Vgl. ebd., S. 23. 69 Übersetzung des Zitats „Pour l’instant, le Reich est gouverné passablement bien, ou le moins mal possible, par la dictature […] du président Hindenburg et du chancelier Brüning, étroitement associés. La conjonction de ces deux hommes, l’un, le président, médiocre politique, mais loyal et ferme, le second, homme énergique et adroit, de haute valeur morale, – „le meilleur chancelier que nous ayons eu depuis Bismarck“, disent les Allemands, non sans ajouter parfois: „Mais ce n’est pas dire assez, car depuis le chancelier de fer !... – cette association providentielle préserve seule l’Allemagne du chaos et des aventures“. Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd.

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sein.“72 Der politische Wind könnte allerdings schnell drehen, warnt Lavergne, wenn es den Kommunisten gelänge, aufgrund der moralischen und intellektuellen Verzweiflung im Land Unterstützung zu gewinnen, und wenn die deutsche Polizei von den vereinten Einflüssen von Kommunisten und „hitlériens“ unterwandert würde.73 Eine verunsicherte Gesellschaft, der man ihre traditionelle politische Orientierung genommen habe und die politischen Rivalitäten und einer mittelmäßigen Verwaltung ausgesetzt sei, die nicht das Allgemeinwohl zum Ziel hätten, und die nicht zuletzt infolge der Inflation ihren Mittelstand verloren habe und durch die Instabilität der aktuellen Regierung weiter verunsichert sei, würde den Versprechungen der politischen Extremisten immer weniger widerstehen.74 Die deutsche Bevölkerung sei ganz entschieden undemokratisch, was die Regierungsform Brünings belege, dessen Kampf zur Rettung der Republik als ein Kampf gegen Windmühlen enden könne. Die Deutschen litten noch immer unter der Last des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen, schließt Lavergne ab: „Dieses Volk ist nicht mehr monarchistisch, aber es ist auch noch nicht republikanisch gesinnt und es wird auch gewiss noch viel Mühe damit haben, wirklich demokratisch zu werden. Durch die Niederlage entmutigt, dann durch die Revolution, die Inflation, und nun durch die derzeitige tiefe Krise ist das deutsche Volk seit 1918 von der einen in die nächste Krise geraten, ohne jemals in ein gewisses Gleichgewicht zu kommen und auf seinem Weg gleich einem Schlafwandler auf alle nur möglichen Unebenheiten gestoßen. Deutschland ist eine Nation, für die der Krieg und dessen schlimme Folgen noch nicht ausgestanden sind.“75 Trotz seiner „bewundernswerten Energie“76 sei Brüning ohne ausländische Hilfe mit dem „kranken Mann“,77 das sein Land sei, überfordert.

72 Übersetzung des Zitats „Il n’y a pas à se dissimuler que, soumises à pareil régime, les masses françaises seraient depuis longtemps passée à la révolution. Aussi le gouvernement du Reich ne saurait être trop reconnaissant aux masses ouvrières allemandes de leur passivité, de leur indolence relative“. Ebd., S. 32. 73 Vgl. ebd., S. 33f. 74 Vgl. ebd., S. 35. 75 Übersetzung des Zitats „Ce peuple n’est plus monarchiste, mais il n’est pas encore républicain et assurément il aura beaucoup de peine à le devenir vraiment. Démoralisé par la défaite, par la révolution, par l’inflation monétaire, enfin par la crise actuelle si exceptionnellement dure, le peuple allemand, loin de trouver un équilibre nouveau, est allé de crise en crise depuis 1918, butant à toutes les aspérités de la route comme ferait un somnambule. L’Allemagne est une nation pour qui la guerre et son cortège de misères ne sont pas finis“. Ebd., S. 16. 76 Vgl. ebd., S. 17. 77 Das deutsche Volk könne „mit einem kranken Mann verglichen werden, der sich in einem verzweifelten Moment auf die Straße lege und auf fremde Hilfe warte“. Vgl. ebd.

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1.2 Brüning, hinsichtlich der Extremisten wenig vertrauenswürdig Der kommunistische Publizist Gabriel Roger entwarf wie der Genossenschaftler Lavergne ein beunruhigendes Bild von Deutschland unter der Regierung Brüning. Auch bei ihm zeichnen sich die Deutschen durch einen Herdentrieb aus. Sie seien nicht etwa auf der Suche nach einer bestimmten Regierungsform, sondern propagierten direkt einen politischen Willen, der tendenziell extremistisch sei. Seit 1871 bemerkt er in Deutschland „ein kontinuierliches Absinken der bürgerlichen Parteien unter dem sozialistischen, kommunistischen und ’hitlerischen‚ Druck“, wobei letzterer von etwas gekennzeichnet sei, das der Autor als „mystisch“ bezeichnet.78 Diese „Mystik“ sei eine Art Flucht nach vorn, aus einem Zustand der Trunkenheit eines Volkes, dass sich nicht mehr zurechtfindet: „Es handelt sich bei dem Aufstieg des Extremismus nicht um eine vorübergehende Entwicklung oder eine Krise ohne Zukunft, sondern um ein mindestens 50 Jahre altes Streben eines unsteten, unzufriedenen und nach geistiger Nahrung gierenden Volkes, das in seiner angespannten Lage vergessen hat, dass man von Brot lebt, und sich stattdessen gleich auf den Alkohol stürzt.“79 Die Mehrheit der Deutschen ist aus der Sicht Rogers anti-demokratisch und anti-republikanisch: „Sieben von zehn Deutschen sind gegen den Parlamentarismus, gegen die Staatsform, gegen die gesetzliche Ordnung; dass sie ihre Überlegenheit noch nicht umsetzen konnten, liegt ausschließlich daran, dass sie sich nicht einig sind.“80 Die Zersplitterung der Parteienlandschaft, bei Lavergne eine der Ursachen für die mangelnde Stabilität der Demokratie und der Regierung Brüning, verhindert bei Roger den Umsturz der Republik. Die Hauptgefahr für die Demokratie sieht Roger in Hitler, der die Not der Bevölkerung ausnutze und dessen Erfolg nur eine Persönlichkeit wie Stresemann hätte abbremsen können. Da er nun aber nicht mehr da sei, „bleibt die Bühne in Deutschland leer, während aus den Kulissen befremdliche Gerüchte über Arbeitslosigkeit, Elend und über eine Revolution dringen … Die Chancen Hitlers steigen sicherlich auch deshalb so sehr, weil sein schwerer Alkohol für die deutschen Ängste ein gefährlicher Nährboden ist, aber vor allem, weil er sein Anhänger akribisch vorbereitet hat“.81 Roger zieht einen überraschenden Vergleich, um die

78 Vgl. Roger: Hitler, l’homme qui vient, S. 12ff. 79 Übersetzung des Zitats „Il ne s’agit […] pas, dans la montée extrémiste, d’une poussée passagère ou d’une crise sans lendemain, mais bien de l’aspiration mi–séculaire, d’un peuple désaxé, insatisfait, avide d’aliment spirituel et qui, dans un état aigu, oublie qu’on vit de pain pour se jeter sur l’alcool“. Ebd., S. 16. 80 Übersetzung des Zitats „Sept Allemands sur dix sont les adversaires du Parlement, du régime, de la légalité, et s’ils n’ont pas d’ores et déjà établi leur suprématie de fait, cela tient uniquement à ce qu’ils sont divisés“. Ebd., S. 18f. 81 Übersetzung des Zitats „la scène allemande reste vide, pendant que monte de la coulisse une étrange rumeur, rumeur de chômage, de misère, de révolution… la chance de Hitler monte aussi verticalement, sans doute parce que son gros alcool verse un dangereux aliment à l’angoisse allemande, mais surtout parce [qu’il] a tenacement préparé ses adhérents“. Ebd., S. 41f.

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Organisation und den Erfolg der Nationalsozialisten zu erklären – er sieht Parallelen zum Dschihad: „Wenn man in der Weltgeschichte einen vergleichbaren Begriff zur Hitler’schen Bewegung suchen müsste, so würde man nichts Besseres finden als den heiligen Krieg des Gläubigen gegen den Ungläubigen, den Dschihad. Es gibt nämlich zwischen der Religion Mohammeds und der Mystik Hitlers eine Ähnlichkeit, die nicht nur oberflächlich ist und die dadurch auch den anscheinend unbegreiflichen Erfolg beider zu erklären vermag.“82 Die Gemeinsamkeiten bei den Anhängern des muslimischen Heiligen Krieges und des Nationalsozialismus sind für ihn die totalitäre Doktrin, die „Liebe zu ihrer Rasse“, ihr Enthusiasmus, ihr Mut, ihre Opferbereitschaft, ihr Hass, ihr Wunsch nach Rache, ihre Gewaltbereitschaft und der Tod – ein Elixir, dem sich die Anhänger beider Bewegungen mit einer Leidenschaft hingäben, wie es sonst bei einer Religion der Fall sei.83 Die Regierung Brüning zeige sich angesichts dieser anwachsenden Welle gefährlicher Mystik als wenig vertrauenswürdig, weil „die Politiker des Zentrums in großer Zahl bereit seien, mit Brüning zusammenzuarbeiten, entweder aus versteckter Sympathie oder aufgrund der Anwendung der Regel vom “kleineren Übel“.84 Für Roger ist Brüning nicht der Vertreter einer Diktatur, wohl aber eines sehr autoritären Staates, der aufgrund mangelnden persönlichen Elans und politischer Anstrengung nicht vor einer Kooperation mit der NSDAP zurückschrecken würde: Die Präferenzen von Brüning und Kaas „gehen in Richtung einer autoritären, einer sehr autoritären Republik und der Kanzler Brüning hat ohne Anstrengung angesichts des abwesenden Parlaments und gestützt durch den Feldmarschall Hindenburg mit Hilfe von Notverordnungen regiert. Es würde ihm wenig ausmachen, mit Anhängern Hitlers in einem Ministerium zusammenzuarbeiten.“85 Allerdings habe Brüning, der selbst als „überaus hellsichtig“ und „realistisch“ bezeichnet wird,86 nicht die Absicht, an der Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur teilzunehmen, sondern die Macht der Rechtsextremisten durch „eine vorsichtige und progressive Ausrichtung der Zentrumspartei nach rechts“ zu neutralisieren. Dies sei allerdings eine gut überlegte, aber gefährliche Strategie: „Die Politik Brünings kann man in zwei Phasen einteilen: erstens, Hitler aufzuhalten und seinen Erfolg zu bremsen, vor allem, wenn möglich, ihn von ei-

82 Übersetzung des Zitats „S’il fallait chercher dans l’histoire universelle un terme de comparaison avec le mouvement hitlérien, on n’en trouverait pas de meilleur que la guerre sainte du croyant contre l’infidèle, le Djehad. C’est qu’il y a entre la religion de Mahomet et la mystique de Hitler une ressemblance qui n’est pas de surface et qui explique par les mêmes raisons essentielles le succès, en apparence incompréhensible, de celle–ci et de celle–là“. Ebd., S. 47. 83 Vgl. ebd., S. 48. 84 Vgl. ebd., S. 106. 85 Übersetzung des Zitats „vont à une forme de république autoritaire, très autoritaire, et c’est […] sans aucun effort que le chancelier Brüning a gouverné en l’absence du parlement, appuyé sur le maréchal Hindenburg et à coups de décrets–lois. Il ne souffrirait pas tant que cela à se trouver dans le même ministère que certains hitlériens“. Ebd., S. 159f. 86 Vgl. ebd., S. 162.

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ner revolutionären in eine von Wahlen abhängige Politik zu drängen; – zweitens, wenn Hitler einen schlechten, aber engagierten Sieg errungen haben sollte, einen Kompromiss auf gefährlichem Terrain zu finden, die Macht mit ihm zu teilen und ihn geschickt abzunutzen“.87 Die Erfolgsaussichten einer solchen Strategie seien aber sehr begrenzt und würden darüber hinaus durch eine drohende kommunistische Revolution zunichte gemacht, die dann auch den Niedergang Hitlers nach sich zöge. Deutschland „ernte nur, was es gesät habe“,88 lautet das abschließende Urteil Rogers. „Dieses Land, dieses große Land, zahlt seit 14 Jahren die Strafe für seinen langsamen, geistigen Niedergang, weil es seit 100 Jahren zu sehr auf die Doktoren der Gewalt, des Hochmuts und der Selbstverherrlichung gehört hat und weil es die ehrenwertesten Tugenden wie Bescheidenheit, Mäßigung, Weisheit und Vernunft als Makel und Mängel schwacher Völker behandelte, hat Deutschland angefangen, nicht nur in seinem Wesen, sondern auch in seinen Taten nicht mehr bei Trost zu sein.“89 Brüning erscheint letztendlich nur als eine schutz- und machtlose Figur in diesem Prozess geistigen Rückzugs der deutschen Bevölkerung. Der Reisebericht des amerikanischen Journalisten Knickerboker bestätigte – anlässlich der Wahlen in Preußen im April 1932 – den Eindruck Rogers, dass „eine beachtliche Mehrheit der Deutschen gegen die republikanische Staatsform ist“.90 Knickerbocker machte außerdem deutlich, dass sich die Regierung Brüning bereits in einer politischen Sackgasse befinde: „Die derzeitigen Machthaber des Reichs und Preußens können sich in dieser Lage gezwungen sehen, im Namen der Republik zu entscheiden, dass es besser wäre, wenn die Demokraten selbst eine Diktatur errichten, als die Regierungsgewalt einer faschistischen Diktatur zu überlassen, die schon in aller Öffentlichkeit ankündigt, jene nicht mehr preiszugeben.“91 Ganz gleich, wie Brüning sich entscheide und was er auch unternehme, die politische Situation werde sich verschlimmern und die Republik weiter geschwächt. Das war der leitende Gedanke im Bericht Knickerbockers, der glaub87 Übersetzung des Zitats „La politique de Brüning fut en effet une politique à deux temps: premier temps, retarder et gêner la victoire de Hitler, et surtout, si possible, la faire glisser du terrain révolutionnaire sur le terrain électoral; – deuxième temps, une fois Hitler vainqueur, mais vainqueur d’une mauvaise victoire, mais engagé, mais compromis sur un terrain dangereux, partager le pouvoir avec lui, et alors l’y user savamment“.Ebd., S. 162f. 88 Vgl. ebd., S. 186. 89 Übersetzung des Zitats „Ce pays, ce grand pays, paye depuis quatorze ans la punition de sa longue démission spirituelle. Pour avoir trop écouté depuis cent ans les docteurs de la force, de l’orgueil et de l’adoration de soi, pour avoir trop souvent traité les plus belles vertus: la modestie, la modération, la sagesse, la raison, comme autant de tares et de déficiences particulières aux peuples faibles, l’Allemagne s’est mise à divaguer, non seulement dans son esprit, mais dans ses actes“. Ebd. 90 Vgl. Knickerbocker: Allemagne, S. IX. 91 Übersetzung des Zitats „Les maîtres actuels du Reich et de la Prusse peuvent se voir obligés, au nom de la République, de juger qu’il vaut mieux que les démocrates établissent eux– mêmes une dictature plutôt qu’abandonner le pouvoir à une dictature fasciste qui annonce publiquement qu’elle ne le rendra plus“. Ebd., S. X.

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te, die Macht und die demokratische Widerstandskraft Brünings werde sich unter dem Druck Hitlers und der Erwartungshaltung der Bevölkerung abnutzen: „Hitler übt Druck auf Brüning aus. Die Jugend übt Druck auf Hitler aus.“92 1.3 Brüning, ein jämmerlicher Republikaner auf dem Weg zu einer Diktatur Maurice Pernot reiste mit demselben Ziel nach Deutschland wie Lavergne: Er wollte an Ort und Stelle die politische Lage und die Stabilität der Demokratie überprüfen. So beschrieb er die tumultartigen Sitzungen im deutschen Reichstag, in denen Brünings Position mehr als prekär erschien, weil er nicht unterstützt wurde, nicht weil er es vermocht hatte, die Abgeordneten von seinem politischen Programm zu überzeugen, sondern weil Parteien wie die SPD Hitler den Weg nach oben versperren wollten: „Erfolg? Man kann Herrn Brünings Vorgehen kaum als Erfolg bezeichnen, durch das er der Opposition vorübergehend einige Partien entrissen hat, die sich aber weniger für das Kabinett entschieden als gegen dessen Gegner.“93 Immerhin war Pernot bereit, Brüning im Oktober 1930 eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit angesichts der Herausforderungen seiner Gegner zu attestieren: „Die entschlossene Reaktion des Regierungschefs auf die heftigen gegen ihn gerichteten Angriffe der Rechten und der extremen Rechten in der letzten Sitzung haben Brünings Autorität deutlich gestärkt. […] Aber war das derselbe Mann, den wir vor fünf Tagen steif an diesem Rednerpult stehen sahen und mit monotoner Stimme und reglos eine genauso farblose wie wenig gewandte Erklärung vorlas? Selbst seine Freunde erkannten ihn nicht wieder.“94 Diese neue energische Haltung Brünings erwies sich aber aus der Sicht Pernots als wenig wirkungsvoll. Wie die Mehrheit der französischen Fachautoren Anfang der 1930er Jahre, so beschreibt auch Pernot die politische Szene in Deutschland als eine Bühne egoistischer Spiele von Parteien und Ländern, die die großen nationalen Interessen vergessen zu haben scheinen. Um seine politischen Ziele in diesem verzweifelten politischen Klima trotzdem durchzusetzen, begünstige Brüning durch seine „Vorreiter-Politik der Diktatur“ das Verschwinden des Parlaments,95

92 Übersetzung des Zitats „Hitler exerce une pression sur Brüning. La jeunesse exerce une pression sur Hitler“. Vgl. ebd., S. 230. 93 Übersetzung des Zitats „Victoire ? On ne peut guère appeler victoire l’opération par laquelle M. Brüning a détaché provisoirement de l’opposition quelques partis qui se sont déclarés bien moins pour le cabinet que contre ses adversaires“. Pernot: L’Allemagne de Hitler, S. 32. 94 Übersetzung des Zitats „L’attitude énergique prise par le chef du gouvernement en face des attaques violentes dirigées contre lui par la droite et l’extrême droite, lors de la dernière séance, a valu à Brüning un surcroît d’autorité assez opportun. […] Etait–ce bien le même homme que nous avions vu, il y a cinq jours, immobile à cette tribune, lisant d’une voix monotone, sans un geste, une déclaration aussi incolore qu’elle était habile ? Ses amis eux–mêmes ne le reconnaissaient pas“. Ebd., S. 33. 95 Das 3. Kapitel in Pernots Buch trägt die überschrift „m. Brüning, fourrier de la dictature“. Vgl. ebd., S. 84ff.

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was seine tiefe Hilflosigkeit wie auch eine gewisse Unehrlichkeit und Unverantwortlichkeit offenbare: „Der Kanzler stellt sich als Sieger einer verfassungsmäßigen Regierung dar: Alle seine Bestrebungen haben, wenn man ihm glaubt, zum Ziel, den extremen Parteien den Weg zur Diktatur zu versperren. Aber eigentlich bahnen sie ihr den Weg und dienen als Ausflucht. Die Regierung der Notverordnungen entzieht dem Reichstag seine Doppelfunktion aus Initiative und Kontrolle und legt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in die Hände von einigen wenigen verantwortungslosen Ministern.“96 Pernot vergleicht die schwindenden innenpolitischen Handlungsspielräume Brünings im August 1931 mit der Situation Célimènes im 5. Akt des Theaterstücks „Der Menschenfeind“ von Molière: „Plus on le presse de choisir [zwischen rechts und links], et plus il comprend qu’un choix catégorique serait dangereux.“97 Auch wenn Brüning persönlich der Rechten zuneige, könne er im nächsten Winter nicht gegen die Gewerkschaften regieren. Wenn er sich aber mit der Linken zusammenschließe, würde er die Deutschnationalen und Populisten Hitler in die Arme treiben.98 Aus diesen Gründen befinde sich Brüning in einer politischen Sackgasse. So bleibe nur eine einzige zentrale Frage übrig, nämlich, „herauszufinden, ob Herr Brüning noch hofft, die letzten Überreste einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland zu retten, oder ob er immer weiter vom Parlament Abstand nehmen will“.99 Pernot zweifelte nicht daran, dass es Brüning noch einmal gelänge, im Oktober 1931 eine Mehrheit zu bilden, aber diese Mehrheit sei dermaßen schwach und brüchig, dass sie es ihm nicht erlauben würde, viel damit anzufangen in einer Krise, in der politische Entscheidungen und Handlungen an allen Ecken und Enden der Republik dringend notwendig seien: „Der Reichstag wird weder die Zeit noch die Mittel haben, ernsthaft und überlegt zu handeln; andererseits will aber auch keine wichtige Fraktion die Verantwortung für die harten und wahrscheinlich unbeliebten Maßnahmen übernehmen, die die Regierung auch ohne deren Einverständnis unternommen hat. Und in diesem Punkt machen sich Herr Brüning und seine Kollegen auch keine Illusionen: Die meisten Reformen, die sie planen und die sie als notwendig erachten, sind von der Art, dass sie im Reichstag auch keine Mehrheit finden würden.“100 Zwischen den Zeilen lässt Pernot durchblicken, dass die Deut-

96 Übersetzung des Zitats „Le chancelier se pose en champion du gouvernement constitutionnel; tous ses efforts, à l’en croire, ont pour but de barrer le chemin à la dictature des partis extrêmes. En fait, ils lui ouvrent le chemin et lui ménagent des excuses; le régime des décrets– lois soustrait le Reichstag à sa double fonction d’initiative et de contrôle et remet la conduite des affaires publiques aux mains de quelques ministres irresponsables“. Ebd., S. 86. 97 Ebd., S. 93. 98 Vgl. ebd., S. 94. 99 Übersetzung des Zitats „de savoir si M. Brüning espère encore sauver en Allemagne les derniers vestiges d’une démocratie parlementaire, ou s’il compte au contraire s’éloigner de plus en plus du parlement“. Ebd. 100 Übersetzung des Zitats „Le Reichstag n’aura ni le temps ni les moyens de faire œuvre sérieuse et réfléchie; d’autre part, aucune fraction importante ne voudra endosser la responsabilité de mesures graves, et probablement impopulaires, que le gouvernement aurait prises sans son

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schen durch die vielen politischen Wahlmöglichkeiten in einer Demokratie überfordert seien. So könne die Weimarer Republik mangels überzeugter Anhänger der Republik nicht funktionieren. Um dies deutlicher zu veranschaulichen benutzte Pernot ein damals in Frankreich weit verbreitetes Bild – das Bild vom deutschen Gehorsam und von der deutschen Disziplin, der die Deutschen in diesem Fall daran hindere, eigenständige und je nach Person unterschiedliche demokratische Standpunkte zu vertreten: „Die einzige sichere Unterstützung, auf die Herr Brüning glaubt, sich verlassen zu können, ist die des Präsidenten und Feldmarschalls. Aber das besorgniserregendste der Hindernisse, auf das seine Bemühungen stoßen werden, ist dieser tiefe Graben zwischen den Parteien, der seit zwölf Jahren das Volk daran zu hindern scheint, seinem natürlichen Hang zu Disziplin und Ordnung zu folgen.“101 Die großen verwaltungstechnischen, wirtschafts- und finanzpolitischen Reformen Brünings könnten nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn es Brüning gelänge, die Zustimmung und die Mitarbeit aller Bürger zu erhalten, denen es allerdings – so zumindest lautet das Urteil Pernots – wie allen Parteien und Länderregierungen an einem ausgeprägten Verantwortungsgefühl hinsichtlich der großen nationalen Interessen fehle: „Es gibt eine strenge, anspruchsvolle und folgsam geachtete Parteidisziplin; aber es gibt keine nationale Disziplin.“102 „Dieses Gefühl kollektiver Verantwortung“ sei aber besonders wichtig für die Stabilität der deutschen Regierung und die Beständigkeit der internationalen Beziehungen, schlussfolgert Pernot nach der Auswertung seiner Gespräche mit vielen Deutschen, denn sie sei „die Voraussetzung für die Wiederherstellung des Vertrauens, entweder des Vertrauens in sie selbst oder des Vertrauen der anderen Staaten in die deutsche Nation“.103 In diesem Zusammenhang kritisierte Pernot den Reichskanzler heftig, weil er die Möglichkeiten besonders der Parteien, diese Verantwortung der jungen Republik gegenüber wahrzunehmen, drastisch eingeschränkt habe: „Herr Brüning beschwört nochmals alle Parteien und alle Abgeordneten des Reichstags sich ihrer Verantwortung zu stellen. Der Kanzler vergisst aber eine Sache: dass er, seit er regiert, die Funktion des Parlaments quasi ausgeschaltet hat.“104 Als Konsequenz daraus bereite Brüning Hitler

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aveu. Là–dessus, M. Brüning et ses collègues ne se font pas d’illusion: la plupart des réformes qu’ils projettent, et qu’ils tiennent pour nécessaires, sont de telle nature qu’ils ne trouvent pas au Reichstag une majorité pour les approuver“. Ebd., S. 95. Übersetzung des Zitats „Le seul appui solide sur lequel M. Brüning croit pouvoir compter, c’est celui du maréchal–président. Et le plus redoutable des obstacles auxquels vont se heurter ses efforts, c’est cette division profonde entre les partis, qui depuis douze ans semble empêcher le peuple allemand de suivre son penchant naturel à la discipline et l’obéissance“. Ebd., S. 109. Übersetzung des Zitats „Il y a une discipline de parti, sévère, exigeante et docilement acceptée; il n’y a pas de discipline nationale“. Ebd. Übersetzung des Zitats „à la base d’une restauration de la confiance, soit confiance en eux– mêmes, soit confiance des nations étrangères dans la nation allemande“. Ebd., S. 110. Übersetzung des Zitats „M. Brüning adjure une fois encore tous les partis, tous les membres de l’Assemblée d’Empire, de prendre leurs responsabilités. Le chancelier n’oublie qu’une

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ein einfaches Spiel. Die Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932, die gezeigt hätten, dass „sich in Deutschland noch eine Mehrheit vernünftiger Bürger gefunden hat, welche die Ordnung dem Chaos und den Respekt der Legalität der Anziehungskraft der Revolution vorziehen“,105 seien letztendlich nur ein trügerisches Intermezzo gewesen und keineswegs ein Hindernis für den Sturz der Brüningschen Regierung. Das politische Szenario in Deutschland nach dem Sturz der Regierung Brüning, vor allem die unermüdlichen Bemühungen Brünings und Hitlers im Juli 1932 Wähler für ihre Partei zu werben, veranlassen Pernot, den deutschen Militarismus wieder aus dem Hut der französischen Vorstellungswelt zu zaubern und zu unterstellen, dass dieser das Bindeglied zwischen allen Deutschen sei, ganz unabhängig von ihren politischen Weltanschauungen: „Hitler in GrunewaldStadion und Brüning im Sportpalast schienen im Berliner Volk eine unbeschreibliche Begeisterung entfachen zu können. Der katholische Kanzler schritt zum Klang patriotischer und religiöser Hymnen zum Rednerpult und der andere stolzierte zu Trommelwirbeln: Zwei Veranstaltungen, die nur aufgrund der militärischen Atmosphäre, die ihnen die Fanfaren, die Umzüge und die Uniformen verliehen, erwähnenswert sind. Ob sie Anhänger Hitlers, Kommunisten, Katholiken oder Sozialdemokraten sind, für alle Deutschen scheint es die größte Freude zu sein, sich wie Soldaten zu kleiden und im Gleichschritt zu marschieren, in Viererreihen mit Musik und Fahnen.“106 Immerhin kann Pernot noch einen Unterschied zwischen den beiden Politikern feststellen: So sei Brüning nach dem Sturz seiner Regierung zur Zielscheibe der Propaganda und des Hasses der Nationalsozialisten und Deutschnationalen geworden.107 Der Jurist Henry Delpech spricht nur von der „kaiserlichen Regierung“108 des Reichskanzlers Brüning, deren häufige Anwendung der Notverordnungen „ein Zeichen willkürlicher Machtausübung ist, mittels einer Diktatur nach dem Artikel 48 der Verfassung“,109 die allerdings keinen heftigen Widerstand verursache, was wiederum ein Zeichen für die allgemeine Angst sei, die im Land herrsche.110 Delpech gesteht allerdings Brüning zu, dass die außerordentliche Krise ihn zu „Ge-

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chose: c’est que depuis qu’il gouverne, il a réduit à rien la fonction parlementaire“. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 115. Übersetzung des Zitats „Hitler au Stadion de Grunewald, Brüning au Palais des Sports, ont paru susciter dans la foule berlinoise un enthousiasme indescriptible […]; le chancelier catholique marchant vers la tribune au son des hymnes patriotiques et religieux, comme l’autre paradait au roulement des tambours: deux spectacles […] remarquables seulement par l’allure militaire que leur prêtaient les fanfares, les cortèges et les uniformes. Qu’ils soient hitlériens ou communistes, catholiques ou socialistes, pour tous les Allemands la joie suprême paraît être de s’habiller en soldat et de marcher au pas, en colonne par quatre, derrière des musiques et des étendards“. Ebd., S. 136f. Vgl. ebd., S. 187f. Vgl. Delpech: Les aspects d’un fédéralisme financier, S. 156ff. Vgl. ebd., S. 164. Vgl. ebd., S. 166.

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waltstreichen zwinge“,111 obgleich die Vorgehensweise, vor allem was die staatlichen Eingriffe in die Wirtschafts- und Finanzwelt betreffe, durchaus sonderbar sei: „Es gab noch keinen Fall eines modernen Staats mit parlamentarischem System, der die Freiheit des Handels und der Industrie aufgab, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.“112 Victor de Marcé, Professor an der Ecole des Sciences politiques, sah in der Innenpolitik Brünings – vor allem was die Wirtschaft und Finanzen betraf – eine „Rückkehr zu der diktatorischen Vorgehensweise Bismarcks im Jahr 1862.“113 Er berief sich bei seinem Vergleich auf Aussagen deutscher Universitätsprofessoren und Philipp Scheidemanns und kritisierte zudem die Begrenzung der parlamentarischen Kontrolle und die Dominanz der Bürokratie, die „Vorrang vor dem Reichstag hat und diesen schikaniert“.114 Der französische Dozent ging sogar so weit, von einer „Verwaltungsdiktatur im Reich“ zu sprechen und die deutsche Reichswehr als „Staat im Staate“ zu bezeichnen.115 Michel Gorel nannte die Septemberwahlen von 1930 einen „ungeheuren Ausbruch aus der Realität“, denn „anstatt sich den Problemen zu stellen, anstatt die Ursachen für die Wirtschaftsflaute zu suchen und sie zu beseitigen, hatten die Wähler Zuflucht in einer Legende, einem Traum und Opium gesucht“.116 Dieses Fluchtverhalten hat in den Augen Gorels, der die deutsche Regierung „als letztes – illusorisches Bollwerk – gegen das Kommen des Faschismus“ bezeichnet, nichts Überraschendes, zumal inmitten eines machtlosen Reichstages („der sich nur zusammenfand, um die Verordnungen Brünings als Bürge zu unterschreiben und sich von den ’Nazis’ verhöhnen zu lassen“), der nur aus Feinden der Republik („Schiele, Treviranus und einige andere“) und drei republikanischen Ministern („Wirth im Innenministerium, der General Groener [...] für die Reichswehr, Dietrich im Finanzministerium“) zusammengesetzt war.117 Gorel nennt die zwei Jahre der Regierung Brüning „diese jämmerliche Republik ohne Republikaner“, die sich nur um den Theaterschwank einer Dreiecksbeziehung aus „Ehemann, Ehefrau und Liebhaber“ gedreht habe, also um Hugenberg (in der Rolle des Ehemanns), Schleicher (als Liebhaber) und Hitler (als Ehefrau).118 Dieser burleske Vergleich ist umso ausdrucksvoller, als Heinrich Brüning im Verlauf des Buchs als jemand

111 Vgl. ebd., S. 168. 112 Übersetzung des Zitats „Il n’était pas encore d’exemple qu’un Etat moderne, à régime parlementaire, ait sacrifié à ses nécessités les principes de la liberté du commerce et de l’industrie“. Ebd., S. 169. 113 Vgl. Marcé: Le contrôle des finances en France et à l’étranger, S. 6. 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. Gorel: Hitler sans masque, S. 181f. Da es ihnen Erklärungen für den Erfolg der Nationalsozialisten mangelte, benutzten viele französische Autoren der damaligen Zeit das Bild eines deutschen Volkes auf der Flucht in etwas „Mysthisches“, etwas wie „Opium“ oder einem Heiligen Krieg wie dem Djihad. 117 Vgl. ebd., S. 189f. 118 Vgl. ebd., S. 190.

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beschrieben wird, der abhängig von Schleicher sei, seinen Stil von ihm verpasst bekommen habe,119 von ihm ins Amt gesetzt120 und schließlich von ihm als „Witzfigur des Ministeriums“ auch wieder abgesetzt worden sei:121 Inmitten dieser Schmierenkomödianten „blieb Brüning übrig, dieses kahle und unauffällige Phantom der Weimarer Republik, dieser Mann ohne Augenbrauen und ohne Lippen, der dennoch immer auf Schleicher gehört hatte“.122 Brünings Macht sei letztendlich „in diesem Reichstagssumpf“123 immer fiktiv gewesen. Für viele Franzosen aus universitären und intellektuellen Kreisen war der Niedergang der bürgerlichen Parteien in der Weimarer Republik und der wachsende Erfolg der Nationalsozialisten ein Zeichen für den seit Jahrhunderten im deutschen Volk verwurzelten „Zustand der kollektiven Seele“, wonach die Deutschen nur kollektiv denken und handeln könnten. Meistens wurde dabei von den Nationalsozialisten als „Hitlériens“ gesprochen, einem Begriff, der deutlich macht, wie wenig sich die Mehrheit der Franzosen mit dem ideologischen Hintergrund der nationalsozialistischen Bewegung auseinandersetzte. Das traf auch auf Bernard Combes de Patris zu, einen Historiker, Juristen, Revue-Direktor, Schriftsteller und ehemaligen Studenten der Ecole des Sciences Politiques, der der politischen und literarischen Bewegung um Maurice Barrès und Charles Maurras nahe stand. Er war überzeugt, dass Hitler die „Inkarnation [...] eines kollektiven Seelenzustandes“ sei,124 in einem politischen System, das von seinem Vorbild Maurras aufs schärfste abgelehnt wurde: „Wenn die Demokratie es schafft, eine Zivilisation zu führen, dann tötet sie diese unweigerlich. Denn wenn die Demokratie an der Macht ist, bedeutet das, dass die führenden Elemente der Nation von den niedrigen Elementen infiziert werden, die sie aufgenommen haben. Die Demokratie ist eine Herrschaft der Mittelmäßigkeit.“125 Schließlich noch René Laurent, Jurist an der Université de Lyon, der sich der Gefahr bewusst war, die der Nationalsozialismus für die demokratischen Regierungen der Länder und auf nationaler Ebene für die Regierung Brüning im Besonderen und für die gesamte Weimarer Republik bedeutete: „Als Partei muss die NSDAP die lokalen Koalitionen und die Reichsregierung oder die anderer Kanzler zu Fall bringen. Als Bewegung muss die nationalsozialistische Bewegung die Weimarer Republik umstürzen und sie durch das Dritte Reich ersetzen, von dem

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Vgl. ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 202f. Ebd., S. 203. Übersetzung des Zitats „[r]estait Brüning, ce fantôme glabre et triste de la République de Weimar, cet homme sans sourcils et sans lèvres, qui avait pourtant toujours obéi à Schleicher“. Ebd., S. 204f. 123 Vgl. ebd., S. 206. 124 Combes de Patris: Que veut Hitler, S. 150. 125 Übersetzung des Zitats „Quand la démocratie arrive à diriger une civilisation, elle la tue immanquablement. En effet, la démocratie au pouvoir signifie que les éléments supérieurs de la nation sont contaminés par les éléments inférieurs qu’ils ont absorbés. [La] démocratie, c’est la médiocratie“. Maurras: Devant l’Allemagne éternelle, S. 4.

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man aber noch nicht weiß, wie es aussehen wird.“126 Allerdings glaubte er auch, dass die bürgerlichen Parteien nicht zögern würden, Hitler die Hand zu reichen. So hielt er es für nicht unwahrscheinlich, dass es infolge der Verhandlungen zwischen dem Zentrum und den Nationalsozialisten zu einer Zusammenarbeit zwischen beiden auf Länderebene und dann auch auf Reichsebene kommen werde: „Wird man nicht eines Tages ein Kabinett vorfinden, in dem, um Deutschland vor einer unmittelbaren Gefahr zu bewahren, die Anhänger Hitlers neben Katholiken und sogar Sozialdemokraten sitzen werden, ähnlich wie in dem nationalen Bündnis vom August 1914, das Hitler und seine Anhänger wiederauferstehen lassen wollen?“127 Laurent teilte der Zentrumspartei die Schlüsselrolle eines politischen Schiedsrichters zu, der die politische Zukunft Deutschlands noch entscheidend beeinflussen könne: „Das Verhältnis von Hitler und seinen Anhängern zur Zentrumspartei ist das eines Parteiführers einer sehr jungen, aber äußerst starken Partei – deren Macht genauso künstlich ist wie ihr Erfolg unerwartet kam – mit einer erfahrenen Partei mit einer langen Tradition, einer erfolgreichen Vergangenheit und einem entschlossenen Vorgehen, die seit vielen Jahren Schiedsrichter über die Geschicke des Landes ist.“128 Trotz der gesicherten Position seiner Partei werbe Brüning um die Gunst Hitlers, um später die Möglichkeiten eines politischen Zusammenschlusses zu sondieren, dessen Verwirklichung nicht unrealistisch, aber auch nicht unvermeidlich sei: „Der letzte bedeutende Annäherungsversuch endete mit einem Briefwechsel zwischen Dr. Brüning und Hitler, in dem es um die Präsidentschaftswahlen ging. Die Antwort Dr. Brünings diesbezüglich an Hitler endete mit Anerkennung und dem Hinweis auf ihre politische Beziehung.“129 Laurent konstatiert diese Gefahr allerdings auch für andere (Volks-)Parteien.130 Das Spiel der bürgerlichen Parteien mit Hitler seit 1930 erweise sich als gefährlich. Die Flut „hitlérienne“ werde weiter ansteigen, trotz der „meisterlichen Leitung“ des Präsi-

126 Übersetzung des Zitats „En tant que parti, le parti national– socialiste doit renverser les coalitions locales et le gouvernement d’Empire ou de tel autre chancelier. En tant que mouvement, le mouvement national–socialiste doit renverser la République de Weimar et lui substituer le IIIe Reich dont on ne sait au juste quelle forme il revêtira“. Laurent: Le National–Socialisme, S. 213. 127 Übersetzung des Zitats „Ne verra–t–on pas un jour un cabinet où, pour sauver l’Allemagne d’un péril imminent, se trouveront assis à côté des Hitlériens, des Catholiques et même des Sociaux–Démocrates, en vertu de cette union nationale que les Hitlériens veulent ressusciter semblable à celle d’Août 1914 ?“. Ebd., S. 217. 128 Übersetzung des Zitats „Les rapports des Hitlériens avec le Centre sont ceux du chef d’un jeune parti extrêmement puissant – mais dont la puissance est d’autant plus factice qu’elle fut inattendue – avec un vieux parti fort dans sa tradition et dans son passé comme dans ses actes, arbitre depuis de nombreuses années des destinées du pays“. Ebd. 129 Übersetzung des Zitats „La dernière tentative marquante de rapprochement s’est achevée par l’échange de correspondance entre le Chancelier Brüning et Hitler à propos de l’élection présidentielle. La réponse qu’a faite le Docteur Brüning à Hitler sur ce sujet se termine par la reconnaissance et le rappel des relations des hommes politiques“. Ebd., S. 219. 130 Vgl. ebd., S. 223ff.

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dentschaftswahlkampfes durch Brüning131 und des von Personen wie General Groener geführten kategorischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.132 Der Ergebnis der Präsidentschaftswahlen im Frühling 1932 werde vielmehr drei Dinge offenbaren: So würde erstens die sozialdemokratische Haltung keineswegs bedeuten, dass man den Nationalsozialisten den Weg zur Macht versperren wolle, sondern sie sei eine Rückkehr zur nationalistischen und pangermanischen Politik vor dem Ersten Weltkrieg. Zweitens seien die Monarchisten „pro-hitlériens“ und drittens sei die Unterstützung Hindenburgs durch die Regierung Brüning ein Zeichen für eine in einer Demokratie störende Parteinahme.133 All diese Faktoren belegten ein unbehindertes Erstarken der „nationalsozialistischen Bewegung“, die sich passgenau in die Traditionen Deutschlands einfüge: „Die Bewegung um Hitler ist eine Form der massiven Wildheit, des „Machtstrebens“, der desorientierten Tatkraft des heutigen Deutschlands und des Anarchismus, der Deutschland schon immer ausgezeichnet hat, ein mittelalterlicher Anarchismus, ein Anarchismus der Sturm- und Drang-Periode, ein romantischer Anarchismus und ein Anarchismus der Nachkriegszeit.“134 Hier wird gleich ein ganzes Repertoire verschiedener Deutschlandbilder bedient, auf das sogar Universitätsprofessoren zurückgriffen, wenn es ihnen an rationalen Erklärungen und tieferem Verständnis für die politische Entwicklung in der Weimarer Republik mangelte. René Laurent schließt seine Überlegungen allerdings mit einer nachdenkenswerten Überzeugung ab: Den Deutschen werde es in ihrem jungen Nationalstaat an Gründungsmythen und traditionen fehlen, weswegen sie jetzt Opfer der nationalsozialistischen Bewegung würden.135 1.4 Brüning: Das düstere Bild eines Demokraten Düsterer noch als den Wirtschafts- und Finanzpolitiker zeichneten die französischen Autoren das Bild des Demokraten Brüning. Unabhängig von ihrem politischen, weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Hintergrund fiel hier ihr Urteil über Brüning gleichermaßen unbarmherzig aus. Entweder wurde Brüning als ein schwacher, fiebriger und den Attacken seiner Gegner hilflos ausgesetzter Mensch dargestellt oder als jemand, der selbst den Weg zur Diktatur beschritt und so das Spiel der Extremisten mitspiele.

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Vgl. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 237f. Vgl. ebd., S. 239ff. Übersetzung des Zitats „L’Hitlérisme est une forme de l’impétuosité massive, de la „volonté de puissance“, du dynamisme désorienté de l’Allemagne actuelle et de l’anarchie qui l’a toujours caractérisée, anarchie moyenâgeuse, anarchie de la Sturm und Drang Periode, anarchie romantique, anarchie de l’après–guerre“. Vgl. ebd., S. 242. 135 Vgl. ebd., S. 243ff.

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Was die Rolle Brünings hinsichtlich der jungen deutschen Demokratie betraf, so entsprachen die Beschreibungen von Vertretern der wissenschaftlichen, politischkulturellen und religiösen Kreise dem Bild der (aktuellen) öffentlichen Meinung in Frankreich, das der deutsche Generalsekretär des Comité des Etudes francoallemandes im April 1932 zeichnete.136 Er beschrieb in seinem Bericht die Entwicklung der französischen öffentlichen Meinung, wonach die politische Bewegung Hitlers zunächst als ein Synonym für Krieg wahrgenommen wurde, bevor man sich mehr und mehr für die Präsidentschaftswahlen interessierte, die letztlich als eine Rückkehr zur politischen Ordnung gefeiert wurden. Laut diesem Bericht betrachtete eine Mehrheit der Franzosen Deutschland als ein innerlich zerrissenes Land, das von einer psychischen und moralischen Krise erschüttert worden sei und dessen Jugend bereit stehe, jederzeit zu rebellieren – ohne dass dabei aber von Seiten der Franzosen die Person Hitlers auch nur annähernd ernst genommen werde. Die Regierung Brünings wurde allerdings angesichts der vielen politischen Attacken als schwach angesehen. Dem demokratischen System von Weimar wurde totales Versagen attestiert und der Föderalismus in Deutschland blieb unverstanden.137 2. Brüning in der Vorstellungswelt der Presse In den französischen Zeitungen waren die Fragen der deutschen Innenpolitik (Wirtschaft und Demokratie) und der deutschen Außenpolitik (Nationalismus, Christentum) eng miteinander verknüpft. Die Themenschwerpunkte, welche die deutsche Demokratie unter Brüning betrafen, wie etwa sein Regierungsantritt, seine Art zu regieren, seine Abhängigkeit von Hindenburg, seine Haltung gegenüber Hitler (zwei Themen, die durch die Wahlen im September 1930 und die Reichspräsidentenwahlen im Frühling 1932 noch einmal an journalistischer Aufmerksamkeit gewannen), seine erzwungene Akzeptanz der Unterstützung durch die SPD und schließlich der Sturz seiner Regierung zeigen, wie sehr sich die französischen Journalisten für den Erhalt der deutschen Demokratie interessierten. Die politisch rechts und extrem rechts stehenden Journalisten allerdings legten größeres Gewicht auf Themen, welche die deutsche Außenpolitik behandelten − was sich auch in Inhalt und Länge der Unterkapitel dieser Arbeit niederschlägt –, und vor allem während des zweiten Kabinetts Brüning standen bei den Rechten Reparations- und Abrüstungsfragen im Vordergrund. Um die Struktur wie auch die Entwicklung der Vorstellungswelt(en) der Pressewelt nachzuvollziehen, werden im Folgenden die oben aufgezählten Themen getrennt voneinaner aufgeführt. Dabei darf man nicht übersehen, dass die Journalis136 Vgl. Deutsch–Französisches Studienkomitee. Bericht des deutschen Generalsekretärs über persönliche Eindrücke in Paris. Unterschrieben von Clauss. 06/04/1931, S. 1–10. In: CADN: Fonds de l’Ambassade de France à Berlin. Serie B. Karton 463: Echanges culturels. 137 Vgl. ebd., S. 9.

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ten auch bei unterschiedlichen Themen immer wieder auf die gleichen Argumentationsmuster zurückgriffen, die je nach Ereignis oder politischer Handlung Brünings leicht abgewandelt wurden. 2.1 Die Wahrnehmung des ersten Brüning-Kabinetts (30. März 1930 – 7. Oktober 1931) 2.1.1 Amtsantritt eines Mannes ohne politische Vergangenheit und das Schicksal der Demokratie a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Am 1. April stellte L’Œuvre als erste der Mitte-links stehenden Zeitungen in Frankreich Brüning nicht nur mit einem Portraitfoto vor, sondern auch mit der größten Detailkenntnis.138 „Auch wenn Heinrich Brüning nicht der jüngste Reichskanzler ist –Wirth war bei seinem Regierungsantritt 1923 43 Jahre alt –, ist er sicherlich der unbekannteste. Er hat keine politische Vergangenheit“,139 heißt es in der Zeitung. Brüning sei nie Minister gewesen und die Öffentlichkeit habe im Dezember 1929 zum ersten Mal von ihm gehört, als er Fraktionsvorsitzender des Zentrums geworden sei.140 Allerdings, so wird in L’Œuvre bemerkt, „ist es wahr, dass man seitdem seinen Namen nie ohne den Zusatz ’der Kanzler von morgen’ erwähnt oder geschrieben hat und dadurch auch auf eine beleidigende Art und Weise herausgestellt hat, dass Herr Müller der ’Kanzler von gestern’ ist“. Brüning wird vorgestellt als „Finanzexperte, der beste seiner Partei und einer derer, auf die man im Reichstag hört, welcher übrigens ein Gesetz über die Einkommensteuer nach seinem Verfasser benannt hat, ’Lex Brüning’“.141 L’Œuvre war auch die einzige Zeitung, die sich ausführlich dem Erscheinungsbild und der Person Brünings widmete, wobei eine gewisse Sympathie für den neuen Reichskanzler zum Ausdruck kam: „Diskret und mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf den Lippen, erscheint Herr Brüning dem Betrachter als eine äußerst zurückhaltende Person. Er ist die Vorsicht selbst, der Mann der in den kritischsten Situationen noch Herr seiner selbst bleibt. […] Herr Wirth hat viele Feinde. Dass Herr Brü138 L’Œuvre vom 01/04/1930. Un nouveau chancelier en Allemagne, S. 1. 139 Übersetzung des Zitats „M. Heinrich Brüning, s’il n’est pas le plus jeune des chanceliers de la République allemande – M. Wirth, quand il prit le pouvoir en 1923 avait 43 ans – est certainement le plus inconnu. Il n’a pas de passé politique“. Ebd. 140 Brüning wurde am 5. Dezember 1929 zum Fraktionsvorsitzenden gewählt. 141 Übersetzung der Zitate „depuis ce temps, il est vrai, on n’a jamais prononcé ou écrit son nom sans ajouter ‘‘le chancelier de demain’’ avec une insistance outrageante pour M. Müller, le chancelier d’hier“ und „un expert de la finance, le meilleur du parti, et l’un des plus écoutés du Reichstag qui, d’ailleurs, a nommé une loi réglant l’impôt sur le salaire, d’après son auteur, ‘‘Lex Brüning’’“.Zu den beiden Gesetzen „Lex Brüning“ von 1925 und 1927, vgl. Hömig: Brüning (I), S. 101ff.

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ning weder links noch rechts Feinde hat, liegt an seiner Art, mit der Sache selbst zu verschmelzen. Es wäre erstaunlich, wenn er Freunde hätte. Aber die Menschen seiner Generation mögen ihn.“ Der Verfasser des Artikels macht auch deutlich, dass Brüning sein Amt als seine „Pflicht“ betrachtet: „Brüning ist überzeugt, eine historische Aufgabe zu haben, nämlich der deutschen Mittelschicht zum ersten Mal seit dem Krieg das Gefühl ihrer Stärke gegenüber einem orientierungslosen und von den unglücklichen wirtschaftlichen Erfahrungen der letzten Jahre gebeutelten Sozialismus wiederzugeben.“142 Die andere radikal-sozialitische, aber etwas weiter rechts stehende Zeitung, L’Ere Nouvelle, kritisierte vor allem die Bildung einer Präsidialregierung: „Das Kabinett Brüning ist [...] ein ’Kabinett Hindenburg’.“ Im Populaire stellte Oreste Rosenfeld143 zwei entscheidende Fragen zur Regierung Brüning, die eine gewisse Furcht vor den Nationalisten und den Monarchisten offenbarte: „Wird der Wunsch nach einer Regierung ohne die Sozialdemokraten größer sein als die ’nationalen’ Sorgen der monarchistischen Partei?“ und: „Welche Wahlversprechen müssen die bürgerlichen Parteien den Menschen machen, die von der Wiedereinsetzung Wilhelms II. träumen, um ihre Stimme zu gewinnen?“144 Einen Tag darauf wurde die Angst der SFIO angesichts der politi-

142 Übersetzung der Zitate „Discret et vaguement souriant, M. Brüning donne l’impression d’être l’homme le plus évasif qui soit. C’est la prudence incarnée, l’homme qui dans les moments les plus critiques restera maître de lui–même. […] M. Wirth, lui, a beaucoup d’ennemis. Si M. Brüning n’en a pas – ni à droite, ni à gauche – c’est que sa façon d’être se confond avec la chose même et que, par conséquent, il ne peut pas en avoir. Il serait étonnant qu’il eût des amis. Mais il affectionne les hommes de sa génération.“ und „M. Brüning est convaincu d’avoir une tâche historique à remplir, celle de redonner, pour la première fois depuis la guerre, aux classes moyennes allemandes le sentiment de leur force en face d’un socialisme désorienté et éprouvé par les expériences économiques malencontreuses des dernières années“. Ebd. 143 Oreste Rosenfeld (1891–1964): Russischer Sozialdemokrat. Sohn eines hohen liberal gesinnten Beamten des Zaren, der in Ungnade gefallen nach Astrakhan geschickt wurde. Rosenfeld trat im Alter von 13 Jahren der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei. Er studierte Rechtswissenschaften und nahm Teil an den revolutionären Ereignissen im Jahr 1924. Nach dem März 1917 wurde er von der Regierung Kerensky zum Militärattaché an der russischen Botschaft in Paris ernannt. Nach der Unterzeichnung des Friedens von Brest–Litovsk brach er mit der neuen Regierung und wurde als Deserteur zum Tode verurteilt. Er trat zunächst der Fremdenlegion bei und wurde nach mehreren verschiedenen bescheidenen Arbeitsstellen Mitglied der SFIO. Gleichzeitig begann er für den Populaire die sowjetische Politik zu verfolgen. Als es Léon Blum gelang, die Zeitung 1927 wieder neu herauszubringen, stellte er Rosenfeld in der Redaktion der Außenpolitik ein. 1932 nahm Rosenfeld als Delegierter am Kongresse der „Internationale ouvrière socialiste“ teil und blieb Mitglied des linken Flügels der SFIO. 144 Übersetzung der Zitate „Le désir d’avoir un gouvernement sans socialistes sera–t–il plus fort que les préoccupations ‘‘nationales’’ du parti monarchiste ? “ und „Quelles promesses les partis bourgeois devront–ils faire aux gens qui rêvent de la restauration de Guillaume II pour obtenir leurs voix ?“. Le Populaire vom 01/04/1930. Rosenfeld, Oreste: Le cabinet Brüning et les groupes.

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schen Lage in Deutschland noch deutlicher formuliert. Brünings Politik wurde als eine „Politik des Verrats“ und der „Verwahrlosung“145 bezeichnet. Die Journalisten des Populaire befürchteten hier – im Gegensatz zu den Radicaux-socialistes − schon das Schlimmste für die internationale Politik und die deutsche Sozialdemokratie. Salomon Grumbach von der Lumière dagegen versuchte seine Leser hinsichtlich der Zukunft und des Einflusses der Sozialdemokratie auf die deutsche Politik zu beruhigen: „Kanzler Brüning hat die Anstrengungen herausgestellt, die er unternommen hätte, um die Krise zu vermeiden, die alte Koalition aufrechtzuerhalten und um der Sozialdemokratie zu ermöglichen, in der Regierungsverantwortung zu bleiben.“146 Die ersten kommunistisch geprägten Artikel über Brüning in L’Humanité attackierten die neue deutsche Regierung, sparten aber auch nicht mit Kritik an der SPD, ohne dabei zwischen den Sozialdemokraten und dem Zentrum zu unterscheiden. Die Kommunisten nannten Brüning, wie ihre deutschen Kollegen, den „Hungerkanzler“ und sahen in seinem politischen Programm nur eine „Fortsetzung der Regierung Müller“.147 In Monde äußerte man sich etwas vorsichtiger, schrieb aber auch, dass die neue Regierung „der Anfang einer viel schlimmeren Krise“ und Brüning „der katholische Führer“ sei, der sich „praktisch nur nach rechts orientiert“.148 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten In der rechten Mitte des politischen Spektrums der französischen Presse berichtete der Petit Parisien schon seit dem 27. März 1930 über Heinrich Brüning.149 Schon im April richtet die Zeitung ihr Augenmerk auf die prekäre Lage des neuen Regierungskabinetts, das sich zu weit nach rechts orientiere, und stellte die Frage, ob der junge Kanzler in Wirklichkeit überhaupt die eigentliche Regierungsmacht habe: „Es ist ersichtlich geworden, dass das Kabinett Brüning unmittelbar von den Nationalisten und deren Vorsitzendem Hugenberg abhängt, und man kann sich die Frage stellen, welcher von beiden heute der Berater des Anderen ist, Kanzler Brü-

145 Le Populaire vom 02/04/1930. Le cabinet Brüning devant le Reichstag. 146 Übersetzung des Zitats „Le chancelier Brüning [...] a insisté sur les efforts qu’il aurait fait pour éviter la crise, pour maintenir l’ancienne coalition et pour rendre possible à la social– démocratie de rester au pouvoir“. La Lumière vom 12/04/1930. Grumbach, Salomon: Le nouveau cabinet allemand a beau compter des éléments réactionnaires, il exécutera le plan Young, S. 6. 147 L’Humanité vom 02/04/1930. Le cabinet Brüning s’est présenté hier devant le Reichstag avec un programme péniblement élaboré. 148 Monde vom 05/04/1930. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unter–Rubrik]: La crise allemande, S. 2. 149 Le Petit Parisien vom 27/03/1930. Dernière Heure [Rubrik]: L’Allemagne est de nouveau menacée d’une crise politique, S. 3.

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ning oder Hugenberg.“150 Camille Loutre hob den Widerspruch zwischen der parlamentarischen Unsicherheit und der Schnelligkeit hervor, mit der Brüning fast sein gesamtes „ziemlich gewagtes“ Programm durchgezogen habe. Dieser Widerspruch sei allerdings nur scheinbar, denn das Kabinett Brüning werde wohl nicht gestürzt, denn es sei „an dem Punkt angekommen, an dem das stumpfsinnige System des Feilschens zwischen den Fraktionen den Parlamentarismus in Deutschland endgültig zu ruinieren drohe und somit den faschistischen Abenteuern den Weg bahne“.151 Die Dauer der neuen Regierung unter der Führung des katholischen und nationalistischen „capitaine-chancelier“ Brüning und dem „Kapitänleutnant-Minister“ Treviranus scheint ihm gesichert, weil sie von der öffentlichen Meinung in Deutschland gestützt werde: „Die öffentliche Meinung begrüßt […] mit erwartungsvollem Wohlwollen diese auf Rat des Präsidenten berufene Regierung unter der Leitung junger Männer mit Willensstärke, Zielen und der Entschlossenheit diese zu verfolgen, indem sie, wenn es nötig ist, Gewohnheiten der Verwaltung und das „Bonzentum“, das im Reichstag vorherrscht, umgehen.“152 Für das deutsche Volk – aber nicht für Camille Loutre – habe Brüning das Erscheinungsbild des Mannes, der in der aktuellen politischen Lage gefragt sei. Aus der Sicht des Matin war das neue deutsche Regierungskabinett nicht gebildet worden, um gegen den Reichstag zu kämpfen, vielmehr habe Brüning seine Koalition nach rechts ausgerichtet „um ein Kabinett der Persönlichkeiten zu bilden“, die danach ausgewählt seien, ihn im Fall einer Parlamentsauflösung zu unterstützen.153 In der Revue des Deux Mondes zeichnete Maurice Pernot den Werdegang Heinrich Brünings nach und urteilte, dass „man selten einen so schnellen und so gerechtfertigten politischen Aufstieg wie den von Herrn Brüning gesehen habe“.154 Insgesamt zeichnete Pernot allerdings in seinem Artikel – in dem er wortgetreu Passagen aus seinem Buch „L’Allemagne de Hitler“ übernahm – ein ambivalentes Bild des neuen Reichskanzlers. Die Beschreibung von Brünings Aussehen war besonders vielsagend: „Großgewachsen, schlank und in seiner Kleidung, 150 Übersetzung des Zitats „On vient de voir que le cabinet Brüning dépend directement des nationalistes et de leur chef et conseiller Hugenberg, et on peut demander aujourd’hui lequel, du chancelier Brüning et du conseiller Hugenberg, est le conseiller de l’autre“. Le Petit Parisien vom 05/04/1930. Le cabinet Brüning l’emporte au Reichstag, S. 3. 151 Übersetzung des Zitats „venu à l’heure où le fastidieux système de marchandages entre fractions menaçait de ruiner complètement le parlementarisme allemand et de préparer la voie aux aventures fascistes“. Le Petit Parisien vom 21/04/1930. Loutre, Camille: La situation politique en Allemagne, S. 1. 152 Übersetzung des Zitats „L’opinion accueille […] avec une curiosité sympathique ce ministère d’inspiration présidentielle, à la tête duquel se trouvent des hommes jeunes ayant une volonté, des idées, la décision de les faire triompher, en bousculant au besoin les habitudes administratives, le „boncisme“ installé au Reichstag“. Ebd. 153 Le Matin vom 01/04/1930. Dernière Heure [Rubrik]: Aujourd’hui au Reichstag lecture de la déclaration du nouveau cabinet, S. 3. 154 La Revue des deux Mondes vom 01/09/1931. Pernot, Maurice: Heures de Berlin. Le plébiscite et la crise politique. Bd. V, S. 214.

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die immer dunkel ist und in der er eine gute Figur macht, hat er etwas von einem deutschen Offizier und etwas von einem römischen Prälaten. Helle, kalte Augen, die durch die Arbeit und die langen Abende ein bisschen erschöpft sind, schmale und zusammengepresste Lippen, schlichte Gesten, eine ruhige und gemäßigte Art zu reden; so wie er in der Öffentlichkeit erscheint, so zeigt er sich auch im privaten Umfeld. Die Menschen, die mit ihm zu tun hatten, erkennen in ihm Führungsqualitäten. Doch sie entdecken an ihm auch Schwächen: Eine übermäßige Gründlichkeit beim Bearbeiten der anstehenden Fragen und der Ausführung der Amtsgeschäfte, einen zögerlichen Charakter, den sie auf die Ansprüche eines aufrichtigen Gewissens zurückführen; eine gewisse Trägheit bei der Entscheidungsfindung.“155 Der Gringoire schrieb rückblickend, dass es dem neuen Reichskanzler gänzlich an „Bekanntheit“ gefehlt habe, aber dass dieser Umstand, der einen „redhibitorischen Mangel“ für einen französischen Politiker bedeutet hätte, „eine exzellente Ausgangsbedingung“ gewesen sei, „um auf der deutschen Bühne erfolgreich zu sein“.156 Brüning habe die „Bürde der Regierung“ mit „beharrlicher Energie“ und „seltenem Geschick“ getragen, die „notwendig seien, um durchhalten und triumphieren“ zu können.157 2.1.2 Diktator oder Fels der Demokratie? Der gefährdete Parlamentarismus a) Von der linken Mitte zu extremen Linken Gabriel Cudenet, Journalist bei der Ere nouvelle, glaubte in der Konzeption der Regierung Brüning ein „Übergewicht der Innenpolitik“158 festzustellen und zeigte sich beunruhigt darüber, dass der Reichskanzler „keine Mehrheit hat und nicht fordert, unterstützt, sondern nur toleriert zu werden“. Darüber hinaus „scheint es dem Reichstag an Enthusiasmus zu fehlen“ und „die Regierungserklärung droht ganz diskret mit der Auflösung des Parlaments“.159 Die Notverordnungen und die drohende Reichstagsauflösung wurden ab April 1930 regelmäßig in der Ere Nou-

155 Übersetzung des Zitats „Grand, mince, la taille bien prise dans des vêtements toujours sombres, il a quelque chose de l’officier allemand et quelque chose du prélat romain. Des yeux clairs et froids, un peu usés par le travail et par les veilles, des lèvres minces et serrées, le geste sobre, la parole douce et mesurée, tel il apparaît en public, tel il se montre dans le privé. Ceux qui l’ont pratiqué reconnaissent en lui des qualités de chef […]. Il lui trouvent aussi quelques défauts: une minutie excessive dans l’étude des questions comme dans l’expédition des affaires, une hésitation qu’ils expliquent par les exigences d’une conscience scrupuleuse; une certaine lenteur à se décider“. Ebd., S. 215. 156 Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3. 157 Ebd. 158 L’Ere Nouvelle vom 02/04/1930. Le cabinet Brüning devant le Reichstag. La déclaration ministérielle menace discrètement l’assemblée de la dissolution, S. 1. 159 Ebd.

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velle diskutiert – und selbst die Radicaux-socialistes begannen immer öfter den Begriff „dikatorisch“ zu verwenden, wenn sie die Politik Brünings beschrieben.160 Allerdings war ihnen auch bewusst, dass sich Brüning in einer politisch und wirtschaftlich schwierigen Lage befand, und appellierten deswegen in der Presse an die Franzosen, Deutschland mehr zu unterstützen.161 Grumbach schrieb in der Lumière, dass er eine lang andauernde Lähmung des deutschen Parlaments fürchte: „Allein die Tatsache, dass man sich in fast allen Milieus mit der Möglichkeit beschäftigt, für eine gewisse Zeit den normalen Gang des Parlamentarismus auszusetzen, um dann mithilfe des Artikels 48 zu regieren, zeigt die große Verwirrtheit in der deutschen Öffentlichkeit.“162 Im Dezember 1930 wurde die Politik Brünings, mit der er eine Verbesserung der Hauhaltslage erreichen wollte, sehr negativ wahrgenommen: „Der Reichstag ist ausgeschaltet und durch eine halbe Diktatur ersetzt worden; niemand verkennt die gefährliche Phase, in die Deutschland nun eingetreten ist.“163 „Die wirtschaftliche Anarchie erzeugt politisches Chaos: In Deutschland mehr als in jedem anderen Land“, schlussfolgerte Grumbach, ohne aber die Hoffnung aufzugeben, dass Deutschland sein moralisches Gleichgewicht wiederfinde, sobald sich die Weltwirtschaftslage wieder verbessere.164 Die Journalisten der Vie Socialiste waren überzeugt, dass alle im Rahmen von Notverordnungen getroffenen Maßnahmen Faktoren seien, welche die Krise weiter verschärfen mussten, anstatt sie abzuschwächen oder gar zu beenden.165 Der Direktor des Populaire, Léon Blum, stellte anlässlich des Congrès de Vienne fest, dass sich Deutschland nicht selbst vor dem Ruin retten könne, der es bedrohe. Nach seinen Worten müssten die Deutschen endlich verstehen, dass sie Opfer der „oligarchie industrielle mégalomane“, sowie der „partisans de la revanche“ und der „rationalisation exagérée, supérieure aux besoins de la consommation“ seien, wobei er mit dem letzten Punkt indirekt den Politikstil Brünings an-

160 „M. Brunning [sic] réclame des pouvoirs dictatoriaux“. In: L’Ere Nouvelle vom 27/06/1930. Hindenburg donnera–t–il les pleins pouvoirs à M. Brüning ? S. 1. 161 So zum Beispiel E. Herriot, radikal–sozialistischer Abgeordneter, der den Franzosen zu verstehen gab, dass das einzige Deutschland, mit dem sich Frankreich dauerhaft verständigen könne, die Weimarer Republik sei. In: L’Ere Nouvelle vom 30/07/1931. Herriot, Edouard: Avec l’Allemagne de Weimar, S. 1. 162 Übersetzung des Zitats „Le fait seul qu’on envisage dans presque tous les milieux l’hypothèse d’une période au cours de laquelle on serait obligé de suspendre le fonctionnement normal du parlementarisme et de gouverner avec l’article 48 indique le trouble profond créé dans la vie publique allemande“. La Lumière vom 23/08/1930. Grumbach, Salomon: Impressions d’Allemagne. Hindenburg descendra–t–il dans la mêlée ? S. 2–3. 163 Übersetzung des Zitats „[L]e Reichstag se trouve éliminé et remplacé par une semi–dictature [;] personne ne se trompera sur la phase dangereuse dans laquelle l’Allemagne vient d’entrer“. La Lumière vom 06/12/1930. Grumbach, Salomon: La République allemande se défend par une semi–dictature constitutionnelle contre l’assaut raciste–communiste, S. 2. 164 Ebd. 165 La Vie Socialiste vom 18/07/1931. La Vie Internationale [Rubrik]: La catastrophe allemande et les organisations ouvrières, S. 17–18.

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sprach.166 Im Lauf des gesamten Jahres 1930 wurden die Artikel über Deutschland im Populaire von der Kritik an einer angeblich antisozialistischen, gegen die Arbeiter und gegen die Republik gerichteten Politik Heinrich Brünings dominiert. „Der Artikel 48 soll dem Staat helfen, aber doch nicht die Regierung aus einer schwierigen Lage retten, für die sie selbst verantwortlich ist. Das Kabinett Brüning unternimmt einen Versuch, die demokratische Basis der Verfassung zu erschüttern“.167 schrieb Oreste Rosenfeld am 17. Juli 1930, einen Tag vor der Reichstagsauflösung durch Heinrich Brüning, dem es nicht gelungen war, seine finanzpolitischen Vorhaben durch das Parlament zu bringen.168 Rosenfeld sprach sogar von einem Staatsstreich des kapitalistischen Bürgertums.169 Die Kommunisten bezeichneten die Regierung Brüning als „OligarchenRegime“ und behaupteten, dass die Industrie und die Großbauern „gemeinsam das Gesetz in Deutschland machen“.170 Im Oktober 1930 beurteilten sie die Finanzpolitik Brünings als „rein reaktionär“, weil sie „ausschließlich die Arbeiterklasse“ belaste.171 Die Journalisten des Monde waren überzeugt, dass Deutschland eine politische Krise durchmache, die verantwortlich für das Elend der Arbeiterklasse und die „höchste Arbeitslosenkrise sei, die das Reich jemals kennengelernt hat“.172 L’Humanité – gefangen in ihrer kommunistischen Ideologie – schlug einen noch schärferen Ton an; von Anfang an sprach sie nur von „der BrüningDiktatur“,173 ohne der politischen Realität in Deutschland auch nur im Ansatz Beachtung zu schenken. Ohne Zweifel orientierte sich die Zeitung in ihrer Darstellung an den Argumenten der Correspondance Internationale, in der ihre kommunistischen Kollegen in Deutschland so weit gingen, die Politik Brünings als „eine entschiedene Faschistisierung des Staatsapparates“ zu bezeichnen.174

166 La Vie Socialiste vom 30/07/1931. Congrès de Vienne. La situation en Allemagne et en Europe centrale et la lutte pour la démocratie, S. 26–37. 167 Übersetzung des Zitats „L’article 48 [...] a pour but de venir en aide à l’Etat, mais non pas de tirer le gouvernement de difficultés dont il est responsable. Le cabinet Brüning fait une tentative pour ébranler les bases démocratiques de la constitution“. Le Populaire vom 17/07/1930. Rosenfeld, Oreste: Un „petit coup d’Etat“ de la bourgeoisie capitaliste. 168 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 185f. 169 Le Populaire vom 17/07/1930. Rosenfeld, Oreste: Un „petit coup d’Etat“ de la bourgeoisie capitaliste. 170 Monde vom 19/04/1930. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unterrubrik]: Régime oligarchique en Allemagne, S. 2. 171 Monde vom 11/10/1930. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unterrubrik]: Le chaos politique en Allemagne, S. 2. 172 Monde vom 14/02/1931. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unterrubrik]: La crise politique allemande, S. 2. 173 L’Humanité vom 06/02/1931. Le chancelier Brüning a prononcé hier un grand discours au Reichstag. 174 La Correspondance Internationale vom 23/08/1930. Gollmick, W.: Les élections au Reichstag et le parti communiste, S. 912f.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Laut dem Petit Parisien vom 21. April 1930 garantierte die wie ein Damoklesschwert über dem Reichstag hängende Auflösungsdrohung eine Mehrheit für Brüning.175 Das Ganze sei ein Schauspiel, das sich die verschiedenen Parteien nur deswegen lieferten, weil es ihnen an einer Alternative fehle: „Es war also angebracht, dass die Fraktionen der Sozialdemokraten und der Nationalisten in der Sitzung entschlossen und lauthals Widerstand leisteten, aber gleichzeitig darauf achteten, die Regierung nicht zu stürzen. Deshalb haben Sozialdemokraten und Nationalisten die Zahl ihrer anwesenden oder nicht anwesenden Abgeordneten sorgfältig überdacht, damit es bei der Stimmenauszählung trotz der heftigen Angriffe von Seiten ihrer Fraktionsführer zu keinem folgenschweren Ergebnis kam. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte man nochmals abgestimmt! Worauf laufen diese neue Auffassung des Regierens und diese neuen Methoden des Parlaments hinaus?“176 Die Lage des deutschen Parlamentarismus beunruhigte den Petit Parisien sowohl aufgrund der parlamentarischen Taktik zur Mehrheitenbildung als auch aufgrund der breiten Akzeptanz der neuen Politik der Notverordnungen. „Das Funktionieren des parlamentarischen Systems ist im heutigen Deutschland stark gefährdet“, hieß es am 26. Juni 1930 in der französischen Tageszeitung.177 Die politischen Probleme, die es dem Kabinett Brüning so schwer machten, anders als mit Hilfe von Notverordnungen zu regieren, beherrschten während des gesamten Sommers 1930 die Rubrik „Dernière Heure“ im Petit Parisien.178 Die Anwendung des Artikels 48 wurde als „Rückgriff auf das von der Verfassung vorgesehene Mittel der Finanzdiktatur“ bezeichnet.179 Immer wieder wurde Brüning der „Mann des Marschall-Präsidenten“ genannt. Der Petit Parisien lehnte keineswegs ausdrücklich den Gebrauch dieses „Mittels der Diktatur“ ab, beurteilte allerdings den Gebrauch des Artikels 48 als „ein wenig gewagt“.180 Man beobachtete also die heiklen Maßnahmen Brünings, die in eine politische Sackgasse mündeten, nicht ohne Verständnis. Nach Ansicht Ca175 Le Petit Parisien vom 21/04/1930. Loutre, Camille: La situation politique en Allemagne, S. 1. 176 Übersetzung des Zitats „Il convenait donc que les fractions socialistes et nationalistes fissent en séance une opposition décidée et bruyante tout en prenant bien soin de ne pas renverser le cabinet. C’est pourquoi socialistes et nationalistes ont dosé judicieusement le nombre de leurs députés absents et présents afin qu’en dépit de la véhémence des discours de leurs leaders, rien de grave ne se produisit au moment de l’addition des bulletins. Au besoin, on aurait recommencé les scrutins ! A quelle œuvre vont s’employer ce nouvel esprit de gouvernement, ces nouvelles méthodes parlementaires ?“. Ebd. 177 Übersetzung des Zitats „Le fonctionnement du régime parlementaire est fortement compromis dans l’Allemagne d’aujourd’hui “. Le Petit Parisien vom 26/06/1930. Dernière Heure [Rubrik]: Le Dr Dietrich sera nommé aujourd’hui ministre des finances d’Allemagne, S. 3. 178 Vgl. zum Beispiel den Petit Parisien vom 16/07/1930. Dernière Heure: M. Brüning est décidé à faire aboutir ses projets financiers. 179 Le Petit Parisien vom 17/07/1930. Le chancelier Brüning battu au Reichstag sur son plan financier, S. 1. 180 Le Petit Parisien vom 19/07/1930. Le chancelier a dissous le Reichstag, S. 1.

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mille Loutres war Brüning aber nicht verantwortlich dafür, dass „zwölf Jahre Republik nicht ausgereicht haben, um aus unseren Nachbarn im Osten ernsthafte Republikaner zu machen“.181 Aufgrund seiner Geschichte werde sich das deutsche Volk unabwendbar in die Richtung eines autoritären Regimes orientieren: „Das deutsche Volk war noch nie demokratisch gesinnt und es hat auch nicht den Anschein, dass es das jemals werden wird. Die Demokratie und das parlamentarische System sind im November 1918 (als die Autokratie zusammenbrach) nur aufgrund der militärischen Niederlage unangenehm über die Deutschen hereingebrochen. Intellektuelle und Juden gründeten daraufhin eine republiktreue und demokratische Partei, und dass die Mehrheit des deutschen Volkes die neue Verfassung akzeptierte, lag daran, dass sie, den Vierzehn Punkten Wilsons glauben schenkend, auf milde Bedingungen für einen Frieden hoffte, den sie sich aber nicht gewünscht hat und für den sie auch nie nur einen Tropfen Blut geopfert hätte. Ein republikanisches System ist weder in der Geschichte noch in den Köpfen des Volkes jenseits des Rheins verankert gewesen. Die öffentliche Meinung hier betrachtet die Demokratie wie eine fremde, westliche, aufgezwängte – kurz gesagt welsche – Herrschaft. Deshalb findet sich hier auch nichts, was dem Socialisme radical in Frankreich entspricht, und die einzige (demokratische) Partei, die sich recht zurückhaltend für eine echte demokratische Praxis eingesetzt hat, musste sich zurücknehmen, den Namen wechseln (sie heißt heute Staatspartei) und sich darauf einstellen, nur noch der linke Flügel der Konservativen zu sein.“182 Das Kabinett Heinrich Brünings schien für Loutre die logische Folge der Entwicklung der deutschen Demokratie zu sein, die sich Schritt für Schritt und immer deutlicher in Richtung einer „sehr konservativen, plutokratischen Republik mit einer starken Betonung der Exekutive auf Kosten der Legislative“ bewege, in der sich der Präsident nicht mehr aus den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien heraus-

181 Le Petit Parisien vom 26/08/1930. Loutre, Camille: La situation politique du Reich, S. 1. 182 Übersetzung des Zitats „Le peuple allemand n’a jamais été républicain et il y a peu d’apparence qu’il le devienne. Le régime démocratique et parlementaire lui est tombé du ciel – un peu lourdement – vers le mois de novembre 1918 (alors que l’autocratie s’effondrait), uniquement par suite de la défaite militaire. Des intellectuels, des israélites fondèrent alors un parti républicain démocratique et, dans l’espoir d’obtenir les conditions de paix favorables promises par les quatorze points de Wilson, la majorité du peuple allemand accepta une constitution qu’il n’avait pas désirée et pour la requête de laquelle il n’aurait jamais versé une goutte de sang. Le régime républicain n’a pas de racines dans l’Histoire, ni dans les mœurs du peuple d’outre–Rhin. Il est considéré ici par la moyenne de l’opinion comme un régime étranger, occidental, importé, en un mot: welsch. Pour cette raison, on ne trouve rien ici qui corresponde au radical socialisme français et le seul parti (démocrate) qui ait voulu propager, bien faiblement, les disciplines de la démocratie pure, a dû fermer boutique, changer d’enseigne (maintenant: parti d’Etat) et se préparer à devenir simplement l’aile gauche du conservatisme“. Ebd.

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halte.183 Die Zeitung Le Temps hingegen zeigte sich, was die Zukunft und den Erhalt einer realen Demokratie in Deutschland anging, eher optimistisch.184 La Croix wiederum bezog keine klare Stellung, als es darum ging zu entscheiden, ob Brüning nun ein Diktator sei oder nicht.185 Der Journalist Pierre Delattre bezichtigte allerdings die deutsche Regierung einer „unentschuldbaren Schlappheit“ und meinte, dass Brünings Maßnahmen vom deutschen Volk nicht verstanden würden, auch wenn dieser beachtliche Anstrengungen unternehme: „Es ist offensichtlich, dass die Regierung Brüning trotz ihrer Tatkraft, ihres Einfallsreichtums und ihrer Uneigennützigkeit das Vertrauen des deutschen Volkes nicht gewinnen konnte.“186 Das Volk verzweifle im Gegenteil weiter „am parlamentarischen Regime, an den politischen Methoden und den Männern an der Macht.“187 Die Ankündigung von Neuwahlen nur drei Monate nach dem Amtsantritt Brünings im Kanzleramt regte Jules Sauerwein188 vom Matin an, intensiver über Brünings Regierungsstil nachzudenken. Brüning habe sich „engagé à fond en faisant jouer l’article 48 de la constitution“ und sei so in seine eigene Falle getappt:189 Nun sei er nämlich gezwungen, dieser Politik treu zu bleiben, um nicht den Präsidenten der Weimarer Republik zu kompromittieren.190 Der politischen Führung in Deutschland fehle es nicht nur durch die Bank an republikanischer Bildung und Sachverstand, sondern auch an Verantwortung für das Allgemeinwohl: „Zu lange schon war der Reichstag daran gewöhnt, durch Bismarck und seine Nachfolger als vernachlässigbar behandelt zu werden. Er ist noch nicht bereit für die mächtige Rolle, die die Republik ihm zuspricht. Mit Ausnahme einer kleinen Elite scheint der Staat für die meisten deutschen Abgeordneten eine Macht an sich zu sein, die sich nicht auf das Parlament stützen muss; sodass sich das Parteiinteresse gegen das nationale Interesse durchsetzt“.191 Aber auch Sauer-

183 Ebd. 184 Es handelt sich hierbei um eine Beobachtung von Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 92. 185 Vgl. zum Beispiel La Croix vom 16/07/1930. La Vie Internationale [Rubrik]: Les difficultés du Cabinet Brüning. Le chancelier fera–t–il usage de la dictature ? S. 2. 186 „Il est évident […] que tout ce que le gouvernement du chancelier Brüning a dépensé jusqu’à présent d’énergie, d’ingéniosité, de désintéressement, n’a pas réussi à lui gagner la confiance du peuple allemand“. La Croix vom 18/06/1931. Delattre, Pierre: Où va l’Allemagne, S. 1 + 2. 187 Ebd. 188 Jules Auguste Sauerwein (1880–1967): Diplomat, später Übersetzer und Journalist; Redakteur der Zeitung Le Matin, deren Außenpolitikredaktion er von 1903 bis 1931 leitete. Reporter bei Paris–Soir, Korrespondent des New York Herald Tribune und der New York Times. 189 Le Matin vom 19/07/1930. Sauerwein, Jules: Grave crise en Allemagne. Le Reichstag est dissous, S. 1. 190 Vgl. ebd. 191 Übersetzung des Zitats „Pendant trop d’années, le Reichstag a été habitué à être traité par Bismarck et ses successeurs comme une quantité négligeable. Il n’est pas mûr encore pour l’autorité que la république lui a conférée. Pour la plupart des députés allemands – à

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wein fehlte es nicht an Verständnis für die riskante Politik Brünings und seine Abhängigkeit von Hindenburg. So zweifelte er nicht daran, dass auch in Frankreich, wenn es sich denn in derselben Situation befände – also zehn Jahre nach einer großen Niederlage, bedroht durch linke und rechte Extremisten und niedergestreckt von einer schweren Wirtschaftskrise –, „alles, was vernünftig und untadelig wäre, dem Staatsoberhaupt zur Verfügung gestellt würde, vor allem, wenn dieses Staatsoberhaupt ein würdiger alter Mann mit hohem persönlichen Ansehen wäre“.192 Im Gringoire ging man in der Wertschätzung Brünings und im Verständnis für sein politisches Handeln sogar noch weiter. Brüning wurde hier als „rocher de granit au milieu des flots démontés – Fels in der Brandung des aufgewühlten Meeres“ beschrieben, der die Republik mit Durchhaltevermögen und Stärke verteidige, wie ein „prédicateur jeté dans la fosse aux fauves – Prediger, der den Raubtieren zum Fraß vorgeworfen wurde“, die aber dann vor seiner „entschiedenen Haltung“ zurückwichen.193 L’Echo de Paris teilte diesen Respekt für Brüning hingegen ganz und gar nicht. Für dieses Blatt war er ein regelrechter Diktator, der nicht gezögert habe, den Reichstag aufzulösen, obwohl „es Platz für diverse ministerielle Kombinationen gab“. So erklärte André Géraud (genannt Pertinax), warum sich Hindenburg und sein Schüler für den verfassungsfeindlichen Weg entschieden hätten: „Die beiden Staatsmänner hätten wohl den normalen und streng verfassungsgemäßen Weg eingeschlagen, wenn sie nicht schon längst entschlossen gewesen wären, die Räumung des Rheinlandes und den daraufhin folgenden Chauvinismus zu nutzen, um die Sozialdemokraten und die Demokraten endgültig auszuschalten und das Land wieder auf den Kurs der Rechten zu bringen“,194 um dann dort ein autoritäres Regime zu errichten.195 „Die Demokratie dient Hitler, um die Demokratie zu töten, die Brüning mit Hilfe der Diktatur erhalten will. Similia similibus. Das ist eine Homöopathie, die so erfolgreich ist, dass man sich an das Heilmittel gewöhnen kann und es behält“, schrieb die Action Française.196 Obwohl diese Zeitung in

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l’exception d’une élite peu nombreuse – l’Etat apparaît comme une puissance en soi qui ne tire pas du Parlement son pouvoir; de sorte que l’intérêt de parti l’emporte sur l’intérêt national“. Le Matin vom 01/08/1930. Sauerwein, Jules: Le malaise politique grandit dans le Reich, S. 1. Übersetzung des Zitats „tout ce qui serait sain et raisonnable en France se mettrait à la disposition du chef de l’Etat, surtout si ce chef est un vieillard respecté et environné de prestige personnel“. Ebd. Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3. Übersetzung des Zitats „Les deux hommes d’Etat auraient suivi la voie normale et strictement constitutionnelle si, depuis longtemps, ils n’étaient pas résolus à exploiter la libération du Rhin et le chauvinisme qui en découle pour briser définitivement les sociaux–démocrates et les démocrates […] pour ramener enfin le pays vers la droite“. L’Echo de Paris vom 19/07/1930. Pertinax: Le Reichstag est dissous par le Président Hindenburg, S. 1. Vgl. L’Echo de Paris vom 02/12/1930. Dernières Nouvelles [Rubrik]. Pertinax: Le régime autoritaire du maréchal Hindenburg et du chancelier Brüning, S. 3. L’Action Francaise vom 06/12/1930. La République allemande et le régime autoritaire, S. 1.

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ihrem eigenen Land gegen die Republik gerichtet war, wünschte sie sich für Deutschland den Erhalt der Demokratie, die sie dort für die beste Friedensgarantie hielt. 2.1.3 Die Septemberwahlen im Jahr 1930: Zwischen Angst um und Vertrauen in die deutsche Republik a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Die radikal-sozialistische Zeitung L’Ere Nouvelle analysierte die Bedeutung der Reichstagswahlen für die Zukunft der Weimarer Republik und titelte zunächst „La victoire écrasante des hitlériens – Der überwältigende Sieg Hitlers und seiner Anhänger“ und dann „Le gros succèes de leurs frères rouges – Der große Erfolg ihrer roten Brüder“. Im Gegensatz zu den Kommunisten sahen die Journalisten der Ere Nouvelle im Nationalsozialismus kein einfaches Werkzeug des Kapitalismus,197 was sie aber nicht daran hinderte, andere Fehleinschätzungen zur Bewegung Adolf Hitlers zu formulieren. In ihren Augen standen die Nationalsozialisten den Kommunisten in Ideologie und Handlungsweise viel näher als den Konservativen. „Die „revolutionäre“ Fassade der KPD vermag die überaus große Ähnlichkeit ihrer „Gesinnung“ und der Hitlers und seiner Anhänger nicht zu verschleiern“, schrieb Grumbach am 6. September 1930 zu diesem Thema.198 Im Juli 1930 stellte Léon Blum scharfsinnig fest, dass die Gewaltbereitschaft der Nationalsozialisten „inspirera toujours un sursaut de recul instinctif aux masses de la bourgeoisie conservatrice“.199 So war er überzeugt, dass das Bügertum – genau wie in Italien – nur aus Angst vor einer Stärkung der Kommunisten den Rechtsextremen ins Netz gehen würde. Trotz dieser Überlegungen kam man in der Ere Nouvelle dennoch zu dem Schluss, dass die Septemberwahlen in Deutschland nicht die Vorhut einer Diktatur seien, „weil das Kabinett Brüning, das dank des Reichspräsidenten und gegen die Mehrheit im Reichstag regiere, schon nichts anderes als eine verkleidete Diktatur war“.200 Brüning sei nicht mehr wert als eine Feder im Wind, die je nach den Umständen nach rechts oder links schaukle.201 Immer wieder unternahmen die französischen Linken den Versuch, die Ursachen für den enormen Erfolg der politischen Extreme in Deutschland zu identifizieren. „Der Wind des Wahnsinns,

197 Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 45. 198 Übersetzung des Zitats „Le masque ‘‘révolutionnaire’’ du parti communiste ne saura cacher la parfaite ressemblance entre son ‘‘état d’âme’’ et celui des Hitlériens“. La Lumière vom 06/09/1930. Grumbach, Salomon: Dans une semaine l’Allemagne élira le nouveau Reichstag, S. 4. 199 Le Populaire vom 24/07/1930. Blum, Léon: Le véritable problème. 200 L’Ere Nouvelle vom 16/09/1930. Le résultat des élections allemandes. La victoire des extrémistes est–elle une menace pour la paix ? S. 1. 201 Vgl. ebd.

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der über Deutschland geweht hat“202, war für die Sozialisten die Folge der großen Wirtschaftskrise, die Deutschland mehr als die anderen Länder getroffen habe. In ihr sahen sie auch die Hauptursache für den Misserfolg Brünings, die in der politischen Mitte stehenden Parteien zu stärken. Für Grumbach stand es außer Frage, dass die Links- und Rechtsextremisten in Deutschland von den „obligations extérieures imposées à l’Allemagne“203 profitiert hätten, weswegen er die Politik seines eigenen Landes sowie die mangelnde Bereitschaft der Franzosen, Brüning Konzessionen zu machen, für den Triumph der Extremisten im Reichstag verantwortlich machte. Die französische Linke unterschied sich in diesem Urteil massiv von der französischen Rechten, die den Erfolg der Extremisten in Deutschland als eine unmittelbare Folge einer zu wohlwollenden französischen Deutschlandpolitik ansah.204 Der Canard Enchaîné bot auf seine ironische Weise sechs verschiedene Koalitionsmöglichkeiten an, die den Reichstag wieder handlungsfähig machen sollten, darunter eine kleine Koalition aus Treviranus, Brüning und Curtius („Gesicherte Mehrheit: 3, Opposition: 573“) oder das „System des Tirolerhuts“, wonach Hindenburg mit verbundenen Augen so viele Namen aus einem Tirolerhut ziehen sollte, wie er für die Bildung einer Regierung brauche.205 Das Magazin Vu hingegen überschätzte die Rolle der Zentrumspartei, die es als „Schiedsrichter“ der politischen Lage in Deutschland betrachtete206 – ein Bild übrigens, das in der kollektiven Vorstellungswelt Frankreichs weit verbreitet war. Generell hatten die französischen Linken die Tendenz, die Stabilität der Weimarer Republik zu überund die von den Nationalsozialisten ausgehende Gefahr zu unterschätzen. Die Revolution Prolétarienne interpretierte, getreu der Meinung der Kommunisten, den wachsenden Erfolg Hitlers als eine Ausdehnung des Kapitalismus. Sie sah darin den Erfolg der Industriemagnaten.207 Die Sozialisten wiederum sahen im Erfolg Hitlers „eine anti-kapitalistische Wahl“.208 Am 15. September 1930 veröffentlichte Europe einen Artikel von Heinrich Mann, in dem dieser an die Franzosen appellierte, die sich „ihrer Verantwortung bewusst seien“, dass sie über ihre Ansprüche an ein Deutschland nachdächten, das Opfer einer großen Not sei.209 Die Kommunisten machten genauso wie die Sozialisten Frankreich für die prekäre wirtschaftliche und politische Lage in Deutsch-

202 La Lumière du 20/09/1930. Il serait dangereux de répondre au succès des hitlériens par un retour à la politique nationaliste, S. 1. 203 La Lumière vom 04/10/1930. Grumbach, Salomon: L’Allemagne du 14 septembre met l’œuvre de paix en danger, S. 3–4. 204 Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 80. 205 Vgl. Le Canard Enchaîné vom 17/09/1930. Les combinaisons possibles dans le nouveau Reichstag, S. 1. 206 Vu, September 1930. Zeichnung: Les résultats des élections allemandes, S. 935. 207 La Révolution Prolétarienne von 1930. Notes économiques. Avant les 14 septembre, S. 26/250–27/251. 208 Le Populaire vom 15/09/1930. Rosenfeld, Oreste: Un vote anticapitaliste. 209 L’Europe, September 1930. Mann, Heinrich: Situation de l’Allemagne, S. 482–485.

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land verantwortlich.210 Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Journalisten von Europe immer wieder von der marxistischen Ideologie zu lösen vermochten und sogar für Brünings Politik Verständnis zeigten. Noch im Jahr 1932 verteidigte der Vernunftsintellektuelle Raymond Aron211 seine Überzeugung, nach der man nicht wie die anderen französischen Blätter der extremen Linken „die Ehrlichkeit Brünings in Zweifel ziehen sollte“212 – während sich für Paul Louis213 von Monde Brüning nur „verzweifelt an die Macht klammerte“.214 Die Trotzkisten, die der Meinung waren, dass „die Parteien des mittleren Bürgertums, die die Regierung Brüning bilden, ihre Auflösung nicht aufhalten konnten“215, sahen für sich eine günstige Gelegenheit gekommen: „Nun hängt alles davon ab, wie unsere Partei das Vertrauen, das die Massen in uns haben, nutzen kann, um einen außerparlamentarischen Kampf gegen die Offensive des Kapitalismus, gegen die Massenarbeitslosigkeit und den Faschismus zu führen.“216 Tatsächlich machten sowohl die Kommunisten als auch die Trotzkisten keinerlei Unterschied zwischen Brüning und dem Nationalsozialismus. Beides wurden unter dem Begriff „Faschismus“ subsumiert. Die Sozialisten und die Kommunisten hatten allerdings eine Gemeinsamkeit: Sie verloren nach und nach bis Ende 1930 ihren anfänglichen Optimismus – niemand wagte es nun mehr, den raschen Sturz Hitlers vorauszusagen.217 Infolgedessen waren sie gezwungen ihre Bewertung der Position Brünings zu ändern. Die Sozialisten mussten sogar ihre gesamte politische Haltung überdenken.

210 Vor allem die Humanité zog immer wieder eine Verbindung zwischen der französischen Deutschlandpolitik und der Stärkung der Partei Hitlers. „Der französische Imperialismus“ und der „Sozial–Faschismus“ [der SPD] seien für das Wahlergebnis im September 1930 verantwortlich. Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 72; L’Humanité vom 13/01/1931. Péri, Gabriel: L’Allemagne en pleine crise. 211 Raymond Aron (1905–1985): Figur des Vernunftsintellektuellen, dessen Publikationen zwischen 1960 und 1980 am umfangreichsten waren. Student der Ecole Normale Supérieure. Mitglied der Gruppe der Sozialistischen Studenten (1926–1927). Verbrachte längere Zeit in Deutschland in den letzten Jahren der Weimarer Republik (1930–1933). Seine Doktorarbeit von 1938 „Introduction à la philosophie de l’histoire“ wurde durch seine Erfahrungen in Deutschland maßgeblich beeinflusst. 212 L’Europe, Februar 1932. Aron, Raymond: Nouvelles perspectives allemandes, S. 295–305. 213 Paul Louis (1888–1971): Sohn eines Angestellten der französischen Eisenbahn. Rief im Januar 1922 die Gewerkschaft CGT der Eisenbahner von Nancy wieder ins Leben und übernahm dort bis 1926 den Posten des Schriftführers und arbeitete danach als „secrétaire technique“ für die Gewerkschaft. 214 Monde vom 20/09/1930. Louis, Paul: Les élections allemandes, S. 3. 215 Vgl. La Vérité vom 19/09/1930. Après les élections allemandes, S. 1. 216 Übersetzung des Zitats „Maintenant tout dépendra de la mesure dans laquelle notre parti saura utiliser la confiance que lui témoignent les masses pour mener la lutte extra–parlementaire, la lutte contre l’offensive capitaliste et le chômage de masse, la lutte contre le fascisme“. Ebd. 217 Am 17. Septmber 1930 hatte Léon Blum noch angesichts der gestärkten Position der Nationalsozialisten in Deutschland „weder Unruhe, noch Aufregung“ verspürt. Vgl. Le Populaire vom 17/09/1930. Blum, Léon: Ni inquiétude ni émoi.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Die Zeitungen der rechten Mitte wie der Petit Parisien, Le Temps oder Le Matin sahen in dem deutschen Wahlergebnis vom September 1930 den Gnadenstoß für die Weimarer Republik, ohne aber deswegen in politischer Hinsicht zu verzweifeln. „Wohin geht Deutschland?“ – Diese Frage dominierte die Rubriken zu Deutschland im Petit Parisien in den Monaten nach den Septemberwahlen. Camille Loutre vertrat die Meinung, dass die Regierung Brüning von der Angst profitiere, dass ein „Staatsstreich der Nazis“ einen „Generalstreik und einen Bürgerkrieg“ auslöse und sie sich so an der Macht halten könne.218 Bei den Journalisten von La Croix ließ das Ergebnis der Septemberwahlen 1930 das Interesse für die Person und die Politik des Reichskanzlers wachsen. Sechs Monate nach dessen Amtsantritt widmete Gaston Tessier der „rätselhaften Figur des Kanzlers Brüning“ ein Porträt auf der Titelseite.219 Der Tenor des Artikels war allerdings weit weniger ambivalent als der Titel, und das trotz der Reserviertheit gegenüber einem Kanzler, der jede eindeutige Positon zu vermeiden schien. In seiner Gesamtheit war das Porträt sogar positiv. Brüning und seine Partei seien die „Hauptstütze der deutschen Politik“, von der die Zukunft der Republik abhänge. Tessier zweifelte weder an der „energischen Haltung gegen die Missbräuche der industriellen Koalitionen“ des Reichskanzlers noch an seiner „Ehrlichkeit“ oder seiner „Hingabe an das öffentliche Allgemeinwohl“, einer Hingabe, die, nach den französischen Beschreibungen dieser Zeit zu urteilen, normalerweise allen deutschen Politikern fehlte. Der Erfolg der Nationalsozialisten und der Kommunisten bei den Reichstagswahlen verursachte zwar einen eindeutigen Abscheu bei den Journalisten der Croix, animierte sie aber nicht zu einer tiefer gehenden Analyse der extremistischen Ideologien in Deutschland.220 Während die katholische Tageszeitung La Croix das Fehlurteil aussprach, die politische Bewegung Hitlers sei eine Facette des Bolschewismus, unterschätzte Le Temps die nationalsozialistische Gefahr in den Monaten des ersten Kabinetts Brüning vollständig.221 So hieß es dort: „Es ist keineswegs sicher, dass diese Partei eine Rolle in der verantwortungsvollen Führung der deutschen Politik spielen wird.“222 Die Journalisten von La Croix waren tief bestürzt, als sie die Meldung von den Gesprächen zwischen Brüning und Hitler erhielten.223 Sie waren sich aber 218 Le Petit Parisien vom 21/06/1931. Loutre, Camille: Ou va l’Allemagne ?, S. 1. 219 La Croix vom 19/09/1930. Tessier, Gaston: Après les élections allemandes. L’énigmatique figure du chancelier Brüning, S. 1 + 3. 220 Vgl. La Croix vom 16/09/1930, vom 17/09/1930 und vom 01/10/1930. 221 Zur Analyse der in der Zeitung Le Temps veröffentlichten Artikel vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 94ff. 222 Übersetzung des Zitats „Il n’est nullement acquis que ce parti jouera un rôle dans la direction responsable de la politique allemande“. Le Temps, September 1930. Zitiert von Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 84. 223 Vgl. La Croix vom 08/10/1930. La Vie Internationale [Rubrik]: Les entretiens du chancelier Brüning, S. 2.

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auch der zahlreichen Attacken der politischen Extremisten auf Brüning bewusst, die diesen zwangen, riskante politische Wege zu beschreiten.224 Pierre Delattre stellte zum Beispiel am 4. Februar 1931 die Frage, „ob jemals in einem einzigen zivilisierten Land in Europa ein Regierungschef oder Minister Ziel derart feindseliger und wiedeholter Angriffe war“.225 Im Gegensatz zu Bernard Lavergne beispielsweise, der dem katholischen Zentrum vorwarf, sich einmal nach links und dann wieder nach rechts zu wenden, sah Pierre Delattre in dieser Pendelbewegung die Stärke der Zentrumspartei und Heinrich Brünings, die es ihm erlaube, sowohl den Kommunisten als auch den Nationalsozialisten zu widerstehen. So behielt er – rhetorisch gesehen – ruhig Blut, als er von Brünings Vorhaben berichtete, die NSDAP an der Macht zu beteiligen.226 Delattre war überzeugt, dass Deutschland seit dem 14. September 1930 schon längst zum Schauplatz eines Bürgerkriegs geworden sei, wenn das katholische Zentrum nicht bereit gewesen wäre, „d’assumer avec énergie le pouvoir, au besoin de la dictature, pour arracher l’Allemagne à la révolution“.227 Der Wahlerfolg der Nationalsozialisten sei durch die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland begünstigt worden, schreibt Delattre, der in diesem Punkt mit den französischen Linken einig war.228 Delattres Wertschätzung für Brüning ließ ihn auch die Ansicht des deutschen DVP-Vorsitzenden Dingeldey teilen, der Brüning als „den einzigen Mann, der derzeit Deutschland retten könnte“, vorgestellt hatte.229 „Nur 36 Stunden vor den Wahlen weiß die Hälfte Deutschlands noch nicht, wie sie ihre Unzufriedenheit demonstrieren soll“, titelte der Matin am 13. September 1930.230 Henry de Korab231 bedauerte, dass die deutschen Wähler nicht mehr an die bürgerlichen Parteien der politischen Mitte glaubten, und kritisierte seine eigenen Landsleute, die überhaupt nichts von dieser „großen Krise“ verstünden, „wenn sie wie Franzosen nachdenken und das mystische Element beiseite schieben würden, das die Seelen beschäftigt“.232 Im Matin wurde, was die Zukunft der deutschen Republik betraf, definitiv schwarz gesehen. „Das politische Leben im Reich ist nur Schein. Deutschland ist noch keine Republik und wird es auch niemals“, schrieb Jules Sauerwein zwei Tage nach der Wahl vom 14. September

224 Vgl. La Croix vom 13/10/1931. La situation politique en Allemagne, S. 1–2. 225 Übersetzung des Zitats „si jamais dans un seul pays de l’Europe civilisée, non seulement un chef de gouvernement, mais même un ministre a été l’objet de manifestations aussi hostiles et aussi multipliées“. La Croix vom 04/02/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 226 Ebd. 227 La Croix vom 25/02/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Le Matin vom 13/09/1930. De Korab, Henry: A trente–six heures des élections la moitié de l’Allemagne ne sait pas encore comment elle manifestera son mécontentement, S. 1. 231 Henryk Kucharski Korab oder Henry de Korab (1891–1954): Journalist polnischer Herkunft; Korrespondent und Jounalist beim Matin. 232 Le Matin vom 13/09/1930, ebd.

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1930.233 Allerdings fürchtete er keinerlei Folgen aus der politischen Lage in Deutschland für das Ausland, weil nach seiner Meinung ein machtvolles Kabinett die Situation schon schaukeln werde.234 Sein Kollege Henry de Korab zeigte sich da aber weit weniger optimistisch: Er sah in der Mehrheit Brünings nur eine Fassade, hinter der sich einige wenige enttäuschte Anhänger der Republik versteckten.235 Das weitere politische Geschehen in Deutschland nach den Septemberwahlen veranlasste Gringoire, Brüning etwas selbstgefällig als „eine Art deutschen Lucien Romier“ zu beschreiben.236 Romier war ein zweitrangiger französischer Intellektueller, der als katholischer Journalist und Wirtschaftsexperte einen gewissen Einfluss auf das französische Denken in der Zwischenkriegszeit ausübte. Um diesen Vergleich zu untermauern, ging der Autor des Artikels, Lucien Bourguès, sogar so weit, dem Reichskanzler seinen deutschen Charakter abzusprechen und von einem sympathischen und für die politische Landschaft Deutschlands ungewöhnlichen Auftreten Brünings zu sprechen. Wieder einmal spielten hier historisch gewachsene geographische Zuordnungen im Mechanismus des französischen Denkens eine Rolle, wonach auch noch Anfang der 1930er Jahre ein „guter Deutscher“ selten ein „echter Deutscher“ war: „Nach den Wahlen im September war nichts Geringeres als eine so gut wie nicht vorbelastete Person nötig, um den aufgewühlten Fraktionen standzuhalten. Noch dazu war ein Mann des gemäßigten Tons vonnöten. Doktor Brüning entsprach genau diesen Anforderungen. Er ist Mann des Zentrums, dieses deutschen katholischen Zentrums, das seinen Namen nicht umsonst trägt und das je nach Situation nach links und rechts schwenken kann. Aber von der Rasse her ist er ein Rheinländer, ein Westdeutscher, ein Germane aus dem helleren Germanien, wo lange Zeit römische Legionen stationiert waren und das ehemals das Königreich Westphalen war, wo man lieber Wein trinkt als Bier.“237 Bleibt die Frage, ob die Leser sich der geographischen und historischen Fehler, die dem Verfasser hier unterliefen, überhaupt bewusst waren. Der Geburtsort Brünings, nahe der Ems und nicht des Rheins, war nämlich in den Zeiten der Römer eine germanische Siedlung. Allerdings liegt Münster tatsächlich

233 Le Matin vom 16/09/1930. Sauerwein, Jules: L’Allemagne après les élections, S. 1. 234 Vgl. ebd . 235 Le Matin vom 19/10/1930. De Korab, Henry: Le chancelier Brüning obtient au Reichstag 82 voix de majorité, S. 1 + 3. 236 Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3. 237 Übersetzung des Zitats „Après les élections de septembre, pour tenir tête aux fractions déchaînées, il ne fallait rien moins qu’une individualité quasi–vierge. Il fallait, au surplus, un personnage de ton moyen. Le docteur Brüning remplissait fort bien ces exigences. C’est, politiquement, un homme du centre, de ce centre catholique allemand qui ne porte pas son nom en vain et, selon les circonstances du moment, sait osciller aussi bien vers la droite que vers la gauche. Mais c’est, par la race, un homme du Rhin, un Allemand de l’Ouest, un Germain de cette Germanie plus claire, où campèrent longtemps les légions romaines, qui fut le royaume de Westphalie, et où l’on boit plus volontiers du vin que de la bière“. Ebd.

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in eben jenem Westfalen, dessen Bevölkerung Voltaire als dumm und trunksüchtig beschrieb.238 Laut dem Cyrano – der sich zum Zeitpunkt der Septemberwahlen nicht besonders für Brüning interessierte – hatten alle deutschen Parteien einmütig die Methoden und Ratschläge Hindenburgs, von Seeckts und Schleichers befolgt, um eben jene Wahlen zu gewinnen. So spottete man im Cyrano, dass jeder Deutsche kriegslüstern sei und jedem Kandidaten seine Stimme gebe, sobald dieser ihm „eine Uniform (zwei Hosen), einen Helm, eine Tasche, einen Spaten, ein Gewehr, ein Bajonett, 150 Patronen, sechs Granaten, drei Brandbomben, ein Spiel, eine Kiste Kautabak, ein Viertel Bier und ein halbes Pfund Delikatessen“ verspreche.239 Vor dem Hintergrund dieses Deutschlandbilds war der Wahlerfolg Hitlers nur ein „Materialsieg“ gegen die „weniger reichen Parteien, die sich damit zufrieden geben mussten, ihre Truppen mit ausrangierten Maschinengewehren und archaischen Mörsern ausszustatten“.240 Für die Action Française war das Wahlergebnis der Beweis für ihre These, dass die Republik in Deutschland nur eine Kulisse sei, die die wachsende Macht der Kaisertreuen verberge.241 Die französischen Nationalisten machten nur einen graduellen Unterschied zwischen Brüning und Hitler, die beide in ihren Augen die allzu deutschlandfreundliche Politik der Franzosen ausnutzten. Der Reichskanzler wurde trotz allem – und auch ein bisschen ironisch – als das „geringere Übel“ betrachtet: „Deutschland trennt von Hitler nur noch Brüning und der Abstand ist hauchdünn. Vor einem Jahr wurde Brüning von Hindenburg, der die Sozialdemokraten aus dem Kabinett entfernt hatte, mit den Regierungsgeschäften beauftragt. Brüning war mit Mitstreitern wie Treviranus eine Reaktion, ein Staatsstreich und eine Republik ohne Republikaner. Und all das ist wahr, denn Brüning ist eine Art Diktator. Heute scheint seine Diktatur das kleinere Übel zu sein, man bangt um sie und hofft, dass sie Bestand hat.“242 Aber ganz gleich welche Regierung in Deutschland das Sagen habe, das Nachbarland sei immer eine Bedrohung „kriege-

238 Vgl. Voltaire: Candide. 239 Übersetzung des Zitats „un uniforme (deux pantalons), un casque, un sac, une bêche, un fusil, une baïonnette, cent cinquante cartouches, six grenades, trois bombes incendiaires, une patience, une boîte de pâte à astiquer, un quart de bière et un demi livre de délikatessen [sic]“. Cyrano vom 21/09/1930. La gazette de Cyrano [Rubrik]: Ce qui se passe, S. 8ff. 240 Ebd. 241 Vgl. hierzu Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 83. 242 Übersetzung des Zitats „De Hitler, l’Allemagne […] n’est plus séparée que par Brüning et cette cloison est d’une extrême minceur. […] Il y a un an, Brüning était appelé au gouvernement par Hindenburg qui en avait éliminé les socialistes par une action persévérante. Brüning, flanqué de Treviranus, c’était la réaction, le coup d’Etat, la République sans républicains. Et tout cela était vrai puisque Brüning est une espèce de dictateur. Aujourd’hui sa dictature apparaît comme le moindre mal, on tremble pour elle, on fait des vœux pour sa conservation“. L’Action Française vom 13/06/1931: Des voeux pour le chancelier Brüning, S. 1.

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rischer Explosionen“,243 was sich auch darin offenbare, welchen Nutzen es aus dem französischen Truppenabzug im Rheinland gezogen habe. 2.1.4 Wäre der Kanzler ein Demokrat ohne die Unterstützung durch die SPD? a) Von der linken Mitte zu extremen Linken L’Ere Nouvelle berichtete nicht ohne Verständnis darüber, dass die Sozialdemokraten jetzt „Brüning ihre Unterstützung gewähren“.244 Man erkennt hier die enge Verknüpfung zwischen den innen- und außenpolitischen Interessen der französischen linken Parteien und ihrem Urteil über die Ereignisse in Deutschland. So wünschten sich die französischen Sozialisten eine starke deutsche Demokratie und eine schwache nationalsozialistische Partei, um unter anderem die Möglichkeit eines neuen Krieges zu verhindern.245 Dieser Wunsch äußerte sich auch in ihren Reden über Brüning und in ihrer Art, die Positionen ihrer deutschen Parteikollegen zu übernehmen oder zu reflektieren. Edouard Herriot definierte am 30. Juli 1931 die Position und das Programm seiner Partei zum Umgang mit Deutschland: „Wir wollen dem Weimarer Deutschland helfen“ und „wir lehnen es ab, den Drohungen von Herrn Hitler oder von Herrn Hugenberg nachzugeben“.246 Salomon Grumbach, der Vermittler zwischen der SPD und der SFIO, der noch am 9. August 1930 lautstark und optimistisch gegen die sozialdemokratische Tolerierung der Politik Brünings gewettert hatte, als er schrieb, dass die SPD „continuer[ait] à dénoncer et à combattre la politique du cabinet Brüning“,247 ordnete schon am 20. September 1930 die Politik Brünings mit der der Sozialdemokraten unter die Kategorie „éléments sains“ ein und kämpfte seitdem nur noch gegen den Nationalsozialismus: „Der Wahnsinn, der über Deutschland hereingebrochen ist, hat doch nicht alle Vernunft hinweggefegt und es besteht noch Grund zur Hoffnung. Herr Braun, der Chef der Sozialdemokraten, hat beruhigende Worte gesprochen, und Dr. Curtius hat seine Absicht unterstrichen, Stresemanns Politik weiterzuführen.248 Allerdings kritisierte die Lumière die deutsche Zentrumspartei für ihr Zö-

243 Ebd. 244 L’Ere Nouvelle vom 05/12/1930. Dernières Nouvelles [Rubrik]: Au Reichstag les social– démocrates donnent leur appui à M. Brüning, S. 3. 245 Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 84. Ein Artikel in der Lumière veranschaulicht diesen Zusammenhang auch deutlich: „Il est incontestable que la démocratie et la cause de la paix – elles sont inséparables – viennent de subir un échec, tandis que le fascisme belliqueux peut marquer un point“. La Lumière vom 20/09/1930. Il serait dangereux de répondre au succès des hitlériens par un retour à la politique nationaliste, S. 1. 246 L’Ere Nouvelle vom 30/07/1931. Herriot, Edouard: Avec l’Allemagne de Weimar, S. 1. 247 La Lumière vom 09/08/1930. Grumbach, Salomon: Tempête de confusion en Allemagne, S. 6. 248 Übersetzung des Zitats „Le vent de la folie qui a passé sur l’Allemagne n’a donc pas balayé tous les éléments sains, et il reste des raisons d’espérer [...]. M. Braun le chef de la social–

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gern, mit der SPD zusammenzuarbeiten und „die Sache des Friedens und des demokratischen und parlamentarischen Systems über alle anderen Überlegungen zu stellen“.249 Sogar was die Beziehungen zwischen den linken Parteien in Deutschland und Brüning betraf, wurden nun alle innenpolitischen Themen der Weimarer Republik hinsichtlich ihrer Folgen für die internationale Politik und für die deutsch-französischen Beziehungen beobachtet. Die Angst vor einem neuen Krieg war tief im Denken der Franzosen verwurzelt, was sich auch in ihrer Kritik am mangelnden Eifer Brünings äußerte, mit der SPD zusammenzuarbeiten – dies wurde sogleich als eine Gefährdung der Politik von Locarno interpretiert. In den Gedanken des Abgeordneten Grumbach über die Haltung Brünings zu den Sozialdemokraten spiegelten sich bei aller Kritik seine sozialistischen Überzeugungen wider, die zu den gemäßigtsten und reformiertesten zählten. Brüning war für ihn ein „von gegensätzlichen Strömungen gebeutetelter“ Mann 250 (dem linken republikanischen Arbeiterflügel und dem rechten monarchistischen Aristokratenflügel) in seiner eigenen Partei, die „so tun muss, als sei sie eventuell bereit, selbst mit den Rassisten zusammenzuarbeiten“, und zugleich glücklich sei, die SPD die „hohe Bedeutung ihrer Position zwischen den Parteien“ spüren zu lassen.251 Die Lumière stimmte der Haltung der deutschen Sozialdemokratie zu, die sich entweder für die Bildung eines anti-nationalistischen Kabinetts bereit hielt oder aber durch „motivierte Stimmenenthaltungen“ den Sturz der Regierung Brüning zu verhindern suchte – beides wurde als „mutige Haltung“ bezeichnet.252 Der linke Flügel der Sozialisten schwenkte jetzt in die Reihen des rechten sozialistischen Flügels und der Radikalsozialisten ein und stellte die „legale Dikatur“253 Brünings – angesichts der „Alternativen“ einer „dictature raciste-fasciste“254 oder einer „[dictature] bolcheviste-nationaliste“255 – als das „kleinere Übel“256 dar: „Si néanmoins les sociaux-démocrates se sont décidés“ – zähneknirschend und eine unpopuläre Politik verfolgend – „à faire un effort pour le sauver [le cabinet Brüning], c’est parce qu’ils ont pensé pouvoir ainsi éviter le pire...“.257 Wieder war es Grumbach, der am 25. Oktober 1930 die extreme Rechte, die Kommunisten und die konservati-

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démocratie [...] a prononcé des paroles rassurantes, et le docteur Curtius a affirmé [..] son intention de continuer Stresemann“. La Lumière vom 20/09/1930. Il serait dangereux de répondre au succès des hitlériens par un retour à la politique nationaliste, S. 1. La Lumière vom 04/10/1930. Grumbach, Salomon: L’Allemagne du 14 septembre met l’œuvre de paix en danger, S. 3–4. La Lumière vom 11/10/1930. Grumbach, Salomon: Pour barrer en Allemagne la route au fascisme la social–démocratie est prête aux plus lourdes sacrifices, S. 6. Vgl. ebd. Vgl. ebd. La Lumière vom 18/10/1930. Grumbach, Salomon: Qui l’emportera: l’Allemagne fasciste et revancharde ou l’Allemagne républicaine et pacifiste ? S. 6. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Le Populaire vom 21/10/1930. Rosenfeld, Oreste: Un dernier avertissement à M. Brüning. La Lumière vom 18/10/1930. Grumbach, Salomon: Qui l’emportera…

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ven Zeitungen (u. a. den Echo de Paris) aufgrund ihrer Kritik an der Haltung der SPD gegenüber Brüning scharf angriff: „Wer die Hoffnung, dass das republikanische und demokratische Deutschland dem Angriff der Revanchisten, der extremen Linken und der extremen Rechten standhalten kann, noch nicht aufgegeben hat, ist den Sozialdemokraten dankbar, dass sie dem Kabinett Brüning ihren Schutz aufgedrängt haben, um den Sieg des rassistischen und Hugenberg’schen Wahnsinns zu verhindern.“258 Die Lumière betonte deutlich, dass man nichts unterlassen dürfe, um der SPD und „diesem Deutschland“ zu helfen.259 Am 8. November 1930 machte Charles Reber seinem Ärger über den Versailler Vertrag Luft, „diesem Instrument der Gewalt, aus dem nur Gewalt geboren werden konnte“.260 Für die Sozialisten war es aber zu spät, sich vom Versailler Vertrag zu distanzieren, wie es weiter bei Reber hieß: Das hätte bedeutet, dass man „den Erpressungen Hitlers und jener, die ihn finanzieren, nachgibt“.261 Stattdessen schlugen sie die Unterstützung ihrer sozialdemokratischen Kollegen in Deutschland auf der Organisation einer vereinten Basis eines europäischen Marktes vor, „im Interesse der Sicherheit Frankreichs und des Wohlstands für alle“.262 Europa oder Krieg, so lautete ihr Fazit. Die französischen Sozialisten waren sich mehrheitlich darin einig, dass die Wirtschaftskrise in Deutschland die Hauptursache für das dortige politische Chaos sei, und verwiesen auf die französische Mitverantwortung für diese Situation. Immer wieder zeigten sie Verständnis für Brüning und begrüßten den Entschluss der SPD, Brüning an der Macht zu halten,263 obwohl sie Schwierigkeiten damit hatte oder nicht genug Anstrengungen unternahm, ihre politischen Reden in konkrete Politik umzusetzen. Es blieb bei Solidaritätsbekundungen mit der SPD, wie der Grumbachs vom 7. März 1932 zum Beispiel: „ Nous ferons

258 Übersetzung des Zitats „Tous ceux qui dans le monde n’ont pas perdu l’espoir de voir l’Allemagne républicaine et démocratique vaincre l’assaut des revanchards d’extrême droite et d’extrême gauche sont reconnaissants à la social–démocratie d’avoir infligé au cabinet Brüning sa haute protection pour empêcher le triomphe de la folie raciste et hugenbergienne“. La Lumière vom 25/10/1930. Grumbach, Salomon: Grâce aux socialdémocrates, le Cabinet Brüning a pu repousser le premier assaut raciste–bolcheviste, S. 6. Wieder einmal zeigt sich in diesem Zitat, wie sehr die französischen Linken die Bedeutung und die Wichtigkeit der Person Hitlers für die nationalsozialistische Bewegung unterschätzten. 259 La Lumière vom 18/10/1930. Grumbach, Salomon: Qui l’emportera… 260 La Lumière vom 08/11/1930. Reber, Charles: Spectacle de la rue à Berlin, S. 2. 261 Vgl. ebd. 262 Vgl. ebd. 263 Am 27. Dezember 1930 schrieb die Lumière zum Beispiel: «Le cabinet Brüning, grâce à l’appui actif des sociaux–démocrates, est parvenu à se maintenir contre l’assaut des racistes hitlériens et des nationaliste hugenbergiens. Il a pu faire entériner au Parlement les décrets– lois publiés en application de l’article 48 de la Constitution de Weimar, pour assurer l’assainissement des finances du Reich“. Übersetzung: „Das Kabinett Brüning hat es dank der Unterstützung der Sozialdemokraten geschafft, den Angriffen der Rassisten um Hitler und der Nationalisten um Hugenberg standzuhalten. Es konnte vom Parlament die Notverordnungen billigen lassen, die nach Paragraph 48 der Weimarer Reichsverfassung erlassen worden sind, um die Finanzen des Reiches zu sanieren“.

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toujours l’effort de compréhension, qui nous parait plus indispensable que jamais lorsqu’on examine les choses et les gens d’Allemagne.“264 Anlässlich des Wiener Kongresses im Juli 1930 bat der deutsche Sozialdemokrat Otto Bauer die französischen Sozialisten direkt, ein Dokument zu unterzeichnen, das sie zu einem Engagement für die Revision des Versailler Vertrages verpflichte.265 Grumbach erklärte darauf, dass die Sorge um Deutschland für die französischen Sozialisten an erster Stelle stehe, dass sie aber gleichzeitig die deutschen Sozialdemokraten darum ersuchen müssten, alles zu tun, um die deutsche Regierung zu zwingen, „nichts zu unternehmen und nichts zu tolerieren, was den Frieden beeinträchtigen könnte“.266 Léon Blum, der ebenfalls den sozialdemokratischen Einfluss in Deutschland maßlos überschätzte,267 fügte hinzu, dass sich die französischen Sozialisten dafür einsetzen würden, Kredite für die Deutschen aufzutreiben, wenn denn „la social-démocratie pèse de toutes ses forces sur l’opinion allemande“.268 Statt eine Revision des Versailler Vertrags zu fordern, warben die beiden sozialistischen Politiker für „ein Europa, in dem die Grenzen ihre Bedeutung verlieren“.269 Geb ich dir was, gibst du mir was: So lautete ihre Devise, die noch einmal die großen Bedenken widerspiegeln, mit denen die Franzosen damals beschäftigt waren – die wirtschaftliche Unsicherheit und das Sicherheitsbedürfnis, das durch die Angst vor einem neuen Krieg geschürt wurde. Gleichzeitig zeigt diese Politik, wie falsch die Franzosen mit ihrer Einschätzung der deutschen Situation lagen. In den kommunistisch orientierten Zeitungen wurde die Politik der SPD, getreu der Klassenkampf-Ideologie, als Politik des „Sozialfaschismus“ bezeichnet. So wetterten die französischen Kommunisten hasserfüllt, dass die Sozialdemokratie „die erste Leiche auf dem Weg der siegreichen Revolution der Proletarier“ sei.270 Ohne Erbarmen wurden Brüning, die SPD und die Nationalsozialisten in denselben Topf geworfen, während man gleichzeitig die Kommunisten in Deutschland zur Agitation gegen Brüning und gegen die SPD aufrief. Die exakte Parallele, die sich hier im Vergleich zur Propaganda der deutschen Kommunisten 264 La Lumière vom 07/03/1931. Grumbach, Salomon: Un dilemme tragique pour la social– démocratie allemande, S. 6. 265 La Vie Socialiste vom 30/07/1931. Congrès de Vienne. La situation en Allemagne et en Europe centrale et la lutte pour la démocratie, S. 26–37. 266 Eine grundlegende Revisionserklärung der Verträge sei, so Grumbach weiter, nichtsdestotrotz nicht ausreichend, da es für die Probleme des polnischen Korridors und Danzigs einer „gemeinsamen Lösung“ bedürfe. Vgl. La Vie Socialiste du 30/07/1931, ebd. 267 Die Untertreibung bzw. Unterschätzung der nationalsozialistischen Gefahr ging mit einem unangebrachten Optimismus hinsichtlich der Macht der deutschen Sozialdemokratie einher. Vgl. Kimmel: Auftsieg des Nationalsozialismus. 268 La Vie Socialiste vom 30/07/1931. Congrès de Vienne. La situation en Allemagne et en Europe centrale et la lutte pour la démocratie, S. 26–37. 269 Vgl. ebd. 270 G. Smolanski in der 10. Vollversammlung des C.E. der kommunistischen Internationalen. Der Satz stammt aus einer Zitatesammlung zum Thema deutsche Sozialdemokratie, veröffentlicht im Bulletin Mensuel du Service de Documentation, August/September 1930. La social–démocratie, S. 14.

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auftut, war zu erwarten.271 Wieder einmal war es nur Monde, wo man sich die Mühe machte, die deutsche Sozialdemokratie näher zu beleuchten und immerhin einen kleinen Artikel über die Auseinandersetzungen innerhalb der SPD zwischen Mitgliedern, die Brüning unterstützen wollten, und anderen, die dies ablehnten, zu veröffentlichen.272 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Es versteht sich von selbst, dass die sozialdemokratische Haltung gegenüber Brüning bei den Rechten keinerlei ideologische Übelkeit verursachte – sie interessierten sich vor allem für die Stabilität der sozialdemokratischen Unterstützung Brünings. La Croix beobachtete die Sozialdemokraten aufgrund ihres kirchenunabhängigen Standpunkts mit andauerndem Misstrauen, zweifelte aber nicht an ihrem Willen, die Republik zu stärken.273 Le Temps beurteilte der Annäherung zwischen Sozialdemokraten und katholischem Zentrum als etwas Positives, sah er doch darin die beste Lösung zur Förderung der Demokratie und zur Verhinderung eines möglichen Einflusses nationalsozialistischer Ideen auf die politischen Ziele Brünings.274 Die extreme Rechte schließlich interessierte sich ganz besonders für die Rolle der SPD in Deutschland. Während sie die Linken in ihrem eigenen Land bekämpfte, lobte sie hier die unterstützende Funktion für die Regierung Brüning, den sozialdemokratischen Pazifismus und ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten.275 Gleichzeitig kritisierte sie heftig die „ruinösen“ sozialen Überzeugungen der SPD, die sie zu Gegnern Brünings machten und die die Zahlung der Reparationen gefährdeten.276 Genau dies war Grund genug für die Action Française zu lamentieren: „Qu’elle est décevante, cette République allemande qui, justement parce qu’elle est allemande, s’obstine à ne pas se régler sur les normes de la nôtre.“277 Zwei Monate später schlug die Action Française einen versöhnlicheren Ton an, schien nun aber am Pazifismus der SPD zu zweifeln: „Die Sozialdemokratie ist vernünftig und klug. Sie zieht das kleinere Übel vor, auch wenn es Kapitalismus und Notverordnungen heißt. Es wäre gut, wenn sie deshalb und aufgrund der Lage der Dinge nicht grundsätzlich von ihrer Rolle, die wir ihr hier zuschrei271 Zur Propaganda der deutschen Kommunisten, vgl. Striefler: Kampf um die Macht, S. 161f. 272 Monde vom 07/03/1931. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unter–Rubrik]: Le chancelier Brüning et la social–démocratie, S. 2. Eine andere Ausnahme stellt Pierre Brossolette von der Révolte dar. Er versuchte im Jahr 1931 rückblickend die politische Taktik der SPD zu verstehen. 273 La Croix vom 25/02/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 274 Le Temps vom 22/09, vom 04/10, vom 17/10 und vom 24/10/1930. 275 Vgl. L’Action Française vom 17/09/1930. Dernière Heure [Rubrik]: M. Brüning a décidé de rester au pouvoir, S. 2. 276 Vgl. L’Action Française vom 17/10/1930. Le chancelier Brüning et les socialistes, S. 1. 277 Ebd.

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ben, abrückt, nämlich die eines friedenstiftenden Elements.“278 Eigentlich unterschieden sich die Sozialdemokraten auch nicht vom Rest Deutschlands und folgten auch dem allgemeinen Instinkt zur Unterwerfung, denn Brüning, „tout petit réacteur comparé à Hitler [...] les réhabitue à un régime d’autorité comme elle y réhabitue toute l’Allemagne“.279 2.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931 – 30. Mai 1932) 2.2.1 Das neue Kabinett und die Rolle der SPD: Die Stützen der Republik a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Am 7. Oktober 1931 wurden der Rücktritt des ersten Brüning-Kabinetts und die Bildung des zweiten Kabinetts – ohne Curtius – in der Ere Nouvelle ohne weiteren Kommentar angekündigt.280 Am 14. Oktober folgten eineinhalb Spalten über die ganze Zeitungsseite zur Regierungserklärung Brünings im Reichstag. L’Ere Nouvelle bezeichnete diese wegen der „Energie“ von Brünings Stellungnahmen gegen die rechten Parteien und seiner Verurteilung des Harzburger Treffens als „eine der schönsten Reden, die seit langem von der Rednertribüne des Reichstags gehalten wurden“.281 Der Reichskanzler und sogar sein politisches Programm wurden von dem offiziösen Parteiorgan des Parti radical-socialiste in höchstem Maß gelobt, was seit den unheilvollen Debatten über die deutsch-österreichische Zollunion nicht mehr vorgekommen war. L’Ere Nouvelle ging sogar so weit, Brüning wieder in die Tradition Stresemanns zu stellen: „On souligne le fait que le chancelier s’est révélé orateur de grande classe et que depuis les interventions de Gustav Stresemann [...] on n’avait pas entendu de discours aussi vigoureux.“282 Sogar Salomon Grumbach von der Lumière, der Brüning schon so oft kritisiert hatte, stimmte in das Loblied mit ein: „Le chancelier [...] paraît être résolu à rester à son poste de combat aussi longtemps qu’il verra encore la moindre chance d’éviter à l’Allemagne – et à l’Europe – l’épreuve de l’aventure hitlérienne.“283 Nach Ansicht des sozialistischen Abgeordneten und Journalisten war Brüning im

278 Übersetzung des Zitats „La social–démocratie est sage, raisonnable. Elle préfère le moindre mal, même s’il s’appelle capitalisme et décrets–lois. Ce serait bien si, par là même et par la force des choses, elle n’abdiquait dans une large mesure le rôle pour lequel, chez nous, on la croit faite et née, celui d’élément pacifique“. L’Action Française vom 02/12/1930. Le moindre mal, S. 1. 279 L’Action Française vom 03/12/1930. Brüning et Hitler, S. 1. 280 L’Ere Nouvelle vom 07/10/1931. Dernières Nouvelles [Rubrik]: La crise allemande. La démission du cabinet Brüning, S. 3 281 L’Ere Nouvelle vom 14/10/1931. Au Reichstag le chancelier Brüning tient tête à l’opposition nationaliste, S. 1 + Dernières Nouvelles [Rubrik]: Le discours Brüning a fait impression, S. 3. 282 Ebd. 283 La Lumière vom 14/11/1931. Grumbach, Salomon: L’Allemagne attend, S. 6.

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Jahr 1931 nicht mehr derselbe wie im Jahr zuvor. Ein „Abgrund“ habe sich infolge der Erfahrungen und der Ereignisse zwischen dem neuen und dem alten Brüning aufgetan. Das „Verständnis einer Realität, die sich von der, die er vor seiner Regierungszeit zu sehen geglaubt habe, deutlich unterscheide“ − die nähere Beobachtung der deutsch-französischen Beziehungen und der Lage in beiden Ländern hätten dabei eine Rolle gespielt.284 Einen Monat später schrieb Grumbach, wie sich das Schicksal der deutschen Demokratie, das „von der Stabilität des sozialdemokratischen Damms“ und „vom Zögern des katholischen Zentrums“ abhänge, nun schon auf Messers Schneide befand: Er warnte davor, dass jeden Moment ein Bürgerkrieg ausbrechen könne.285 Der wohlwollende Ton gegenüber Heinrich Brüning breitete sich in den ersten Monaten nach Beginn seiner zweiten Amtszeit in allen sozialistisch geprägten Zeitungen Frankreichs aus – wenngleich die Rückkehr scharfer Kritik nicht lange auf sich warten ließ. Zunächst schrieb aber auch Marcel Déat – Anhänger des rechten sozialistischen Flügels – noch am 31. Oktober 1931, dass „die Regierung Brüning ein Wunder politischen Gleichgewichts hevorgebracht und dass sie – die Dikatur einmal unbeachtet – die Welt mit ihrer Härte und kurz gesagt mit ihrem Erfolg erstaunt hat“.286 Den Sozialisten wurde bewusst, was ihre politischen Ideale vielen von ihnen lange verdeckt hatten, nämlich, dass Brüning versuchte „eine Politik des ausgewogenen Mittelwegs“ zu betreiben und gleichzeitig dem Druck des „Arbeiterwiderstands“ und des „nationalistischen Drängens“ zu entkommen.287 Im Rückblick zeigte sogar ein Weggefährte der Kommunisten, Pierre Brossolette,288 Verständnis für die politische Taktik der SPD: „Man kann vom Standpunkt der Parteidoktrin aus gesehen, bedauern, dass die Sozialdemokratie Brüning seit Herbst 1930 unterstützt“, aber „sie hatten die Wahl: entweder Hitler den Weg zu versperren [...] oder Brüning fallen zu lassen“.289 Auf Seite der Trotzkisten, in der Vérité, fuhr man allerdings fort, vom „sozialdemokratischen Verrat“ und von der „Brüning-Dikatur“ zu sprechen.290

284 Vgl. ebd. 285 Vgl. La Lumière vom 12/12/1931. Grumbach, Salomon: Hitler arrivera–t–il au pouvoir ? S. 6. 286 La Vie Socialiste vom 31/10/1931. Déat, Marcel: La crise allemande. II. La crise économique et l’évolution intérieure, S. 6–12. 287 Ebd. 288 Pierre Brossolette (1903–1944): Absolvent der Ecole Normale Supérieur wie Marcel Déat. Arbeitete für die Zeitung La Lutte des Jeunes, Journalist und Weggefährte des PCF. Directeur technique der Marianne, der wichtigsten Wochenzeitung der französischen Linken, die am 26. Oktober 1932 von Gallimard auf den Markt gebracht wurde (bis zur Publikation des Vendredi im Jahr 1935). 289 La Révolte, Juli–August–September 1932. Brossolette, Pierre: Le jours d’épreuve du socialisme allemand, S. 26–31. 290 La Vérité vom 20/02/1931. Nazis et social–démocrates en Allemagne, S. 1.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Der Petit Parisien war sich der vielen Probleme bewusst, denen Heinrich Brüning bei der Bildung seines zweiten Regierungskabinetts begegnete. Nach dem Sprachrohr der rechten Mitte wurde die parlamentarische Situation in Deutschland immer „undurchsichtiger“ und man zweifelte an der unumstößlichen Unterstützung Brünings durch die Sozialdemokraten,291 die der Matin hingegen ausdrücklich lobte und das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie als die haltbarsten Stützen der Republik bezeichnete. Die SPD übernehme die Rolle des Wachpostens, der den Reichskanzler vor den Nationalsozialisten warne.292 In den rechten Kreisen Frankreichs begann man diese Rolle der SPD immer mehr zu schätzen. 2.2.2 Brüning und die Reichspräsidentschaftswahlen: Eine Atempause für die Republik? a) Von der linken Mitte bis zur extremen Linken Am 14. März 1932 veröffentlichte die Ere Nouvelle auf der Titelseite die Ergebnisse der Wahlen zum Reichspräsidenten unter dem beruhigenden Titel: „Le maréchal Hindenburg dépasse de loin les voix attribuées à Hitler.“293 Zwei Tage später veröffentlichte dieselbe Zeitung einen Artikel über Hindenburg, in der sie die Haltung der deutschen Sozialdemokratie teilte: Solange der „Greis“ da sei, sei „die gefährliche Alternative Restauration oder Diktatur [...] abgewendet. Die deutsche Demokratie hat Zeit zu verschnaufen.“294 Man gewann das Vertrauen in Deutschland zurück,295 weswegen die radikal-sozialistische Zeitung auch schrieb, dass es „Frankreich keineswegs sagen werde, es solle auf seine Locarno-Politik verzichten“.296 Albert Bayet297 beruhigte seine Leser sowohl was die Präsidentschaftswahlen als auch die Wahlen in Preußen (24. April 1932) betraf, indem er schrieb, dass insgesamt betrachtet „Hindenburg Hitler besiegt habe“ und dass selbst in Preußen „die Hitlerischen nicht in der Lage seien, eine Regierung zu bilden“.298 Anschließend appellierte er voller Überzeugung und mit Entschiedenheit

291 Vgl. Le Petit Parisien vom 09/10/1931. Pour former son cabinet le chancelier se heurte à des obstacles imprévues et multiples, S. 1 + 3. 292 Le Matin vom 07/12/1931. Les socialistes allemands somment le chancelier de défendre la République contre Hitler, S. 1. 293 L’Ere Nouvelle vom 14/03/1932. Le maréchal Hindenburg dépasse de loin les voix attribuées à Hitler, S. 1. 294 L’Ere Nouvelle vom 16/03/1932. Milhaud, Albert: Hindenburg, S. 1. 295 Vgl. hierzu auch Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus. 296 L’Ere Nouvelle vom 16/03/1932. Milhaud, Albert: Hindenburg, S. 1. 297 Albert Bayet (1880–1961): Lehrer am Louis–le–Grand, Pressevertreter und Mitglied der Bewegung Franc–Tireur. 298 La Lumière vom 30/04/1932. Bayet, Albert: La leçon des élections allemandes, S. 6.

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an die Franzosen, dass sie nun doch endlich eine Lehre aus diesen Wahlen ziehen sollten: Sie sollten eine nachdrücklichere Friedenspolitik betreiben, Konzessionen bei der Abrüstung299 und bei den Reparationen machen300 und die Fehler zugeben, die sie in ihrer Deutschlandpolitik gemacht hätten.301 Alle genannten Forderungen müssten „le programme du bon sens et de l’évidence“ bei den nächsten Wahlen in Frankreich sein – und wenn sie schon früher umgesetzt worden wären, hätte man „den Hitlerismus im Keim erstickt“.302 Die Sozialisten glaubten schließlich, dass Hitler zum ersten Mal eine wichtige Schlacht verloren habe303 und interpretierten diese Niederlage als einen moralischen Sieg der Republik. Beide Zeitungen nahmen davon Abstand, weiter über die Einmischungen des Reichspräsidenten in den politischen Alltag Brünings und die Probleme, die sich daraus ergaben, zu diskutieren.304 Der Eindruck, dass Hindenburg die einzige Möglichkeit war, die Demokratie in Deutschland zu erhalten, blieb das alleinige Thema der öffentlichen Debatte. Die Kommunisten allerdings beurteilten die Lage anders. Für die Révolution Prolétarienne war es nicht mehr der Reichskanzler, sondern nur noch der Reichspräsident, der die politischen Entscheidungen in Deutschland traf: „Am 8. Dezember 1931 hat die Regierung Brüning, oder genauer gesagt der Reichspräsident selbst – denn die Anwendung des Paragraphen 48 der Reichverfassung hat das parlamentarische System in Deutschland außer Kraft gesetzt – ein neues Weihnachtsgeschenk verschenkt eine neue „Verordnung aus der Not heraus [Notverordnung].“305 Monde widmete den Präsidentschaftswahlen und den politischen Motivationen der Kandidaten – ohne jemals Brüning zu erwähnen – eine kleine Serie relativ friedlicher Artikel, in denen nüchtern festgestellt wurde, dass Thälmann der einzige „Kandidat der Arbeiter“ sei,306 Hindenburg gewinnen würde

299 „Quoi de plus conforme à nos ‘‘principes’’ que de réduire progressivement nos armements [...]“. La Lumière vom 30/04/1932. Ebd. 300 „Je le demande à tous les Français [...]: n’est–il pas plus sage [...] de déclarer que, quel que soit notre incontestable droit, nous sommes prêts à en faire l’abandon pour venir en aide à l’Allemagne, à l’Europe et à la paix [...].“ La Lumière vom 30/04/1932. Ebd. 301 „ [...] en 1918, la France n’avait aucun droit quelconque sur les colonies qu’elle a arrachées à l’Allemagne.“ La Lumière vom 30/04/1932. Ebd. 302 Ebd. 303 Vgl. Le Canard Enchaîné vom 16/03/1932. Karikatur: La passion à Berlin, S. 1. 304 Sogar Oreste Rosenfeld, Journalist des Populaire, bezeichnete Brüning nicht mehr als den „Kanzler Hindenburgs“, wie er es 1930 noch gemacht hatte. Vgl. Le Populaire vom 13/10/1930. Rosenfeld, Oreste: En pleine confusion. 305 Übersetzung des Zitats „Le 8 décembre 1931 le gouvernement Brüning, ou plutôt le président du Reich en personne – car l’application du paragraphe 48 de la Constitution a supprimé le régime parlementaire en Allemagne – a offert en cadeau de Noël [...] une nouvelle ‘‘ordonnance de détresse’’ “. La Révolution Prolétarienne, Januar 1932. J.F.: Lettre de l’Internationale, S. 23/55–24/56. Es handelt sich um die Notverordnung vom 8.12.1931. Vgl. hierzu. Hömig: Brüning (I), S. 439–441. 306 Monde vom 12/03/1932. S. L.: En Allemagne. Hitler…Thälmann…Hindenburg…, S. 12.

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und Hitler „es nicht schaffen wird, das Hindernis der sieben Millionen Stimmen zu überwinden, die ihn von Hindenburg trennen“.307 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Nach dem zweiten Wahlgang zum Reichspräsidenten zeigte sich der Petit Parisien erleichtert, dass das „System Brüning noch für eine gewisse Zeit weiterbestehen“ könne, brachte aber gleichzeitig seine Sorgen angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus zum Ausdruck. Das Ergebnis vom 10. April 1932 enthalte „eine doppelte Lehre“: „einerseits das immer noch bestehende Ansehen von Feldmarschall Hindenburg bei den Deutschen, die vernünftig sind und Ausgewogenheit wünschen, andererseits der wachsende Einfluss Adolf Hitlers auf die aufgewühlte Jugend, die nach Neuem giert“.308 La Croix zweifelte nicht daran, dass es für die deutschen Wähler keinen idealen Kandidaten gebe; selbst Hindenburg sei nur ein Kompromiss, um den sich die Katholiken und die Sozialdemokraten mangels einer besseren Alternative scharren würden.309 Die katholische Tageszeitung schrieb, dass es der deutschen Republik noch immer an überzeugten Anhängern und republikanischen Traditionen im französischen Sinne fehle und dass sie noch immer unter dem Zusammenbruch des Kaiserreichs leide, was das Spiel der politischen Extremisten erleichtere.310 Da La Croix Hindenburg nicht traute, setzte sie ihre ganze Hoffnung auf die Zentrumspartei und Brüning, „le principal pilier de l’ordre“.311 Nach dem 10. April 1932, dem „zweiten Akt des Dramas, für das Deutschland die Schaubühne ist“, war La Croix keineswegs beruhigt. Pierre Delattre hatte „den Mut, es zu schreiben: Der wahre Sieger des Tages ist Hitler...“312 Es war ein charakteristisches Merkmal der französischen Rechten, von den Gemäßigten bis zu den Nationalisten, dass sie jede innenpolitische Angelegenheit Deutschlands mit den Fragen nach den Reparationen und der französischen Sicherheit verknüpften. Je weiter man nach rechts schaut, desto listiger waren sowohl die Kritiken an den französischen Pazifisten als auch die Warnungen vor den Deutschen. Um die Meinung der nationalistischen Rechten zu Hindenburg zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen wirklich zu erfassen (was auch indirekt Aufschluss über ihre Wahrnehmung der Regierung Brüning und ihrer Politik gibt), ist es angebracht, hier aus einem satirischen Artikel zu zitieren, der schon 307 Monde vom 19/03/1932. Rossi, Angelo: La journée d’Hindenburg, S. 8. 308 Übersetzung des Zitats „D’une part, prestige maintenu du maréchal Hindenburg auprès des Allemands doués de sagesse et désireux d’équilibre. D’autre part, emprise croissante d’Adolf Hitler sur une jeunesse remuante et avide de nouveau“. Le Petit Parisien vom 11/04/1932. Bourguès, Lucien: Hindenburg est réélu Président du Reich. 309 La Croix vom 27/02/1932. Caret, J.: Qui sera président du Reich ? S. 1. 310 Vgl. ebd. 311 Ebd. 312 La Croix vom 21/04/1932. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4.

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im September 1930 im Cyrano veröffentlicht wurde. Clément Vautel entwarf dort das Szenario einer besiegelten deutsch-französischen Allianz und gab ein erfundenes Gespräch zwischen dem französischen Präsidenten und Hindenburg anlässlich dessen imaginären Besuchs in Paris zum Besten: „- Kennen Sie Paris, Herr Feldmarschall? fragte der Präsident der Republik. Ich bin schon mal hierher gekommen, aber das ist lange her. Ah! Ja, das war 1871... Seitdem wollte ich wieder nach Paris kommen, aber ich wurde auf dem Weg aufgehalten... Sprechen wir nicht mehr darüber. Sie haben Recht. Vergessen wir die Vergangenheit. Ach! Was Paris doch für eine schöne Stadt ist! Wissen Sie, was mich am meisten verwundert, Herr Präsident? Nein, Herr Feldmarschall. Nun, mich hier zu sehen!“313

Auch die Action Française war immer noch überzeugt, dass zwischen dem Deutschland Bismarcks und Wilhelms II. und dem Deutschland Hindenburgs und Brünings kein Unterschied bestehe.314 Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen kümmerte sie entsprechend wenig. 2.2.3 Brüning und Hitler: Gegner oder Gleichgesinnte? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Schon seit den Septemberwahlen 1930, aber vor allem seit dem Winter 1931/32 begannen die französischen Linken sich aufmerksamer mit Hitler zu befassen und wahrzunehmen, welche Gefahr die Nationalsozialisten für die Regierung Brünings bedeuteten. Bei L’Ere Nouvelle begriff man im Januar 1932, dass Hitler und Hugenberg der Regierung Brüning tatsächlich „einen gnadenlosen Krieg“ erklärt hätten,315 glaubte aber drei Monate später, dass der „hitlérisme“ nun doch praktisch gebannt sei, infolge der Verbote der SA und SS durch Hindenburg, „der eine 313 Cyrano vom 07/09/1930. Autour et alentour [Rubrik]. Vautel, Clément: L’alliance franco– allemande, S. 5–6. 314 L’Action Française vom 12/08/1930. Le Boucher, J.: De Bismarck à Treviranus. S. 1. 315 L’Ere Nouvelle vom 13/01/1932. La dénonciation par le chancelier Brüning des accords de La Haye n’est payée par Hitler et Hugenberg que d’insultantes proclamations hostiles, S. 1.

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Entscheidung getroffen hat, die das Schicksal Deutschlands und Europas ändern muss“.316 Am 27. April sah man dann in Hitler nur noch „einen Strohmann und einen Zufallsanlass für die Deutschen, eine nationale und gesellschaftliche Einstellung an den Tag zu legen, die eine Rückkehr zu den Hohenzollern bedeutet“.317 Und obwohl sie von der „großen Verantwortung“ des Zentrums in dieser unsicheren Lage sprachen und befürchteten, Brüning habe mit seiner Politik nicht mehr als „einen zeitlichen Aufschub“ erwirkt, erfassten sie weder die eigentliche Ideologie des Nationalsozialismus noch die Gefahr, die er für die Weimarer Republik darstellte. Salomon Grumbach beurteilte die Lage etwas realistischer, als er im Dezember 1931 vor dem Ausbruch eines Bürgerkriegs in Deutschland warnte und von der Möglichkeit sprach, dass Hitler an die Macht kommen könne. Gleichwohl blieb er überzeugt, dass Deutschland dank Heinrich Brüning und der SPD „diesem Abenteuer entkommen könne“.318 Noch im März 1932 wiederholte er diese Ansicht, als er von „einer Periode relativer Ruhe“319 sprach und davon, dass es „Anlass gebe zu glauben, dass der Zentrumspolitiker Brüning genauso entschlossen sei wie die Sozialdemokraten, gegen die bewaffneten Organisationen Hitlers zu kämpfen“.320 Die Lage in Deutschland war aber für Grumbach nicht weniger paradox: „Hitler würde gerne die Republik ausschalten, indem er republikanische Mittel verwendet; Brüning-Braun versuchen sie zu retten, indem sie die Hitlerischen Methoden anwenden.“321 Die Debatten innerhalb des Zentrums, ob man nun die Nationalsozialisten an der Regierung beteiligen solle, um ihre politische Unfähigkeit aufzuzeigen, wurden von der Lumière mit Verständnis verfolgt, obwohl sie die Ablehnung eines solch gefährlichen Vorhabens von Seiten der Regierung lobte. Eine gewisser Zweifel an ihrem eigenen Optimismus blieb aber auch bei der Lumière bestehen: „Wenn die Wirtschafts- und Finanzsituation und die psychologische sowie moralische Lage nicht tiefgreifende Veränderungen erfahren, dann

316 L’Ere Nouvelle vom 14/04/1932. Un geste heureux. Hindenburg et ses ministres ordonnent le désarmement des organisations hitlériens, S. 1. 317 Übersetzung des Zitats „qu’un prête–nom, la cause occasionnelle, pour les Allemands, de manifester un sentiment national et social qui signifie le retour aux Hohenzollern“. L’Ere Nouvelle vom 27/04/1932. Le Centre et Hitler, S. 1. 318 La Lumière vom 12/12/1931. Grumbach, Salomon: Hitler arrivera–t–il au pouvoir ? S. 6. 319 Relativ, weil er bemerkte, dass „sans la détente psychologique [...] provoquée [...] par l’insuccès de Hitler lors de l’élection présidentielle, la catastrophe politique, économique et financière eût été inévitable“. La Lumière vom 26/03/1932. Grumbach, Salomon: Le gouvernement prussien contre Hitler et ses troupes, S. 2. 320 Ebd. 321 Übersetzung des Zitats „Hitler voudrait vaincre la République en utilisant les outils démocratiques; Brüning–Braun essayent de la sauver en employant les méthodes hitlériennes“. La Lumière vom 14/05/1932. Grumbach, Salomon: La situation en Allemagne reste trouble, S. 12.

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sind alle Befürchtungen erlaubt.“322 Der Populaire, der sich weniger für die Ursachen des nationalsozialistischen Erfolgskurses interessierte, urteilte weitaus schärfer über die Begegnungnen zwischen Brüning und Hitler. Oreste Rosenfeld schrieb, dass Brüning schlichtweg „seine Maske abgeworfen habe“.323 Für Rosenfeld, der dem linken Flügel der SFIO nahe stand, war Brünings „angeblicher Krieg gegen die Nazis“ nur „un artifice destiné à donner le change à l’opinion publique et à cacher le rapprochement du Centre catholique avec les nationalsocialistes“.324 „Wohin geht Deutschland?“ und: „Welche Lösung können wir liefern?“ waren auch die beherrschenden Fragen im Etudiant Socialiste.325 Angelo Rossi,326 italienischer Kommunist und Journalist bei Monde, sah die einzige Möglichkeit, „den Hitlerismus zu besiegen“, in „einer großen Aktion internationaler Solidarität“ der Arbeiterklassen von Frankreich, England und natürlich der Sowjetunion.327 Da Rossi die Politik Brünings aber als die einer „Diktatur“328 wahrnahm, hatte Monde wieder keine andere „Alternative“, die man Deutschland vorschlagen konnte, als die eines sozialistischen Staates. Regards kritisierte mittels einer vielsagenden Karikatur Brünings Überlegungen, die Nationalsozialisten in die politische Pflicht zu nehmen. Während sich Brüning auf der Zeichnung in der Pose eines Denkers folgenden Rat anhört: „Man kann so eine konstruktive nationale Macht wirklich nicht lange von der Regierung ausschließen“, errichten die Nationalsozialisten im Hintergrund zahlreiche Galgen und eine Guillotine.329 Die Verité schließlich unterbreitete, dem Rat Totzkis folgend, den Vorschlag, „eine Front“ aus KPD und SPD gegen die „Faschisten“ zu bilden.330 Die Trotzkisten und Kommunisten waren sich allerdings in einem Punkt einig: In keine Vorstellung, wie man die Nationalsozialisten bekämpfen könne, bezogen sie Brüning und sein Kabinett mit ein.

322 Übersetzung des Zitats „Si la situation économique et financière, et [...] l’atmosphère psychologique et morale ne subissent pas des transformations profondes, toutes les craintes sont permises“. Ebd. 323 Le Populaire vom 08/01/1932. Rosenfeld, Oreste: M. Brüning jette le masque. 324 Ebd. In dem politischen Kreis, der Brüning umgab, gab es Personen (wie Schleicher), die Kontakt zu Hitler und Hugenberg aufnahmen. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 139 325 L’Etudiant Socialiste, März 1932. Où va l’Allemagne, S. 1–2. 326 Angelo Rossi (1892–1960), genannt Tasca, Angelo: Einer der Gründer und Führer der italienischen kommunistischen Partei; Sekretariatsmitglied der Kommunistischen Internationalen (1928), Mitarbeiter von Monde (1930–1933) nach seinem Bruch mit der Kommunistischen Internationalen. Widmete sich zwei großen Themen: die Analyse des Faschismus und die Revision des Marxismus. In diesen Jahren entwickelte sich sein Denken und er verlor seine leninistischen Überzeugungen von 1930. 327 Monde vom 30/04/1932. Rossi, Angelo: A propos des élections prussiennes, S. 10. 328 Vgl. Monde vom 21/05/1932. Panorama [Rubri]: La semaine politique [Sous–Rubrique]: La crise allemande, S. 14 329 Regards, Februar 1932. Karikatur: L’activité hitlérienne, S. 12. 330 La Vérité vom 01/05/1932 und vom 18/05/1932.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Mit Beginn des zweiten Kabinetts Brüning wurde der Reichskanzler im Petit Parisien als ein festes Bollwerk gegen den politischen Agitator Adolf Hitler dargestellt.331 Seine Kontaktaufnahme mit Hitler sei nur dem Versuch geschuldet, die Republik zu stabilisieren und Hindenburg als Präsidenten zu behalten: „Le but que poursuit le chancelier Brüning est clair. Comme tous les éléments modérés de la politique allemande, il espère pouvoir obtenir la prolongation du mandat du président von Hindenburg“.332 1932 gab auch La Croix ihren Lesern zu verstehen, dass sie nicht an eine Zusammenarbeit zwischen dem Zentrum, das die „Ordnung“ bewahre und den Nationalsozialisten glaube, die für „Anarchie“ und „Chaos“ stünden.333 Sie machte allerdings auch deutlich, dass Hitler dem Reichskanzler immer mehr Schlingen um den Hals lege. Le Matin wiederum warf der Regierung Brüning vor, mit dem Verbot der SA, „der Armee Hitlers“, gezögert zu haben.334 Albert Rivaud von der Revue des Deux Mondes zeigte sich weit pessimistischer. So meinte er, dass sich Heinrich Brüning „der nationalsozialistischen Bewegung ganz unsensibel genähert hat“.335 Gleichzeitig kritisierte er die Naivität der Franzosen: „Si nous en doutions encore, les derniers discours de M. Brüning, la démission forcée du général Groener suffiraient à nous avertir.“336 Rivaud zweifelte keinen Augenblick daran, dass das deutsche Volk hier seiner natürlichen Entwicklung folge. Er war von diesem Standpunkt umso überzeugter, als er glaubte, eine Analyse der deutschen Lage vorgenommen zu haben, die gänzlich frei von einer „Psychologie der Völker“ sei.337 2.2.4 Der Sturz der Regierung Brüning: Überraschung oder logische Folge einer politischen Entwicklung? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Am 31. Mai 1932 zeigte sich die Ere Nouvelle ganz niedergeschmettert von einem Ereignis, dass sie „einen Blitzeinschlag“ nannte: „Hindenburg hat Kanzler Brüning entlassen“ titelte sie auf der ersten Seite in fettgedruckten Buchstaben.338

331 Vgl. Le Petit Parisien vom 09/12/1931. Le chancelier Brüning adresse par radio de fermes paroles au peuple allemand, S. 1. 332 Le Petit Parisien vom 08/01/1932. Hitler vient d’avoir un long entretien avec M. Brüning. 333 La Croix vom 21/04/1932. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 334 Le Matin vom 14/04/1932. Le gouvernement du Reich a dissous l’armée de Hitler et saisi son matériel, S. 1. 335 La Revue des Deux Mondes vom 15/06/1932. Rivaud, Albert: Psychologie du peuple allemand. Bd. IX, S. 771. 336 Ebd. 337 Vgl. ebd., S. 755f. 338 L’Ere Nouvelle vom 31/05/1932. L’éclair dans la nue. Hindenburg a congédié le chancelier Brüning, S. 1.

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„Die Hoffnungen der ‚linken’ Deutschen wurden enttäuscht“ hieß es weiter im Artikel, der nicht verhehlte, dass diese Entäuschung von den französischen Linken geteilt wurde. Diese sahen nun die Errichtung einer Diktatur oder „die Restauration der Hohenzollern“ voraus339 – was wieder einmal zeigt, wie wenig sie Hitler und die NSDAP richtig einzuschätzen wussten. Trotz allem flackerte in diesem Artikel eine gewisse Bewunderung für Brüning auf: „Wenn es wahr ist, dass er die Beschwörungen des Feldmarschalls Hindenburg abgelehnt hat, der ihn dazu drängen wollte, mit den Nationalisten zu regieren, hat Herr Brüning mit seinen Rücktritt einen Schritt unternommen, der seine Charakterstärke ehrt.“340 Aus der Sicht der Zeitung Œuvre war der Rücktritt der Regierung Brüning die logische Konsequenz der vielen Stimmen, die die nationalistische Rechte und die Nationalsozialisten seit den Septemberwahlen 1930 gewinnen konnten341, und stellte „eine kapitale Wende in der Geschichte“342 dar, weil mit Brüning jemand gehe, „der sich noch als Fortsetzer Stresemanns dargestellt“ habe.343 Mit dem Sturz der Regierung Brüning ging für Salomon Grumbach eine „Tragikkomödie“ zu Ende.344 In Hinblick auf die „unabsehbare“ Zukunft, rief er noch einmal dazu auf, die Wirtschaftskrise, diese „Hauptquelle der Verzweiflung und des nationalistischen Irrsinns“ einzudämmen.345 Eine handschriftliche Notiz aus dem Dossier Léon Blum im Office Universitaire de Recherche Socialiste in Paris346 belegt, dass die französischen Sozialisten anlässlich der Machtergreifung Hitlers die französische Regierung rückblickend noch einmal daran erinnerten, dass „sie eine schwere Verantwortung für den Sturz der deutschen Republik“ getragen habe, die sich mit dem Rücktritt der Regierung Brüning ankündigte. Die Vérité reduzierte am „Vorabend der faschistischen Machtergreifung“ das Erbe der Brüningschen Politik auf die wachsende Macht des „Faschismus“.347 Sie stimmte hier mit den Ansichten der Kommunisten überein, die auch in der Correspondance Internationale veröffentlicht wurden: „Zwei Jahre lang hat die deutsche Sozialdemokratie die arbeitenden Massen in die Irre geführt, indem sie behauptet hat, dass diese Politik [jene Brünings] das beste Bollwerk gegen den Fa-

339 Ebd. 340 Übersetzung des Zitats „S’il est vrai qu’il ait refusé de se rendre aux adjurations du maréchal Hindenburg qui le pressait de gouverner avec les nationalistes, M. Brüning, en démissionnant, a accompli un geste qui honore son caractère“. L’Ere Nouvelle vom 31/05/1932. Dernières Nouvelles [Rubrik]: Le départ de Brüning et l’opion allemande, S. 3. 341 Vgl. l’Œuvre du 31/05/1932. La démission, S. 1. 342 L’Œuvre vom 31/05/1932. Après ses deux entretiens avec le Président Hindenburg, le chancelier Brüning démissionne, S. 1. 343 Ebd. 344 La Lumière vom 04/06/1932. Grumbach, Salomon: Hindenburg contraint Brüning à quitter le pouvoir, S. 2. 345 Ebd. 346 Zitat aus einer handschriftlichen Notiz Léon Blums. In: Fonds André Blumel 192 9–1939: 14 APO: Dossier Léon Blum. Discours et propos de Léon Blum 347 La Vérité vom 01/06/1932. A la veille de la prise du pouvoir par le fascisme, S. 1.

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schismus darstelle“.Es seien aber die Kommunisten gewesen, die bis jetzt Recht behalten hätten: „Sie haben den Arbeitermassen gesagt, dass die Politik der immer schnelleren Faschisierung, so wie sie von der Regierung Brüning betrieben wurde, in Wahrheit den Weg zu einer offenen, faschistischen Diktatur geebnet hat.“348 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Le Temps sah im Sturz der Regierung Brüning ein politisches Ereignis von größter Bedeutung, das den bis dahin in der Zeitung vertretenen Optimismus und das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie in Deutschland in Frage stellte: „Der Sturz der Regierung Brüning, so vorhersehbar er war, ist doch ein so deutlicher Wendepunkt in der Gesamtpolitik des Reichs, dass man den Eindruck eines klaren Schnitts gewinnt zwischen dem, was war, und dem, was sein wird, und dass ein Übergang außerordentlich schwierig erscheint.“349 René Royère in La Croix zeigte sich hingegen wenig überrascht, da „la position du chancelier était définitivement sapée“.350 Royère bedauerte das Ende dieser deutschen Regierung, glaubte aber, dass der Rücktritt das Einzige gewesen sei, das ein so integrer Politiker wie Brüning habe machen können, „nachdem er sich zwei Jahre lang ehrlich und hartnäckig an der Macht gehalten habe, trotz der Attacken“.351 Tatsächlich stimmte Royère ein von Wertschätzung und Verständnis geprägtes regelrechtes Loblied auf Brüning an: „Dr. Brüning hat es vorgezogen zu gehen. Und es ist besser so. Denn wenn er in der Regierungsverantwortung geblieben wäre, entweder als Kanzler oder als einfacher Angehöriger einer rechten Regierung, dann hätte er unweigerlich feststellen müssen, dass seine Person nur noch eine Fassade gewesen wäre, hinter der man seine maßvolle Politik eilig eins nach dem anderen zerstört hätte“.352 „Die Entscheidung Brünings ist also nichts weiter als die ehrenwer-

348 Übersetzung der Zitate „Deux années durant, la social–démocratie allemande a trompé les masses laborieuses en affirmant que cette politique [jene Brünings] représente le meilleur rempart contre le fascisme“ und „Ils ont dit aux masses ouvrières que la politique de fascisation accélérée, telle que l’[a] pratiquée le gouvernement Brüning […] préparait en réalité le chemin de la dictature fasciste ouverte“. La Correspondance Internationale vom 04/06/1932. Le Comité Central du PCA et la chute du gouvernement Brüning, S. 509. 349 Übersetzung des Zitats „La chute du cabinet Brüning, pour prévue qu’elle fût, marque un tournant tel dans la politique générale du Reich qu’on a le sentiment d’une coupure nette entre ce qui fut, et ce qui sera et que toute transition paraît singulièrement difficile“. Le Temps vom 01/06/1932. Zitiert nach Hörling: L’opinion française (I), S. 628. 350 La Croix vom 01/06/1932. Royère, René: La crise politique allemande, S. 1 + 2. 351 Vgl. ebd. 352 Übersetzung des Zitats „Le Dr Brüning a préféré s’en aller. Et c’est mieux ainsi. Car, indubitablement, s’il était resté au pouvoir, soit comme chancelier encore, soit comme simple associé d’un gouvernement de droite, il n’aurait pu que constater que sa personnalité n’était plus qu’une façade derrière laquelle on s’empresserait de démolir pièce à pièce sa propre politique de modération“. Ebd.

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te Beendigung eines Dilemmas, mit dem er konfrontiert war“, schloss Royère ab.353 Bei den Journalisten von Matin verursachte der Sturz der Regierung keinerlei Aufregung. Die Tageszeitung stellte nur nüchtern fest, dass sich Brüning „nur dank der Notverordnungen an der Macht gehalten und regiert hat“ und dass „der Reichstag in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht mehr dem Willen des deutschen Volkes entsprach“.354 Claude-Jean Gignoux sah in der Journée Industrielle auch nichts Erstaunliches im Abgang Brünings, den er in die politische Tradition Deutschlands stellte: „Der Generalfeldmarschall von Hindenburg hat sich nun auf dieselbe Weise von seinem Kanzler Brüning getrennt wie einst sein berühmter Souverän von den Herren von Bismarck oder Bernhard von Bülow. Es ist nicht angebracht, sich allzu sehr über diese eigenartige Art der Anwendung des parlamentarischen Systems zu wundern, weil es ja selbst Herrn Brüning nur gelang zu regieren, indem er den Reichstag beurlaubte.“355 Der ironische Ton seines Artikels kann allerdings nicht seine Angst vor einer „behelmten Diktatur“ verbergen. Der Autor schien aber trotz seiner Kritik an Deutschland und an Frankreich, dem er vorwarf, eine zu wohlwollende Politik betrieben zu haben, Brüning, „den Kanzler [und] Bollwerk des Republikanimus“, zu bedauern.356 Echo de Paris betrachtete das Ende der Regierung Brüning als logische Folge einer politischen Entwicklung, die eine Diktatur in Deutschland errichte und konsolidiere. Pertinax konnte keinerlei Unterschied zwischen dem Repräsentanten des „ewigen“ Deutschland, Heinrich Brüning, und seinem potentiellen Nachfolger Hitler erkennen.357 3. Brüning in der Vorstellungswelt der französischen Parlamentarier Im französischen Parlament herrschte, was die Zukunft der deutschen Demokratie betraf, die gleiche Unsicherheit, wie in all den anderen in dieser Arbeit betrachteten gesellschaftlichen Gruppen in Frankreich. Die Postionen der Parlamentarier schwankten zwischen der Überzeugung, dass Brüning ein Kämpfer für die Republik sei, und der Furcht, dass hinter Brünings Politik eine entschiedene Rückkehr

353 Übersetzung des Zitats „La décision du Dr Brüning n’est donc que l’aboutissement honorable de sa part d’un dilemme devant lequel il était implacablement placé“. Ebd. 354 Le Matin vom 31/05/1932. Le docteur Brüning a remis au Président Hindenburg la démission collective du cabinet, S. 1. 355 Übersetzung des Zitats „Le maréchal d’Empire von Hindenburg vient de se séparer du chancelier Brüning exactement dans le même style qu’employa jadis son illustre souverain pour mettre fin à l’activité de M. de Bismarck ou de M. Bernard de Bülow. Il ne convient pas […] de trop s’étonner de cette originale application du système parlementaire, puisque M. Brüning ne parvenait lui–même à gouverner qu’en mettant le Reichstag en vacances“. La Journée Industrielle vom 01/06/1932. Gignoux, Claude–Jean.: Du nouveau à l’est, S. 1. 356 Vgl. ebd. 357 L’Echo de Paris vom 31/05/1932. Pertinax: Le cabinet Brüning est démissionnaire, S. 1.

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zu einer kaiserlichen oder gar diktatorischen Regierung stecke. Der Einfluss ihrer innenpolitischen Interessen (vor allem die Sorge, Wählerstimmen zu gewinnen) auf die Art, wie sie Deutschland beurteilten, war nicht unbeträchtlich. Das Gefühl, entweder zwei verschiedenen Deutschlands gegenüberzustehen oder einem einzigen „ewigen“ Deutschland, spielte eine entscheidende Rolle für die Verteidigung ihrer politischen Programme und Überzeugungen in Frankreich.358 Diese Grundlage der Deutschlandwahrnehmung darf man nicht außer Acht lassen, wenn nun die Entwicklung der parlamentarischen Vorstellungswelt vorgestellt wird. 3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930 − 7. Oktober 1931) a) Von der linken Mitte zu extremen Linken Trotz seiner Kritik der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik beruhigte der radikale Abgeordnete und Referent der Commission des Finances, Charles Dumont, die Senatsabgeordneten hinsichtlich des demokratischen Systems in Deutschland: Dass dieses System Opfer einer „crise de folie“ sei, ist für ihn eine „verrückte Hypothese“.359 „Eine aus Verrückten bestehende Regierung“ mit Hugenberg, Hitler oder den Kommunisten erschien ihm umso unwahrscheinlicher, als Hugenberg seit dem Amtsantritt Brünings „für die Regierung stimme“.360 Sein Vertrauen in die Deutschen, das er gebetsmühlenartig vortrug, stützte sich allein auf diesen Punkt. Aristide Briand hingegen kaschierte seine Sorgen angesichts der Wahlergebnisse im September 1930 nicht,361 machte aber umso eiliger deutlich, dass sein Vertrauen in die demokratischen Kräfte und ihren Widerstand gegen extremistische Verlockungen ungebrochen sei: „Il y a tout de même en Allemagne et même en Prusse, ce qui n’est pas un élément négligeable, des hommes résolus à maintenir la constitution républicaine.“362 Darüber hinaus zeigte er auch Verständnis für den politischen Kurs Brünings: „Aucun gouvernement allemand n’aurait pu se tenir debout dans la voie constitutionnelle.“363 Wie die Mehrheit der Linken (darunter auch Grumbach)364 sah er in der „schrecklichen Wirtschaftskrise“ die Ursache für die Wahlerfolge der Nationalsozialisten und Kommunisten und beurteilte diesen Ausbruch von „Wut“, „Verzweiflung“, „Antikapitalismus“ und „Chauvi-

358 359 360 361

Mehr dazu im Teil III dieser Arbeit. Debatte im Senat, 05/04/1930. Annales, Bd. 116, S. 949. Ebd. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés, 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 105; Debatte in der Chambre des Députés, 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1416. 362 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés, 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 105. 363 Ebd. 364 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés, 13/02/1931. Annales, Bd. 166, S. 583.

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nismus“ in der deutschen Gesellschaft als vorübergehend.365 Anfang 1931 zeigte er im Verlauf der Anhörung vor der Commission des Affaires Etrangères noch einmal eine gewisse Bewunderung für Brüning und seine „nicht unwesentlichen“ Anstrengungen angesichts „der Stimmung in Deutschland“, die kritische Lage nach den Septemberwahlen wieder in den Griff zu bekommen:366 „Als die Ergebnisse den Völkerbund erreichten, richteten sie solche Verheerungen in den deutschen Kreisen an, dass ich mich gefragt habe, ob es in Berlin ein Regierung gebe, die diese Situation bewältigen kann. Sie hat sich aufgestellt, Zeit gewonnen und so die Gefahr des Anarchismus abgewendet, denn die Bewegung um Hitler ist nichts anderes. Das ist meiner Meinung nach ein großer Erfolg.“367 Aus diesem Grund fürchtete Briand „die deutsche Revolution nicht mehr als irgendeine andere Bewegung in einem anderen Land“.368 Briand wollte es Brüning – den er als Kopf „einer vernünftigen Regierung“ bezeichnete – ermöglichen, wieder Schritt für Schritt Ordnung und innere Sicherheit in Deutschland zu schaffen369 und die „wirren [politischen] Bewegungen“ einzudämmen.370 Briands Vertrauen in den deutschen Reichskanzler hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur rhetorischen Charakter.371 Salomon Grumbach teilte diese Ansicht bei einer Debatte in der Chambre des Députés am 13. Februar 1931. Grumbach sprach dort von einem „republikanischen Deutschland“, von dem Brüning ein Teil sei und das „gegen das rassistische Deutschland aufgestellt“ sei.372 Grumbach machte immer wieder einen Unterschied zwischen einem „republikanischen“ und „pazifistischen“ Deutschland und einem „rassistischen“ und revanchistischen Deutschland.373 Der sozialistische Parlamentarier Grumbach zweifelte keinen Augenblick daran, dass Brüning die

365 Debatte in der Chambre des Députés, 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 104. 366 AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 09/02/1931, S. 41. 367 Übersetzung des Zitats „Quand les résultats parvinrent à la Société des Nations, ils firent de tels ravages dans les milieux allemands que je me suis demandé s’il se trouverait, à Berlin, un Cabinet capable de faire face à cette situation. Il s’est dressé, a gagné du temps, écartant le péril anarchiste, car le mouvement hitlérien n’est pas autre chose. Cela me paraît un bon résultat“. Ebd. 368 Übersetzung des Zitats „pas plus la révolution allemande que les autres mouvements d’un pays quelconque“. Ebd., S. 38. 369 Ebd., S. 42. 370 Ebd., S. 39. 371 Die von Frano Ilić vorgenommene Analyse der politischen Reden in Frankreich in den 1920er Jahren bestätigt diesen Eindruck. Briand war davon überzeugt, dass es genug vertrauenswürdige Figuren in Deutschland gäbe, um eine dauerhafte deutsch–französische Zusammenarbeit zu ermöglichen. Er hat dies immer wieder und mit Nachdruck wiederholt. Seine gesamte Deutschlandpolitik beruhte auf dieser Überzeugung (hier muss z. B. an sein Engagement für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund erinnert werden). Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 85 + S. 182. 372 Debatte in der Chambre des Députés, 13/02/1931. Annales, Bd. 166, S. 582. 373 Debatte in der Chambre des Députés, 03/03/1931 (1. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1401.

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junge deutsche Demokratie unterstütze,374 die so sehr unter dem Gewicht der Wirtschafts- und Finanzkrise leide.375 Grumbach trat vor dem Parlament als wichtigster Verteidiger des außenpolitischen Programms der SFIO auf. Seine Reden spiegeln die Stimmunglage innerhalb seiner Partei wider, die vom Ende des Ersten Weltkriegs an bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme offensiv das Bild eines „zweifachen Deutschlands“ vertrat.376 Sein Glaube an die deutsche Sozialdemokratie und den Demokraten Brüning war durch und durch aufrichtig, verschleierte aber die Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausging – und war damit symptomatisch für die gesamte Haltung der SFIO. Ein weiterer Punkt, der die französischen Linken beunruhigte, war die Schwäche der demokratischen Regierung in Hinblick auf die wenig republikanisierte Reichswehr. Der Abgeordnete Alexandre Bracke (Socialiste de gauche) machte dies in einer Frage deutlich, die er am 3. März 1931 in der Chambre des Députés stellte: „Ist der deutsche Generalstab, der schon während des Kaiserreiches einen sehr großen Einfluss hatte, in einem Land nicht mächtiger als die eigentliche Regierung, die große Probleme zu haben scheint, ihr Mandat auszuführen, und augenscheinlich auf Hilfe angewiesen ist, um wirklich an der Macht zu bleiben?“377 Der kommunistische Abgeordnete Jacques Doriot betrachtete die Regierung Brüning als eine „dictature capitaliste exercée par les chefs social-fascistes“,378 was ein weiteres Mal belegt, dass die Kommunisten nicht zwischen Brüning und Hitler unterschieden und die Präsidialregierung mit einer vollendeten faschistischen Dikatur gleichsetzten. In derselben Rede machte Doriot am 13. November 1930 deutlich, was das deutsche Wahlergebnis vom September 1930 für den PCF bedeute: Die deutschen Arbeiter hätten nämlich gleichzeitig ihre Ablehnung der „imperialistischen Verträge“ und des Young-Plans kundgetan und ihren Abscheu gegenüber einer kapitalistischen Regierung, die aus Politikern einer vergangenen Zeit zusammengesetzt und ihnen durch die Notlage im Land aufgezwungen worden sei.379 Unter diesen Umständen betrachteten die französischen Kommunisten

374 Vgl. die Debatte in der Chambre des Députés, 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 57. 375 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 01/07/1931, S. 4–6. 376 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 188ff. Laut Ilić hatten viele der französischen Parlamentarier das 1931 veröffentlichte Buch „Incertitudes allemandes“ von Pierre Viénot gelesen. Viénot kritisierte, dass die französische Deutschlanpolitik sich entweder auf das Bild eines „zweifachen Deutschlands“ oder auf das Bild eines einheitlich schlechten Deutschlands stütze. Diese Deutschlandbilder aber waren so fest im französischen Denken verankert, dass seine Kritik nur eine kleine Minderheit erreichte, zu der die SFIO nicht zählte. 377 Übersetzung des Zitats „L’état–major allemand, qui, déjà sous le régime impérial, exerçait une si haute autorité, n’est–il pas plus fort dans un pays où le gouvernement central paraît avoir grande peine à gouverner et a manifestement besoin d’être aidé pour rester d’une façon effective au pouvoir ?“. Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1415. 378 Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 90. 379 Ebd.

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selbst Hitler als Verbündeten, weil er nach ihrer Ansicht für dieselben Ziele wie die Kommunisten kämpfte.380 Auch Marcel Cachin, durch strikten Gehorsam gegenüber Moskau geprägt, beschrieb das politische System in Deutschland Anfang der 1930er Jahre als „eine Karikatur der Demokratie“, gegen die die KPD mit allen Mitteln kämpfen dürfe.381 Während also die Sozialisten auf die deutsche Sozialdemokratie, die deutsche Demokratie ganz allgemein und sogar mehrheitlich auf Heinrich Brüning setzten, sahen die Kommunisten in all diesen Punkten nichts anderes als eine Diktatur und ein Hindernis für ihre proletarische Revolution. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Der Christdemokrat Ernest Pezet beklagte dieselben Schwächen im deutschen Regierungssystem wie die Mehrheit der anderen Parlamentarier, aber im Gegensatz zu den Vertretern der übrigen rechten Fraktionen machte er deutlich, dass er Verständnis und Respekt für die politischen Leistungen Heinrich Brünings habe, die er als sehr umsichtig betrachte. Um seinen Standpunkt zu unterstreichen, benutzte Pezet eine sehr bilderreiche Sprache: „Wenn man die Lage Deutschlands betrachtet – für die es größtenteils selbst verantwortlich ist –, gibt es zwei Haltungen: die des Empörten und Aufgebrachten, der scharf verurteilt, und die eines Arztes gegenüber einem Vergifteten, mit dem er zurechtkommen muss und den er in seinem eigenen Interesse heilen muss, auch auf die Gefahr hin, dass er aus dem Wissen um den Grund der absichtlichen oder halb absichtlichen Vergiftung des Betroffenen Profit schlägt. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt ungefähr die Haltung der vorsichtigen, anständigen und wohlwollenden Menschen gegenüber Deutschland, dessen dramatische Lage man betonen muss.“382 Bis Locarno war das politische Programm der Chrétiens démocrates (Christdemokraten) mit den Prinzipien der traditionellen Rechten konform gegangen. Danach aber wurde ihre Politik bis 1932 „eindeutig briandistisch“383. Dieser Wechsel war auf die Entwicklung der französischen Innenpolitik zurückzuführen, insbesondere auf den Anfang der Union Nationale im Jahr 1926. Offenbar hatte sich auch ein Wandel in ihrer

380 Vgl. ebd. 381 Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 31. 382 Übersetzung des Zitats „Quand on envisage la situation dans laquelle se trouve l’Allemagne – et où elle est tombée en grande partie par sa faute – il y a deux attitudes: l’attitude de l’homme indigné, courroucé, qui lance l’anathème, et l’autre, celle du médecin en présence de l’intoxiqué avec lequel il doit vivre et qu’il doit guérir dans son propre intérêt, quitte à faire son profit de la connaissance des causes de l’intoxication volontaire ou semi–volontaire de l’intéressé. C’est assez l’attitude des hommes prudents, sages et humains, à cette heure, en face de l’Allemagne dont il faut dire la dramatique situation“. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 718. 383 Delbreil: Centrisme, S. 267.

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Deutschlandwahrnehmung vollzogen.384 Nach Ilić schöpften die Christdemokraten bei ihrer Beurteilung Deutschlands nicht aus determinierten Deutschlandbildern, sondern stützten sich auf eine recht „realistische“ Sicht.385 Die Art, wie Ernest Pezet Deutschland und Heinrich Brüning beschrieb, scheint diesen Eindruck Ilićs und Fleurys zu bestätigen. Henry Franklin-Bouillon dagegen (Gauche unioniste et sociale), der sehr vom französischen Hass auf Deutschland geprägt war, sah in der deutschen Demokratie und im deutschen Pazifismus nichts weiter als eine Farce. Die Septemberwahlen beispielsweise waren für ihn weniger Anlass zur Besorgnis als vielmehr Bestätigung seiner antideutschen Vorstellungswelt und eine befriedigende Gelegenheit, die anderen Abgeordneten davon zu überzeugen, seinem Beispiel zu folgen: „Solange Frankreich die Augen verschließen wollte, so wie das Land es in den letzten zehn Jahren tat, muss ich Ihnen gestehen, dass ich beunruhigt war, wenn nicht sogar mehr. Doch die Wahlen in Deutschland haben es endlich ermöglicht, ganz Frankreich die Augen zu öffnen; und jetzt, da Frankreich die Gefahr sieht, fürchte ich nicht mehr um Frankreich.“386 Die rechten Abgeordneten, die in Deutschland nur eine generelle Gefahr sahen, interessierten sich nur wenig für die Probleme, denen sich Brüning auf innenpolitischer Ebene zu stellen hatte. Sie sprachen regelmäßig nur jene Aspekte der deutschen Politik an, mit denen sie Stimmen für eine härtere Gangart in der französischen Deutschlandpolitik zu gewinnen hofften. Jedes Argument, mit dem sie diesem Ziel näher zu kommen glaubten, war ihnen deshalb recht. Eine weitere Anfrage des Abgeordneten Franklin-Bouillon veranschaulicht noch einmal ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Schwierigkeiten Brünings, die Weimarer Republik zu erhalten. So behauptete Franklin-Bouillon, die deutsche Regierung treibe ein Spiel mit den Franzosen, indem sie ihre innenpolitischen Probleme übertreibe, um von Frankreich Konzessionen zu erpressen, und auf diese Weise gerate Frankreich in Gefahr: „Deutschland erpresst Frankreich mit dem Druckmittel Revolution: Gebt uns Geld oder wir werden eine Revolution erleben. Wenn wir unser Geld hergeben, wird es Deutschland haben und wir bekommen stattdessen die Revolution.“387 Ihre Antwort auf eine „briandistische“ Sicht auf Brüning war prompt und unmissverständlich: Brüning sei kein „vernünftiger Mensch“, sondern jemand, der „Sinn für die deutschen

384 Fleury hat bei seiner Analyse der in „La Croix“ veröffentlichten Artikel, diesesn Wandel in den Urteilen über die Deutschen offen gelegt. Fleury: Croix, S. 49ff. 385 Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 231f. 386 Übersetzung des Zitats „Tant que la France a voulu fermer les yeux, comme elle l’a fait depuis dix ans, je vous avoue que j’ai été inquiet pour ne pas dire plus. Les élections allemandes nous ont rendu le service immense d’ouvrir les yeux à toute la France; et maintenant que la France voit le danger, je ne crains plus rien pour elle“. Debatte in der Chambre des Députés vom 06/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 32. 387 Übersetzung des Zitats „C’est le chantage à la révolution de l’Allemagne sur la France: Donnez–nous de l’argent ou nous aurons la révolution. Si nous donnons notre argent, c’est l’Allemagne qui l’aura, et c’est nous qui aurons la révolution“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 06/02/1931, S. 4.

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Interessen“ habe.388 Die Anstrengungen Brünings, „Ordnung in sein Haus“ zu bringen, seien „heuchlerisch“ und nur dazu angetan, die Franzosen zu täuschen.389 Nach dem Urteil Jean Ybarnégarays über die deutsche Demokratie im Jahr 1931 war Deutschland „dem Namen nach eine Republik, in Wirklichkeit aber eine Diktatur“.390 Eine solche Aussage von einem zutiefst anti-deutsch eingestellten Abgeordneten, der zudem den Jeunesses Patriotes nahestand, verwundert jedoch nicht. Louis Marin (Fédération républicaine) schließlich beschrieb am 13. November 1931 in der Chambre des Députés Deutschland als ein demokratisches Land, das von einer kaisertreu gebliebenen Armee unterwandert sei und somit von zwei Mächten regiert werde: von der offiziellen Regierung und von der Reichswehr, die im Begriff sei, in einem abgekarteten Spiel mit allen deutschen Parteien einen Staatsstreich vorzubereiten.391 Konsequent zog Marin aus dieser Behauptung den Schluss, dass „Deutschland direkt in eine Diktatur übergeht, und zwar in eine militärische Diktatur“.392 Die Innenpolitik Brünings bezeichnete er nur als „eine Regierung der Notverordnungen und der [Reichstags-]Auflösung“, die die „réclamations d’un pouvoir dictatorial de la part d’un bon tiers des partis du Reichstag“ verdeutliche. Diese Bewegung werde von der „Wiederherstellung des ehemaligen Militärstabs und Offizierscorps“ begleitet und sei Ausdruck der wahren Seele und der wahren „Psyche“ des deutschen Volkes, die nach „einer Militärpolitik im Stile von vor 1914“ strebe.393 Es war typisch für die nationale Rechte in Frankreich, dass sie sich nicht um das Schicksal der demokratischen Regierung in Deutschland sorgte, die ohnehin und als unehrlich galt, sondern nur die möglichen Folgen eines politischen Wandels in Deutschland für die französische Sicherheit fürchtete. Im Grunde unterschieden sie überhaupt nicht zwischen dem Demokraten Brüning und dem Nationalsozialisten Hitler – in Letzterem sahen sie nur die Fortsetzung des traditionellen Preußens. 3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Am 20. November 1931 bekräftigte Salomon Grumbach in der Chambre des Députés noch einmal seinen Appell an Frankreich, mit Deutschland zu kooperieren. Er erinnerte erneut an die wachsende kommunistische und „hitlerische“ Bedrohung des gefährlichen Deutschlands, die wie ein Damoklesschwert über dem

388 389 390 391 392 393

AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 09/02/1931, S. 40. Ebd. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 24. Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 96f. Ebd., S. 98. Ebd.

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anderen Deutschland hänge, der deutschen Republik, die durch die Regierung Brünings und die Sozialdemokratie vertreten werde. Sein Vertrauen in die demokratischen Kräfte in Deutschland war so groß, dass er die französische Regierung aufrief, etwas zu riskieren und der deutschen Regierung zur Hilfe zu eilen: „Man muss sich entscheiden, ob man eine außergewöhnliche Anstrengung, die noch größer ist als alles, was wir bisher versucht haben, unternehmen will, trotz der Wahlen in Hamburg und in Hessen, trotz der künftigen Wahlen, die, glauben Sie mir, ungefähr denselben Ausgang wie die letzten Wahlen haben werden, aber immerhin ohne den Anhängern Hitlers die Mehrheit zu übertragen, und die – ich bitte Sie, dies nicht außer Acht zu lassen – den republikanischen und demokratischen Parteien Deutschlands die Hoffnung lassen wird, ihre Gegner daran zu hindern, an die Macht zu kommen.“394 Auch Léon Blum setzte sich dafür ein, Deutschland zu unterstützen. Er war sogar überzeugt, dass die mangelnde Hilfe von Seiten der Franzosen die deutsche Demokratie und die deutschen Regierungen geschwächt hätten: „Aber sollen uns die düsteren Aussichten der innerdeutschen Angelegenheiten davon abhalten zu handeln? Wenn Sie früher und entschlossener gehandelt hätten, dann wäre die Bewegung um Hitler nicht dort, wo sie heute steht.“395 Für Blum war Heinrich Brüning zwar auch „quasi“ ein „Diktator“, aber wenigstens einer, der sich mit allen Kräften bemühe, die deutsche Republik und die deutsche Wirtschaft zu retten.396 Der Abgeordnete Albert Rivière (Parti socialiste, SFIO) verglich die innenpolitische Lage der Weimarer Republik im Herbst 1931 mit jener der Dritten französischen Republik nach 1871 – was an den oben beschriebenen „SpiegelbildEffekt“ erinnert. Die gespannte politische Situation in Deutschland spiegelte nach Ansicht des Sozialisten Rivière das Bild, das Frankreich zum Zeitpunkt eines erstarkenden Nationalismus abgegeben hatte, der von einer deutschen Frankreichpolitik genährt wurde, die von den Franzosen als Demütigung erlebt wurde und das gesamte politische System der französischen Republik erschütterte: „Wenn Sie, meine Herren, sich mit den Alten, die diese Zeit nach 1870 erlebt haben, unterhielten, würden diese Ihnen sagen, dass die nationalistische Bewegung, die wir damals etwa zehn Jahre lang bei uns erlebt haben, zu einem großen Teil auf Fehler der deutschen Politik, also auf die deutsche Machtpolitik und die Bismarck-

394 Übersetzung des Zitats „Il s’agit de savoir si l’on veut tenter un effort extraordinaire, qui dépasse tout ce qu’on a fait jusqu’ici, et cela malgré les élections de Hambourg et de Hesse, malgré les élections de demain qui, croyez–le bien, donneront à peu près les mêmes résultats qu’hier, mais sans valoir toutefois la majorité aux éléments hitlériens, et qui laisseront – je vous supplie de ne pas l’oublier – à la partie républicaine et démocrate de l’Allemagne l’espoir d’empêcher ses adversaires d’arriver au pouvoir“. Debatte in der Chambre des Députés vom 20/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 148. 395 Übersetzung des Zitats „Mais est–ce que les perspectives assez sombres de la vie intérieure de l’Allemagne doivent être pour nous un empêchement d’agir? Si vous aviez agi plus tôt et plus énergiquement, le mouvement hitlérien n’en serait pas où il en est“. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 227f. 396 Vgl. ebd., S. 228.

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sche Sprache bestimmter deutscher Staatsmänner zurückzuführen war.“ Rivière setzte zugleich folgende Frage hinzu: „Bemerken Sie nicht, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem gibt, was auf beiden Seiten des Rheins passiert?“397 Rivière machte deutlich, dass nach seiner Meinung die (finanziellen) Folgen des Krieges und die feindliche Deutschlandpolitik der Franzosen schwer auf der jungen deutschen Demokratie lasteten. Er ging sogar noch weiter und warf der französischen Regierung vor, dass sie aus „Schwäche“, „Egoismus“, „Kleinmut“ oder reiner „Dummheit“ alle Gelegenheiten für eine Verständigung mit dem Reichskanzler und der deutschen Regierung verstreichen lasse, obwohl genau dies die deutsche Demokratie stabilisieren könne.398 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Auf Seiten der französischen Rechten blieb die Anerkennung für die Leistungen Brünings und für die deutsche Demokratie von Skepsis und Zweifeln geprägt. Henry Franklin-Bouillon (Gauche unioniste et sociale) machte weiterhin kein Hehl daraus, dass „der katholische Aktivist Brüning“399 nur ein „Schatten“ sei, „hinter dem Hitler voranschreitet“.400 Was die Debatte betraf, ob Brüning nun ein Verteidiger der Demokratie sei oder nicht, wurde sie durch den gleichen Graben getrennt, der auch schon die Frage nach seinen finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen kennzeichnete. Während die Sozialisten und der linke Flügel der Radicaux immer eindringlicher dazu aufriefen, die Regierung Brüning zu unterstützen, verhärteten sich zwischen 1930 und 1932 die Positionen auf der Seite der französischen Rechten. Die politischen Extremisten schließlich blieben ihren ursprünglichen Deutschlandbildern und ihrer Argumentation treu. 4. Brüning in der Vorstellungswelt der Diplomaten Die Reichstagswahlen vom September 1930 und die Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 lenkten die wachsende Aufmerksamkeit der französischen diplomatischen Vertreter auf den Zustand der Demokratie in Deutschland und auf die 397 Übersetzung der Zitate „Messieurs, si vous vous entreteniez avec les anciens qui ont vécu la période d’après 1870, ils vous diraient que peut–être le mouvement nationaliste que l’on a connu à cette époque pendant une dizaine d’années était dû pour beaucoup aux erreurs de la politique allemande, à cette politique de force et au langage bismarckien de certains hommes d’Etat allemands.“ und „Ne sentez–vous pas qu’il y a un certain rapprochement entre ce qui se passe de chaque côté du Rhin?“.Debatte in der Chambre des Députés vom 24/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 181. 398 Vgl. ebd., S; 182f. 399 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 223. 400 Vgl. ebd., S. 219.

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Rolle Heinrich Brünings in und für die Weimarer Republik. Brünings Haltung gegenüber Hitler war für die diplomatische Welt von zentralem Interesse – andere Themen wie die Aufstellung einer Präsidialregierung oder Brünings Notverordnungspolitik gerieten dadurch ein wenig in den Hintergrund. Was die Beurteilung von Brünings Fähigkeiten und von seiner ernsthaften Absicht anging, die Weimarer Republik zu verteidigen, so waren die Meinungen des Diplomaten der Alten Schule, Pierre de Margerie, und des ehrgeizeigen André François-Poncet, der de Margeries Nachfolge im September 1931 antrat, geteilt. Dieser Unterschied beruhte auf ihren divergierenden Einschätzungen über den Zustand der deutschen Demokratie, die Rolle Heinrich Brünings und die Gefahr des Nationalsozialismus. dieser Unterschied zwischen den den Meinungen beider Botschafter war umso entscheidender, als André François-Poncet schon vor seiner diplomatischen Mission in Deutschland als außenpolitischer Berater Pierre Lavals fungiert hatte und eine Schlüsselrolle zwischen Laval und Aristide Briand spielte. Nicht zuletzt unterhielt François-Poncet gute Beziehungen zu André Tardieu, mit dem er die Kritik an der briandistischen Politik teilte. Nicht ohne Grund wurde François-Poncet in den 1930er Jahren als graue Eminenz des Quai d’Orsay bezeichnet.401 Man darf also zu Recht vermuten, dass seinen Berichten – vor allem infolge des politischen und persönlichen Niedergangs Aristide Briands in den Jahren der Regierung Brüning – mehr Gewicht beigemessen wurde, als den Mitteilungen de Margeries, der nicht dieselben Arbeitsmethoden, dieselbe Regelmäßigkeit im Kontakt mit dem Quai d’Orsay und auch nicht dieselbe Präsenz auf der politischen Bühne an den Tag gelegt hatte wie sein Nachfolger.402 Der Konflikt zwischen den Sichtweisen François-Poncets und Briands offenbarte sich auch im Widerstand Briands gegen eine Nominierung François-Poncets als Botschafter in Deutschland.403 4.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931) Schon seit dem Amtsantritt Brünings zeichneten sich die diplomatischen Berichte über ihn und seine Haltung zur Weimarer Republik durch einen sehr kritischen Ton aus. General Tournés,404 Militärattaché in Berlin, schrieb am 22. April 1930 an André Maginot, dass der politische Wechsel in Deutschland, auch wenn er auf den ersten Blick nicht alarmierend sei, erhöhte Aufmerksamkeit von Seiten der

401 402 403 404

Messemer: André François–Poncet, S. 505. Zu François–Poncet vgl. ebd. Vgl. ebd , S. 518. Er schrieb regelmäßig für Echo de Paris.

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Franzosen auf sich ziehen sollte.405 Aus der Sicht des französischen Generals handelte es sich nicht nur um den einfachen Sturz einer linken Regierung durch eine rechte, instabile Präsidialregierung oder um einen einfachen Wandel des parlamentarischen Vorgehens in Deutschland, sondern vielmehr um den Ausdruck einer ganz neuen politischen Geisteshaltung, welche die Unzufriedenheit der Deutschen mit dem Verlauf ihrer Innen- und Außenpolitik widerspiegele.406 Das neue Regierungskabinett Brünings sei aus einer reaktionären Bewegung geboren und müsse mit größter Wachsamkeit beobachtet werden, zumal eine seiner ersten politischen Handlungen das Startzeichen zum Bau eines zweiten Panzerkreuzers „B“ gewesen sei, sowie das Vorhaben, den Katholiken eine Mitgliedschaft im Reichsbanner zu verbieten. Die Regierung Brünings, die den Nationalisten und damit den „unbeugsamen Feinden“ Frankreichs nahe stehe, über kein ausreichendes demokratisches Profil verfüge und jeder Zeit wieder gestürzt werden könne, werde nicht lange auf sich warten lassen, der französischen Regierung Schwierigkeiten zu bereiten.407 Diese schon von Anfang an bestehende Skepsis und Reserviertheit gegenüber der neuen Regierung in Deutschland fand sich auch in den Beschreibungen der diplomatischen Vertreter des Quai d’Orsay wieder. Fast ununterbrochener Kritik ausgesetzt, regte die Innenpolitik Brünings die franzöischen Diplomaten an, verstärkt über die Funktionsweise und die Stabilität der Demokratie in Deutschland nachzudenken. Der Erfolg der Nationalsozialisten und Kommunisten bei den Reichstagswahlen im September 1930 ließ die Diplomaten allerdings einen nachsichtigeren Ton gegenüber Brüning anschlagen. Pierre Guerlet, bevollmächtigter Minister und Gesandter für die Angelegenheiten Frankreichs in Berlin, stimmte sogar ein Loblied auf die Zentrumspartei an, der es gelungen war, trotz der schwierigen politischen Lage Stimmen zu gewinnen. Guerlet war überzeugt, dass der Erfolg der Extremisten seinen Ursprung in „der wirtschaftlichen Flaute, der Arbeitslosigkeit und anderen Faktoren derselben Ordnung“ habe, aber auch darauf zurückzuführen sei, dass sich jene Deutsche, die sich bislang bei Wahlen der Stimme enthalten und um die die bürgerlichen Parteien geworben hätten, sich letztlich den „revolutionären Parteien von rechts oder links“ zuwandten:408 „Der relative Erfolg seiner Partei kommt sehr gelegen, um Herrn Brüning über die Niederlage seiner Regierungskoalition hinwegzutrösten. Mehr noch als die Sozialdemokratie hat das Zentrum gezeigt, dass es trotz der verschiedenen Umstände nicht zu erschüttern ist und dass es die treuesten Stammwähler hat. Diese Tatsache betont die wichtige Rolle Herrn Brünings, dessen Partei mehr als je zuvor die politischen Geschicke des

405 Depesche von General Tournés an André Maginot vom 22/04/1930. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2585. 406 Vgl. ebd. 407 Vgl. ebd. 408 Der Eindruck, dass das Wahlergebnis auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen sei, wurde von Pierre Guerlet in zwei Briefen an Aristide Briand vom 18.09.1930 bestätigt. Vgl. MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives.

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Landes in Händen hält. In der schweren Zeit, die jetzt ansteht, ist die Haltung des Zentrums entscheidend für die Zukunft Deutschlands.“409 Drei Aspekte fallen hier auf: Die katholische Zentrumspartei und Heinrich Brüning flößten Pierre Guerlet mehr Vertrauen ein als die SPD (obwohl diese aufgrund ihres Pazifismus in der Regel die favorisierte Partei der Franzosen war); das Zentrum war als Fels in der Brandung politischer Turbulenzen dargestellt; und schließlich wurde von Guerlet die Zukunft der Weimarer Republik von den Anhängern des Zentrums abhängig gemacht. Guerlet setzte seine ganze Hoffnung auf Brüning. In einem anderen Schreiben an Aristide Briand vom selben Tag setzte sich Guerlet mit dem „pangermanischen“ Programm des Nationalsozialismus auseinander, dem es seiner Meinung nach an Kohärenz zu fehlen schien.410 Guerlet kam zu dem Schluss, dass Brüning und sein Kabinett nicht nur von allen politischen Seiten bedroht würden, sondern dass sich die demokratischen Parteien insgesamt außerstande sähen, ihre Position im Parlament gegenüber den Nationalsozialisten und Kommunisten zu verteidigen und eine politische deutsch-französische Aussöhnung voranzutreiben – selbst wenn sie das wünschten –, denn ihr Land sitze zu fest im Schraubstock des Versailler Vertrags: „Um die Möglichkeit einer deutschfranzösischen Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, beklagen die Parteien, die das Kabinett Brüning unterstützen, wie auch die Sozialdemokraten, dass Deutschland unter den derzeitigen Fesseln nicht weiter von den Verfechtern eines republikanischen Staates verteidigt werden kann, weil der Erfolg Hitlers auf dem Versailler Vertrag und all seinen schwerwiegenden Folgen für das Volk, beruht.“411 Am Ende seines Briefes wiederholte Guerlet deshalb noch einmal, dass die Zukunft Deutschlands allein von der Zentrumspartei abhänge. Pierre de Margerie lenkte die Aufmerksamkeit des französischen Außenministeriums auf die Schwierigkeiten Brünings, nach den Wahlen zu regieren.412 Aus seiner Beschreibung ging das Bild einer parlamentarischen Ausnahmesituati409 Übersetzung des Zitats „Le succès relatif de son parti vient à propos pour consoler M. Brüning de l’échec de sa coalition gouvernementale. A un degré plus considérable encore que la social–démocratie, le Centre a montré qu’il était un bloc inébranlable au milieu des circonstances les plus diverses, et qu’il possédait la clientèle la plus fidèle. Cette certitude est de nature à confirmer l’autorité de M. Brüning dont le parti détient plus que jamais les clefs de la situation politique. Dans la période difficile qui va s’ouvrir, l’attitude du Centre est appelée à exercer une influence décisive sur l’avenir de l’Allemagne“. Erste Depesche von Pierre Guerlet an Aristide Briand vom 18/09/1930. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 410 Zweite Depesche von Pierre Guerlet an Aristide Briand vom 18/09/1930. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives 411 Übersetzung des Zitats „[P]our la sauvegarde des possibilités d’une collaboration franco– allemande, les partis qui soutiennent le cabinet Brüning aussi bien que les socialistes dénoncent à leur tour l’impossibilité pour les éléments républicains de la Nation de faire vivre l’Allemagne dans ses entraves actuelles, le succès de Hitler est dû, d’après eux, au Traité de Versailles et à toutes ses conséquences qui pèsent lourdement sur le peuple“. Ebd. 412 Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 04/10/1930. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives.

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on hervor, die so angespannt sei, dass sie Brüning zu ihrem Gefangenen mache und ihm keinerlei Handlungsspielräume lasse: „Unter diesen Umständen, um der Kontrolle durch ein feindselig gestimmtes Parlament zu entgehen, haben der Reichspräsident und das Kabinett kein anderes legales Mittel mehr als die Reichstagsauflösung, die unter den gegebenen Umständen aber einem Selbstmord der Regierung gleichkäme. Das zeigt, wie sehr alle, außer den Nutznießern der letzten Wahl, den letzten Reichstag zurücksehnen, der doch von den bürgerlichen Parteien als nicht regierbar eingestuft worden war.“413 Infolge der hessischen Landtagswahlen vom 15. November 1932 zeichnete Pierre de Margerie in einem seiner Schreiben an den Quai d’Orsay zum ersten Mal das Bild eines Duells zwischen Brüning und Hitler.414 So schrieb er, dass der politische Kampf in Deutschland und besonders in Hessen auf „ein Duell zwischen Herrn Brüning und Herrn Hitler“ reduziert sei, bei dem die Zentrumspartei „den Schlüssel der politischen Situation in den Händen halte“ und dass ihr die „Rolle des Schiedsrichters“ zufalle.415 Eine Zusammenarbeit zwischen beiden Politikern erschien dem französischen Botschafter Pierre de Margerie ausgeschlossen. Man hat im Gegenteil sogar den Eindruck, dass er bedauerte, dass Hessen nicht „in gewisser Weise der Mikrokosmos ist, wo unter relativ günstigen Bedingungen eine Einigung zwischen Herrn Brüning und Herrn Hitler zustande kommt, die doch von so vielen Stimmen gefordert wird und die noch auf so viele Schwierigkeiten stößt“.416 offensichtlich fehlte es Pierre de Margerie gänzlich an Durchblick, was zum einen den ideologischen Hintergrund des Nationalsozialismus betraf und zum anderen die tatsächliche politische Macht Heinrich Brünings. Aber Irrtümer dieser Art waren in der politischen Landschaft Frankreichs weit verbreitet, zumal man den Erfolg der NSDAP als „vorübergehend“417 einschätzte. Mehrheitlich wurde Brüning trotz seiner Notverordnungspolitik, die immer wieder als „dikatorische Maßnahmen“418 gegeißelt wurde, als Vertreter der „vernünftigen Männer“419 beschrieben, welche die Demokratie verteidigen würden. Wie zerbrechlich seine politische Macht war, hatten die diplomatischen Vertreter 413 Übersetzung des Zitats „Dans ces conditions, pour éviter le contrôle d’une Assemblée hostile, le Président du Reich et le Cabinet se trouvent privés de tout moyen légal autre que la dissolution qui, dans les circonstances présentes, équivaudrait à un suicide du Gouvernement. C’est dire à quel point tout le monde, sauf les bénéficiaires du dernier scrutin, regrette aujourd’hui l’ancien Reichstag, pourtant jugé ingouvernable par les partis bourgeois“. Ebd. 414 Vgl. Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 17/11/1931. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 415 Vgl. ebd. 416 Vgl. ebd. 417 Vgl. Depesche von Jean Beguin Billcocq, französischer Konsul in Frankfurt, an Aristide Briand. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 674: Dossier général. 418 Vgl. z.B. die Depesche von André d’Ormesson, Chef der französischen Gesandtschaft in Bayern, an Aristide Briand vom 18/07/1931. In: MAE, Papiers André d’Ormesson, PA AP 129, Bd. 3: Légation à Munich. 419 Vgl. Depesche von M. Herbette, französischer Botschater in Moskau an Aristide Briand vom 21/02/1931. In: MAE, Serie Z, Politique Intérieure, Karton 674: Dossier général.

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Frankreichs zwar begriffen, alarmierte sie aber nicht über Gebühr. Pierre de Margerie zum Beispiel glaubte trotz seiner ganzen Kritik immer an Brüning.420 Es war ein deutscher Industrieller und Berliner Publizist, Arnold Rechberg,421 der im November 1930 dem französischen Ministerpräsidenten und Innenminister André Tardieu eine weitaus düsterere Beschreibung des Zustandes der deutschen Demokratie zukommen ließ: „Die demokratische Republik in Deutschland konnte, seit sie existiert, noch keine Siege erringen, die das deutsche Volk verstanden hätte. Im Gegenteil, sie war es, die die ganze Bitterkeit der Niederlage im Ersten Weltkrieg hinnehmen musste und auch alle Demütigungen, die Deutschland seitdem erdulden musste. Außerdem scheint es, dass das demokratische System in Deutschland die Finanz- und Wirtschaftsprobleme, die dem deutschen Volk drohen, nicht bewältigen kann. Es ist richtig, dass ein anderes System angesichts der inneren und äußeren Lage Deutschlands vielleicht auch keine besseren Erfolge aufweisen könnte. Aber die Massen des deutschen Volkes sind sich darüber nicht bewusst und für sie ist der mangelnde Erfolg, den sie dem demokratischen System vorwerfen, eine Tatsache, die Tag für Tag das Ansehen dieses Systems weiter verringert.“422 4.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) Im Februar 1932 machte André François-Poncet, beeinflusst von dem Bild eines binären Deutschlands,423 dessen unklare und gefährliche Politik ihm keinerlei Vertrauen einflößten, gegenüber André Tardieu deutlich, dass die parlamentari-

420 Vgl. Resümee einer Unterhaltung zwischen Pierre de Margerie und Pierre Laval, gesendet an André Tardieu, am 06/08/1930. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 523: Informations de politique étrangère. 421 Von Arnold Rechberg finden sich immer wieder Schreiben in den Papiers Tardieu. Seine Texte erschienen auch als Artikel in der Zeitung Le Matin. Vgl. MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 523: Informations de politique étrangère. 422 Übersetzung des Zitats „La république démocratique en Allemagne n’a pas pu depuis qu’elle existe remporter des succès compréhensibles pour le peuple allemand. Au contraire, c’est elle qui a dû essuyer toute l’amertume de la défaite finale de l’Allemagne dans la grande guerre et toutes les humiliations que l’Allemagne a dû subir depuis. Il semble, en outre, que le régime démocratique en Allemagne ne va pas arriver à maîtriser les maux financiers et économiques qui menacent le peuple allemand. Il est vrai qu’un autre régime vu la situation extérieure et intérieure de l’Allemagne, n’arriverait peut–être pas non plus à de meilleurs succès. Mais les masses du peuple allemand ne se rendent pas compte et pour elles le manque de succès reproché au régime démocratique en Allemagne est un fait qui amoindrit tous les jours le prestige de ce régime“. Brief von Arnold Rechberg an den Ministerpräsidenten André Tardieu vom 27/11/1930. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 523: Informations de politique étrangère. 423 In seinen Erinnerungen schrieb François–Poncet u.a., dass Deutschland ihn gleichermaßen angezogen und abgestoßen habe. Vgl. François–Poncet: Souvenir, S. 18.

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sche Mehrheit in Deutschland die politischen Leistungen Brünings anerkenne, offenbarte aber gleichzeitig seine persönlichen Zweifel am Reichskanzler: „Für die Mehrheit im Parlament, die Brüning immer noch stützt – invita invitum –, ist es sein Verdienst, lange im Amt geblieben zu sein; Zeit gewonnen zu haben; viele Pleiten und viele unausweichliche Fehler hinausgezögert, wenn nicht vielleicht verhindert und so die öffentliche Meinung daran gewöhnt zu haben, diese Fehler nicht als tödlich anzusehen; sein Land sicherlich mit nicht vermeidbaren aber doch überschaubaren Opfern vor den hypothetischen Gefahren eines nationalsozialistischen Abenteuers bewahrt zu haben; den bürgerlichen Parteien – wohl, ohne es zu wollen – neuen Mut zugesprochen zu haben, indem er ihnen bewies, dass Widerstand möglich ist und dass sie nicht voll und ganz von der Welle der Bewegung um Hitler erfasst würden, wie man es manchmal zu befürchten hatte; Deutschland selbst und dann dem Ausland gezeigt zu haben, dass es in Deutschland trotz der Irrungen und Wirrungen immer noch Kräfte gab, die für Ordnung und Vernunft standen.“424 Sogleich fügte er noch sein persönliches Urteil an: „On ne saurait considérer ces résultats comme négligeables dans un pays qui se trouve pratiquement en proie, depuis 1930, à une forme sporadique de révolution.“425 Man hätte es beinahe überlesen können, wenn François-Poncet die Tatsache, dass er persönlich Heinrich Brüning nicht für einen überzeugten Verteidiger der Demokratie halte, durch die Einfügung von Anführungszeichen gekennzeichnet hätte. Mit François-Poncets Amtsübernahme in Berlin löste sich das Bild Brünings als unerschüttlicher Stützpfeiler der Weimarer Republik Stück für Stück auf. André François-Poncet blieb seinem Eindruck von Brüning auf wirtschafts- und finanzpolitischer Ebene treu und übermittelte das Bild eines Demokraten und Republikanhängers mit einer zweiten Facette:426 Obwohl seine Partei nach den Präsidentschaftswahlen gestärkt worden sei, biete Brüning keine Garantie für einen harten Kurs gegen Hitler. François-Poncet hielt die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Brüning und dem Chef der NSDAP jederzeit für möglich: „Der Kanzler hat aus dem Ergebnis der ’Volksabstimmung’ einen Vorteil davongetra-

424 Übersetzung des Zitats „Aux yeux de cette majorité parlementaire qui soutient toujours M. Brüning – invita invitum – le grand mérite du chancelier, c’est d’avoir duré; d’avoir gagné du temps; d’avoir retardé sinon empêché, bien des faillites, bien des erreurs devenues inévitables, et ainsi progressivement habitué l’opinion à ne pas les tenir pour mortelles; d’avoir préservé son pays au prix de malheurs certains, mais réduits, des périls hypothétiques de la grande aventure national–socialiste; d’avoir – sans le vouloir peut–être – rendu courage aux partis bourgeois, en leur montrant que la résistance était possible et qu’ils ne seraient pas complètement submergés, comme on put le craindre parfois, par la vague hitlérienne; d’avoir vis–à–vis de l’Allemagne d’abord, vis–à–vis de l’étranger [ensuite,] prouvé qu’il existait encore, en Allemagne, malgré tant de troubles et d’ébranlements, des forces puissantes d’ordre et de raison“. Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 24/02/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 500: Conférence générale du désarmement. 425 Ebd. 426 Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 16/03/1932. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives.

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gen; er geht daraus bestärkt und mit einer neuen Autorität hervor. Wenn Hitler darauf besteht weiterzukämpfen, wird der Kanzler Widerstand leisten. Wird er den Widerstand mit der gebotenen Tatkraft bis zum Ende durchstehen? Wird er sich mit der SA Hitlers befassen und deren Auflösung anordnen? An dieser Tat ließe sich seine Entschlossenheit messen. Aber es ist nicht sicher, dass er sich dazu entschließt. Würde er ihn abweisen, wenn der rassistische Meinungsführer, von seiner Erfahrung geleitet, einen weniger harten Kurs einschlagen würde und das Gespräch suchen würde?“427 Deutlich geprägt durch die erste Runde der Reichspräsidentenwahlen und einigermaßen verunsichert, was die Voraussage für die preußischen Landtagswahlen betraf, zeichnete Pierre de Margeries Nachfolger das katholische Zentrum als eine Partei „an einer Wegkreuzung“, die „ein weiteres Mal auf dem politischen Schachbrett eine entscheidende Position“ einnehme.428 Die Angehörigen des französischen Militärs gingen noch weiter, als sie Frankreich wissen ließen, dass „nur das Etikett“ der Regierung Brüning „republikanisch“ sei.429 Pierre de Margerie hatte das ideologische Fundament des Nationalsozialismus unterschätzt oder fehlinterpretiert und auf diese Weise die Hypothese einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Brüning und Hitler ins Spiel gebracht, wobei er überzeugt blieb, dass eine solche politische Allianz unmöglich sei. Das auf diese Weise gefärbte Bild des Demokraten Heinrich Brüning hat mit Sicherheit für einige Verwirrung in Frankreich gesorgt. André François-Poncet aber ging viel weiter und lieferte ab März 1932 geradezu abenteuerliche Bewertungen der eigentlichen Intentionen Heinrich Brünings ab, die er zu erkennen glaubte. So schrieb er am 25. März an André Tardieu: „Das eigentliche Ziel, das Herr Brüning anscheinend verfolgt, wenn man es überhaupt richtig herausarbeiten kann, ist, die nationalsozialistische Bewegung zu kanalisieren, sie zu leiten, sie zu zähmen, sie langsam aber sicher in die politischen Landschaft zu integrieren. Zu welchen Zugeständnissen wird sich der Kanzler hinreißen lassen, um die vernünftigsten Teile der Partei um Hitler auf den Pfad der öffentlichen Ordnung zu führen? Es wäre leichtgläubig und unvernünftig, ein Urteil auf die unerschütterliche Standhaftigkeit des katholischen Zentrums zu stützen, dessen Flexibilität grenzenlos ist, wenn

427 Übersetzung des Zitats „Le chancelier a bénéficié du résultat de la consultation populaire; il en sort confirmé, avec une autorité de nouveau rétablie. Si Hitler s’obstine dans la lutte, le chancelier continuera de le combattre. Voudra–t–il mener le combat jusqu’au bout, avec toute l’énergie indispensable ? Osera–t–il s’attaquer aux „sections d’assaut“ de Hitler en en ordonnant la dissolution? C’est à ce geste qu’on connaîtra la valeur de sa détermination. Mais il n’est pas certain qu’il s’y résolve. Si le chef raciste, instruit par l’expérience, s’adoucissait et cherchait à reprendre le contact, lui fermerait–il sa porte ?“ Ebd. 428 Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 25/05/1932. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 429 Depesche von Colonel Chapouilly an das Ministère de la Défense vom 02/06/1932. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2589.

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seine politischen Interessen auf dem Spiel stehen.“430 Eine solche Interpretation konnte im französischen Außenministerium unter der Führung André Tardieus nur desaströse Folgen haben – vor allem vor dem Hintergrund einer ganzen Telegramm- und Briefserie François-Poncets, der die Stabilität der deutschen Präsidialregierung immer pessimistischer einschätzte. Nach Ansicht der grauen Eminenz in der französischen Diplomatie „könnte der Kanzler seine Macht nur unter der Bedingung erhalten, dass er den Weg der Legalität verlässt“431 und wenn er Verhandlungen aufnehme, „die zwischen dem Zentrum und den Nationalsozialisten unvermeidlich“ seien.432 Erst nach dem Schock, den der Sturz der Regierung Brüning ausgelöst hatte, begann François-Poncet, sich nach dem „Republikaner“ Brüning und seiner Politik zurückzusehnen: „Man hätte das Zentrum kaum heftiger brüskieren können als durch den Sturz eines Mannes von Herrn Brünings Größe, um ihn am darauffolgenden Tag durch einen Aufsässigen und Abtrünnigen aus seiner eigenen Partei zu ersetzen. Es ist nicht nur dieses feudalistische und an die Monarchie erinnernde Wesen des Kabinetts, das im Entstehen begriffen ist, was die nachdenklichen Menschen beunruhigt, sondern auch die Leichtgläubigkeit, die mangelnde Berücksichtigung der psychologischen Wirkung seiner Taten, die Unkenntnis, was die äußeren Angelegenheiten angeht, und die waghalsige Naivität, mit der der Reichspräsident und sein Umfeld sich an eine Unternehmung begeben haben, deren Ausgang nicht absehbar ist. Hinter dem Kabinett von Papen kann man deutlich erkennen, wie sich die Bewegung um Hitler, die Herr Brüning in Schach halten und aufhalten konnte, der Macht nähert.“433 Das war augenscheinlich das erste

430 Übersetzung des Zitats „La fin dernière de M. Brüning, autant qu’on puisse la démêler, paraît être toujours de canaliser le mouvement national–socialiste, d’en prendre la direction, de l’assagir, de l’intégrer peu à peu. Jusqu’à quelles concessions le chancelier se laissera–t–il pousser par le désir de mettre au service de l’ordre les éléments les plus sains du parti hitlérien ? Il serait à la fois naïf et imprudent de tabler sur l’inébranlable fermeté du Centre catholique, dont la souplesse ne connaît plus de limites quand il croit ses intérêts politiques en jeu“. Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 25/05/1932. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 431 Vgl. Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 27/04/1932. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 432 Depesche von André Francois–Poncet an André Tardieu vom 03/05/1932. In: MAE, Serie Z, Presse, Karton 619: Dossier général. 433 Übersetzung des Zitats „[I]l était difficile de brusquer davantage le centre qu’en renversant un homme de la valeur de M. Brüning pour lui substituer le lendemain un révolté et un dissident de son propre parti. Ce qui inquiète ici les esprits réfléchis, c’est non seulement le caractère féodal et d’ancien régime du cabinet en formation, mais aussi la légèreté, le défaut de psychologie, la méconnaissance de l’étranger et la naïveté aventureuse avec laquelle le Président et son entourage se sont lancés dans une entreprise dont l’issue est imprévisible. Derrière le Cabinet von Papen, on aperçoit nettement, en marche vers le pouvoir, le mouvement hitlérien que M. Brüning contenait et retardait“. Telegramm von André François–Poncet an den Quai d’Orsay vom 01/06/1932. In: MAE, Papiers Tardieu. PA AP 166, Bd.. 523: Informations de politique étrangère.

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Mal, dass François-Poncet den Reichspräsidenten Hindenburg so offen kritisierte und in Brüning wieder ein Hindernis für den Nationalsozialismus zu sehen begann. In seinen Erinnerungen allerdings über seine Jahre als Botschafter in Berlin von September 1931 bis Oktober 1938 zeichnete François-Poncet Heinrich Brüning wieder als einen ambivalenten Politiker, selbst wenn der Ton seiner Darstellung insgesamt positiver ausfiel als in seinen Botschaften an den Quai d’Orsay zwischen 1930 und 1932. Tatsächlich reiht sich in François-Poncets Erinnerungen ein Widerspruch an den anderen ; allerdings zeichnen sich alle seine Schriften über Deutschland dadurch aus. Noch frappierender aber ist der Einfluss und die Langlebigkeit der historischen Deutschlandbilder auf François-Poncet, vor allem seine negative Sicht auf Deutschland, die in seinem Denken geradezu monolithischen Charakter annahm, sowie seine Überzeugung, dass es eine deutsche Psychologie und einen deutschen Nationalcharakter gebe. So verknüpfte er seine Bewertungen der deutschen Politik mit seinem negativen Deutschlandbild und dem von ihm unterstellten deutschen Charakter, die somit zum Fundament seiner Urteile über Deutschland wurden. Im historischen Rückblick nahm der ehemalige französische Botschafter den Reichskanzler Brüning trotz dessen „Doppelzüngigkeit“ als außergewöhnliche Persönlichkeit wahr, die im Gegensatz zu dem unvernünftigen und vom nationalen Herdentrieb geprägten deutschen Volk gestanden habe: „Er hat mehr psychologische Fehler im Umgang mit den Deutschen begangen als jeder andere Reichskanzler. Er hat nicht erkannt, dass das Lob, das er im Ausland erfuhr, ihm im Inland überhaupt nicht half, sondern ihn verdächtig erscheinen ließ. Er hat nicht wahrgenommen, wie sehr der blinde Fanatismus die nationalistische Begeisterung in Deutschland bestärken konnte, so dass die Erfolge, die er hätte erringen können, sie wahrscheinlich nicht zufrieden gestimmt hätten. Er hat auch nicht verstanden, dass es vergeblich ist, mit einer Zuckerzange gegen Menschen anzukämpfen, die mit Äxten bewaffnet sind. Er wollte eine Politik der Überzeugung verfolgen. Aber das deutsche Volk mag es nicht, wen man es mit Samthandschuhen anfasst, sondern es zieht die harte Hand vor. Daran erkennt es seinen Meister.“434 In seinen Erinnerungen schien François-Poncet schließlich überzeugt, dass die letzten Überreste der parlamentarischen Demokratie in Deutschland mit Heinrich Brüning und nicht seinetwegen untergegangen waren.435

434 Übersetzung des Zitats „Plus qu’aucun autre chancelier du Reich, il a fait des fautes de psychologie allemande. Il n’a pas vu que, loin de servir, les éloges qu’il récoltait au–dehors le rendaient suspect au–dedans. Il n’a pas aperçu jusqu’à quel degré le fanatisme aveugle est capable de monter, en Allemagne, la passion nationaliste, une passion telle que les succès qu’il aurait pu remporter ne l’eussent, probablement, pas assouvie. Il n’a pas compris, non plus, qu’il était vain de lutter avec une pince à sucre contre des gens armés de haches. Il voulait pratiquer la politique de la persuasion. Mais le peuple allemand n’apprécie pas le gant de velours. Il aime la main de fer. C’est à ce signe qu’il reconnaît son maître“. François–Poncet: Souvenirs, S. 38f. 435 Ebd., S. 41.

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Trotz seines großen Netzwerks aus Informanten und Beratern, einer regelmäßigen Durchsicht der deutschen Presse und häufigen Kontakts mit dem Quai d’Orsay, den er selbst über Deutschland informierte, erkannte François-Poncet nicht den Unterschied zwischen dem Charakter eines traditionnellen Deutschlands im Sinne Wihelms II. und dem Wesen der Nationalsozialisten, bemerkt Annette Messemer zu Recht.436 Man kann hier nur vermuten, dass François-Poncets Fehlurteile und Widersprüche in seiner Wahrnehmung Deutschlands, die aufgrund seines großen Einflusses im Quai d’Orsay und seines beachtlichen Arbeitspensums große Verbreitung fanden, mit dazu führten, dass die französischen Politiker die eigentliche Gefahr des Nationalsozozialismus nicht erkannten und die Forderungen Heinrich Brünings nicht verstanden. Leider ist es hier nicht möglich nachzuweisen, welche und wie viele Berichte des französischen Botschafters von den französischen Außenministern und ihrer Entourage eingehend gelesen wurden.437 Es ist allerdings nach Sichtung der diplomatischen Archive von 1930 bis 1932 mit Sicherheit anzunehmen, dass Pierre de Margerie am Ende seiner Amtszeit als Botschafter (1930−1931) nicht nur weniger emsig an den Quai d’Orsay telegraphierte, sondern auch weniger „Unheil“ hinsichtlich der französischen Wahrnehmung Deutschlands anrichten konnte – trotz der Fehlinterpretationen, die auch seine Berichte durchziehen.438 Nicht zuletzt ist es aufschlussreich, dass auch Heinrich Brüning selbst Pierre Lavals Entscheidung bedauerte, Pierre de Margerie durch André François-Poncet zu ersetzen.439

436 Messemer: André François–Poncet, S.520 + S.534. 437 René Girault stellt diese Frage zu Recht. Vgl. Messemer: André François–Poncet, S. 519. 438 Dieser Eindruck beruht auf der Analyse der Archive, die im CADN, im Quai d’Orsay und im Ministère de la Défense eingesehen wurden. 439 Vgl. Brüning: Mémoires, S. 247.

IV BRÜNING, EIN NATIONALIST? Ein Nationalist in Frankreich zu sein stand zu Zeit Heinrich Brünings nicht mehr in der Tradition der Französischen Revolution, sondern war Synonym für eine aggressive, autoritäre und intolerante Ideologie, die durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs noch verstärkt wurde und für die die Nation zum Selbtszweck geworden war.1 Unter Konservativen und selbst unter den Radicaux war es dagegen üblich, als überzeugter Patriot aufzutreten und die nationale Verteidigung hoch zu halten, aber das bedeutete keineswegs, dass man einer aggressiven Außenpolitik positiv gegenüber stand. Auf der Seite der Linken richtete man sich gegen jede Form des Nationalismus, was hin und wieder eine allzu nachsichtige Einschätzung der Politik anderer Länder zur Folge hatte. Die Kommunisten schließlich verfolgten die Moskauer Linie. Die Urteile der Franzosen über Heinrich Brüning hingen also nicht zuletzt von der Einstellung ab, die sie zu ihrer eigenen Nation hatten. In der damaligen französischen Vorstellungswelt finden wir das ganze Spektrum möglicher Positionen, vom überzeugten Nationalismus bei den Rechten über eine enge nationale Verbundenheit bei der politischen Mitte bis hin zum Internationalismus und Pazifismus bei den Linken. Von Anfang an verfolgte Heinrich Brüning eine ambivalente nationale Linie in seiner Außenpolitik: Er setzte genauso auf die Abschaffung der Reparationen2 und auf ein Ende der Abrüstung wie auf das Ziel einer politischen Gleichberechtigung, wobei er den „Geist von Locarno“ allerdings nach wie vor respektierte.3 Mit der Ratifizierung des Young-Plans verschwand ein Hindernis für die deutschamerikanischen und deutsch-britischen Beziehungen.4 Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion waren vor allem auf wirtschaftlicher Ebene gut.5 Der vorgezogene Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland öffnete vielversprechende Perspektiven für die deutsch-französischen Beziehungen und sollte aus Briands Sicht zum Fundament für eine europäische Zusammenarbeit werden. Unter der politischen Oberfläche schwelten allerdings mehrere Konflikte, welche die Unterschiede zwischen den politischen Methoden Heinrich Brü-

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Es wird hier an den Boulangismus gedacht, aber vor allem an die Bewegung von Maurice Barrès und Charles Maurras. Zur Definition des Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg, vgl. Weichlein: Nationalbewegungen und Nationalismus, S. 142ff. Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd.1: Dokument Nr.153, S. 578. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 284. Die Revision des Versailler Vertrages war das oberste politische Ziel Deutschlands und entsprach den Forderungen einer Mehrheit der Deutschen. Vgl. Jaitner: Deutschland, S. 446f; Akten der Reichskanzlei. Bd.1. Einleitung, S. LXX.. Vgl. Niemann: Russengeschäfte, S. 155. Die UdSSR und Deutschland hatten eine Gemeinsamkeit: Den Widerstand gegen Frankreich und Polen. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 101.

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nings und seines Vorgängers Stresemann auf internationaler Ebene offenbarten.6 Abgesehen von den beiden großen internationalen Problemen, den Reparationen und der Abrüstung, traf die Regierung einige politisch konfliktträchtige Entscheidungen, mit der sie sich vor allem auf der Ebene der deutsch-französischen Beziehungen in eine Sackgasse hineinmanövrierte: Die Ablösung des Staatssekretärs im Außenministerium und Weggefährten Stresemanns, Carl von Schubert7, durch Bernhard Wilhelm von Bülow, einen Gegner der Politik des Völkerbundes;8 der Misserfolg der Saarverhandlungen im Juli 1930 infolge der nachtragenden Haltung Deutschlands;9 die Ablehnung des Europa-Memorandums Aristide Briands;10 der Besuch Curtius’ und Brünings in Rom im August 1931 und ihre Unterredung mit Mussolini zum Thema Reparationen.11 All dies verursachte eine deutliche Verschlechterung des politischen Klimas zwischen der Wilhelmstraße und dem Quai d’Orsay. Die Idee einer deutsch-österreichischen Zollunion, mit der schon Stresemann, der ehemalige österreichische Kanzler Ignaz Seipel und der ehemalige österreichische Botschafter in Deutschland, Richard Riedl, gespielt hatten, veranlasste Julius Curtius und den österreichischen Kanzler Johannes Schober, den Versuch zu unternehmen, die wirtschaftliche Lage in Deutschland und Österreich durch einen Pakt zwischen den beiden Nachbarländern zu verbessern.12 Schober wie auch Curtius betrachteten die Zollunion als ein Projekt im Rahmen und im Geiste des Europa-Memorandums Briands;13 allerdings erwies sich der internationale Widerstand (Frankreich, Italien, Tschechoslowakei) trotz der rechtlichen Konformität 6

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Die Hartnäckigkeit, mit der Brüning das Ende der Reparationszahlungen durchzusetzen suchte wird immer wieder von Historikern kritisiert. Kruedener verteidigt Brüning und schreibt, dass angesichts der deutschen Wirtschaftslage keine andere Politik möglich gewesen wäre. Vgl. Kruedener: Brünings Deflationspolitik ? S. 298f. Morsey und Conze sehen keinen großen Unterschied zwischen der Außenpolitik Stresemanns und der Außenpolitik Brünings, wohingegen Graml von einer Rückkehr zu der Epoche Wilhelms II. spricht. Vgl. Conze: Brüning als Reichskanzler, S. 320; Graml: Präsidialsystem und Aussenpolitik, S. 136; Morsey: Brüning und Adenauer, S. 15. von Schubert wurde am 1. Juni 1930 als Botchafter nach Rom geschickt. Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd.1: Dokument Nr. 26, S. 93f. Vgl. ebd. Dokumente Nr. 10 und Nr. 38, S. 21ff und S. 146ff. Brüning interpretierte das Briandsche Europa–Memorandum als einen Versuch der Franzosen, ihre Hegemonie zu retten und den Aufstieg Deutschlands zu verhindern. Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd. 1, Dokument Nr. 68, S. 281fF. Brüning besuchte am 8. August 1931 auch den Vatikan. Das Gespräch mit dem Kardinalstaatssekretär Pacelli verlief negativ aufgrund der politischen fundamental gegensätzlichen Ansichten Brünings und Pacellis. Vgl. hierzu Hömig, Brüning (I), S. 361. 1927 hatte Stresemann im Einverständnis mit Ignaz Seipel bereits an eine deutsch– österreichische Zollunion gedacht. Allerdings beeilte er sich nicht mit der Realisierung dieser wirtschaftlichen Union, um den Truppenabzug aus dem Rheinland nicht zu gefährden. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 292f. Schober schlug Hermann Müller im Februar 1930 die Idee einer Zollunion vor und Müller zeigte sich von der Realisierung eines solchen Projekts angetan. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 106. Vgl. Hauser: Zollunion, S. 45.

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mit den internationalen Rahmenbedingungen und trotz der Öffnung der Zollunion für andere Länder größer als erwartet. Das Vorhaben, das Brüning nicht ohne Skepsis abgesegnet hatte, wurde vor allem von Frankreich als Verstoß gegen den Friedensvertrag von St. Germain und das Genfer Protokoll interpretiert. Das Vorhaben einer deutsch-österreichischen Zollunion erschütterte auf lange Zeit das internationale Vertrauen und muss als einer der größten diplomatischen Fehler Brünings gewertet werden, zumal Deutschland eine Politik geheimer Absprachen verfolgt hatte,14 ohne die bewährte Verhandlungstaktik im Stil Stresemanns und ohne mit Frankreich oder dem Völkerbund Kontakt aufzunehmen. Brüning überschätzte die Stellung und den internationalen Handlungsspielraum Deutschlands maßlos. Frankreich kehrte angesichts des Misserfolgs des Briandschen EuropaMemorandums und aus Angst vor einem politischen Anschluss Österreichs an Deutschland zu einer härteren Deutschlandpolitik zurück. Die düstere Finanzsituation zwang die Regierung Brüning, auf eine Revision der Reparationszahlungen hinzuarbeiten, weil diese die Handlungsspielräume Deutschlands sowohl auf außenpolitischer als auch auf innenpolitischer Ebene einschränkten.15 Der Reichskanzler war überzeugt, dass die Reparationsforderungen die Zahlungsmöglichkeiten seines Landes überstiegen.16 Deswegen wollte er beweisen, dass es unmöglich sei, den Young-Plan zu erfüllen, ohne dabei Deutschland als Schuldigen dastehen zu lassen.17 Was die Frage der Abrüstung betraf, hatte Deutschland infolge des Versailler Vertrags nur das Recht, eine 100 000 Mann starke Armee und eine sehr kleine Marine zu unterhalten.18 Allerdings signalisierten die Siegermächte, dass die Reduzierung des militärischen Potenzials Deutschlands nur der Anfang einer internationalen Abrüstung sein sollte. Seit 1926 bereitete eine Kommission des Völkerbundes die Etappen einer großen internationalen Abrüstungskonferenz vor, die für den 2. Februar 1932 angesetzt war. Deutschland wiederum forderte eine Entgegnung auf das deutsche Sicherheitsbedürfnis, die Abrüstung der anderen Nationen als Antwort auf die deutsche Abrüstung und die Anerkennung Deutschlands als gleichberechtigten Partner für die Verhandlungen.19 Heinrich Brüning war überzeugt, Konzessionen von Seiten der Siegermächte zu erreichen, indem er die wachsende nationalsozialistische Gefahr und die zahlreichen innenpolitischen Schwierigkeiten für diesen Zweck instrumentalisierte. Am 5. Juni 193220 trafen Heinrich Brüning und Julius Curtius den britischen Pre14 Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Österreich fanden bis März 1931 statt. 15 Während die deutsche Öffentlichkeit auf eine Lösung der Reparationsfrage drängte, nutzten die Nationalsozialisten dieses Thema für ihre Propaganda und setzten so die Regierung Brüning unter Druck. Vgl. Striefler: Kampf um die Macht, S. 14. 16 Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd. 1, Dokument Nr. 153, S. 578. 17 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 112f. 18 Vgl. ebd., S. 110. 19 Vgl. ebd., S. 111. 20 Am selben Tag erließ die deutsche Regierung die zweite Notverordnung zur Rettung der Wirtschaft und der Finanzen.

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mierminister Ramsay MacDonald und seinen Außenminister Henderson in Chequers in England. Dies war die erste Einladung21 seitens Großbritanniens an einen deutschen Politiker seit dem Ersten Weltkrieg, die zudem nicht im Kontext einer internationalen Konferenz stand und nur dem Meinungsaustausch in „Freundschaft und Vertrauen“ dienen sollte.22 Trotz der Aufregung, die das deutschösterreichische Zollunionsprojekt, der Bau eines Panzerkreuzers in Deutschland23 und der Zusammenbruch der Creditanstalt in Österreich am 11. Mai 1931 verursachte, hatten die deutsch-britischen Gespräche zum Thema Reparationen und Abrüstung zwar einen positiven Einfluss auf das Brüning-Bild in England,24 aber keinerlei Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Brüning mit Schildern empfangen, auf denen stand: „Deutschland erwache. Nieder mit Brüning“.25 Am 18. und 19. Juli, nach dem Ausbruch der großen Bankenkrise in Deutschland am 13. Juli 1931, fanden auch in Paris deutsch-französische Gespräche statt. Der Besuch Brünings und Curtius’, die herzlich empfangen wurden, war ebenfalls der erste eines Reichskanzlers in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg. An den Verhandlungen, die sich um die beiden großen Fragen der Reparationen und der Abrüstung drehten, nahmen Pierre Laval, Aristide Briand, Finanzminister Pierre-Etienne Flandin, Unterstaatssekretär François-Poncet,26 der Generalsekretär des Quai d’Orsay Philippe Berthelot, die Amerikaner Henry Stimson und Andrew Mellon, der englische Minister Arthur Henderson und die belgischen und italienischen Außenminister Hyman und Dino Grandi teil. Brüning verhandelte mit dem Ziel, das Ende der Reparationszahlungen zu erreichen, aber Frankreich machte jedes Zugeständnis an Brüning davon abhängig, dass Deutschland auf eine Revision der Verträge, auf die deutsch-österreichische Zollunion und auf den Bau eines Panzerkreuzers verzichte.27 Trotz dieser Differenzen kamen sich Brüning und Laval, der ernsthaft an einer deutsch-französischen Aussöhnung interessiert war, persönlich näher.28 Heinrich Brüning verteidigte seine Positionen noch einmal auf der Londoner Sieben21 Die Einladung war ursprünglich für März 1931 geplant. England ließ dann aber das Treffen, aufgrund der Auseinandersetzungen rund um das Vorhaben einer deutsch–österreichischen Zollunion verschieben. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 320. 22 Vgl. ebd., S. 320f. 23 Der Bau des Panzerkreuzers verstimmte die anderen Nationen. L’Ere Nouvelle veröffentlichte dazu einen Artikel. Vgl. L’Ere Nouvelle vom 20/05/1931. Discours de M. Brüning au lancement à Kiel du croiseur, S. 3. 24 Die Gespräche verbesserten die Atmosphäre zwischen beiden Ländern, führten aber zu keinen konkreten Resultaten. Allerdings nahmen die Engländer die deutsche Gegeneinladung an. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 331. 25 Vgl. ebd., S. 332. 26 Der spätere französische Botschafter in Deutschland. 27 Hindenburg hatte seinen Rücktritt angedroht, sollte Brüning auf die Bedingungen Frankreichs eingehen. Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 348. 28 Beide unterhielten sich eine Stunde ohne Ûbersetzer miteinander. Brüning sprach Französisch, da er ingesamt ein Jahr in der Normandie bei Freunden verbracht hatte (zwischen 1911 und 1913). Vgl. ebd., S. 47 und S. 348.

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Mächte-Konferenz (20. 7.−23. 7. 1931), wo er US-amerikanische und britische Unterstützung erhielt. Am 25. Juli folgte ein Besuch Stimsons und zwei Tage später ein Besuch MacDonalds und Hendersons in Berlin. Die ersten alliierten Besucher in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg wollten ihre Gastgeber davon abbringen, Deutschlands Wiederbewaffnung zu betreiben, und erklärten sich im Gegenzug bereit, in der Frage der Reparationen zu intervenieren.29 Das Basler Stillhalteabkommen zur Kreditfrage und der Bericht des Engländers Walter Thomas Layton im August 1931 bestärkten Brüning in seiner Politik. Vom 27. bis zum 29. September 1931 empfing man Laval und Briand in Berlin. Infolge der Zugeständnisse an die Alliierten, die Frankreich in der Reparationsfrage hatte machen müssen und damit seine innenpolitische Lage geschwächt hatte, und angesichts eines wenig entgegenkommenden Reichskanzlers verliefen diese Gespräche deutlich gespannter. Man konnte sich aber immerhin auf die Schaffung einer deutschfranzösischen Wirtschaftskommission einigen, deren erste Sitzung am 3. November 1931 stattfand – Entwicklungschancen gab es aber kaum.30 Auf lange Sicht hing das Schicksal der Regierung Brüning immer mehr von ihren außenpolitischen Erfolgen ab.31 Brüning hielt das Ende der Reparationszahlungen für notwendig und dringend und wollte unter keinen Umständen eine Verlängerung des Hoover-Moratoriums akzeptieren. Im Dezember 1931 wurde der Beneduce-Bericht32 veröffentlicht, einem Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), wonach Deutschland nicht mehr in der Lage war, den Young-Plan zu erfüllen. Umso erfreuter waren die Deutschen, als sie die Einladung zur internationalen Konferenz in Lausanne erhielten, die im Januar 1932 stattfinden und die Reparationsfrage definitiv klären sollte.33 Nur Frankreich fühlte sich düpiert, denn es musste den Eindruck gewinnen, dass die Verständigungspolitik mit Deutschland diesem nur geholfen hatte, sich von seinen vertraglichen Verpflichtungen zu befreien.34 Allerdings erreichten die Franzosen nicht mehr als eine Verschiebung der Konferenz.35

29 Vgl. ebd., S. 358f. 30 Vgl. ebd., S. 366ff. 31 Vgl. hierzu Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 538f. Nach Helbich war ein wirtschaftliches Wachstum in Deutschland aufgrund der Reparationen nicht möglich. Die gespannte Wirtschaftslage und die als ungerecht empfundenen Reparationszahlungen stellten eine große psychologische Belastung dar, die die Regierung Brüning unter Druck setzte. Vgl. Helbich: Brünings Wirtschafts– und Finanzpolitik, S. 49f. 32 Benannt nach Alberto Beneduce, der der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vorstand. 33 Vgl. Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 542. 34 Vgl. ebd., S. 542f. 35 Infolge dessen fand die Lausanner Konferenz erst nach dem Sturz Brünings statt, vom 16. Juni bis zum 7. Juli 1932. Eine Ministerbesprechung in Berlin vom 27. Mai 1932 anlässlich der Strategiebesprechung für die Konferenz zeigt, dass selbst die deutschen Politiker nicht glaubten, dem Ende der Reparationen so nah zu sein. Vgl. Akten der Reichskanzlei. Bd. III, Dokument Nr. 767, S. 2576.

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Am 2. Februar 1932 begann in Genf die große internationale Abrüstungskonferenz, an der 64 Nationen teilnahmen und die die Mitglieder des Völkerbundes, der USA und der Sowjetunion unter der Leitung Arthur Hendersons versammelte. Für den Reichskanzler hatte die Abrüstungsfrage weniger Bedeutung als die Reparationen,36 aber auch hier galt es, eine Lösung zu finden, um den Status einer gleichberechtigten Nation zu erreichen. So waren beide Fragen eng miteinander verbunden. Heinrich Brüning favorisierte immer eine allgemeine Abrüstung und widersetzte sich trotz seiner Forderungen nach Gleichberechtigung einer deutschen Wiederbewaffnung, die ein Wettrüsten hätte auslösen können.37 Brüning unterschied sich in diesem Punkt nicht von Stresemann.38 Die Gesamtsituation schien Anfang des Jahres 1932 günstig für Deutschland; alle großen Westmächte erlebten eine Wirtschaftskrise und waren gezwungen, ihre Ausgaben zu reduzieren. Frankreich aber, dass durch die Art, wie mit der Reparationsfrage umgegangen wurde, verstimmt war und nach wie vor auf sein Sicherheitsbedürfnis pochte, hatte wie England noch immer nicht zwischen dem Erhalt oder einer Revision des Versailler Vertrags gewählt.39 Deutschland ging als einzige Nation, die bislang abgerüstet hatte, mit einem moralischen Vorteil in die Konferenz. Die anderen Staaten beschlossen daraufhin, mit Blick auf den wachsenden Erfolg der Nationalsozialisten und die herannahenden Wahlen in Preußen im April 1932, Deutschland in der Frage der Abrüstung Zugeständnisse zu machen – allerdings erwarteten sie dafür eine Beruhigung der innenpolitischen Lage in Deutschland.40 Die Verhandlungen mit England und den Vereinigten Staaten, die aufgrund der geographischen Distanz ein weitaus geringeres Sicherheitsbedürfnis hatten als die Franzosen,41 brachten Brüning voran. Ihm fehlte aber noch immer das Einverständnis der Franzosen, die ihrem Sicherheitsbedürfnis Vorrang vor der Abrüstung gaben,42 was der Tardieu-Plan vom 5. Februar 1932 bereits gezeigt hatte.43

36 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 473. 37 Duroselle verteidigt die französische Haltung, indem er unter anderem die geheime Wiederbewaffnung Deutschlands anspricht, die die Franzosen beunruhigte. Auch wenn diese geheime Wiederbewaffnung existierte, so blieben die deutschen Rüstungsausgaben, laut Hömig, trotz allem um ein Fünffaches unter den Rüstungsausgaben Englands und Frankreichs in den Jahren 1928 bis 1932. Vgl. Duroselle: Décadence, S. 38; Hömig: Brüning (I), S. 474f. 38 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 471. 39 Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 111. 40 Vgl. ebd., S. 111. 41 Was die Marine betraf hatten die Engländer und US–Amerikaner ein Abrüstungssystem geschaffen, das ihnen zum Vorteil gereichte (siehe Konferenzen in Washington, 1921–1922 und London, 1930). Die Abrüstung des Heeres betraf und interessierte sie kaum. Vgl. Duroselle: Décadence, S. 37. 42 Seit 1924 lautete das politische Grundprinzip der Franzosen: „Arbitrage, sécurité, désarmement“. Vgl. ebd., S. 37. 43 Dieser Plan sah die Schaffung einer internationalen militärischen Streitmacht vor, die im Rahmen des Völkerbundes operieren sollte und mit Bombern, Panzern, schwerer Artellerie und bestimmten Kriegsschiffen ausgestattet werden sollte, die damit nicht mehr den nationalen Armeen zu Verfûgung stehen sollten. Vgl. Schumacher: Frankreichs Sicherheits– und

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Deutschland erhielt die Zustimmung der Franzosen erst nach dem Sturz der Regierung Brüning.44 Die Frage der Abrüstung spaltete die sozialistischen Linken und die nationalistischen Rechten in Frankreich tief. Während die Sozialisten die Abrüstung als Notwendigkeit für die französische und internationale Sicherheit betrachteten, forderten die Rechten die Sicherheit ihres Landes als Bedingung für die Abrüstung ein.45 Dies erklärt auch, warum die Sozialisten in dieser Frage zu noch größeren Konzessionen an Deutschland bereit waren als in der Reparationsfrage. Die Radikal-Sozialisten folgten in ihrer Argumentation hinsichtlich der deutschen Forderung nach einer Gleichheit der militärischen und rüstungstechnischen Rechte die politische Linie der französischen Rechten. 1. Brüning in der Vorstellungswelt der universitären und politisch-kulturellen Kreise Für welches (der beiden) Deutschland(s) steht Heinrich Brüning? Steht er einer deutsch-französischen Annäherung positiv gegenüber? Ist er ein Nationalkonservativer, dessen Herz zwar für den Frieden schlägt, dessen Volk von ihm aber eine kriegerische Haltung einfordert? Oder ist er ein überzeugter Nationalist, der Hitler nahe steht, „dem gefährlichsten Revisionisten Deutschlands“? Besteht ein Unterschied zwischen seiner internationalen Politik und den Absichten der Nationalsozialisten? Selbst im Denken der französischen Universitätsprofessoren, Intellektuellen, Redner und Schriftsteller, die in der Regel unabhängige, progressive oder elitäre Standpunkte vertraten, wog das Gewicht der allgemeinen Vorstellungswelt schwer. Und ein weiteres Mal muss an die Sprengkraft der deutsch-französischen Thematik erinnert werden. Wieder sind es die Versammlungen der Ligue des droits de l’homme zum Thema Deutschland, die trotz ihres marginalen Einflusses auf die (globale und aktuelle) öffentliche Meinung in Frankreich zeigen, wie schwer es den Franzosen fiel, gelassen über die Politik der Regierung Brüning zu diskutieren. Eine dieser Versammlungen über „Deutschland und wir – L’Allemagne et nous“ am 28. November 1930 zum Beispiel, welche die Redner Victor Basch, Präsident der Menschenrechtsliga, Salomon Grumbach, sozialistischer Abgeordneter und Mitglied des Comité Central, sowie Pierre Cot, radikaler Abgeordneter, bestritten, wurde von Anhängern der Croix de Feux und der Action Française brutal unterbrochen: „Sobald die Türen geöffnet wurden, drang eine Gruppe junger, aufgebrachter

Deutschlandpolitik, S. 61. Für Brüning war dieser Vorschlag der Franzosen eine Enttäuschung, weil er weder eine militärische Gleichberechtigung von Frankreich und Deutschland vorsah, noch eine Revision des Versailler Vertrages. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 112. 44 Ein Treffen der drei Siegermächte, das ursprünglich für den 29. April vorgesehen war, musste wegen einer Krankheit Tardieus abgesagt werden. Vgl. Mannes, ebd. 45 Vgl. hierzu Schumacher: Frankreichs Sicherheits– und Deutschlandpolitik, S. 60ff.

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Menschen in Kampfformation in den Saal und ging auf das Rednerpult los. Dabei schrieen sie: ’Tod den Boches! Nieder mit den Freunden Deutschlands!’ Victor Basch, ein alter Mann von 72 Jahren, wurde heftig gepackt und brutal mit Fußtritten, Faustschlägen und Schlagstöcken maltraitiert.“46 Bedeutsamer als dieser Zwischenfall, über den in mehreren französischen Zeitungen (L’Ere Nouvelle, Le Matin, La Volonté…) berichtet wurde, ist, dass sich die französische Polizei nach Zeugenaussagen von Anhängern der Ligue des droits de l’homme abseits vom Geschehen hielt, ohne einzuschreiten, und auch nur sehr wenige rechtsextreme Schläger festnahm.47 Als Folge neuer und wiederholter Drohungen und gewalttätiger Angriffe, „der Reaktion“,48 und mangels Unterstützung durch die öffentlichen Sicherheitskräfte organisierte die Ligue des droits de l’Homme eigene Leute, um ihre Versammlungen zu schützen. Allen voran waren es Kräfte der Fédération Socialiste de la Seine, die jetzt die Veranstaltungen der Liga für Menschenrechte sicherte und sich verpflichtete, „überall die freie Meinungsäußerung zu gewährleisten, in dieser Pariser Region, in der die Hitlerische Diktatur versucht, sich zu etablieren“.49 In ihrer Korrespondenz verglichen die Mitglieder der Ligue des droits de l’Homme die Angriffe der französischen rechtsextremistischen Gruppen oft mit denen der SA oder des Stahlhelms – zwischen deren Repräsentanten die französischen Pazifisten keinen Unterschied machten.50 Die Suche nach einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Arrangement mit Deutschland blieb also in einer gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner äußerst misstrauischen Gesellschaft eine große Herausforderung, nicht zuletzt auch weil die Franzosen bei ihren Versuchen einer deutsch-französischen Annäherung oft nicht einmal auf die Unterstützung durch die öffentliche Ordnung zählen konnten. Dieses zögerliche Herantasten an den deutschen Nachbarn prägte auch

46 Übersetzung des Zitats „Dès l’ouverture des portes, une horde de jeunes excités se ruait dans la salle en formation de combat et prenait d’assaut la tribune aux cris: „A mort les Boches ! A bas les amis de l’Allemagne !“ Victor Basch, vieillard de soixante–douze ans, fut brutalement empoigné et frappé sauvagement à coups de pied, de poing et de matraque“. BDIC, Archive der Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, F Delta Res 798, Karton 44: Réunions publiques 1924–1939: Dokument 4 (Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel aus Le Populaire vom 29/01/1930). 47 „La police, après avoir laissé, pendant une grande demi–heure, la fureur de ces énergumènes se donner libre cours, se décida enfin et comme à regret à intervenir. La salle fut évacuée et deux des manifestants qui s’étaient plus particulièrement distingués par leurs violences furent conduits à poste. On peu s’étonner à bon droit de l’insignifiance de cette répression. On arrête deux de ces jeunes fous alors qu’ils étaient plus de deux cents et que la plupart d’entre eux s’étaient livrés à des voies de fait révoltantes. “ Vgl. ebd. 48 Vgl. BDIC, Archive der Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, F Delta Res 798, Karton 43: Réunions publiques 1924–1939: Dokument 4 (Communique der Liga vom 27.12.1930). 49 Vgl. BDIC, Archive der Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, F Delta Res 798, Karton 44: Réunions publiques 1924–1939: Dokument 3 (Brief an den Generalsekretär der Liga von der SFIO vom 2.12.1930). 50 Vgl. ebd.

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die Veröffentlichungen der Universitätsgelehrten und anderer französischer Autoren, die sich trotz allem größere intellektuelle Freiheit erlauben konnten. 1.1 Auf dem Weg zu einem besseren Verständnis des Anderen als Basis einer Annäherung Auch die in Frankreich von Universitätsprofessoren und Intellektuellen veröffentlichten Publikationen drehten sich in den Jahren 1930 um die beiden großen Anliegen, die die französische Nation in dieser Zeit beschäftigten: die Sicherheit ihres Landes und die Reparationen. Einige Texte allerdings, wie jene des Juraprofessors Lavergne, die für ein besseres Verständnis der Probleme und Bedürfnisse des Anderen als notwendige Basis einer Annäherung warben, blieben sehr abstrakt. Der ehemalige französische Kommissar/Haut Commissaire für die „Provinces du Rhin“, Paul Tirard, war sich der Bedeutung der nationalen Bilder für das politische Klima zwischen Frankreich und Deutschland bewusst, als er schrieb: „Warum konnte man manchmal nicht verstehen, dass die Entspannung der Gemüter auf beiden Seiten zu einem sehr großen Teil von der Meinung abhing, die sich die Deutschen und die Franzosen, die über den Rhein im Kontakt standen, zwangsläufig voneinander gebildet hatten?“51 Der Soziologe und Übersetzer Mohand Tazerout teilte diese Meinung, obgleich seine soziologischen Überlegungen zu diesem Thema trotz guten Willens recht unklar blieben: „Das Ergebnis der deutsch-französischen Annäherung wird die genaue Kenntnis unserer jeweiligen alltäglichen Gewohnheiten sein oder es wird gar kein Ergebnis geben.“52 Der Historiker Gaston Zeller wiederum kam in seiner deutsch-französischen Geschichte seit dem Mittelalter zu dem Schluss, dass die aktuellen Spannungen zwischen Deutschen und Franzosen vorübergehend seien, weil „in der Vergangenheit Franzosen und Deutsche häufiger Freunde und Alliierte als Feinde“ gewesen seien. Ihre „Rivalität“ habe „keine tieferen Gründe“, sondern den „Charakter eines Unfalls“.53 Obgleich er die „Erbfeindschaft“ beider Länder in Frage stellte, spielte er den aktuellen intellektuellen, moralischen und politischen Gegensatz zwischen beiden Ländern nicht herunter. Konkrete Lösungsvorschläge des deutschfranzösischen Konflikts bot er allerdings nicht an, mit dem Hinweis, dass dies ihm seine Eigenschaft als Historiker nicht erlaube . Er richtete stattdessen den vagen

51 Übersetzung des Zitats „Comment a–t–on pu parfois ne pas comprendre que la détente des esprits de part et d’autre dépendait, pour une très large partie, de l’opinion que Français et Allemands, en contact sur le Rhin, étaient appelés à se faire les uns des autres ?“ Tirard: La France sur le Rhin, S. 417. 52 Übersetzung des Zitats „L’œuvre de rapprochement franco–allemand sera la connaissance exacte de nos habitudes réciproques de tous les jours, ou elle ne sera rien du tout“. Tazerout: Quelques conditions méconnues d’un rapprochement franco–allemand, S. 9. 53 Vgl. Zeller: La France et l’Allemagne depuis dix siècles, S. 203f.

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Appell, „die größtmögliche Anzahl von Brücken zu bauen“54, an seine Leser – ein Appell, dessen leere Rhetorik die damalige Ratlosigkeit der Franzosen und den Mangel an politischen Konzepten für den Umgang mit Deutschland vor Augen führt. Edmond Vermeil, Germanist an der Universität Straßburg, schwankte in seiner Bewertung der allgemeinen Bedingungen der deutsch-französischen Beziehungen, die im Januar 1931 Thema dreier Konferenzen im Centre Européen de la Dotation Carnegie in Paris waren.55 Vermeil sah zunächst auf intellektueller und psychologischer Ebene Möglichkeiten und auch die Verpflichtung einer deutschfranzösischen Annäherung und erst dann auch auf ganz konkreter politischer und wirtschaftlicher Ebene.56 In seinem ersten Vortrag zeichnete er deshalb die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach. Er begann mit dem Mittelalter, das er als romantische und kosmopolitische Periode der europäischen Einheit und spirituellen Durchdringung beschrieb, ging dann zu den Jahren 1750 bis 1815 über, die er als Epoche der Entfremdung bezeichnete, die mit Napoleons Eroberungen begann und mit der deutschen Antwort des Pangermanismus fortgeführt wurde, und endete schließlich mit dem Zeitraum 1815 bis zum Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit sei der deutsche Einfluss in Frankreich gewachsen und habe zu dem tiefen Konflikt zwischen „l’idéal rationnel ou formel de la France et l’idéal passionnel ou dynamique de l’Allemagne“ geführt.57 Im Jahr 1931 sah Vermeil nur zwei Optionen für die deutsch-französische Zukunft: entweder ein neuer Krieg oder die Rückkehr – die er selbst wünschte – zu einer Zeit europäischer Einheit, symbolisiert durch Bach, Leibniz, die Sturm- und Drang-Denker Goethe, Schiller und Herder, die selbst von Rousseau und Diderot beeinflusst waren, und schließlich Wagner und Nietzsche, die die französische Poesie und den französischen Symbolismus maßgeblich geprägt hatten.58 Um die erste Option eines Krieges auszuschließen, schlug Vermeil eine wirtschaftliche und intellektuelle Annäherung im Stil des Mayrisch-Komitees vor sowie eine deutschfranzösische oder sogar europäische Kolonialisierung Zentralafrikas und forderte nicht zuletzt dazu auf, den historischen Relativismus und die deutsche „puissance créatrice de la vie“ in Frage zu stellen – so erklärte Vermeil die „deutsche Macht“, die für ihn Synonym für das Recht des Stärkeren war – im Gegenzug zu einer juristischen Ausweitung des universellen Rechts mit Hilfe der deutschen Philoso-

54 Übersetzung des Zitats „à jeter des ponts par–dessus, le plus grand nombre possible de ponts“. Ebd., S. 1. 55 Die Konferenzbeiträge wurden in den Publications de la Conciliation Internationale veröffentlicht. Vgl. Vermeil: L’Allemagne et les Démocraties occidentales. Les conditions générales des relations franco–allemandes. Paris 1931. Gefunden im CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands 56 Vgl. Konferenz in Paris vom 12.01.1931 zum Thema „Les Relations Intellectuelles dans le passée“. In: Vermeil: L’Allemagne et les Démocraties occidentales, S. 1. 57 Vgl. ebd., S. 21 und S. 2ff. 58 Vgl. ebd., S. 3ff.

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phie in Frankreich.59 Diese Vorschläge machte er, obwohl er den deutschen Revisionismus in der Reparationsfrage, die deutsche Grenzfrage und die Aufrüstung sowie das Vorhaben einer „Angliederung Österreichs“60 deutlich kritisierte. Vermeil, selbst kein Wirtschaftsexperte, stellte also nicht das Versailler Vertragssystem in Frage, auch wenn er davor warnte, dass die Realisierung der nationalsozialistischen Ziele „das Ende der europäischen Kultur“61 bedeute und das deutsche Problem deswegen ein französisches Problem sei.62 Letzlich machte er keinerlei konkrete Vorschläge, was die Außenpolitik der Regierung Brüning betraf, sondern setzte – langfristig – auf die Erziehung und Bildung der Jugend, von der er sich eine Stabilisierung der innenpolitischen Lage in Deutschland wie auch der deutsch-französischen Beziehungen erhoffte.63 Die Lektüre der vielen enthusiastischen Deutschland-Reiseberichte64 von französischen Schülern, Studenten und Lehrern65 sowie die an die französische Regierung gerichteten Subventionsanträge der französischen Universitäten (Dijon, Grenoble, Paris), Schulen und Institutionen wie der Deutsch-Französischen Gesellschaft66 aus den Jahren 1930 bis 1932 59 60 61 62 63 64

Vgl. ebd., S. 56 und S. 61f. Vgl. ebd., S. 63ff. Vgl. ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. einige Berichte französischer Schüler, die an einem Austausch mit Deutschland teilgenommen hatten. „Me voilà, hélas, revenu de ce beau pays qu’est la Bade.“ (F.K. Paris); „Je suis enchanté de ce séjour d’un mois passé à l’étranger…“ (J.B. Boyardville); „Mon séjour en Allemagne s’est très bien passé, il comptera dans mes plus beaux souvenirs. Ce n’est pas sans crainte que je suis partie. Il me semblait impossible que les Allemands ne haïssent la France, je me suis rendu compte qu’il en est de même qu’en France comme en Allemagne: Eviter toute guerre! “ (Mlle A.P. Paris); „…en un mot, je suis enchanté de mon séjour dans ce charmant pays. Je pourrai défendre la race allemande maintenant […].“ (P.C. Chalon s/S). Übersetzung: „Hier bin ich, zurück aus diesem schönen Land Baden!“ (F.K. Paris); „Ich bin entzückt von diesem einmonatigen Aufenthalt im Ausland…“ (J.B. Boyardville); „Mein Aufenthalt in Deutschland ist sehr gut verlaufen, er wird mir als einer der schönsten in Erinnerung bleiben. Ich bin nicht ohne Befürchtungen aufgebrochen. Es schien mir unvorstellbar, dass die Deutschen Frankreich nicht hassen könnten, ich habe festgestellt, dass man in Frankreich wie in Deutschland dasselbe denkt: Den Krieg vermeiden!“ (Fräulein A.P. Paris); „… kurzum, ich bin entzückt von meinem Aufenthalt in diesem reizenden Land. Ich kann mich nun für die deutsche Rasse einsetzen […]“(P.C. Chalon s/S). In: Deutsch–französischer Schüleraustausch Heidelberg. Tätigkeitsbericht, S. 14–16. CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands. 65 Die Briefe zwischen Universitätsgelehrten oder ihre an das Institut culturel français gerichtete Korrespondenz spiegelte hingegen eine etwas düstere Sicht auf Deutschland wider. Vgl. CADN. Fonds de l’Institut culturel français à Berlin. Kartons 10–15: Correspondance diverse classée par ordre alphabétique (1930–1935). 66 Vgl. die folgenden Beispiele aus den Jahren 1930–1932 für die verschieden deutsch– französischen Kulturaktivitäten im Bereich Schulunterricht, Lehre und Studium. 1) Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 27.08.1931 betreff eines Zuschussantrages für

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belegen, dass die Zahl von deutsch-französischen Schul-, Studien- und KulturAustauschprogrammen stark anstieg, neue Stellen für Deutschlehrer in Frankreich geschaffen wurden und das große Interesse an der deutschen Sprache nicht zuletzt daher herrührte, dass man sie als Mittel der Annährung zwischen beiden Ländern betrachtete. Diese Tendenz zu mehr deutsch-französischen Begegnungen war angesichts „des aktuellen Zustands der deutsch-französischen Beziehungen von größter Wichtigkeit“.67 Man empfand es sogar als „moralische Notwendigkeit, dass Frankreich nicht den Anschein erweckt, sich weniger für das Deutschstudium/den Deutschunterricht in Frankreich zu interessieren“.68 Gerade in diesen universitären und schulischen Kreisen war man bemüht, eine kulturelle Annäherung zu ermöglichen und zu garantieren und keinesfalls die Regierung Brüning zu brüskieren. 1.2 Brüning, Nationalkonservativer zwischen Pazifismus und ungewollter Kriegsbegeisterung Der Experte für Wirtschaftsrecht, Bernard Lavergne, ging sogar noch über die Vorschläge seines Universitätskollegen Edmond Vermeil hinaus. Er nutzte sein Wissen und seine Überlegungen zur Lage der Wirtschaft und Demokratie in Deutschland als Basis, um die außenpolitischen Ziele der Regierung Brüning näher zu analysieren. Sein wichtigstes Anliegen war, zu zeigen, dass die deutsche Außenpolitik notwendigerweise pazifistisch sei: „Dass ein Land, in dem die größte Sorge wirtschaftlicher Natur ist, wieder anfängt zu begreifen, wie man die Banken und somit auch fast alle Unternehmen vor der Pleite rettet und wie man ver-

die Deutsch–Französische Gesellschaft in Leipzig; 2) verschiedene Berichte über die Aktvitäten der Sociétés d’Etudes Franco–Allemandes in ganz Deutschland; 3) Korrespondenz zwischen P. de Margerie und Briand zu den Themen Institut germanique de Paris und die deutsch–französischen Universitätsbeziehungen; 4) Protokoll Commission des Echanges Scolaires franco–allemandes; 5) Korrespondenz der Gruppe „La Liaison Intellectuelle Franco– Allemande“. In: CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands. In diesem Rahmen können auch die Aktivitäten im akademischen Bereich der Deutsch–Französischen Gesellschaft genannt werden. Vgl. CADN. Fonds de l’Ambassade de France à Berlin. Série B. Kartons 463–465: échanges culturels franco–allemands (1925–1934. Bedauerlicherweise enthalten diese Archive keine Berichte über bzw. zu Heinrich Brüning. 67 Brief an den Ministre de l’Instruction Publique vom 03/09/1931. In: CADN. Fonds d’administration centrale. Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger. Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Relations Intellectuelles avec l’Allemagne. Echanges universitaires franco–allemands. 68 Brief eines Senators an das Ministre des Affaires Etrangères vom 03/11/1931. In: CADN, ebd.

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hindert, dass die Produktion noch stärker in die Knie geht, in dem das Gespenst der Arbeitslosigkeit und der politischen Umstürze, die sie nach sich ziehen kann, in allen Köpfen herumgeistert, in dem sich die Sorge der arbeitenden Massen vor allem darum dreht, mehr oder weniger satt zu werden, dass ein solches Land zurzeit kein bisschen an eine militärische Auseinandersetzung denkt, ist nicht verwunderlich, sondern sogar unvermeidlich.“69 Er unterstrich seine Meinung noch, indem er schrieb, dass jedes Volk, das Hunger leide, „[devrait être] atteint de complète aliénation mentale pour penser que la guerre résoudrait les difficultés économiques dont il est assailli“.70 Die Deutschen aber, denen es mehrheitlich keineswegs an „Vernunft“ fehle, seien noch von dem letzten Krieg traumatisiert.71 Allerdings gebe es Gruppen, die in der Zukunft das Blatt doch in Richtung Krieg wenden könnten: die Studenten und die Junker, die von den Ideen der extremen Rechten begeistert seien, die Großindustriellen, die nostalgisch auf 1914 zurückblickten, das untere und mittlere Bürgertum, das durch die Inflation ruiniert und proletarisiert worden sei, sowie die Menge der verzweifelten Arbeitslosen, die durch Hitler und die bolschewistischen Doktrinen beeinflusst würden.72 Trotz allem glaubte Lavergne, dass die Franzosen die Bedeutung der „Hitlerischen Bewegung“ übertrieben, die nur aus der sozialen Krise und den von Hindenburg protegierten Demonstrationen des Stahlhelms geboren sei, sich aber keineswegs nach einem neuen Kriegs sehne: „Nichts ist leichter, als stets 100 000 Deutsche zu finden, die gewillt sind, zusammen zu demonstrieren, wenn es denn darum geht, eine Uniform anzulegen, im Gleichschritt zu marschieren und gemeinsam Rufe auszustoßen. Das ist eine Frage nationalen Geschmacks! Das trifft auf den Reichsbanner oder Verteidiger der Republik wie auf die Kommunisten und alle anderen großen Parteien wie auch auf den Stahlhelm zu. Zweifellos strebt ein sehr kleiner Teil der ’Stahlhelme’ einen Krieg an.“73 Das Phänomen des deutschen Militarismus, das man fast in allen französischen Deutschlandbeschreibungen seit dem 19. Jahrhundert findet, beunruhigte den Professor aus Paris allerdings nicht. Er fürch69 Übersetzung des Zitats „Qu’une nation, où la préoccupation dominante est d’ordre économique, revient à savoir comment sauver de la faillite les banques et, avec elles, presque toutes les entreprises, comment empêcher la production de tomber à un niveau plus bas encore, où le spectre du chômage et des bouleversements politiques qu’il peut engendrer hante tous les cerveaux, où la préoccupation des masses salariées est essentiellement de manger à peu près à leur faim, qu’une nation pareille ne songe nullement dans le présent à faire une guerre militaire, rien d’étonnant, rien de plus inévitable même“. Lavergne: Esquisse des problèmes franco– allemands, S. 36. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 36f. 72 Ebd. 73 Übersetzung des Zitats „Rien de plus facile que de trouver toujours 100.000 Allemands disposés à manifester ensemble, du moment qu’il s’agit pour eux de revêtir un uniforme, de défiler au pas de parade et de pousser en commun des cris. Question de goût national ! Ceci est vrai des Reichsbanner, ou défenseurs de la République, des communistes et tous les autres grands partis, comme des Stahlhelm. Une très faible partie des „Casques d’Acier“ sans doute aspire à la guerre“. Ebd.

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tete vielmehr die angebliche Unfähigkeit der Deutschen, anders als kollektiv zu denken und zu handeln – ebenfalls ein wiederkehrendes Deutschlandbild bei vielen französischen Autoren. Gleichermaßen war Lavergne durch die Radikalisierung der deutschen Jugend und den weit verbreiteten Eindruck der Deutschen beunruhigt, unter dem „Diktat von Versailles“74 – das Lavergne selbst als gerechten Vertrag ansah – und unter dem militärischen „Stiefel“ der Franzosen zu leben:75 „Man kann aus ihrem starken Willen, eine größere Armee erlangen zu wollen, nicht schließen, dass sie willens sind, eines Tages zu den Waffen zu greifen, aber dieses normale Streben nach Wiederbewaffnung kann auch nicht als ein psychologisches Zeichen dafür aufgefasst werden, dass sie sich für Frieden einsetzen.“76 Diese Unbekannte schmälert dann auch im Laufe der Kapitel seinen anfänglichen Optimismus hinsichtlich der von ihm behaupteten pazifistischen Haltung der Deutschen: „Die tragische Wahrheit ist, dass bezüglich dieser überaus wichtigen Frage über Krieg oder Frieden eine beängstigende Unbekannte bleibt, die kein menschlicher Scharfblick aufdecken kann.“77 Einen weiteren negativen Aspekt sah er in der Bereitschaft der Deutschen, jedweder Außenpolitik zu folgen, sobald sie sich gegen den Versailler Vertrag und gegen die Polen richte: „So wie das deutsche Volk in der Innenpolitik gepalten ist und so wie in jeder einzelnen Gruppierung, die durch diese Zerrissenheit entstanden ist, stur und unnachgiebig auf die eigenen Lösungen und wichtigsten Wünsche beharrt wird, so ist dessen Meinung in äußeren Angelegenheiten, um es so zu sagen, fügsam und in der Hand der Regierung.“78 So konnte sich Lavergne schließlich auch vorstellen, dass eine kriegsbegeisterte deutsche Regierung das Volk für sich begeistern könne, wenn es ihr denn gelänge, die Deutschen zu überzeugen, dass sie wieder Opfer eines feindlichen Bündnisses wie im Jahre 1914 seien. Es sei sogar möglich, „dass die Regierung selbst kein Bestreben nach dem Krieg hat, aber dass sie durch Vorgehensweisen, die sie für gewandt und diplomatisch einwandfrei hält, so weit kommt, unumkehrbare Tatsachen zu schaffen, die sie dann gegen ihren Willen in den Krieg zwingen würden“.79 Lavergne ordnete die Regierung Brüning in diese Ka-

74 Vgl. ebd., S. 45ff. 75 Vgl. ebd., S. 37ff. 76 Übersetzung des Zitats „On ne saurait inférer de leur violent désir de recouvrer une armée plus importante la volonté chez eux de recourir un jour aux armes, mais ce désir naturel de réarmement ne peut pas non plus être inscrit comme un élément psychologique témoignant du désir de paix de l’Allemagne“. Ebd., S. 39. 77 Übersetzung des Zitats „La vérité tragique est que, sur cette question cruciale de la paix et de la guerre, une redoutable inconnue demeure qu’aucune perspicacité humaine ne saurait lever“. Ebd. 78 Ü bersetzung des Zitats „Autant, dans l’ordre de la politique intérieure, le peuple allemand est divisé contre lui–même et, dans chaque fraction ainsi formée, entêté, irréductible quant à ses convictions et désirs essentiels, autant, en matière extérieure, il est malléable et, pour ainsi dire, dans la main de son gouvernement“. Ebd., S. 39. 79 Übersetzung des Zitats „que le gouvernement lui–même n’eût aucun désir de guerre mais que, par des méthodes qu’il jugerait très habiles et du meilleur style diplomatique, il en vînt à

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tegorie gefährlicher deutscher Regierungen ein, weil sie den Versuch einer deutsch-österreichischen Zollunion unternommen habe und kein Hehl daraus mache, den Young-Plan revidieren zu wollen.80 Der Reichskanzler Brüning bestätige die Regel, nach der es den deutschen Politikern sehr häufig „in unvorstellbaren Maße“ an „Psychologie“ und „politischer Intelligenz“ fehle.81 Die Methode des „fait accompli“ habe die Stresemannsche Diplomatie abgelöst, weil „die Regierung Brüning, so sagt man, außenpolitisch einen Erfolg benötigt habe, um der sinkenden Beliebtheit bei den Massen aufgrund der Sparmaßnahmen im Haushalt und der höheren Steuern, die sie beschließen musste, gegenzusteuern“.82 Im gleichen Maße, wie Lavergne Brünings Innenpolitik mit Verständnis begegnete, verurteilte er dessen Außenpolitik scharf. Das politische Unternehmen einer deutschösterreichischen Zollunion sei ein schwerer Fehler gewesen, der „von einer bewusst brutalen diplomatischen Haltung“ zeuge83 und der eine Serie schmerzhafter Misserfolge für Deutschland nach sich gezogen habe (Isolation in Genf, das Urteil des Gerichts in Den Haag, die erzwungene Aufgabe des deutsch-österreichischen Zollunionsprojekts) „welche die schon so großen innenpolitischen Schwierigkeiten nur noch vermehren können“.84 Nur in dem von ihm als „sensationell“ bezeichneten Besuch Brünings und Curtius’ in Paris sah Lavergne noch einen Funken Hoffnung für die deutsch-französische Zukunft.85 Brüning diente ihm als gutes Beispiel, um zu zeigen, dass „der Deutsche zwar ein exzellenter Techniker“ und „außergewöhnlicher Wissenschaftler“ sei, aber auch „in der Regel ein schlechter Politiker“. Brüning sei mangels politischer Reife „nicht in der Lage, sich die Auswirkungen der außenpolitischen Haltungen seiner Regierung vorzustellen“.86 Zwei Faktoren könnten demnach, so Lavergne, den Frieden in Europa aufs Spiel setzen: die Ungeschicktheit der deutschen Verantwortungsträger, die auch gegen ihren eigenen Willen einen Krieg möglich machen könnten, und die Leichtgläubigkeit des deutschen Volkes, das sich dem Willen der Regierung und der Presse ganz unterworfen habe.87 Punkt für Punkt nahm Lavergne dann noch einmal alle Fragen der deutschen Außenpolitik unter die Lupe, die nach seiner Meinung ein Hindernis für eine deutsch-französische Verständigung darstellten: Die Reparationen, die deutsche

80 81 82

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accomplir des actes irréparables qui l’obligeraient en dépit de lui–même à la guerre“. Ebd., S. 40. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Übersetzung des Zitats „le gouvernement Brüning avait besoin, dira–t–on, d’un succès extérieur pour compenser l’impopularité que lui valent auprès des masses les mesures de compression budgétaire et de fiscalité accrue qu’il est contraint de prendre“. Ebd. Vgl. ebd. S. 41. Übersetzung des Zitats „qui ne peuvent qu’ajouter aux difficultés déjà si grandes de sa situation intérieure“. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 41f.

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Kriegsschuld, der „Anschluss“ an Österreich,88 die polnischen Grenzen und die Abrüstung. So seien die Reparationen ein wahres „Chagrinleder“,89 weil sie infolge der „zu Beginn formulierten astronomischen Zahlen“ dazu beigetragen hätten, „den Vertrag in Misskredit zu bringen“, und nun nicht mehr aufhörten zu „schrumpfen“.90 Er kritisierte die deutsche Reparationspolitik, denn es sei „ein Witz zu behaupten, dass der Hauptgrund für die instabile Finanzlage in Deutschland die Last der Reparationszahlungen“ sei.91 Er sah den Grund für die deutschen Zahlungsschwierigkeiten vielmehr in der typisch deutschen Verschwendungssucht, die er im Zusammenhang mit Brünings Wirtschafts- und Finanzpolitik schon mehrfach angesprochen hatte.92 Was den Kriegsschuldartikel im Versailler Vertrag anging, so glaubte Lavergne allerdings recht selbstkritisch, dass ein von dem Besiegten „erzwungenes Schuldbekenntnis“ keinerlei „moralische Tragweite“ habe und dass der Artikel 231 letztendlich ein „psychologischer Fehler“ der Franzosen gewesen sei.93 Man hätte dieses Thema vielmehr mit Stillschweigen übergehen sollen, um nicht noch mehr Unfrieden zwischen beiden Ländern zu stiften. Zur deutsch-österreichischen Zollunion dann machte Lavergne zwei interessante Bemerkungen. Zuerst stellte er fest, dass Brüning leicht über das Vorhaben einer Zollunion hätte hinausgehen und einen wirtschaftlichen, bürgerlichen und rechtmäßigen Anschluss Österreichs hätte anvisieren können, wenn er denn vorsichtigere diplomatische Mittel angewendet hätte.94 Anschließend relativierte er sogar die Gefahr, die von einer solchen Zollunion oder sogar von einem politischen Anschluss für Frankreich hätte ausgehen können: Der Anschluss verdiene „weder diese übertriebene Ehre noch diese Entrüstung“, die man ihm von der einen und der anderen Seite erweise. Den beiden beteiligten germanischen Staaten bringe er weniger Vorteile und gefährde die Alliierten deutlich weniger, als behauptet werde.95 Lavergne appellierte deswegen an seine Landsleute, ihrer eigenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Kraft zu vertrauen und sich nicht durch ein krisengeschütteltes Land verunsichern zu lassen, dessen Angriffsstärke deutlich unter jener Frankreichs liegen würde96 – sein Appell blieb allerdings in Frankreich Anfang der 1930er Jahre eine Ausnahme. Unermüdlich wiederholte er,

88 In der Regel sprachen die Franzosen vom Anschluss, wenn sie das Projekt einer deutsch– österreichischen Zollunion meinten. 89 Es handelt sich hier um eine Anspielung auf den Roman von Balzac, einem Bild, das beim Thema Reparationen häufig von den Franzosen verwendet wurde. 90 Lavergne: Esquisse des problèmes franco–allemands, S. 50. 91 Übersetzung des Zitats „une plaisanterie d’affirmer que le déséquilibre des finances allemandes a pour cause principale la charge des réparations“. Ebd. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd., S. 52. 94 Vgl. ebd., S. 57f. 95 Vgl. ebd., S. 58. 96 Vgl. ebd., S. 65.

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Brüning schade sich mit seinen „méthodes diplomatiques d’offensive brusquée“97 nur selbst und seine „legale Diktatur“ sei pazifistisch.98 Zum Schluss seiner Anmerkungen zur deutsch-österreichischen Zollunion, versetzte er der französischen Regierung auch noch einen Seitenhieb: Briands Europa-Memorandum habe mit „seinem recht mittelmäßigen und unnötig vagen Stil“ dazu beigetragen, dass die Deutschen geglaubt hätten, ihr Zollunionsprojekt entspräche den Wünschen der Franzosen.99 Was die anderen außenpolitischen Themen angehe, so rege die Frage der Abrüstung wie auch die der polnischen Grenzen und der Stadt Danzig sämtliche Deutschen auf, unabhängig ihrer politischen Orientierung. Diese Aufregung erschien ihm gerechtfertigt, vor allem was den Status Danzigs, den Grenzverlauf und den Korridor anging – den er selbst als mangelhaft bewertete.100 Da Lavergne aber mit einem gewissen Abscheu die Brüningschen Methoden zur Realisierung der deutsch-österreichischen Zollunion verfolgt hatte, pochte er auch bei diesen Themen darauf, dass jedes Zugeständnis an die Deutschen von deren Respekt und Aufrichtigkeit hinsichtlich der Verhandlungen mit Frankreich, Polen und dem Völkerbund abhinge.101 Gleichermaßen behandelte Lavergne auch die Frage der Abrüstung, die zeigt, wie sehr das ungeschickte diplomatische Vorgehen Brünings und Curtius’ sogar das Vertrauen jener Franzosen erschüttert hatte, die Deutschland mit großer Nachsicht betrachteten. Seine Hauptkritik galt zweifellos dem Reichskanzler: „Solange Deutschland nicht eindeutige Beweise für seine Friedfertigkeit geliefert hat, solange das politische System in seinem Bestehen nicht sicher und gefestigt ist und solange die politischen Führer nicht durch klare Fakten eine unbestreitbar friedliche Gesinnung beweisen, müssen wir unbedingt vorsichtig sein.“102 Frankreich verfüge zwar über weit größere militärische Mittel als Deutschland, aber eine französische Abrüstung komme letztlich nur in Frage, wenn sich Deutschland verträglicher zeige. Immer wieder wird deutlich, wie sehr Lavergne in seiner Bewertung Deutschlands hin- und hergerissen war, denn trotz seiner umfassenden Kritik glaubte er dann doch, dass eine deutsch-französische Annäherung nicht erst in ferner Zukunft möglich sei, sondern ganz unmittelbar, und zwar aufgrund der Staatsbesuche Brünings und Curtius’ in Frankreich und England: „Die große Errungenschaft der Reise der deutschen Minister nach Paris und London besteht darin, zwischen unseren beiden Ländern eine neue Atmosphäre geschaffen zu haben. Seit dem Tod des großartigen Ministers Stresemann haben immer neue, bedauerliche Spannungen die Beziehung über den Rhein hinweg belastet. Allein der geäußerte Wille 97 98 99 100 101 102

Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 66ff. Vgl. ebd., S. 71ff. Vgl. ebd. Übersetzung des Zitats „Aussi longtemps que l’Allemagne n’aura pas donné des preuves évidentes de son pacifisme, que son régime politique ne se sera pas fixé et stabilisé, que ses dirigeants n’auront pas fait preuve dans les faits d’un incontestable esprit de paix, il est nécessaire pour nous d’être méfiants“. Ebd., S. 83.

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beider Regierungen, gemeinsam und systematisch durch direkte Unterredungen alle Meinungsverschiedenheiten einvernehmlich zu lösen, ist eine gute Nachricht.“103 Lavergne lobte diese „mutige Initiative“ der deutschen Staatsmänner und bedauerte nur, dass Gesten dieser Art nicht schon vorher stattgefunden hätten. Er glaubte sogar, dass der Monat Juli im Jahr 1931 zu einem historisch bedeutsamen Datum in der europäischen Geschichte werden könne, wenn sich in Zukunft alle Hoffnungen erfüllten, die diese Begegnung in Paris mit ihren bilateralen Versprechen genährt habe. Zu diesen Hoffnungen zählte er das Ende der Aufrüstung; keinerlei außenpolitische und diplomatische Aktionen gegen die Interessen des anderen Landes, ohne sich vorher mit diesem verständigt zu haben; eine Verstärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher Ebene in Form einer finanzpolitischen und industriellen Zusammenarbeit und einer Zollbrücke; und schließlich eine politische Annäherung beider Staaten in einzelnen Etappen.104 In seiner Argumentation verwendete Lavergne immer wieder das Bild eines doppelten Deutschlands als leitenden Gedanken. Dies ermöglichte ihm, gleichzeitig sein Vertrauen in das gute Deutschland zu formulieren, aber auch seine Zweifel angesichts des „Rätsels“, das Deutschland für ihn auch bedeutete.105 Allem Widerspruch zum Trotz ordnete er Brüning auf der Seite des guten Deutschlands ein, in einer Reihe mit Beethoven, Goethe, Nietzsche, Wagner, Helmholtz und Einstein:106 „Trotz seiner zögerlichen Ausrichtung, einmal nach rechts, dann wieder nach links, gibt der Reichskanzler uns doch wertvolle Friedensgarantien.“107 Lavergne bat die Franzosen sogar, sich durch ihre Angst vor Deutschland nicht in die Irre führen zu lassen und damit den Nachbarn womöglich wieder in einen Krieg zu führen. Indirekt mahnte er, Brüning zu unterstützen: „Das Wichtigste ist, Deutschland weder zu viel noch zu wenig Vertrauen entgegenzubringen, denn allzu großes Misstrauen würde es noch viel eher zu einem Krieg verleiten als unser übermäßiges Vertrauen. […] Wir dürfen die Hoffnung auf einen gesunden, deutschen Verstand nicht aufgeben, vor allem nach dem Vorgehen der deutschen Minister in Paris.“108 Lavergne hielt es für eine Pflicht der

103 Übersetzung des Zitats „Le grand bienfait du voyage des ministres allemands à Paris et à Londres est d’avoir créé entre nos deux pays une atmosphère nouvelle. Depuis la mort du grand ministre que fut Stresemann, les rapports n’avaient pas cessé de se tendre fâcheusement par–dessus le Rhin. La simple affirmation par les deux gouvernements de leur volonté commune et méthodique de résoudre à l’amiable par des conversations directes tous différends est une heureuse nouveauté“. Ebd., S. 97. 104 Vgl. ebd., S. 98ff. 105 Vgl. ebd., S. 115ff. 106 Vgl. ebd., S. 119. 107 Übersetzung des Zitats „En dépit de son orientation hésitante, tantôt à droite tantôt à gauche, le chancelier Bruning nous donne de précieuses garanties pacifiques“. Ebd., S. 116. 108 Übersetzung des Zitats „Le tout est de ne faire à l’Allemagne ni trop ni trop peu confiance car, à être excessive, notre méfiance la conduirait à la guerre plus sûrement encore que notre confiance trop grande. […] Nous n’avons pas le droit de désespérer du bon sens allemand, surtout après la démarche des ministres allemands à Paris“. Ebd., S. 118f.

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Franzosen, die Lage der deutschen Wirtschaft über den internationalen Handel zu verbessern und auf diese Weise den politischen Extremisten in Deutschland den Nährboden zu entziehen. Als große Nation müsse Frankreich der Regierung Brüning entgegenkommen: „Da Frankreich den letzten Krieg gewonnen hat, hat es auch die Pflicht und die Ehre, gegenüber Deutschland eine versöhnliche und weitblickende Haltung an den Tag zu legen.“109 Paul Faure, Generalsekretär der SFIO und überzeugter „Guesdiste“ schließlich, behandelte in seinem Buch die Frage der Abrüstung; er folgte darin den pazifistischen Grundüberzeugungen der französischen Linken, die eine allgemeine Abrüstung forderten. So wies er darauf hin, dass man den Deutschen versprochen habe, dass ihre Abrüstung nur der Auftakt zu einer allgemeinen Abrüstung sei: „Es ist absurd und fahrlässig zu glauben, dass Deutschland es als ein modernes Land in einem kapitalistischen und überbewaffneten Europa trotz der Vertragsklauseln noch lange hinnehmen wird, als einziges Land unbewaffnet dazustehen.“110 Als Politiker ging Faure in die gleiche argumentative Richtung wie der Universitätsprofessor Lavergne, als er die drohende Gefahr eines deutschfranzösischen Krieges relativierte: „Alle, die Deutschland ein wenig genauer betrachten – auch wenn sie das Schiff in der Ostsee und die ’hitlerischen’ Wahlen bedenken, wissen, dass dieses große, verarmte Land, das zurzeit unbewaffnet ist und von hoher Arbeitslosigkeit heimgesucht wird, nicht in der Lage ist, sämtliche Lasten eines militärischen Konflikts zu tragen.“111 Faure zeigte sich, was Deutschland betraf, nicht über alle Maßen beunruhigt und fand in diesem Sinne auch in Gabriel Roger einen Mitstreiter. Roger teilte mit Lavergne die kritische Sicht auf Brünings Außenpolitik. Für ihn war der Reichskanzler ein „droitier du cœur/überzeugter Rechter“ und ein Nationalist, aber „mit einem taktvollen, in Watte gepackten, korrekten, aber tief verwurzelten Nationalismus“.112 1.3 Der Kanzler ist unwichtig, Deutschland bleibt, was es immer war Der amerikanische Journalist Knickerbocker sah überhaupt nichts Beruhigendes in der Politik und der Person Brünings. Im Gegenteil: Verunsichert durch die po-

109 Übersetzung des Zitats „[P]arce que la France a vaincu dans la dernière guerre, elle a la charge et l’honneur de devoir faire vis–à–vis de l’Allemagne preuve d’une attitude conciliatrice et clairvoyante“. Ebd., S. 120. 110 Übersetzung des Zitats „[Il est] absurde et criminel de penser que l’Allemagne, Etat moderne, dans une Europe capitaliste surarmée, acceptera, malgré toutes les clauses des traités, de rester seule désarmée longtemps encore“. Faure: Le problème du désarmement, S. 25f. 111 Übersetzung des Zitats „Tous ceux qui regardent l’Allemagne d’un peu près, même en tenant compte du bateau de la Baltique et des élections hitlériennes, savent que ce grand pays appauvri, désarmé pour le moment, et ravagé de chômage, n’est pas en état de soutenir les charges de toute nature d’un conflit militaire“. Ebd., S. 26. 112 Übersetzung des Zitats „d’un nationalisme courtois, enveloppé, correct, mais profond“. Roger: Hitler, S. 159.

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tentielle militärische und industrielle Macht Deutschlands und die zunehmend angespannten deutsch-französischen Beziehungen, die nach Meinung Knickerbockers Auseinandersetzungen oder sogar einen neuen Krieg auf dem europäischen Kontinent wahrscheinlich machten,113 konnte der amerikanische Journalist keinen Unterschied zwischen dem diplomatischen Vorgehen Brünings und einer möglichen Regierung Hitler feststellen: „Zum jetzigen Zeitpunkt zeigt sich die Republik unter Brüning gegenüber Frankreich so hart, wie auch Hitler es sein könnte“.114 Maurice Pernot machte den Franzosen ebenfalls keine Hoffnungen hinsichtlich der Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen. Er wählte als Beispiel die Reparationspolitik Brünings, der es aus seiner Sicht an Transparenz und Ehrlichkeit fehle und die sich von der Politik Hitlers nur in der Wahl der Mittel unterscheide, nicht aber in ihrer Zielsetzung: „Die Regierung selbst handelt so, dass die Fraktionen, die sie unterstützen, und jene, die ihre Widersacher bekämpfen, sie weiterhin stützen, so wie sie es braucht: Sie macht Zusagen, gibt Versprechen ab, aber sie tut das unauffällig, ohne Dinge zu tun, die bei den Gläubigern des Reichs die Alarmglocken schrillen lassen und ohne das Ansehen Deutschlands in der Welt zu schädigen.“115 Was die Abrüstungspolitik betraf, so stellte Pernot den Reichskanzler mit Mussolini auf eine Stufe: „Die Deutschen werden also Herrn Mussolini die allgemeine Abrüstung und die Revision der Verträge für sein Land fordern lassen und dasselbe auch für ihres beanspruchen, aber auf eine andere Art. Auf der einen Seite setzt man auf große Eklats, auf der anderen arbeitet man in aller Stille.“116 Ganz konkret bezeichnete er das Vorhaben einer deutschösterreichischen Zollunion als Rückkehr zu den Methoden der kaiserlichen Diplomatie und erinnerte in diesem Zusammenhang an die Krüger-Depesche von 1896, die beiden Marokkokrisen und das Ultimatum an Serbien von 1924, bevor er sein abschließendes Fazit zog: „Es ist immer dasselbe: ein brutaler Überraschungseffekt, der durch eine methodische, genaue und streng geheime Vorbereitung ermöglicht wird. Der Coup wird mit einem ausgereiften Können ausgeführt, um den Preis eines beachtlichen Aufwands; das Endergebnis ist verheerend.“117 113 Vgl. Knickerbocker: Allemagne, S. 107 + S. 213ff. 114 Übersetzung des Zitats „Pour le moment, avec Brüning, la République s’est engagée à se montrer aussi insensible envers la France que le pourrait être Hitler“. Ebd., S. 282. 115 Übersetzung des Zitats „Le gouvernement lui–même manœuvre de telle sorte que les fractions qui le soutiennent et celles qui combattent ses adversaires continuent à lui fournir le point d’appui dont il a besoin: il promet, il donne des gages, mais discrètement et sans rien faire qui puisse jeter l’alarme parmi les créanciers du Reich et compromettre la position de l’Allemagne dans le monde“. Pernot: L’Allemagne de Hitler, S. 39. 116 Übersetzung des Zitats „Les Allemands laisseront donc M. Mussolini réclamer pour son compte le désarmement général et la révision des traités, et ils les réclameront pour le leur, mais d’une façon un peu différente. D’un côté, l’on procède par grands éclats; de l’autre on travaille en silence“. Ebd., S. 44. 117 Übersetzung des Zitats „C’est toujours la même chose: un effet de surprise brutale obtenue par une préparation méthodique, minutieuse et rigoureusement secrète. Le coup est monté avec un art consommé, au prix de remarquables efforts; le résultat est désastreux “. Ebd., S. 85.

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Maurice Pernot wollte damit die politische Geisteshaltung der Regierung Brüning beleuchten, der er zutiefst misstraute, weil sie für ihn die Fortsetzung des imperialistischen, unehrlichen und unberechenbaren Deutschlands darstellte. In seiner Wahrnehmung der Außenpolitik zeigte sich Pernot letzlich noch weniger nuanciert als in seinen Urteilen über Brünings Wirtschaftspolitik oder dessen Regierungsstil. Der Wirtschaftsexperte Henry Delpech befasste sich überhaupt nicht mit Brünings Nationalismus und seiner Außenpolitik. Ihm war allerdings bewusst, dass der Reichskanzler einer solchen Vielzahl von schwerwiegenden Problemen auf innen- und außenpolitischer Ebene gegenüberstand, dass er auf keinen Fall alle dringlichen Fragen auf einmal lösen konnte118 und dass dadurch zwangsläufig auch politische Fehler entstanden. Victor de Marcé versuchte nicht einmal, eine Entschuldigung für Brünings politische Ungeschicklichkeit auf dem internationalen Parkett zu finden. Immer wieder taucht in seinem Bericht unterschwellig das Bild eines feindlichen Deutschlands auf. So schrieb der Professor der Ecole des Sciences Politiques, dass alle deutschen Regierungen seit 1927 gegen die Abrüstungsklausel des Versailler Vertrages verstoßen hätten: „Und es ist wirklich einzigartig, dass das ‚entwaffnete Deutschland‘ seit 1927 zehn Milliarden mehr für sein Heer und die Polizei ausgegeben hat als das ‚militaristische Frankreich‘.“119 Er schlug deswegen vor, man solle wieder von einem militaristischen Deutschland sprechen und von einem relativ abgerüsteten Frankreich – wobei er selbst die Einschränkung „relativ“ verwendete. Beim Thema Reparationen war er überzeugt, dass Deutschland – trotz der gegenteiligen Beteuerungen Brünings – durchaus in der Lage sei, wirtschaftlich und finanziell die Reparationsforderungen zu erfüllen.120 Nach Michel Gorels Wahrnehmung saß Heinrich Brüning bildlich gesprochen zwischen zwei Stühlen – ohne Zugeständnisse an Frankreich könne er die finanzielle Lage seines Landes nicht in den Griff bekommen, aber wenn er diese Zugeständnisse mache, liefere er sich den Attacken der politischen Extremisten aus, die ihm unterstellten, eine „profranzösische“ Politik zu verfolgen, und damit die Stabilität seiner Regierung noch weiter gefährdeten: „Herr Brüning reiste in Begleitung seines Außenministers, Herrn Curtius, nach Paris. […] Dort verhandelte er über eine Revision des Young-Plans. Man stellte ihm eine Bedingung: Die deutsche Politik solle einen ‚europäischen‘ Kurs einschlagen. Brüning sagte weder ‚Ja‘ noch ‚Nein‘ – eher ‚Ja‘, denn es ging ihm vor allem darum, die Mark zu retten. Allein das genügt in Deutschland schon, um einen neuen Angriff der extre-

118 Vgl. Delpech: Les aspects d’un fédéralisme financier, S. 163. 119 Übersetzung des Zitats „Et il est vraiment extraordinaire que „l’Allemagne désarmée“ ait dépensé depuis 1927, pour son armée de terre et sa police, dix milliards de francs de plus que „la France militariste“. Marcé: Le contrôle des finances, S. IV. 120 Vgl. ebd. S. Vff.

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men Rechten auszulösen,121 die sich für diesen Anlass wieder ausgesöhnt und verbündet hat.“122 Auch auf außenpolitischer Ebene werde Brüning von Schleicher instrumentalisiert, der nach und nach alle von der Stresemannschen Politik geprägten Politiker, wie zuletzt Curtius, aus dem Weg geräumt habe. Der Regierung Brüning habe es aber auch unter Laval an französischer Unterstützung gefehlt, was eine Orientierung nach rechts zur Folge gehabt habe: „Aber Schleicher war wachsam. Durch das Treffen in Harzburg beunruhigt, beschloss er den Führer unverzüglich zu umgarnen. Er hatte einen originellen Plan ausgearbeitet: Er wollte eine Regierung mit einer Doppelspitze Brüning-Hitler und selbst deren Anführer sein. Er drängte zunächst Brüning, Curtius, dem die Anhänger Hitlers es nicht verziehen, eine ‚Kreatur Stresemanns‘ zu sein, aus seiner Position zu entfernen. Er riet ihm, das Ausland auf den Eintritt der ‚Nazis‘ in die Regierung vorzubereiten. Brüning nahm Kontakt mit Laval auf. Laval, ein kräftig gebauter, misstrauischer Bauer aus der Auvergne, tat nichts weiter, als mit den Achseln zu zucken: nun, wenn Brüning sich selbst den letzten Stoß versetzen wolle…“.123 Gorel machte hier aus seiner scharfen Kritik an der französischen Politik kein Hehl. Der Universitätsprofessor Pierre Laurent zeigte sich in seinem Urteil über die Brüningsche Außenpolitik genauso hart wie in seiner Kritik an dessen Innenpolitik. Laurent sah im Nationalsozialismus eine „sehr lebendige Fortsetzung des Pangermanismus“124 und eine Krankheit, die so ansteckend sei, dass sie auch auf die Parteien in der politischen Mitte (SPD und Zentrum) übergegriffen habe: „Tatsächlich versuchten sich alle Parteien immer mehr gegen den Hitlerismus zu immunisieren, bis sie selbst daran erkrankten und einige rassistische Forderungen übernahmen. Die Sozialdemokraten sprachen von Eupen und Malmedy; die Regierungsparteien unter dem Zentrum brachten die Angelegenheit des Anschlusses ins Gespräch. Kanzler Brüning verkündete, dass Deutschland nach Ablauf des Hoover-Moratoriums seine Reparationszahlungen nicht wieder aufnehmen könne. 121 Unter der extremen Rechten verstand Gorel die Partei Hugenbergs, die NSDAP und den Stahlhelm, die sich 1931 in Bad Harzburg versammelt hatten. Vgl. Gorel: Hitler sans masque, S. 195. 122 Übersetzung des Zitats „Accompagné de son ministre des Affaires Etrangères, M. Curtius, M. Brüning alla à Paris. […] Il négocia une révision du plan Young. On lui posa une condition: La politique allemande devait se modifier dans un sens „européen“. Brüning ne dit ni „oui“, ni „non “ – plutôt „oui “, car il lui importait, avant tout, de sauver le mark. Cela suffit à déclencher en Allemagne un nouvel assaut de l’extrême droite,122 regroupée, réconciliée pour la circonstance“. Ebd., S. 194f. 123 Übersetzung des Zitats „Mais Schleicher veillait. Alarmé par la réunion de Harzburg, il décida d’entreprendre tout de suite la séduction du Führer. Il avait conçu un projet original: il voulait former un tandem gouvernemental Brüning–Hitler et en être le cornac. Il poussa d’abord Brüning à débarquer Curtius, à qui les hitlériens ne pardonnaient pas d’être une „créature de Stresemann“. Il lui conseilla aussi de préparer l’étranger à l’entrée des „nazis“ dans le gouvernement. Brüning prit langue avec Laval. Robuste et sceptique paysan auvergnat, Laval se contenta de hausser les épaules: après tout, s’il plaisait à Brüning de se suicider…“. Ebd., S. 195f. 124 Vgl. Laurent: Le national–socialisme, S. 17.

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Alle waren sich schließlich einig, den Polnischen Korridor zurückzufordern.“125 Trotzdem glaubte er auch wieder nicht, dass Hitler, sollte er an die Macht kommen, sich ganz von der noch von Stresemann geprägten Politik Brünings lossagen könne, selbst wenn Brüning inzwischen einige Argumente der Nationalsozialisten aufgegriffen habe: „Die Außenpolitik, die die Rassisten verfolgen wollen, scheint in jeder Hinsicht früher oder später auf eine Sackgasse oder auf einen Krieg hinauszulaufen. Sie werden ein umfangreiches politisches Erbe übernehmen müssen, denn die deutsche Diplomatie ist seit dem Krieg nicht untätig geblieben. Sie müssen dieses Erbe aufkündigen, um ihre eigene Politik verfolgen zu können. Aber werden nicht die Zwänge, auf die sie im Inneren unweigerlich stoßen werden, sie veranlassen, die Politik Brünings und somit Stresemanns weiterzuführen, deren Verschwinden sie durch ihre hartnäckigen Angriffe beschleunigten, ohne auch im Geringsten davon abzuweichen?“126 Laurent war hier vor allem durch den nachlassenden Widerstand der Deutschen gegen die alles andere als „humanitären, pazifistischen und demokratischen Gefühle“ beunruhigt,127 die sich in der politischen Mitte und insbesondere innerhalb der Regierung Brüning breitmachten. Es sei die Anarchie, so der Autor, welche die Deutschen als eine Art gewachsenen gesellschaftlichen Allgemeinzustand präge und sie deswegen so empfänglich für die nationalsozialistischen Ideen mache. Die deutsch-französische Annäherung sei vor dem Hintergrund der düsteren Seelenlage der Deutschen keine gefühlsduselige Angelegenheit, sondern vielmehr eine „unerlässliche Anstrengung“ um „Europa und die Welt“ zu befrieden:128 Dies sei das einzige vernunftgemäße Mittel, um Hitler auszubremsen.129 Der polyglotte Eleuthère-Nicolas Dzelepy, ehemaliger Student der Universität Berlin und Mitarbeiter mehrerer Zeitungen wie Les Temps Modernes und Le Soir de Bruxelles zweifelte hingegen stark an der Möglichkeit einer deutschfranzösischen Annäherung, weil er anders als Laurent überzeugt war, dass der Versuch einer Verständigung zwischen beiden Ländern die Regierung Brüning in Hinblick auf die Nationalsozialisten schwächen werde: „Man konnte feststellen, 125 Übersetzung des Zitats „Tous les partis en effet […] se vaccinant de plus en plus contre l’Hitlérisme jusqu’à en avoir la maladie, adoptaient certaines revendications racistes. Les Sociaux–Démocrates parlent d’Eupen et de Malmédy; les partis de Gouvernement avec le Zentrum, lancent l’affaire de l’Anschluss. Le chancelier Brüning proclame qu’à l’expiration du moratoire Hoover, l’Allemagne ne pourra pas reprendre ses paiements. Tout le monde enfin est d’accord pour revendiquer le couloir polonais“. Ebd., S. 177. 126 Übersetzung des Zitats „La politique extérieure que veulent suivre les Racistes semble donc de tous côtés aboutir tôt ou tard à des impasses et à la guerre. Ils hériteront d’une succession chargée, car la diplomatie allemande n’est pas restée inactive depuis la guerre. Ils devront la liquider avant de faire leur politique, mais les difficultés qu’ils ne manqueront pas de rencontrer à l’intérieur ne leur commanderont–elles pas de poursuivre sans s’en écarter un seul instant la politique du chancelier Brüning et à travers celui–ci celle de Stresemann dont, par leurs attaques virulentes, ils ont hâté la disparition ?“. Vgl. ebd., S. 190. 127 Vgl. ebd., S. 224. 128 Vgl. ebd., S. 245. 129 Vgl. ebd.

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dass die Attacken gegen das Kabinett Brüning sich eben in dem Moment verschärften, als Kanzler Brüning zu einem konkreten Ergebnis gekommen zu sein schien, das eine Annäherung an Frankreich bedeutete.“130 All das werde die deutsche Regierung nicht anregen, weiter auf Frankreich zuzugehen, zumal jede deutsche Außenpolitik wirtschafts- und finanzpolitische Interessen verfolge, was Dzelepy zu dem Urteil führt, dass es keine „spezifisch ‚Hitlerische’ Politik“ gebe, die „nur gegen Frankreich gerichtet sei“131, und dass „Stresemann ein idealer Außenminister in einer ’Hitlerischen’ Regierung hätte sein können“.132 Dzelepy unterschätzte die Gefahr des Nationalsozialismus, wie seine Analogie zwischen Hitler und Stresemann zeigt, was ihn letztlich auch zu einem Fehlurteil über die Rolle Brünings in der internationale Politik verleitete. Aufgrund der Interessen der deutschen Industrie und der angelsächsischen Gläubiger Deutschlands hielt Dzelepy einen bewaffneten Konflikt für unwahrscheinlich. Ein für Deutschland weitaus lohnenderer Krieg werde schließlich schon auf dem Schlachtfeld der internationalen Konferenzen ausgetragen.133 Der Elsässer Eugène Florent-Matter, Publizist, Literat, Gründungsdirektor der in Paris ansässigen Zeitung L’Alsacien Lorrain und ehemaliger Weggefährte des Nationalisten und Revanchisten Maurice Barrès, beschrieb die ganze deutsche Politik seit dem Tod Stresemanns als Rückwärtsgang für die deutsch-französische Annäherung.134 Um diese Ansicht zu belegen, die auch in Kreisen der französischen Linken und der französischen politischen Mitte weit verbreitet war, zählte Florent-Matter mehrere Beispiele auf: Der Mangel an Dankbarkeit der deutschen Regierung für die vorgezogene Rheinlandräumung; die wiederholten Versuche, das Saarland zurückzugewinnen;135 die Attacken der Regierung Brüning gegen die vom Versailler Vertrag festgeschriebenen Reparationen und die Abrüstung;

130 Übersetzung des Zitats „On pouvait constater que ces attaques contre le cabinet Brüning redoublaient de violence précisément au moment où le chancelier semblait arriver à un résultat concret dans le sens d’un rapprochement avec la France“. Dzelepy: Hitler contre la France, S. 58. 131 Vgl. ebd., S. 60. 132 Vgl. ebd. 133 So schrieb Dzelepy: „Hitler sait, aussi bien que les dirigeants du Reich, républicains ou réactionnaires, que, dans l’état actuel des choses, la seule guerre possible et profitable est celle menée par les forces économiques et financières mondiales sur le champ de bataille des conférences internationales“. Ebd., S. 60. 134 So hieß es bei Florent–Matter: „l’oeuvre du rapprochement franco–allemand a fait depuis Stresemann un large pas en arrière“, malgré les voyages des hommes d’Etat et les pourparlers entre la France et l’Allemagne“. l’oeuvre du rapprochement franco–allemand a fait depuis Stresemann un large pas en arrière“, malgré les voyages des hommes d’Etat et les pourparlers entre la France et l’Allemagne. Vgl. Florent–Matter: De Bismarck à Stresemann, S. 215. 135 Souhaitons que notre geste soit compris par le Gouvernement et la population du Reich, nous sommes bien obligés de constater que le Gouvernement du Reich, s’il a tenu à lui rappeler que figurait encore au premier plan de ses préoccupations la libération de la Sarre, n’a rien fait jusqu’ici pour montrer aux populations allemandes la valeur de notre geste, bien au contraire.“ Ebd., S. 212.

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die geheime Vorbereitung einer deutsch-österreichischen Zollunion, die darauf abzielte, langfristig einen politischen Anschluss zu ermöglichen.136 Seine Einschätzung der deutschen Lage stimmte auch mit der des Linken Bernard Lavergne überein, als er schrieb, die deutschen Staatsmänner seien Spezialisten für psychologische Fehler – eine These, bei der er sich auf Artikel aus der Europe Nouvelle bezog.137 Er bestätigte sogar die Behauptung des Blattes, dass der größte psychologische Fehler in der Geschichte der Weimarer Republik Brünings Idee einer deutsch-österreichischen Zollunion gewesen sei.138 All diese Punkte schienen aus seiner Sicht zu belegen, dass Deutschland, anders als Frankreich, nicht reif für eine deutsch-französische Annäherung sei, weil „die Seele Deutschlands“ so geblieben sei, „wie sie gestern war“.139 Nichts an diesem „ewigen Deutschland“ konnte Florent-Matter überraschen, weder der deutsche Traum von einem Mitteleuropa in der Regierung Brüning noch die angewendeten diplomatischen Mittel (die er wie auch Maurice Pernot als imperialistisch bezeichnete) oder dieser „marche à pas de géant et à rythme accéléré, vers la conquête de ses derniers buts“140 und die geplante Wiedereinnahme „de sa place dans le monde“.141 Zu Brüning hatte er im Grunde keinerlei Vertrauen. Vielleicht ist diese negative und desillusionierte Sicht auf Deutschland besser zu verstehen, wenn man die Hoffnungen der französischen Regierung wegen des vorgezogenen Truppenabzugs aus dem Rheinland berücksichtigt, den Paul Tirard als „un acte de foi dans la politique de paix, un acte de confiance en la loyauté de l’Allemagne“ beschrieben hatte.142 Als Tirard seinen Bericht über die französische Besatzung in Deutschland veröffentlichte, hatte er trotz seiner Zweifel angesichts des „double visage de l’Allemagne alternativement tourné vers les partis de droite et de gauche, vers la paix ou vers la guerre“143 nicht gezögert, die „spontanen Sympathiebekundungen, wie Einladungen zum Abendessen, Abschiedsbesuche etc“ der Rheinländer zu erwähnen, auch die maßvollen Reden deutscher Politiker, wie zum Beispiel des Zentrumsmitglieds Prälat Kaas nicht unterschlagen. Auf ihnen ruhten die französischen Hoffnungen. Tirard hatte die französische Besetzung des Rheinlands als Garantie für den Frieden und für die Konsolidierung der neuen Staatsform in Deutschland gesehen, aber ihn beschlich nun trotz der freundschaftlichen deutsch-französischen Begegnungen anlässlich der Rheinlandräumung ein ungutes Gefühl: „Es steht zu hoffen, dass die Geste Frankreichs in seinem ganzen Ausmaß verstanden wird und dass Deutschland sich nicht abermals einer unzulässigen Feilscherei hingibt, die

136 137 138 139 140 141 142 143

Vgl. ebd., S. 213ff. Vgl. ebd., S. 214. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 213. Ebd., S. 217. Ebd., S. 218. Tirard: La France sur le Rhin, S. 448. Ebd., S. 446.

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der Friedenswahrung in Europa widerstrebt, vor allem was die endgültigen Klauseln des Friedensvertrags betrifft.“144 Louis Rothschild, ein Clemencist, der Tardieu nahe stand und der Öffentlichkeit unter dem Pseudonym Georges Mandel bekannt war, verglich 1933 in der Chambre des Députés die deutsche Außenpolitik vor 1933 mit den neuen Stil der Regierung Hitlers. Genauso wie die Publizisten Eugène Florent-Matter und Eleuthère-Nicolas Dzelepy unterstellte er den Politikern Stresemann, Curtius und Brüning die gleichen außenpolitischen Ziele wie Hitler, nämlich den Versailler Vertrag auszuhöhlen. Immerhin glaubte er einen Unterschied in der Wahl der Mittel erkennen zu können: Die Ersteren hätten ihre Ziele auf pazifistischen Wegen verfolgt und heimlich aufgerüstet, während Hitler offen kriegsbegeistert kein Hehl aus seinen Zielen mache.145 Im Rückblick warf Rothschild der französischen Regierung vor, Anfang der 1930er Jahre gegenüber den Deutschen nicht energisch genug aufgetreten zu sein: „Es war ein Fehler, ein schwerwiegender Fehler, dessen Folgen wir noch immer bezahlen, dass wir das Übereinkommen der Abrüstungskonferenz im Prinzip akzeptiert haben.“146 Je weiter man nach rechts schaut, desto weniger bemühten sich die französischen Autoren um eine ausgewogene Analyse der politischen Szene in Deutschland. Charles Maurras bediente sich dabei am intensivsten aus dem Repertoire französischer Deutschlandbilder. Er versuchte nicht einmal, irgendeine Unterscheidung zwischen den deutschen Politikern vorzunehmen. Das deutsche Volk war für ihn nur eine uniforme Masse, „das ewige Deutschland“, aus dem nur wenige Figuren wie Friedrich der Große, Goethe, Heine, Schopenhauer und Nietzsche herausragten, weil sie „einmütig“ waren in „ihrer Verachtung und Geringschätzung Deutschlands“.147 Es mag verwundern, dass auch Friedrich der Große in dieser Liste der Ausnahmedeutschen auftaucht, denn er wurde im Allgemeinen als Vertreter des deutschen „Militarismus“ betrachtet. Die Zuordnung zum guten oder schlechten Deutschland erfolgte eben nicht nach einheitlichen und logischen Kriterien. Maurras nannte mit jener beliebten Verachtung alle Deutschen „Germanen“, die aus einem Land stammten, dessen Geschichte nichts anderes sei als „eine lange Anarchie, eine unabgeschlossene Anarchie“, die auch „endlos“ bleiben sollte, wie er hoffte.148 Die Vorstellung, Deutschland sei ein Land, in dem die Anarchie regiere, war in Frankreich in die-

144 Übersetzung des Zitats „Il faut espérer que le geste de la France sera compris dans toute son ampleur et que l’Allemagne ne se livrera pas à de nouveaux et inadmissibles marchandages contraires au maintien de la paix européenne, particulièrement en ce qui concerne les clauses définitives du traité de paix“. Ebd., S. 447. 145 Mandel: Le bilan d’une politique, S. 7f. 146 Übersetzung des Zitats „[C]e fut une faute, une lourde faute et dont nous n’avons pas fini de payer les conséquences, que d’avoir accepté en principe la réunion de la conférence du désarmement“. Ebd., S. 12. 147 Maurras: Devant l’Allemagne éternelle, S. 15. 148 Vgl. ebd., S. 48.

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sen Jahren vor allem unter den Rechten und extremen Rechten weit verbreitet.149 Aus einem solchen Land könne nichts Gutes für die internationale Politik kommen, meinte Maurras, der sogar so weit ging, den deutschen Einfluss auf die französische Kultur zu leugnen, den Renan einige Jahrzehnte zuvor noch gefeiert hatte. Der „Germanisme“ sei „ganz roh […] etwas nicht zu Tolerierendes für einen höheren Geschmack“, hieß es bei Maurras weiter, der unter dem überlegenen Geschmack natürlich den seiner eigenen politischen Kreise verstand. Auch wenn das Buch aus dem für diese Studie gesteckten zeitlichen Rahmen herausfällt, veranschaulicht es doch sehr gut den ideologischen Hintergrund der extrem rechts stehenden Abgeordneten und der Zeitung Action Française, in der Brüning im Detail beschrieben wurde. Es fällt auf, dass trotz der Ähnlichkeiten zwischen den Beschreibungen Deutschlands und der Regierung Brüning die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, nicht die gleichen waren. Ein repräsentatives Beispiel dafür sind die gesammelten Reiseeindrücke von Jacques-Richard Grein. Er zeichnete zwar die deutsche Geschichte in ihren großen Linien wie der germanophile Mitarbeiter der Revue d’Allemagne, Edmond Vermeil,150 nach, versuchte aber, damit den deutschen Hang zu Agressivität und Kollektivismus zu belegen.151 Die argumenative Technik, um seine Leser zu überzeugen, war genau durchdacht. Er legte nämlich all seinen deutschen Gesprächspartnern, deren Identität er nicht preisgab, die ganze Kritik an Deutschland in den Mund, um diese dann als angeblich neutraler Beobachter zu bestätigen. So kam er dann auch zu dem Schluss, dass die Regelungen im Versailler Vertrag nicht streng genug gewesen seien und dass die deutsch-französische Annäherung kein Resultat erbracht habe.152 Sein letzter Satz, den er in Wien, seiner letzten Reisestation, verfasste, hat in dieser Hinsicht symbolischen Charakter: „Mir kam der Gedanke, dass Schiller, wenn er noch lebte, seine Ideen eher im Wiener als im Berliner Umfeld ansiedeln würde.“153 Hinsichtlich der Brüningschen Außenpolitik schwanke die französische Meinung zwischen dem Eindruck, dass Deutschland wirklich geschwächt sei und der Überzeugung, dass die deutsche Regierung seit dem Tod Stresemanns eine nationalistische und bornierte Haltung eingenommen habe, schrieb Clauss, der Generalsekretär des Comité des Etudes Franco-Allemandes in seinem Bericht vom

149 Es ist interessant anzumerken, dass die französischen Linken, wenn die das Bild der deutschen Anarchie benutzten, auf ein Ende dieser Anarchie hofften, während vor allem die extremen Rechten diese Anarchie mit großer Genugtuung betrachteten. 150 Vgl. hierzu Le Rider: La Revue d’Allemagne: les germanistes français, témoins et interprètes de la crise de la République de Weimar et du nazisme. In: Bock: Entre Locarno et Vichy. Bd. I, S. 363ff. 151 Vgl. Grein: Ordre et désordre, S. 117ff. 152 Vgl. ebd., S. 173 + S. 180. 153 Übersetzung des Zitats „J’eus l’idée que Schiller, s’il vivait encore […] eût mieux situé ses idées dans le cadre viennois que dans celui de Berlin“. Ebd., S. 182.

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Frühjahr 1932.154 Das Bild Frankreichs und Deutschlands als auf einander angewiesene Partner im Unglück sei dominant und mache eine Annäherung zwischen beiden Ländern zu einer Sache, die die Anstrengung wert sei – weniger aufgrund einer gefühlsgeleiteten Verständigung im Sinne des Geists von Locarno, der schon begraben schien, sondern vielmehr als Folge ganz konkreter und nüchterner politischer Überlegungen. Um dies zu beweisen, führte Clauss unter anderem die in der französischen Regierung weit verbreitete Idee einer deutsch-französischen Kolonialisierung Afrikas auf.155 Es fällt übrigens auf, wie genau Clauss die verschiedenen Nuancen der damaligen (aktuellen) französischen öffentlichen Meinung schon damals zu erfassen wusste. 2. Brüning in der Vorstellungswelt der Presse Bei dem Thema deutsche Außenpolitik verwendeten die französischen Journalisten regelmäßig verschiedene Deutschlandbilder. Noch deutlicher als in den Artikeln über die deutsche Wirtschaft oder die deutsche Demokratie dienten die Bilder eines doppelten Deutschlands oder eines einheitlich bösen Deutschlands (das in der Presse der extremen Rechten in dem Wort „boche“ seinen Ausdruck fand) als argumentative Folie, auf der die Artikel aufgebaut waren. Eine ausgewogene Berichterstattung mit abgestuften Urteilen hatte bei der Behandlung außenpolitischer Themen Seltenheitswert. Das Thema Reparationen und die Angst vor einer deutschen Wiederbewaffnung vermischten sich mit dem historisch gewachsenen Bild des „deutschen Rätsels“ und bildeten zusammen mit den durch die ungeschickte Politik Brünings verursachten negativen Eindrücken und den französischen politischen Ideologien eine Vorstellungswelt, die nicht dazu beitrug, einen klaren Kurs für die französische Deutschlandpolitik zu finden. 2.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931) 2.1.1 Brünings Nationalismus: Eine Unbekannte a) Von der linken Mitte zur extremen Linken „Aber was soll das denn? Was ist hier so neu unter der Sonne des gequälten Europas?“, wetterte die linke satirische Wochenzeitung Le Cri du Jour im Herbst 1930 gegen die Aufregung über die politischen Ereignisse in Deutschland bei den fran154 Vgl. Deutsch–Französisches Studienkomitee. Bericht des deutschen Generalsekretärs über persönliche Eindrücke in Paris. Gezeichnet Clauss. 06/04/1931, S. 1–10 (9). In: CADN: Fonds de l’Ambassade de France à Berlin. Serie B. Karton 463: Echanges culturels. 155 Vgl. ebd.

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zösischen Rechten.156 Und sie stellte die provokante Frage: „Haben Sie ein lächelndes, weich gestimmtes Europa erwartet, das rosarot gekleidet ist und Samtschuhe trägt?“157 Die Amtsübernahme Heinrich Brünings verunsicherte die politisch links orientierten Journalisten nicht übermäßig. L’Ere Nouvelle fand zwar die Auswahl der Minister für das neue Kabinett „bedauerlich“158 und stellte Fragen zur Zukunft der Stresemann’schen Politik: „Wir halten es für sehr richtig, dass man den Freunden von Herrn Hugenberg kein Vertrauen schenkt, wenn man das Werk von Herrn Stresemann weiterführen möchte.“ Alles in allem vertraute man aber der neuen Regierung: „Es ist wahr, dass ein Nationalist als Staatsmann nicht immer ein nationalistischer Staatsmann ist.“159 In der Lumière diskutierte und relativierte man die Angst der Franzosen, dass der Sturz der Regierung Müller zu einer reaktionären Politik in Deutschland führen könne, weil es dann den Versailler Vertrag nicht mehr erfüllen werde: „Man hat das Recht zu sagen, dass der Regierungswechsel in Berlin ganz und gar nicht bedeutet, dass Deutschland ‚die Maske fallen ließ‘ und jetzt den Young-Plan sabotieren will.“160 Das geheimniskrämerische Deutschland mit den bekannten zwei Gesichtern tauchte hier wieder zwischen den Zeilen auf. Allerdings überwog bei den Sozialisten die gute Seite Deutschlands deutlich. Zur deutschen Reaktion auf das Europa-Memorandum Briands schrieb die Ere Nouvelle, die europäischen Staaten befänden sich nicht im Zustand ruhigen Gleichgewichts, sondern dass sie unter einer „Bürde aus Spannungen und Divergenzen leben“.161 Allerdings stellten die Radicaux-Socialistes nicht den guten Willen Brünings in Frage, „an einer Lösung des Problems mitzuwirken“,162 selbst wenn Deutschland jede Entscheidung von der „application des principes de l’égalité intégrale des droits de la sécurité égale“ abhängig mache.163 Für den radikal-sozialistischen Abgeordneten Edouard Herriot war der Fall klar: Er sah den „Schlüssel zur europäischen Sache“ in einem „deutsch-französischen Einvernehmen“. Käme dieses Einvernehmen zustande, gebe es „nichts zu befürchten“ ; kä-

156 Übersetzung des Zitats „Mais quoi donc ? Qu’y a–t–il de si nouveau sous le soleil de l’Europe tourmentée ?“ Le Cri du Jour vom 11/10/1930. Grande information, S. 4–5. 157 Übersetzung des Zitats „Vous attendiez–vous à une Europe souriante, attendrie, habillée de rose et chaussée de velours ?“. Ebd. 158 L’Ere Nouvelle vom 31/03/1930. Cudenet, Gabriel: Le cabinet Brüning, S. 1. 159 Übersetzung der Zitate „[N]ous concevons fort bien qu’on ne fasse pas confiance aux amis de M. Hugenberg pour continuer l’œuvre de M. Stresemann“ u nd „Il est vrai qu’un nationaliste homme d’Etat n’est pas toujours un homme d’Etat nationaliste“. Ebd. 160 Übersetzung des Zitats „[O]n a le droit de dire que le changement gouvernemental survenu à Berlin ne signifie nullement que l’Allemagne ‘‘a laissé tomber le masque’’ et s’apprête à saboter le Plan Young“. La Lumière vom 12/04/1930. Grumbach, Salomon: Le nouveau cabinet allemand a beau compter des éléments réactionnaires, il exécutera le plan Young, S. 6. 161 L’Ere Nouvelle vom 16/07/1930. L’Allemagne a répondu au mémorandum Briand sur la Fédération Européenne, S. 1. 162 Vgl. ebd. 163 Ebd.

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me diese Übereinkunft nicht zustande, gäbe es „nichts zu hoffen“.164 Die französischen Sozialisten beurteilten in der Regel den außenpolitischen Stil Brünings positiv, zumal sie darin trotz aller Reibungen die Fortsetzung der Politik Stresemanns zu erkennen glaubten.165 Sie kritisierten sogar die Deutschlandpolitik der eigenen französischen Regierung, und das häufig und heftig.166 „Je mehr Schwierigkeiten sich ansammeln [...] desto notwendiger ist es, das Ziel „Frieden“ im Auge zu behalten“,167 forderte die Lumière. Aus diesem Grund wurde in allen linken Zeitungen auch die Entscheidung bedauert, André François-Poncet als Repräsentanten der klassischen französischen Machtpolitik als neuen französischen Botschafter nach Berlin zu schicken. Sie befürchteten eine Stärkung der deutschen Nationalisten, was wiederum eine härtere französische Deutschlandpolitik zu Folge haben könnte. Dank der „glücklichen Politik“ Frankreichs „werden Hitler und seine Anhänger die deutschen Sozialdemokraten endgültig aus der Regierung verdrängen und Herr André François-Poncet wird Herrn Hugenberg gegenüberstehen, der doch letztendlich ein Freund ist“,168 spottete der Canard Enchaîné. Vu erlaubte sogar Friedrich Sieburg, seine provokanten soziologischen Thesen zur französischen Sicht auf Deutschland in ihrer Zeitung zu veröffentlichen.169 Zwei Punkte brachten allerdings auch ein paar Misstöne in diese auf den ersten Blick ungetrübte Sicht auf die deutsch-französischen Beziehungen: der vorgezogene Truppenabzug aus dem Rheinland und das mögliche Ergebnis der nächsten Reichstagswahlen. Was das Rheinland betraf, so kritisierten die Linken die Verzögerungstaktik der französischen Politiker auf der einen und die mangelnde Dankbarkeit der Deutschen auf der anderen Seite. „Skandalös. Man wagt es, uns 164 Vgl. L’Ere Nouvelle vom 05/02/1931. Herriot, Edouard: Sur l’entente franco–allemande, S. 1. 165 Adolf Kimmel weist auf einen Artikel im Populaire vom 23. November 1930 hin, in dem Brüning als Fortsetzer Stresemanns beschrieben wird. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 59. 166 Genau wie bei dem Thema des wirtschaftlichen und sozialen Elends in Deutschland, wurde auch bei der vorzeitigen Rheinlandräumung immer wieder unter den Linken das Gefühl französischer Mitverantwortung thematisiert. 167 La Lumière vom 20/09/1930. Il serait dangereux de répondre au succès des hitlériens par un retour à la politique nationaliste, S. 1. 168 Übersetzung des Zitats „les hitlériens vont chasser définitivement du pouvoir les socialistes allemands, et M. André François–Poncet va trouver en face de lui M. Hugenberg, qui est après tout un copain“. Le Canard Enchaîné vom 19/08/1931. Benard, Pierre: M. François– André Poncet est nommé ambassadeur de France et du Comité des Forges à Berlin, S. 3. 169 Vu, Dezember 1930. Sieburg, Friedrich: Témoignages de notre temps, S. 1282–1283. Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch Dieu est–il français ? in dem Sieburg, den Franzosen Komplimente machend, die Idee einer deutschen Überlegenheit entwickelt und von der Notwendigkeit eines deutsch–französischen Zusammenschlusses spricht. „Que ne pouvons–nous crier à la France: sauve ton image dans notre cœur ?“, schreibt Sieburg. Siehe Ebd.: Dieu est– il français ?, S. 279. Es handelt sich hier um ein Motiv, dass man auch in dem Buch Le silence de la mer (1942) von Vercors [Jean Bruller] wiederfindet, der die Deutschen durchschaut zu haben glaubte und seine Landsleute vor den Nationalsozialisten und ihrem Ziel warnte, die französische Kultur langfristif auszuhöhlen.

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von einer Verzögerung bei der Räumung des Rheinlands zu berichten“,170 kritisierte die Lumière. „Das Rheinland am Boden zerstört“, titelte der Canard Enchaîné mit beißender Ironie und erklärte, dass Raymond Poincaré „Recht hatte, unsere siegreichen Armeen ins Ruhrgebiet einmarschieren zu lassen“.171 Der Abgeordnete Grumbach bedauerte, dass die Rheinlandräumung „nicht vermochte, bei der deutschen Bevölkerung die Gefühle hervorzurufen, die für eine deutschfranzösische Zusammenarbeit wünschenswert gewesen wären!“172 So forderten die Radicaux und die Modérés mehr Härte in der Durchsetzung der nationalen Interessen, trotz des parteiübergreifenden Konsens, eine realistischere und versöhnlichere Politik gegenüber dem ehemaligen Feind zu betreiben, während die Sozialisten auf mehr Großzügigkeit für einen dauerhaften Friedensprozess setzten.173 Albert Milhaud stellte im Juli 1930 in der Ere Nouvelle die Frage, ob die nächsten Wahlen die Politik Mussolinis in Europa begünstigen würden.174 Interessant ist hier, dass Milhaud zwar von den italienischen Faschisten sprach, aber die deutschen Nationalsozialisten meinte. Die Gleichsetzung beider politischer Bewegungen belegt auch hier, wie wenig die französischen Journalisten und die anderen Repräsentanten der französischen Gesellschaft die eigentliche Ideologie und Gefahr des Nationalsozialismus durchschauten.175 So wie der italienische Faschismus für die Linken gleichbedeutend mit einer Kriegsdrohung war, verursachte „le problème posé par la dissolution du Reichstag – das Problem der Reichstagsauflösung“ bei Milhaud die Angst vor einer allgemeinen „fascisation − Faschisierung“ und stellte somit „avant tout un problème international – vor allem ein internationales Problem“ dar.176 „Werden die nächsten Wahlen Deutschland und Italien näher zusammenrücken lassen oder werden sie die Politik Stresemanns

170 Übersetzung des Zitats. „Un scandale. On ose nous parler d’un retard dans l’évacuation de la Rhénanie“. La Lumière vom 17/05/1930. Boris, Georges: On ose nous parler d’un retard dans l’évacuation de la Rhénanie, S. 1–2. 171 Übersetzung der Zitate „La Rhénanie dans la désolation“ und „eut raison d’entrer et de faire entrer dans la Ruhr nos armées victorieuses“. Le Canard Enchaîné vom 02/07/1930. La Rhénanie dans la désolation, S. 3. 172 Übersetzung des Zitats „a éveillé au sein des masses allemandes les sentiments qui, pour la collaboration germano–française, eussent été désirables !“. La Lumière vom 19/07/1930. Grumbach, Salomon: Après l’évacuation de la Rhénanie, S. 6. 173 Vgl. Berstein: La France des années 30, S. 155. 174 L’Ere Nouvelle vom 23/07/1930. Milhaud, Albert: Libre opinion. La parole à l’Allemagne, S. 1. 175 Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 33 ff. Auch was die politischen Ziele Hitlers betraf, fehlte es den französischen Linken an Durchblick. Ihrer Meinung nach wollte „la canaille hitlérienne“ in Deutschland „ établir le fascisme ou restaurer la monarchie“. La Lumière vom 20/09/1930. Il serait dangereux de répondre au succès des hitlériens par un retour à la politique nationaliste, S. 1. 176 L’Ere Nouvelle vom 23/07/1930. Milhaud, Albert: Libre opinion. La parole à l’Allemagne, S. 1.

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und die Verständigung mit dem Quai d’Orsay erhalten?“177 – so lautete die zentrale Frage und große Sorge der Sozialisten in Frankreich ab Sommer 1930. Immer wieder tauchte sie in verschiedenen Formulierungen auf, so zum Beispiel auch am 16. September 1930 auf der Titelseite der Ere Nouvelle: „Ist der Sieg der Extremisten eine Bedrohung für den Frieden?“178 Insgesamt blieb der Ton der französischen Linken gegenüber Heinrich Brüning wohlwollend, obwohl seine internationale Politik auch bei den Linken immer wieder Misstrauen erregte. Viele seiner politischen Fehler und Ungeschicklichkeiten wurden von den Linken nicht einmal erwähnt. Die Kommunisten hielten sich – wenn auch aus anderen Gründen – mit solchen Details nicht auf. Das Wohlwollen der einen und die Gleichgültigkeit der anderen fand jedoch ein jähes Ende mit dem größten politischen Fehltritt Heinrich Brünings – der Vorbereitung einer deutsch-österreichischen Zollunion. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten In der rechten Mitte der französischen Presselandschaft schrieb man zunächst über Brüning, er habe der deutschen Außenpolitik eine „neue Formel“ der „Aktivität“ verliehen.179 Diese „Aktivität“ bestehe darin, „mehr zu tun“ und „es besser zu machen“ als der verstorbene Stresemann und so „mit einem Maximum möglicher Forderungen“ wieder einen ersten Platz unter den Nationen zu erlangen.180 Das Vorhaben, „ohne einleuchtende Notwendigkeit“ einen zweiten Panzerkreuzer zu bauen, offenbare einen wichtigen „psychologischen Faktor“ dieser neuen politischen „Aktivität“: „Die neuen Regierenden in Deutschland ertragen den Gedanken an materielle Opfer eher als die Befürchtung, ihr Land könnte in der Welt auf Dauer eine unterlegene Position behalten.“181 Der Petit Parisien beschrieb Brüning als einen Politiker, der mit seinem „Busenfreund“ Gottfried Treviranus die Sympathie für den „reaktionären Verein“ des Stahlhelms teile,182 fand aber gleichzeitig Worte, um die Ängste der französischen Rechten vor einer vorzeiti-

177 Übersetzung des Zitats „Les prochaines élections allemandes rapprocheront–elles l’Allemagne de l’Italie [...] ou bien maintiendront–elles la politique de Stresemann et l’entente avec le Quai d’Orsay ?“. Ebd. 178 Übersetzung des Zitats „La victoire des extrémistes est–elle une menace pour la paix ?“. L’Ere Nouvelle vom 16/09/1930. Le résultat des élections allemandes. La victoire des extrémistes est–elle une menace pour la paix ? S. 1. 179 Le Petit Parisien vom 21/04/1930. Loutre, Camille: La situation politique en Allemagne, S. 1. 180 Vgl. ebd. 181 Übersetzung des Zitats „Les hommes nouveaux qui vont gouverner l’Allemagne acceptent mieux l’idée de sacrifices matériels que l’hypothèse d’une infériorité durable de la position de leur pays dans le monde“. Ebd. 182 Le Petit Parisien vom 25/04/1930. Dernière Heure [Rubrique]: M. Brüning sympathise avec les Casques d’Acier, S. 3; Le Petit Parisien vom 28/06/1930. Dernière Heure, Loutre, Camille: L’horizon politique s’éclaircit à Berlin, S. 3.

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gen Rheinlandräumung zu beschwichtigen.183 Zu diesem Thema veröffentlichte Maurice Prax am 3. Juli 1930 seine persönlichen Erlebnisse: „Man hatte mir gesagt: Mischen Sie sich nicht unter die Menschenmenge… Sprechen Sie vor allem nicht Französisch!… […] Ich habe die ganze Nacht hindurch mit zwei zuvorkommenden Begleitern und einer Kollegin, die überhaupt keine Angst hatte, auf Französisch gesprochen… Wir sind aufgefallen… Man hat uns erkannt… Man hat uns überrascht angestarrt: Ach!… Franzosen!… Und man hat uns in Ruhe gelassen. Und niemand hat uns gegenüber verletzende Worte geäußert…“.184 Im Prinzip stellte der Petit Parisien Brüning in die Tradition Stresemanns, machte aber darauf aufmerksam, dass der durch die innerdeutschen Probleme verursachte Druck auf die Regierung deutlich höher sei als in den Zeiten Stresemanns, was dazu führen könne, dass aus dieser neuen deutschen „Aktivität“ eine Hauptbeschäftigung der deutschen Regierung werde.185 Le Temps sah schon im April 1930 einen erheblichen Unterschied zwischen Stresemann und Brüning, den er als eine größere Gefahr für Frankreich einschätzte, ohne ihn freilich wie die extremen Rechten auf eine Stufe mit Hitler zu stellen. Während der gesamten Regierungszeit Brünings gelang es den Journalisten des Temps aber nicht, den Nationalsozialismus richtig einzuordnen, was immer wieder zu Fehlurteilen über die politischen Ziele Brünings führte.186 Trotz seiner guten Recherchen und der hohen Professionalität seiner Korrespondenten unterschied sich der Temps hier nicht von den anderen französischen Zeitungen. Im Gegensatz zum Temps ordnete La Croix Brüning trotz ihrer nationalen Ausrichtung den gemäßigten deutschen Politikern zu und zeigte sich angesichts der außenpolitischen deutschen Forderungen nicht weiter beunruhigt, weil man bei La Croix davon überzeugt war, dass der „Schiffskapitän“ Brüning zumindest in seinen Reden versuchen werde, von den „Revisionisten“ Abstand zu nehmen.187 Die mangelnde Dankbarkeit der Deutschen für den vorgezogenen Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland erschütterte die wohlwollende Haltung der Journalisten von La Croix, führte aber nicht zu der gleichen Hysterie wie bei der Action Française oder beim Echo de Paris. Alles in allem behielt La Croix ihren ruhigen Ton bei. Die Zeitung verurteilte die Freude der Deutschen nach der

183 Le Petit Parisien vom 26/06/1930. Le Dr Curtius définit au Reichstag la politique extérieure de l’Allemagne, S. 1. 184 Übersetzung des Zitats „On m’avait dit: – Ne vous aventurez pas dans la foule… Ne parlez pas français surtout !... […] Toute la nuit j’ai parlé français en devisant avec deux charmants compagnons et une consoeur qui n’avait pas peur du tout… On nous a remarqués… On nous a reconnus… On nous a dévisagés avec quelque surprise: Ach !...Franzosen !... Et on nous a laissés bien tranquilles. Et personne n’a prononcé devant nous un mot blessant…“. Le Petit Parisien vom 03/07/1930. Prax, Maurice: Après l’évacuation, S. 1. 185 Le Petit Parisien vom 21/08/1930. Loutre, Camille: Le renouvellement du Reichstag, S. 1. 186 Vgl. Le Temps vom 02/08/1930, vom 08/11/1930, vom 07/01/1931, vom 12/01/1931 und vom 13/01/1931. 187 La Croix vom 10/02/1931. Darcy, Jean: Lettre d’Allemagne, S. 3.

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Rheinlandräumung als „trop bruyante – zu laut“188 und kritisierte das von den linken propagierte Ideal einer Verbrüderung der Völker. Anstatt eine Politik der Stärke zu verfolgen, sei man in die gleiche Falle wie zu Zeiten Napoleons (1793) getappt, denn schon zu dieser Zeit „war es ein Irrtum, davon auszugehen, dass ‚dieses Volk uns zugetan‘ sei, und die Freundschaft bis zur Heirat treiben zu wollen. Dieser Fehler hat uns mehr gekostet als nur eine einfache Zurückweisung, ein Winken mit dem Fächer, einen Rückzug: Er hat uns zugleich mit der Freundschaft eines Volkes auch um dessen Vertrauen gebracht. Ist das nicht im Leben die übliche Folge eines solchen Irrtums?“189 Aus Sicht des Matin wurden die Deutschen ohne Ausnahme von dem „Verlangen getrieben, groß“ und „überlegen“ zu sein – jede deutsche Politikerrede belege dies.190 „Man fängt an, von Brüning so zu sprechen, wie man es von Stresemann tat“, konstatierte der Gringoire, wobei er aber auch einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden deutschen Politiker auszumachen glaubte: „Brüning ist viel ehrlicher als Stresemann. Er ist ganz und gar nicht Diplomat. Er versucht nicht, uns durch zweifelhafte Andeutungen oder honigsüße Worte einzuschläfern. Er zieht es vor, Probleme in ihrer Roheit darzulegen. Eine solch realistische Taktik erleichtert den Kontakt und gütliche Einigungen nicht, aber sie erlaubt es, klar zu sehen. Dr. Brüning, der im Inland mit unerschrockener Hand regiert, ist für uns einer, der Illusionen erbarmungslos vertreibt.“191 Für die Action Française war „das ewige Deutschland“ eine unumstößliche Tatsache, die sich allerdings noch verschlimmern konnte.192 Ein „gutes Deutschland“ gab es für sie nicht,193 was auch ihre hasserfüllte Kampagne gegen Aristide Briand erklärt, den die extremen Rechten beschuldigten, mit seiner Politik einen neuen Krieg vorzubereiten.194 Der Regierung Brüning wurden in diesen Monaten

188 La Croix vom 30/07/1930. Après l’évacuation de la Rhénanie, S. 1. 189 Übersetzung des Zitats „l’erreur [avait] été [de] conclure que ‚ce peuple était à nous’, de vouloir pousser l’amitié jusqu’au mariage. Cette erreur nous a valu plus qu’un refus, qu’un coup d’éventail, qu’un congé: elle nous a fait perdre avec l’amitié d’un peuple sa confiance… N’est–ce pas, dans la vie, la conséquence ordinaire de pareilles méprises ?“. La Croix vom 05/08/1930. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 190 Le Matin vom 13/09/1930. Dernière Heure [Rubrik]. En Allemagne. Le dernier effort des orateurs politiques, S. 3. 191 Übersetzung der Zitate „On commence à parler de Brüning comme on parlait de Stresemann“ und „Brüning est beaucoup plus franc que Stresemann. Ce n’est aucunement un diplomate. Il ne songe pas à endormir par des sous–entendus douteux ou de mielleuses paroles. Il préfère poser les problèmes dans toute leur crudité. Une tactique aussi réaliste ne facilite pas les contacts et les accommodements, mais elle permet de voir clair. Le Dr Brüning qui gouverne à l’intérieur d’une main impavide est pour nous un impitoyable dissipeur d’illusions“. Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3. 192 L’Action Francaise vom 28/08/1930. Daudet, Léon: La folie collective des Allemands, S. 1. 193 L’Action Francaise vom 14/02/1931. Herricourt, Pierre: L’emprunt à la bonne Allemagne ! S. 3. 194 L’Action Francaise vom 07/07/1930. Daudet, Léon: Vers la guerre de Briand, S. 1.

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jeden Tag Artikel gewidmet, die sich hauptsächlich um das „Verbrechen“ der vorgezogenen Rheinlandräumung drehten.195 2.1.2 Die deutsch-österreichische Zollunion, ein politischer Fehler a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Die Angst vor einer Stärkung der deutschen Macht und die Enttäuschung wegen des misslungenen Europa-Projekts von Aristide Briand spiegelten sich auf verschiedene Weise in den Überlegungen der französischen Linken zum Vorhaben der deutsch-österreichischen Zollunion wider. Die Radicaux-Socialistes der Ere Nouvelle sahen in dem Zollprojekt „un défi porté par l’Autriche et l’Allemagne à l’intangibilité des traités de paix“.196 Nach ihrer Ansicht bedeutete die Zollunion einen politischen Triumph Brünings über die Nationalisten und Nationalsozialisten, weil er jetzt zeigen könne, „qu’il est plus capable qu’eux d’agrandir le domaine ’panallemand’“.197 Sie unterstellten dem Reichskanzler denselben hartnäckigen Willen, wieder eine Großmacht zu werden, wie den Nationalisten und den Nationalsozialisten. Die Zollunion war für sie zunächst ein „wirtschaftlicher Anschluss“, der eine „europäische Union“ ausschließen und indirekt die Drohung eines „politischen Anschlusses“ enthalte – und somit als Versuch einer pangermanischen Ausdehnung gesehen werden musste.198 L’Ere Nouvelle sah deshalb folgende politische Entwicklung für Deutschland voraus: „Après l’évacuation de la Rhénanie, le rattachement de l’Autriche: après le rattachement de l’Autriche, le rattachement géographique de la Prusse Orientale.“199 Darüber hinaus fürchteten sie eine deutsch-russische Allianz, die Deutschland die „Eroberung des Korridors“ ermöglichte. „Sie kennen das Spiel“, schrieb Albert Milhaud im selben Artikel, „die Verträge von Locarno verhalten sich zum Vertrag von Rapallo und zum Berliner Vertrag wie zu Zeiten Bismarcks die Verträge des Dreibunds zum Rückversicherungsvertag zwischen Deutschland und Russland […] man nimmt die Gleichen und fängt von vorn an.“200 Grumbach stellte in der Lumière die guten Absichten und deren Unschuld in Frage: „Es scheint mir unmöglich, dass die Verhandlungsführer und die verantwortlichen Minister der Bedeutung ihres Tuns und der unabwendbaren Folge dar195 Vgl. l’Action Française zwischen April und September 1930. 196 L’Ere Nouvelle vom 22/03/1931. Raisons politiques et économiques de l’accord douanier austro–allemand, S. 3. 197 Ebd. 198 L’Ere Nouvelle vom 30/03/1931. Nogaro, Bertrand: L’Anschluss économique et l’union européenne, S. 1. 199 L’Ere Nouvelle vom 12/04/1931. Milhaud, Albert: Après le Zollverein, S. 1. 200 Übersetzung des Zitats „Vous connaissez le jeu les traités de Locarno sont aux traités de Rapallo et de Berlin ce que, au temps de Bismarck, les traités de la Triplice étaient au traité de contre–assurance germano–russe, [...] on prend les mêmes et on recommence“. Ebd.

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aus nicht bewusst waren.“201 Als Einziger stellte Grumbach aber auch fest, dass dieses deutsch-österreichische Projekt nicht von dem abweiche, „was die Verträge selbst vorsehen“.202 In Monde kritisierten die Kommunisten alle Nationen, die an der Debatte über die deutsch-österreichische Zollunion teilnahmen – wobei die Zollunion selbst für sie ein sekundäres Problem war, das vor allem die „imperialistischen Mächte“ umtrieb: „Die Aussichten sind düster und das kapitalistische Regime lastet schwer auf einer zutiefst gespaltenen Welt, in welcher der Appetit der gegeneinander kämpfenden Nationalismen rumort.“203 Am 3. September 1931 erklärten Schober und Curtius im Rahmen der vierten Sitzung des Europa-Komitees in Genf, dass sie das Vorhaben einer deutsch-österreichischen Zollunion nicht weiter verfolgen würden.204 Das Urteil des Haager Gerichtshofs vom 5. September 1931 setzte der deutsch-österreichischen Zollunion dann definitiv ein Ende.205 Die Journalisten vom Monde blieben trotzdem überzeugt, dass das Anschluss-Problem an dem Tag wieder auftauchen werde, an dem die anderen Mächte nicht mehr in der Lage wären, eine Trennung beider Länder durchzusetzen. Nicht zuletzt sahen die MondeJournalisten in dem Verbot einer deutsch-österreichischen Zollunion einen Verstoß gegen die Souveränität Österreichs.206 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Der Petit Parisien sah wie die Mehrzahl der links stehenden Zeitungen in der „wirtschaftlichen Absorbierung Österreichs durch Deutschland“ den Auftakt zur „politischen Vereinnahmung“.207 Camille Loutre unterstellte Brüning, ein doppeltes Spiel zu betreiben, und widmete dem „but avoué“ und den „visées réelles“ der

201 Übersetzung des Zitats „[I]l ne me paraît pas possible que les négociateurs et les ministres responsables ne se soient pas rendu compte de l’importance de l’acte qu’ils allaient accomplir et de la répercussion inévitable qu’il devait provoquer“. La Lumière vom 04/04/1931. Grumbach, Salomon: L’Union Douanière austro–allemande va poser devant la SDN le problème de l’organisation européenne, S. 6. 202 La Lumière vom 16/05/1931. Grumbach, Salomon: La Commission européenne et le Conseil de la SDN examinent, après la Chambre Française, le problème austro–allemand, S. 6. 203 Übersetzung des Zitats „L’horizon est sombre et le régime capitaliste pèse lourdement sur un monde divisé à l’extrême, et où fermentent les appétits des nationalismes en bataille les uns contre les autres“. Ebd. 204 Deutschland orientierte sich von da an in Richtung Südosteuropa. (Abkommen mit Rumänien vom 27. Juni 1931 und mit Ungarn am 18. Juli 1931). Den Deutschen gelang es einen südosteuropäischen Block unter der Führung einer anderen europäischen Macht zu verhindern. Vgl. Mannes: Heinrich Brüning, S. 108ff. 205 Vgl. Hömig: Brüning (I), S. 312. 206 Monde vom 12/09/1931. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Sous–Rubrique]: Un problème qui renaîtra: L’Anschluss, S. 2. 207 Le Petit Parisien vom 22/03/1931. De Coye, Jacques: Une union douanière austro–allemande, S. 1.

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deutschen Regierung einen langen Artikel auf der Titelseite.208 Der wohlwollende Ton, der seine Artikel über Brüning bislang geprägt hatte, verschwand seitdem nicht nur, sondern wurde sogar durch mehrere historisch gewachsene Deutschlandbilder ersetzt: „Wenn es erlaubt ist, auf militärische Fachausdrücke zurückzugreifen, dann könnte man sagen, dass Deutschland an der diplomatischen Front die Stelle des geringsten Widerstands gesucht hat, dass es einen Überraschungseffekt erzeugen konnte und dass Deutschland nur mäßige taktische Erfolge verbuchen kann, aber doch strategisch viel wichtigere Ziele verfolgt. Friedlicher ausgedrückt und mit Begriffen aus dem Billardspiel kann man auch sagen, dass Deutschland auf den Young-Plan zielt, indem es über die Bande spielt. […]Nun ist Deutschland wieder ausgesprochen aktiv. Es ergreift die Initiative, mit Wagemut und Geschicklichkeit, und verfolgt seine eigene, traditionelle und seit Langem übliche Politik, die wir schon zur Genüge kennen.“209 Brüning betreibe das Spiel der nationalsozialistischen Opposition und habe von der europäischen Politik profitiert, die „seit Monaten geschlafen hat“.210 Die in der rechten Mitte stehenden Journalisten nutzten die Gelegenheit der angekündigten deutschösterreichischen Zollunion, die angeblichen Parallelen zwischen dem politischen Vorgehen der Deutschen im 19. Jahrhundert und Anfang der 1930er Jahre aufzuzeigen. So zog Lucien Bouguès am 3. April 1931 „[u]ne comparaison édifiante – eine aufschlussreiche Parallele“ zwischen dem Vorhaben Schobers und Curtius’ und „la convention prusso-hessoise de 1828 d’où sortit le Zollverein allemand – der preußisch-hessischen Vereinbarung von 1828, aus der der Deutsche Zollverein hervorging“.211 Der „geheime politische Vertrag“ von 1828 veranlasste den Journalisten Bourguès, ähnliche politische Machenschaften auch 1931 zu vermuten: „Angesichts dieser Tendenz, die so gut zu den historischen Zielen des Reiches passt, wäre es nicht verwunderlich, dass die Beteiligung Österreichs an der deutschen Politik sich nicht nur auf platonische Gespräche zwischen den Regierungen beschränkt, sondern auf einer schriftlichen Zusage, einer Art geheimem Vereinbarung beruht“, die darauf abziele, die pangermanischen Ziele des Reichs zu erfül-

208 Le Petit Parisien vom 30/03/1931. Loutre, Camille: L’accord économique austro–allemand. Le but avoué et les visées réelles, S. 1. 209 Übersetzung des Zitats „S’il est permis de recourir ici à la terminologie militaire, on dira que l’Allemagne a cherché sur le front diplomatique le point de moindre résistance, qu’elle a obtenu l’effet de surprise, qu’elle se propose des résultats tactiques médiocres, mais en visant des objectifs stratégiques beaucoup plus importants. En termes plus pacifiques et empruntés au jeu de billard, on pourrait dire aussi bien que l’Allemagne vise le plan Young en faisant de l’effet par la bande. […] La voici remise en pleine activité. L’Allemagne prend l’initiative et, non sans audace et habileté, poursuit sa politique personnelle archi–connue, traditionnelle, séculaire“. Ebd. 210 Vgl. ebd. 211 Le Petit Parisien vom 03/04/1931. Bourguès, Lucien: A propos de l’accord austro–allemand. Une comparaison édifiante, S. 1.

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len.212 La Croix teilte die Einschätzung des Petit Parisien und sprach von „einem Aufsaugen Österreichs durch Deutschland“.213 Nach Meinung Antoine de Tarlés verfolgte die Regierung Brüning „die alte deutsche Idee eines germanisierten Mitteleuropas“.214 Jules Sauerwein vom Matin ließ keinen Zweifel daran, dass die Planung einer Zollunion ein schwerwiegender Fehler gewesen sei, nahm aber den Reichskanzler in Schutz und beschuldigte vielmehr die deutsche Diplomatie, miserabel vorgegangen zu sein: „Eben weil ich in Deutschland eine beachtliche Zahl an Staatsmännern, angefangen beim Kanzler, an Industriellen, Gewerkschaftsführern, und sogar Angehörigen der Reichswehr vorgefunden habe, die genau erkannten, worauf Deutschland hinarbeiten müsse und mit welchen Mitteln es das erreichen könne, ist es bedauerlich, dass die Diplomatie – ohne dass ein wesentliches Interesse auf dem Spiel steht – ein brillantes Manöver durchführen wollte, das Österreich wohl als Erstem schaden wird.“215 Sauerwein beklagte deshalb auch die Abwesenheit einer französischen „einheitlichen Politik anstatt mehrerer“, die Deutschland von dieser unüberlegten Initiative hätte abhalten können.216 Man muss hier allerdings anmerken, dass die Artikel Sauerweins in der Regel versöhnlicher und selbstkritischer waren als die seines Kollegen Henry de Korab, der überzeugt war, dass die deutsche Regierung ihre wahren Absichten verschweige.217 Für die Action Française und den Echo de Paris waren diese „wahren Absichten“ geradezu selbstverständlich vorauszusehen. 2.1.3 Reparationen und Abrüstung: Besorgnis erregende Themen a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Ere Nouvelle beschrieb die Ankunft und den Aufenthalt von Brünings und Curtius’ in Paris mit viel Liebe zum Detail und Hoffnung für die deutsch-französische 212 Übersetzung des Zitats „Etant donné cette tendance qui correspond si bien aux visées historiques du Reich, il n’y aurait rien de surprenant à ce que la participation autrichienne à la politique allemande eût déjà fait l’objet, entre les deux gouvernements, non seulement de conversations platoniques, mais d’une promesse écrite, d’une sorte de traité caché “. Vgl. ebd. 213 La Croix vom 30/05/1931. De Tarlé, Antoine: Quelques conséquences économiques de l’union douanière austro–allemande, S. 3. 214 Ebd. 215 Übersetzung des Zitats „Alors qu’en Allemagne, j’ai trouvé un nombre très appréciable d’hommes d’Etat, à commencer par le chancelier, d’industriels, de chefs syndicalistes et même de militaires qui voyaient clairement à quoi l’Allemagne devait tendre et par quels moyens, il est regrettable que la diplomatie – sans qu’aucun intérêt vital soit en jeu – a voulu faire une manœuvre brillante dont l’Autriche sera peut–être la première à souffrir“. Le Matin vom 24/03/1931. Sauerwein, Jules: Le projet d’accord austro–allemand, S. 1. 216 Vgl. Le Matin vom 06/04/1931. Sauerwein, Jules: La meilleures réponse à l’action austro– allemande, S. 1. 217 Le Matin vom 22/04/1931, vom 11/05/1931 und vom 01/09/1931.

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Zukunft. Der Meinungsaustausch habe „den ehrlichsten und anständigsten Charakter […] mit dem beiderseitigen Bemühen, eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen den beiden Völkern zu ermöglichen“ gehabt.218 Die RadicauxSocialistes freuten sich über die Atmosphäre des Vertrauens, die während der Pariser Verhandlungen und der Londoner Konferenz geschaffen worden sei,219 bedauerten aber gleichzeitig, dass es den Franzosen nicht gelungen sei, ihre Position besser zu verteidigen, und warnten in Hinblick auf das deutsch-französische Treffen in Berlin vor „ le danger analogue à celui [de] Londres“:220 „L’expérience nous montre [...] que bien souvent c’est celui qui invite qui prend l’initiative des opérations et conduit les débats à sa guise.“221 Auch der Canard Enchaîné kritisierte die dominante Position der Briten – „die deutsch-französischen Verhandlungen zwischen Herrn Brüning und Herrn Ramsay MacDonald werden fortgesetzt… und die Pariser Konferenz findet in London statt“222, klagte man auf der Titelseite und gab damit der Unzufriedenheit in Frankreich über den Verlauf der Verhandlungen und die eigene schwache Position eine Stimme. Die RadicauxSocialistes forderten natürlich auf Basis der bestehenden Verträge223 – als einzig mögliches Fundament für einen dauerhaften Frieden, wie Edouard Herriot nach dem Besuch der Briten und Amerikaner in Berlin schrieb224 – „une conversation directe entre l’Allemagne, pays libre et la France, nation majeure“.225 Dieser Satz bedarf keines weiteren Kommentars. Gleichzeitig wollten sie sich für ein freies und demokratisches Deutschland engagieren – „indispensable à la civilisation“ –, weil für sie „Demokratie“ und „Frieden“ Synonyme waren.226 Wieder einmal bekundeten die Radicaux ihren Wunsch, als Garantie für den Frieden in Deutschland eine dauerhafte Demokratie zu etablieren – ohne dass Frankreich dabei aber seine Überlegenheit über Deutschland verlor. Darüber hinaus befürchteten sie auch von den Briten und den Amerikanern ausgestochen zu werden. Der Besuch Lavals und

218 Übersetzung des Zitats „le caractère le plus franc et le plus cordial [...] avec le souci mutuel d’établir une collaboration durable entre les peuples “. L’Ere Nouvelle vom 19/07/1931. MM. Brüning et Curtius se félicitent de l’accueil amical qui leur a été fait à Paris, S. 1. 219 L’Ere Nouvelle vom 24/07/1931. La Conférence de Londres s’achèverait demain, S. 3. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Übersetzung des Zitats „[les] pourparlers franco–allemands continuent entre M. Brüning et M. Ramsay MacDonald… et la Conférence de Paris se tient à Londres“. Le Canard enchaîné vom 22/07/1931. Dregerin: Les pourparlers franco–allemands continuent entre M. Brüning et M. Ramsay Macdonald, S. 1. 223 Die Sozialisten waren der Überzeugung, dass sie mit ihrer Stimme für den Young–Plan im Namen des Friedens schon eine Menge Nachteile akzeptiert hatten, denn „le plan Young signifie à la France qu’elle doit abandonner pour toujours l’espoir de recouvrer l’intégralité des sommes qu’elle a dépensées pour les pensions, ou seulement pour les régions dévastées“. La Lumière vom 05/04/1930. Grumbach, Salomon: En votant le plan Young malgré ses inconvénients les socialistes ont voté la paix, S. 12 224 L’Ere Nouvelle vom 30/07/1931. Herriot, Edouard: Avec l’Allemagne de Weimar, S. 1. 225 Ebd. 226 Ebd.

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Briands in Berlin wurde als „historisches Ereignis“227 und als Beginn einer neuen Phase der deutsch-französischen Beziehungen gefeiert, auch wenn sich die Radicaux-Socialistes neuer Spannungen und deutsch-französischer Interessenskonflikte bewusst waren.228 Die Sozialisten waren, wie die Artikel aus der Lumière bezeugen, ebenfalls nicht bereit, den Versailler Vertrag außer Kraft zu setzen,229 auch wenn sie grundsätzlich für eine großzügigere Politik gegenüber Deutschand plädierten. Léon Blum beruhigte seine Leser, indem er schrieb, Brüning wolle nicht, wie Le Temps behauptet hatte, „von der Last der Reparationen befreit werden“, sondern erhoffe sich nur Erleichterungen, weil die Bürde der Reparationen für Deutschland unerträglich geworden sei. Blum schlug deshalb vor, das Thema „mit ein wenig Gelassenheit“ zu behandeln.230 Was die Entwaffnung Deutschlands betraf, forderten alle französischen Linken gemäß ihren pazifistischen Überzeugungen eine allgemeine Abrüstung. Bei diesem Thema zeigten sie sich gegenüber Brüning viel großzügiger als bei den Reparationen. Aber man darf nicht übersehen, dass sie auch bei der Reparationsfrage weitaus undogmatischer auftraten als die Repräsentanten der rechten Parteien. Brüning, sein Äußeres und sein Auftreten wurden in vielen Zeitungen mit großer Sympathie beschrieben, so zum Beispiel auch im Magazin Vu, das Brüning

227 L’Ere Nouvelle vom 28/09/1931. La foule allemande reçoit chaleureusement les ministres français aux cris répétés de „Vive la paix !“, S. 1 + 3; L’Ere Nouvelle vom 01/10/1931. Au conseil des ministres. MM. Laval et Briand rendent compte de leur voyage à Berlin, S. 1. 228 „Le chef du gouvernement allemand est trop avisé et trop fin pour se bercer d[‘] [...] espérances. Il ne peut nous demander de consentir un prêt au Reich, et nous ne pourrions le lui accorder. Il ne peut non plus poser [...] la question des réparations, et nous ne pouvons la lui laisser poser.“ Übersetzung: „Der deutsche Regierungschef ist zu klug und zu scharfsinnig um sich Hoffnungen […] hinzugeben. Er kann uns nicht bitten, dem Reich eine Anleihe zu bewilligen und wir könnten sie ihm auch nicht bewilligen. Er kann […] auch nicht die Frage bezüglich der Reparationszahlungen stellen und wir können ihn diese auch nicht stellen lassen.“ L’Ere Nouvelle vom 28/09/1931. La foule allemande reçoit chaleureusement les ministres français aux cris répétés de „Vive la paix !“, S. 1 + 3. 229 Den Versailler Vertrag außer Kraft zu setzen, „ce serait céder au chantage de Hitler et ceux qui le financent – hieße dem Druck Hitlers und seiner Financiers nachzugeben“. Grumbach begrüßte in der Lumière nur mit Zähneknirschen die Intervention Hoovers: „Il y a en Allemagne des gens qui croient pouvoir proclamer la ‘‘fin des réparations’’ – In Deutschland gibt es Menschen, die glauben das ‚Ende der Reparationen‘ verkünden zu können“, aber man könne nicht „admettre que la France renonçât, sans plus, au remboursement des avances qu’elle a faites, pour réparer la dévastation de toute la région du Nord – vertreten, dass Frankreich ohne weiteres auf die Erstattung der bereits in den Wiederaufbau der Verwüstungen in der ganzen Nord–Region investierten Summen verzichtet“; Grumbach schloss darum mit einer Frage ab: „ [J]e ne sais pas si M. Hoover a pensé à tout cela – Ich weiß nicht, ob Herr Hoover an all das gedacht hat“. La Lumière vom 27/06/1931. Grumbach, Salomon: L’intervention du Président Hoover ouvre une nouvelle phase des négociations internationales, S. 6. 230 Le Populaire vom 08/06/1931. Blum, Léon: Le manifeste du gouvernement allemand.

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eine ganze Fotoserie widmete. Der Reichskanzler, den man in der Regel in einer nachdenklichen oder melancholisch anmutenden Haltung kannte, wurde von Vu bei seiner Ankunft in Paris als seriöser und energisch wirkender Mann abgelichtet231 oder als sympathisch und lächelnd auftretender Politiker bei der SiebenMächte-Konferenz232 und schließlich sogar als gut gelaunter und geselliger Typ in Begleitung von Laval und Briand in Berlin.233 Es wirkt so, als habe Vu den neuen „Hoffnungschimmer“234 in den deutsch-französischen Beziehungen ganz bewusst mit einer positiven Bildsprache betont. Für die Journalisten von Monde lag das größte Problem der Reparationen in ihrer Auswirkung auf die Lebensbedingungen der Arbeiter.235 Auch wenn sie vor allem das kapitalistische System236 für die Krise in Deutschland verantwortlich machten, stellten sie dennoch fest, dass „ein Land, das dem Ausland jährlich 10 bis 12 Milliarden Franc zahlen muss, in Bezug auf die Quellen seiner Aktivität angeschlagen ist“.237 Brüning begehe allerdings den Fehler, die Ursache für die deutsche Krise in den Reparationen und nicht im Kapitalismus zu sehen. Angesichts der ungelösten Reparations- und Abrüstungsfrage fürchteten die Kommunisten dann aber wie die Sozialisten die Gefahr „eines oder mehrerer Kriege“.238 Der deutschen Regierung zu helfen239 stand aber für die Kommunisten nicht zur Debatte. Gabriel Péri,240 Außenpolitikchef der Humanité, betrachtete eine solche

231 Vu, Juli 1931. Francq, Roger: Le règlement des réparations. Le plan Hoover et le plan Young, S. 973–974 232 Ebd. 233 Vu, October 1931. Luchaire, A.: Après le voyage à Berlin, S. 2321–2322. [Fotoserie mit Brüning] 234 Vgl. ebd. 235 „Nous sommes en régime capitaliste, il y aura toujours un prolétariat qui assumera, en dernier ressort, le fardeau dont les autres auront été affranchis“. Monde vom 13/06/1931. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unter–Rubrik]: L’entrevue de Chequers, S. 2. 236 Sie fürchteten nicht, von den Briten und Amerikanern ausgestochen zu werden, weil sie sie mit den Deutschen und Franzosen in dieselbe Reihe der „Kapitalisten“ stellten. 237 Übersetzung des Zitats „un pays qui doit payer à l’étranger de 10 à 12 milliards de francs annuellement est atteint dans ses sources d’activité“. Monde du 13/06/1931. Ebd. 238 Ebd. 239 Das betraf auch das Hoover–Moratorium. 240 Gabriel Péri (1902–1941): Sohn eines „directeur des services techniques“ am Hafendock von Marseille. Er besuchte die höhere Schule währen des Ersten Weltkrieges, der ihn nachhaltig prägte und sein politisches Engagement prägte. Er trat 1919 der SFIO bei, weil diese sich auf den Seiten der Pazifisten positionierte. Sein Pazifismus ließ ihn 1920 zur Mehrheit der SFIO wechseln, die die kommunistische Partei gründete. Er wurde erst Aktivist in den „Jeunesses communistes“ und dann ihr Generalsekretär. Gleichzeitig begann er als Journalist zu arbeiten für Clarté (die Zeitung von Barbusse) und L’Avant–garde (das Blatt der „Jeunesses communistes“). 1929 wurde er ins Zentralkomitee der Partei gewählt und wurde Außenpolitikchef der Zeitung Humanité. 1932 wurde er als Abgeordneter der Region Seine–et–Oise gewählt und behielt diesen Posten bis 1936. 1941 wurde er von den Deutschen erschossen.

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Hilfe als Verrat an der Revolution und an der Bolschewisierung Europas.241 Die Kommunisten stellten sich letztendlich nicht der Realität und versuchten nicht einmal, eine konkrete Lösung für das Reparationsproblem zu finden. Ihr einziges ideologisch verblendetes Allheilmittel war die Revolution: „Wir sind stark, und wenn wir das in einer Massenbewegung umsetzen, können wir trotz des gesamten Bürgertums dieser Welt und trotz des Faschismus den Lauf der Welt umkehren und den endgültigen Sieg des Proletariats herbeiführen.“242 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Nach Ansicht des Petit Parisien verfolgte Heinrich Brüning eine revisionistische Politik, die keinerlei Verständnis für die Haltung der Franzosen verriet, aber keine radikale oder exzessive Sprache verwendete.243 Man forderte von Brüning, „definitiv“ und „dauerhaft“ zwischen einer „ehrlichen Politik“ und einer „Politik der Agitation und der brüsken Manöver“ zu wählen und lieber einem „überlegten Kalkül“ zu folgen als „dem inkohärenten Druck inländischer Demagogie“, um dadurch auf Dauer das Vertrauen der anderen Staaten zu gewinnen.244 Ihr Brüning-Bild erlebte dann aber in der Folge der deutsch-französischen Gespräche vom Juli 1930 eine positive Revision. Bourguès zum Beispiel unterstrich: „Der Kanzler zeigte eine entgegenkommende Haltung und verlieh seiner Hoffnung auf engere Beziehungen Ausdruck.“245 Aus der Sicht des Journalisten war die erhoffte Kontaktaufnahme „avec franchise, cordialité et un égal bon vouloir des deux côtés“ verlaufen.246 Als Leser musste man dennoch Zweifel an der Darstellung haben, weil alle am 19. Juli 1931 im Petit Parisien veröffentlichten Fotos einen müde, abwesend und desillusioniert wirkenden Briand und einen niemals lächelnd oder zufrieden schauenden Brüning zeigten. Der Kontrast zum geschriebenen Text war umso größer, als Lucien Bourguès schon am nächsten Tag schrieb, dass die Unstimmigkeiten zwischen den politischen Positionen beider Länder so im-

241 L’Humanité vom 08/02/1931. Péri, Gabriel: Brüning obtient au Reichstag 72 voix de majorité. Des crédits français à l’Allemagne, S. 1. 242 Übersetzung des Zitats „Notre force est grande, et si nous [l’] appliquons à l’action de masse [...] nous pourrons, en dépit de toute la bourgeoisie mondiale et du fascisme, retourner le monde entier et assurer la victoire complète du prolétariat“. Knorine: Le fascisme, la social– démocratie et les communistes, S. 54. 243 Le Petit Parisien vom 30/01/1931. Dernière Heure [Rubrik], Loutre, Camille: Le Dr Kaas prononce à Trèves un important discours, S. 3. 244 Vgl. Le Petit Parisien vom 30/05/1931. Romier, Lucien: L’exécution du plan Young et les chances de l’Allemagne, S. 1 + 3 245 Übersetzung des Zitats „le chancelier […] fit preuve de dispositions conciliantes et exprima aussi l’espoir d’un contact plus étroit“. Le Petit Parisien vom 19/07/1931. Bourguès, Lucien: Les entretiens franco–allemands, S . 1 + 3. 246 Ebd.

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mens seien, dass eine Einigung praktisch inmöglich sei.247 Im August beklagte der Petit Parisien die Positionen des „deféndeur“ und des „demandeur“ der beiden Länder als erstes Hindernis für eine Annäherung bei den Themen Reparationen und Abrüstung. Es sei geradezu „grillenhaft zu glauben, die deutsch-französischen Beziehungen durch die Suche nach einer allgemeinen Verständigung der zwei Völker zu verbessern“.248 Die Zeitung bezog auf diese Weise Stellung gegen die Sozialisten, kritisierte aber auch die Haltung der nationalen und nationalistischen Rechten. Stattdessen forderte der Petit Parisien „une communication régulière et fréquente – regelmäßige und häufige Kommunikation“ zwischen den ehemaligen Feinden,249 um „la brume d’impressions psychologiques qui couvre les relations franco-allemandes – den Nebel psychologischer Eindrücke, die auf den deutschfranzösischen Beziehungen lasten“ zu vertreiben.250 Die Reparationspolitik Heinrich Brünings verärgerte auch die Journalisten der Zeitung La Croix. Am 10. Oktober 1930 hieß es dort zum Young-Plan: „Kaum ist dieser unglückliche Plan, der die Lasten Deutschlands so sehr verringert, umgesetzt worden, spricht man schon wieder davon, ihn anzutasten. Die Haltung Deutschlands ist nicht dazu angetan, seine Gläubiger zur Großzügigkeit zu bewegen.“251 Allerdings warf man Brüning in der Croix nicht vor, ein doppeltes Spiel zu betreiben. Im Gegenteil, man lobte die „Offenheit“,der „Staatsmänner des Reichs“, um die „friedliche Revision“ der Verträge einzufordern.252 Pierre Delattre stellte sogar heraus, dass Deutschland seine „Taktik“ geändert habe, weil es „viel gelernt habe“, und zwar die folgende Lektion: „Eine nationalistische Politik der Drohungen, des Donnergrollens und der plötzlich aufblitzenden Wut hat von unserer Seite keinen Erfolg, sondern wir müssen uns entschieden auf den Standpunkt einer Annäherung und einer Verständigung vor allem gegenüber Frankreich stellen.“253 Wenn Brüning nun noch die deutsche Kriegsschuld anerkenne und wenn er durchsetzen könne, dass auch „seine Partei“ und „sein Volk“ die Wahrheit anerkennen, „würde er mehr für den Frieden in Europa tun als alle seine Vor-

247 Le Petit Parisien vom 20/07/1931. Bourguès, Lucien: Bilan des premiers pourparlers franco– allemands, S. 1. 248 Übersetzung des Zitats „de prétendre améliorer les relations franco–allemandes par la recherche d’une entente générale […] des deux peuples“. Le Petit Parisien vom 18/08/1931. Romier, Lucien: L’état d’esprit franco–allemand, S. 1. 249 Ebd. 250 Le Petit Parisien vom 27/09/1931. Bois, Elie–J.: La signification de de voyage, S. 1. 251 Übersetzung des Zitats „A peine donc ce malheureux plan, qui réduit si largement les charges de l’Allemagne, est–il mis en application, qu’on parle déjà de le rogner. Vraiment l’attitude de l’Allemagne n’est pas faite pour incliner ses créanciers à la générosité“. La Croix vom 10/10/1930. Choses d’Allemagne. Le programme du chancelier Brüning, S. 1. 252 La Croix vom 12/02/1931. R.R.: L’Allemagne et les problèmes extérieures, S. 1 + 2. 253 Übersetzung des Zitats „Une politique nationaliste de menaces, de roulements de tonnerre et d’éclairs de colère n’a de notre part aucune chance de succès, au contraire, il faut nous placer résolument sur le terrain du rapprochement et de l’entente principalement à l’égard de la France.“ La Croix vom 25/02/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4.

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gänger“.254 Anstatt die alte Angst vor Deutschland zu bedienen, glaubte man in der Croix, dass die Regierung Brüning, unterstüzt von der SPD, „keine Minute zögern wird, mit der letzten Energie den Radikalismus der Rechten wie auch der Linken zu bekämpfen“.255 Auch die außenpolitischen Forderungen Deutschlands beunruhigten die Journalisten nicht allzu sehr, allerdings warfen sie der Regierung Brüning vor, die Belastung der Reparationen dramatischer darzustellen, als sie in Wirklichkeit sei. La Croix lieferte als Argument dafür folgende Berechnung: „Den offiziellen Zahlen zufolge gibt der deutsche Staat für diesen Posten nur 2,5 Milliarden aus, während er für die Verwaltung Folgendes ausgibt: 12 Milliarden; Alkohol: 4,7 Milliarden; Tabak: 2,7 Milliarden; Theater, Kinos, Varietétheater: 2,9 Milliarden; was jährlich 200 Mark pro Kopf für die Verwaltung ergibt; 78 für Alkohol; 48 für Unterhaltung; 45 für Tabak und nur 40 für die Reparationszahlungen.“256 Bei diesem Thema erwartete La Croix ebenfalls „eine Geste guten Willens und Ehrlichkeit“ von Seiten der deutschen Regierung257 und vermutete, dass das Gefühl der „Demütigung“ wohl das eigentliche Problem der Deutschen sei.258 Beim Thema Abrüstung bediente sich die Croix auch nicht aus dem Repertoire feindlicher Deutschlandbilder, wie zum Beispiel dem deutschen Militarismus, zeigte sich aber härter und entschiedener gegenüber Brüning. Allerdings war die Frage nach der deutschen Abrüstung auch kein beherrschendes Thema in der Zeitung, selbst wenn darauf hingewiesen wurde, dass die wahren Absichten Deutschlands ein „Rätsel“ seien. Laut Jean Caret war die Verwirrung zwischen Deutschland und Frankreich dennoch nie so groß wie zu Zeiten der Regierung Brünings.259 Trotzdem äußerten sich die Journalisten von La Croix in der gesamten Regierungszeit Brünings nur in einem sehr maßvollen und gelassenen Ton über Deutschland. Selbst die Gespräche Brünings mit Mussolini im August 1931 konnten sie nicht erschrecken.260 Die Tageszeitung Le Matin war überzeugt, dass Brüning sowohl bei den Reparationen als auch bei der Abrüstung ein falsches Spiel treibe. Die „Verschleierung des Reichswehr-Budgets“ offenbare die Unehrlichkeit Deutschlands.261 So 254 Ebd. 255 La Croix vom 17/03/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 3 + 4. 256 Übersetzung des Zitats „[D]’après les statistiques officielles, la nation allemande ne verse pour ce chapitre que deux milliards et demi, tandis qu’elle dépense en frais d’administration: 12 milliards; d’alcool: 4,7 milliards; de tabac: 2,7 milliards; des théâtres, cinémas, variétés: 2,9 milliards; ce qui fait annuellement par tête d’habitant 200 marks pour l’administration; 78 d’alcool; 48 d’amusements; 45 de tabac et seulement 40 de réparations“. La Croix vom 24/06/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 4. 257 La Croix vom 17/07/1931. La crise financière allemande, S. 1 + 2. 258 Vgl. La Croix vom 18/08/1931. Delattre, Pierre: Lettre d’Allemagne, S. 3 + 4. 259 La Croix vom 18/07/1931. Caret, Jean: Le drame allemand. Comprendre: se comprendre, S. 1. 260 Vgl. La Croix vom 09/08/1931. Royère, René: Le voyage des ministres allemands à Rome, S. 1. 261 Le Matin vom 16/02/1931. Quelques lueurs sur le camouflage du budget de la Reichswehr, S. 1.

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behauptete die Zeitung am 16. Februar 1931, dass im Haushalt für die Reichswehr „phantastische Summen“ für den Unterhalt von Waffen und Maschinengewehrteile vorgesehen seien.262 Sauerwein schrieb immerhin auch, Brüning beginne den hohen Wert einer deutsch-französischen Verständigung zu erkennen, die ohne gegenseitiges Vertrauen nicht zustande komme.263 Er teilte deshalb auch die „Freude“ der französischen Regierung, den deutschen Reichskanzler in Paris zu empfangen:264 „Kanzler Brüning wird in Paris mit der Wertschätzung empfangen, die seinem Status, seinem Charakter und seiner Aufrichtigkeit gebühren.“265 Allerdings habe Frankreich Recht, wenn es den Deutschen in der Reparationsfrage nicht entgegenkomme, denn es sei nicht „das Verschulden Frankreichs, wenn schlechte Verwalter unter dem Einfluss von schlechten Propagandisten Deutschland abermals an den Rande des Ruins getrieben“ hätten.266 Anschaulicher noch als die rechten Politik- und Wirtschaftsblätter gibt die satirische Revue Cyrano einen Einblick in die Vorstellungswelt konservativer oder sogar nationalistischer Journalisten. Die überaus amüsanten Artikel und Karikaturen im Cyrano bedürfen an sich keines weiteren Kommentars. In diesem Blatt wurden sowohl Deutschland als auch Frankreich mit beißender Ironie bedacht. Die satirischen Attacken richteten sich auf deutscher Seite gegen die Regierung Brüning, alle Oppositionsparteien und die gesamte deutsche Bevölkerung. Auf französischer Seite wurden zu allererst Aristide Briand und dann die Sozialisten, Pazifisten, der Präsident der französischen Republik, die Radicaux und die Repräsentanten der Mitte-rechts-Parteien aufs Korn genommen. Die Journalisten von Cyrano spitzten ihre Feder auch gegen den französischen Botschafter in Berlin, Pierre de Margerie, dem vorgeworfen wurde, nicht nationalistisch genug und ein schlechter Beobachter zu sein, der seinen Aufgaben mangelhaft nachkomme. Am 7. September 1930 verspottete Clément Vautel den Senator Henry de Jouvenel, einen überzeugten Pazifisten, der in einem Interview mit der Vossischen Zeitung seine Überzeugung kundgetan hatte, dass sich die Franzosen, in einer Volksbefragung wohl mehrheitlich oder sogar einstimmig für ein deutsch-französisches Bündnis aussprechen würden.267 Vautel höhnte, dass eine solche Volksabstimmung zweifellos den „coup d’éponge venant après tant de coups de torchon – den Hieb mit dem Schwamm nach so vielen Versuchen mit dem Scheuertuch“ brin-

262 Ebd. 263 Le Matin vom 25/06/1931. Sauerwein, Jules: La France a répondu à la proposition du Président Hoover, S. 1. 264 Ebd. 265 Übersetzung des Zitats „Le chancelier Brüning sera reçu à Paris avec les égards que méritent sa personnalité, son caractère et son honnêteté“. Le Matin vom 16/07/1930. Sauerwein, Jules: Le chancelier Brüning et le docteur Curtius arrivent à Paris aujourd’hui, S. 1. 266 Übersetzung des Zitats „la faute de la France si de mauvais administrateurs influencés par de mauvais propagandistes ont amené l’Allemagne une fois de plus au seuil de la ruine“. Ebd. 267 Cyrano vom 07/09/1930. Autour et alentour [Rubrik]. Vautel, Clément: L’alliance franco– allemande, S. 5–6.

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ge.268 Sein Sarkasmus verrät die tiefe Angst der Franzosen vor einer Tilgung des Versailler Vertrags und der wirtschaftlichen und militärischen Eroberung Frankreichs durch die zahllosen Deutschen: „In wenigen Monaten hatte sich die deutsche Armee wieder aufgestellt … Die Reichswehr hatte 200 000 Soldaten ín höheren Dienstgraden beigesteuert, und viele pensionierte Offiziere mit reduziertem Sold waren fröhlich in den Dienst zurückgekehrt. Da das Bündnis auch wirtschaftlich ausgerichtet war, sah Frankreich wie sein Binnenmarkt mit Produkten von der anderen Rheinseite überflutet wurde. Gleichzeitig brach eine gewaltige germanische Welle über die dünn besiedelten Regionen herein… Auch in unseren Städten ließen sich unzählige Deutsche nieder, die bei der Ankunft sagten: Wir sind Freunde, Brüder… Wir werden gemeinsam Großes vollbringen! Man muss wohl nicht erwähnen, dass es nicht mehr um Reparationszahlungen, Schulden, Annuitäten und andere, alte Themen von vor der Sintflut ging.“269 Schon auf den ersten Blick ist das historische Deutschlandbild zu erkennen, wonach sich hinter dem zuvorkommenden und hilfsbereiten Auftreten der Deutschen ein militaristischer, disziplinierter, gut organisierter, hinterhältiger, eroberungswilliger und gefährlicher Staatsapparat versteckt. Cyrano stellte deshalb weder der Regierung Brüning noch den politischen Vorstellungen Aristide Briands ein Vertrauenszeugnis aus. Während Deutschland nämlich offen sein ewiges germanisches Gesicht zeige, seien die Franzosen mit ihrem Ideal einer deutsch-französischen Annäherung von Blindheit und einer empörend eingeengten Sichtweise geschlagen, wie folgende Passage amüsant illustriert: „Cependant M. Henry de Jouvenel siégeait toujours au Sénat. Un indiscret lui demanda un jour: – Croyez-vous vraiment que l’alliance franco-allemande ait fait le bonheur de votre pays ? – Elle lui assure la paix… – La pax germanica ! C’est la paix tout de même… Et voyez comme j’avais raison: l’Allemagne nous propose de supprimer le service militaire en France, disant qu’elle a bien assez de soldats aujourd’hui, non seulement pour elle, mais encore pour nous. Et vous viendrez encore insinuer que cette alliance n’est pas avantageuse !“.

268 Ebd. 269 Übersetzung des Zitats „En quelques mois, l’armée allemande s’était reconstituée… La Reichswehr avait fourni 200.000 gradés et nombre d’officiers retraités, de demi–soldes, avaient joyeusement repris du service. L’alliance étant économique aussi, la France vit son marché envahi par les produits d’outre–Rhin. Parallèlement, une formidable vague germanique submergea ses régions dépeuplées… Nos villes recevaient aussi d’innombrables Allemands qui s’installaient en déclarant: Nous sommes des amis, des frères… Nous allons faire de grandes choses ensemble ! […] Inutile de dire qu’il ne fut plus question des réparations, dettes, annuités et autres vieilleries d’avant le déluge“. Ebd.

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„Währenddessen saß Herr Henry de Jouvenel immer noch im Senat. Ein Indiskreter fragte ihn eines Tages: – Glauben Sie wirklich, dass das deutsch-französische Bündnis zum Wohle unseres Landes ist? – Es sichert ihm den Frieden… – Die Pax germanica! – Es handelt sich aber dennoch um Frieden… Und schauen Sie, ich hatte doch Recht: Deutschland schlägt uns vor, in Frankreich den Wehrdienst abzuschaffen, denn es sagt, es habe heute nicht nur für sich, sondern auch für uns genug Soldaten. Und Sie wollen mir jetzt noch zu verstehen geben, dass dieses Bündnis für uns nicht vorteilhaft ist!“270

Das Wahlergebnis der Reichstagswahlen im September 1930 schien diese Sichtweise zu bestätigen: „Nachdem Deutschland von uns alles erhalten hatte, indem es sein Gesicht geschminkt hat, nahm es plötzlich seine Maske ab und zeigte sich vor aller Augen mit Stiefeln und Helm, wie es immer schon war.“271 Cyrano liefert ein wahres Feuerwerk nationalistischer Deutschlandbilder. Die Politik Briands galt im Cyrano als definitiver Misserfolg und die Schuldigen wie zum Beispiel Pierre de Margerie waren schnell gefunden: „Une note assez sévère s’envola, le 15 septembre, à l’adresse de M. de Margerie, notre ambassadeur à Berlin: „Eine ziemlich strenge Botschaft wurde am 15. September an Herrn de Margerie, unseren Botschafter in Berlin, gesandt: ‚Nun?… Sie hatten uns auf höchstens um die 40 Anhänger Hitlers vorbereitet?‘ – ‚Was soll ich Ihnen sagen?‘, antwortete Pierre de Margerie, ‚Niemand hat damit gerechnet, weder hier noch anderswo.‘ Aber alle wissen, dass der französische Botschafter sehr beschäftigt ist. Wie soll man es ausdrücken?… mit Angelegenheiten außerhalb der Politik“.272 Deutschland wurde wegen seiner Abwendung von der Politik Stresemanns stark kritisiert, wie auf folgender Karikatur anschaulich zu sehen ist: 273 Allerdings darf man hier nicht übersehen, dass auch Stresemann als Repräsentant eines per Definition unehrlichen Volkes galt. Nach dieser Einstellung war es nur logisch, dass man auch Brüning keine besondere Rolle zugedacht hatte. Während der Echo de Paris in der Abrüstungs- und Reparationspolitik nur eine Farce sah,274 war für die Action Française wieder alles geradezu evident: Brü-

270 Ebd. 271 Übersetzung des Zitats „après avoir tout obtenu de nous en maquillant son visage, l’Allemagne jette soudain le masque et se montre aux yeux de tous, bottée et casquée comme elle l’a toujours été“. Cyrano vom 21/09/1930. La Gazette de Cyrano [Rubrik]: Ce qui se passe, S. 8ff. 272 Ebd. 273 Cyrano vom 21/09/1930. Karikatur: Gassier, H.–P.: Les élections allemandes, S. 7.

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nings Deutschland bleibe immer „an einer Verdrängung psychisch erkrankt, die durch die Ereignisse 1914 an der Marne und 1919 in Versailles zum Ausbruch kam“.275 2.2 Die Wahrnehmung des zweiten Brüning-Kabinetts (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) 2.2.1 Die Reparationen: Symbol der Not oder der Unehrlichkeit? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Der radikal-sozialistische Abgeordnete und Journalist Bertrand Nogaro276 verglich am 5. Januar 1932 die deutsche mit der französischen Situation und resümierte: Wenn Deutschland zahlungsunfähig sei und den Young-Plan nicht erfüllen könne, dann wäre Frankreich mit einer Handelsbilanz und einem Haushaltsdefizit von „douze milliards [...] encore moins en état d’assurer le service de ses dettes extérieures“.277 Man hatte noch mehr als 1931 den Eindruck, „in der Klemme zu sitzen“ zwischen Deutschland auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten und England auf der anderen Seite. Deswegen forderte Nogaro auch – ohne „unerbittlich“ wirken zu wollen – die „ausstehenden Gelder“ ein.278 Der linke Flügel der Radicaux-Socialistes und die SFIO blieben indes während der ganzen Zeit davon überzeugt, dass man den Deutschen bei den Reparationen Erleichterung verschaffen müsse, um das Land gegen den Nationalsozialismus zu stärken.279 Allerdings konnten sie im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen und vor dem Hintergrund der erstarkenden Nationalsozialisten ihre Verhandlungspolitik mit Deutschland

274 Übersetzung des Zitats „Une note assez sévère s’envola, le 15 septembre, à l’adresse de M. de Margerie, notre ambassadeur à Berlin: „Alors?...Vous nous faisiez prévoir un maximum de quarante hitlériens ?“ Que voulez–vous ? répondit Pierre de Margerie. Personne n’avait prévu, ni ici, ni ailleurs. Mais chacun sait que l’ambassadeur de France à Berlin est très occupé… comment dire ?... extra–politiquement “. L’Echo de Paris vom 19/05/1930. Livres et revues [Rubrik]: La farce du désarmement, S. 2. 275 Übersetzung des Zitats psychiquement malade d’un refoulement – celui qui a trouvé sa forme matérielle sur la Marne en 1914 et à Versailles en 1919“. L’Action Française vom 28/05/1931. Les courants souterrains, S. 1. 276 Bertrand Nogaro (*1880– ?): Promovierter Jurist, „agrégé“ in Wirtschaftswissenschaften. Professor an den juristischen Fakultäten in Montpellier, Caen und dann Paris. Mitglied in der radikalen und radikal–sozialistischen Fraktion. Abgeordneter der Hautes Pyrénées von 1924 bis 1934 und Ministre de l’Instruction publique et des Beaux–Arts vom 23. Juni bis zum 19. Juli 1926. Bei den Wahlen am 29. April 1928, erhielt er wieder einen Posten als Abgeordneter. Er war Mitglied der Commission des Finances und „Rapporteur du budget des Pensions“. Am l. Mai 1932 wurde er wiedergewählt. 277 L’Ere Nouvelle vom 05/01/1932. Nogaro, Bertrand: Dettes et réparations, S. 1 + 3. 278 Vgl. ebd. 279 Vgl. La Vie Socialiste vom 28/11/1931, vom 30/01/1932 und vom 13/02/1932.

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nur schwer vorantreiben, zumal die Franzosen gegenüber den Deutschen immer misstrauischer wurden. Aus diesen Gründen wurde auch der Ton der Sozialisten „nationalistischer“,280 obgleich sie weiterhin versuchten, ihren Landsleuten den Zusammenhang zwischen der deutschen Wirtschaftskrise und dem Erfolg Hitlers verständlich zu machen, und ebenfalls nach wie vor bestrebt waren, die Reparationen zu reduzieren, ohne sie aber komplett annullieren zu wollen.281 Allerdings stellten die Sozialisten auch fest, dass sich der Nationalismus zu einem immer größer werdenden Hindernis für eine deutsch-französische Verständigung entwickelte und dass ihre Deutschlandpolitik dadurch immer unrealistischer wurde. Léon Blum appellierte deshalb an Frankreich, der deutschen Regierung nachdrücklich verständlich zu machen, dass die Form und Höhe der französischen Hilfen von der innenpolitischen Entwicklung in Deutschland abhingen.282 L’Humanité bezeichnete die Konferenz von Lausanne schon im Vorfeld als eine „conférence impériale“,283 in deren Rahmen der „französische Imperialismus“ das „Reich“ zu „antisowjetischen Verschwörungen“ anstiften werde.284 Deshalb richtete sie an die Kommunistische Internationale erneut den bekannten Aufruf, „gegen die Not und gegen den Krieg zu kämpfen“.285 Maurice Thorez, Direktor der kommunistischen Partei und Mitarbeiter im Politbüro286, sah am 17. Januar 1932 anlässlich einer Parteiversammlung zur Besprechung der künftigen Wahlstrategie den „entscheidenden Moment“ für den Anstoß zur Revolution gekommen. Er stützte seine These dabei auf „die rasche Entwicklung der Krise“, die aus der „Ausraubung der durch den Versailler Vertrag versklavten Völker“ resultiere.287 In einer Diskussion über die Reparationen spielte er den Ball an alle „imperialistischen“ Länder zurück, die wie Frankreich, Deutschland, die USA oder England „in einer Offensive gegen die Arbeitermassen“ einen „Ausweg aus der Krise“ suchten und auf diese Weise eine „Intervention gegen die Sowjetunion“ vorbereiteten.288 Er rief zu „einer engen Solidarität des französischen mit dem deutschen Proletariat“ auf, sowie „zum Kampf gegen den Versailler Vertrag“ und „den Kopf der Gegenrevolution in Paris“, weil er Frankreich und nicht etwa Deutschland als das eigentliche gefährliche imperialistische Land betrachtete289, eine Idee übrigens, die alle Kommunisten teilten, auch wenn diese Abstufung zwischen den imperialistischen Ländern nur ein kleines Detail für sie war. Die

280 Vgl. Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 102. 281 Vgl. ebd., S. 80f. 282 Le Populaire vom 31/12/1931. Zitiert nach Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 128. 283 L’Humanité vom 09/05/1932. La crise et les conférences internationales. 284 Ebd. 285 Vgl. ebd. 286 Vgl. Gotovich: Komintern, S. 529ff. 287 IHP, Archives du Komintern (17/01/1932), S. 4. 288 Vgl. ebd., S. 22. 289 Vgl. ebd.n S. 19.

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einzig mögliche Lösung für die Reparationsfrage sahen sie deshalb „folgerichtig“ im Zusammenschluss des internationalen Proletariats. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Camille Loutre vom Petit Parisien sprach im Januar 1932 von einer „Reparationspsychose in Deutschland“, deren mehr psychologisches als materielles Gewicht den Reichskanzler dazu verleite, „das innenpolitische Chaos zu verschlimmern“ und die „bereits ernsthaft gespannte internationale diplomatische Lage zu verkomplizieren“.290 Auf außenpolitischer Ebene ließe sich die deutsche Regierung „von der Hitlerischen Bewegung überschwemmen“.291 Alles in allem diene die Wirtschaftskrise dem Reichskanzler dazu, die Reparationen zu verdammen und eine Gleichbehandlung in der Rüstungsfrage einzufordern. Eine Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen sei deshalb unvermeidlich: „Der Reiz ist verlorengegangen. Der Geist der Zusammenarbeit, den wir gestern noch betont haben, ist heute schon ernsthaft angegriffen und wird auch weiterhin angegriffen werden“.292 Ganz eindeutig gingen zwischen 1930 und 1932 die Meinungen der rechts stehenden Journalisten zu Deutschland in die entgegengesetzte Richtung wie die politisch links orientierten Pressevertreter. Sogar La Croix kritisierte jetzt offen die Außenpolitik der Regierung Brüning, distanzierte sich aber deutlich von den extremen Rechten, die in jeder politischen Maßnahme Deutschlands eine Verschwörung gegen Frankreich vermuteten. Jean Caret kritisierte nicht nur den Inhalt der deutschen Forderungen in der Reparationsfrage, sondern beurteilte die Haltung des Reichskanzlers insgesamt als problematisch, weil „es den Franzosen äußerst schwer fällt, allein schon die Art zu akzeptieren, wie die Deutschen die derzeit diskutierten Themen angehen“.293 Die Ankündigung Brünings, den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen zu können, bewertete Caret als „schweren Fehler in der aktuellen Situation“.294 Er war geradezu konsterniert, dass ein „so erfahrener katholischer Staatsmann wie der Kanzler Brüning“ zu einem so ungeschickten Vorgehen zurückgekehrt sei, das ihn „an den traurigen Moment der deutsch-österreichischen Zollunion“ erinnere.295

290 Le Petit Parisien vom 13/01/1932. Loutre, Camille: La psychose des réparations en Allemagne, S. 1 + 3. 291 Vgl. ebd. 292 Übersetzung des Zitats „Le charme est rompu […]. L’esprit de collaboration que nous soulignions hier, est déjà sérieusement battu en brèche et il va continuer à l’être“. Le Petit Parisien vom 10/02/1932. Jullien, Albert: A la conférence du désarmement les thèses s’affrontent, S. 1 + 3.. 293 Übersetzung des Zitats „il est très difficile aux Français d’admettre même la façon dont les Allemands posent les questions actuellement débattues“. La Croix vom 21/11/1931. Caret, Jean: Pour connaître l’Allemagne, S. 1. 294 Vgl. La Croix vom 16/01/1932. Caret, Jean: Réparations et dettes de guerre, S. 1. 295 Vgl. ebd.

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Der Ton im Matin wurde im Laufe des zweiten Kabinetts Brüning ebenfalls schärfer. Laut Stéphane Lauzanne werde eine allzu wohlwollende Deutschlandpolitik nur dazu führen, dass dieses Land noch gieriger werde.296 Seine Behauptung belegte er mit der Aufzählung von verschiedenen Ereignissen, die alle in der Regierungszeit Brünings stattgefunden hatten. Als Hauptbeispiel nannte er die vorzeitige Rheinlandräumung, die den Wahlerfolg der Nationalsozialisten im September 1930 verursacht habe. Er war überzeugt, dass Frankreich Garantien von Seiten der Regierung Brüning vermisse und dass es deswegen in der Reparationsfrage nicht nachgeben dürfe.297 Er formulierte damit die Mehrheitsmeinung der französischen Rechten Anfang 1932. Infolge der Ankündigung Brünings, die Reparationen überhaupt nicht mehr zahlen zu können, verlor der Kanzler definitiv sämtliche Sympathien bei den Journalisten des Matin, der nun umso mehr überzeugt war, dass es den Deutschen nicht an der Möglichkeit, sondern am Willen fehle, die Reparationen zu zahlen.298 Echo de Paris und die Action Française vertraten hier dieselbe Meinung wie der Matin, zeigten sich aber weit weniger überrascht als die Journalisten der rechten oder gemäßigt rechten Zeitungen. Die extrem rechts stehenden Autoren fühlten sich nur bestätigt und beschuldigten die französische Regierung, gegenüber den Deutschen zu milde aufzutreten: „Die Worte, die Kanzler Brüning an Sir Horace Rumbold, den englischen Botschafter, gerichtet hat, haben nichts anderes bewirkt, als eine Politik ans Tageslicht zu bringen, die wir bereits kannten, aber die meisten haben sie mit der Zeit vergessen, weil sie nicht öffentlich ans Licht kam. Das ist die bedauernswerte Folge der Räumung des Rheinlands.“299 Die Action Française hatte das schon 1931 geschrieben: „Die Annäherungs- und Versöhnungspolitik bringt nichts, sie ist reine Verschwendung, und alles, was wir den Deutschen zugebilligt haben, ist nichts anderes als Pulver, das man auf Spatzen schießt.“300

296 Vgl. Le Matin vom 08/01/1932. Lauzanne, Stéphane: Si on passait l’éponge sur les réparations, S. 1. 297 Vgl. ebd. 298 Le Matin vom 21/01/1932 und vom 22/01/1932. 299 Übersetzung des Zitats „Les paroles adressées par le chancelier Brüning à Sir Horace Rumbold, ambassadeur d’Angleterre, n’ont donc fait qu’illuminer une politique dont nous connaissons l’existence mais que certains se prenaient à oublier parce que, officiellement, elle évitait de se montrer au grand jour. Tel est l’aboutissement déplorable de l’évacuation du Rhin“. L’Echo de Paris vom 10/01/1932. Pertinax: Une déclaration sensationnelle du chancelier Brüning à l’ambassadeur d’Angleterre. L’Allemagne ne peut plus effectuer les paiements de réparations, soit aujourd’hui, soit dans l’avenir, S. 1 + 3. 300 Übersetzung des Zitats „[L]a politique de rapprochement et de conciliation n’est rien, elle est une pure perte, et tout ce qu’on a cédé aux Allemands n’a été que poudre jetée aux moineaux“. L’Action Française vom 13/06/1931. Des vœux pour le chancelier Brüning, S. 1.

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2.2.2 Abrüstung oder ein kriegslüsternes Deutschland? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Bertrand Nogaro sah in dem „Anspruch auf Gleichheit der Rechte“ nichts anderes als den Willen, die „Fähigkeit zum Wiederaufrüsten“ zu erlangen301, und fürchtete, dass Deutschland noch immer die Absicht habe, die Ostgrenzen zu revidieren.302 Darüber hinaus hatten die Radicaux-Socialistes das Gefühl, als Franzosen den anderen Nationen unterlegen zu sein.303 Sie erklärten sich „bereit, an einer gemeinsamen Organisation zur Verteidigung der Völker teilzunehmen“, die Frieden als Ziel verfolge, lehnten es aber ab, selbst abzurüsten, selbst wenn sie sich wünschten, ihre Verteidigungskräfte auf ein mit der Sicherheit Frankreichs kompatibles Mindestmaß zu reduzieren.304 Die Sozialisten von der SFIO bezogen hinsichtlich des Gesuchs von Seiten Deutschlands eine gemäßigtere Position als die Rechte oder die Radicaux-Socialistes. Im Populaire räumte man der gefeierten Rede Brünings in Genf viel Platz ein und zeigte Verständnis für dessen Ansinnen, das als „moralisch und juristisch“ fundiert betrachtet wurde.305 Gleichzeitig konnten die Sozialisten aber auch nicht ihre pazifistischen Überzeugungen verraten. Sie forderten darum eine allgemeine Abrüstung aller Länder, auch Frankreichs, als ein „élément essentiel, indispensable“ für eine friedliche Ordnung.306 So lässt sich auch der Widerstand der SFIO gegen den Tardieu-Plan erklären, als ein Symbol der gesamten französischen Sicherheitspolitik, die das aktuelle militärische Kräfteverhältnis bewahren wollte.307 Die Radicaux-Socialistes standen in diesem Punkt den Rechten näher und begrüßten den Tardieu-Plan, während die Kommunisten wiederuum darin das Vorhaben sahen, eine „armée blanche internationale“308 zu gründen, die das Ziel habe, die Sowjetunion anzugreifen.309 Die Kommunisten warfen sämtlichen Teilnehmern an der Konferenz Heuchelei und

301 L’Ere Nouvelle vom 02/02/1932. Nogaro, Bertrand: Face à l’Allemagne. Face au monde, S. 1. 302 Vgl. ebd. 303 „Il nous faut prendre position devant des adversaires astucieux, et devant une galerie qui ne nous est pas, dans l’ensemble, bien favorable“. L’Ere Nouvelle du 02/02/1932. Ebd. 304 Übersetzung des Zitats „disposés à participer [...] à une organisation collective de la défense des peuples“. Vgl.ebd. 305 Le Populaire vom 10/02/1932. Brüning demande le désarmement général. 306 Bulletin Mensuel du Service de Documentation, Juli–August 1931. Pour mesurer la crise, S. 11–12. 307 Vgl. La Vie Socialiste vom 16/04/1932. Bobin, Robert: La Vie Internationale [Rubrik]. Bulletin de la semaine. De Berlin à Genève, S. 11. 308 L’Humanité vom 07/02/1932. Péri, Gabriel: A Genève: Les projets de Tardieu–Boncour. 309 Zentrales Charakteristikum der französischen Politik war für die Kommunisten „l’agressivité de l’impérialisme français contre l’Union soviétique“ (Thorez). Vgl. IHP, Archives du Komintern vom 17/01/1932. S. 23.

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Unehrlichkeit vor310 und priesen wieder einmal das Bild des Arbeiters an, der als einziger in der Lage sei, die Welt zu verändern.311 Grundsätzlich gewinnt man den Eindruck, dass der erstarkende Nationalsozialismus die französischen Linken bewog, Deutschland mehr Konzessionen machen zu wollen, sie aber gleichzeitig so sehr beunruhigte, dass sie daran gehindert wurden, sich in aller Freiheit für Deutschland zu engagieren. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Das Wohlwollen der rechten Journalisten, das schon durch die Reparationsfrage nachgelassen hatte, verschwand endgültig in ihren Artikeln über die deutsche Abrüstung. Aus Anlass der Genfer Konferenz im Februar 1932 porträtierte der Petit Parisien Heinrich Brüning als einen „ewigen“ Deutschen und verschlagenen Verhandlungspartner: „Als der erste deutsche Delegierte heute Morgen das etwas zu hell beleuchtete Podium mit blinzelnden Augen hinter seiner Brille mit Goldfassung betrat, sah man sofort, dass er nicht mit gesenktem Kopf gegen die französischen Vorschläge anlaufen würde und dass er mit einer Engelsgeduld der teuflischen Verführung widerstehen werde, offen zu sprechen“.312 Der Reichskanzler habe den Versailler Vertrag „mit einer Vehemenz“ verurteilt, „die mit der kaschierenden Art und dem recht gemäßigten Charakter seiner restlichen Rede kontrastiert“.313 La Croix blieb ihrem Ideal treu, die „materielle Macht der Waffen“ durch die „moralische Macht des Rechts“ zu ersetzen, weswegen sie auf die Katholiken in Europa setzte und deswegen auch die Hoffnung auf den guten Willen der deutschen Regierung nicht aufgab.314 Insgesamt differenzierte die Mitterechts-Presse immer weniger zwischen den außenpolitischen Zielen Brünings und Hitlers, obwohl sie Letzteren immerhin als noch gefährlicher einstufte. Beim Thema Abrüstung blieb auch Le Temps überzeugt, dass eine Zusammenarbeit nur 310 Maurice Schumann warf Frankreich vor, von der Rüstung zu profitieren: „[L]a fabrication du matériel de guerre se solde annuellement pour les munitionnaires français par un bénéfice net de 800 millions“. Monde vom 06/02/1932. La Semaine Economique [Rubrik]: L’incident Brüning et la confiance, S. 15. 311 Die Versammlung „de convoitises et d’hypocrisies“ verdiene nicht „l’attention des travailleurs que pour une seule raison: l’événement devrait [...] leur enseigner à ne compter que sur eux–mêmes“. Monde vom 13/02/1932. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unter– Rubrik]: Le cas Hitler et l’élection présidentielle du Reich, S. 14. 312 Übersetzung des Zitats „Lorsqu’il apparut ce matin, sur l’estrade trop illuminée, les yeux clignotants derrière les lunettes à fil d’or, on comprit tout de suite que le premier délégué allemand ne foncerait pas tête baissée contre le projet français et qu’il résisterait avec une patience d’ange aux tentations diaboliques du franc–parler“. Le Petit Parisien vom 10/02/1932. Romier, Lucien: Egalité dit le Dr Brüning, S. 3. 313 Übersetzung des Zitats „avec une vigueur qui contraste avec la forme enveloppée et le tour relativement modéré du reste de son discours“ . Le Petit Parisien vom 10/02/1932. Jullien, Albert: A Genève, le chancelier réclame la parité des armements, S. 1 + 3. 314 La Croix vom 28/11/1931. Les catholiques et la question du désarmement, S. 1.

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mit Brüning möglich sei: „Wenn man die nötigen Vorsichtsmaßnahmen trifft, kann man mit einem Partner, der eine politische und soziale Doktrin hat, verhandeln und zusammenarbeiten, auch wenn es sich bei dieser Doktrin um eine absolute handelt, aber es kann keine sinnvolle Zusammenarbeit mit einer disparaten Masse geben, die weder Prinzipien noch eine Doktrin hat und sich in großer moralischer Verwirrung befindet und, man kann es so sagen, Opfer einer Mystik ist, die sie zu äußerst gefährlichen Unternehmungen drängt.“315 Aus der Sicht der extremen Rechten verfolgte jeder deutsche Politiker kriegerische Ziele, die Teil seiner „nationalen Psychologie“ waren. L’Echo de Paris belegte diese These immer wieder mit der Veröffentlichung von Fotos aus dem „pazifistischen Deutschland“. Auf diesen Bildern sah man dann Manöver der Reichswehr, Aufmärsche des Stahlhelms oder der SA, womit man auch die heimliche Aufrüstung in Deutschland belegen wollte.316 Gleichzeitig erhöhten sie die Anzahl von Artikeln über sämtliche deutsche Parteien, die ohne Ausnahme als „revisionistisch“ und „pangermanisch“ verurteilt wurden. Letztlich wurde sogar die SPD von der Action Française und dem Echo de Paris in die Kategorie kriegslüsterner Parteien eingeordnet, weil beide Zeitungen den sozialdemokratischen „Verrat“ von 1914 nicht vergessen konnten. Adolf Kimmel hat bereits anschaulich gezeigt, dass die extreme Rechte in Frankreich die in der politischen Mitte stehenden deutschen Parteien als gefährlicher und berechnender als die NSDAP einstufte, weil sie angeblich ihre „wahren Absichten“ hinter einer klugen und pazifistischen Maske versteckten.317 Brüning galt als ein Politiker, der den deutschen Nationalismus kanalisierte und damit die Bereitschaft für potentielle Angriffe erhöhte. Nach den Reichspräsidentenwahlen schrieb der Echo de Paris dazu: „Die Regierung um Hindenburg und Brüning verdient es nicht, dass man ihr Zugeständnisse macht, vor allem im militärischen Bereich, weil sie gegenüber der aufbrausenden, blinden, impulsiven und ungeduldigen Revanche eine vorausschauende, organisierte und kalkulierte Revanche vertritt. Hitler und seine Anhänger können in der unmittelbaren Zukunft Sorgen und Gefahren auslösen. Aber die Gefahr, die von ihren Gegnern ausgeht, ist langfristig auf andere Weise ernst

315 Übersetzung des Zitats „On peut discuter et coopérer, en prenant des précautions nécessaires, avec un parti ayant une doctrine politique et sociale, même si cette doctrine se traduit par des formules absolues, mais aucune coopération utile n’est possible avec une masse disparate n’ayant ni principes ni doctrine, s’agitant en plein désarroi moral, victime, peut–on dire, d’une mystique la poussant aux expériences les plus dangereuses“. Le Temps vom 27/04/1932. L’hitlérisme, danger européen, S. 1. Zu René Lauret (1882–1975): Wichtigster Deutschlandreporter der Zeitung, Journalist und Mitglied der Société des Gens de Lettres; Offizier der Légion d’honneur; Studium an den Universitäten in Leipzig, Montpellier und Nancy. „Licencié ès lettres“, „agrégé“ in Germanistik, unterrichtete bis 1910. Anschließend Journalist für Paris Journal, Excelsior, Matin, l’Oeuvre und Le Temps. Er widmete Deutschland den Hauptteil seines literarischen Werkes. 316 Vgl. zum Beispiel die Action Française vom 01/03/1932. En Allemagne pacifiste [Foto], S. 1. 317 Kimmel: Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 49.

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zu nehmen.“.318 Hitler und Brüning seien dieselben, sie unterschieden sich nur in ihren Methoden – so lautete die Botschaft der extremen Rechten im Frühjahr 1932. 2.2.3 Das Rätsel der deutsch-französischen Beziehungen Vu brachte im April 1932 eine Sonderausgabe über „L’Enigme d’Allemagne – Das Rätsel Deutschlands“ heraus,319 um dieses Rätsel, das „heute noch viel unklarer als jemals“ erschien, zu lösen. Dafür sollte der immer „stärker betonte Gegensatz“ zwischen Deutschland und Frankreich analysiert werden sowie „die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit“ Deutschlands von Frankreich durch „die Folgen des Krieges“. Außerdem sollte die „Notwendigkeit des Austauschs“, die sich aus der Nachbarschaft beider Länder ergebe, näher unter die Lupe genommen werden, auch die Krise, die nach einer raschen Lösung verlange und Frankreich zwinge, die Lage in Deutschland besser kennen zu lernen, also „seine Ressourcen, seine Schwächen, seine eigentlichen Neigungen“ und schließlich auch seine „wahre Haltung gegenüber Frankreich“.320 In dieser Aufzählung sind schon alle Probleme enthalten, die sich in den deutsch-französischen Beziehungen angesammelt hatten. Um so verdienstvoller war es, dass Paul Painlevé321 in dieser Sonderausgabe nach intellektuellen Gemeinsamkeiten von Franzosen und Deutschen suchte. Painlevés große Hoffnung gründete auf der Zusammenarbeit von deutschen und französischen „Genies“ im Bereich der Wissenschaften, Mathema-

318 Übersetzung des Zitats „Le gouvernement Hindenburg et Brüning ne mérite pas que des concessions lui soient accordées surtout en matière militaire, parce que, vis–à–vis de la revanche tumultueuse, aveugle, impulsive, impatiente, il représente, lui, la revanche prévoyante, organisée, calculée. Les hitlériens, dans l’avenir immédiat, peuvent susciter des craintes et des dangers. Mais le péril, à plus longue échéance, qui procède de leurs adversaires, est autrement sérieux“. L’Echo du Paris vom 14/03/1932. Il y a ballottage pour l’élection présidentielle allemande, S. 1 + 3. Vgl. außerdem den Echo de Paris vom 24/03/1932, vom 11/04/1932 und vom 25/04/1932. 319 Vu, April 1932. Sonderausgabe zum Thema L’Enigme Allemande. [Fotoserie von Brüning] 320 Vgl. ebd. Aufzählung aus dem Einleitungstext der Sonderausgabe. 321 Paul Painlevé (1863–1933): Berühmter Mathematiker, dem die Académie des Sciences 1890 den Grand Prix des Sciences Mathématiques verlieh. Titularprofessor für allgemeine Mathematik an der Sorbonne und Professor an der École Polytechnique. Mitglied der Académie des Sciences seit 1900, seit 1918 ihr Präsident. Painlevé wurde 1910 als radikal–sozialistische Pariser Abgeordneter gewählt und 1914 als „Républicain Indépendant“ wiedergewählt. 1917 wurde er Kriegsminister. Mit Herriot und Blum war er einer der Chefs der linken Opposition gegen die Mehrheit des Bloc National. 1921 wurde er zum Chef der Ligue de la République, die er gegründet hatte und wo er sich mit Herriot engagierte. 1923 nahm er mit den Radicaux und den Sozialisten an der Gründung des Cartel des Gauches teil. 1925 wurde er Präsident und noch einmal Kriegsminister von 1925 bis 1929. 1930 bis 1933 übernahm er (mit einigen Unterbrechungen) den Posten des Luftfahrtministers.

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tik und Philosophie, wo sie sich immer „ergänzt“ hätten.322 Raymond Aron von Europe glaubte, dass die Deutschen anfingen, nicht mehr auf eine Verständigung mit Frankreich und einer Realisierung ihrer Forderungen zu hoffen, und dass sie deswegen immer mehr auf „Gewaltlösungen“ setzten.323 Aber noch viel schlimmer erschien ihm, dass „alle am Ende überzeugt wären, dass ihr ganzes Unglück ein Ende nehmen werde, wenn Frankreich nur wolle“, und dass dieser Eindruck und diese Resignation „für die ‚Hitlériens’ arbeitet wie ein nationaler Weckruf“.324 In dieser Situation erschien ihm Brüning „machtlos“, weil er es ablehne sich ehrlich mit den Verteidigern der Republik zusammen zu tun, und weil er vielleicht auch keine klare Position gegen die Rechten beziehen könne, „außer wenn ihn große Erfolge in der Diplomatie stärken und somit den Massen das Vertrauen auf progressive Lösungen zurückgeben würden oder wenn eine Verbesserung der Krisenlage Hoffnung brächte…“.325 Das ehemalige Misstrauen gegenüber Deutschland, das vorübergehend durch die Politik Stresemanns und durch den Eindruck, den Brüning bei seinen Gastgebern in Paris hinterließ, nachgelassen hatte, vermischte sich in den letzten Monaten der Regierung Brüning mit einer gewissen Unsicherheit und Angst vor einem „faschistischen“ Deutschland. Diese Mixtur ergab in der Wahrnehmung des deutschen Nachbarn das „Rätsel“: „Der Schlüssel für diese Situation liegt in Deutschland. Aber vor welchem Deutschland wird man stehen?“326 Heinrich Brüning gewann durch sein Spiel mit der Angst vor der Errichtung einer rechtsextremistischen Diktatur in Deutschland an Wert für die französischen Sozialisten, für die seine Politik doch die einzig mögliche Alternative für eine Fortsetzung der deutsch-französischen Beziehungen war.327 Genau diese Angst vor einer deutschen Diktatur hemmte die Linken aber auch in ihrem Engagement für Zugeständnisse an Deutschland. L’Ere Nouvelle beschrieb diesen Zwiespalt am 31. Mai 1932 wie folgt: „Ohne die fortwährenden Erfolge Hitlers und seiner Anhänger hätte Brüning wohl zweifellos das Programm zur Zusammenarbeit und zur Annäherung, für die er den Grundstein mit den Herren

322 Painlevé: Génie Allemand, Génie Français. In: Vu, April 1932. Sonderausgabe zum Thema L’Enigme Allemande. 323 L’Europe vom 15/02/1932. Aron, Raymond: Nouvelles perspectives allemandes, S. 295ff. 324 Vgl. ebd. 325 Übersetzung des Zitats „à moins que des succès diplomatiques éclatants ne le rendent fort en redonnant à la masse confiance dans les solutions progressives, à moins qu’une amélioration de la crise ne ramène l’espoir...“. Ebd. 326 Übersetzung des Zitats „La clef de la situation est en Allemagne [...]. Mais devant quelle Allemagne se trouvera–t–on [...] ?“. Auszug aus einer Rede von Marcel Déat am zweiten Tag des Kongresses seiner Partei (30/05/1932), veröffentlicht in La Vie Socialiste vom 11/06/1932. Le XXIXe Congrès du Parti: La deuxième journée du congrès, S. 14ff.. 327 Einige Zeitungen nannten Brüning bis zum Ende seiner Amtszeit „le continuateur de Stresemann“. Vgl. l’Œuvre vom 31/05/1932. Après ses deux entretiens avec le Président Hindenburg, le chancelier Brüning démissionne, S. 1.

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Laval und Briand bei deren Besuch in Berlin gelegt hatte, erfolgreich weiterentwickeln können.“328 Für die Kommunisten (die relativ gemäßigte Zeitung Europe ausgenommen), für die die einzig akzeptablen deutsch-französischen Beziehungen ohnehin nur auf Arbeiterebene verliefen, hatten alle „offiziellen“ Versuche der Versöhnung nicht einmal genug „Wert“, um sich näher damit zu beschäftigen, zumal sie nach Ansicht der Kommunisten nur der Vorbereitung einer „geschlossenen antisowjetischen Front“ dienten.329 Eine Partei, die Aristide Briand als „Briand-la-guerre“330 angriff, konnte nicht einmal den Versuch einer neutralen Bewertung der deutschfranzösischen Beziehungen unter Brüning wagen. Das traf allerdings auch auf die Zeitungen der extremen Rechten zu. In der rechten Mitte ließ der Petit Parisien keinen Zweifel daran, dass sich seit 1930 in Deutschland wieder anti-französische Ressentiments ausbreiteten.331 Je weiter rechts die Beobachter standen, desto weniger betrachteten sie Deutschland als ein Rätsel. Sie sahen nur eine Fortsetzung dessen, was Deutschland schon immer für sie war. 3. Brüning in der Vorstellungswelt der Parlamentarier Die Abgeordneten und Politiker waren, wie bereits festgestellt werden konnte, wahre Feuerwerker der französischen Vorstellungswelt im Hinblick auf Deutschland. Im Kontext der internationalen Politik war ihr Umgang mit spezifisch französischen Anliegen wie ihrem Sicherheitsbedürfnis oder dem Wunsch nach finanzieller Wiedergutmachung (trotz der progressiven Wende von einer traditionellen Machtpolitik hin zu einer wachsenden Akzeptanz internationaler und multilateraler Regelungen)332 immer eng an ihre Wahrnehmung Deutschlands gebunden. Ihre politischen Konzeptionen – ob sie nun nationalistisch, patriotisch, pazifistisch oder international ausgerichtet waren – bildeten eine Gemengelage mit ihren Deutschlandbildern. Nicht zuletzt hemmte diese Vorstellungswelt ihr Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie und der politischen Interessen Heinrich Brünings – eine intellektuelle Fessel also, die ja auch die französischen Journalisten und Intellektuellen prägte. Der inhaltliche Reichtum der parlamentarischen Debatten zwingt hier wieder zu einer separaten thematischen Behandlung des Zustands 328 Übersetzung des Zitats „Sans les progrès constants des Hitlériens [...] Brüning eût peu, sans doute, développer avec fruit le programme de coopération et de rapprochement dont il avait jeté les bases avec MM. Laval et Briand lors de leur voyage à Berlin“. L’Ere Nouvelle vom 31/05/1932. Dernières Nouvelles [Rubrik]: Le départ de Brüning et l’opinion allemande, S. 3. 329 L’Humanité vom 27/03/1931. Pour étouffer le PC allemand Brüning veut décréter une „trêve politique“. 330 Briand–la–guerre s’en va. In: L’Humanité vom 11/02/1932. Péri, Gabriel: Les cercles dirigeants français préconisent des mesures de force contre le peuple allemand, S. 1. 331 Le Petit Parisien vom 03/04/1932. Roubaud, Louis: Visions d’Allemagne, S. 1. 332 Vgl. hierzu Jackson: France, S. 247ff.

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der deutsch-französischen Beziehungen, der Reparationen, der Abrüstung und der deutsch-österreichischen Zollunion als Wendepunkt in der französischen Wahrnehmung Brünings. Besonders interessant ist allerdings, dass die Parlamentarier manchmal selbst den Einfluss anderer Faktoren wie der Innenpolitik oder der Bilder von den Anderen auf ihre Deutschlandpolitik thematisierten. 3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931) 3.1.1 Brüning, die Reparationen und die Abrüstung: Eine Frage des Vertrauens a) Von der linken Mitte zur extremen Linken „Es ist klar, dass der springende Punkt der Situation in Europa die deutschfranzösischen Beziehungen sind.“333 In einem einzigen Satz machte der radikalsozialistische Abgeordnete Emil Borel am 24. Juni 1931 deutlich, wie wichtig die parlamentarischen Debatten zum Thema Deutschland waren. Am 5. April 1930 widmete der Senat zwei Sitzungen der Frage nach einer definitiven Regelung der Reparationen. Charles Dumont, Referent der Commission des Finances und Mitglied der Fraktion der Radicaux, beschrieb Deutschland in seiner Rede über die Notwendigkeit, das Haager Abkommen zu ratifizieren, als ein Land, das durch die Last der Reparationen keineswegs geschwächt worden sei.334 Er behauptete sogar, dass der Dawes-Plan den Deutschen ganz im Gegenteil seine „Stärke“ und seine ganze „Vitalität“ gelassen habe. Die deutschen Wirtschafts- und Finanzprobleme resultierten vielmehr aus der Verschwendung, zu hoher Anleihen (unter anderem für den Militärhaushalt) und der Böswilligkeit der deutschen Regierungen. So stellte er weiter fest, „dass es den Dawes-Plan nicht mehr gibt, nicht weil er seinen Zweck nicht mehr erfüllt hat, sondern weil Deutschland wollte, dass er außer Kraft gesetzt wird.“335 Eine neue Ratifizierung des Haager Abkommens sei für ihn deshalb ein ausreichender Beweis für die „vorausschauende Solidarität“ Frankreichs mit Deutschland und für seine Bereitschaft zur „Annäherung und Versöhnung“.336 Seine Erwartungen an die Dankbarkeit der deutschen Regierung waren immens, sah er doch jetzt in der „Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit und dem guten Willen Deutschlands“ die einzige verblei-

333 Übersetzung des Zitats „Il est certain que le nœud de la situation européenne se trouve dans les relations franco–allemandes“. Emile Borel in der Commission des Affaires Etrangères. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 24/06/1931, S. 3. 334 Debatte im Senat vom 05/04/1930. Annales, Bd. 116, S. 943. 335 Übersetzung des Zitats „que le plan Dawes a disparu, non pas parce qu’il avait épuisé sa vertu, mais parce que l’Allemagne a voulu qu’il cessât de fonctionner“. Ebd. 336 Vgl. ebd.

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bende Garantie für die durch den Young-Plan festgeschriebenen Zahlungen.337 Während seines gesamten Auftritts im Senat jonglierte Dumont mit der „Ehrlichkeit Deutschlands“, die er stets mit einem Konjunktiv versah, so als könne er sich kaum selbst dazu bringen, Vertrauen in den guten Willen des Nachbarlandes zu gewinnen. Er gab vor, als gutes Beispiel voranzugehen, aber ohne jeden Enthusiasmus: „Solange wir es können werden wir als hartnäckige Gläubige dem Weg des Vertrauens folgen.“338 Brüning und seine Politik hatten offensichtlich schon seit Beginn seiner Amtszeit einen schweren Stand, selbst bei den Radicaux. Dies zeigte sich noch deutlicher bei anderen radikalen Abgeordneten, die, geprägt durch das Bild eines doppelten Deutschlands und trotz ihrer Tendenz, das „gute Deutschland“ zu unterstützen, sich nicht davon abhalten konnten oder wollten, die Angst vor der düsteren Seite der deutschen Nachbarn zu schüren: „Weil ich mehrmals in Deutschland war und weil ich dort versucht habe, meine Beobachtungsgabe zu nutzen, glaube ich, dass ein großer Teil Deutschlands friedfertig ist und den Krieg ablehnt; aber ich konnte gewiss auch nicht übersehen, dass ein anderer Teil Deutschlands aktiv und lautstark danach trachtet, die Grenzen Deutschlands neu zu ziehen.“339 In ihrer Wahrnehmung gab es immer auch ein „unersättliches“ Deutschland, das „schuld am Krieg“ und wenig vertrauenswürdig war und ganz bewusst Frankreich betrog – trotz der „pathetischen“ Reden Heinrich Brünings.340 Im Zusammenhang mit der französischen Außenpolitik verwendete auch Aristide Briand das Bild des doppelten Deutschlands, allerdings hauptsächlich in Form von Vorwürfen gegen die rechten Abgeordneten wie Henry FranklinBouillon. Nach Ansicht des Ministers war der Abgeordnete der Gauche unioniste et sociale ziemlich kurzsichtig, was Deutschland betraf: „Denn für ihn gab es nichts anderes als ein doppeltes Deutschland: das eine gewaltbereit, brutal, das alles zerstören will; das andere vorsichtig, einfallsreich und unaufrichtig. Dazwischen irgendwo ein paar kleine Gruppen.“341 Briands Kritik war überaus vielsagend: „Aber das sind keine kleinen Gruppen, meine Herren. Sechs oder sieben Millionen Menschen stehen für dieses gewaltbereite und brutale Deutschland, aber glücklicherweise gibt es auch eine sehr große Zahl Deutscher, die dieser Ge-

337 Vgl. ebd., S. 947. 338 Übersetzung des Zitats „Tant que nous le pourrons, nous suivrons, en croyants obstinés, le chemin de la confiance“. Ebd., S. 950. 339 Übersetzung des Zitats „Je crois, pour être allé plusieurs fois en Allemagne, pour avoir essayé d’y exercer mes facultés d’observation, qu’une grande partie de l’Allemagne désire la paix et répudie la guerre; mais je ne puis pas ne pas voir qu’une autre partie de l’Allemagne, active, certes, et combien bruyante, songe à refaire la carte de l’Allemagne“. Debatte im Senat vom 05/04/1930 (2. Sitzung). Annales, Bd. 116, S. 976. 340 Henry Lémery in der Debatte im Senat vom 30/06/1931. Annales, Bd. 120, S. 1342ff. 341 Übersetzung des Zitats „[C]ar, pour lui, il n’y a pas autre chose que deux Allemagnes: l’une, violente, brutale, qui veut tout briser; l’autre, prudente, astucieuse et sans bonne foi. Puis au milieu, vaguement, quelques petits groupes“. Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 104.

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sinnung sehr fern stehen.“342 In der briandistischen Wahrnehmung Deutschlands gab es auch „deux Allemagnes“, aber sie unterschieden sich bei ihm in Größe und Geist fundamental. Dass die „guten“ Deutschen offensichtlich den „Hintergedanken“ hatten, „das Schicksal Deutschlands zu verbessern“, verängigste ihn nicht, weil „sie sich nicht versteck[t]en“ und „sich regelmäßig über dieses Thema in der Presse äußerten“.343 Die Deutschen seien „parlamentarische Nationalisten“, scherzte Briand in der Chambre des Députés.344 Aus seiner Sicht spielte Deutschland mit offenen Karten und stellte auch kein Hindernis für die deutschfranzösische Annäherung dar. Sobald er selbst Zweifel an der Außenpolitik der Regierung Brüning formulierte, fegte er sie zugleich wieder vom Tisch: „Stresemann hat sich weiterentwickelt, warum sollte sich Curtius nicht weiterentwickeln?“.345 Seine Wertschätzung für Brüning wurde Anfang 1931 in einer Sitzung der Commission des Affaires Etrangères wieder deutlich, als er auf die Attacken der Rechten antwortete: „Herr Brüning verkündete im Reichstag, dass sein Land keine Abenteuer eingehe, dass seine Regierung Maßnahmen ergreife, um es vor solchen [aus dem Umfeld Hitlers initiierten] Aktionen zu schützen. Ich muss sagen, dass die Regierung Brüning während ihres ganzen Mandats sich immer einer schwierigen Situation gegenübersah. Ich hörte, wie die Redner am Pult uns eindringlich vor der drohenden Gefahr warnten. Die deutsche Regierung hat ihre Pflicht erfüllt und vernünftige Bedingungen beibehalten“.346 Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Regierung Brüning und Frankreich waren für Briand ein Grund mehr, mit seiner Politik der Annäherung fortzufahren.347 Angesichts der Beschuldigungen von Seiten der französischen Rechten verteidigte der sozialistische Abgeordnete Salomon Grumbach vor der Commission des Affaires Etrangères ebenfalls die Aufrichtigkeit Brünings und dessen Willen, vertragskonform zu handeln: „Der Reichskanzler hat nicht gesagt, dass Deutschland entschlossen sei, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Er hat im 342 Übersetzung des Zitats „Mais ce ne sont pas des petits groupes, messieurs. Il y a six ou sept millions de gens représentant l’Allemagne violente et brutale, mais il y a aussi un très grand nombre d’autres Allemands qui heureusement, sont loin de partager un tel état d’esprit“. Ebd. 343 Vgl. ebd. 344 Vgl. ebd. 345 Übersetzung des Zitats „Stresemann a évolué, pourquoi Curtius n’évoluerait–il pas ?“ Ebd., S. 104f. 346 Übersetzung des Zitats „M. Brüning a déclaré, au Reichstag, que son pays n’irait pas à des aventures, que son Gouvernement prenait des dispositions pour le mettre à l’abri de ce genre d’opérations [hitlériennes]. Je dois dire que depuis qu’il existe, le gouvernement Brüning a fait face à une situation critique. J’ai entendu, à la tribune, des orateurs nous signaler véhémentement ce danger menaçant. Le gouvernement allemand a fait son devoir et maintenu des conditions raisonnables“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 09/02/1931, S. 41. 347 Briand erklärte seine Sichtweise so: „Mais, rompre, se détourner d’un voisin, parce que, sur certains points, il n’est pas d’accord avec vous, ce serait à mon avis la plus détestable des politiques.“ Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1418.

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Reichstag und zu anderen Anlässen gesagt, dass Deutschland fest entschlossen sei, jedes Abenteuer abzulehnen, seinen Verpflichtungen nachzukommen bis zu dem Zeitpunkt, an dem es durch neue Verhandlungen neue Bedingungen aushandeln könne. Das heißt, dass es seinen Verpflichtungen nachkommen wird.“348 Er warf dem Kriegsminister André Maginot vor, noch 1931 von Deutschland als einem Angreifer zu sprechen – eine Bezeichnung, die aus seiner Sicht nicht mehr zutraf.349 Ausgehend von seinem Bild eines zweifachen Deutschlands sah er im März 1931 den Moment für Deutschland gekommen, seinen Friedenswillen zu demonstrieren und die Ungleichheit auf militärischer Ebene vorübergehend zu akzeptieren: „Du, deutsches Volk, das wir nie mit denen verwechselt haben, die bei dir die erdrückende Verantwortung für 1914 tragen, du kannst nun zum Weltfrieden einen unschätzbaren Beitrag leisten, indem du aus freien Stücken die eindeutige Ungleichheit annimmst, denn diese Ungleichheit führt zu einer allgemeinen Abrüstung.“350 Grumbach billigte hier der Regierung Brüning das Potential zu einer „positiven“ Entwicklung zu. Der Kommunist Jacques Doriot verurteilte die französische Reparationspolitik als imperialistisch und „internationale Wegelagerei“, die Deutschland in Schwierigkeiten und Europa in Gefahr gebracht habe: „Aus Ihrer Politik ergibt sich ein entsetzliches Elend für die Volksmassen der besiegten Länder und unzählige, immer größere Kriegsgefahren.“351 Das „internationale Proletariat“ sei das Opfer des Young-Plans, dieser „Kriegsmaschinerie“, die den deutschen Kapitalisten einen Vorteil verschafft habe, weil sie sich aus der Affäre ziehen konnten, indem sie ihr Kapital ins Ausland brachten.352 Schlussendlich habe das kapitalistische und imperialistische Bürgertum beider Länder Hand in Hand gearbeitet, um die Gesamtheit ihrer Arbeiter auszuhungern.353 Wieder einmal ordneten die Kommunisten den Reichskanzler gänzlich undifferenziert in die Kategorie der weltweiten kapitalistischen „Verbrecher“ ein.

348 Übersetzung des Zitats „Le Chancelier n’a pas dit que l’Allemagne était décidée à ne pas tenir ses engagements. Il a dit, au Reichstag et ailleurs, que l’Allemagne était bien décidée à refuser toute aventure, à tenir ses engagements jusqu’au moment où, par de nouvelles négociations, elle pourrait obtenir de nouvelles conditions. Cela signifie que l’on tiendra ses engagements“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 09/02/1931, S. 46. 349 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (1. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1401. 350 Übersetzung des Zitats „Toi, peuple allemand, que nous n’avons jamais confondu avec ceux qui chez toi portent la responsabilité écrasante de 1914, tu peux rendre actuellement à la paix du monde un service inappréciable en acceptant librement cette inégalité certaine, parce que cette inégalité doit amener un désarmement général“. Ebd., S. 1402. 351 Übersetzung des Zitats „Il résulte de votre politique une misère effroyable pour les masses des pays vaincus, des dangers de guerre innombrables et grandissants“. Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 166, S. 88. 352 Vgl. ebd., S. 89. 353 Vgl. ebd.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Selbstverständlich beschäftigten die beiden großen Themen – Sicherheit und Reparationen −, die der Finanzminister Pierre-Etienne Flandin als eine „peau de chagrin – ein Chagrinleder“354 bezeichnete, die rechten Abgeordneten genauso wie die Linken. Das Vertrauen in Deutschland, das schon von linken Abgeordneten wie Charles Dumont oder Henry Lémery in Frage gestellt wurde,355 war in den Reden der Rechten quais inexistent, wie die Auftritte von den Abgeordneten Louis Méjean (Gauche républicaine démocratique), Maurice Hervey356 oder Alexandre Millerand357 belegen. Die Anhänger des politischen Katholizismus bildeten allerdings eine Ausnahme. Trotz seiner scharfen Kritik an der deutschen Revisionspolitik, die er als „eine Politik, die die Realität herausfordert“, verurteilte, setzte Ernest Pezet sein ganzes Vertrauen in Heinrich Brüning: „Wir, meine Freunde und ich, schätzen das große Gewissen von Herrn Reichskanzler Brüning sehr; wir sind zu sehr überzeugt, dass das Zentrum und die deutsche Sozialdemokratie die Einrichtung des Friedens und die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich aufrichtig anstreben, um nicht einen Moment lang zu glauben, dass sie sich bewusst entschließen könnten, in den außenpolitischen Angelegenheiten diese Politik des Schlimmsten und der Abenteuer zu praktizieren, die die Masse der Wähler Hitlers innerhalb Deutschlands umgesetzt hat – und das zu Deutschlands Nachteil.“358 Pezet benutzte hier noch etablierte Deutschlandbilder, um sein Politikkonzept gegenüber Deutschland zu begründen: Er spielte auf ein Deutschland an, das auf der Suche nach sich selbst sei, was sich durch sein „besoin perpétuel de ’devenir’” – immerwährendes Bedürfnis etwas zu ‚werden’“359 und eine „imprudente mystique – unvorsichtige Mystik“360 äußere – zwei Anspielungen, die das Bild eines zweifachen Deutschlands erkennen lassen. Das Gewicht der beruhigenden Seite Deutschlands wog allerdings in der Wahrnehmung Pezets schwerer, weil er an die Möglichkeit glaubte, die Deutschen über den französischen Wunsch nach Annäherung und Frieden „aufzuklären“. Er schien absolut von der Bereitschaft Brü-

354 355 356 357 358

Debattte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 700. Vgl. Debatte im Senat vom 05/04/1930 (2. Sitzung). Annales, Bd. 116, S. 973. Vgl. ebd., S. 946. Debatte im Senat vom 05/04/1930 (2. Sitzung). Annales, Bd. 116, S. 987. Übersetzung des Zitats „Nous avons, mes amis et moi, trop d’estime pour la haute conscience de M. le chancelier Brüning; nous avons une conviction trop assurée que le centre allemand et la social–démocratie allemande souhaitent sincèrement l’organisation de la paix et la coopération franco–allemande pour penser un instant qu’ils se résoudront à pratiquer délibérément à l’extérieur cette politique du pire et de l’aventure qu’une foule d’électeurs de Hitler vient de pratiquer follement à l’intérieur de l’Allemagne et à son détriment“. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 44. 359 Ebd., S. 45. 360 Ebd., S. 44.

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nings für eine deutsch-französische Zusammenarbeit überzeugt zu sein.361 Seine gesamte Rede war recht abstrakt und mit Bildern und Metaphern gespickt, mit denen er seinen Appell zur aktiven Suche nach einer „politique de compréhension, de conciliation, d’apaisement – Politik der Verständigung, des Ausgleichs und der Beruhigung“ und „friedlichen Lösungen“ rechtfertigen und untermauern wollte.362 Da ihm aber auch ein Krieg möglich schien, forderte er einen „acte de foi“ von der deutschen Regierung.363 Georges Scapini von der Action démocratique et sociale glaubte nicht „an einen erwiesenen Willen zum Krieg“, fürchtete sich aber – wie der Universitätsprofessor Bernard Lavergne – vor „der Möglichkeit eines Unfalls“.364 Für den Abgeordneten Louis Delsol dagegen, der ebenfalls mit Elementen des zweifachen Deutschlandbildes spielte, hatte das Land jenseits des Rheins nichts von seiner imperialen Haltung verloren, die durch „Unehrlichkeit“ geprägt war und noch genau so gefährlich war wie früher.365 Auch Pierre-Etienne Flandin benutzte das Bild des doppelten Deutschlands, wenn er über die deutsche Außenpolitik und seine Erwartungen an Heinrich Brüning sprach, hinter dem er nach eingehender Prüfung das „einheitliche“ Deutschland vermutete, das kein Vertrauen erweckte. So sprach er „von der provokanten Haltung des einen Teils von Deutschland, vor dem der andere Teil gleichmütig bleibe“.366 Allerdings vertrat er nicht den Standpunkt, wonach man Deutschland nicht mehr unterstützen dürfe. Henry Jouvenel, ein sehr kompetenter Journalist und Abgeordneter, war sich mit Pierre Laval einig, als er Heinrich Brüning „große Geradlinigkeit des Geistes“ bescheinigte. Gleichzeitig unterstellte er dem Reichskanzler aber auch eine Strategie, nach der dieser bewusst wirtschaftliche und politische Risiken einging, die wenig Vertrauen bei den anderen Ländern weckten.367 Henry Franklin-Bouillon von der parlamentarischen Fraktion Gauche unioniste et sociale empfand, wie zu erwarten war, eine tiefe Aversion gegen Deutschland. In der Sitzung vom 6. November 1931 in der Chambre des Députés stellte er Punkt für Punkt seine einheitliche Sicht auf Deutschland vor. So waren die Septemberwahlen und die Demonstrationen des Stahlhelms vom 5. Oktober 1930 in Koblenz zwei Ereignisse, die „suffisent, hélas! à tout éclairer“, was die deutsche Außenpolitik betraf.368 Deutschland habe sich einstimming für ein frankreichfeindliches Programm ausgesprochen, von der Revision oder gar Annullierung des Young-Plans über die Aufrüstung des Rheinlands und die Entwaffnung Frank-

361 362 363 364 365 366 367 368

Vgl. ebd. S. 44ff. Vgl. ebd., S. 47. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 49. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 704. Debatte im Senat vom 30/06/1931. Annales, Bd. 120, S. 1347. Debatte in der Chambre des Députés vom 06/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 26.

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reichs bis zur Infragestellung der durch den Versailler Vertrag festgelegten Grenzen. Er machte zwischen den rechten Parteien („social-nationalistes de Hitler“), der politischen Mitte (Sozialdemokraten und Zentrum) und der Linken (Kommunisten) keinen Unterschied; sie waren für ihn alle „partis de violence“ auf der internationalen Bühne der Politik.369 Er verwendete dabei den Begriff der „deux Allemagnes“, war aber überzeugt, dass das eine genau so gefährlich sei wie das andere. So behauptete er, dass die Nationalsozialisten und die Kommunisten die Zerstörung des aktuellen Status quo Europas ganz offen betrieben, während sich die Sozialdemokraten und das katholische Zentrum für den parallelen und „genauso erfolgreichen“ Weg eine unehrlichen Diplomatie entschieden habe, die die gleichen Ziele verfolge. So wurde das eine der beiden Deutschlands von ihm als „zynisch“, „einfältig“ und „gefährlich“ beschrieben. Dieses Deutschland beeinflusse wiederum das andere Deutschland, das zwar „vorsichtig“ sei, aber nicht weniger gefährlich.370 Der französische Abgeordnete sprach auch lange über Heinrich Brüning und zitierte dessen im Petit Parisien veröffentlichte Erklärung,371 außerdem Artikel aus der deutschen Zeitung Germania, „dem Organ des Herrn Brüning“,372 um zu beweisen, dass der deutsche Reichskanzler Frankreich ganz bewusst betrüge: „Herr Brüning ist die Stimme des vorsichtigen Deutschlands“,373 der „Höhepunkt der Heuchelei“, ja, er sei selbst unaufrichtiger als die italienische Regierung Mussolinis.374 Diese negativen Bilder eines einheitlich gefährlichen und bösartigen Deutschlands375 dienten ihm letztlich als Argument für eine harte und anti-briandistische Politik: „Man müsste wirklich die Psychologie des deutschen Volkes derart verkennen, wie es selbst unsere politischen Führer noch nicht tun, um nicht zu verstehen, dass dies, wenn man heute einen Quadratzentimeter abtritt, für morgen eine Vertragsauflösung bedeutet.“376 Eine Verständigungspolitik mit dem Deutschland Brünings, das nach seiner Meinung noch immer den Traum von einem Paneuropa verfolgte, erschien ihm gänzlich unmöglich.377 Er ging sogar so weit zu behaupten, dass Deutschland seit 1914 nicht mehr so gefährlich gewesen sei wie zum Zeitpunkt der Regierung Brüning und der September-

369 370 371 372 373 374 375

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 26f. Le Petit Parisien vom 02/11/1930. Déclaration du chancelier Heinrich Brüning, S. 1. Debatte in der Chambre des Députés vom 06/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 30. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 31. In allen seinen Reden, vertrat Franklin–Bouillon dieses monolithische Deutschlandbild. Vgl. ebenfalls die Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 120ff.; Debatte in der Chambre du 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1410ff. 376 Übersetzung des Zitats „Il faudrait, en effet, ignorer la psychologie du peuple allemand à un point que nos gouvernants eux–mêmes n’ont pas atteint pour ne pas se rendre compte que céder sur un centimètre carré aujourd’hui, c’est préparer l’effondrement total du traité pour demain“. Debatte in der Chambre des Députés vom 06/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 3. 377 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1420f.

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wahlen.378 Der Eindruck Ilićs, wonach Franklin-Bouillon ganz bewusst eine große Zahl deutscher Zeitungsartikel für seine Reden zusammenstellte, um zum einen sein feindseliges Deutschlandbild zu belegen und zum anderen behaupten zu können, das wahre Gesicht der Deutschen zu kennen, wird hier erneut bestätigt.379 André Tardieu billigte – trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber Deutschland – den Deutschen ganz pragmatisch zumindest ein gewisses Entwicklungs- und Lernpotential zu und verglich seine eigene Rolle in der französischen Regierung mit der Heinrich Brünings in der deutschen Regierung: „Haben Sie schon bemerkt, dass Herrn Brüning von einigen Seiten vorgeworfen wird, nicht immer ein Befürworter der Vereinbarungen gewesen zu sein, für die er heute mit scheinbar einzigartiger Energie eintritt? Das ist doch eine bemerkenswerter Zufall.“380 Dieser Bemerkung war ein verbaler Angriff aus den Reihen der extremen Rechten vorausgegangen. Comte Louis de Blois (fraktionslos) hatte sich über die Gegner aus den linken Reihen und den Président du conseil lustig gemacht, in dem er André Tardieu so ansprach: „Also, Herr Ratspräsident, scheint Ihnen die Aufrichtigkeit Deutschlands nicht ein Glaubensartikel zu sein?“381 Das Bild des ewigen Deutschlands und das Bedürfnis nach Sicherheit und finanzieller Wiedergutmachung lassen und waren gut aus diesem Satz herauszuhören, dessen Ironie Blois’ Mitstreiter goutierten. Blois beschwor das beunruhigende Szenario einer neuen deutschen Regierung als potentielle Fortsetzung der alten Machtpolitik: „Lasst uns zu Gott beten, dass der Geist des alten, deutschen Gottes unsere Nachbarn auf der anderen Rheinseite im Jahr 1930 nicht mehr antreibt.“382 Hier spiegelt sich das typische Vorgehen der extremen Rechten wider, die zu jedem Zeitpunkt ein falsches Spiel hinter der deutschen Politik vermuteten: Immer wieder suchten sie ihr Misstrauen durch Anspielungen auf die deutsche Politik seit dem 19. Jahrhundert zu belegen. De Blos stellte die deutsche Bereitschaft für Frieden und eine deutsch-französische Annäherung grundsätzlich in Frage, in dem er von einem historisch wohlbekannten Akt der arglistigen Täuschung sprach, um aus einer internationalen Stellung auszubrechen, die bei den Deutschen als minderwertig galt: „Als Herr von Bismarck 1848 der Vertreter Deutschlands im deutschen Parlament war, war er, und ich wiederhole es, Pazifist wie Stresemann. Das

378 Vgl. ebd., S. 1423. 379 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 219. 380 Übersetzung des Zitats „Avez–vous remarqué que M. Brüning est accusé de certains côtés de ne s’être pas toujours montré partisan des accords au service desquels il paraît témoigner aujourd’hui d’une singulière énergie. C’est une coïncidence à noter“. Debatte im Senat vom 05/04/1930 (2. Sitzung). Annales, Bd. 116, S. 968. 381 Übersetzung des Zitats „Alors, Monsieur le président du conseil, la bonne foi allemande ne vous paraît pas un article de foi?“. Ebd., S. 959. 382 Übersetzung des Zitats „Prions Dieu que l’esprit du vieux Dieu allemand n’anime plus nos voisins d’outre–Rhin pendant l’année 1930“. Ebd., S. 959f.

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ist die ewige Sprache Deutschlands, wenn es sich als schwächstes Land wähnt.“383 Dass Brüning hier keine Ausnahme darstellte, musste nicht einmal mehr gesondert erwähnt werden. Charles de Lasteyrie (Union républicaine démocratique) brachte seine Befürchtung zum Ausdruck, dass die Kredite an Deutschland für dessen Wiederbewaffnung missbraucht werden könnten.384 Der Parlamentarier der nationalistischen Rechten, Louis Marin, dessen Hass auf Deutschland schon notorisch war,385 fasst diese Logik im Denken der Rechten in ausdrucksstarke Worte. Ihm erschien Deutschland immer gleich in seiner Forderung nach einer Revision der Verträge und in seiner kriegerischen Neigung, die in einer heimlichen Wiederbewaffnung386 und in einer imperialen Armee, die einen „Staatstreich“ vorbereite, ihren Ausdruck finde; außerdem bestreite Deutschland nach wie vor die deutsche Alleinschuld am Ersten Weltkrieg.387 Die „Falschheit“ Deutschlands, das Frankreich unaufhörlich hintergehe, war für Louis Marin unbestreitbar und schien aus seiner Sicht die ewige „Bedrohung“, die auch Brüning für Frankreich darstellte, zu beweisen.388 Marin rechnete im Parlament mit der Politik Briands ab und forderte stattdessen mehr Härte und ein deutliche Ablehnung jeglichen Kompromisses gegenüber Deutschland. Er entfaltete dabei eine Rhetorik, die dank einer zugrunde liegenden feindlichen Vorstellungswelt standhielt; er bezog sie aus einem Fundus historischer Deutschlandbilder, die sehr geschickt rhetorisch von ihm verknüpft wurden und es ihm erlaubten, aus jeder kleine politischen Geste der deutschen Regierung ein bedrohliches Großereignis zu machen. Dabei hielten es die Abgeordneten der nationalistischen Rechten keineswegs für notwendig, sich an die Fakten zu halten. Einige emotional aufgeladene Eindrücke und Spekulationen reichten ihnen völlig aus: „Sie kennen den Gemütszustand, der in der Mehrheit des deutschen Volkes vorherrscht. Jeder, der nach Deutschland geht, kommt, und ich zögere nicht es zu sagen, erschrocken zurück. Ist man dort etwa verlegen zu sagen, dass man den Krieg vorbereitet?“389 Andere wiederum beriefen sich auf überlieferte Bilder wie „den gut bekannten Ge383 Übersetzung des Zitats „Lorsque M. de Bismarck était représentant de l’Allemagne, en 1848, au Parlement allemand, il était, je le répète, pacifiste, comme Stresemann. C’est le langage éternel de l’Allemagne, lorsqu’elle se juge la plus faible“. Ebd., S. 966. 384 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (1. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1406. 385 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 249. 386 Die Angst vor einer heimlichen Aufrüstung Deutschlands prägte zahlreiche parlamentarische Reden von der linken Mitte bis zur extremen Rechten. Der Bau eines Panzerkreuzers unter Brüning zum Beispiel verstärkte diese beunruhigte Wahrnehmung des Nachbarlandes. Vgl. Debatte im Sénat vom 30/06/1931. Annales, Bd. 120, S. 1353. 387 Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 92ff. 388 Vgl. ebd., S. 99f. 389 Übersetzung des Zitats „Vous n’ignorez pas l’état d’esprit qui règne dans l’immense majorité du peuple allemand. Tous ceux qui vont en Allemagne en reviennent, je n’hésite pas à le dire, effrayés. Est–ce que l’on s’y gêne pour dire que l’on prépare la guerre ?“. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 695.

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schmack [Deutschlands] für eine methodische und genaue Vorbreitung“,390 um deutlich zu machen, dass die Deutschen nichts ohne Hintergedanken unternähmen. 3.1.2 Brüning und die Räumung des Rheinlandes: Eine neue Ära oder eine Drohung? Nach Abschluss des Truppenabzugs aus dem Rheinland befürworteten die linken Parlamentarier mehrheitlich die Annäherungspolitik der französischen Regierung und verteidigten sogar die deutschen Reaktionen. Außenminister Aristide Briand protestierte gegen die Versuche der Rechten, den Ereignissen nach der Räumung den Charakter einer Demütigung zu verleihen. Er hob die guten Bedingungen und die freundschaftliche Atmosphäre während des Truppenabzugs hervor, äußerte sich aber auch enttäuscht über die mangelnde kooperative Reaktion der Regierung Brüning: „Wir haben gesagt, dass der Abzug unserer Truppen im Rahmen unserer Verpflichtungen mehr verdienen würde als Schweigen seitens der Regierung und dass wir überrascht waren, dass eine autorisierte Stellungnahme dies dem deutschen Volk nicht als Beginn eines neuen Zeitabschnitts angekündigt hat.“391 Seit Beginn seiner Regierungszeit war es wahrscheinlich Brünings größtes Versäumnis, gegenüber Aristide Briand keinerlei politische und diplomatische Geste folgen zu lassen, die es dem Franzosen erlaubt hätten, mehr Anhänger für seine eher wohlwollende Deutschlandpolitik zu gewinnen. In einer mit antagonistischen Bildern geradezu elektrisch aufgeladenen Atmosphäre der deutsch-französischen Politik konnte die leiseste Wendung in die eine oder andere Richtung der etablierten Wahrnehmungen Deutschlands dem eigenen oder gegnerischen politischen Lager in Frankreich einen Vorteil verschaffen.392

390 Übersetzung des Zitats „le goût [de l’Allemagne] bien connu pour la préparation méthodique et minutieuse“. Xavier Vallat (fraktionslos) in der Chambre des Députés am 26/06/1931. Annales, Bd. 168, S. 716. 391 Übersetzung des Zitats „Nous avons dit que le départ de nos troupes dans les conditions de nos engagements méritait mieux que le silence du Gouvernement et que nous avions été surpris qu’une parole autorisée ne l’ait pas indiqué au peuple allemand comme marquant le commencement d’une ère nouvelle“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/07/1930, S. 63f. 392 Laut Henry Leméry zum Beispiel konnte das „gute Deutschland“ durch die vorgezogene Rheinlandräumung in Versuchung geraten , die Festlegung der deutschen Grenzen in Frage zu stellen. Vgl. Debatte im Senat vom 05/04/1930 (2. Sitzung). Annales, Bd. 116, S. 976.

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3.1.3 Brüning und die deutsch-österreichische Zollunion: Paukenschlag oder Bestätigung eines etablierten Bildes? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Das Vorhaben einer Zollunion zwischen Deutschland und Österreich schlug wie ein Blitz im französischen Parlament ein. Das Projekt erschütterte zutiefst die wohlwollenden Deutschlandbilder, die dank der Theorie eines doppelten Deutschlands funktioniert hatten. Die relativ positive Wahrnehmung Heinrich Brünings hing von diesem Moment an nur noch an einem seidenen Faden. Abgesehen von den Diskussionen hinter verschlossenen Türen in der Commission des Affaires Etrangères393 zeigten sich die destruktiven Folgen des Zollunionsprojekts auf die deutsch-französische politische Atmosphäre besonders in der Chambre de Députés, wo man in zwei kompletten Sitzungen am 7. und 8. Mai über das Thema debattierte. Vier Abgeordnete der Linken394 und fünf Abgeordnete der Rechten395 referierten dort über ihre Besorgnis oder sogar Angst wegen der jüngsten deutsch-österreichischen Annäherung. Für Aristide Briand bedeutete das Vorgehen Brünings und Curtius’ eine schwere persönliche Niederlage, die ihn politisch und persönlich erschütterte. Er erklärte Zollunionen und sein Europa-Projekt für unvereinbar und verwendete in einer Rede am 3. März 1931 sogar eine für ihn sonst so untypische Formel: „L’Anschluss, ce serait la guerre!“396 Rund drei Wochen später, am 28. März drückte er seine große Enttäuschung über den politischen Stil Brünings aus und warf den Deutschen mangelnden Respekt vor seiner Verständigungspolitik vor.397 Auch wenn er völlig aus der Fassung gebracht war, überlebte seine wohlwollende Wahrnehmung Deutschlands diese Ohrfeige, allerdings schlich sich wieder die Erinnerung an ein wirtschaftlich übermächtiges Deutschland, das von einem Mitteleuropa träumte, in sein Denken ein.398 An seiner Seite gab es viele Abgeordnete

393 Vgl. z.B. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/06/1931, S. 1ff. 394 Es handelte sich um Léon Thébault (Indépendant de gauche), Alfred Margaine (Républicain radical et radical–socialiste), Bertrand Nogaro (Républicain radicale et radicale–socialiste) und Marcel Cachin (Kommunist). 395 Es handelte sich um Henry Franklin–Bouillon (Gauche unioniste et sociale), Henri Lorin (Action démocratique et sociale), Georges Scapini (Action démocratique et sociale), Etienne de Fougère (Républicains de gauche) und Jean Ybarnegaray (Union républicaine et démocratique). 396 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931. Annales, Bd. 167, S. 1415ff. 397 Debatte in der Chambre des Députés vom 28/03/1931. Annales, Bd. 167, S. 1720. Brüning hatte eigentlich nicht vor gehabt, die Franzosen zu provozieren. Um so unverständlicher ist es, dass er keinen versöhnlichen Kontakt zu Briand hergestellt hat. Vgl. hierzu Hömig: Brüning (I), S. 303ff. 398 Aus der Sicht Sieberts, näherte sich Briand hier sogar seinem Gegner Franklin–Bouillon an. Vgl. Siebert: Aristide Briand, S. 581. Vgl. ebenfalls Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 183.

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wie Jean Hennessy399 (Républicain socialiste) und Alfred Margaine400 (Républicain radical et radical-socialiste), die in der Zollunion einen ersten Schritt in Richtung Mitteleuropa sahen. Andere befürchteten in dem Vorhaben einen politischen Anschluss, so zum Beispiel der Sozialist Joseph Paul-Boncour,401 Präsident der Commission des Affaires Etrangères, Bertrand Nogaro (Républicain radical et radical-socialiste),402 Edouard Herriot (der Aristide Briand loyal verteidigte)403 oder auch Salomon Grumbach.404 In Nogaros Rede war auch deutlich die Angst der französischen Linken und Rechten zu spüren, politisch und wirtschaftlich abgeschlagen zurückzubleiben, wenn sich Deutsche und Österreicher zusammenschließen sollten.405 Léon Thébault (Indépendant de gauche) war in dieser ganzen Debatte eine Ausnahme, weil er trotz seiner Furcht vor einem neuen 1914, seiner von Vertrauen und Verständnis geprägten Sicht auf Deutschland treu blieb und sogar zu erklären suchte, dass Deutschland alle seine wirtschaftlichen, finanzpolitischen und politischen Probleme auf einen Schlag mit einer deutsch-österreichischen Zollunion habe lösen wollen.406 Aus diesem Grund protestierte er auch gegen die scharfe Kritik an Aristide Briand aus den Reihen der politischen Mitte bis zu den extremen Rechten und warf ihnen gefährliche anti-deutsche Propaganda vor. Der Sozialist Grumbach hatte die Hoffnung, dass dieser „Peitschenhieb“ Europa „in seiner Faulheit vielleicht zum Nachdenken bringe“.407 Er sah in dem deutsch-österreichischen Projekt ebenfalls den Versuch Deutschlands, sich ein schwächeres Land politisch und wirtschaftlich einzuverleiben und damit das Europa-Vorhaben Briands zu ersetzen.408 Dann aber nahm Grumbach das Bild Deutschlands als aggressiven Eroberer kritisch unter die Lupe und bemerkte, dass sich hinter dem Vorgehen Brünings vielleicht gar keine gewalttätigen Hintergedanken verbargen: „Wir müssen verstehen, dass es in Deutschland Menschen gibt, die aufrichtig, ohne kriegerische Hintergedanken eine gänzliche Einheit des deutschen Staates und des österreichischen Staates anstreben.“409 Trotz seiner Kritik

399 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 01/04/1931, S. 3. 400 Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 21. 401 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 01/04/1931, S. 3. Paul–Boncour verließ übrigens die SFIO nach dem Kongress in Tours (1931), wegen ihrer anti–militärischen Haltung. 402 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 13ff. 403 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 48. 404 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 55. 405 Vgl. ebd. Diese Sorge wurde auch von Alfred Margaine (Républicain radicale et radical– socialiste) angesprochen. Vgl. ebd., S. 20. 406 Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 32. 407 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 25/03/1931, S. 3. 408 Das war auch die Sicht Bertrand Nogaros. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 13ff. 409 Übersetzung des Zitats „[N]ous devons comprendre, qu’il peut y avoir en Allemagne des gens qui, de bonne foi, sans arrière–pensée guerrière […] envisagent […] une communauté totale

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an dieser „unglücklichen Geste“, welche die Vorbereitung „im Geheimen“ einer deutsch-österreichischen Zollunion darstelle,410 nahm er die Gelegenheit wahr, um die guten Absichten Brünings zu verteidigen, „dieses Kanzlers, dem niemand absprechen kann, dass er den Frieden will und dass er alles tut, was in seiner Macht steht, um dem Frieden und der deutschen Republik zu dienen“.411 Unter den extremen Linken gab es – wie zu erwarten – keinerlei Verständnis für Deutschland. In den Augen Marcel Cachins verriet der deutsch-österreichische Versuch, eine Zollunion auf die Beine zu stellen, das kapitalistische und imperialistische Ziel Heinrich Brünings, der SPD und Hindenburgs, einen politischen Anschluss und ein kapitalistisches Paneuropa zu verwirklichen. Die Donaupolitik Brünings sei nichts anderes als ein erster Schritt in diese Richtung.412 Die Vorstellung eines weltweiten Kampfes zwischen den kapitalistischen und imperialistischen Mächten diente ihm dabei als Basis für seine Argumentation. b) Von der rechten Mitte bis zur extremen Rechten Im Gegensatz zur Panik unter den Linken wegen der angekündigten Zollunion reagierte die Rechte mit geradezu eisiger Gelassenheit. Sie gab vor, das Vorgehen Brünings habe sie nicht überrascht, und sie stützten sich dabei auf ihr monolithisches Deutschlandbild, in das sich Brünings jüngste Politik aus ihrer Sicht passgenau einfügte. Edouard Soulier begann auf diese Weise vor der Commission des Affaires Etrangères seinen Vortrag über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Zentraleuropas: „Die Ankündigung eines Zollabkommens zwischen Deutschland und Österreich vom 19. März hat uns nicht überrascht, konnte uns nicht überraschen. Wer genau hingehört und genau hingeschaut hat, war im voraus hundertmal gewarnt und bleibt es noch.“413 Für Soulier offenbarte die Politik der deutschen Regierung deren pangermanisches Streben und ihr Ziel, politisch und wirtschaftlich auf Kosten der Schwächsten zu expandieren: „Das Zollabkommen nützt Deutschland und schadet Österreich. Es ist nicht gut, […] zwei Personen, deren physische Widerstandskraft zu große Unterschiede aufweist, zusammen in ein

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entre l’Etat allemand et l’Etat autrichien“. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 56. Vgl. ebd., S. 58. Übersetzung des Zitats „chancelier catholique dont personne ne pourra contester qu’il veut la paix et qu’il fait tout ce qu’il peut en faveur de la paix et de la république allemande“. Ebd., S. 57. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 33ff. Übersetzung des Zitats „[L]’annonce […], le 19 mars dernier, d’un accord douanier entre l’Allemagne et l’Autriche ne nous a pas surpris, ne pouvait pas nous surprendre. Les bons entendeurs, les observateurs avaient été cent fois et continûment prévenus“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 01/04/1931. Bericht von Edouard Soulier vor der Commission des Affaires Etrangères, S. 1

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Bett zu legen; es geschieht zum großen Nachteil der schwächeren Person, der die andere weder die Luft zum Atmen noch die notwendige Decke überlässt.“414 Laut Etienne de Fougère (Républicain de haiche), der von der Commission des Douanes beauftragt worden war, vor der Chambre des Députés über das deutsch-österreichische Vorhaben zu sprechen, verfolgten die deutschen Politiker eine „politique à double face“.415 Er war sich mit Edouard Soulier einig, als er sagte, Deutschland versuche, „seine Hegemonie zu verwirklichen“, während sich Österreich an einen „Rettungsanker“ klammere.416 Am 8. Mai 1931 richtete Georges Scapini (Action démocratique et sociale) seinen Blick auf die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen, die seiner Meinung nach so gespannt waren, wie noch nie.417 Seit Beginn der Kanzlerschaft Brünings werde in Deutschland eine mentale Wiederbewaffnung betrieben, die sich in den Aufmärschen des Stahlhelm ebenso wie in der Absprache zwischen Berlin und Wien äußere. Wieder einmal zeigt sich bei Scapini das Bild des doppelzüngigen Deutschlands, als er davon sprach, die deutsch-französischen Beziehungen hätten sich „zweideutig“ entwickelt.418 Für ihn bedeutete der deutsche Reichskanzler mit seiner Regierung die wachsende Gefahr Deutschlands für sich selbst und für die anderen Länder dar: „Der Reichstag ist bis Oktober beurlaubt, und von wem wurde er in den Urlaub geschickt? Durch Herrn Brüning, durch eine Regierung, die von der Sozialdemokratie, die – nebenbei bemerkt – über Kriegsbudgets abstimmt, unterstützt wird. Und was unternimmt diese Regierung als Erstes? Eine Handlung, von der jeder vor nicht allzu langer Zeit gesagt hätte, dass sie, wenn sie umgesetzt würde, eine unbestreitbare Gefährdung des Friedens bedeutet.“419 In einer Sitzung der Commission des Affaires Etrangères im Juni 1931 nahm er diese Aussage teilweise zurück: Deutschlands Beweggrund für die deutsch-österreichische Zollunion sei der Wunsch, das „wirtschaftliche Leid“ zu bekämpfen, und nicht das Verlangen nach einem Affront gegen Frankreich.420 Henry Franklin-Bouillon nutzte die Gelegenheit, um noch einmal, lang, breit und selbstzufrieden seine hasserfüllte Sicht auf Deutschland und die Politik Briands dazustellen.421 Deutschland war für ihn noch immer vom preußischen Milita-

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Ebd., S. 9. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 17. Vgl. ebd., S. 18. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 31. Vgl. ebd. Übersetzung des Zitats „Le Reichstag, en vacances jusqu’au mois d’octobre, et mis en vacances par qui ? Par M. Brüning, par un gouvernement soutenu par la social–démocratie qui, entre parenthèses, vote les budgets de la guerre. Et quel est le premier acte de ce gouvernement […] ? Un acte dont chacun, il n’y a pas longtemps, était d’accord pour reconnaître que, s’il était accompli, il constituait une menace indiscutable pour la paix“. Ebd. 420 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 17/06/1931, S. 8. 421 Vgl. ebd., S. 36ff.

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rismus geprägt und verstand nur eine Sprache der Gewalt, wenn man denn dem deutschen Trachten ein Ende setzen wollte.422 Als Folge der Ankündigung der deutsch-österreichischen Zollunion kamen unter den französischen Rechten zahlreiche Verschwörungstheorien in Umlauf. Der Abgeordnete Jean Ybarnégaray (Union républicaine démocratique) zum Beispiel erwartete seitdem „le danger de la grande Union catholique du centre de l’Europe, idée que poursuit le Vatican“ und deren Anfang mit der deutschöstereichischen Zollunion gemacht sei.423 Die große Mehrheit sah in der Zollunion aber den ersten Schritt in Richtung politischer Anschluss und der Verwirklichung Mitteleuropas. Pierre Laval machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass auch er diese Befürchtung teile.424 Das Urteil, das Jean Ybarnégaray über die Politik Heinrich Brünings fällte, war erbarmungslos; dieser „Donnerschlag“, der unter größter Geheimhaltung vorbereitet war, sei mit der „brutalsten Plötzlichkeit“ und der größten Wucht seit Beginn der Weimarer Republik hereingebrochen, um die Verträge und den Frieden in Europa zu zerstören.425 Einen Vergleich mit der Politk Wilhelms II. zu ziehen fiel Ybarnégaray leicht: „Dieses Vorgehen erinnerte an die schlimmsten Momente und auch an die übelsten Methoden der kaiserlichen Politik, dieses Vorgehen erschien als das, was es wirklich ist: Die erste Herausforderung des besiegten Deutschlands an die, die es besiegt haben.“426 Die aggressive Kritik an Briand, Curtius und Brüning endete mit einer aufschlussreichen Frage: „Wenn ich daran denke, dass der Mann, der Ihnen gegenüber auf solch ein Mittel zurückgegriffen hat, der Nachfolger Stresemanns ist, der Erbe seiner Politik, eben der, der die Aufgabe hat, die Verträge von Locarno vertrauensvoll umzusetzen, dann frage ich mich und auch Sie, wem wir von nun an in Deutschland noch vertrauen können?“427 Wieder einmal taucht in der Rede Ybarnégarays das Bild eines gegenüber dem unersättlichen Appetit der „germanischen Macht“ kraftlosen Österreichs auf: Der Reichskanzler habe Österreich unter „plötzlichen und unwiderstehlichen Druck“ gesetzt, um seine eigenen Interessen zu erfüllen. Diese Interessen seien die Zufriedenstellung des „quasi einstimmigen Strebens seines Volkes“, auf das er zähle, um dem Prestige Hitlers etwas entgegenzusetzen.428 Der Anschluss sei das Hors d’œuvre, das am Beginn der Mahlzeit des Löwen stehe, erklärte der Abge-

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Vgl. hierzu auch Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 219. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 25/03/1931, S. 4. Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 08/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 58. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/05/1931. Annales, Bd. 168, S. 22. Übersetzung des Zitats „Cet acte […] rappelait les pires moments et aussi les plus mauvais procédés de la politique impériale […], cet acte […] est apparu tel qu’il est dans la réalité: […] le premier défi de l’Allemagne vaincue à ceux qui l’ont vaincue “. Ebd. 427 Übersetzung des Zitats „Quand je pense que l’homme qui usa, envers vous, d’un tel procédé est le successeur de Stresemann, l’héritier de sa pensée politique, celui–là même qui a charge d’appliquer, dans un esprit de confiance, les accords de Locarno, je me le demande et je vous le demande, à qui désormais, en Allemagne, pouvons–nous nous fier ?“. Ebd. 428 Ebd., S. 24.

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ordnete der Union républicaine démocratique, einen Autor namens Lautier zitierend.429 Es sei notwendig, sofort die Konzessionspolitik Briands gegenüber einem Land zu stoppen, das nicht „zufrieden zu stellen“ sei, lautete sein Fazit,430 denn er glaube nicht an die Aufrichtigkeit Deutschlands.431 3.1.4 Brüning in Paris: Taktiker, Opportunist oder Anhänger einer Annäherung? a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Der Eindrücke von den Besuchen Heinrich Brünings in Paris und Lavals und Briands in Deutschland bei Alfred Margaine (Républicain radical et radicalsocialiste) waren, wie schon zu vermuten war, negativ. Er sah in den Reisen nur eine lästige Pflicht, die Brüning ohne Überzeugung unternommen habe und auch nur, um einer zufriedenstellenden deutsch-englischen Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaft und Finanzen den Weg zu ebnen: „Während in Frankreich alle ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dass die deutsche und die französische Regierung in direkten Kontakt treten mögen, wich Herr Brüning allen Einladungen aus und kam erst dann nach Paris, als er sich sicher war, dort zugleich auch die Herrn Henderson und Stimson anzutreffen. Dann musste man aus Höflichkeit auch die französische Regierung nach Berlin einladen. Zunächst hat man den Besuch unmöglich gemacht, indem man die deutsche Presse aufwiegelte. Und erst als der Kurs des Britischen Pfunds fiel und die Labourregierung aus der Regierungsverantwortung ausschied, hat die deutsche Regierung der Presse einen Maulkorb verpasst, weil sie verstanden hatte, dass die direkte Verständigung mit Frankreich nun eine unabdingbare Notwendigkeit geworden war, um die schlechte Finanzlage zu überwinden.“432 Margaine beschrieb Brüning als einen Taktiker, der eine unehrliche politische Strategie verfolgte und nicht wirklich den Wunsch verspürte, die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern. Die anderen linken Abgeordneten kommentierten die deutsch-französischen Staatsbesuche überhaupt nicht.

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Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 17/06/1931, S. 8. Übersetzung des Zitats „[A]lors qu’en France tout le monde exprimait le désir que les deux gouvernements français et allemand entrassent en relations directes, M. Brüning s’est dérobé à toute invite et n’est venu à Paris que quand il a été sûr d’y rencontrer à la fois MM. Henderson et Stimson. Il a bien fallu, ensuite, par courtoisie, inviter le Gouvernement français à Berlin. On a commencé par rendre la visite impossible, en ameutant la presse allemande. Et ce n’est que quand la livre anglaise est tombée et que le gouvernement travailliste a perdu le pouvoir, que le gouvernement allemand a mis une muselière à sa presse, comprenant que l’entente directe avec la France était devenue une nécessité inéluctable pour franchir la passe financière“. Debatte in der Chambre des Députés vom 17/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 68.

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b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Der Besuch Brünings war dagegen bei den Abgeordneten von der rechten Mitte bis zur extremen Rechten schon vor dem Besuchstermin ein Thema und regte zu zahlreichen und sehr unterschiedlichen Kommentaren an. Pierre Laval, der stark von bestimmten Deutschlandbildern geprägt war,433 lobte Brünings Bestreben, nach Paris zu kommen und auf diese Weise eine „ehrliche“ und „loyale“ Aussprache zwischen Frankreich und Deutschland möglich zu machen.434 Direkte Stellungnahmen zu den gegenseitigen deutsch-französischen Besuchen gab es allerdings selten im französischen Parlament.435 Es war wieder Pierre Laval, der in seiner Präsentation der wichtigsten Themen der deutsch-französischen Politik vor der Commission des Finances und der Commission des Affaires Etrangères am 12. November 1931 den deutschen Besuch in Frankreich ansprach. Trotz der vielen Schwierigkeiten, mit denen Laval in den verschiedenen internationalen Konferenzen und Gesprächen zu kämpfen hatte, zeichnete er ein Porträt von Heinrich Brüning, den er selbst zu einem persönlichen Gespräch im Juli in Paris getroffen hatte, das von großer Wertschätzung geprägt war: „Ich hatte mit Herrn Brüning, der gut genug Französisch spricht, sodass wir keinen Dolmetscher brauchten, eine Unterredung, die mehr als eine Stunde lang gedauert hat und von der ich zumindest sagen kann, dass sie sehr bewegend war. Mit sehr großer, gegenseitiger Ehrlichkeit haben Herr Brüning und ich jeweils die Standpunkte unserer Länder dargestellt. Bei dieser Unterredung habe ich den Eindruck gewonnen, dass ich mich einem Gesprächspartner gegenüberbefand, an dessen Aufrichtigkeit ich keinen Grund habe zu zweifeln. Vor mir war ein großer Deutscher, der mit Leidenschaft die Interessen seines Volkes verteidigte und mich diesbezüglich nicht getäuscht hat. Ich habe mit demselben Nachdruck und demselben Patriotismus die Interes-

433 André François–Poncet erzählte in diesem Zusammenhang eine amüsante Anekdote, die Laval bei seinem Besuch in Berlin betraf: „Laval, de son côté, avait une marotte: Il s’étonnait qu’à aucun des repas auxquels il assistait on ne lui servît de la choucroute. On avait beau lui expliquer que la choucroute n’est pas un plat national, mais un plat régional allemand, une spécialité de l’ouest et du sud, peu répandue dans les provinces du nord, il ne cachait pas son désappointement; visiblement, il était ennuyé à l’idée d’affronter, à son retour, les camarades qui lui demanderaient: „As–tu mangé, au moins, une bonne choucroute ?“. Übersetzung: „Laval seinerseits hatte eine Marotte: Er war erstaunt, dass man ihm bei jedem Essen, bei dem er war, nie Sauerkraut angeboten hat. Vergebens hat man versucht ihm zu erklären, dass Sauerkraut kein Nationalgericht sei, sondern ein lokales Gericht in Deutschland, eine Spezialität des Westens und des Südens, dass es in den nördlichen Gebieten eigentlich nicht verbreitet ist, aber er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen; offensichtlich, war ihm der Gedanke unangenehm, dass ihm Kollegen bei seiner Rückkehr mit der Frage begegnen würden: ‚Hast du wenigsten gutes Sauerkraut gegessen?‘“.François–Poncet: Souvenirs, S. 27. 434 Debatte im Senat vom 30/06/1931. Annales, Bd. 120, S. 1352. 435 Die Auswertung der Archive im Quai d’Orsay, im CADN und in den Archives Nationales ist leider ergebnislos geblieben.

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sen Frankreichs verteidigt.“436 Laval beschrieb Brüning als einen überzeugten und ehrlichen Patrioten, der unter den Deutschen eine Ausnahmeerscheinung sei, für die Laval keine besondere Sympathie verspürte. In einer weiteren Debatte in der Chambre des Députés am 26. November 1931 betonte er noch einmal seine positive Wahrnehmung Brünings und erinnerte an den höflichen Empfang in Berlin.437 3.1.5 Die Deutschlandbilder: Thema der parlamentarischen Diskussion und ihr Einfluss auf die Außenpolitik a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Angesichts der Propagandakampagne einiger Zeitungen und verschiedener parlamentarischer Redner, die ihre Argumente aus dem Bilderrepertoire der „Erbfeinde“ schöpften, rief Aristide Briand zu Besonnenheit und zu selbstständigem Denken auf. Er mahnte, sich an die Fakten zu halten und sich nicht in den Strukturen einer Vorstellungswelt zu verfangen, die nach seiner Meinung an einem toten Pun kt angekommen waren:438 „Als Außenminister kann ich mich nicht allein mit Zeitungsartikeln, Reden oder Anfällen von schlechter Laune zufrieden geben; ich halte mich an Fakten, ich informiere mich auch und lasse mich von den Antworten anregen, die ich erhalte.“439 Briand wandte sich hier gegen die rechten Abgeordneten, die nach seiner Meinung unaufhörlich Zweifel an Deutschland 436 Übersetzung des Zitats „J’ai eu avec le chancelier Brüning, qui parle assez le français pour que nous n’ayons pas eu besoin d’un interprète, un entretien qui dura plus d’une heure et dont le moins que je puisse dire, est qu’il fût très émouvant. Avec une grande franchise réciproque, M. Brüning et moi–même avons exprimé les positions respectives de nos deux pays. J’emporte de cet entretien l’impression que j’avais en face de moi un interlocuteur à la sincérité duquel je suis en droit de croire. J’avais en face de moi un grand Allemand, qui défendait avec passion les intérêts de son peuple et qui, à cet égard, ne me trompait pas. Je défendais avec la même âpreté et le même patriotisme les intérêts de la France“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 12/11/1931, S. 14. 437 Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 207f. 438 In einer Sitzung der Commission des Affaires Etrangères am 10. Juli 1930, sagte Briand in diesem Zusammenhang: „Lorsque certaines paroles vous arrivent portées par les journaux et qu’elles ont le caractère que vous connaissez, si on se laissait entraîner à répondre sur le même ton, il n’est pas douteux que les polémiques pourraient devenir singulièrement périlleuses. Le mieux, c’est de profiter d’un moment de calme pour remettre les choses au point“. Übersetzung: „Wenn einen gewisse Stellungnahmen über Zeitungen erreichen und sie das Übliche, was man schon kennt, beinhalten, wenn man sich dann dazu hinreißen lassen würde auf dieselbe Art und Weise zu antworten, ist es zweifelsohne möglich, dass diese Polemik außerordentlich gefährlich werden könnte. Das Beste ist es, einen ruhigen Moment zu nutzen, um alles wieder in Ordnung zu bringen“. AN, C14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/07/1930, S. 5. 439 Übersetzung des Zitats „Comme Ministre des Affaires Etrangères je ne peux pas me contenter d’articles de journaux, ou de discours, ou d’accès de mauvaise humeur; je prends des faits, je me renseigne aussi, et je m’inspire des réponses que je reçois“. Ebd., S. 33.

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schürten und damit Panik in der französischen Bevölkerung säten.440 Gleichzeitig gab er für sich selbst zu, dass man im Sinne einer politischen Kontinuität und Kohärenz, „Handlungen, die man ausführen will, abwägen und so einrichten muss, dass die öffentliche Meinung in dem Land, in dem man sich befindet, keinen Anstoß daran nehmen kann“.441 François Albrun, Journalist und radikal-sozialistischer Abgeordneter kritisierte die Vermischung von innen- und außenpolitischen Themen, weil dies die Grabenkämpfe zwischen den Parteien weiter begünstige, stellte dann aber auch fest, dass die Innenpolitik „nicht durch eine Art chinesische Mauer von dem Gebiet der Außenpolitk getrennt ist“; er forderte gegen die zwischenparteilichen Streitereien „eine allgemeine Politik einer solidarischen Regierung“.442 Aus der Sicht Briands nahm die Innenpolitik die Außenpolitik sogar „oft als Geisel“.443 Im Rahmen einer Sitzung der Commission des Affaires Etrangères wiesen Maxence Bibié (Républicain socialiste) und Salomon Grumbach (Socialiste) vor dem Hintergrund der durch eine Kampagne der Rechten ausgelösten Ängste in Frankreich vor den Folgen der vorgezogenen Rheinlandräumung, auf die verwirrte (aktuelle) öffentliche Meinung (auch die der Abgeordneten, die für den vorzeitigen Truppenabzug gestimmt hatten) als destabilisierenden Faktor für die Fortführung des briandistischen Kurses hin. Sie forderten deshalb, die aufgewühlte Stimmung im Land durch Veröffentlichen beruhigender Dokumente zu besänftigen.444 Léon Thébault (Indépendant de gauche) strich wiederum die Bedeutung der gegenseitigen Bilder für die deutsch-französische Verständigung heraus. Er fordert daher eine moralische Entwaffnung beider Länder und eine gegenseitige Zähmung auf des Basis von Begegnungen zwischen Intellektuellen, Schülern und ehemaligen Soldaten.445 Der nachfolgende Applaus aus den Reihen der Linken und extremen Linken sagt viel über die Hoffnungen aus, die man in dieser politischen Hemisphäre auf die Begegnungen setzte, mit denen man beide Länder aneinander näher bringen wollte. Auch wenn insgesamt Bilder und Vorstellungswelten als Einflussfaktoren auf die Politik wenig thematisiert wurden, waren es doch vor allem die Abgeordneten der linken Mitte, die sich mit dem Prozess der außenpolitischen Entscheidungsfindung auseinandersetzten. Allerdings stand die Infragestellung der Deutschland440 Vgl. Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 101. 441 Übersetzung des Zitats „faut peser les actes qu’on accomplit et s’arranger de manière qu’ils ne heurtent pas l’opinion du pays dans lequel on est“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 09/02/1931, S. 43. 442 Übersetzung der Zitate „n’est pas séparée par une sorte de muraille de Chine du terrain de la politique extérieure“ und „une politique générale du Gouvernement solidaire“. Debatte in der Chambre des Députés vom 04/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 6. 443 Debatte in der Chambre des Députés vom 13/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 102. 444 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Debatte vom 19/11/1930, S. 4ff. 445 Debatte in der Chambre des Députés vom 03/03/1931 (2. Sitzung). Annales, Bd. 167, S. 1414.

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bilder zu keinem Zeitpunkt im Zentrum parlamentarischer Debatten. Meistens wurden die Deutschlandbilder des politischen Gegners als unvereinbar mit der Realität verurteilt und ersezte sie dann durch die eigenen Deutschlandbilder.446 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Das Bemühen, die Entwicklung der internationalen Politik und die deutsche Abrüstung genau zu beobachten, begleitete praktisch alle Diskussionen in der Commission des Affaires Etrangères.447 Das bot den Abgeordneten der verschiedenen rechten Fraktionen die Gelegenheit, die französischen Bilder von den deutschen Regierungen als unvorhersehbare und hinterhältige Akteure wiederzubeleben oder beizubehalten. Das traf beispielsweise auf Georges Scapini (Action démocratique et sociale) zu, der unermüdlich seine Vermutung wiederholte, eine deutschitalienische Annäherung stehe unmittelbar bevor, um den Versailler Vertrag zu brechen, und dies, obwohl er dafür keinerlei Fakten liefern konnte und dem auch die Informationen widersprachen, die Briand aus erster Hand hatte.448 Die gleiche Art zu argumentieren prägte auch die Auftritte der Rechten bei den Debatten, die sich um die Vorbereitung der vorzeitigen Rheinlandräumung drehten.449 Während Briand den Fokus auf das Wohlwollen der Rheinländer gegenüber den französischen Truppen richtete und sich dafür auf Augenzeugenberichte verschiedener französischer Journalisten stützte, behauptete Charles Frey, ein Vertreter der Union républicaine démocratique, das genaue Gegenteil, ohne aber seine Quellen preiszugeben.450 Was die französischen Rechte beraf, drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass sie zielgenau nach Informationen suchten, mit denen sie ihre feindlichen Deutschlandbilder weiter pflegen konnten. 3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) a) Von der linken Mitte zur extremen Linken Ab Herbst 1931 hörte man im Parlament immer wieder Stimmen, die von einer Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen sprachen.451 Die Schlüsse, welche die Politiker aber daraus zogen, variierten stark. Auf radikal446 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 195. 447 Vgl. AN, C14874: die Sitzungen der Affaires Etrangères de la Commission vom 16/04/1930 und vom 04/06/1930. 448 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/07/1930, S. 30ff. 449 Vgl. ebd. 450 Vgl. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/07/1930, S. 68. 451 So sagte zum Beispiel der Sozialist César Chabrun: „Il y a plus de difficultés pour réaliser l’entente franco–allemande qu’il n’y en avait autrefois“. Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 213.

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sozialistischer Seite bedauerte Pierre Cot „diese Psychose bezüglich des Rüstungswettlaufs und die gleichzeitige Entwicklung hin zu Bündnissen, die uns in die Zeit der europäischen Vorkriegspolitik zurückversetzt“, misstraute aber gleichzeitig Deutschland und befürchtete, dass Frankreich an den Rand des internationalen Geschehens gedrängt werden könnte.452 Auf sozialistischer Seite intensivierte sich dagegen die Kritik an der französischen Haltung in der Abrüstungsfrage.453 Stark beunruhigt durch die begrenzte Macht des Völkerbundes angesichts des chinesisch-japanischen Konflikts und der Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland beschrieb Salomon Grumbach am 20. November 1931 die internationale Lage als etwas „qui ne ressemble en rien à celle que nous avons connue dans d’autres crises“.454 Aus seiner Sicht waren alle Länder, aber besonders Deutschland aus der Bahn geworfen worden. Aus diesem Grund appellierte er eindringlich an die französische Regierung, das gute Deutschland und die Regierung Brüning – die nicht „revanchistisch“ und „zutiefst pazifistisch“ seien – gegen das andere Deutschland zu unterstützen, das eine Gefahr für den euopäischen Frieden darstelle.455 Das Bild der „deux Allemagnes“ diente ihm hier wieder einmal als Rechtfertigung und es war das Fundament für seine Zustimmung zur Politik Briands: „Wir sprechen also in Anwesenheit dieses Deutschlands über die Außenpolitik und vor allem über die französische Deutschlandpolitik. Dieses Deutschland haben der Herr Ratspräsident und Herr Aristide Briand zu Recht besucht. Angesichts dieses Deutschlands muss festgelegt werden, welche konkrete Politik wir verfolgen wollen.“456 Trotz allem zeichneten sich anlässlich einer Debatte über die Reaktionen der anderen Länder auf den Tardieu-Plan in Genf einige Risse in dem Vertrauen ab, das Grumbach in Brüning setzte: „Ich habe die Haltung der Deutschen beobachtet. Sie haben sehr aufmerksam zugehört und dann wurde eine Schlacht zwischen den ‚zwei Deutschlands’ geschlagen: Die Nationalisten wollten, dass Brüning entschieden gegen den Plan vorgeht. Doch hat Brüning überhaupt nichts Neues gesagt. Er hat sich weder dafür noch dagegen ausgesprochen. Er hat sich alle Optionen offengehalten.“457 Unterschwellig ließ Grumbach durchblicken, dass es nach

452 Übersetzung des Zitats „cette psychose de la course aux armements et, simultanément, cet entraînement aux alliances qui nous ramène à la politique européenne d’avant–guerre“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 03/02/1932, S. 4. 453 Vgl. den Auftritt von Auguste Reynaud in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 215ff. 454 Debatte in der Chambre des Députés vom 20/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 148. 455 Vgl. ebd. 456 Übersetzung des Zitats „C’est donc en présence de cette Allemagne que nous discutons de politique extérieure et surtout de la politique de la France à son égard. C’est à cette Allemagne que M. le président du conseil et M. Aristide Briand […] ont eu raison de rendre visite. C’est à l’égard de cette Allemagne qu’il faudra savoir quelle politique pratique on veut suivre“. Ebd. 457 AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 10/02/1932, S. 7f.

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seiner Meinung der Opposition des Brüningschen Deutschlands gegen die Nationalisten an Eindeutigkeit fehle. Der Sozialist Albert Rivière (SFIO) forderte ebenfalls eine wohlwollendere Politik gegenüber Deutschland, um Brüning eine Politik zu erleichtern, die den Frieden begünstige. Er warf Maginot vor, mit seiner harten Politik in der Abrüstungsfrage das Spiel der Nationalsozialisten zu spielen und damit in Richtung des Reichskanzlers schlechte Signale zu senden: „Wie − man hat gerade den Moment gewählt, um Fragen, in denen man sich nicht einig ist, zu diskutieren, als Herr Präsident Laval die Herren Brüning und Curtius nach Frankreich eingeladen hat? Aber warum hat man dann nicht die ganze Militärmaschinerie aufgeboten, um unseren Gästen zu verstehen zu geben, was passieren könnte, wenn sie den Vorstellungen des Generalstabs nicht folgen wollen?“458 Frankreich zeige sich gegenüber einem Deutschland, das aus „Tausenden Verteidigern der Republik und des Friedens“459 gemacht sei – die aktuelle Regierung eingeschlossen –, „trop casquée – zu behelmt“ und „trop bottée – zu gestiefelt“; hier wählte er zwei Begriffe, die sonst üblicherweise auf Deutschland angewendet wurden.460 b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Zum Zeitpunkt des zweiten Brüning-Kabinetts waren auch in der rechten Mitte Stimmen hören, die immer deutlicher die französische Unterstützung der Regierung Brüning forderten. Im Bewusstsein der schweren politischen und finanziellen Krise in Deutschland und beunruhigt durch die ersten Anzeichen einer Krise in Frankreich riefen Abgeordnete wie der Katholik Ernest Pezet dazu auf, nach einer „wirklichen“ deutsch-französischen Verständigung und einer echten europäischen Solidarität zu suchen.461 Infolge des Rücktritts Aristide Briands von seinem Posten als Außenminister am 12./13. Januar 1931 und der Amtsnachfolge André Tardieus im Februar 1931 wandelte sich das Urteil der Rechten über Heinrich Brüning deutlich. Tardieus reservierte Haltung gegenüber dem deutschen Politiker springt geradezu ins Auge. So stellte er am 4. März 1932 seine Sicht auf Brüning vor: „Zunächst denke ich, dass sich die Position Deutschlands mehr in einem raffinierten Streben nach dem

458 Übersetzung des Zitats „Comment, on a choisi juste […] le moment même où M. le président Laval invitait MM. Brüning et Curtius à venir en France pour discuter des questions litigieuses ? Mais alors, pourquoi n’avoir pas mobilisé tout l’appareil militaire pour faire comprendre à nos visiteurs ce qui pourrait leur advenir au cas où ils ne voudraient pas écouter les représentations de l’état–major ?“. Debatte in der Chambre des Députés vom 24/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 182. 459 Vgl. ebd., S. 183. 460 Ebd., S. 182. 461 Vgl. ebd., S.183ff.

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Subtilen zeigt als in einem offenen Streben nach Brutalität.“462 Brüning erschien ihm als suspekter Politiker, dessen Forderungen nach einer rüstungspolitischen Gleichbehandlung in seinen Augen einem wendigen und gefährlichen Schlag gleichkamen: „Die deutsche These ist geschickt. Man muss die ManöverQualitäten des Gegners anerkennen.“463 Brüning war zum „Gegner“ geworden – die Auswahl seiner Worte hätte nicht bezeichnender sein können. Tardieu machte aus seiner eigentlichen Wahrnehmung Deutschlands kein Geheimnis mehr. Henry Franklin-Bouillon (Gauche unioniste et sociale) kultivierte wie andere auch weiter seine lautstarke Angst vor Deutschland im Allgemeinen und Heinrich Brüning im Besonderen. Aus seiner Sicht war es überhaupt sinnlos, mit dem Reichskanzler zu diskutieren, weil dieser eine „véritable conspiration de la finance germano-américaine, avec toutes les ramifications qu’elle a à Londres“ gegen das „Opfer Frankreich“ verfolge.464 Er warnte deshalb das französische Parlament, dass das Deutschland Brünings nach „dix années d’une prétendue politique de rapprochement“, „serait plus résolue que jamais à détruire les traités qui sont la charte de l’Europe“.465 Franklin-Bouillon widersetzte sich folgerichtig dem kleinsten Entgegenkommen an Deutschland. Brüning war für ihn nur eine Marionette im internationalen Geschehen, deren Fäden von anderen, insbesondere Hitler und seinen Mitstreitern, gezogen wurden: „Möglicherweise hat Herr Brüning große Qualitäten. Auf jeden Fall bilige ich ihm einen edlen Charakter und einen großen Patriotismus zu. Aber Sie wissen genau, dass er nur ein Schatten ist. Die wahre Macht ist anderswo: Niemand weiß, ob es so weitergeht.“466 Franklin-Bouillon beherrschte eine sehr geschickte Rhetorik: Er griff das Bild eines sympathischen Brüning seiner Gegner auf, um sofort davor zu warnen, sich auf dieses gefährliche Spiel mit Trugbildern einzulassen. Ein Kanzler ohne reelle Macht maskiere nämlich nicht weniger die diabolische Gefahr, die von Deutschland ausgehe. Der Wandel in seiner Darstellung Brünings zwischen der ersten und der zweiten Amtszeit rührte augenscheinlich daher, dass Franklin-Bouillon jede nachsichtige Reaktion der französischen Rechten auf die Appelle der Linken verhindern wollte, die die Regierung teilweise regelrecht anflehten, eine deutschlandfreundlichere Abrüstungspolitik zu betreiben. Das war zweifellos auch der Grund, warum er sich auf folgende Weise an die Chambre des Députés wandte: „Vertrauen Sie mir, sparen Sie sich Ihre Sentimentalitäten und denken Sie, bevor Sie ihm [Brüning] Zugeständnisse machen, immer an die, die ihm nachfolgen werden und nur darauf 462 Übersetzung des Zitats „La position allemande, je dirai d’abord qu’elle se présente avec une recherche raffinée de la subtilité plutôt qu’avec une franche recherche de la brutalité“. AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Sitzung vom 04/03/1932, S. 14. 463 Übersetzung des Zitats „[L]a thèse allemande est ingénieuse. Il faut reconnaître à l’adversaire ses qualités de manœuvre“. Ebd. 464 Debatte in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 219f. 465 Ebd. 466 Übersetzung des Zitats „Peut–être M. Brüning a–t–il de grandes qualités. Je lui reconnais, en tout cas, une réelle noblesse de caractère, un grand patriotisme. Mais vous savez bien que ce n’est qu’une ombre. Le pouvoir effectif est ailleurs: nul ne sait ce qu’il durera“. Ebd.

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brennen, noch etwas von uns zu bekommen, um ihn dann ins Abseits zu befördern.“467 Mit den Vorbereitungen für die Abrüstungskonferenz vertiefte sich der Graben zwischen den rechten und linken Abgeordneten noch mehr. Im Winter 1931 stellten die Senatoren Bourgeois und Eccard die militärischen Aktionen Deutschlands als unvereinbar mit dem Versailler Vertrag dar und beharrten auf der Unehrlichkeit der Deutschen, die ja schon seit der Antike bekannt sei: „Wie kann man mit einem Volk, von dem schon Tacitus sagte, dass es doppelzüngig sei, bei einer Abrüstungskonferenz zu einem Ergebnis kommen?“468 Die Berichte, die sie am 20. Januar 1932 vor der Commission des Affaires Etrangères über den Zustand der deutschen Armee und den deutschen Militärhaushalt vorlegten, waren dazu angetan, Parlamentarier wie Georges Scapini (Action démocratique et sociale), Antonin Brocard (Union républicaine démocratique) oder sogar Pierre Cot (Républicain radical et radical-socialiste) tief zu beunruhigen.469 Bourgeois meinte: „Les Allemands tout naturellement font un peu ce qu’ils veulent, et rétablissent tout ce qu’on leur avait interdit.“470 Die Regierung Brüning flößte ihm keinerlei Vertrauen ein, weil „Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Abrüstungskonferenz alle erdenklichen Anstrengungen unternimmt, um jetzt nicht den Anschein zu erwecken, den Friedensvertrag Schritt für Schritt rückgängig zu machen, wie es das ohnehin schon getan hat. […] Alle Verstöße gegen den Vertrag wurden diese Viertelstunde lang so sorgfältig versteckt, dass man sie nicht wahrnehmen konnte.“471 Brünings Forderung nach einer Gleichbehandlung in Rüstungsfragen war für ihn nur eine Maskerade, hinter der die Industrie, das Militär und die Politik Hand in Hand arbeiteten, um eine militärische Restauration Deutschlands auf materieller und moralischer Ebene zu verwirklichen und den militärischen Machtstatus von 1914 wieder zu erreichen.472 Nach Eccard „ist der Kriegshaushalt selbst ein Meisterwerk der dunklen Machenschaften und wer nicht in die Geheimnisse der deutschen Finanzpolitik eingeweiht ist, würde sich große Sorgen machen, wenn er den wahren Zweck der Kredite für

467 Übersetzung des Zitats „Croyez–moi, faites des économies de sentimentalité et songez toujours, avant de lui [Brüning] céder, à ceux qui vont lui succéder et qui n’attendent que d’avoir encore tiré quelque chose de nous pour le faire rentrer au néant“. Ebd. 468 Übersetzung des Zitats „Vis–à–vis d’un peuple dont Tacite déjà signalait la duplicité, comment peut aboutir une conférence de limitation des armements ?“. Rede Bourgeois–Eccard, AD SDN II 983, zitiert nach Vaїsse: Sécurité d’abord, S. 146. 469 AN, C 14874: Commission des Affaires Etrangères. Debatte vom 20/01/931, S. 1ff. 470 Ebd., S. 5. 471 Übersetzung des Zitats „à l’heure actuelle, en raison de la proximité de la Conférence de désarmement, l’Allemagne fait tous ses efforts pour ne pas avoir l’air d’empiéter sur le Traité de paix plus qu’elle n’a empiété jusqu’ici. […] Toutes ces infractions, pour le quart d’heure, ont été ou sont camouflées avec tellement de soin qu’on ne peut pas s’en apercevoir“. Ebd., S. 10. 472 Vgl. ebd., S. 13ff.

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die Reichswehr entdeckte.“473 Diese „véritable usage“ sei die Fortsetzung – „avec une ténacité qui n’est égalée que par sa mauvaise foi“ – einer geheimen Wiederbewaffnung.474 Eccard warf der deutschen Regierung außerdem vor, die Fakten zu verzerren, indem es immer von „réductions des effectifs et des dépenses des autres pays, ou de parité des armements − von Abbau der Truppenstärke, Senkung der Ausgaben anderer Länder oder von gleichen Waffenstärken“ spreche, ohne „aucune velléité de se maintenir dans les limites du Traité de Versailles – auch nur im Geringsten ihren Willen, die Bestimmungen des Versailler Vertrags einzuhalten“, zu bekunden.475 Schließlich kritisierte er auch den deutschen Justizapparat, der Pazifisten vor die Gerichte ziehe und sie des Verrats anklage – ein Vorwurf, der immer wieder in den Debatten der Commission des Affaires Etrangères im Winter 1931/32 erhoben und diskutiert wurde.476 3.3 Brüning in der Vorstellungswelt der diplomatischen Kreise Angesichts der zahlreichen Publikationen zu den Fragen der Reparationen und der Abrüstung ist es hier nicht erforderlich oder von Interesse, alles zu wiederholen, was schon von fachkundiger Seite über die diplomatischen Positionen Frankreichs und Deutschlands Anfang der 1930er Jahre gesagt oder geschrieben wurde. Die Aufmerksamkeit soll hier auf die Bezeichnungen „nationalistisch“ oder „national“ gerichtet werden, die alle diplomatischen Repräsentanten Frankreichs dem Reichskanzler zuschrieben. Die Tatsache, „nationalistisch“ oder „national“ zu sein, konnte allerdings ganz verschiedene mehr oder weniger negative Facetten in der französischen Wahrnehmung haben. Deshalb beschreibe ich im Folgenden die Entwicklung und das Gewicht der unterschiedlichen Urteile über den Nationalismus Brünings in der diplomatischen Vorstellungswelt, deren Ambivalenz zweifellos zum Vertrauensverlust der Franzosen gegenüber Deutschland beitrug. War Deutschland nach wie vor eine Gefahr oder nicht mehr? Brüning erweckte in jedem Fall das alte Bild vom deutschen Rätsel zum Leben, das dazu beitrug, dass Aristide Briand an Unterstützung verlor und Brünings Handlungsoptionen auf der deutsch-französischen Bühne eingeschränkt wurden. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Ablösung Pierre de Margeries durch Anfré FrançoisPoncet und den Einfluss militärischer Standpunkte auf die Position des Quai d’Orsay berücksichtigen.

473 Übersetzung des Zitats „le budget de la guerre lui–même est un chef–d’œuvre d’obscurité et de camouflage et les personnes qui ne sont pas initiées aux secrets de la politique financière allemande seraient bien embarrassées de découvrir le véritable usage auquel sont destinés tous les crédits de la Reichswehr“. Ebd., S. 25. 474 Ebd., S. 26. 475 Ebd., S. 31. 476 Vgl.

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3.3.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931) Der Bau des Panzerkreuzers B, die mangelnde Dankbarkeit der Deutschen für die vorgezogene Räumung des Rheinlandes, die Aufmärsche des Stahlhelm, der Stapellauf des Panzerkreuzers Deutschland, die Ablehnung des EuropaMemorandums Aristide Briands, die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung, das Vorhaben einer deutsch-österreichischen Zollunion, die Kritik an den Reparationen, die Angst vor einer heimlichen Wiederbewaffnung Deutschlands...477 – die Liste der Probleme, die die deutsch-französischen Beziehungen seit dem Amtsantritt Brünings belasteten, ist lang. Sehr schnell bemerkten Pierre de Margerie und seine Kollegen, dass sich in der deutschen Außenpolitik ein neuer Ton eingeschlichen hatte. Seit Beginn seiner Regierungszeit wurde die Außenpolitik Heinrich Brünings, die sich in ihren Methoden von der Politik seiner Vorgänger unterschied, von den französischen Diplomaten durch die Brille der Geschichte betrachtet. Während Brünings Stillschweigen zu bestimmten internationalen Themen sofort ihr Misstrauen weckte, wurden seine direkten Stellungnahmen regelmäßig auf die Waagschaale der Erfahrungen Frankreichs mit Deutschland geworfen: so zum Beispiel als Brüning sich ein wenig Zeit ließ, bevor er nach den Turbulenzen, die Treviranus’ Rede im August 1930478 ausgelöst hatte, die außenpolitische Position des Zentrums definierte.479 „Er hat mit dem Schweigen gebrochen, an dem er bislang Gefallen gefunden zu haben schien und dessen Dauer früher oder später ein Hinweis auf ein abgekartetes Spiel hätte sein können.“ – die Rede, die Brüning schließlich hielt, konnte beispielsweise den französischen Konsul in Köln, Jean Payart, nicht beruhigen.480 Brünings Stellungnahme hinterließ bei Payart sogar das beunruhigende Gefühl, es mit einem unberechenbaren, opportunistischen Politiker zu tun zu haben, der nicht sagte, was er dachte, und nicht dachte, was er sagte: „Herr Brüning hat sich sowohl aus persönlicher Überzeugung als auch aufgrund seiner internationalen Verantwortung für eine Friedenspolitik ausgesprochen, aber seine Erklärungen scheinen eher aus aktuellen Erwägungen hervorzugehen als aus dauerhaften und festen Prinzipien. Auf jeden Fall ist er weit davon entfernt, sich für eine bedingungslose Friedenspolitik ausgesprochen zu ha477 Vgl. hierzu u.a. die Dokumente zur Abrüstungskonferenz in den Archiven André Tardieus.: MAE, Papiers Tardieu, PA AP, Bd. 499, 500, 502: Conférence générale du désarmement. 478 Als Minister für die besetzten deutschen Gebiete, forderte Treviranus am 10. August 1930 die Revision der deutschen Ostgrenze. 479 Zu den Sorgen, die durch Treviranus Rede ausgelöst wurden, vgl. z.B. die Depesche von Pierre Guerlet, Ministre Plénipotentiaire in Berlin, an Aristide Briand vom 12/08/1930. In: MAE, Serie Z. Politique étrangère, Karton 713: Dossier général 480 „Rompant avec le silence dans lequel il avait jusqu’alors semblé se complaire […] et dont la persistance […] pouvait à la longue apparaître comme révélatrice d’une collusion suspecte“. Depesche von Jean Payart an Aristide Briand vom 06/09/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 713: Dossier général.

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ben.“481 Diese Prinzipienlosigkeit oder diese fehlende Haltung, die klare Prinzipien vermuten ließ, nagte an den Vertretern der französischen Diplomatie und anderen, die sich für eine deutsch-französische Aussöhnung engagierten.482 Viel seltener kritisierten die Franzosen dagegen (das betraf auch die diplomatischen Kreise) ihre eigene Rhetorik und die möglichen schädlichen Auswirkungen dieser Rhetorik auf die deutsch-französischen Beziehungen. „Wenn die Worte des Herrn Treviranus den guten Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich schaden, so sind auch die Worte des ehemaligen französischen Präsidenten [Raymond Poincaré] diesbezüglich nicht minder schwerwiegend“, gab man beispielsweise in Spanien zu bedenken.483 In den ersten Monaten des ersten Brüning-Kabinetts klagten Pierre de Margerie und seine Mitarbeiter über das verbale und personalpolitische Abdriften des neuen Reichskanzlers in die Richtung der antifranzösischen und nationalistischen Positionen der deutschen Rechten. Er wurde sogar verdächtigt, die Pressearbeit des Auswärtigen Amtes in dieser Richtung zu beeinflussen.484 Pierre de Margerie erklärte dem Quai d’Orsay, dass das Deutschland unter Brüning im Begriff sei, politische Umwälzungen vorzunehmen, die das Terrain der deutsch-französischen Beziehungen in ein Minenfeld verwandeln könnten. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die deutsche Regierung der Presse des katholischen Zentrums und anderer gemäßigter politischen Gruppierungen wohl einen Maulkorb verpasst habe, um Frankreich zu beruhigen.485 Allerdings war man sich hier nicht sicher, ob diese Maßnahme dem Wunsch nach einer deutsch-französischen Verständigung entsprungen war oder nur eine simple opportunistische Geste war, um in aller Ruhe weitere zukünftige Schläge gegen Frankreich vorbereiten zu können. Pierre de Margerie beruhigte gleichwohl seine Landsleute, indem er schrieb: Auch wenn Stresemann nicht mehr lebe und Brüning „son successeur, tout le monde le reconnaît, n’a pas la même envergure, ni [sa] force d’indépendance“, bewege sich 481 Übersetzung des Zitats „M. Brüning s’est bien prononcé, tant par conviction personnelle que par conscience de ses responsabilités internationales pour une politique de paix, mais ses déclarations paraissent s’inspirer plutôt de considérations actuelles d’opportunité que de considérations permanentes de principe. En tout cas, il est loin de s’être prononcé pour une politique de paix inconditionnelle“. Ebd. 482 Vgl. Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 03/11/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère. Karton 713: Dossier général. 483 Übersetzung des Zitats „[S]i les paroles de M. Treviranus portent préjudice aux bonnes relations franco–allemandes, les paroles de l’ex–président de la République française [Raymond Poincaré] ne leur causent pas moins de tort“. Ausschnitt aus einem in der spanischen Zeitung Sol veröffentlichten Artikel über die Reden von Treviranus und Poincaré, gesendet von der französischen Botschaft in Spanien an den Quai d’Orsay am 13/08/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 714: Dossier général (Supplément). 484 Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 25/07/1930. In: MAE, Serie Z, Politique Intérieure, Karton 674: Dossier général. 485 Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 16/07/1930. In: MAE, Serie Z, Presse, Karton 619: Dossier général. Vgl. ebenfalls: Depesche von André d’Ormesson an Aristide Briand vom 06/08/1931.

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Deutschland auf dem internationalen Parkett sehr vorsichtig.486 Der französische Botschafter machte auch einen Unterschied zwischen dem außenpolitischen Programm Brünings und dem der Nationalsozialisten. So schrieb er am 11. Dezember 1930, dass die nationalsozialistischen Abgeordneten im Reichstag ohne Ausnahme jung, politisch unerfahren und zutiefst durch ihre Erfahrungen als sehr junge Soldaten im Ersten Weltkrieg geprägt seien. Deshalb stellte de Margerie fest, dass bezüglich der Außenpolitik „nicht die geringste Weisheit von einer Partei zu erwarten sei, in der solche Elemente einen so weitreichenden Einfluss haben“.487 Die entschieden frankreichfeindliche Haltung der Nationalsozialisten war das Thema zahlreicher Korrespondenzen,488 in denen man auch das ungünstiger gewordene Klima für kulturelle deutsch-französische Annäherungsversuche im Stil der Deutsch-Französischen Gesellschaft oder Friedrich Sieburgs ansprach.489 Ein gewisser Doktor Helmut Klotz aus Berlin, ein Deutscher, richtete ein persönliches Schreiben an Aristide Briand, um ihm eine Broschüre ans Herz zu legen, die er selbst zu den „kriminellen“ außenpolitischen Vorhaben der Nationalsozialisten verfasst hatte.490 Mit seinem Text versuchte Klotz die Franzosen für die Gefahr zu sensibilisieren, die eine Machtübernahme Hitlers nach seiner Ansicht für die deutsch-französischen Beziehungen und die französische Sicherheit bedeutete. Er wollte Briand ermutigen, mit Heinrich Brüning die Politik fortzusetzen, die er auch schon mit Stresemann betrieben hatte.491 Schon 1930 glaubte das französische Militär nicht mehr an die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen, was zweifellos auf ihre ohnehin schon latent bis offen misstrauische Haltung gegenüber Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zurückzuführen ist. Für diese Entwicklung war aber auch Brüning mit seinen ungeschickten politischen Manövern verantwortlich, weil diese die alten französischen Ängste vor Deutschland wiederbelebten. So schrieb im November 1930 General Tournés an André Maginot: „Als ich vor fast vier Jahren nach Berlin kam, hatte ich den Eindruck, dass es möglich sein müsste, zwischen Deutschland und Frankreich eine Annäherung herzustellen, die zu engeren Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern führen könnte. Jetzt,

486 Auf diese Weise dämpfte er auch die französischen Ängste vor einer Allianz zwischen Deutschland und Mussolinis Italien. Vgl. Telegramm von Pierre de Margerie an den Quai d’Orsay. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 523. 487 Übersetzung des Zitats „[qu’il] serait vain d’espérer jamais en ce qui concerne la politique extérieure, la moindre sagesse d’un parti où de tels éléments possèdent une influence marquée“. Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 11/12/1930. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 488 Vgl. beispielsweise Depesche von André d’Ormesson, Ministre plénipotentiaire in Bayern, an Aristide Briand vom 14/10/1930. In: MAE, Serie Z, Presse, Karton 618: Dossier général. 489 Vgl. Depesche von M. Henriet, französischer Konsul in Stuttgart an Aristide Briand, vom 05/03/1931. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 739: Relations avec la France. 490 Brief von Helmut Klotz an Aristide Briand vom 05/10/1931. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 714: Dossier général. 491 Vgl. ebd.

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da ich die Hauptstadt verlasse, bin ich der Überzeugung, dass wir für die Zukunft nicht hoffen können, die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass wir beide damit zufrieden sind; unsere beiden Völker trennt die Konstruktion Europas, die aus den Verträgen nach dem Krieg hervorgegangen ist; wir wollen sie erhalten, die Deutschen – zu welcher Partei sie auch immer gehören mögen – wollen sie zerstören. Die Meinungsunterschiede sind schwerwiegend, denn es stehen Interessen gegeneinander, die beide Nationen als überlebensnotwendig erachten.“492 Nach seiner Meinung spiegelte gerade die aktuelle politische Lage ein einheitliches, aggressives und gegen die Franzosen gerichtetes Vorgehen der Deutschen wider: „[T]out varie, tout change avec une brutalité extrême.“493 Die Enthüllung des deutsch-österreichischen Projekts einer Zollunion schlug auch in den diplomatischen Kreisen wie eine Bombe ein und zog eine dramatische Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen nach sich. So sah Lieutenant-Colonel Chapouilly, Militärattaché in Berlin, in Brüning und Curtius ein komplementäres politisches Paar, von dem der eine der Diktator (Brüning) sei und der andere der Nationalist (Curtius). Beide arbeiteten angesichts eines gehorsamen und autoritätsverliebten Volkes und naiver ausländischer Nationen Hand in Hand, um in Gewaltstreichen – und unter moralischer Erpressung des Auslandes – ihre verwegenen Ziele zu verwirklichen. „Man kann nicht umhin, die Ähnlichkeit der Gewaltstreiche Brünings und Curtius’ festzustellen. Der eine nimmt angesichts eines Landes im Chaos den Gummiknüppel des Polizisten in die Hand und weiß genau, dass er dadurch die Masse des deutschen Volkes, die will, dass man ihr befiehlt, an sich binden kann und so in den Augen Europas und der Vereinigten Staaten der Retter der öffentlichen Ordnung bleibt. Der andere realisiert angesichts eines unentschlossen handelnden Europas klammheimlich den wirtschaftlichen Anschluss Österreichs, macht dieses Vorgehen öffentlich und lehnt jegliche internationale Diskussion ab. Wird Europa, um Brüning den Deutschen zu erhalten, der der Revolution den Weg verstellt, sich auf die Kühnheit des Herrn Curtius einlassen? Keinem der beiden Staatsmänner können diese Überlegungen entgan492 Übersetzung des Zitats „En arrivant à Berlin, voici bientôt quatre ans, j’avais l’impression qu’il devait être possible de réaliser entre l’Allemagne et la France, un rapprochement qui permît des rapports faciles entre les deux nations. Au moment de quitter la capitale du Reich, j’ai la conviction que nous ne pouvons songer à établir de longtemps avec l’Allemagne des conditions politiques qui satisfassent elle et nous; entre nos deux peuples se dresse tout l’édifice de l’Europe issu des traités consécutifs à la guerre; nous entendons le maintenir; les Allemands, à quelque parti qu’ils appartiennent, veulent le détruire. Le dissentiment est essentiellement grave puisqu’il oppose des intérêts que chacune des deux nations tient pour vitaux“. Depesche von Général Tournés an André Maginot vom 18/11/1930. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2585. 493 Ebd. Es ist interessant, dass Tournès von einer Wiederkehr brutaler Politik in Deutschland warnte, obwohl er auch schrieb, dass Deutschland wirklich abgerüstet habe. Das war eine absolute Ausnahme in den Militärberichten dieser Jahre. In seinen Augen zeigte Deutschland vor allem auf rhetorischer Ebene wieder ein beunruhigendes Gesicht, weswegen er eindringlich an das französische Ministère de Défense appelierte, diesen Zustand der Entmilitarisierung in Deutschland weiter zu garantieren.

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gen sein.“.494 Alles erschien Chapouilly als ein von langer Hand vorbereitetes Spiel, das in seinen Augen wieder einmal die Verlogenheit Brünings und seiner politischen Entourage belegte. Die Fakten und die gesammelten Eindrücke von der Finanz- und Wirtschaftspolitk Brünings, seine als missbräuchlich empfundene Anwendung des Artikels 48, der schlechte Allgemeinzustand der deutschen Demokratie und nicht zuletzt der politische Katholizismus des Reichskanzlers beeinflussten die französische Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik. Die Mischung, die sich daraus ergab, erwies sich als wenig günstig für den Reichskanzler. Im Laufe seiner ersten Amtszeit entstand nach und nach das Bild von ihm als reaktionärem Politiker und verbissenem Verteidiger deutscher Interessen, hinter denen man die Ziele des „ewigen Deutschlands“ zu entdecken glaubte. Er schien nicht nur die Krise und das Elend in Deutschland zu instrumentalisieren, um sein Land früher oder später von den Bestimmungen des Versailler Vertrags zu befreien (den Reparationen und der Grenzrevision), sondern auch Deutschland wieder zu seiner alten militärischen und industriellen Größe zurückführen zu wollen, die von Frankreich als eine Bedrohung wahrgenommen wurde. Nicht zuletzt wirkte auch seine Haltung gegenüber den Nationalsozialisten und ihren internationalen Forderungen unklar, selbst wenn die meisten Diplomaten seinen Widerstand gegen Hitler anerkannten. 3.3.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) In der zweiten Hälfte seiner Amtszeit intensivierte sich die negative Wahrnehmung Brünings auf dem internationalen Parkett. Zudem verfestigte sich in der diplomatischen Vorstellungswelt der Eindruck, dass er die deutsche Demokratie, die deutschen Finanzen und seine eigene Regierung als gefährdeter hinstellte, als sie eigentlich waren. Was die beiden Hauptthemen betraf, welche die Franzosen beschäftigten, nämlich die Reparationen und die Abrüstung, schien Brüning nach Ansicht der diplomatischen Vertreter „undurchsichtigere Ideen und Projekte [zu verfolgen] als

494 Übersetzung des Zitats „On ne peut s’empêcher maintenant de remarquer la parenté de deux coups de force de Brüning et de Curtius. L’un, devant une Allemagne en désordre, prend le Gummiknüppel [sic] du policier, et il sait bien que, ce faisant, il ralliera à lui la grande masse des Allemands dont le besoin premier est d’être commandés, et conservera aux yeux de l’Europe et des Etats–Unis sa figure de sauveur de l’ordre. L’autre, devant une Europe irrésolue réalise en secret l’Anschluss économique, publie officiellement son acte et se refuse à toute discussion internationale. Pour conserver à l’Allemagne Brüning, qui barre la route à la révolution, l’Europe n’admettra–t–elle pas les audaces de M. Curtius ? Ce raisonnement n’a pas pu échapper ni à l’un ni à l’autre de ces deux hommes d’Etat“. Depesche von Lieutenant– Colonel Chapouilly an André Maginot vom 31/03/1931. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2586.

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die, die wir ihm zuschreiben würden“.495 Die Regierung Brüning „legt immer eine große Entschiedenheit an den Tag; aber in Wirklichkeit schwankt sie in ihren Ideen“, lautete das Fazit François-Poncets.496 Das Bild des unberechenbaren, unehrlichen Brüning vermischte sich immer mehr mit der Angst, dass dieser ganz ruhig auf den Moment warte, der es ihm erlaubte, Frankreich mit einem minuziös vorbereiteten Schlag zu überraschen, gegen den Frankreich sich nicht wehren könne. Der neue französische Botschafter in Berlin verglich Brüning mit Jules Mazarin, der gern „auf Zeit spielte“ und dem es dadurch gelang, über einen langen Zeitraum seine Politik abzusichern.497 Laut François-Poncet verwende Brüning mit der Gelassenheit und der moralischen Gefasstheit, die ihm gegeben sei,498 dieselbe Sprache wie Adolf Hitler.499 Was Deutschland mit seiner wiederhergestellten Macht einmal anfangen werde, beschäftigte die Diplomaten in besonderem Maß.500 Der Ton der französischen Urteile über die „ungeduldige“ außenpolitische Haltung Brünings501 wurde ab Herbst 1931 zugleich wachsamer und aufgeregter. Die Vorstellung, Brüning nutze eine größere innenpolitische Stabilität dazu, zielstrebig zu einer Außenpolitik im Stil Preußens und Wilhelms II. zurückzukehren, schien sich zu bestätigen. Nach dem zweiten Wahlgang bei den Reichspräsidentenwahlen – „qui ont prouvé la progression d’un nationalisme de plus en plus ardent“ – habe es die vorübergehende stille Zeit Brüning erlaubt, seinen Coup gegen Frankreich taktisch vorzubereiten und sein „Stillschweigen“ zu brechen, um sich der Gesamtheit der französischen diplomatischen Kreise in Berlin als „l’écho de l’intransigeance de toute l’Allemagne d’aujourd’hui“ zu zeigen.502 So lautete bei-

495 Übersetzung des Zitats „[de poursuivre] des idées et des projets moins nets que ceux et celles que nous sommes tentés de lui prêter“. Bericht von André Francois–Poncet über seine Unterredung mit Heinrich Brüning und Bernhard von Bülow im Januar 1932, gesendet an Aristide Briand, am 06/01/1932. In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Serie B, Karton 193: Dépêches politiques. 496 Übersetzung des Zitats „affecte toujours la plus grande assurance; en réalité, son esprit est flottant“. Ebd. 497 Ebd. 498 Vgl. Bericht von André François–Poncet über sein Gespräch mit Heinrich Brüning im Dezember 1931, gesandt an Aristide Briand, am 21/12/1931. In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Serie B. Karton 193: Dépêches politiques. 499 Vgl. Bericht von André François–Poncet über seine Unterredung mit Heinrich Brüning und Bernhard von Bülow im Januar 1932, gesendet an Aristide Briand, am 06/01/1932. In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Serie B, Karton 193: Dépêches politiques. 500 Die Dokumente u. a. in den Archiven von René Massigli veranschaulichen, wie sehr diese Frage die diplomatischen Kreise beschäftigte. Vgl. MAE, Papiers René Massigli, PA AP 217, Bd. 13: Direction politique. 501 Vgl. die Ausschnitte aus den Reden und offiziellen Stellungnahmen zur deutschen Haltung im Kontext der Vorbereitungen für die Abrüstungskonferenz vom 25/04/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 197: Conférence générale du désarmement. 502 Depesche von Colonel Chapouilly an François Piétri vom 10/05/1932. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2589.

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spielsweise die Lagebeschreibung des Colonel Chapouilly, die dieser am 10. Mai 1932 an François Piétri sandte. Nach Ansicht des Militärattachés demonstrierte Brüning das neue deutsche Selbstbewusstsein und versuchte nicht einmal mehr, das wahre militaristische Gesicht Deutschlands zu verstecken. Brünings Forderungen nach militärischer Gleichberechtigung verrieten ein „für sich selbst sprechendes“ und „gewaltsameres“ Vorgehen als in der Vergangenheit: „Der Kanzler lässt alle seine Artillerieeinheiten zum Vorschein kommen; er geht nicht mehr auf leisen Sohlen, es ist eine Offensive.“503 Die direkte historische Linie oder Entwicklung von Wilhelm II. zu Brüning und Hitler war selbst in den gebildeten Kreisen der Diplomaten schnell etabliert. Infolge der Veröffentlichung der Stresemannschen Memoiren blieb selbst dessen Ausnahmestatus nicht mehr unangetastet, „denn es war gerade der Freimaurer und der selbsternannte Frankophile Stresemann, der der deutschen Revisionspolitik eine feste Basis schuf“.504 Auch wenn Brüning bis in die ersten Monate des Jahres 1932 hinein immer wieder vorübergehend den Eindruck eines maßvollen, ruhigen, geradezu kirchenfrommen und diskreten Menschen vermittelte,505 konnten sich diese Bilder in der Vorstellungswelt der Diplomaten nicht mehr durchsetzen. Im Gegenteil: Trotz des Bewusstseins der wachsenden Isolation Frankreichs auf internationaler Ebene war man überzeugt, es sei wichtig, „dass diese für Deutschland günstige Situation beendet wird, bevor man über Fragen verhandelt, bei denen wir Gefahr laufen, uns gegen die Mehrheit der anderen mächtigen Staaten zu stellen“.506 Nach Ansicht François-Poncets war Brüning kein Nationalist, aber sehr von „einem starken Nationalgefühl“ und „einer leidenschaftlichen Hingabe an sein Land“ geprägt, die aus seinen Erfahrungen als Soldat an der Westfront im Ersten Weltkrieg hervorgegangen seien.507 Sein Porträt Brünings als Nationalkonservativer hatte aber einen entscheidenden dunklen Fleck, weil es zwei Seiten hatte, wie immer, wenn François-Poncet den Reichskanzler beschrieb. „Der Kanzler ist kein Nationalist und er wird sich auch immer ablehnend gegenüber den Auswüchsen 503 Übersetzung des Zitats „[L]e chancelier démasque toutes ses batteries; il ne marche plus à pas feutrés, c’est une offensive“. Ebd. 504 Übersetzung des Zitats „puisque c’est précisément le franc–maçon et soi–disant francophile Stresemann qui a donné de solides bases à la politique de revendications allemandes“. Nicht signierter Brief an André Tardieu vom 30/04/1932. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 713: Dossier général. 505 Vgl. Telegramm von André François–Poncet, telefonisch übermittelt an den Quai d’Orsay, vom 29/04/1932. In: MAE, Serie Z, Presse, Karton 619: Dossier général; Anmerkung zur Taktik bei der Abrüstungskonferenz, vom 21/01/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 498: Conférence générale du désarmement. 506 Übersetzung des Zitats „que cette atmosphère favorable à l’Allemagne se dissipe avant qu’on ne soit entré dans la discussion des questions qui risquent de nous opposer à la majorité des puissances“. Anmerkung zur Taktik bei der Abrüstungskonferenz, vom 21/01/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 498: Conférence générale du désarmement. 507 Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 24/02/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 500: Conférence générale du désarmement.

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des Chauvinismus, der Demagogie der nationalsozialistischen Meinungsführer und einiger ihrer überzogenen Forderungen zeigen“, aber „er ist zu stolz auf sein Vaterland, um nicht darüber besorgt zu sein, dass viele unüberlegte Gemüter […], die aber treu zu ihrem Land stehen, der Bewegung um Hitler in die Arme gelaufen sind“, die er natürlich durch gegenseitige Konzessionen für sich gewinnen wolle.508 Ob es nun die deutsche Innen- oder die Außenpolitik betraf, François-Poncet sah überall Kontaktmöglichkeiten zwischen Brüning und Hitler. Aus der Sicht des Franzosen näherte sich Brüning unvermeidlich durch die Übernahme einer „unversöhnlichen Sprache“ dem „Hitlerischen Nationalismus“ an, der ohnehin schon so sehr die ganze „deutsche Diplomatie“ und die „deutsche Armee“ durchdrungen habe, dass „die gesamte Außenpolitik von Herrn Brüning davon geprägt“ sei.509 Mit dem Personalwechsel in der französischen Botschaft in Berlin hatte auch das problematische Bild des Nationalkonservativen oder Nationalisten Brüning einen qualitativen Wandel vollzogen. Brünings und Hitlers Forderungen schienen seitdem ineinanderzugreifen. Noch einmal ist hier das fatale französische Fehlurteil über die nationalsozialistische Ideologie und das mangelnde Bewusstsein für die politischen Bedürfnisse Heinrich Brünings und Deutschlands festzustellen. Für den Historiker Maurice Vaïsse war André François-Poncet der einzige Botschafter, der eine genaue Vorstellung von dem gewünschten Verlauf der deutsch-französischen Beziehungen erarbeitet hatte.510 Angesichts seiner Fehlurteile über den Nationalsozialismus, seines schiefen Brüning-Bilds und seiner widersprüchlichen Ratschläge an den Quai d’Orsay kann man diese Einschätzung von Maurice Vaïsse zumindest für die ersten Monate seiner Tätigkeit als Botschafter nicht bestätigen. Noch in seinen Erinnerungen stellte François-Poncet den Reichskanzler als einen Politiker vor, der „une opération désastreuse“ in der Politik unternommen habe,511 aber „plein de bonne foi, de simplicité et de dignité“ für Deutschland eintrat.512 Sehr oft und bis über seine Zeit als Botschafter hinaus fehlte es François-Poncets Urteilen eindeutig an Kohärenz.

508 Übersetzung des Zitate „Le chancelier n’est pas nationaliste et il restera toujours hostile aux excès du chauvinisme, à la démagogie des chefs national–socialistes, à l’absurdité de certaines de leurs revendications“ und „ il est trop national, pour ne pas se montrer sensible au fait que dans le mouvement hitlérien se sont égarés beaucoup d’esprits irréfléchis […] et sincèrement dévoués à leur pays“. Ebd. 509 Vgl. ebd. 510 Vaїsse: Against Appeasement, S. 231. 511 François–Poncet: De Versailles à Potsdam, S. 161. 512 François–Poncet: Souvenirs, S. 18.

V BRÜNING DER KATHOLIK Der Katholizismus Brünings war das vierte zentrale Thema, das die Franzosen im Zusammenhang mit dem Reichskanzler beschäftigte. Für viele von ihnen, selbst außerhalb der PDP und der elitären kulturellen Kreise war der tiefe katholische Glaube Brünings ein Synonym für Integrität, die Bereitschaft zu einer Annäherung der Völker und zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, vor allem was die außenpolitischen Interessen der Nationalsozialisten betraf.1 Aufgrund der Quellenlage ist es nicht möglich, genau festzustellen, inwieweit die Franzosen außerhalb des katholischen Kreises rund um den Parti Démocrate Populaire über den Ursprung und das theologische Fundament des Brüningschen Katholizismus und über seine Aktivitäten im Umfeld der Katholischen Kirche informiert waren. Stattdessen wird hier der christliche Werdegang Heinrich Brünings nachgezeichnet, um zu prüfen, ob die französischen Hoffnungen, die auf seinen Glauben gesetzt wurden, gegenstandslos waren oder nicht. In jedem Fall eröffnet der Katholizismus Brünings als vielversprechende Verbindung oder Brücke zwischen Franzosen und Deutschen eine außergewöhnliche Forschungsperspektive auf den deutschen Politiker und die deutsch-französischen Beziehungen Anfang der 1930er Jahre. Heinrich Brüning ist in einer zutiefst christlich geprägten Familie aus dem Umland von Münster aufgewachsen. Sein älterer Bruder Hermann Joseph wurde Priester und seine Schwester Maria Gemeindeschwester. Sie blieb wie ihre Brüder zeit ihres Lebens unverheiratet.2 Als Student trat Brüning den christlichen Studentenverbindungen CV Langobardia in München und dem CV Badenia in Straßburg bei. Angeregt durch seine Freunde3 begann er sich für die liturgische Bewegung der Katholischen Kirche und die Idee der Völkerverständigung zu interessieren. Dank seinen Kommilitonen machte er die Bekanntschaft mit den Ideen des Theologen Hermann Schell, der den Chauvinismus der europäischen Völker durch die vielversprechende Begegnung von christlicher Tradition und moderner Welt zu überwinden suchte. Brüning nahm mit seinen Freunden4 an den Treffen katholischer Universitätsangehöriger in den Klöstern Beuron und Maria Laach teil, wo er Robert Schuman, dem späteren Präsidenten und Außenminister der IV. französi1

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Die Vorstellungen der französischen Katholiken von einer deutsch–französischen Annäherung waren Anfang der 1930er Jahre nicht einheitlich. Sie gründeten auf den Stellungnahmen von Papst Pius XI. zwischen 1922 und 1931, die ihnen allerdings noch keine konkrete Konzeption für die Organisation Europas ermöglichten. Vgl. Keller: Katholische Europakonzeptionen, S. 229f. Die Eltern Friedrich Wilhelm und Bernardine Brüning hatten noch drei weitere Kinder, die alle im ersten Lebensjahr starben. Der Vater Friedrich Wilhelm starb, als Heinrich Brüning zwei Jahre alt war. Theodor Abele, Hermann Platz, Paul Simon etc. Sein Freundeskreis nannte sich Werl–Soester–Kreis.

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schen Republik, begegnete. Brüning verfolgte mit Interesse die neue katholische Blüte in Frankreich, die der zeitgenössischen liturgischen Bewegung und christlichen Literatur entscheidende Impulse gab. Patriot, ohne chauvinistisch zu sein, kritisch gegenüber Deutschland und überzeugt, dass die Elsässer weder richtige Franzosen noch richtige Deutsche waren – der Student Brüning hat sich durch Begegnungen mit französischen Freunden und einem Studienaufenthalt in Paris vor dem Ersten Weltkrieg mit dem französischen Leben vertraut gemacht, ohne dabei „frankophil“ zu werden.5 Während seiner politischen Karriere hat Brüning den Kontakt zu seinen katholischen Freunden nicht verloren. Zu gut passte deren Vorstellung von der Welt mit seiner Überzeugung eines christlichen Staatsmannes zusammen, der sowohl Diener seines Staates als auch gläubiger Sohn der Kirche sein wollte. An Neujahr 1929/30 fand er sich noch einmal mit seinem Bekannten Paul Simon zu einem Treffen im Kloster Maria Laach ein, an dem auch Martin Heidegger und Joseph Goebbels teilnahmen.6 1930 nahm Brüning dann mit Staatssekretär Hermann Pünder an der Fronleichnamsprozession in Berlin und am 69. Deutschen Katholikentag in Münster teil, wo er als Vertreter des katholischen Zentrums erklärte, dass seine politische Verantwortung in seinem Glauben gründete und ihn verpflichte, nach Kompromissen zwischen den gegnerischen Parteien zu suchen, um langfristig die politische Ordnung und das Glück des deutschen Volkes garantieren zu können.7 Im darauffolgenden Jahr verhinderte die angespannte innenpolitische Lage seine Teilnahme am Nürnberger Katholikentag. Sein tiefer christlicher und intellektuell geprägter Glaube unterschied Brüning von Stresemann und mündete in dem Bild eines autoritären christlichen Staatsmannes, das von seiner Partei propagandistisch genutzt wurde. Sie stilisierten ihn als „Führer Brüning“ und verglichen ihn nach seinem Sturz sogar mit Perikles.8 Seine Rolle als integre Führungsfigur und Gegner politischer Extremismen machte den Reichskanzler sehr populär, vor allem im Umkreis katholischer Arbeiterbünde. Sie scheint auch einen Teil der Franzosen berührt zu haben, wie die Arbeiten des Historikers JeanClaude Delbreil oder die Memoiren André François-Poncets bezeugen, in denen der ehemalige Botschafter beispielsweise an Brünings Besuch der Messe in der Kirche Notre Dame des Victoires am 19. Juli 1931 erinnert, zu der Brüning gemeinsam mit dem französischen Minister Jean Champetier de Ribes ging.9

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Hömig: Brüning (I), S. 51. Zu diesem Zeitpunkt hatte Goebbels sich noch nicht vom Christentum distanziert. Hömig: Brüning (I), S. 225. Vgl. ebd., S. 226. François–Poncet: Souvenirs, S. 22; Delbreil: Catholiques français, S. 151ff; Idem: Centrisme et démocratie chrétienne, S. 259ff.

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1. Brüning in der Vorstellungswelt der wissenschaftlich-universitären und politisch-kulturellen Kreise Der christliche Glaube des deutschen Reichskanzlers hat mehr als jeder andere Aspekt seiner Persönlichkeit die Frage nach sich gezogen, ob er nun oder nicht ein „guter Deutscher“ sei, dessen moralische, fast klerikale Integrität ihn an sich zum Gegner des anderen düsteren, gefährlichen und geistlosen Deutschlands werden lassen sollte. Der Katholik Brüning weckte in den wissenschaftlich-universitären und politisch-kulturellen Kreisen die Hoffnung, dass die neue deutsche Regierung sich den nationalsozialistischen Ideen widersetzen werde und eine deutschfranzösische Annäherung erleichtere. 1.1 Der Katholizismus: Motor für die deutsch-französische Annäherung Die Idee eines katholisches Engagements als Träger der deutsch-französischen Annäherung beschäftigte poltische, kulturelle und kirchliche Führungskräfte zugleich zwischen 1930 und 1932. Das belegt die umfangreiche, vollkommen heterogene Korrespondenz zwischen verschiedenen Repräsentanten der französischen Regierung (Poincaré, Daladier, Herriot etc), des diplomatischen Korps (Payart, französischer Konsul in Köln; Guérlet, Ministre plénipotentiaire in Berlin; Briand; Berthelot und andere) und Organisationen wie dem Comité Catholique des Amitiés Françaises à l’Etranger (Mgr A. Baudrillart von der Académie Française; Monseigneur Beaupin und andere), die sich mit dem Engagement im Namen der Franzosen des Schweizer Abbé Delabays in Deutschland beschäftigten.10 In den zeitgenössischen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen war Brünings Katholizismus dagegen kein dominantes Thema. Einige Autoren beschäftigten sich dennoch damit, wie zum Beispiel die beiden Publizisten H. R. Knickerbocker und Gabriel Roger, die Juristen René Laurent und Bernard Lavergne, auch der Militärangehörige Paul Tirard und der Autor Maurice Pernot. Bernard Lavergne betonte, dass es einen „unüberbrückbaren Graben“ zwischen der Partei Hitlers und dem katholischen Zentrum gebe, der darauf beruhe, dass Brüning seine katholischen Überzeugungen offen bekenne und „sehr weit fortgeschrittene soziale Konzeptionen“ fördere.11 Dieser Katholizismus der Zentrumspartei und des Reichskanzlers gehe zwar auch mit einer gewissen „reaktionären“ Disposition einher,12 sei aber eine Garantie für den Frieden: „Die Liebe zum Vaterland wäre ziemlich engstirnig, wenn sie uns verbieten würde, die Kultur anderer Völker zu bewundern, was oft vorkommt, oder manchmal gar zu lieben.

10 Vgl. CADN, Fonds d’administration centrale, Serie des Service des Œuvres françaises à l’étranger. Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Abbé Delabays. 11 Vgl. Lavergne: Esquisse des problèmes franco–allemands, S. 19f. 12 Vgl. ebd., S. 23.

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Genauso wie zwischen Menschen ist die Liebe zwischen Völkern viel stärker und viel gewinnbringender als der Hass. Keiner, der heute aufgeklärt ist, kann dies bestreiten und vor allem kein Christ.“13 1.2 Brüning, ein katholisches Hindernis für den nationalsozialistischen Aufstieg Selbst René Laurent, der ansonsten die Politik Brünings scharf kritisierte, setzte seine ganze Hoffnung auf die deutschen Katholiken. In seinen Augen engagierten sich nur die Katholiken und die Sozialisten, die Mitglieder in den Gewerkschaften oder der Reichswehr waren, für den Kampf gegen Hitler.14 Für ihn war das katholische Zentrum „le principal pilier du régime“,15 weil die Partei die große Mehrheit der Katholiken von der monarchistischen Rechten bis zu den christlichen Gewerkschaften des linken Parteiflügels vereine, die auf diese Weise ein entscheidendes Bollwerk gegen den Nationalsozialismus bilden könnten.16 Eine Einschränkung machte Laurent aber dann doch, als er erwähnte, dass ein katholischer Priester und ein evangelischer Pastor im Rahmen des Harzburger Treffens einen Gottesdienst gefeiert hätten, was die Kriegsbegeisterung bis in die Reihen der Kirche hinein verrate.17 Seine Sicht auf Brüning als nationalistische und katholische Führungsperson der Zentrumspartei zeigt sich so aber weniger widersprüchlich als kohärent. Der Journalist Knickerbocker war in seiner Bewertung des Brüning’schen Katholizismus für die Zukunft Deutschlands und der deutschfranzösischen Beziehungen genauso ambivalent wie Laurent. „Der Kanzler gehört der katholischen Zentrumspartei an, bei der schon der Name die gemäßigte Haltung zum Ausdruck bringt“,18 schrieb er, bewertete aber gleichzeitig seine politischen Maßnahmen, wie beispielsweise die deutsch-österreichische Zollunion, als „hitlériennes“. Tirard unterstrich anlässlich der deutschen Reaktion auf die Rheinlandräumung und trotz seiner Kritik an den zwei Gesichtern der deutschen Politik ebenfalls den maßvollen Geist des katholischen Zentrums, wie er im Sprachrohr der Partei Germania vertreten wurde.19 Für Maurice Pernot zeigte sich bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 die Entschlossenheit des Zentrums, Hitler den Weg zur Macht zu versperren – „l’homme dont leurs évêques avaient condamné

13 Übersetzung des Zitats „L’amour que nous portons chacun à notre patrie serait bien mesquin s’il nous interdisait d’admirer souvent et même d’aimer parfois la culture des autres patries. Entre peuples comme entre personnes humaines l’amour est plus grand, plus fécond que la haine. Quiconque, à l’heure actuelle est un esprit civilisé ou, à plus forte raison, chrétien, ne peut y contredire“. Ebd., S. 119. 14 Vgl. Laurent: Le national–socialisme, S. 11. 15 Ebd., S. 217. 16 Vgl. ebd., S. 179. 17 Vgl. ebd., S. 225. 18 Übersetzung des Zitats „Le chancelier appartient au parti catholique du centre, dont le titre même indique un esprit de modération“. Knickerbocker: Allemagne, S. 230. 19 Tirard: La France sur le Rhin, S. 446.

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la doctrine“ – und Brüning als ihren Parteichef in der Regierung zu halten.20 Der Publizist Gabriel Roger schließlich widmete dem katholischen Zentrum und seinen christlichen Anhängern ein ganzes Kapitel. Auch er war überzeugt, dass die Zentrumspartei gemeinsam mit der SPD entschieden gegen Hitler vorgehen wolle.21 Er schrieb über ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus und erwähnte auch den antikommunistischen Kampf der christlichen Gewerkschaften, die Heinrich Brüning geprägt hatten: „Die christliche Arbeiterschaft lehnt auch den Nationalsozialismus ab, dessen rassistische Haltung dem Christentum widerspricht. Die christliche Arbeiterschaft hat mit großem Einsatz die marxistische Theorie bekämpft […]. Ebenso lehnen sie die nationalsozialistischen Ansichten ab, nach denen sich die wahre Zivilisation über Blutsverwandtschaft mit der nordischen Rasse definiert. Diese beiden Theorien sind nur der Ersatz einer Religion. Die christliche Arbeiterschaft lehnt sie als antichristlich und unreligiös ab.“22 Die christlichen Gewerkschaften, die Heinrich Brüning von 1921 bis 1931 geleitet habe, kämpften für die Freiheit der Arbeiterklasse, für die Freiheit der zivilisierten Gesellschaft und des christlichen Lebens und für die nationale Freiheit der Deutschen und eine soziale politische und wirtschaftliche Ordnung, was für Roger bewies, dass „[l]es alarmes des syndicats chrétiens (comme celles des syndicats socialistes) ne se limitent pas […] à l’ordre doctrinal“.23 Diese gegen Hitler gerichtete katholische Bastion war aber aus der Sicht des französischen Publizisten nur auf die christlichen Gewerkschaften beschränkt. Abgesehen von den christlichen Gewerkschaftlern sympathisiere nämlich eine mächtige „extrem rechts“ stehende Mehrheit der Katholiken mit Hitler oder „tout au moins avec le Hitler du relèvement de l’Allemagne“.24 In dieser Beschreibung schimmerte die Hoffnung durch, die Roger auf das Gewerkschaftserbe im Denken und Handeln Brünings setzte, aber auch seine Zweifel an der Treue der katholischen Wähler zu Brünings Partei. Diese Sichtweise beherrschte durchgängig die Meinungen der universitären und intellektuellen Kreise zur Macht des Brüningschen Katholizismus. Unabhängig von ihrer eigenen politischen Ausrichtung teilten die sechs hier beschriebenen Autoren die Wahrnehmung Brünings als katholischen Felsen in der nationalsozialistischen Brandung, aber sie zweifelten einhellig am Widerstandswillen gegen die Nationalsozialisten bei den katholischen Wählern, der klerikalen Obrigkeit und selbst den Anhängern des rechten Zentrumsflügels. Was die in den 20 Pernot: L’Allemagne de Hitler, S. 115. 21 Vgl. Roger: Hitler, S. 161. 22 Übersetzung des Zitats „Les travailleurs chrétiens répudient également le national–socialisme dont la foi raciste est contraire au christianisme. Les travailleurs chrétiens ont combattu passionnément la thèse marxiste […]. De même, ils récusent les théories national–socialistes proclamant que la vraie civilisation dépend du sang de la race nordique. Les deux théories sont un Ersatz de religion. Les travailleurs chrétiens les répudient comme étant antichrétiennes et anti–spirituelles“. Ebd., S. 164f. 23 Übersetzung des Zitats „[l]es alarmes des syndicats chrétiens (comme celles des syndicats socialistes) ne se limitent pas […] à l’ordre doctrinal“. Ebd., S. 166. 24 Ebd., S. 168.

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wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen zwischen 1930 und 1933 zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf den christlichen Glauben des Reichskanzlers betraf, so war dies das einzige Thema, bei dem alle Autoren dieselbe Meinung vertraten. 1.3 Hoffnung auf die Katholiken Um die Beschreibung der Hoffnungen abzurunden, die ein Teil der Franzosen auf den Katholizismus Heinrich Brünings setzte, soll hier noch ein Beispiel aus dem Klerus folgen. Père Delattre, der sich für eine deutsch-französische Annäherung und eine föderale Kleinteilung Deutschlands mit Hilfe der Katholiken einsetzte,25 illustriert das Misstrauen der Franzosen gegenüber den Deutschen. Sie zweifelten an der Friedensbereitschaft der Deutschen und ihrem Willen abzurüsten, begegneten dem deutschen Denken mit Unverständnis und sahen in Deutschland eine Bedrohung für Frankreich und auf Dauer für ganz Europa.26 Um diese Hindernisse für eine deutsch-französische Verständigung zu überwinden, forderte Père Delattre die energische Suche nach moralischen Garantien ein und richtete sich direkt an die Presse und die christlich geprägten Parteien beider Länder, ohne aber Heinrich Brüning explizit anzusprechen. Er bat eindringlich um „des rapports basés sur plus de bienveillance et de sincérité“27 und machte deutlich, dass ihm die religiös gebundenen Parteien und Fraktionen mehr Hoffnung und Vertrauen einflößten als die übrigen Parteien. Comte Wladimir d’Ormesson,28 der sich im Comité franco-allemand engagierte, und der katholische Intellektuelle Jean de Pange teilten Delattres Ansicht.29 2. Brüning in der Vorstellungswelt der Presse Ist Brüning ein „guter Deutscher“? Diese Frage war in der journalistischen Vorstellungswelt eng mit den Urteilen über Brünings Katholizismus verknüpft. Dieser erlaubte es einer Mehrheit der Franzosen, sich leichter mit ihm zu identifizieren

25 Vgl. Keller: Katholische Europakonzeptionen, S. 230f. 26 Vgl. Rede von Père Delattre: Le rapprochement franco–allemand. Les obstacles à l’apaisement des esprits. (Die Rede wurde in der Regierungszeit Brünings gehalten. Das genaue Datum ist nicht angegeben.) In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Serie B, Karton 465: Echanges culturels. 27 Ebd. 28 Vgl. D’Ormesson: Le rapprochement franco–allemand. Difficultés qui s’y opposent actuellement. Possibilités d’une action commune. (Die Rede wurde in der Regierungszeit Brünings gehalten. Das genaue Datum ist nicht angegeben.). In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Serie B, Karton 465: Echanges culturels. 29 Vgl. Réau: Jean de Pange: un intellectuel catholique devant l’idée du rapprochement franco– allemand, S. 241ff.

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als mit dem Rest „dieses preußischen und protestantischen Deutschlands“. Natürlich war diese Form der Identifizierung in der rechten Mitte weiter verbreitet als in der linken Mitte. a) Von der linken Mitte zur extremen Linken In den Zeitungen der Linken war Brünings christlicher Glaube nur sehr selten ein Thema. Seinen Katholizismus erwähnten sie nur beiläufig, ohne näher darauf einzugehen. Etwas detalliertere Stellungnahmen kamen nur hin und wieder und auch nur in sehr wenigen Blättern vor. Dennoch sind zwei Tendenzen in der Bewertung des christlichen Staatsmannes zu erkennen, die den rechten Flügel der Sozialisten von dem linken Flügel der Sozialisten bis hin zu den Kommunisten deutlich unterschieden. Im Etudiant Socialiste wurde Anfang der 1930er Jahre über die Frage diskutiert, ob Sozialismus und Katholizismus vereinbar seien. In den meisten Artikeln wurde die Ansicht vertreten, dass beides durchaus kompatibel sei, wenn dadurch nicht der staatliche Laizismus gefährdet werde.30 Manche Zeitungen – sogar die antiklerikale Lumière – bewerteten den Katholizismus Brünings als sehr nützlich, weil er als eine seiner Beweggründe für den deutlicher gewordenen Kampf gegen die Nationalsozialisten nach den Septemberwahlen wahrgenommen wurde: „Als besonnener Geist und überzeugter Katholik konnte Herr Brüning es keinen einzigen Augenblick in Erwägung ziehen, mithilfe Hitlers und seiner Anhänger zu regieren, die entschieden antikatholisch auftreten.“31 In der französischen Vorstellungswelt tauchte dieses Bild des Katholiken Brüning als Hindernis für die nationalsozialistischen Ideen auf deutscher, deutsch-französischer und internationaler Ebene immer wieder auf. Tatsächlich wurde Brünings Katholizismus in keiner sozialistisch geprägten Zeitung wirklich kritisiert, mit Ausnahme des Bulletin mensuel du Service de Documentation, in dem, ohne allerdings die neue deutsche Regierung zu erwähnen, der Katholizismus als prinzipiell „intolerante“ Religion dargestellt wurde.32 Auf Grundlage dieser Meinung konnte eine Diskussion über das Christentum als Träger einer deutsch-französischen Annäherung nicht einmal gedacht werden. Diese scharf links stehende sozialistische Bewegung und die Kommunisten waren die Einzigen, die aus dem Katholizismus des Reichskanzlers eine Zielscheibe für ihre scharfen Angriffe machten.33 Gemäß der kommunisti30 Vgl. L’Etudiant Socialiste, Januar 1931. Philipp, André: Christianisme et laicité, S. 1–5. 31 Übersetzung des Zitats „Esprit pondéré, catholique convaincu, M. Brüning ne pouvait pas envisager une minute de gouverner avec l’aide des Hitlériens, violemment anti–catholiques“. La Lumière vom 04/06/1932. Grumbach, Salomon: Hindenburg contraint Brüning à quitter le pouvoir, S. 2. 32 Vgl. Bulletin Mensuel du Service de Documentation, Juni 1930. L’Action laïque: L’Eglise catholique et la tolérance, S. 12. 33 Brüning wurde beispielsweise als „l’ultra–clérical“ bezeichnet. Vgl. L’Humanité vom 05/04/1931. Péri, Gabriel: Les ouvriers social–démocrates se révoltent contre leurs chefs.

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schen Ideologie, dass man die Religion ganz aus Politik und Gesellschaft verbannen sollte, war der tiefe Katholizismus Brünings keinerlei moralische Garantie. Im Gegenteil – als Beweis für sein moralisches Defizit wurde sogar vorgeführt, wie sehr sich „das christliche Bürgertum“, zu dem Brüning gehörte, über das Elend der Arbeiter lustig machte. Regards veröffentlichte eine Karikatur eines deutschen Kommunisten, auf der ein dicker Bürgerlicher zu sehen ist, der von einem Engel beschützt auf einem Tisch sitzt und eine große Fleischkeule verspeist, während er einer mageren Kreatur unten vor seinem Tisch einen kleinen Apfel reicht.34 Nicht zuletzt glaubten die Kommunisten eine Hinwendung der deutschen Parteien und besonders des katholischen Zentrums zum „Faschismus“ feststellen zu können. Sie warfen der Partei Brünings vor, „rein konfessionell“ zu sein und „keine politische Überzeugung“ zu haben.35 Der Kapitalismus, das Christentum und der Faschismus bildeten für sie eine Einheit, zu deren Vertretern auch Brüning zählte, den die linken Extremisten darum bekämpfen wollten. b) Von der rechten Mitte zur extremen Rechten Der Petit Parisien widmete der „doppelten Bedeutung“ von Brünings Teilnahme an der Messe in der Kirche Notre-Dame-des-Victoires einen kurzen Artikel: „Trotz der Müdigkeit nach der Reise“ und obwohl Julius Curtius sich lieber weiter ausruhte, hatte der deutsche Kanzler darum gebeten, an der Seite von Jean Champetier de Ribes an „der monatlichen Messe für den Frieden“ um 8 Uhr 15 teilzunehmen.36 Auch wenn es sich nicht um einen Artikel handelte, der ins Auge sprang, insistierte das offiziöse Sprachrohr des Quai d’Orsay dennoch darauf, dass Brüning eigens zu dieser Versöhnungsmesse kommen wollte, und zwar an der Seite eines Politikers, der sich für den Frieden einsetzte. Der wohlwollende Ton, mit dem in den meisten Artikeln von La Croix über Brünings Wirtschafts- und Finanzpolitik, seine Rolle in der deutschen Republik oder seine Außenpolitik geschrieben wurde, ist eine Ausnahme in der rechts orientierten Presse. Zweifellos gab der tiefe und überzeugte Katholizismus des Reichskanzlers dafür den Ausschlag, weil er für die christlich geprägten Journalisten ein Zeichen für eine standhafte Moral war. Ausgehend von der Idee, dass „la vraie paix […] juste, sincère et durable, sera l’œuvre non pas de la coalition des gauches, mais bien de la fraternité des catholiques“,37 erwähnten die Reporter von

34 Regards, März 1932. Karikatur aus der Zeitschrift Roter Pfeffer (Berlin): En marge des actions philanthropiques de la bourgeoisie. 35 Monde vom 09/08/1930. Panorama [Rubrik]: La semaine politique [Unter–Rubrik]: Le glissement des partis allemands, S. 2. 36 Le Petit Parisien vom 20/07/1931. La matinée du chancelier Brüning, S. 2. 37 La Croix vom 23/09/1930. Veuillot, François: La paix par „les gauches“ ou par les catholiques ? S. 1. Vgl. ebenfalls La Croix vom 29/10/1931. Schreiber, Christian [Bischof von Berlin]: Manifeste des catholiques allemands en faveur de la paix, S. 3.

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La Croix fast in jedem ihrer Artikel über Heinrich Brüning dessen „haute valeur du chancelier“, die auf seiner Treue zur Kirche beruhe.38 Zu keinem Zeitpunkt vertrauten die Journalisten aber völlig dem „deutschen Wesen“, sondern überwachten vielmehr die Entwicklung des Brüningschen Nationalismus – blieben diesem „catholique fervent“, „croyant“ und „pratiquant“ aber immer zugetan.39 La Croix unterschied deutlich zwischen den evangelischen, sozialdemokratischen, kommunistischen und nationalsozialistischen Deutschen auf der einen Seite, denen man misstraute, und den deutschen Katholiken auf der anderen Seite, auf die man zählen zu können glaubte. So hieß es über Heinrich Brüning, dass „[s]es qualités d’homme et de chef d’Etat peuvent nous inspirer une pleine confiance“.40 Aus diesem Grund stellten die Journalisten von La Croix – im Gegensatz zu den meisten anderen rechten Zeitungen – den Widerstand des katholischen Zentrums gegen Adolf Hitler auch nicht in Frage. Sie waren vielmehr überzeugt, dass Brüning dem Beispiel der deutschen Bischöfe folgen werde, die den Nationalsozialismus klar verurteilt hatten: „Il faut penser […] que l’interdiction prononcée par l’évêque de Mayence aux catholiques de s’affilier au parti national-socialiste aura quelque influence sur l’attitude du Dr Brüning.“41 Der engagierte Katholik Jean de Pange war ebenfalls von der Unvereinbarkeit der politischen Ideen des Katholiken Brüning und des Nationalsozialisten Hitler überzeugt.42 Brüning war für die Croix der Prototyp des „guten Deutschen“. Insgesamt überschätzte sie den Einfluss der Katholischen Kirche auf den Verlauf der deutschen Innen- und Außenpolitik und irrte sich auch, was deren eindeutige Position gegenüber den Nationalsozialisten betraf. Ohne den deutschen Reichskanzler explizit zu erwähnen, bezeichnete der Matin den katholischen Glauben als solide Brücke für eine deutsch-französische Annäherung.43 Gringoire unterstrich die intellektuelle Spiritualität Heinrich Brünings, dessen Katholizismus für sie ein weiteres Zeichen war, dass er eine Ausnahmeerscheinung auf der politischen Bühne Deutschlands darstellte: „Ein außergewöhnlicher Kanzler in einem stark protestantisch geprägten Reich!… Man sagt, er sei sehr fromm, möglicherweise ist er ein ‚Tertiär‘ eines Mönchsordens. Jedenfalls denkt und handelt er als respektvoller Sohn Roms. Bei Dr. Brüning schließt die strenge Frömmigkeit aber keinen offenen Geist und eine breite Kultur aus. Der künftige politische Chef des Reichs hat sich für das öffentliche Leben nicht auf studentischen Kirchweihfesten oder in Wandelgängen, wo es nur so vor Intrigen wimmelt, 38 Vgl. beispielsweise La Croix vom 18/06/1931. Delattre, Pierre: Où val’Allemagne ? S. 1 + 2. 39 La Croix vom 19/09/1930. Tessier, Gaston: Après les élections allemandes. L’énigmatique figure du chancelier Brüning, S. 1 + 2. 40 La Croix vom 01/08/1931. Caret, Jean: Notre confiance et l’Allemagne, S. 1. 41 La Croix vom 08/10/1930. La Vie Internationale [Rubrik]: Les entretiens du chancelier Brüning, S. 2. 42 La Croix vom 14/10/1930. De Pange, Jean: Le nationalisme condamné en Allemagne, S. 3. 43 Le Matin vom 10/03/1931. Catholiques francais et allemands parlent du rapprochement des deux peuples, S. 1.

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vorbereitet, sondern in der ernsten Sphäre der Wissenschaft, der intellektuellen Arbeit, die seine Jugend erfüllt und noch ein bisschen verlängert hat.“44 Die Action Française dagegen misstraute der priesterlichen Erscheinung des Reichskanzlers. Seine Teilnahme an der Messe für den Frieden in Paris im Juli 1931 schien für sie nur ein weiterer Beweis seiner gut kalkulierten und getarnten Politik zu sein.45 3. Brüning in der Vorstellungswelt der Parlamentarier Im französischen Parlament wurde über den Katholizismus Brünings kein einziges Mal ernsthaft diskutiert, was allerdings wenig erstaunt, wenn man bedenkt, wie sehr die große Mehrheit der französischen Abgeordneten und Politiker den Prinzipien des Laizismus im Staat verbunden war. Dass Brüning praktizierender Katholik war, wurde nur beiläufig erwähnt.46 Im Gegensatz zu den Intellektuellen, Autoren, Journalisten, dem Klerus und den Diplomaten beschäftigten sich die Parlamentarier auch nicht mit der Frage, ob die Religiosität Brünings für die deutsch-französische Annäherung genutzt werden könne. Außerhalb des Parlaments trieb diese Frage die Anhänger des Parti démocrate populaire aber doch um, wie das Engagement von Auguste Champetier de Ribes, Paul Simon (Abgeordneter und Mitglied der Commission parlementaire des Affaires Etrangères), Ernest Pezet, Jean Lerolle und Raymond Laurent (Vizepräsident des Conseil Municipal von Paris; Generalsekretär des PDP) bei den internationalen Treffen der christlich-demokratischen Parteien und im Secrétariat International des Partis Démocratiques d’Inspiration Chrétienne (SIPDIC) belegt.47 Bei ihnen war die Beschäftigung mit dem Katholizismus die (unausgesprochene) Basis für ihre Überlegungen zur internationalen Politik – auch in der Chambré des Députés, im Senat oder in der Commission des Affaires Etrangères. Für diese französischen Christen „ist Brüning ein Hoffnungsträger, aber er vermag es nicht die anwach-

44 Übersetzung des Zitats „Extraordinaire chancelier d’un empire à la forte empreinte protestante !... On le dit fort pieux, peut–être est–il „tertiaire“ d’un ordre monastique. En tous les cas, il pense, toujours, et agit en fils respectueux de Rome. [La] piété stricte n’exclut pas chez le docteur Brüning largeur d’esprit et culture. Le futur chef politique du Reich ne s’est pas préparé à la vie publique dans des kermesses d’étudiants ou dans des couloirs peuplés d’intrigues, mais dans l’atmosphère sereine de la science, d’un labeur intellectuel qui a rempli et prolongé sa jeunesse“. Gringoire vom 10/04/1931. Bourguès, Lucien: Le docteur Brüning, S. 3. 45 L’Action Française vom 31/05/1932. La démission forcée du chancelier Brüning, S. 1. 46 Auftritt von Henry Franklin–Bouillon in der Chambre des Députés vom 26/11/1931. Annales, Bd. 169, S. 223. 47 Vgl. u. a. die Dokumente zum Congrès d’Anvers im Juli 1930 und die Versammlung des Comité Exécutif des Secrétariat International in Paris im Januar 1931. FNSP, Archives d’Ernest Pezet, PE 3, Dossier 4: Secrétariat international des partis démocratiques d’inspiration chrétienne (SIPDIC).

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sende nationalsozialistische Gefahr ganz und gar aus dem Bewusstsein zu verdrängen“, schreibt treffend der Historiker Jean-Claude Delbreil.48 Die Verwirrung der französischen Katholiken, die sich daraus ergab, spiegelt sich in einer Rede wider, die Ernest Pezet am 7. November 1930 in der Chambre des Députés hielt und sich dort in einem bestimmten und kompromisslosen Ton an Deutschland wandte: „Jetzt bist du an der Reihe. Der Moment, an dem du dein Glaubensbekenntnis ablegen musst, ist gekommen.“49 Diese letzte Hoffnung, die in Brüning gesetzt wurde, sollte sich nicht erfüllen. Delbreil würdigt hier zu Recht bei den Christdemokraten „das Verdienst, eine unabhängige und selbstbewusste Haltung zu vertreten, die trotz der nationalistischen und internationalistischen Verlockungen zugleich großzügig und realistisch sein wollte, aber möglicherweise doch im Grundsatz durch die unausweichlichen Widersprüche, die eine solche Haltung mit sich brachte, verhindert wurde.“50 Als ehemalige Gegner einer französischen Machtpolitik gegenüber Deutschland seit 1924 distanzierten sie sich nach dem Sturz der Regierung Brüning tief enttäuscht von dieser Strategie der Verständigung. 4. Brüning in der Vorstellungswelt der Diplomaten Im Gegensatz zu den parlamentarischen Kreisen setzten sich die Diplomaten mit dem Katholizismus Heinrich Brünings auseinander und folgten dabei den Standpunkten des Vatikans.51 In der Korrespondez zu diesem Thema zwischen den diplomatischen Repräsentanten und dem Quai d’Orsay stand die Frage im Vordergrund, ob der Katholizismus nun eine Annäherung an Adolf Hitler verhindere oder nicht. Die Verfasser der an das französische Außenministerium gerichteten Berichte bangten dabei weniger um die Zukunft Deutschlands als um die Folgen, die eine Zusammenarbeit von Brüning und Hitler für Frankreich und Europa haben könnte. Diese Angst vor einer Verbindung von Zentrum und NSDAP trübte zunehmend die positive Sicht auf die Religiosität des Kanzlers als Brücke für eine deutsch-französische Annäherung. Trotz aller Kritik erwies sich aber das eher wohlwollende und einheitliche Bild vom Katholiken Brüning während seiner ge-

48 Übersetzung des Zitats „Brüning représente un espoir, mais il ne suffit pas à dissimuler entièrement la montée du péril national–socialiste“. Delbreil: Catholiques français, S. 165. 49 Übersetzung des Zitats „C’est maintenant à toi. L’heure est venue pour toi de faire ton acte de foi“. Debatte in der Chambre des Députés vom 07/11/1930. Annales, Bd. 165, S. 48. 50 Übersetzung des Zitats „le mérite d’avoir prôné une attitude indépendante et originale, se voulant à la fois généreuse et réaliste en dehors des tentations nationalistes et internationalistes, mais peut–être viciée à la base par les contradictions qu’imposait une telle attitude“. Delbreil: Catholiques français, S. 185. 51 Die Öffnung der Archive des Vatikans seit September 2006 zum Pontifikat Pius’ XI. (1922−1939) ermöglicht es zweifellos, im Detail über den Einfluss der Katholischen Kirche auf die Vorstellungswelt der französischen Diplomaten zu forschen.

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samten Regierungszeit als haltbar und war tragendes Element der Beziehungen zwischen französischen und deutschen Katholiken. 4.1 Die Wahrnehmung des ersten Kabinetts Brüning (30. März 1930–7. Oktober 1931) Schon im Jahr 1924 erklärte der Erzbischof von Paris im Rahmen des Congrès International Eucharistique d’Amsterdam, dass der deutsch-französische eucharistische Sonntag zur Versöhnung der beiden Nationen beitragen werde. Es handelte sich dabei um eine Idee des katholischen Club des peuples français et allemands, der 1922 beschlossen hatte, dass an jedem ersten Sonntag im Monat die Franzosen die Messe im Gedenken an die Deutschen und die Deutschen im Gedenken an die Franzosen feiern sollten. Eine Rede, die Abbé Demulier in diesem Rahmen auf dem Katholikentag in Münster[sic] am 5. September 1930 hielt, brachte den Quai d’Orsay in Aufruhr,52 weil Demulier den Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages in Frage stellte: „Im französischen Volk gibt es keinen Hass gegen Deutschland. Es gibt nur ein kleines Missverständnis: nämlich, dass die Franzosen glauben, dass einzig und allein Deutschland für den Krieg verantwortlich sei. Jeden Tag halten die Zeitungen die Franzosen in diesem Glauben.“53 Die Bedenken, dass der Katholik Brüning diese Rede für seine Zwecke instrumentalisieren könnte, wurden rasch zerstreut und das Vertrauen in den Katholizismus Brünings als positiven und pazifistischen Aspekt seiner Persönlichkeit sogar noch gestärkt. Am 8. Mai 1931 beschäftigte sich de Fontenay, der französische Botschafter im Vatikan, mit dem Thema Katholizismus als Motor einer deutsch-französischen Annäherung, als er über eine von Abbé Desgranges (einem späteren Abgeordneten des PDP)54 geleitete Konferenz in Berlin berichtete, die im Vatikan ein positives Echo fand.55 Ziel dieser Konferenz war es, die Gemeinsamkeiten der religiösen und moralischen Prinzipien aufzuzeigen, die die Versöhnung zwischen deut-

52 Vgl. Schreiben vom Quai d’Orsay an De Fontenay vom 29/10/1930. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 739: Relations avec la France. 53 Übersetzung des Zitats „Il n’y a pas de haine contre l’Allemagne dans le peuple français. Il n’y a qu’un grand malentendu: à savoir que les Français croient que l’Allemagne est seule responsable de la guerre. Quotidiennement, les journaux entretiennent les Français dans cette croyance“. Rede von Abbé Demulier anlässlich des Katholikenkongresses in Münster am 05/09/1930, veröffentlicht in der Zeitung Germania am 06/09/1930 und anschließend an den Quai d’Orsay gesandt. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 739: Relations avec la France. 54 Zu Desgranges, vgl. Desgranges: Journal; McMillan: France. In: Buchanan/Conway: Political catholicism in Europe, S. 34–68 (46). 55 Vgl. Depesche von de Fontenay, französischer Botschafter im Vatikan, an Aristide Briand vom 08/05/1931. In: MAE, Serie Z, Politique étrangère, Karton 739: Relations avec la France 1930–1935.

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schen und französischen Katholiken vereinfachen sollten. Es war die erste deutsch-französische Begegnung dieser Art, die ein hoher französischer Kirchenmann in Berlin organisierte. Laut de Fontenay war der französische Abt überzeugt, dass das religiöse Wiedererwachen Frankreichs nichts anderes bewirken könne, „als die Annäherung an Deutschland positiv zu beeinflussen“, denn die Katholiken beider Länder hätten „den gleichen Glauben und gleiche Wertvorstellungen“.56 Ohne dass Reichskanzler direkt erwähnt wurde, war die Botschaft dennoch klar. De Fontenays Hoffnungen ruhten auf „dem Geist der Gerechtigkeit und des Christentums“, der „diesen Kreuzzug für die Annäherung der Völker“ inspirieren sollte.57 Diffamiert als „Chimäre der Versöhnung und des Verständnisses“58 von den Repräsentanten der Armee scheint die Idee einer durch den katholischen Glauben geförderte deutsch-französische Annäherung auch einige Politiker wie Edouard Daladier, Raymond Poincaré und Edouard Herriot begeistert zu haben. Jedenfalls setzten sie sich fern vom parlamentarischen Alltag beim Quai d’Orsay beispielsweise für die Unterstützung der Aktivitäten des Schweizer Abbé Delabays ein. Dies belegt die umfangreiche Korrespondenz zu den Projekten des Schweizers zwischen der französischen Botschaft in Berlin, den Konsulaten und dem Außenministerium in Paris wie auch die Empfehlungsschreiben der genannten drei Politiker.59 Das Vertrauen, das so geschaffen und dem Reichskanzler geschenkt wurde, war allerdings nicht unerschüttlich, weil der Katholizismus Brüning nicht davon abhielt, mit Hitler Kontakt aufzunehmen. Pierre de Margerie schrieb darüber in seinem Brief vom 8. Oktober 1930 an Aristide Briand: „Während also die Kirche gegen die Katholiken, die der nationalsozialistischen Partei beitreten, harte kirchenrechtliche Strafen ausspricht, empfängt Kanzler Brüning, der Vorsitzende der Zentrumspartei, offiziell Herrn Hitler und seine Mitstreiter. […] In den letzten Jahren hat das Zentrum zu oft eine politische Biegsamkeit bewiesen, als dass man eine eventuelle Zusammenarbeit, wenn auch nur stillschweigend, zwischen einigen ihrer leitenden Mitglieder und der rassistischen Partei voll und ganz ausschließen könnte. Herr Brüning, der persönlich der Sozialdemokratie gegenüber feindlich eingestellt ist, wäre wohl der, der am ehesten einen Versuch mit Hitler tolerieren könnte, wenn die katholische Reichstagsfraktion nicht an der Regierung mitwirkt“.60 Obwohl irritiert durch das Vorgehen Heinrich Brünings,

56 Übersetzung des Zitats „[ne pourrait] que favoriser un rapprochement avec l’Allemagne, les catholiques des deux pays ayant la même foi et le même idéal“. Ebd. 57 Ebd. 58 Schreiben, das die Versendung eines Artikels aus der Revue des Deux Mondes zu diesem Thema dokumentiert. In: SHAT, Archives de la guerre, Serie N 1920–1940, Karton 7N2585. 59 Vgl. CADN, Fonds d’administration centrale, Série du Service des Œuvres françaises à l’étranger, Karton 145: L’Institut Français de Cologne; Sociétés d’étude de Leipzig; Relations intellectuelles avec l’Allemagne. Dossier: Abbé Josef Delabays. 60 Übersetzung des Zitats „Pendant que l’Eglise prononce ainsi contre les catholiques qui adhèrent au parti national–socialiste les plus sévères exclusives, le chancelier Brüning, chef du parti du Centre, reçoit officiellement M. Hitler et ses collaborateurs. […] Le Centre, au cours de ces dernières années, a trop souvent donné des preuves d’une souplesse politique sans lim-

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vertraute Pierre de Margerie weiterhin anderen Zentrumspolitikern wie Joseph Wirth, Adam Stegerwald und Prälat Ludwig Kaas, was ihn veranlasste, „à croire qu’il existe entre le catholicisme allemand et le mouvement national-socialiste, une incompatibilité totale“.61 Er fügte allerdings hinzu, dass sein Vertrauen nicht allein auf Religiosität und Spiritualität gründete, sondern auf harten Fakten, nämlich der Tatsache, dass sich Hitlers Wahlkampf vor allem gegen das katholische Zentrum gerichtet und damit den deutlichen Widerstand der Katholischen Kirche (u. a. in Bayern) provoziert habe.62 Trotz seiner Kritik vertraute de Margerie deshalb weiter der Zentrumspartei. Der französische Geschäftsträger im Vatikan, Gentil, vertrat die Ansicht, das Schicksal Deutschlands und Europas hänge von der Haltung der Katholiken ab, die in Deutschland regierten.63 Bischof Pizzardo, ein Repräsentant des Vatikans, stimmte dem zu, zumal er nicht daran zweifelte, dass „le parti du Centre [soit] tout à fait acquis à une politique de paix – die Zentrumspartei voll und ganz einer Friedenspolitik verpflichtet ist“, denn „die deutschen Katholiken wissen nur allzu ite, pour que l’on puisse exclure totalement la possibilité d’une collaboration au moins tacite entre certains de ses chefs et le parti raciste. M. Brüning, qui est personnellement hostile à la social–démocratie, serait sans doute le plus disposé à tolérer une expérience Hitler pendant la durée de laquelle le groupe parlementaire catholique resterait à l’écart du gouvernement“. Depesche von Pierre de Margerie an Aristide Briand vom 08/10/1930. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 684: Partis politiques. 61 Ebd. 62 Cf. idem. L’exemple de l’épiscopat en Bavière montre pourtant que le Vatican (comme le gouvernement français) n’a pas fait d’efforts pour soutenir la résistance catholique au national–socialisme. Le 21 février 1931 M. de Fontenay fait rapport à Aristide Briand de sa conversation avec le Cardinal Pacelli: „Je demandai au Cardinal Secrétaire d’Etat si le Pape n’allait pas lancer contre ce parti anti–catholique [le NSDAP] une condamnation; le Cardinal Pacelli me répondait que les condamnations des évêques d’Allemagne […] lui paraissent suffisantes pour le moment, d’autant plus que les catholiques allemands suivent en général avec obéissance les ordres de leurs évêques et qu’une condamnation sensationnelle de Rome pourrait être exploitée par les Hitlériens et provoquer une réaction chez certains allemands“. Übersetzung: „Das Beispiel des bayerischen Episkopats zeigt aber, dass der Vatikan (wie auch die französische Regierung) nichts unternahm, um den katholischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen. Am 21. Februar 1931 hat Herr de Fontenay Aristide Briand über sein Gespräch mit Kardinal Pacelli unterrichtet: ‚Ich fragte den Kardinalstaatssekretär, ob der Papst nicht vorhabe diese antikatholische Partei [die NSDAP] zu verurteilen; Kardinal Pacelli antwortete mir, dass die Verurteilungen durch die deutschen Bischöfe […] ihm vorerst genügten, vor allem, weil die deutschen Katholiken normalerweise den Anweisungen ihrer Bischöfe folgsam gehorchten und weil eine aufsehenerregende Verurteilung aus Rom von Hitler und dessen Anhängern ausgenutzt werden könnte und bei einigen Deutschen ein Verhalten auslösen würde, das nicht erwünscht sei‘“.In: MAE, Série Z, Politique Intérieure, Carton 674: Dossier général. En mars 1931, l’ambassadeur français juge que „le Saint Siège a voulu adopter une autre méthode que celle employée contre l’Action Française, et qui a suscité tant de complications“. In: MAE, Série Z, Politique Intérieure, Carton 674: Dossier général. 63 Depesche von Gentil, französischer Geschäftsträger im Vatikan an Aristide Briand vom 26/09/1930. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 674: Dossier général.

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gut, was die gefährlichen Folgen eines Krieges wären, der dem Bolschewismus möglicherweise erlauben würde, in Europa Fuß zu fassen“.64 Die Angst vor dem Bolschewismus war auch das Thema eines Gesprächs zwischen Heinrich Brüning und Papst Pius XI. am 8. August 1931 im Vatikan.65 In den Memoiren Heinrich Brünings heißt es, der Papst habe ihm nur Komplimente für seine Politik gemacht und den deutschen Bischöfen zu ihrer mutigen und eindeutigen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten gratuliert.66 Das Vertrauen des Papstes in Brüning und seine Widerstandskräfte gegen den Bolschewismus (der aus der irrigen Sicht des Vatikans sowohl von kommunistischer als auch von nationalsozialistischer Seite drohte) war im Sommer 1931 noch relativ stabil. 4.2 Die Wahrnehmung des zweiten Kabinetts Brüning (10. Oktober 1931–30. Mai 1932) Zu Beginn des zweiten Kabinetts Brüning sandte der französische Botschafter im Vatikan, de Fontenay, einen weiteren Brief an Aristide Briand, in dem er den Fokus auf das Vertrauen der Katholiken in die Bereitschaft Brünings zu einer deutsch-französischen Annäherung lenkte. Dies habe der Berliner Bischof Schreiber bei seinem Besuch bei Papst Pius XI. zum Ausdruck gebracht: „Seine Eminenz Fontenelle bat daraufhin seine Eminenz Schreiber den Standpunkt Herrn Brünings und des deutschen katholischen Zentrums bezüglich dieser wichtigen Frage der Annäherung und der Verständigung genauer zu erläutern. Seine Eminenz Schreiber teilte ihm mit, dass er offen aber vertraulich antworte: ‚Unsere Partei ist von der Notwendigkeit eines Bündnisses zwischen Frankreich, Deutschland und Polen als unabdingbare Grundlage des Friedens überzeugt‘.“67 Im Gegensatz zu den Bildern von Brüning im politischen Bereich widerstand dieser Glaube an Brüning als Katholiken allen negativen Einflüssen. Am 8. März 1932 schickte der französische Konsul in Frankfurt an André Tardieu einen Ausschnitt aus einem Artikel, der in der Rhein-Mainischen Volks-

64 Übersetzung des Zitats „les catholiques allemands savent trop bien quels seraient les dangers d’une guerre qui risquerait de propager le bolchevisme en Europe“. Ebd. Dies ist ein Beispiel für eine Ideologie, die ein Bild schafft, nämlich der berechtigte Antikommunismus des Vatikans, der ihm aber den klaren Blick auf die Ideologie des Nationalsozialismus verstellte. 65 Vgl. vertrauliche Depesche von Gentil, französischer Geschäftsträger im Vatikan an Aristide Briand vom 20/08/1931. In: MAE, Serie Z, Politique Intérieure, Karton 684: Partis politiques. 66 Vgl. Brüning: Mémoires, S. 260. 67 Übersetzung des Zitats „Mgr Fontenelle demanda alors à Mgr Schreiber de préciser le point de vue de M. Brüning et du Centre catholique allemand sur cette importante question du rapprochement et de l’entente. Mgr Schreiber lui dit qu’il répondrait franchement mais à titre confidentiel: „Notre parti est convaincu de la nécessité d’une alliance franco–germano– polonaise comme la base indispensable de la paix“. Depesche von de Fontenay an Aristide Briand vom 16/10/1931. In: MAE, Serie Z, Questions religieuses, Karton 689: Dossier général.

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zeitung erschienen war. Thema des Artikels war die öffentliche Meinung in Frankreich zu den deutschen Präsidentschaftswahlen.68 Der Verfasser war nach der Lektüre der französischen Zeitungen überzeut, dass die spirituelle und religiöse Seite Brünings der Grund für den wachsenden Respekt der Franzosen vor Brüning sei. Es ist also nicht erstaunlich, dass der französische Konsul Tardieu über die Analyse in Kenntnis setzen wollte: „Anhand des Urteils über Brüning kann man die großen Unterschiede bezüglich der Wertschätzung einzelner Persönlichkeiten erkennen: In keiner einzigen französischen Zeitung, nicht einmal in L’Echo de Paris, werden ihm ein hohes Maß an Kultur und echte Eigenschaften eines Staatsmannes abgesprochen, auch wenn man seine Politik angreift. In Frankreich hatte man schon immer etwas für Geist und spirituelle Werte übrig und das zeigt sich jetzt im Falle Brünings. Wie lebhaft auch immer die Kritik an seiner Vorgehensweise und seinen Reden in der Presse der französischen Rechten ausfallen mag, der Tonfall und die Stoßrichtung dieser Angriffe unterscheiden sich stark von denen, die gegen Hitler gerichtet sind. Er verkörpert geistige Kraft und nicht nur ein formloses Etwas. Nicht einmal Stresemann hat es geschafft, zu einem solchen Respekt vor seiner Person zu gelangen“.69 Selbst André François-Poncet, der sonst nicht mit Kritik an Brüning sparte, teilte diese Wertschätzung für die Spiritualität des Reichskanzlers, die nach seiner Meinung die Basis für dessen politische Integrität und dessen Interesse für soziale Fragen war. So schrieb er am 24. Februar 1932 an André Tardieu über den „heiligen Laizisten“70 Brüning: „Soll das heißen, dass Herr Brüning rechts einzuordnen ist und dass seine Ansichten ihn unweigerlich den reaktionären Parteien zutreiben? Seine gesamte politische Vergangenheit vor der Regierungsübernahme beweist das Gegenteil einer solchen Behauptung. Von 1921 bis 1930 war er der Generalsekretär der christlichen Gewerkschaften und deren eigentlicher Lenker; aus Sicht vieler Konservativer wird er sich nie von diesem Etikett befreien können. Selbst innerhalb der Zentrumspartei kann man nicht gerade sagen, dass er mit dem eher konservativen Flügel sympathisiert hat; und man hat seinen Namen nie mit dem Klöckners, Hermes’, Papens oder Landsbergs erwähnt, die schon so lange

68 Depesche de M. Béguin–Billecocq, französischer Konsul in Frankfurt a. Main an André Tardieu vom 08/03/1932. In: MAE, Serie Z, Presse, Karton 619: Dossier général. 69 Übersetzung des Zitats „Toute la différence dans l’appréciation des personnalités se reconnaît dans le jugement porté sur Brüning. Il n’y a pas un journal français, même pas L’Echo de Paris, qui ne lui reconnaisse une haute culture et des vraies aptitudes d’homme d’Etat, même lorsque sa politique est combattue. On a toujours eu en France un sens affiné pour l’esprit et les valeurs spirituelles et on le montre dans le cas de Brüning. Aussi vives que soient les critiques que ses actes et ses discours suscitent dans la presse de droite française, le ton et la direction de ces attaques sont toujours très différents que lorsqu’il est question de Hitler. Il représente une puissance spirituelle et non seulement une entité informe. Même Stresemann n’est pas parvenu à créer une telle considération personnelle“. Ebd. 70 Vgl. François–Poncet: Souvenirs, S. 17.

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gegen den Einfluss Wirths und Joos’ ankämpfen“.71 Laut François-Poncet, der ein solch gewagtes Unterfangen missbilligte, setzte Brüning seine religiöse Reputation sogar als Mittel der Überzeugung in der Politik ein, um die Nationalsozialisten und die gesellschaftliche und regierungstechnische Ordnung zu integrieren: „Herr Brüning wollte durch eine wohlwollende Vorgehensweise und indem er eine sanfte und sehr hartnäckige, eigentlich schon religiöse Überzeugungskraft einsetzte, die vernünftigsten Teile der Bewegung um Hitler zum Wohle der öffentlichen Ordnung aufnehmen“.72 Wieder einmal lieferte François-Poncet ein Beispiel positiver Beschreibungen Brünings, die letztlich eine negative Wendung nahmen. Nur einen Monat nach dem zitierten Schreiben richtete der Botschafter einen weiteren Brief an den Quai d’Orsay, in dem er den Katholizismus Brünings als Unsicherheitsfaktor für Frankreich zu entlarven suchte.73 Seitdem war er überzeugt, dass Brünings katholischer Glaube und sein Patriotismus ihn zwingen würden, eine engere Zusammenarbeit mit Hitler anzustreben, sobald sich dieser verbindlicher zeige: „Die katholische Erziehung des Kanzlers neigt dazu, nie die Hoffnung auf den Sinneswandel des Sünders noch die Hoffnung auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes aufzugeben. Man darf auch nicht vergessen, dass die rassistische Bewegung die große Anstrengung des deutschen Volkes widerspiegelt, sich von dem zu befreien, was es als Erniedrigung wahrnimmt, um die Werte, die es ihm einst erlaubten, stolz auf sich zu sein, wiederzufinden und zu erneuern. Das Wiederaufleben der Moralvorstellungen, das in den eigenartigen Vorstellungen Hitlers enthalten ist, haben der Reichskanzler und der Feldmarschall von Hindenburg immer als wohltuend und vorteilhaft für Deutschland betrachtet.“74 71 Übersetzung des Zitats „Est–ce à dire que M. Brüning soit un homme de droite, et ses sympathies le portent irrésistiblement vers les partis réactionnaires ? Tout son passé politique, avant son arrivée au pouvoir, dément une pareille affirmation. De 1921 à 1930, il a été le secrétaire général et le chef véritable des Syndicats catholiques; aux yeux de beaucoup de conservateurs, jamais il ne se défera de cette étiquette […]. Au sein du parti du Centre lui–même, on ne peut dire que le chancelier ait sympathisé avec l’élément le plus conservateur; et l’on n’a jamais cité son nom avec ceux des Klöckner, des Hermes, des Papen, des Landsberg, qui luttent, depuis si longtemps, contre l’influence des Wirth et des Joos“. Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 24/02/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 500: Conférence générale du désarmement. 72 Übersetzung des Zitats „M. Brüning voulait […] par une sorte de mouvement enveloppant, et en mettant en œuvre des forces de persuasion d’une douceur et d’une opiniâtreté toutes ecclésiastiques, absorber, au profit de l’ordre public, les éléments les plus raisonnables du mouvement hitlérien“. Ebd. 73 Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 16/03/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 523: Informations de politique étrangère. 74 Übersetzung des Zitats „L’éducation catholique du chancelier s’incline à ne jamais désespérer de la conversion du pécheur, ni du retour de l’enfant prodigue. Il ne faut pas oublier non plus, que […] le mouvement raciste représente un effort profond du peuple allemand pour se débarrasser de ce qu’il ressent comme des humiliations, pour retrouver et rajeunir les valeurs qui le rendaient jadis fier de lui. […] L’éveil des forces morales qui est impliqué dans les étranges formules de Hitler, le Chancelier, et le Maréchal de Hindenburg lui–même, l’ont toujours jugé sympathique et avantageux pour l’Allemagne“. Ebd.

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Noch im Lauf dieses Monats nahm auch das päpstliche Vertrauen in die Widerstandskraft der deutschen Katholiken und des deutschen Reichskanzlers angesichts der Flut aus Nationalsozialisten und Kommunisten ab.75 Am 14. März 1932 informierte de Fontenay den , dass nach Meinung des Staatssekretärs Kardinal Eugenio Pacelli (der spätere Papst Pius XII.) der „Erhalt Mareschal Hindenburgs mit einem Kabinett Brüning“ nur noch als „das kleinere Übel“ akzeptiert werden könne.76 Der Kirchenmann zog diesen düsteren Schluss aus seinem Wissen über die „deutsche Mentalität“, die er während seiner zwölf Jahre als Nuntius in Deutschland studiert habe.77 So glaubte er, dass ein nationalsozialistischer Wahlerfolg in Preußen und Bayern „ein Signal für einen scharfen Kampf gegen die Regierung Brüning“ sei und diese dazu veranlassen könnte, „in einem gewissen Maße den revanchistischen Tendenzen der Hitlerischen Massen zu folgen“.78, Es schien lange her zu sein, als der katholische Brüning noch ein Zeichen der Hoffnung für den Vatikan war. Jetzt war er nur noch das „kleinere Übel“, weniger bedrohlich für den Frieden als Hitler, aber schon geschwächt durch die Nationalsozialisten. Hitlers Agitation werde „Brünings Politik notwendigerweise beeinflussen“, glaubte der Vatikan einige Tage nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 13. März 1932.79 Nach dem zweiten Wahlgang wuchs das Vertrauen der Kirche in Brüning und die Macht des deutschen Katholizismus wieder – wenn auch ohne tiefe Überzeugung.80 Die päpstliche Beurteilung des Nationalsozialismus beruhte allerdings auf einem Irrtum, denn man glaubte, dass der anti-religiöse und heidnische Nationalsozialismus der Weimarer Republik den Weg zum Bolschewismus öffnen könne.81 So schrieb de Fontenay an André Tardieu: „Der Vatikan schmeichelt sich damit, dass die alte Zentrumspartei nach den Wahlen unversehrt dasteht und in Deutschland, wo sie in allen Ländern des Reichs fest verankert ist, einen starken Rückhalt hat und nun beruhigend auf die entfesselte Masse der Anhänger Hitlers einwirken kann. Als ich aber zu bedenken gab, dass das katholische Zentrum ohne eine derartige Zusammenarbeit dasselbe Schicksal erleiden könnte wie die Partei von Dom Sturzo in Italien, als sie sich dem Faschismus anschloss, der sie dann rasch in sich aufgehen und somit von der politischen Bühne verschwinden ließ, antwortete man mir, dass das stabile und erprobte Grundgerüst der deutschen Zentrumspartei sie vor einer solchen Gefahr

75 Vgl. u. a. 1) Depesche von de Fontenay an Aristide Briand vom 18/12/1931. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 674: Dossier général; 2) Depesche von de Fontenay an Aristide Briand vom 02/01/1932. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 675: Dossier général. 76 Depesche von de Fontenay an André Tardieu vom 14/03/1932. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure. Karton 675: Dossier général. 77 Eugenio Pacelli war von 1917 bis 1929 Nuntius in München und Berlin. 78 Vgl. ebd. 79 Depesche von de Fontenay an André Tardieu vom 19/03/1932. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure. Karton 675: Dossier général. 80 Vgl. Depesche von de Fontenay an André Tardieu vom 29/04/1932. In: MAE, Serie Z, Politique intérieure, Karton 675: Dossier général. 81 Vgl. ebd.

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schützen werde“.82 Allerdings stellte de Fontenay auch die Unsicherheit des Vatikans hinsichtlich der Position des katholischen Klerus in Deutschland fest, von dem sich ein Teil zumindest vom „hitlérisme“ angezogen zu fühlen schien.83 Der Zweifel an Heinrich Brüning und seiner katholisch gegründeten Widerstandskraft gegen den Nationalsozialismus war etabliert. André François-Poncet drückte das auf folgende Weise aus: „Seine [Brünings] tiefe Gedankenwelt wird uns so lange verborgen bleiben, wie auch der Ausgang seines scharfsinnigen Spiels, das er seit einem Jahr spielt, unsicher ist. Sogar viele, die seine Anstrengungen, seine undankbare Aufgabe zu erfüllen, mit Wohlwollen verfolgen, können sich nicht des Gedankens erwehren, dass er manchmal doppelgleisig fährt.“84 Das französische Bild eines doppelgesichtigen Brüning machte am Ende seiner Amtszeit definitiv alle Hoffnungen zunichte, die man auf ihn als Katholiken gesetzt hatte. Im Rahmen seiner Analyse der Länder-Wahlen im April 1932 stellte FrançoisPoncet fest, dass eine gewisse Zahl von Juden für Brüning und nicht etwa für die DDP gestimmt habe.85 Der französische Botschafter sah im katholischen Zentrum einen „Feind jeden Antisemitismus“, der „den Juden alle politischen Garantien gibt, die diese als notwendig erachten“.86 Auf diese Weise stellte er immerhin einen zentralen Unterschied zwischen der christlichen Partei Heinrich Brünings und der NSDAP fest. Diese Feststellung reichte aber nicht aus, um aus ihm wieder einen Anhänger Brünings zu machen.

82 Übersetzung des Zitats „Le Vatican se flatte en effet que le vieux parti du centre qui est sorti indemne des élections, qui est solidement constitué en Allemagne où il a de profondes ramifications dans tous les états du Reich, pourra alors exercer une influence calmante sur la masse déchaînée des hitlériens. Comme j’objectais que le Centre catholique pourrait être exposé sans une collaboration de ce genre à subir le sort du parti de Dom Sturzo en Italie quand il se rallia au fascisme qui ne tarda pas à l’absorber et à le faire disparaître, on me répondit que l’armature solide et ancienne du parti du centre allemand le préserverait de pareil danger“. Ebd. 83 Vgl. ebd. 84 Übersetzung des Zitats „Sa pensée profonde [de Brüning] nous restera secrète aussi longtemps que demeura incertaine l’issue du jeu subtil qu’il mène depuis un an. […] Parmi ceux même qui suivent avec sympathie les efforts du Chancelier pour suffire à son ingrate tâche, beaucoup ne peuvent se défendre de la pensée qu’il joue parfois sur les deux tableaux“. Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 24/02/1932. In: MAE, Papiers Tardieu, PA AP 166, Bd. 500: Conférence générale de désarmement. 85 Depesche von André François–Poncet an André Tardieu vom 27/04/1932. In: MAE, Serie Z, Institutions d’Allemagne, Karton 612: Parlement et élections législatives. 86 Vgl. ebd.

VI DER STURZ Am 29. Mai 1932 fand das letzte Gespräch zwischen dem Reichskanzler und dem Reichspräsidenten Hindenburg statt. Brüning hatte vor, Hindenburg die am Vorabend in seinem Kabinett getroffenen Entscheidungen in Form einer neuen Notverordnung vorzustellen, die unter anderem die Siedlungspolitik im Osten betraf.1 Aber infolge der vielen Probleme, die sich zwischen Hindenburg und Brüning angesammelt hatten und den vielen konfliktträchtigen Ereignissen wie dem Ablauf der Reichspräsidentenwahlen, dem Rücktritt Groeners, den Gesprächen zwischen Kurt von Schleicher und Hitler,2 dem SA-Verbot, dem Druck, den verschiedene Interessensgruppen auf Hindenburg ausübten3, und schließlich den Diskussionen rund um die neue Notverordnung,4 war ein klares Gespräch nicht mehr möglich. Als Hindenburg begann, Bedingungen zu stellen, die Brüning nicht akzeptieren konnte, bot der Reichskanzler seinen Rücktritt an, den Hindenburg sofort annahm. Brüning hatte seinen ganzen Einfluss auf den alten Reichspräsidenten verloren. Mit dem Sturz der Regierung Brüning am 30. Mai 1932 begann die letzte Phase der Auflösung der Weimarer Republik. Nachdem hier nun ein Überblick über die französischen Brüning-Bilder in den Jahren 1930 bis 1932 gegeben wurde, sollen diese Bilder nun näher analysiert und interpretiert werden, um ihre Bedeutung für die französische Politik einschätzen zu können. Auf diese Weise sollen auch die für diese Arbeit verwendeten Methoden auf den Prüfstand gestellt werden.

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Vgl. Akten der Reichskanzlei (28.05.1932). Bd. 3: Dokument Nr. 771, S. 2582f. Schleicher verfolgte schon seit 1928/29 das Ziel eines autoritären Staates. Zu den Interessengruppen, die zum Sturz Brünings beitrugen, vgl. Müller: Interessensverbände, S. 405; Muth: Sturz, S. 740. Zu den Schwierigkeiten rund um die neue Notverordnung, vgl. Conze: Sturz, S. 262.

DER EINFLUSS DER KOLLEKTIVEN VORSTELLUNGSWELT AUF DIE FRANZÖSISCHE POLITIK I DIE FRANZÖSISCHE SICHT AUF BRÜNING: EINE MISCHUNG AUS ÜBERLIEFERUNG UND NEUEN ELEMENTEN 1. Die stabilsten Strukturen von sehr langer Dauer Die Beschreibung und die Analyse der französischen Sicht auf Brüning hat gezeigt, dass die vier ausgewählten Gruppen der französischen Gesellschaft die gleichen Denk- und Wahrnehmungsstrukturen teilten. Immer wieder hatte man den Eindruck, dieses oder jenes Argument schon einmal gelesen zu haben – zweifellos verstärkt der Aufbau des vorangegangenen zweiten Teils dieser Studie diesen Effekt. Gegenüber Deutschland zehrten die Franzosen ohne Ausnahme aus einer gemeinsamen nationalen Vorstellungswelt, die auch in ihren Brüning-Bildern zum Vorschein kam. Die Wahrnehmung der Politik und der Person Brünings gründete auf zwei Bildertypen, die alle gesellschaftlichen Gruppen, die für diese Studie herangezogen wurden, miteinander verbanden: Ein positives Bild Brünings, das ihn als Vertreter des „guten Deutschlands“ oder als Ausnahmedeutschen darstellte, und ein negatives Bild, das Brüning als einen doppelgesichtigen Politiker und als ein Sprachrohr des „ewigen Deutschlands“ einordnete. Diese Bilder, die auf den stabilsten Strukturen von sehr langer Dauer der kollektiven Vorstellungswelt aufbauten, erklären den romanhaften und zunächst überraschenden Ton, der die Aussagen über Brüning in den Publikationen und der Presse, aber auch im Parlament oder in der diplomatischen Korrespondenz von 1930 bis 1932 kennzeichnete. Das Bild Brünings als Repräsentant des „guten Deutschlands“ hat seinen Ursprung in der Unterscheidung zwischen „deux Allemagnes“, also zwei Seiten eines „doppelten Deutschlands“. Die Zuordnung Brünings zur guten Seite wurde immer dann getroffen, wenn sich die Franzosen der wachsenden Gefahr des Nationalsozialismus für die deutsche Republik und den Verlauf der deutschfranzösischen Beziehungen besonders bewusst wurden. Die Vorstellung eines Duells zwischen dem Reichskanzler aus dem katholischen Zentrum als Verteidiger der Ordnung und der Vernunft und Adolf Hitler als Vertreter der Anarchie und des Chaos beruhte auf einem Bildererbe aus dem 19. Jahrhundert. Nach diesem Bildererbe kämpfte das wohlwollende Deutschland, das die Franzosen inspirierte, gegen ein dämonisches und dunkles Deutschland, in dem die Franzosen die kulturelle und politische Unterentwicklung „Germaniens“ zu entdecken glaubten. Dieses Bild eines Kampfes zwischen zwei antithetischen Politikern diente zweifellos dazu, die Hoffnung auf die Widerstandskraft der Republik wiederzubeleben, und ermöglichte es gleichzeitig, die französischen Zukunftsängste zu min-

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dern. Das war in diesen Jahren, als sich eine gewisse Endzeitstimmung in Frankreich breit machte, von besonderer Bedeutung. Um der fixen Idee von einer Bedrohung durch Deutschland entgegenzuwirken, ging man teilweise weit in der Geschichte zurück, um beispielsweise zu zeigen, dass zwar alle Deutschen das Militärische liebten, aber nicht alle kriegslüstern waren. Um die schwierige politische Lage des „guten Deutschen“ Heinrich Brüning verständlich zu machen, erwies das Bild eines doppelten Deutschlands weitere Dienste: Der Deutsche sei nämlich ein guter Techniker und ein guter Wissenschaftler, aber in der Regel ein schlechter Politiker. Zahlreiche Intellektuelle hatten das im 19. Jahrhundert immer wieder behauptet. Das Bild des Reichskanzlers als Ausnahmedeutscher stach das Bild des Archetypen eines guten, gefälligen und vernünftigen Deutschen sogar noch aus. Die Ambivalenz dieses Bildes konnte zum einen die nötigen Argumente liefern, um Brüning als Herrn der Lage zu loben, und zum andern beweisen, dass er zu schwach und zu sanft sei, um sein Land zu regieren. Wer ihn unterstützen wollte oder zumindest Sympathie für Brüning empfand, betonte die Konstanz und die Stärke Brünings als Eigenschaften, die in der deutschen politischen Landschaft selten seien. Auf diese Weise kehrten die historisch gewachsenen Bilder von dem Anderen wieder, die es erlaubten, den neuen Reichskanzler zu beurteilen und einzuordnen: Er sei – ganz im Gegensatz zu seinen Landsleuten – ein „schlichter“, „höflicher“, „geduldiger“ und „überlegter“ Mensch. Er betrachte seine Aufgabe als Pflicht und nehme seine Verantwortung wahr, während sein Volk dieser Verantwortung ausweiche. Er fühle sich in einem Land, das durch die egoistischen Spiele der Parteien und politischen Bewegungen gespalten sei, dem Allgemeinwohl und dem nationalen Interesse verpflichtet. Er verfüge über ein politisches Bewusstsein im Gegensatz zu seinen Kollegen, deren Gleichgültigkeit tief in der politischen Geschichte Deutschlands verwurzelt sei. Er sei ehrlich und aufrichtig und verfüge damit über Eigenschaften, die den anderen Politikern und dem deutschen Volk abgingen. Er stehe für Vernunft und Vorsicht in einem Land, das kein Maß kenne und über seine Verhältnisse lebe. Nicht zuletzt sei er auch „energisch“ und von „hoher Moral“ in einer willenlosen Nation, die dem Herdentrieb folge. Man ging sogar so weit, Brüning seinen deutschen Charakter ganz abzusprechen, und stützte sich dafür auf klimatisch und geographisch begründete Argumente: So sei er mehr „Rheinländer“ als Deutscher, wobei man dabei den Überlegungen ähnlicher Art aus dem 19. Jahrhundert und den Aussagen Romain Rollands folgte. Dieser Ausnahmecharakter Brünings machte einige Franzosen allerdings auch misstrauisch: Dem Reichskanzler fehle die harte Hand, die nötig sei, um Deutschland zu regieren. Oder: Er habe der spirituellen Aufkündigung seines Volkes nichts entgegenzusetzen, dessen negative Charakterzüge noch immer im Bild der „Boches“ kumulierten, das aus dem Ersten Weltkrieg in die Zwischenkriegszeit gelangte. Jene Franzosen, die Brüning misstrauten oder ihn gar ganz ablehnten, bedienten sich häufig derselben Bilder wie ihre Landsleute, die Deutschland zugetan waren, kombinierten diese aber anders oder zogen andere Schlüsse aus ihnen. So gelang es ihnen, die französischen Ängste vor Deutschland zu schüren, vor allem

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vor dem Hintergrund der Reparations- und Sicherheitsfrage. Das umsichtige Vorgehen des Reichskanzlers wurde durch eine Umkehrung der Werte zur „List“, die als archetypisch für die deutsche Psyche galt. Man stellte Brüning als „diszipliniert“ und „arbeitsam“ dar, aber diese bewunderte Energie konnte auch in zweifelhaften Eifer umschlagen, mit dem Brüning den Versailler Vertrag zu revidieren suchte. Die Ausnahmeerscheinung Brünings, die ihn von den übrigen Deutschen unterschied, machte ihn auch zu einer zweifelhaften Person. Da wirkte es noch wohlwollend, wenn man von ihm als einem Charakter sprach, dessen Herz und Denken im Widerstreit lagen. Meistens aber zog diese wahrgenommene Duplizität einen scharfen Ton nach sich, der in Bezeichnungen wie „ein zweideutiger Mensch“, ein „Rätsel“ oder „der Kanzler mit zwei Gesichtern“ mündete. Man ordnete ihm ganz wenige positive und eine große Menge negativer Eigenschaften zu, die als typisch deutsch galten, wie zum Beispiel eine gewisse Langsamkeit im Denken, Roheit in seinen politischen Maßnahmen – die aber von einem unterwürfigen Volk goutiert wurden – und eine gewisse Geheimniskrämerei in der Außenpolitik, die sich in einem „doppelten Spiel“ bemerkbar machte. Brüning verfolge so, unbeobachtet von den Allierten, die seit jeher bekannten historischen Ziele des „ewigen Deutschlands“ – und konnte als unkontrollierbarer und unberechenbarer Faktor auf dem internationalen Parkett und für die Zukunft der deutschen Republik identifiziert werden. Die dunkle Seite des „doppelten Deutschlands“ wog für diese Urteile schwerer. Das Bild des deutschen Nachbarn als jemandem, der stillschweigend dasselbe Übel vorbereitet wie dem anderen, der sich offen kriegsbereit zeigt, ist aus der französischen Literatur bekannt. In diesem Zusammenhang muss beispielsweise an die veränderte Haltung der Franzosen gegenüber der deutschen „Innerlichkeit“ erinnert werden, die 1871 infolge der politischen Ereignisse nun als Zeichen für eine Verschwörung gegen Frankreich galt. Für Franzosen, die in Brüning das Alter ego des ewigen Deutschlands sahen, wurde der Reichskanzler zur ernsthaften Bedrohung für die französische Sicherheit. Als Grundlage dieser Sichtweise diente das Bild der „deux Allemagnes“, dessen düstere Seite überwog, oder das Bild eines einheitlich suspekten Deutschlands. In diesem Zusammenhang wurde das gute Deutschland nur im Rahmen eines rhetorischen Spiels erwähnt. Brüning und Hindenburg wurden mit Bismarck und Wilhelm II. gleichgesetzt und ihre Politik als Fortsetzung imperialer Machtstrategien bewertet. Selbst die Urteile über Hitler standen in der Tradition der Wahrnehmung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert – daher auch die mangelnde Differenzierung in der Bewertung Brünings und Hitlers. Die historisch gewachsenen Ängste vor einem materialistischen, militaristischen, berechnenden, kollektivistischen, expansiven, unberechenbaren und gefährlichen Deutschland spiegeln sich in den Negativurteilen über Brüning wider. Diese Ängste tauchten vor allem im Zusammenhang mit drei Themenkomplexen auf: 1. Wirtschaftskrise und Reparationen; 2. Abrüstung; 3. weltanschauliche und innenpolitische Unterschiede, die jede deutsch-französische Verständigung unmöglich zu machen schienen. Auf diese Weise behielt nicht nur die deutsche Bevölkerung den Ruf einer gewissen Maßlosigkeit, sondern auch dem Reichskanzler wurde dieser Charakter-

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zug zugeschrieben, indem man seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entscheidungen als exzessiv abqualifizierte. Man stellte ihn in die Tradition eines verschwenderischen Deutschlands und beschuldigte ihn, die Schwere der Krise zu übertreiben, um die Alliierten moralisch zu erpressen. Seine Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde als offensichtliches Täuschungsmanöver gebrandmarkt und er selbst galt als Lügner. Hinzu kam das Bild eines wachsenden Industrie- und Wirtschaftsapparats, der sich hinter dem Trugbild der Krise verbarg. Man warnte davor, dass jedes Entgegenkommen an Deutschland dieses noch unbescheidener machen werde, und erinnerte an die „germanische“ Mentalität dieses von Natur aus unersättlichen Volkes. Die deutsche Wirtschaft blieb eine „gigantische Maschine“, die dank der deutschen Kriegslüsternheit und dem „Gleichschritt der Soldatenstiefel“ funktionierte – ein Bild, das auf Grundlage der Reproduktionsmechanismen eines typischen nationalen Habitus problemlos abgerufen werden konnte. Die französische Sicherheitsfrage bediente dasselbe Wahrnehmungsschema. Auch dort erschien Brüning als der typische unehrliche Deutsche und sein Land entpuppte sich wieder als dieses mit historisch gewachsenen Bedrohungen aufgeladene Rätsel, dessen eigentliche Ziele aus französischer Sicht nicht zu erkennen waren: Brüning setze dieselbe „unehrlich-germanische“ Politik wie Wilhelm II. fort, sein „militaristisches“ Volk leide unter einer kranken Seele und die Krise seines Landes sei dieselbe, die Deutschland in den Ersten Weltkrieg trieb. Die wahre Seele und die Psychologie der Deutschen – Unehrlichkeit, Kriegsbegeisterung und der Wille, wieder eine Weltmacht wie vor 1914 zu werden – zeichne deshalb auch Brüning aus. Diese Wahrnehmung kam auf zweierlei Art zum Ausdruck: Entweder wurde Brüning als ein Deutscher dargestellt, der Frankreich täuschen wollte, indem er Ränke schmiedete, während Hitler offen über die gleichen Ziele sprach: Er kenne keine Ehrlichkeit und verstecke sein gewalttätiges und pangermanisches Streben hinter einer Maske ganz in der Tradition der langsamen und minuziös geplanten politischen Vorhaben seiner Vorfahren. Vor diesem Hintergrund unterschied sich Brüning nur durch seine Methoden von Hitler und erschien nicht einmal mehr als jemand, dessen Herz und Kopf im Widerstreit zueinander standen, sondern als ein Politiker, der ohne Zögern und im Geheimen die Interessen seines Landes verfolge. Es gab allerdings auch das Bild Brünings als Staatsmann, der seine Maske in einem Land, in dem sich alles mit „extremer Brutalität“ ändere, abgelegt hatte: Demnach verlieh Brüning seinem unversöhnlichen Volk eine Stimme und verkörperte das einheitliche, ewige und imperialistische Deutschland, das nur eine noch größere Bedrohung werden konnte. Aus diesem Grund wollte Brüning – aus französischer Sicht – auch den Osten mit Hilfe der Osthilfe wieder aufrüsten und erobern und zeigte sich außenpolitisch in dieser Hinsicht besonders aktiv. Das gesamte Bild verriet die Angst der Franzosen, militärisch und wirtschaftlich von einem unersättlichen und wenig vertrauenswürdigen Deutschland übertrumpft zu werden. Trotz allem blieb der positive Eindruck der ersten deutschen Republik auf die Franzosen so stark, dass der Begriff „Boches“ nicht etwa häufiger gebraucht wurde, sondern die französischen Gegner Brünings griffen wieder auf den Begriff „Germanen“ zurück.

I Die französische Sicht auf Brüning

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Ein ganzer Bilderkomplex, eine Art harter Kern der negativen Deutschlandbilder bedeutete für lange Zeit ein Hindernis für eine Verständigung mit Deutschland unter Heinrich Brüning: Die Deutschen dächten und handelten nur im Kollektiv und Hitler sei Ausdruck dieses allgemeinen deutschen Seelenzustandes. Des Weiteren sei es unmöglich, Deutschland zu demokratisieren, weil sich das Wesen der Deutschen dieser Regierungsform widersetze. Die politischen Verhaltensweisen stünden auch auf innenpolitischer Ebene noch immer in der Tradition Bismarcks. Nicht zuletzt seien die Deutschen zwar innenpolitisch entzweit, bildeten aber außenpolitisch eine Einheit, und das sei die eigentliche Gefahr. Deutschland bleibe das Land des „Werdens“ auf der Suche nach sich selbst, das nichts anderes als Anarchie kenne und durch eine unerklärliche Mystik geprägt sei. Der Nationalsozialismus erschien vor diesem Hintergrund als eine verstärkte Form dieses deutschen Wesens. Gerade für diese Deutschen, die eine eiserne Hand und den Krieg liebten, schien Brüning ganz bewusst eine rücksichtslose Politik zu betreiben. Die Erfahrung und die Erinnerungen an die Kriege von 1870/71 und 1914 spielten bei diesen Urteilen unterschwellig eine Rolle. Die nationale Identität und die kollektive Vorstellungswelt erklären zweifellos die romanhaften Züge der französischen Urteile über Brüning. Die Franzosen beurteilten Brüning entweder in Übereinstimmung mit oder als Gegenmodell zu ihren historischen Deutschlandbildern – in beiden Fällen setzten sie ihre Eindrücke von Brüning in Beziehung zu diesen Deutschlandbildern. Der katholische Zentrumspolitiker wurde ständig anhand dieser etablierten Beurteilungskategorien eingeordnet und mit dem in der französischen Vorstellungswelt gewachsenen „Fahndungsbild“ Deutschlands verglichen. In den Charakterbildern Brünings finden sich die von Gerhard und Link zusammengetragenen Stereotype (Dynamik, Gewicht, Körper etc.), die Fortsetzung der Idylle Madame de Staëls und die negativen Deutschlandbilder, die alle deutsch-französischen Beziehungen seit Tacitus begleiten. Auch der Blick auf die Demographie spielte für die französischen Urteile eine Rolle, denn die Angst vor den 65 Millionen potentiell frankreichfeindlichen Deutschen war auch Anfang der 1930er Jahre nicht gebannt. Der Einfluss der französischen Deutschlandbilder vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs auf die französische Wahrnehmung Heinrich Brünings ist nicht zu leugnen, wie einige Beispiele des Spiegelbild-Effekts belegen. Zwischen 1930 und 1932 machten die Franzosen aus dem Deutschland Brünings häufiger ein Gegenmodell als ein Vorbild für ihr eigenes Land. Im Hinblick auf ganz konkrete politische Fragen wurden Vergleiche zwischen den „Nationalcharakteren“ herangezogen oder auf historische Ereignisse aus der Vergangenheit angespielt. Als Deutschland von der Wirtschaftskrise gebeutelt wurde – um ein Beispiel zu nennen –, berief man sich in allen für diese Studie analysierten gesellschaftlichen Gruppen auf die Überzeugung, dass die Franzosen vernünftig und geradezu übertrieben sparsam seien, während die Deutschen keinen Sinn für das rechte Maß hätten und von Natur aus verschwenderisch seien. Dieses in mehrere Richtungen formbare Bild lieferte die Grundlage für verschiedene Argumente, mit denen man die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten der Regierung Brüning und deren Verantwortung für das Ausmaß der Krise und sogar deren angebliche Un-

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ehrlichkeit hinsichtlich der Krise zu erklären suchte. Im Vergleich zu dem Elend, das einige französische Städte wie Paris erlebten, sei die deutsche Armut purer Luxus. Wieder einmal wurde hier der Vergleich zwischen der deutschen Wirtschaftskrise und der französischen Krise von 1924 bis 1926 gezogen. Je nach der ideologischen Ausrichtung der Beobachter konnte dieses Spiel mit Spiegelbildern dazu dienen, zu beweisen, dass die Deutschen noch immer unter dem Niveau der Not der Franzosen in den 1920er Jahren lebten, oder aber, dass das Elend in Deutschland Anfang der 1930er Jahre größer war als das der Franzosen in den 1920er Jahren. Diese zeitverschobene Analogie mit einem Ereignis aus der Vergangenheit zeigt ein weiteres Mal, wie wenig die Franzosen mit dem verspäteten Eintreten der Weltwirtschaftskrise in ihrem eigenen Land rechneten. Wer vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise eine wohlwollendere Deutschlandpolitik propagierte, überlegte, wie die Deutschen gleichzeitig die soziale Not und die drakonischen Maßnahmen Brünings aushalten könnten. Das war die andere Wirkung eines doppelseitigen Bildes, das durch eine „Psychologie der Völker“ gefiltert wurde: Die Deutschen waren nun „geduldig“, „bis zum Fatalismus resigniert“, leidensfähig, passiv und apathisch – weniger rebellisch also als die Franzosen, die natürlich unter solchen Bedingungen schon längst zur Revolution übergegangen wären. Im Spiegel der intellektuellen Gegenüberstellung beider Länder tauchten, je nach ideologischer Ausrichtung der Franzosen, drei verschiedene Reflexe auf. Man machte aus der Sparpolitik Brünings ein Modell für das eigene Land und kritisierte identische Probleme in Frankreich, das man in diesem Fall für nicht weniger verschwenderisch hielt. So kam man zu dem Vorschlag, dass man in Frankreich die gleichen politischen Maßnahmen anwenden solle wie in Deutschland. Oder man hatte ganz im Gegenteil Angst, dass sich die französische Regierung ein Beispiel an Brünings Strenge nehmen könnte. Als dritte Möglichkeit stimmte man der Politik Brünings grundsätzlich zu und vertrat die Meinung, dass Frankreich in derselben Situation genau so handeln würde. Die Sorge um den Erhalt der Weimarer Republik war das zweite Thema, bei dem deutsch-französische Antithesen aufgestellt wurden. So hieß es, das germanische Volk sei nicht so geeignet für ein demokratisches System wie die romanischen Völker. Die Republik als Staatsform habe nicht den gleichen guten Ruf wie in Frankreich und die deutsche politische Landschaft sei kompliziert und undurchsichtig, während die französische elegant und perfekt sei. Im Allgemeinen sei es unmöglich, die deutsche Lage zu verstehen, wenn man weiterhin wie ein Franzose denken wolle. Um die neue außenpolitische Ausrichtung Deutschlands zu erklären, griff man schließlich auf zwei historische Vergleiche zurück. Der erste Vergleich diente einer Kritik an der französischen Regierung: Infolge der Bismarckschen Machtpolitik habe sich in Frankreich eine nationalistische Haltung entwickelt und nun geschehe infolge der harten französischen Deutschlandpolitik das Gleiche in Deutschland unter Brüning. Man drehte sogar zwei Vorwürfe, die gewöhnlich an Deutschland gerichtet wurden, um: Die französische Regierung zeige sich zu „gestiefelt“ und zu „behelmt“.

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Die Gegner jeglicher Konzessionen an Brüning, die Deutschland vielmehr mit Hilfe der gewohnten Machtpolitik zähmen wollten, erinnerten anlässlich der empfundenen Enttäuschung in Frankreich nach der vorgezogenen Rheinlandräumung daran, dass schon Napoleon die Erfahrung einer fehlgeschlagenen Verständigungspolitik gemacht habe. 2. Stabile Strukturen von mittellanger bis langer Dauer Wie entwickelten sich die Urteile der französischen Linken und Rechten über Brüning im Lauf von dessen Amtszeit? Um diese Frage zu beantworten, folgt dieses Kapitel der bewährten Gliederung von Mitte links zu extremen Linken und dann von Mitte Rechts zur extremen Rechten. Zunächst kann man anhand der analysierten Quellen feststellen, dass bei den Radicaux-Socialistes und den Sozialisten divergierende und abweichende Entwicklungslinien aufzuzeigen sind, während die Kommunisten und Trotzkisten – abgesehen von ein paar konzeptionellen Unterschieden hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der Sozialdemokratie – dieselben Grundgedanken teilten. Die Radicaux-Socialistes, die die Bauern aus der Mitte und dem Süden Frankreichs, das kleine Bürgertum aus der Provinz wie auch die selbstständigen und handwerklichen Berufsstände vertraten, schlugen seit Beginn der Brüningschen Amtszeit einen Ton an, der zwischen Neutralität und Wohlwollen schwankte, obwohl sie den tiefen und riskanten Wandel des Regierungssystems und den Einsatz eines „Hindenburg-Kabinetts“ bedauerten. Sie vertrauten Heinrich Brüning und fürchteten keinen Bruch in der von Gustav Stresemann begonnenen deutschfranzösischen Verständigungspolitik. Als Brüning allerdings den Reichstag auflöste und auf Notverordnungen zurückgriff, um seine Politik durchzusetzen und die Krise zu bewältigen, schlug dieses anfängliche Wohlwollen in Ablehnung um, auch wenn sich die Radicaux-Socialistes der gespannten politischen Situation, in der sich der deutsche Reichskanzler befand, wohl bewusst waren. Sie sprachen nun von der Regierung Brünings als „verkleideter Diktatur“ und schauten mit Besorgnis auf die Dominanz der nationalen Interessen, die sie in Brünings Politik auszumachen glaubten. Dies schien den mühevoll von Aristide Briand und Gustav Stresemann eingeschlagenen Kurs der Annäherung wieder zu zerstören. Mit Beginn des zweiten Brüning-Kabinetts hatte die Beschäftigung mit dem erstarkenden Nationalsozialismus und der Wirtschaftskrise die Frage nach dem Regierungsstil Brünings schon so weit verdrängt, dass sich die Debatten der Radicaux-Socialistes nur noch um die Haltung Brünings gegenüber den Nationalsozialisten drehten. Und genau diese Haltung Brünings war es, die das Pendel wieder in die Richtung positiver Urteile ausschlagen ließ. Man war nunmehr wieder davon überzeugt, dass Brüning die Politik Stresemanns fortsetze. Auch der starke Einfluss Hindenburgs auf das politische Geschehen, seine zweifelhafte Rolle in der Republik und die Abhängigkeit Brünings von Hindenburg wurden nicht mehr kritisiert. Angesichts der rasanten Erfolge der Nationalsozialisten für die Radicaux-Socialistes zählte nur noch, dass Deutschland mit dem erfolgreich aus den Reichspräsiden-

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tenwahlen 1932 hervorgegangenen Hindenburg Hitler den Weg zur Macht zu versperren schien. Sehr schnell setzten die Radicaux-Socialistes wieder ihre ganze Hoffnung auf das demokratische Deutschland und vernachlässigten die strukturellen Probleme, mit denen die Weimarer Republik zu kämpfen hatte. Was die wirtschaftliche Lage und die Not in Deutschland betraf sowie die finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen Brünings, so hatten die RadicauxSocialistes im Frühling 1930 den Eindruck, Deutschland erlebe eine „glückliche Phase“, aber diese Sichtweise wich Schritt für Schritt einem tiefen Pessimismus. Hinsichtlich der Brünigschen Reparations- und Abrüstungspolitik entwickelte sich die radikal-sozialistische Meinung zum Nachteil des Reichskanzlers. Der anfängliche Optimismus, der noch im Juli 1931 vorgeherrscht hatte, kühlte rasch ab, weil die Radicaux-Socialistes mit Bedauern sahen, wie wenig die Franzosen ihre Interessen auf internationaler Ebene zu verteidigen verstanden hatten. Stattdessen forderten sie nach der Ankündigung des deutsch-österreichischen Zollunions-Projekts die ausstehenden deutschen Finanzleistungen ein, zumal die geplante Zollunion die Sympathien der französischen Linken für die deutsche Regierung nachhaltig erschüttert hatte und Frankreich seit 1932 selbst von der Wirtschaftskrise erfasst worden war. In der Abrüstungsfrage lehnte sich der rechte Flügel der Radicaux-Socialistes noch deutlicher an die Position der französischen Rechten an: Man lehnte die französische Abrüstung und die Forderung Brünings nach militärischem Gleichgewicht ab. Der linke Flügel der Radicaux-Socialistes wiederum folgte den Überzeugungen der Sozialisten, die in einer allgemeinen und internationalen Abrüstung die notwendige Bedingung für einen dauerhaften Frieden sahen. Angesichts des nationalsozialistischen Terrors, der sich immer deutlicher abzeichnete, erkannten sie – genau wie die übrigen Linken – nicht die eigentliche Gefahr Adolf Hitlers und überschätzten sowohl die Stabilität der Weimarer Republik als auch die Macht Heinrich Brünings. Bei den Sozialisten des rechten Flügels der SFIO – diese Partei fand ihre Anhänger unter den Arbeitern, kleinen Bauern und kleinen Beamten –, die für eine Zusammenarbeit von Sozialisten und Radicaux-Socialistes eintraten, herrschte zu Beginn der Brüningschen Amtszeit der gleiche beruhigende Ton und das gleiche Vertrauen in die deutsche Regierung vor wie bei den Radicaux-Socialistes. Man war überzeugt, dass Brüning eine Politik im Stile Locarnos fortsetzen werde. Der linke Flügel der SFIO kritisierte hingegen das politische Programm Brünings – das als „Verrat“ bezeichnet wurde – scharf. Zu dieser Kritik gesellte sich die unangenehme Angst, Brüning könnte die Monarchie restaurieren. Als Brüning seine Politik verstärkt auf Notverordnungen stützte und den Reichstag auflöste, wurde der Ton des rechten Flügels der SFIO wie bei den Radicaux-Socialistes schärfer, weil man davon ausging, dass die Notverordnungen nur zur einer Verschärfung der Krise und zu einer Umwandlung des Regierungssystems in eine „halbe Diktatur“ beitrügen. Allerdings gaben reformistische Sozialisten wie Salomon Grumbach nicht die Hoffnung auf, dass Deutschland zu einer maßvolleren Politik zurückkehren werde, sobald das Land einen Weg aus der Wirtschaftskrise gefunden habe. Diese Hoffnung fehlte im linken Flügel der SFIO völlig. Hier betrachtete

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man die deutsche Politik im Jahr 1930 ausschließlich als fortschreitende Auflösung der Republik. Aus diesen Gründen stellte sich die gesamte SFIO auch hinter die deutsche SPD, die Brüning bis zu den Reichstagswahlen im September 1930 jede Unterstützung versagte. Die Angst vor der erstarkenden NSDAP und die damit verbundene Gefahr für die Weimarer Republik provozierte aber nicht nur bei der SPD, sondern auch bei der SFIO einen Kurswechsel. Sowohl die RadicauxSocialistes als auch die SFIO ermutigten nun die SPD, Heinrich Brüning zu unterstützen, und erklärten mit größerer Bestimmtheit ihre Bereitschaft, der Weimarer Republik zu Hilfe zu kommen. Die Sorge, alle möglichen Gründe und Möglichkeiten für einen neuen Krieg aus der Welt zu schaffen, zu dem nach ihrer Ansicht der Nationalsozialismus unweigerlich führen werde, veranlasste sie, Brüning mit größerem Verständnis und mehr Nachsicht zu beurteilen. In Hitler allerdings sahen sie nur einen Vertreter des Nationalsozialismus unter vielen. Sogar der linke Flügel der SFIO sprach von nun an von Brüning als „kleinerem Übel“. Auch die Urteile der Radicaux-Socialistes wurden nach Brünings Rede zum Antritt des zweiten Brüning-Kabinetts wieder wohlwollender. Die Sozialisten aller Ausrichtungen glaubten zwischen zwei Brünings unterscheiden zu können – einem, der von April bis September 1930 regiert hatte, und dem anderen, der durch die Erfahrungen einer erstarkenden extremen Rechten (im Jahr 1930) und der Präsidentschaftswahlen sowohl gereift als auch gewarnt worden war. So blickten die Sozialisten, trotz der vielen Unterschiede zwischen ihren politischen Ideen und denen des Reichskanzlers, erstaunt auf das Durchhaltevermögen und den relativen Erfolg der deutschen Regierung. Einige Vertreter des linken sozialistischen Flügels fanden aber zu ihren unbarmherzigen Urteilen über Brüning zurück, als dieser sich mit Hitler traf und sie vermuteten, dass er den Nationalsozialisten Konzessionen gemacht habe. Bei der restlichen SFIO überschätzte man aber weiterhin – und im Gegensatz zum Parti radical-socialiste – die Macht Brünings und setzte den deutschen Nationalsozialismus mit dem italienischen Faschismus gleich, was aus Hitler einen „Kollegen“ Mussolinis machte. Hinsichtlich des politischen Kampfes gegen Hitler wussten die Sozialisten keinen Rat zu geben. Sie waren aber überzeugt, dass die demokratischen Kräfte in Deutschland wieder an Durchsetzungskraft gewinnen würden, sobald man eine Lösung für die wirtschaftliche Not in Deutschland gefunden habe. In Bezug auf die Wirtschaftskrise und alle mit ihr verbundenen Probleme, die die Regierung Brünings zu lösen hatte, fand bei den Sozialisten auch eine Entwicklung ihrer Meinungen statt. Die gemäßigten und reformistischen Sozialisten, rund um den Abgeordneten Grumbach, erkannten an, dass Brüning die Deutschen nicht etwa bewusst „schlecht“ regieren wolle, sondern strichen schon 1930 den Einfluss der sozialen Misere auf die „Seele“ der Deutschen heraus und waren sich zudem der politischen Kraftanstrengung Brünings bewusst, die dieser vollbrachte, um seine Macht trotz des Drucks unterschiedlicher Interessengruppen zu erhalten. Der Rest der SFIO, vom rechten bis zum linken Flügel, sah in Brüning jemanden, der die Unternehmer und „besitzenden Klassen“ vorzog und seine Politik gegen die weniger vermögenden Deutschen richtete. Mit der Zeit und vor allen Dingen ab dem Moment, wo sie sich der beginnenden Krise und damit verbundenen Frag-

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mentierung der politischen Landschaft in ihrem eigenen Land bewusst wurden, änderten der linke Flügel der Radicaux-Socialistes und die SFIO ihren Standpunkt und klagten nun die französische Regierung an, sich in der Reparations- und Abrüstungsfrage zu unerbittlich zu zeigen und somit den Nationalsozialismus im Nachbarland zu stärken. Der rechte Flügel der Radicaux-Socialistes teilte allerdings dieselbe Angst wie die Rechten, eine allzu wohlwollende Deutschlandpolitik könne dazu führen, dass Frankreich auf internationaler Ebene überholt werde. Schließlich kapitulierten die Sozialisten regelrecht vor den komplexen Wirtschaftsproblemen und bewerteten die bis dahin von ihnen als drakonisch bezeichnete Politik Brünings mit größerem Verständnis. Einige trotz allem in stärker nationalistischem Ton abgefasste Texte aus dem Jahr 1932 sind mit den bevorstehenden Wahlen und der Angst zu erklären, Wähler zu verlieren. Je weiter man nach links schaut, desto deutlicher wurde die Politik Brünings abgelehnt. Die Kommunisten attackierten lautstark und polemisch Brüning seit Beginn seiner Amtszeit bis zu deren Ende und machten Front gegen eine Politik, die sie für eine von der SPD gestützte Faschisierung hielten. Die Ähnlichkeiten mit den von der sowjetischen Zentrale gesteuerten Agitationen des PCF und der KPD werden dabei sehr deutlich. Die Kommunisten, die vor allem von Landarbeitern und Handwerkern aus den Pariser Vorstädten gewählt wurden, waren genauso beunruhigt wie die Sozialisten, allerdings aus anderen Gründen und anderen Motiven. Sie fürchteten den kapitalistischen Fortschritt, als dessen Werkzeug sie den Faschismus betrachteten, der in ihren Augen ein Zusammenschluss aus SPD, Heinrich Brüning und Hitler war. Sie fühlten sich von allen Seiten bedroht – sowohl durch den Imperialismus als auch den Kapitalismus – und rechneten mit einem Angriff gegen ihr Vorbild, die Sowjetunion. So wetterten sie gegen den Versailler Vertrag, allerdings nicht, weil sie die Gesamtsituation der Deutschen erleichtern wollten, sondern aus Mitleid mit den deutschen Arbeitern. Die Sozialisten teilten zwar dieses Mitleid und die moralischen Vorstellungen der Kommunisten, wollten aber die jeweiligen Probleme in dem von der Politik gesteckten Rahmen lösen und nicht etwa in Form einer Revolution. Die Kommunisten wiederum überschätzten völlig die Kräfte ihrer deutschen Gesinnungsgenossen im Kampf gegen Hitler und trugen mit ihrer Agitation gegen die Regierung Brüning und die deutsche Sozialdemokratie zur Schwächung der Weimarer Republik bei. Die Trotzkisten zeigten sich realistischer, als sie für den Kampf gegen Hitler einen Zusammenschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten forderten. Sie waren hier dem PCF voraus, der diese nun von der Sowjetunion abgesegnete Position erst einnahm, als Hitler schon längst an der Macht war. Von Zeit zu Zeit wichen aber einige kommunistische Intellektuelle und Wegbegleiter des PCF von der offiziellen Parteilinie ab: Sie unterstellten Brüning beispielsweise nicht, bewusst gegen die Arbeiter Politik zu betreiben, und zeigten sogar ein gewisses Verständnis für die politische Taktik der SPD. Es ist durchaus erstaunlich, mit welcher Aufmerksamkeit die französischen Linken die Politik Brünings und die Ereignisse in Deutschland von 1930 bis 1932 verfolgten. Mit sehr wenigen Ausnahmen interessierten sie sich – mit mehr oder

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weniger differenziert und objektiv, je nach Thema und ideologischer Ausrichtung – für alles, was auf innenpolitischer Ebene in Deutschland geschah. Selbstverständlich standen die politischen Maßnahmen Brünings und die Probleme, die direkte Folgen für Frankreich und das internationale Geschehen hatten –also die Wirtschaftskrise, die Reparationsfrage, die Abrüstung und der Nationalsozialismus –, in der politischen Diskussion im Vordergrund. Die Kommunisten wichen ein wenig davon ab, weil sie die jeweiligen Ereignisse in Deutschland vor allem darauf abklopften, ob sie sich als Startsignal für eine Revolution und die Errichtung eines kommunistischen Staates eigneten. Nicht zuletzt zeigen sich auch deutliche Unterschiede in der Art, wie die linken und die rechten Flügel der Sozialisten und der Radicaux-Socialistes Brüning betrachteten, und häufige und deutliche Ähnlichkeiten in den Urteilen des linken Flügels der Radicaux-Socialistes und der SFIO sowie des linken Flügels der SFIO und der Kommunisten. Bei den Kommunisten und Trotzkisten verliefen derartige Unterschiede und Ähnlichkeiten nicht entlang einer innerparteilichen Trennung in verschiedene Flügel, sondern richteten sich danach, ob die Kommunisten der Parteilinie des PCF und der KPD treu folgten oder sich als Intellektuelle eine größere und vom Parteidiktat unabhängigere Denkfreiheit erlaubten. Die Parteitreuen konnten trotz ihres Wunsches, alle Kommunisten im Kampf gegen den Kapitalismus zu vereinen, nicht verhindern, dass sich eine Kultur der Intellektuellen herausbildete, in der unterschiedliche Kräfte polarisierten und in der sich Menschen bewegten, die über die offiziellen Anweisungen der Partei hinausdachten.1 Das spiegelte sich zum Beispiel in den amüsanten Kritiken von Sozialisten und Kommunisten wider, die in der Rubrik Revue des Revues der Critique Sociale veröffentlicht wurden. Demnach zeichnete sich der Etudiant Socialiste beispielsweise dadurch aus, dass „er offenkundig nicht die elementare Definition des Sozialismus“ kenne.2 Barbusse war darin ein „Analphabet des Sozialismus“ und die Révolution Prolétarienne galt als „eklektisch und widersprüchlich im Bereich der politischen und sozialen Ideen, aber konstant in ihrer Inbrunst für einen quasireligiösen Sozialismus“.3 Die Révolte wurde schlichtweg als „anarchistisch“ verspottet.4 Hinsichtlich Heinrich Brüning waren es Europe und Monde und einige Wegbegleiter des PCF, wie Pierre Brossolette, die von der offiziellen Parteilinie abwichen. L’Humanité, die Annie Burger-Roussenac als „Ort des intellektuellen Austausches par excellence“ bezeichnet, befolgte in ihren Urteilen über Heinrich Brüning und die SPD dagegen ohne Ausnahme den Klassenkampfbefehl.

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2 3 4

Vgl. hierzu Pluet–Despatin: Contribution à l’histoire, S. 125ff., Prochasson: Intellectuels et socialisme; Racine: Ecrivains communistes; Roche: Boris Souvarine; Tartakowsky: Marxisme, S. 30ff. Vgl. La Critique Sociale, März 1930. Revue des Revues, S. 38–42. Ebd. Vgl. La Critique Sociale, Oktober 1930. Revue des Revues, S. 135–139

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Bei den Rechten, vom Parti Démocrate Populaire (PDP) bis zu den Konservativen der Fédération Républicaine (FR), entwickelten sich die Positionen genauso unterschiedlich und uneinheitlich. Die nationalistische Rechte hingegen verfolgte eine genaue, polemische und kohärente politische Linie, die im Laufe der Jahre 1930 bis 1932 noch an Härte gewann. Wie die extreme Linke griff auch sie immer wieder auf denselben Argumentationstypus zurück. Von 1930 bis 1931 war sich die französische Gesellschaft ihrer Werte noch relativ sicher und funktionierte auch noch relativ gut, was sich auch in den Positionen der Repräsentanten der rechten Mitte bis zur Rechten zu Deutschland widerspiegelt. Mit dem Beginn der Krise in Frankreich, den Problemen des Staatshaushalts und den Staatsschulden, sowie der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Lage, änderten sich die Sichtweisen der rechten politischen Parteien deutlich. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums richtete sich das Hauptinteresse auf außenpolitische Fragen. So wurde auch die Innenpolitik Brünings durch eine „internationale Brille“ betrachtet. In ihrer Gesamtheit waren die Urteile der rechten Mitte genauso differenziert wie die der linken Mitte, was es um so schwieriger macht, die großen Linien der Entwicklung ihrer Meinungen hinsichtlich Deutschlands aufzuzeigen. Zum Amtsantritt Brünings zeichneten die Rechten ein sehr ambivalentes Bild des neuen Reichskanzlers, weil wegen seiner republikanischen Überzeugungen allgemeine Unsicherheit herrschte. Die Positionen der Gemäßigten, von der Alliance démocratique bis zum liberalen Flügel der Fédération Républicaine – der Partei der Führungskräfte – schwankten zwischen jenen, die in Brüning den Errichter einer Finanzdiktatur und Zerstörer des Parlamentarismus sahen, und anderen, die das politische Programm des neuen Kanzlers als logische Entwicklung eines Volkes betrachteten, das nicht demokratisiert war. Die Gemäßigten, deren Anhänger aus Geschäftskreisen stammten,5 warfen Brüning entweder vor, nicht einmal versucht zu haben, ohne den Artikel 48 zu regieren, oder sie stellten ihn als überzeugten Demokraten dar, der die Republik retten wollte, und zeigten Verständnis für Brünings und Hindenburgs Politik. Während der „soziale Flügel“ der Gemäßigten6 Brüning in dieser schwierigen Lage Deutschlands im Jahr 1930 wertschätzte, nannte die konservative Rechte das politische System unter Brüning eine Farce. Von den Gemäßigten bis zur konservativen und nationalen Rechten beobachtete man genau die neuen außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands und befürchtete, dass Deutschland wieder eine Großmacht werden wolle. Man stellte Brüning – mit einer gewissen Skepsis – in die Tradition Stresemanns, nannte ihn aber nationalistischer und damit gefährlicher als seinen Vorgänger, ohne ihn jedoch mit Hitler gleichzustellen. Sämtliche Rechten kritisierten die mangelnde Dankbarkeit der deutschen Regierung nach dem Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland, auch wenn sie gleichzeitig betonten, dass dieses Auftreten Deutsch5 6

Vgl. Hörling: Opion française (I), S. 621. Vgl. Mayeur: Vie politique, S. 305.

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lands immerhin ehrlich sei, im Gegensatz zu den Versteckspielen Stresemanns. Die Chrétiens démocrates allerdings blieben überzeugt, dass die Partei Brünings den Frieden verteidige. Die Septemberwahlen im Jahr 1930 verstärkten die Unsicherheit der Gemäßigten gegenüber Deutschland, während sie bei den Konservativen zu einer Verhärtung der Fronten führten. Die Rechten bewerteten das Wahlergebnis ausnahmslos als einen Gnadenstoß für die Weimarer Republik. Während sie Hitler vollständig unterschätzten, sahen sie in Brüning nun den einzigen deutschen Politiker, dem es möglich sei, die deutsche Demokratie zu retten. Gleichzeitig machte sich aber die Sorge breit, dass Brünings Politik nur eine Fassade sei, hinter der sich die Zerstörung der Republik vorbereite. Sowohl bei der konservativen Rechten als auch bei der extremen Rechten setzte sich nach den Septemberwahlen der Eindruck fest, dass jeder Deutsche ein Militarist sei und der Erfolg der Nationalsozialisten mit dem französischen Rückzug aus dem Rheinland seinen Anfang genommen habe – also auf eine zu wohlwollende Deutschlandpolitik der Franzosen zurückzuführen sei. Die Folgen der Wahlen schienen die antirepublikanische Orientierung des Reichskanzlers und seine Unehrlichkeit gegenüber Frankreich zu bestätigen, weil er nach Ansicht der Rechten die innenpolitische Lage Deutschlands weitaus schlimmer darstellte, als sie in der Realität war. Seine Politik wurde deshalb immer häufiger als Erpressungsversuch wahrgenommen. Ende 1930 vollzogen die Rechten einen erstaunlichen Richtungswechsel in ihrer Position gegenüber Deutschland. Sie befanden auf einmal die Unterstützung Brünings durch die Sozialdemokraten für gut und sahen darin sogar einen stabilisierenden Faktor für die Republik und eine friedliche Politik Deutschlands – während sie in ihrem eigenen Land die Linken bekämpften. Zweifellos waren hier außenpolitische Überlegungen für diesen Meinungswandel ausschlaggebend. Sogar die extremen Rechten schlossen sich dieser Position an, obgleich sie befürchteten, die sozialen Ideen der SPD könnten Brüning davon abbringen, die Reparationen weiter zu zahlen. Im Verlauf des zweiten Kabinetts Brüning stimmten die Meinungen der verschiedenen Rechten dann aber immer weniger überein. So waren nicht nur die Positionen von Gemäßigten und Konservativen klar voneinander getrennt, auch innerhalb der Parteien taten sich Brüche auf. In ihrer Gesamtheit aber verhärteten sich die Positionen und der Gegensatz der Rechten zum linken Flügel der Radicaux und zu den Sozialisten wurde schärfer. Die Brüningschen Maßnahmen, seinen Rückgriff auf eine Politik der Notverordnungen, seine außenpolitischen Positionen, aber auch der wachsende Erfolg der Nationalsozialisten, in dem man mehrheitlich eine Rückkehr zur Politik des „ewigen Deutschlands“ sah, bestätigten die Konservativen und die Anhänger der Action Française in ihrer ablehnenden bis feindlichen Haltung gegenüber Deutschland. Je weiter man nach rechts blickt, desto größer wurde das Misstrauen gegenüber Brüning. Diese Haltung lässt sich auf die Außenpolitik des ersten Brüning-Kabinetts zurückführen, die als provokant wahrgenommen wurde. Die Folgen der Rheinlandräumung, die Septemberwahlen und die Aufmärsche des Stahlhelm gereichten Brüning schon zum Nachteil. Die deutsche Reparationspolitik, diese „peau de chagrin“ und vor allem das Vorhaben einer deutsch-österreichischen Zollunion aber vertieften das franzö-

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sische Misstrauen und beschleunigten die negative Entwicklung der Meinungen der französischen Rechten über Deutschland. Die Gemäßigten wie der rechte Flügel der Radicaux hatten nicht nur den Eindruck, dass Deutschland durch die Reparationsleistungen eigentlich gar nicht geschwächt sei, sondern dass Brüning das Misslingen des Young-Plans sogar förderte, wie er es angeblich schon beim Dawes-Plan getan hatte. Unter den Rechten breitete sich das Gefühl aus, dass alles nur vom guten Willen des Reichskanzlers abhänge. Die Optimisten unter den Gemäßigten, die sich vor allem im Petit Parisien und im Temps Gehör verschafften, hielten trotzdem weiter zu Heinrich Brüning, den sie sowohl auf außen-, als auch auf innenpolitischer Ebene als einen Verteidiger der Republik betrachteten, während die Pessimisten unter den Gemäßigten einen wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten auf die Brüningsche Politik fürchteten. Seit 1931 begannen sie sogar an die Möglichkeit eines Krieges in Form eines „Betriebsunfalls“ zu glauben. Der Eindruck, dass Deutschland für Frankreich wieder so gefährlich sei wie 1914, griff in den Kreisen der Alliance Démocratique und der Fédération Républicaine um sich. Brüning wurde immer häufiger als ein Politiker beschrieben, der die bekannte deutsche Machtpolitik fortsetze, Deutschland heimlich wieder aufrüsten lasse und eine Gefahr für die französische Sicherheit bedeute. Die deutsch-österreichische Zollununion belebte sowohl unter den Linken als auch bei den Rechten aufs Neue die Angst, dass Frankreich wirtschaftlich und politisch abgeschlagen werden könnte. Auch wenn diese Angst von den Rechten nüchterner geäußert wurde als von den Linken (die durch dieses Vorhaben Brünings bitter enttäuscht waren) oder der extremen Rechten (die sich in ihrem Deutschlandhass bestätigt sah), stellte die Zollunion auch ein wichtiges Ereignis für die Gemäßigten und die konservativen Rechten dar. Sie spielte jenen Rechten in die Hände, die in Brüning einen neuen Wilhelm II. sahen. Die Gemäßigten, die eine politische Linie verfolgten, die jener der Radicaux entsprach, waren mehr von der Heimlichtuerei Brünings irritiert als von dem eigentlichen Zollunionsvorhaben. So stellten die gemäßigten Abgeordneten, die weiter die Überzeugung vertraten, die deutsche Regierung suche nur nach einer Lösung für ihre Wirtschaftskrise und bereite keine wirtschaftliche und politische Offensive gegen Frankreich vor, eine Minderheit dar. Der Besuch Brünings in Paris im Sommer 1931 beruhigte vorübergehend die Gemüter der Gemäßigten, die in Brüning einen Revisionisten – wenn auch ohne die radikale Rhetorik Hitlers – sahen. Aber diese kurze Phase konnte nicht mehr die Überzeugung der Gemäßigten und Konservativen erschüttern, wonach Brünings Außenpolitik jede Konzession Frankreichs erschwere oder sogar unmöglich mache. Je weiter rechts die Franzosen standen, desto größer war nicht nur das Misstrauen gegenüber Brüning; auch ihre Attacken gegen die Politik Briands wurden schärfer. Dieser negative Einfluss der Brüningschen Außenpolitik auf die Meinungen der französischen Rechten zeigte sich auch in ihren Urteilen während des zweiten Brüning-Kabinetts über die Weimarer Republik. Die Gemäßigten erkannten die Komplexität der Probleme, mit denen Brüning während seines zweiten Kabinetts zu kämpfen hatte, aber ihre Hoffnungen konzentrierten sich vor allem auf die SPD und deren Wachsamkeit, was den Einfluss

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der Nationalsozialisten auf die Zentrumspartei betraf. Die Vorgeschichte und das Ergebnis der Reichstagswahlen im September 1930 bildeten den Ausgangspunkt für einige desillusionierte Überlegungen der gemäßigten Rechten zum Thema Weimarer Republik. Sie zeigten sich misstrauischer als die Linken und äußerten ihre Vorahnung, dass der eigentliche Gewinner trotz allem Adolf Hitler sei. Hindenburg erschien ihnen auch nicht als idealer Kandidat, aber die Optimisten unter ihnen beschrieben „Hindenburgs Kanzler“ Brüning dennoch als Leuchtturm der Demokratie in einer antirepublikanischen Flut. Die Pessimisten wiederum sahen in Brüning nur noch einen Schatten, hinter dem Hitler weiter voranschreite. Unter den Anhängern der Fédération Républicaine überwog die Ansicht, wonach zwischen dem kaiserlichen Deutschland unter Bismarck und Wilhelm II. und dem demokratischen Deutschland unter Hindenburg und Brüning keinerlei Unterschied bestand. Hitler erschien ihnen als eine Art übertriebene Form des ewigen Deutschlands in dieser Perspektive sogar als weniger gefährlich, weil angeblich voraussehbarer. Ein Teil der Gemäßigten glaubte jetzt, dass sich Brüning Hitler annähere, um die Republik zu stabilisieren, während die anderen überzeugt waren, dass Hitler Brüning in einem politischen Schraubstock gefangen halte. Die Mitglieder und Sympathisanten der Fédération Républicaine zeigten sich immer überzeugter, dass Brüning genauso wie Hitler werde, weil auch er der natürlichen Neigung des deutschen Volkes für einen gewissen Autoritarismus folge. Was die Außenpolitik des zweiten Brüning-Kabinetts betraf, so verteidigten die Chrétiens démocrates weiterhin den deutschen Reichskanzler, während die restlichen Gemäßigten ohne Ausnahme eine weitaus kritischere Position vertraten. Die konservative Rechte wiederum näherte sich um ein weiteres Stück dem Deutschenhass der extremen Rechten an. Die gemäßigten Rechten gingen davon aus, dass die Reparationen vor allem eine psychische Last für die Deutschen bedeuteten und dass die Wirtschaftskrise ihnen nur als Vorwand diente, um sich von dieser Last zu befreien. Die Ankündigung Brünings, keine Reparationen mehr zahlen zu können, wurde als schwerer Fehler bewertet, der an das diplomatische Vorgehen der Deutschen rund um die deutsch-österreichische Zollunion erinnerte. Bei den konservativen Rechten verlor Brüning auf diese Weise jegliche Sympathie. Ein weiteres Mal schien seine Politik zu belegen, dass jede Konzession an die Deutschen nur deren Gier anstachele. Die Chrétiens démocrates waren die einzigen unter den Rechten, die auch jetzt noch zur Unterstützung Brünings aufriefen. In der Abrüstungsfrage urteilten die Rechten noch schärfer über Brüning als in der Reparationsfrage und entfernten sich hier noch weiter von den Positionen der Linken. Bei der Abrüstung unterschied man noch weniger zwischen Brüning und Hitler, denen man dieselbe Kriegsbegeisterung unterstellte, obgleich man ebenfalls unterstrich, dass eine deutsch-französische Zusammenarbeit nur mit Brüning möglich sei. Mit den Vorbereitungen für die Abrüstungskonferenz wurde der Graben zwischen den Linken und Rechten noch tiefer. Einige Politiker wie Tardieu sprachen von Brüning sogar als „Gegner“. Die Sichtweisen der Rechten kann man in ihrer Gesamtheit nicht verstehen, wenn man nicht auch ihre Meinungen zur sozialen und wirtschaftlichen Krise in

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Deutschland berücksichtigt – einem Thema, bei dem sie sich mehrheitlich von den Positionen der Linken absetzten, auch wenn die Gemäßigten aus der rechten politischen Mitte einige Meinungen mit dem rechten Flügel der Radicaux teilten. Die Not und das Elend der Massen in Deutschland hatten nicht dasselbe Gewicht in den Überlegungen der Linken wie bei den linken Radicaux, den Sozialisten und den Kommunisten. In den ersten Monaten der Regierung Brüning verfolgten die Gemäßigten die Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings mit großem Verständnis und lobten sogar dessen politische Maßnahmen. Er habe den Mut, eine schmerzhafte Politik zu betreiben und sie einem Volk aufzuerlegen, das an die unnötigen Ausgaben und die laschere Politik seiner Vorgänger gewöhnt sei. Gleichzeitig aber vermuteten die den Konservativen näher stehenden Gemäßigten, dass Brüning eine unmoralische Politik betreibe, die darauf aus sei, vom Ausland mit vollen Händen zu nehmen, um die Situation im Inland zu erleichtern. Das Elend der Massen wurde nur oberflächlich und nebenbei wahrgenommen. Trotz allem sei Brüning aber der Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Man vertrat die Ansicht, dass es Deutschland wirtschaftlich an sich blendend gehe und dass das Land nur unter ein einigen Fehlern leide, die Brünings Vorgängerregierungen begangen hätten. Der Reichskanzler vom katholischen Zentrum wurde hier zum Sympathieträger der Konservativen, die viele wirtschafts- und finanzpolitische Überzeugungen mit ihm teilten. Aber Brünings Außenpolitik, der zerstörerische Effekt der deutsch-österreichischen Zollunion, der Erfolg der Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen und in den Ländern beeinflussten diese positive Sichtweise auf den Reichskanzler als Finanzexperten auf Dauer negativ. Am Ende seines ersten Kabinetts galt Brüning nur noch als „kleineres Übel“. Das macht deutlich, wie sehr die Wertschätzung der Konservativen für Brüning abgenommen hatte. In der Vorstellungswelt der Rechten, wonach Deutschland eine potentielle Macht blieb, setzte sich die Meinung fest, dass die Regierung Brüning ihre finanziellen Rücklagen nutze, um heimlich wieder aufzurüsten. Nach der großen Banken- und Kreditkrise in Deutschland im Sommer 1931 schienen sich die gemäßigten und die konservativen Rechten etwas mehr über die Tiefe und das Ausmaß der Krise in Deutschland bewusst zu werden, zumal sie im eigenen Land die ersten Zeichen einer wirtschaftlichen Flaute zu spüren bekamen. Dieses Gefühl einer allmählichen Schwächung Frankreichs ließ die Rechten aber umso wachsamer werden. Das Vertrauen in Brüning verschwand nach und nach und wich den Bildern eines Deutschlands, das die Not im Land nur simuliere und gern verschwenderisch lebe. Die Ankündigung, dass Deutschland nicht mehr in der Lage sei, seinen Reparationsleistungen nachzukommen, hatte in diesem Zusammenhang eine noch verheerendere Wirkung als die geplante deutsch-österreichische Zollunion. Jetzt wurde Deutschland während des gesamten zweiten Brüning-Kabinetts bis zu dessen Sturz als ein Land beschrieben, das sich ganz bewusst als verarmt hinstelle. Erst bei Brünings Sturz ließen sich wieder Stimmen der Gemäßigten vernehmen, die den Verlust eines integren und außergewöhnlichen Politikers bedauerten. Natürlich gab es aber auch solche, die vom Abschied eines autoritären Politikers sprachen. Und doch fürchteten die Gemäßigten und ein Teil der Fédération Républi-

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caine im Juni 1932 eine weitere Verschlechterung der politischen Lage in Deutschland. Die nationalistische Rechte vertrat von Anfang an ihre extremistische Meinung über Brüning, in dem sie nur eine Spiegelung des ewigen Deutschlands zu erblicken glaubte. „Les charactéristiques de l’Allemand étaient immuables quels que fussent les gouvernement“, schreibt zu Recht Hans Hörling.7 Die extreme Rechte fand ihre Unterstützung bei den Industriellen, einigen Mitgliedern der Académie, beim katholischen Bürgertum und bei den Militärangehörigen. Sie verschaffte sich vor allem über die Presse Gehör, weil sie im Parlament nur schlecht vertreten war.8 In den ersten Monaten der Regierung Brüning veröffentlichten die extremen Rechten regelmäßig Artikel über das „Verbrechen“ der vorgezogenen Rheinlandräumung. In den Monaten danach machten die nationalistischen Rechten nur einen graduellen Unterschied zwischen dem „Diktator“ Brüning und Hitler. Beide wurde als Politiker beschrieben, die die Machtpolitik Wilhelms II. fortsetzten. Der Reichskanzler galt als „gefährlicher Nationalist“ an der Spitze des ewigen Deutschlands, das sich aus pangermanischen und revisionistischen Boches zusammensetze, die unaufhörlich Frankreich täuschten und bedrohten. Jede Maßnahme oder Entscheidung Brünings wurde in diese Richtung hin interpretiert, ohne jede Rücksicht auf die Umstände der Krise in Deutschland, die von den französischen Nationalisten offenbar nicht wahrgenommen wurde. Bis 1931 lobte man noch die drakonische Finanz- und Wirtschaftspolitik Brünings, weil man darin eine Garantie für die Reparationszahlungen zu entdecken glaubte, aber diese Sichtweise schlug schon bald in Verleumdungen um: Der Reichskanzler sei nichts anderes als ein Lügner und ein Imperialist. Die wirtschaftliche und die militärische Gefahr, die angeblich von dem Deutschland Brünings ausgingen, griffen auf gewohnte Weise ineinander und lieferten den Nationalisten die nötigen Argumente, um jede Konzession an Deutschland zu verteufeln. Die Entwicklung ihrer Haltung zu Hitler ist besonders bezeichnend. Während man ihn noch 1930 nicht für voll nahm – zu einem Zeitpunkt, als man es noch bedauerte, dass Frankreich es versäumt habe, im Rheinland wieder eine Monarchie einzuführen, die 1919 noch als pazifistische Staatsform gegolten hatte9 – identifizierte man nach den Reichstagswahlen im September 1930 zwei Pole der deutschen Gefahr: Hitler und die „Brüning-Diktatur“. Ab 1931 entwickelten sich dann zwei Strömungen innerhalb der extremen Rechten. Auf der einen Seite hielt man Brüning und Hindenburg für gefährlicher als Hitler, auf der anderen Seite blickte man beunruhigt auf den wachsenden nationalsozialistischen Einfluss.10 Im Verlauf des Jahres 1932 gewann die zweite Sichtweise an Zustimmung. Seit dem Treffen in Bad Harzburg fürchtete man nun eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten. Noch zum Zeitpunkt des Sturzes der Regierung Brüning versperr7 8 9 10

Vgl. Hörling: Opinion française, S. 592. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 594. Vgl. hierzu ebd., S. 595f.

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te die Angst vor einer Rückkehr der Hohenzollern und der ewigen militärischen Gefährdung durch Deutschland den klaren Blick auf die nationalsozialistische Ideologie und die politischen Ziele des katholischen Zentrums. Der Katholizismus war schließlich das Thema, das mehr oder minder alle politischen Gruppierungen der französischen Gesellschaft vereinte – mit Ausnahme der Kommunisten, die von Moskau zu einem scharfen Antiklerikalismus angehalten wurden. Während die Anhänger unterschiedlicher politischer Parteien und Ideologien die meiste Zeit von den Deutschlandbildern und Erinnerungen an die deutsch-französische Geschichte profitierten, um eine Grundlage für ihre Ideologie und ihre politischen Ideen im Umgang mit Deutschland zu entwickeln, schuf der Katholizismus Brünings ausnahmslos positive Bilder. Er machte aus dem Reichskanzler einen „guten Deutschen“ und/oder einen außer- und ungewöhnlichen Deutschen. Natürlich verhinderte der Katholizismus Brünings nicht, dass man ihn kritisierte oder an ihm zweifelte, aber er animierte eine Mehrheit der Franzosen, ob sie nun Christen oder Atheisten waren, sich besonders für Brünings Denken, seinen „Esprit“ und seine moralischen und spirituellen Werte zu interessieren. Das traf sowohl auf die Radicaux als auch auf die Mehrheit der Sozialisten wie auch auf die Rechten und darunter – wenn auch seltener – einige Nationalisten zu. Sogar ein Teil der Antiklerikalen in Frankreich war noch 25 Jahre nach dem Triumph des Laizismus so sehr von der jüdisch-christlichen Kultur geprägt, dass sie sich der Faszination des Brüningschen Katholizismus nicht ganz entziehen konnten. Zudem war eine Zeit der Befriedung zwischen Kirche und Staat in Frankreich eingekehrt. Bei einem Teil der Rechten gaben die katholischen Werte und die Verurteilung der Action Française durch den Papst im Jahr 1926 sogar den Ausschlag, gegenüber Deutschland nachsichtiger aufzutreten. So ist es beispielsweise zu erklären, warum eine so konservative Zeitung wie La Croix die Politik Brünings während seiner gesamten Regierungszeit mit Aufmerksamkeit und Verständnis begleitete. Die geteilten christlichen Werte erlaubten es den Chrétiens démocrates sogar, sich mehr mit Brüning als mit Stresemann zu identifizieren, auch wenn sie gegenüber Deutschland insgesamt wachsam blieben. Die politischen Ideologien – und nicht die religiösen Überzeugungen – spielten dennoch die ausschlaggebende Rolle in den Urteilen über Brüning. Während die Sozialisten und die Radicaux aufgrund ihres Pazifismus die Politik Briands unterstützten, provozierten die nationalen oder nationalistischen Gefühle der Konservativen einen Reflex nationaler Verteidigung und Misstrauens gegenüber Deutschland und Brüning. So kam es zu ihrem paradoxen Vorgehen, die Außenpolitik Brüning abzulehnen, weil sie analog zu ihrer eigenen für die Verteidigung der eigenen Landesinteressen stand. Auf der anderen Seite bekämpften sie die Sozialisten in Frankreich vor allem wegen ihrer Ansichten in der Sicherheits- und Abrüstungsfrage und lobten gleichzeitig die deutschen Sozialisten für ihren Republikanismus, ihren Pazifismus und ihre stabilisierende Wirkung auf die deutsche Demokratie – weil dies die militärische Gefahr, die in ihren Augen von Deutschland ausging, verminderte. Gleichzeitig verteidigten die konservativen Rechten aber die Brüningsche Innenpolitik, vor allem seine Wirtschafts- und Fi-

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nanzpolitik. Die Sozialisten zeigten sich hier kohärenter, denn sie vertraten innerhalb und außerhalb ihres Landes die gleichen politischen Grundsätze: So unterstützten sie die SPD und lehnten sich sehr häufig in ihrer Meinung an die Entwicklung der sozialdemokratischen Politik gegenüber Brüning an. Auch die Kommunisten identifizierten sich eindeutig mit ihren deutschen Parteifreunden. In der politischen Mitte Frankreichs waren viele ideologische Überlegungen von rechts und links miteinander verknüpft, was eine Meinungsvielfalt und eine gewisse Ambivalenz ihrer Urteile über Deutschland zur Folge hatte. In dieser Studie kamen große Unterschiede in der Interpretation der Brüning’schen Politik zutage, je nachdem ob die Betrachter sich links, rechts oder in der Mitte des politischen Spektrums befanden. Ein wichtiger Grund für diese Unterschiede ist, dass die Sozialisten in dem Wirtschaftskrise und im sozialen Elend in Deutschland die Hauptursache für die Schwierigkeiten der Regierung Brüning und den fortschreitenden Aufstieg des Nationalsozialismus sahen, während die Konservativen und Nationalisten Brüning und Hitler zunächst auf der Basis eines deutschen „Nationalcharakters“ und als Folge eines „natürlichen“ – also den Deutschen innewohnenden – Wiederauflebens des Nationalismus in Deutschland bewerteten. Über die Wirtschaftskrise wurde bei den Nationalisten sogar überhaupt nicht gesprochen. In der politischen Mitte, also bei den Radicaux und einem Teil der gemäßigten Rechten, argumentierte man sowohl mit der Wirtschaftskrise als auch mit dem Wiederaufleben des Nationalismus und mit dem deutschen Charakter, um die politische Entwicklung der Weimarer Republik zu bewerten und zu verstehen. 3. Die aktuelle öffentliche Meinung Bei der Betrachtung des Systems der Vorstellungswelt im Zustand des Augenblicks steht zunächst die Entwicklung des Interesses an Deutschland der verschiedenen politischen Gruppierungen in Frankreich im Vordergrund, die schon anhand einer quantitativen Analyse der Presseartikel abgelesen werden kann. Dafür stützen sich die folgenden Passagen auf die vorliegende Studie und auf die Arbeiten Hans Hörlings.11 Das Jahr 1931 brachte hinsichtlich Deutschlands einen Wendepunkt in der französischen Vorstellungswelt – sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten, obgleich dieses Jahr nicht die gleiche Bedeutung für die verschiedenen politischen Gruppierungen hatte. Von 1930 bis 1931 stieg das Interesse, das die Anhänger der extremen Rechten Deutschland entgegenbrachten, um 15,5 Prozent. Auch bei den Konservativen stieg die monatliche Anzahl von Artikeln über Deutschland um 31 Prozent. Bei den Gemäßigten gab es sogar eine Verdoppelung der monatlichen Artikel um 51,96 Prozent. Im Jahr 1932 stieg das Interesse der französischen Rechten insgesamt für Deutschland weiter gleichmä-

11 Hörling: Opinion française (I).

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ßig an, aber deutlich langsamer als 1931. Bei den Linken entwickelte sich das Interesse an Deutschland in die entgegengesetzte Richtung. Während die Anzahl der Artikel über Deutschland bei den Radicaux im Jahr 1931 stagnierte, ging die Menge der Artikel bei den Sozialisten um 29 Prozent zurück und erlebte einen regelrechten Sturz um 75 Prozent in den kommunistischen Blättern. Die vorübergehende Rückkehr des Vertrauens in Brüning bei den Radicaux und bei den Sozialisten nach den Septemberwahlen mag ein Faktor sein, mit dem diese Entwicklung zu erklären ist. Hinzu kam sicherlich auch die innerparteiliche Krise der SFIO und die wahltechnischen Misserfolge der Sozialisten, die das Interesse der Journalisten auf sich zogen. Die Kommunisten wiederum widmeten sich mehr und mehr der Sowjetunion, während sich die Trotzkisten und kommunistischen Intellektuellen mehr den Positionen des linken Flügels der SFIO zuwandten. 1932 änderte sich diese Situation schlagartig, weil nicht nur das Interesse der Radicaux an Heinrich Brüning und Deutschland wieder deutlich zunahm. Bei den Sozialisten stieg die Anzahl der monatlichen Artikel zu Deutschland um 66,2 Prozent und vervierfachte sich sogar bei den Kommunisten (413 Prozent). Die Rückkehr tiefer Beunruhigung angesichts des Nationalsozialismus und die wachsende Kritik an der französischen Deutschlandpolitik standen am Anfang dieser neuen Entwicklung. Die Kommunisten sahen zudem zum Zeitpunkt der Reichspräsidentenwahlen in Deutschland ihre Stunde der Revolution gekommen und engagierten sich mit noch größerem Eifer für den Kampf gegen den „Faschimus“. Allerdings kann man diese entgegengesetzte Entwicklung bei den Linken und Rechten nicht vollkommen verstehen, ohne zu berücksichtigen, welchen Platz Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen in der französischen Presse einnahm. Hier liefert Hörlings Studie zum Beginn der 1930er Jahre die nötigen Erklärungen. In den Zeitungen der extremen Rechten dominierte Deutschland seit 1930 in den Rubriken zur Außenpolitik. Die Action Française beispielsweise widmete sich fast ausschließlich den Fragen zu Deutschland: Bis zu zwei Drittel der Artikel, Kommentare und Reportagen zum Ausland bezogen sich auf Deutschland.12 Beim Echo de Paris verhielt es sich genauso. Vor den Reichtagswahlen im September 1930 stand das Thema der vorzeitigen Rheinlandräumung bei beiden Zeitungen im Vordergrund. Nach dem 14. September wurde die Rheinlandfrage durch die Themen Hitler und der Nationalsozialismus abgelöst.13 Bei den Gemäßigten und bei den Radicaux behandelten 50 Prozent der Informationen aus dem Ausland Themen im Zusammenhang mit Deutschland, und in 30−40 Prozent dieser Artikel wurde die Frage der französischen Sicherheit mitbehandelt.14 Das Interesse an Brüning und der Weimarer Republik war also zu allererst politischer Natur – sogar innenpolitische Themen aus Deutschland wurden in dem Maß behandelt, wie sie einen Einfluss auf die Entwicklung der deutsch-

12 Hörling: Opinion française (I), S. 592. 13 Ebd., S. 593. 14 Ebd., S. 621.

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französischen Beziehungen vermuten ließen. Auch die soziale und die wirtschaftliche Krise in Deutschland wurden unter diesem Gesichtspunkt betrachtet.15 In den der SFIO nahe stehenden Zeitungen waren nur 10 Prozent der Artikel für Themen aus dem Ausland reserviert. Deutschland nahm darin einen Platz im Umfang von ungefähr 25−30 Prozent ein. Die Anzahl der Artikel zu Deutschland stieg – wie bereits erwähnt – ab 1932 deutlich an, bis auf 70 Prozent zum Zeitpunkt der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.16 Die Entwicklung des Interesses der Kommunisten an Deutschland und Brüning ist noch auffälliger. Während sich im Jahr 1930 36 Prozent der Artikel zum Ausland mit der Sowjetunion beschäftigten und nur 13 Prozent mit Deutschland, hatte sich 1932 das Verhältnis ganz stark verändert: Deutschland dominierte nun mit 33 Prozent der Artikel gegenüber 22 Prozent, die der Sowjetunion gewidmet waren. Der wichtige Platz, den Deutschland unter Brüning in den französischen Presserubriken zur internationalen Politik einnahm – kontinuierlich ansteigend bei den Rechten und mit Unterbrechungen bei den Linken –, kann mit der wachsenden Unruhe erklärt werden, in die die „unberechenbaren“ Deutschen die französische Gesellschaft versetzten. Die Strukturen der globalen öffentlichen Meinung und der aktuellen öffentlichen Meinungen griffen dabei ineinander. Aber aktuelle Ereignisse reaktivierten die Vorstellungswelt und bestimmten die Richtung, das Tempo und den Rahmen der Entwicklung der französischen Meinungen. Auf diese Weise tauchten flexible und flüchtige politische Ansichten, spontane Stellungnahmen und vorübergehende Emotionen in Frankreich auf, die sich in den Äußerungen der Journalisten, Parlamentarier, Diplomaten, Wissenschaftler und Intellektuellen widerspiegelten. Man sollte deswegen besser von einem „Prozess“ als von einem „System“ der Vorstellungswelt sprechen, um diese ständige Bewegung und die unaufhörliche Neukonstruktion der Vorstellungswelt zu beschreiben.17 Einige Ereignisse zwischen 1930 und 1932 erschütterten die aktuelle öffentliche Meinung in besonderem Maße. In der französischen Vorstellungswelt kam es infolge der Rheinlandräumung am 30. Juni 1930, der Auflösung des Reichstags am 18. Juli 1930, der Aufmärsche des Stahlhelm, der Begegnungen Hitlers mit Brüning, der deutsch-französischen Gespräche in Paris und Berlin im Sommer 1931, der Wahlen in den Ländern (Hessen im November 1931, Preußen im April 1932

15 Ebd. 16 Ebd., S. 604f. 17 Diese Idee stützt sich auf Leslie White, der zwischen „culture“ und „représentations“ unterscheidet. Robert Frank schreibt über White: „Les termes importants [...] sont ceux de „création“ et de „communication“: une culture est avant tout un mode de production d’échanges, un mode d’accumulation – ce que nous appelons l’acculturation –; elle est donc un „processus“, alors qu’un système de représentations est avant tout le „résultat“ de ce processus à un moment donné, même si ce résultat est l’objet de modifications incessantes“. Vgl. White, Leslie: The concept of cultural systems. New York 1975. Zitiert nach und kommentiert von Frank: Les relations internationales, objet d’histoire. Die Vorstellung eines „Prozesses“ kann man auch auf das Konzept der Vorstellungswelt in dieser Studie anwenden.

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etc.), der Versammlung in Bad Harzburg am 11. Oktober 1931 und anderer Ereignisse zu emotional aufgeladenen Reaktionen. Es gab aber auch Ereignisse, die regelrechte Umstürze in der Vorstellungswelt verursachten und nicht nur vorübergehende und punktuelle Aufregungen. Sie provozierten sogar einen Richtungswechsel der gesamten französischen Vorstellungswelt zu Deutschland. Diese Wendepunkte waren die Reichstagswahlen vom 14. September 1930, die Ankündigung des deutsch-österreichischen Vorhabens einer Zollunion im Frühjahr 1931 und das Interview, das Heinrich Brüning am 9. Januar 1932 dem Journalisten Edgar Stern-Rubarth von Wolffs Telegrafen-Büro gab. In diesem Interview bekräftigte Brüning noch einmal seine Forderung nach dem Ende der Reparationszahlungen. Das Gesuch der deutschen Regierung um militärische Gleichberechtigung im Rahmen der Konferenz in Genf, das weitaus schärfer formuliert war als in der Regierungserklärung vom 13. Oktober 1931, bestätigte diesen Richtungswechsel in der französischen Vorstellungswelt. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen im Frühling 1932 war zu ambivalent, um eine so nachhaltige Wirkung auf die französische Vorstellungswelt auszuüben wie diese drei Ereignisse. Deswegen soll hier nun untersucht werden, warum diese drei Ereignisse die französische Vorstellungswelt so entscheidend beeinflussen konnten und welche Bedeutung sie für die Entwicklung der Meinungen der Linken und Rechten hatten. Die Reichstagswahlen von 1930, die deutsch-österreichische Zollunion und die Ankündigung des Endes der Reparationszahlungen hatten eine Gemeinsamkeit: In ihnen kumulierten alle Ängste der Franzosen hinsichtlich Deutschlands. Die ererbte Sorge um die französische Sicherheit, die Furcht vor der Schwächung des eigenen Landes durch eine potentielle Macht und die damit verbundene Reduzierung der eigenen Bedeutung im internationalen Gefüge trafen, ausgelöst durch diese drei Ereignisse, so intensiv aufeinander, dass die französischen Deutschlandbilder wieder an Kraft gewannen und rationale Überlegungen verdrängten. Je nach ideologischer Ausrichtung der französischen Akteure fielen die Reaktionen auf diese Ereignisse unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie den ideologischen Überzeugungen ent- oder widersprachen – so dass alte Standpunkte in Frage gestellt werden mussten. Die Positionen der extremen Linken und der extremen Rechten können hier außer Acht gelassen werden, weil diese Gruppen ihren Ansichten während der gesamten Regierungszeit Brünings treu blieben. Die Sozialisten führten den unglaublichen Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 ausschließlich auf die Folgen der Wirtschaftskrise und der sozialen Misere in Deutschland zurück, während die konservativen Rechten in der vorgezogenen Räumung des Rheinlandes, also in der Politik Briands, die Ursache für die Rückkehr des deutschen „Nationalismus“ sahen. Die politische Mitte – die Radicaux und ein Teil der Gemäßigten – versuchte die politische Situation in Deutschland differenzierter zu erklären. Sämtliche Parteien in Frankreich teilten aber das plötzliche Wiederaufflammen der französischen Angst vor Deutschland – die sich bei den Sozialisten in dem Willen äußerte, Heinrich Brüning zu unterstützen, um die Weimarer Republik zu stabilisieren und die erwartete Gefahr, die von Deutschland ausging, von Frankreich abzuwenden. Bei den konservativen Rechten machte sich erneut ein so tiefes Misstrauen gegenüber der deutschen Regierung breit, dass

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sie jetzt befürchteten, jede Konzession an Heinrich Brüning werde den Extremisten in Deutschland in die Hände spielen. In der politischen Mitte galt Brüning nach dem 14. September 1930 mehr denn je als Stütze der Republik, aber ihre Skepsis gegenüber Deutschland, die sie mit den Rechten teilten, dämpfte ihr Wohlwollen deutlich. Auf diese Weise stellten die deutschen Reichstagswahlen nicht nur die Weichen für die französische Vorstellungswelt, sondern auch für die französische Deutschlandpolitik. Die Ankündigung einer deutsch-österreichischen Zollunion schließlich stellte die Entscheidung der französischen Linken, Brüning zu unterstützen, unvermittelt in Frage. Die ganze Bandbreite negativer Deutschlandbilder, die bis dahin aus ihrem Denken verbannt waren, brach mit Macht in die Überlegungen der Linken ein und stellte ihr Vertrauen in die Regierung Brüning massiv in Frage. Die Aufregung über die Zollunion unter den Linken spiegelte sich in Zeitungen wie L’Ere Nouvelle oder La Vie Socialiste wider, in denen die Zollunion bis in den Sommer 1931 hinein das Hauptthema zu Deutschland war. Dennoch stellte diese tiefe Erschütterung der linken Vorstellungswelt ihre politischen Konzeption hinsichtlich Deutschlands nicht nachhaltig in Frage. Das Jahr 1931 blieb trotzdem eine Phase des politisch links geprägten Wohlwollens, wenngleich das neue Misstrauen seitdem unterschwellig das politische Denken aller linken politischen Parteien begleitete. Der Effekt der drohenden Zollunion war bei der Rechten im Grunde viel verheerender, auch wenn das Vorgehen Brünings und Curtius’ nicht das gleiche emotional geprägte Echo wie in der Vorstellungswelt der Linken hatte. Die Rechten sahen sich „nur“ in ihrer reservierten Deutschlandpolitik bestätigt. Der 9. Januar 1932 war schließlich der letzte große Fixpunkt in der französischen Vorstellungswelt vor dem Sturz der Regierung Brüning. Er versetzte den Sozialisten und dem linken Flügel der Radicaux einen weiteren Schlag, weil sie doch Erleichterungen für Deutschland in der Reparationsfrage wünschten, ohne sich ganz von den Reparationen verabschieden zu wollen. Sie verfolgten die Forderungen Brünings nicht ohne Verständnis, lehnten aber dessen Art ab, seine Forderungen zu präsentieren, weil dies nach ihrer Meinung die deutschlandpolitischen Konzeptionen der nationalistischen Rechten in Frankreich bediente. Die Unterstützung Brünings durch die französischen Linken war 1932 durch tiefe Enttäuschungen geprägt, die sich auch darin äußerte, dass man Brüning künftig nur noch als das „kleinere Übel“ bezeichnete. Für die Rechten bedeutete das Interview Brünings den definitiven Bruch mit dem Geist deutschfranzösischer Zusammenarbeit, der auch mit dem Rückzug Briands aus der Politik zusammenfiel. Der Gegensatz zwischen Linken und Rechten war zu diesem Zeitpunkt unüberwindlich, wie die ambivalente Haltung der politischen Mitte anschaulich belegt. Man kann nun auch den quantitativen Unterschied in der linken und rechten Presse-Berichterstattung über Brüning verstehen. Diese drei Daten, die zu Wendepunkten in der französischen Vorstellungswelt führten, zeigen ein weiteres Mal, dass aktuelle politische Ereignisse auf der Grundlage der vorhandenen Vorstellungswelt interpretiert und eingeordnet wurden. Dieser Reflex, auf bekannte Referenzen zurückzugreifen, zeigte sich auch in der Art, wie politische Umstände von langer Dauer beurteilt wurden, wie etwa die Wirtschaftskrise in Deutschland, die bald zu einem weiteren festen Baustein in der

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französischen Vorstellungswelt gehörte. Die wirtschaftlichen Probleme wie auch die wirtschaftspolitischen Interessen und das politisch-kulturelle Deutschlandbild gingen eine neue Verbindung in der französischen Meinungs- und Vorstellungswelt ein: Das Bild der sozialen Zweiseitigkeit Deutschlands tauchte auf, das zwischen 1930 und 1932 die Grundlage der französischen Urteile über die Wirtschafts- und Sozialpolitik Brünings bildete.18 Eine andere Neukombination verschiedener Elemente der Vorstellungswelt entstand im Zusammenhang mit Brünings Katholizismus. Jene Franzosen, die gläubige Christen waren oder der christlichen Kultur zumindest nahe standen, sahen in der Politik und in der Person Heinrich Brünings eine Fortsetzung des „guten Deutschlands“. Das Bild des katholischen Reichskanzlers als „guter Deutscher“ manifestierte sich zum Beispiel in den Urteilen der Journalisten von La Croix oder der Abgeordneten des PDP. Ohne Zweifel spielte im Entstehungsprozess neuer Bilder die Attraktivität von Ideen und Ereignissen eine Rolle, mit denen sich die Franzosen leichter identifizieren konnten. Vor dem Hintergrund einer von französischer Seite misstrauisch beäugten preußisch und protestantisch geprägten deutschen Gesellschaft konnte Brünings Katholizismus nur für den Reichskanzler sprechen. Um dieses positive Brüning-Bild als Beweis der moralischen Integrität des Kanzler zu entkräften, bedurfte es sogar eines Rückgriffs auf das Neue Testament. André François-Poncet stützte sich auf eine symbolträchtige biblische Geschichte und brach damit aus der etablierten französischen Vorstellungswelt aus: Er zeigte anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, dass der Glaube Brünings keine Garantie für dessen Kampf gegen den Nationalsozialismus sei. Trotz allem blieb Brünings Katholizismus das einzige Thema, bei dem es zu vielen Übereinstimmungen zwischen Linken und Rechten kam. Fiktion und Fakten spielten eine gleich wichtige Rolle in den Urteilen über Heinrich Brüning, so dass die Vorstellungswelt der Franzosen keineswegs als Unsinn abgetan werden kann. Die Beschäftigung mit der aktuellen öffentlichen Meinung zeigt, dass der Reichskanzler eine Vielzahl französischer Ängste vor Deutschland wiederbelebte. Die französischen Deutschlandbilder waren deshalb nicht nur Bestandteil rhetorischer Spiele, sondern Teil der festen Überzeugungen vieler Franzosen. Die Zeitpunkte des Auftauchens dieser Bilder im französischen Diskurs Anfang der 1930er Jahre zeigen anschaulich die enge Verknüpfung mit der Furcht der Franzosen vor einer Marginalisierung auf dem internationalen Parkett. Immer häufiger nahmen sie, statt nüchtern abzuwägen und zu entscheiden, eine Position des „Angriffs“ oder der „Verteidigung“ ein. Im folgenden Abschnitt werde ich diesen Prozess näher beleuchten.

18 Vgl. hierzu Kapitel 1.3.2. Man sollte nun nachprüfen, ob es dieses Bild der „deux Allemagnes sociales“ schon vor der Regierungszeit Brünings gab oder ob es zum ersten Mal um 1929/1930 auftauchte. Die Autorin behauptet, dass bestimmte Elemente dieses Bildes in der gesamten Zwischenkriegszeit zu finden waren, dass aber das Bild der sozialen Zweiseitigkeit Deutschlands erst mit Beginn der Wirtschaftskrise fest in der französischen Vorstellungswelt verankert war oder als berechtigt galt.

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Die Analyse der aktuellen öffentlichen Meinung erlaubt es schließlich auch, auf die Fragen zu antworten, die ich im Abschnitt 1.3 zur Wirtschaft, Demokratie und zur internationalen Politik behandelt habe. Hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Not in Deutschland brachten die Franzosen zwar ihr Mitgefühl zum Ausdruck, zu keinem Zeitpunkt aber dominierte dieses Mitleid im französischen Diskurs oder war ein entscheidender Faktor im politischen Entscheidungsprozess. Sogar die Linken fürchteten die Not in Deutschland vor allem als Nährboden für politischen Extremismus. Ihnen entging völlig die Sinnhaftigkeit der drakonischen Maßnahmen Brünings, welche die Rechten als Garantie für die Reparationszahlungen feierten. Nie kam es zu einem tieferen Verständnis der deutschen Wirtschaftskrise und der Probleme, mit denen Brüning zu kämpfen hatte. Die Taktik Brünings, wie er den Alliierten eine Mitverantwortung für die Schwierigkeiten seines Landes gab, und seine undurchsichtige Reparationspolitik trugen allerdings erheblich zu dem französischen Missverständnis der deutschen Lage bei. Der Unterschied zwischen seinem politischen Vorgehen und dem Stresemanns war so groß, dass eine Rückkehr feindlicher Deutschlandbilder auf die Bühne der französischen Politik fast vorprogrammiert war. Brünings gute Absichten spielten in diesem Kontext nur noch eine untergeordnete Rolle, weil sie für die französische Gesellschaft unsichtbar blieben. Die französische Bereitschaft zu einer realistischeren Deutschlandpolitik im Jahr 1932 äußerte sich deshalb nur widerwillig. Was die Frage nach der Stabilität der Weimarer Republik betraf, erkannten erstaunlich viele französische Beobachter die Probleme und die Ursachen für das unvollendete Stadium der deutschen Demokratie. Allerdings gelang es den Repräsentanten der französischen Gesellschaft nicht, den ideologischen Hintergrund des Nationalsozialismus zu erkennen. Die Franzosen sahen hier durch die Brille eines Landes, das die eigenen Krisen der Demokratie erfolgreich bewältigt hatte. Gleichzeitig verzerrte die Erinnerung an die Machtpolitik Wilhelms II. ihren Blick auf Adolf Hitler. Noch im Jahr 1930 verhinderte das Gefühl, von der Wirtschaftskrise verschont worden zu sein, die Etablierung von Bezugspunkten, die es den Franzosen erlaubt hätten, einen Vergleich mit der Lage in Deutschland anzustellen. Stattdessen stellten die Franzosen irreführenden Analogien zwischen Hitler und Mussolini her. Der definitive Beginn der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Krise in Frankreich führte schließlich dazu, dass sich die Franzosen vor allem mit den Problemen in ihrem eigenen Land beschäftigten und ihre Aufmerksamkeit hinsichtlich der Gefahr des deutschen Nationalsozialismus nachließ. Die Vergleiche, die zwischen der SA und den Schlägertrupps der extremen Rechten in Frankreich oder zwischen der politischen Situation unter Brüning und unter Tardieu gezogen wurden, zeigen das Ausmaß der irreführenden Gleichsetzungen im französischen Diskurs. Noch häufiger zogen die Franzosen aber Vergleiche mit Ereignissen aus der Vergangenheit, um die deutsche Frage zu beleuchten, was ein weiteres Mal zeigt, wie sehr die Komplexität der Probleme in Deutschland das Nachbarland überforderte. Mit seinem außenpolitischen Stil provozierte Brüning schließlich die Rückkehr überholt geglaubter deutsch-französischer Gegensätze, weil es dem Reichskanzler nicht gelang, das Vertrauen und die Hoffnungen auszubauen, die die Franzosen

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Der Einfluss der kollektiven Vorstellungswelt auf die französische Politik

nach Locarno in die deutsch-französische Annäherung gesetzt hatten. Brünings Katholizismus fungierte in diesem Zusammenhang zwar als Hoffnungsschimmer, war aber als Faktor nicht stark genug, um ein Gegenwicht zu den wiedergekehrten Ängsten vor Deutschland zu bilden.

II INSTRUMENTALISIERUNG ODER VERINNERLICHUNG DER DEUTSCHLANDBILDER IN DER FRANZÖSISCHEN POLITIK? 1. Ein enges Geflecht: Das Schema der französischen Wahrnehmung und die Politiker Im ersten Teil diese Arbeit wurde die Vorstellungswelt als „anderer politischer Ort“ beschrieben. Die Auswertung der vier ausgewählten Quellenkategorien zeigt deutlich, dass die französischen Politiker nicht nur dieselbe Denk- und Wahrnehmungsstruktur mit den Informationsträgern1 über Deutschland teilten, sondern auch, dass sich die Vorstellungswelt und die französische Deutschlandpolitik gegenseitig bedingten. Die Presse und die politisch-kulturellen Publikationen aus dieser Zeit haben ihre gesellschaftliche Vermittlerrolle „von oben nach unten“ und „von unten nach oben“ zwischen Volk und Politik erfüllt. Selbst die Deutschlandwahrnehmung beispielsweise der Diplomaten, die Teil einer gesellschaftlichen Elite waren, unterschied sich nicht von der allgemeinen französischen Perzeption Deutschlands. So findet auch die These ihre Bestätigung, wonach die französischen Regierenden Anfang der 1930er Jahre einen „Verknüpfungsort“ in der Vorstellungswelt zwischen den verschiedenen aus ihren individuellen Laufbahnen, der politischen Umwelt, der Partei und der kollektiven Vorstellungswelt der gesamten französischen Gesellschaft bedingten Einflüssen darstellten. Die enge Verknüpfung von Bildern und politischen Überlegungen war also nie ein Ausdruck fehlgeleiteter Reaktionen von schlecht informierten Journalisten und Intellektuellen auf die Lage in Deutschland, sondern die Grundlage der französischen Haltungen gegenüber Deutschland und Brüning, wie zum Beispiel der Vergleich der Deutschlandwahrnehmungen von französischen Akteuren belegt, die Deutschland selbst bereist hatten und anderen, die Deutschland nur vom Hörensagen kannten. Der persönliche Kontakt mit Deutschland konnte zwar differenzierte Urteile nach sich ziehen, war aber keineswegs eine Garantie dafür. Die ursprüngliche Haltung zu Deutschland, die durch den individuellen Ausdruck der kollektiven Vorstellungswelt bedingt war, wog deutlich schwerer in diesem Prozess. Ein kurzer Deutschlandbesuch, eine Reise oder sogar ein längerer Aufenthalt in Deutschland stellten diese ursprünglicher Haltung zu Deutschland nicht notwendigerweise in Frage – Änderungen der kollektiven oder persönlichen Vorstellungswelt hängen von einem langen und oft nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess ab. Die Vorstellungswelt blieb also immer ein fester Bestandteil in den französischen Beziehungen zu Heinrich Brüning. Die Politiker gaben sich nicht damit zufrieden, Meinungen aus der kollektiven Vorstellungswelt zu teilen und zu reproduzieren, sondern sie nahmen selbst an der

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Journalisten, Reporter, Autoren von Reiseberichten, Diplomaten, Kulturvermittler etc.

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Meinungsbildung teil, indem sie beispielsweise die Sitzungsprotokolle aus dem Senat oder der Chambre des Députés im Journal Officiel veröffentlichten. Zahlreiche Politiker hatten sogar mehrere Ämter nicht nur in der Politik, sondern auch in der Presse, Kultur, Diplomatie oder sogar im Bildungswesen inne. André François-Poncet beispielsweise gehörte zu den Akteuren, die gleichzeitig in der Politik und in der Diplomatie tätig waren: So war es ihm auch möglich, in den Jahren der Brüning-Regierung die Rolle eines einflussreichen Vermittlers zwischen Pierre Laval, Aristide Briand und André Tardieu einzunehmen. François-Poncet hatte seine Laufbahn als Diplomat, Journalist und Dozent begonnen, bevor er Anfang der 1930er Jahre in die Politik überwechselte, aber gleichzeitig noch als Journalist weiterarbeitete. Auch hinter den Kulissen der großen Politik gab es zahlreiche Personen, wie der schon eingehend beschriebene Alexis Léger, die zwei Berufe ausübten. Häufig zeigte sich das fruchtbare Zusammenspiel von Politik und Vorstellungswelt in der engen Zusammenarbeit von Parteien und politisch-kulturellen Organisationen. Der PDP zum Beispiel war eine regelrechte Begegnungsstätte für ein politisch-kulturelles Milieu, das Politik und sozialen Katholizismus miteinander verband. Das Engagement der PDP-Mitglieder in Institutionen wie dem SIPDIC und ihre Bereitschaft, die deutsch-französische Aussöhnung voranzutreiben, spiegelt eine positive Haltung gegenüber Deutschland wider, die sich auch in ihren Urteilen über Heinrich Brüning niederschlug. Bernard Lavergne, Gabriel Roger, Max Hermat oder Charles Maurras engagierten sich als Autoren und politische Akteure. Gleiches gilt für den ehemaligen Dozenten für Germanistik an der Universität von Nancy und sozialistischen Aktivisten Victor Basch, den sozialistischen Abgeordneten Salomon Grumbach und den Radikal-Sozialisten Pierre Cot, die die Ligue des Droits de l’Homme neben der Politik als Betätigungsfeld nutzten. Salomon Grumbach schrieb darüber hinaus auch für die Presse. Diese enge Verbindung von Politik und Journalismus kennzeichnete sowohl die links als auch die rechts orientierten Politiker. Bertrand Nogaro, Edouard Herriot, François Albert, Paul Painlevé, André Philip, Salomon Grumbach, Georges Boris, Léon Blum, Auguste Blanc, Marcel Déat, Louis Perceau, Paul Perrin, Louis Lévy oder Pierre Renaudel arbeiteten als Politiker wie auch als Journalisten. Lucien Romier, Henry Franklin-Bouillon, Jules Auguste Sauerwein, Ernest Pezet, André Tardieu, Charles Maurras oder Léon Daudet übten die dieselbe Doppelrolle auf der rechten Seite des Parteienspektrums aus. Die enge Verzahnung zwischen Pierre Lavals Aktivitäten in Politik und Presse sind bekannt. So fanden die unterschiedlichen im Parlament geäußerten Meinungen regelmäßig ihren Weg in die Zeitung und umgekehrt. Hin und wieder wurde der positive oder negative Ton in der journalistischen Betrachtung Heinrich Brünings von einem einzigen in doppelter Mission tätigen Politiker dominiert. Das gilt zum Beispiel für Lumière, in der Salomon Grumbach 47 der 72 Artikel über Deutschland von April 1930 bis Mai 1932 verfasste. Der zweitwichtigste Deutschland-Reporter dieser Zeitung, Georges Boris, schrieb gerade einmal zehn Artikel. In den nationalistischen Zeitungen wie der Action Française schrieben Charles Maurras und Léon Daudet fast täglich im Wechsel

II Instrumentalisierung oder Verinnerlichung der Deutschlandbilder?

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über die deutsche Frage. In Politik und Journalismus sprach man so mit einer Stimme. Darüber hinaus gab es eine unbestimmte Anzahl von Aktivisten der unterschiedlichen Parteiflügel, die sowohl politisch als auch gesellschaftlich tätig waren und für verschiedene rechte oder linke Blätter schrieben. In der politischen Mitte gab es sogar Autoren wie René Lauret, die gleichzeitig für die Zeitungen der Gemäßigten und der Radicaux schrieben. So erklärt sich auch, warum innerhalb einer Zeitungsredaktion unterschiedliche Meinungen und Standpunkte von den Journalisten vertreten werden konnten. Durch diesen Kontrast zur politischen Linie der jeweiligen Zeitung kann man die spezifischen individuellen Vorstellungswelten und die große Vielfalt unterschiedlicher Standpunkte in der politischen Landschaft nachempfinden. Trotzdem ist eine sorgfältige Analyse notwendig, wie die jeweiligen Akteure zu ihren Urteilen über Heinrich Brüning und Deutschland kamen. Das Beispiel Léon Blums und Oreste Rosenfelds vom Populaire ist hier besonders aussagekräftig. Während Léon Blum als zentrale Figur des französischen Sozialismus gegenüber Deutschland und Brüning kompromissbereit blieb, schlug Oreste Rosenfeld, der zweifellos durch seine politischen Erlebnisse in Russland geprägt war, einen schärferen und unversöhnlicheren Ton an. Auch gab es Journalisten wie Lucien Laurat, der sowohl für Révolte, ein extrem links orientiertes sozialistisches Blatt, und für Monde, eine kommunistische Zeitung, schrieb – seine persönlichen Ansichten stimmten dabei weder genau mit der politischen Linie der einen noch der anderen Zeitung überein. Laurats Beispiel zeigt, wie nahe sich die Kommunisten und der linke Flügel der Sozialisten standen, so wie bei den Journalisten von Vie Socialiste zu erkennen ist, wie ähnlich die Urteile über Brüning von Seiten des rechten Flügels der SFIO und der Radicaux-Socialistes ausfielen. Auch ist die Diskrepanz zwischen dem Pessimismus von Henry de Korab und dem Optimismus von Jules Sauerwein – beide waren Journalisten beim Matin – zu erklären; die deutsch-polnischen Schwierigkeiten spielten zweifellos bei dem aus Polen stammenden Henry de Korab die entscheidende Rolle. Die enge Verknüpfung zwischen der allgemeinen Vorstellungswelt der französischen Gesellschaft und den Ansichten der Politiker ist offensichtlich – was aber bedeutete diese enge Verbindung für die französische Deutschlandpolitik? 2. Bilder als Legitimation für die Ausrichtung der unterschiedlichen französischen Deutschlandpolitik Um den Einfluss der allgemeinen Vorstellungswelt auf den außenpolitischen Entscheidungsprozess nachzuweisen, habe ich in dieser Studie die verschiedenen Ebenen des theoretischen Vorstellungswelt-Modells untersucht. So ist es deutlich leichter, die Verbindungen zwischen der Politik und den stabilen Strukturen von mittlerer bis langer Dauer aufzuzeigen, vor allem was den Einfluss politischer Ideologien oder religiöser Überzeugungen betrifft. Hinsichtlich der sehr stabilen Strukturen von sehr langer Dauer (Deutschlandbilder, geopolitische Perzeptionen etc.) und der aktuellen öffentlichen Meinung (flexible und flüchtige Ansichten) ist

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es schon erheblich schwerer, ihren Einfluss auf politische Entscheidungen zu gewichten. Elemente aus beiden Ebenen tauchen zwar im politischen Diskurs auf, aber welche dieser Elemente waren entscheidend? Hierfür wurde auch das Wahlverhalten im Parlament untersucht: Die Verteilung der Stimmen und die Reaktionen im Parlament (wie Applaus oder Buh-Rufe) lassen vermuten, welche Reden Eindruck auf die Abgeordneten machten. Allerdings war es nicht möglich, den Einfluss eines bestimmten Bildes auf das Wahlverhalten auszumachen. Die diplomatischen Archive, deren Mängel schon erläutertert wurden, haben auch keine weiterführenden Aspekte geliefert. Aus diesem Grunde wurde auch versucht herauszufinden, ob bestimmte spontane Reaktionen (z. B. nach der Ankündigung der deutsch-österreichischen Zollunion) zuerst in der Presse, im diplomatischen Schriftverkehr, im Parlament, oder im Quai d’Orsay auftauchten. Auf diese Weise sollte der Weg verschiedener Meinungen durch die französische Gesellschaft nachgezeichnet werden – so wurden Beispiele von Politikern gefunden, die sich zuerst in der Presse und dann im Parlament äußerten, aber auch umgekehrt. Aber auch diese Analysen sind nur sehr eingeschränkt aussagekräftig, weil sich die parlamentarischen Sitzungen nach einem festen Sitzungskalender richteten und der Schriftverkehr zwischen dem diplomatischen Corps und dem Quai d’Orsay nur unvollständig überliefert ist, was beispielsweise einen Vergleich der Daten ad absurdum führt. Auch die Konsultationen der persönlichen Archive verschiedener Politiker haben keine Rekonstruktion des politischen Entscheidungsprozesses erlaubt – so fehlten persönliche Schriftstücke oder Notizen der Politiker, die dies erlaubt hätten. Dennoch gibt es noch einige weitere Recherche-Möglichkeiten, die im Rahmen dieser Studie nicht wahrgenommen wurden. Die Analyse der verschiedenen Quellen hat das zu Beginn der Studie gestellte Problem nicht gelöst – nämlich den direkten Einfluss von separaten Elementen der kollektiven Vorstellungswelt auf eine konkrete und präzise politische Entscheidung nachzuweisen. Stattdessen konnte der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Vorstellungswelt und verschiedenen Konzeptionen in der französischen Deutschlandpolitik deutlich gemacht werden. So konnte das intellektuelle und politische Klima nachgezeichnet werden, in dem bestimmte Entscheidungen gegenüber Deutschland getroffen wurden, und solide Hypothesen zur Entstehung bestimmter Entscheidungen aufgestellt werden. Die Beschäftigung mit den verschieden politischen Diskursen in Frankreich hat gezeigt, dass Anfang der 1930er Jahre jede Partei, jede Fraktion und jeder offizielle Repräsentant der französischen Gesellschaft über ein bestimmtes Deutschlandbild verfügte, das ihm als argumentative Grundlage diente. Da gerade in diesen Jahren die Notwendigkeit bestand, eine kohärente Politik zu betreiben und Anhänger für die jeweilige Politik zu gewinnen, gab es Bedarf nach einer stabilen und unangreifbaren Legitimation der verschiedenen politischen Konzeptionen. Anfang der 1930er Jahre – wie auch von Frano Ilić nachgewiesen in den 1920er

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Jahren2 – war eine Fortsetzung der deutsch-französischen Annäherung nur aufgrund einer positiven Haltung gegenüber Deutschland möglich. Gleichermaßen bedurfte auch eine reservierte oder feindliche Deutschlandpolitik einer misstrauischen oder sogar absolut negativen Haltung gegenüber dem Nachbarland. Die französische Vorstellungswelt in Bezug auf Deutschland erfüllte am besten die Bedingungen für die Kohärenz und die Attraktivität der außenpolitischen Konzeptionen. Die politische Mitte, die sich aus Radicaux und Gemäßigten zusammensetzte, versuchte die politischen Prinzipien der Linken (Garantie der kollektiven Sicherheit durch den Völkerbund und eine Politik der Annäherung; Versuch, die internationale Isolation Frankreichs durch ein System aus verschiedenen politischen Allianzen aufzubrechen) mit den Vorstellungen der Rechten (Schutz der militärischen Überlegenheit Frankreichs und Beibehaltung der militärischen und territorialen Klauseln des Versailler Vertrags; Bekämpfung einer massiven Wiederbewaffnung Deutschlands) zu vereinbaren. Abgesehen von ihrer angeblichen industriellen und demographischen Überlegenheit wurden die Deutschen auch als militärische Bedrohung gefürchtet. Um Großbritannien als Verbündeten zu gewinnen und sich gleichzeitig mit den deutschen Nachbarn abstimmen zu können, setzten sie sich für allgemeine Abrüstung ein, die aber an Bedingungen geknüpft war. So wurden neue Sicherheitsgarantien und Unterstützungszusagen eingefordert, die den Briand-Kellogg-Pakt und die Abmachungen von Locarno ergänzen sollten. Man wollte außerdem dem Völkerbund eine aktivere Rolle verschaffen, um die Ziele der Abrüstung wie auch der nationalen Sicherheit zu gewährleisten – man schätzte dabei die rechtliche Position Frankreichs als genauso wichtig ein wie die Fähigkeiten zur militärischen Verteidigung. Eine solche Politik hing zum einen von dem pazifistischen und demokratischen Engagement der Deutschen auf der einen Seite und einem größeren Einsatz der Briten im Völkerbund ab.3 Um ihre politische Position zu untermauern, stützten sich die Radicaux, Chrétiens démocrates und die Flügel der Alliance Démocratique, die Anfang der 1930er Jahre dem Pragmatismus Poincarés folgten, auf eine spezifische Deutschlandwahrnehmung, deren Grundprinzipien hier dargestellt werden sollen. Bei den Radicaux mussten jene, die Heinrich Brüning unterstützen wollten, mit anderen versöhnt werden, die den Deutschen mit großer Skepsis begegneten. Das war umso wichtiger, als zahlreiche politische Ereignisse rund um Deutschland (wie etwa die Reichstagswahlen im September 1930, die deutsche Haltung in der Abrüstungs- und Reparationsfrage, die Zollunion, der Bau von Panzerkreuzern etc.) von einer Mehrheit der Franzosen nicht verstanden wurden und somit eine wohlwollende Deutschlandpolitik – auch dann wenn sie mit viel gutem Willen verbunden war – gefährdeten. Das Bild eines doppelten Deutschlands kamen ihnen hier zu Hilfe, weil es ihnen erlaubte, die gute Seite der Deutschen zu unterstreichen, ohne ihre Fehler zu unterschlagen und somit Anhänger für ihre poli2 3

Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland. Vgl. hierzu Hörling: Opinion française (I), S. 620f.

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tischen Vorstellungen zu gewinnen. Mit der Zeit fokussierte sich ihre Deutschlandwahrnehmung auf das Bild einiger Ausnahmedeutscher in einem ansonsten suspekten Land – das Bild eines doppelten Deutschlands blieb aber als Ausdruck einer politischen Hoffnung weiter ihr ständiger Begleiter. Bis zum Sturz Brünings griffen die Radicaux immer wieder auf dieses Bild zurück. Auch als man in der linken Mitte über den außenpolitischen Entscheidungsprozess nachzudenken begann, wurden die grundlegenden Deutschlandbilder nicht in Frage gestellt. Bei den Démocrates sah die Situation anders aus. Nach Locarno hatte der Parti démocrate populaire eine eher positive Haltung gegenüber Deutschland eingenommen, ohne dafür explizit das Bild eines doppelten Deutschlands zu nutzen. Während der gesamten Regierungszeit Brünings tauchte in ihren Kommentaren über Deutschland eine Mischung aus positiven und negativen Bildelementen auf, verbunden mit der mit ihnen typisch verbundenen metaphorischen Sprache. Insgesamt stützten sie sich aber auf eine faktenorientierte Deutschlandwahrnehmung und ihre christlichen Überzeugungen, die zur Grundlage ihrer Annäherungspolitik wurden – also auf Elemente aus dem Bereich der stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer. Die Anhänger und Sympathisanten der Alliance Démocratique waren in drei Flügel gespalten: Der erste Flügel benutzte überhaupt keine typisches Deutschlandbild; der zweite, der den Radicaux näher stand, akzeptierte und nutzte das Bild des doppelten Deutschlands; und schließlich der dritte Flügel, der der nationalistischen Rechten nahe stand, der das Bild eines einheitlich bedrohlichen Deutschlands als Hauptargument gegen die Politik Briands vertrat. Diese Bandbreite innerhalb der Partei ermöglichte der Alliance Démocratique einerseits einen pragmatischen Umgang mit der Politik Briands und andererseits fortschreitende Distanzierung von den Idealen Locarnos. Die pazifistische, internationalistische, antifaschistische und antiklerikale SFIO wünschte den Frieden über den Völkerbund zu garantieren und favorisierte außerdem internationale Schiedsverfahren, Abrüstung und die deutschfranzösische Aussöhnung. So forderte sie eine bedingungslose französische Abrüstung als Modell für eine allgemeine Abrüstung. Um Unterstützung für diese Politik zu gewinnen, die eine fortschreitende Revision des Versailler Vertrags bedeutete, bedurfte es eines Deutschlands, das keinerlei Revanche forderte und einer französischen Regierung und Gesellschaft, die sich hinsichtlich der ehrlichen und pazifistischen Absichten der Deutschen in Sicherheit wiegten.4 Die Sozialisten stützten sich darum auch auf das Bild eines doppelten Deutschlands: So konnten sie, indem sie auf das „gute Deutschland“ verwiesen, gegenüber Kritikern aus ihrer eigenen Partei ihre politisches Wohlwollen legitimieren, das sie ab September 1930 Heinrich Brüning entgegenbrachten. Gleichzeitig konnten sie sich mit diesem Bild verteidigen, wenn sie von den Rechten angegriffen wurden, zu deutschlandfreundlich zu sein.5 In ihrem Bild einer sozialen Zweiseitigkeit 4 5

Vgl. hierzu Hörling: Opinion française (I), S. 603. Vgl. Auch Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 186ff.

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Deutschlands kam schließlich ihre politische Ideologie zu ihrem Recht, nach der die Sozialisten, genauso wie die Kommunisten zwischen einer bürgerlichen und einer Arbeiterklasse unterschieden. Die Politik des PCF war schließlich ausschließlich durch die ideologischen Grundprinzipien des Kommunismus bestimmt, also durch ein Element aus der Ebene der stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer. Die konservativen und nationalistischen Rechten betrieben gegenüber Heinrich Brüning eine Politik des Misstrauens und der Feindseligkeit. Ihr einziges Ziel war es, die französische Überlegenheit über den deutschen Nachbarn zu wahren. Sie forderten deshalb eine Aufstockung des französischen Militärs, ein machtvolles Allianzsystem gegen Deutschland und den Erhalt des Versailler Vertrags.6 Sie lehnten jede Konzession an Deutschland ab, weil dies nach ihrer Meinung die revanchistischen Tendenzen der Deutschen fördere. Um diese Politik durchsetzen zu können, brauchten sie ein nationalistisches und gefährliches Deutschland. Aus diesem Grund tauchte in ihrem politischen Diskurs regelmäßig und immer aggressiver das Bild eines einheitlich gefährlichen Deutschlands auf – also ein Element aus der Ebene der stabilen Strukturen von sehr langer Dauer. Die Wirtschaftskrise und soziale Not in Deutschland sowie die vielfältigen Probleme, die Brüning zu bewältigen hatte, waren nie ein Thema. Diese Punkte fielen in die Kategorie des „Nicht-Gesagten“ und der Tabus. Diese Deutschlandwahrnehmung stand nicht zuletzt mit ihrem ausdrücklichen Ziel in Zusammenhang, die nächsten Wahlen zu gewinnen. In der angespannten und vom erneuten Misstrauen geprägten deutschfranzösischen Atmosphäre im Frühjahr 1932 forderten sie sogar, die anstehenden Wahlen in Frankreich zu verschieben: So hieß es, Frankreich schulde es seinen Bürgern, das wahre Gesicht Deutschlands genau kennenzulernen, bevor es die Franzosen an die Wahlurnen rufen dürfe. Die nationalistische Rechte hoffte bei einer Verschiebung des Wahlttermins offen auf eine Verbesserung ihrer Erfolgschancen.7 Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Franzosen sich beim Thema Heinrich Brüning langfristig entlang der globalen öffentlichen Meinung orientierten. Ausbrüche flüchtiger Emotionen spielten nur dann eine Rolle, wenn durch sie die ganze Bandbreite der kollektiven Vorstellungswelt zu Deutschland bedient wurde. Auf diese Weise konnten auch flüchtige Emotionen die Politiker in ihrem Vorgehen bestätigen und beispielsweise zu einer härteren Gangart gegenüber der deutschen Regierung beitragen oder eben dazu führen, dass diese härtere Politik in Frage gestellt wurde. Ein einziges, isoliertes Ereignis, unabhängig von seinen emotionalen Folgen, reichte allerdings nicht aus, um eine politische Konzeption ins Wanken zu bringen. Das zeigt zum Beispiel der Effekt, den die Ankündigung der deutsch-österreichischen Zollunion auf die französischen Linken hatte.

6 7

Vgl. hierzu: Hörling: Opinion française (I), S. 592. Vgl. ebd., S. 598.

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3. Einige Beispielfälle Nun sollte auch genauer zwischen motivierten Bildern und verinnerlichten Bildern unterschieden werden, denn noch immer stellt sich die Frage, ob die französischen Politiker die Deutschlandbilder instrumentalisierten oder aber, ob sie Teil ihrer Überzeugungen waren. Frano Ilić hat in seiner Studie über das Deutschlandbild im französischen Parlament der Zwischenkriegszeit vorgeschlagen, zu überprüfen wie oft und in welcher Regelmäßigkeit Deutschlandbilder in den Reden der Abgeordneten auftauchten.8 Seine Hypothese, wonach das quantitative Auftreten von Deutschlandbildern eine Aussage darüber zulässt, ob sie oder ob sie nicht Teil eines rhetorischen Spiels waren, ist sicherlich richtig. Allerdings muss auch überprüft werden, auf welche Weise diese Deutschlandbilder in den politischen Diskurs eingeflochten wurden. Deshalb sollen hier nun fünf politische Akteure beispielhaft unter die Lupe genommen werden. Zunächst steht André FrançoisPoncet im Mittelpunkt, weil ihn seine einflussreiche Rolle in der französischen Politik besonders interessant macht. Anschließend werden die Abgeordneten Henry Franklin-Bouillon und Ernest Pezet, sowie Aristide Briand und Salomon Grumbach näher betrachtet.9 Die Untersuchung Ilićs erlaubt es, die in dieser Studie in den Jahren von 1930 bis 1932 beobachteten Personen in einen weiteren zeitlichen Kontext einzuordnen. Es ist dabei selbstverständlich, dass die fünf Beispielfälle nicht für die Gesamtheit der Parteien stehen, deren Mitglied sie waren oder mit denen sie sympathisierten. Laut Annette Messemer, die die Quellen zu André François-Poncet aus den Archives Nationales und dem Ministère des Affaires Etrangères analysiert hat, schuf der spätere Botschafter im Jahr 1914 den Begriff „deux Allemagnes“ als eine Variation des älteren Begriffs „Allemagnes“, der, so Messemer, nur eine deutsche Besonderheit beschrieben habe.10 Der Irrtum der Historikerin ist bezeichnend: Der Eindruck, dass François-Poncet das Bild der „deux Allemagnes“ selbst geschaffen hat, kann nur entstehen, weil er es so massiv und zweckgenau eingesetzt hat. Der ehemalige Student der Ecole Normale Supérieure, der Deutsch im Sinne der französischen Bildungspolitik nach 1870 gelernt hatte, verwendete dieses Bild aus dem 19. Jahrhundert noch, als er schon Botschafter in Berlin war. Wenn man die Verwendungsweise dieses Bildes untersucht, gewinnt man zunächst den Eindruck, dass er sich Schritt für Schritt vom Konzept eines bipolaren Deutschlands entfernt. Bei seinen Beschreibungen Heinrich Brünings fällt aber auf, dass er regelmäßig mit einer kleiner Aufzählung der positiven Eigenschaften Brünings beginnt, bevor er dann die negativen Charakterzüge und politischen Handlungen Brünings deutlich hervorhebt und damit den ersten vielversprechenden Eindruck des deutschen Reichskanzlers wieder zunichte macht. Tatsächlich 8 9

Ilić: Frankreich und Deutschland. Hinsichtlich Akteuren wie Edouard Herriot kann abermals auf die Studie Ilićs verwiesen werden. Vgl. Ilić: ebd., S. 103ff + S. 206ff. 10 Vgl. Messemer: André François–Poncet, S. 508.

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hat man das Gefühl, dass seine positiven einleitenden Worte nur dazu dienen, den anschließenden Warnungen und sorgenvollen Äußerungen hinsichtlich der Unehrlichkeit der deutschen Regierung noch mehr Gewicht zu verleihen. Anscheinend haben seine Aufenthalte in Deutschland und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs seine ursprüngliche negative Deutschlandwahrnehmung nur zementiert. Ohne explizit von einem einheitlich dunklen und gefährlichen Deutschland zu sprechen, machte François-Poncet dennoch aus der Politik Brünings eine Art „hitlérianisme sans Hitler – Hitlerismus ohne Hitler“.11 Entweder wurde Brüning von ihm grundsätzlich disqualifiziert oder aber er erschien als ein zu schwacher Charakter, um die Deutschen zu regieren, für die François-Poncet nur Widerwillen empfand. Da François-Poncet diese Wahrnehmung Brünings und Deutschlands noch in seinen Memoiren verteidigt hat, darf man annehmen, dass das monolithische Deutschlandbild, das seine Schriften aus den Jahren 1931 und 1932 beherrscht, Teil seiner wirklichen Überzeugungen gewesen ist. In jedem Fall hat er sein Deutschlandbild nie in Frage gestellt. Trotz allem muss man ihm die Fähigkeit zu differenzieren zugestehen und auch den Wunsch, nach Kompromissen mit Brünings Deutschland zu suchen. Er war also kein kompletter Gefangener dieses Deutschlandbildes, das trotzdem zu einer Schwächung der briandistischen Deutschlandpolitik und zu einer Rückkehr zu einer von Misstrauen geprägten Politik nach dem Ausscheiden Briands geführt hat. Henry Franklin-Bouillon machte das Bild eines einheitlichen und feindlichen Deutschlands zur Grundlage seiner politischen Argumente und nutzte das Bild eines doppelten Deutschlands nur als rhetorisches Spiel, um zu beweisen, dass das eine Deutschland genauso gefährlich wie das andere Deutschland sei. Er unterschied sich hier von François-Poncet, der immerhin noch an die Existenz einiger Ausnahmedeutscher glaubte. Franklin-Bouillon berief sich in seinen Reden auf so viele deutsche Zeitungsartikel, die sein negatives Deutschlandbild bestätigten, dass man den Eindruck gewinnen kann, er habe dieses Deutschlandbild bewusst instrumentalisiert und eingesetzt, um im Parlament Unterstützung für seine Politik zu gewinnen. Allerdings zeigen die für die vorliegende Studie und die von Frano Ilić untersuchten Quellen,12 dass dieses emotional aufgeladene Feindbild nicht nur Franklin-Bouillons Reden bestimmt hat, sondern seinen gesamten politischen und persönlichen Werdegang. Mehr als ein Mittel zum Zweck scheint diese negative Deutschlandwahrnehmung tatsächlich eine Grundüberzeugung Franklin-Bouillons gewesen zu sein. Der Machtantritt Brünings und dessen ungeschickte Politik haben Franklin-Bouillons Feldzug gegen den „Lügner“ Aristide Briand und den „Schwindel“ von Locarno widerbelebt und befeuert. In seinen Augen hat Deutschland auch nach dem Ersten Weltkrieg sein „preußisches Gesicht“ gewahrt

11 Vgl. Depesche von André François–Poncet an Aristide Briand vom 30/12/1931. In: CADN, Fonds de l’Ambassade de France à Berlin, Série B, Carton 193: Dépêches politiques. Vgl. hierzu auch Schäfer: François.Poncet, S. 104ff. 12 Vgl.: Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 215ff.

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und wurde, wie Frano Ilić schreibt, zum Leitmotiv seiner Politik.13 FranklinBouillons Beispiel zeigt das Ausmaß der traumatischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die politischen und persönlichen Lebensläufe dieser Generation: Vor 1914 hatte sich Franklin-Bouillon noch durch ein patriotisches, aber keinesfalls exzessiv negatives Denken über Deutschland ausgezeichnet. Danach engagierte er sich auf feindselige, emotional aufgeladene und keinesfalls nüchtern zu nennende Weise gegen die Brüning’sche und andere deutsche Regierungen. Er wurde zu einem der politischen Akteure in Frankreich, die Gefangene der durch den Ersten Weltkrieg wiederbelebten Bilder und deutschlandfeindlichen Gefühle geworden waren und deren politische Reden nicht zu einem besseren französischen Verständnis der Politik und der politischen Probleme Heinrich Brünings beitrugen. Die politische Argumentationsweise Ernest Pezets dagegen beruhte weder in seinen Parlamentsreden noch in seinen journalistischen Artikeln auf den stabilen Strukturen von sehr langer Dauer der kollektiven Vorstellungswelt.14 Vielmehr offenbaren sie eine gewisse Distanz zu den üblichen Deutschlandbildern. Wie ist diese Unabhängigkeit von den Deutschlandbildern zu erklären? Schließlich war der 1887 in bescheidenen Verhältnissen geborene Abgeordnete und Journalist Pezet genauso wie sein Kollege von der Gauche unioniste et sociale von den Erlebnissen und Folgen des Ersten Weltkrieges tief geprägt. Pezet war sogar in den Kriegsjahren mehrfach verwundet worden. Dieser Unterschied zwischen ihm und Franklin-Bouillon ist – unabhängig von ihren politischen Grundüberzeugungen – auch auf Pezets Mitgliedschaft bei der sillonistischen Bewegung15 zurückzuführen – also auf seine demokratischen und christlichen Ideale, die aus ihm einen der Gründer des PDP machten. Sein Glaube an die christlichen Werte und der positive Eindruck, den die Politik von Locarno bei ihm hinterließ, haben wahrscheinlich zu seiner relativen intellektuellen Distanz zu den Vorstellungen beigetragen, wonach der Deutsche im Prinzip immer schlecht war oder die Deutschen nur in den Kategorien schwarz oder weiß dargestellt wurden. Pezet dachte also nicht außerhalb der Grenzen der kollektiven Vorstellungswelt, sondern wurde nur stärker durch eine Kombination aus politischen Fakten (Locarno, Union Nationale) und stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer (christlicher Glaube, demokratische Überzeugungen) beeinflusst als Franklin-Bouillon, dessen Politik durch eine Mischung aus verschiedenen stabilen Strukturen von sehr langer Dauer (Erinnerung an Geschichte, Bilder etc.) geprägt war. So war Pezet auch empfänglicher für eine Neuorientierung in der französischen Betrachtungsweise Deutschlands, die beim PDP 1925/1926 zu einem Politikwechsel beitrug. Auch die Hoffnungen, die auf den Katholiken Brüning gesetzt wurden, und die Rückkehr des

13 Vgl. ebd., S. 218f. 14 Vgl. FNSP, Archives d’Ernest Pezet, PE 13: Recueil d’articles de et sur Ernest Pezet 1921– 1937; PE 15: Activités de journaliste 1918–1957. 15 Es handelt sich um die 1899 von Marc Sangnier gegründete Bewegung, die das Engagement für eine christliche Demokratie mit der sozialen katholischen Bewegung verband.

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Misstrauens, die zu einer erneuten Anpassung der Deutschlandpolitik des PDP führten, gehen darauf zurück. Antoine Fleury hat eine identische Entwicklung für die Zeitung La Croix beschrieben.16 Bei Aristide Briand schließlich stellt sich die Frage, ob er nun eher unabhängig von den Deutschlandbildern in der Politik agierte oder ein Anhänger des Bildes eines doppelten Deutschlands war. Briand war ein Franzose aus dem Westen und somit geographisch weit entfernt von Deutschland aufgewachsen. Zudem hatten ihn sowohl Internationalismus als auch Pazifismus geprägt. Historiker wie Siebert schreiben sogar, dass seiner Persönlichkeit jede Form des Hasses oder vorgefertigte Urteile fremd waren.17 Der Studie Ilićs nach zu urteilen, ging die veränderte Haltung Briands zu Deutschland seit 1921 mit einer Verfestigung des Bildes eines doppelten Deutschlands in seinem Denken einher, das ihn zu einem Vorreiter der deutsch-französischen Versöhnungspolitik machte.18 Ilić ist der Ansicht, dass Briand dieses Bild zunächst nur instrumentalisiert habe, bevor er dann schließlich selbst daran glaubte.19 Gleichzeitig unterstreicht Ilić aber auch die pragmatischen Überlegungen Briands, der eine Annäherung an Deutschland früh als eine politische Bedingung erkannte, um Frankreich international nicht zu isolieren.20 So war dem Franzosen auch die Wichtigkeit des Bildes eines doppelten Deutschlands als entscheidendes Element für die französische Außenpolitik bewusst. Im Parlament lehnte er es beispielsweise ab, mit Henry Franklin-Bouillon über so vage Ideen wie die Existenz einer typischen Mentalität eines Volkes zu diskutieren. Er war nicht nur von der deutschen Bereitschaft und der Fähigkeit zur Weiterentwicklung überzeugt, sondern auch davon, dass es eine Vielfalt von unterschiedlichen Deutschen gebe mit ganz vielen Mentalitäten.21 So gab es Momente, in denen sich Briand empfänglich für das Bild der verschwenderischen Deutschen oder überzeugt von der Ehrlichkeit der Deutschen zeigte. In den Jahren der Regierung Brüning trat Briand immer als ein Verteidiger einer realistischen Deutschlandpolitik auf. Er blieb seinen Erfahrungen treu, die er mit Gustav Stresemann gemacht hatte, und äußerte immer wieder die Überzeugung, dass das deutsche Volk heterogen und entwicklungsfähig sei. Zumindest für die Jahre 1930 bis 1932 hat man den Eindruck, dass Briands Deutschlandwahrnehmung eher neutral bis positiv gefärbt war und dass er sich ein differenziertes Urteil bildete, das mehr faktisch und ideologisch begründet war und somit über die Unterscheidung zwischen einem doppelten Deutschland hinausging. Regelmäßig machte er sich sogar über die Verwendung von Deutschlandbildern im Parlament lustig. Trotz seines physischen und psychischen Verfalls Anfang der 1930er Jahre und trotz der Enttäuschungen, die ihm die Außenpolitik Brünings und die Entwicklung

16 17 18 19 20 21

Fleury: La Croix et l’Allemagne, S. 49ff. Vgl. Siebert: Briand, S. 46ff. Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 76f. Ebd., S. 181f. Ebd., S. 87 + S. 175. Ebd., S. 173, S. 187 + S. 180.

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der Weimarer Republik bereiteten, die auch mit einem Ansehensverlust seiner Politik in Frankreich einherging, blieb Briand seinen politischen Idealen treu, die in seinem Denken und seinen Äußerungen immer die Oberhand über die stabilen Strukturen von sehr langer Dauer behielten. Nach dem für die vorliegende Arbeit entwickelten theoretischen Modell der kollektiven Vorstellungswelt gehörten Ernest Pezet wie Aristide Briand zu den französischen Politikern, die sich vor allem anderen von den politischen Fakten und den stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer leiten ließen. Der elsässische Sozialist Salomon Grumbach ist ein Beispiel für einen französischen Politiker, der sowohl durch die französische als auch die deutsche Kultur geprägt war. Hinsichtlich Deutschlands waren seine Urteile nicht von der SFIO zu trennen, als deren Sprachrohr er bei diesem Thema fungierte. Grumbach sprach nie über die Deutschen, ohne sich dabei auf das Bild des doppelten Deutschlands zu beziehen, das eng mit der sozialistischen Doktrin verknüpft wurde.22 Sowohl sein Deutschlandbild als auch die Parteidoktrin bildeten die Grundlage seiner Überzeugungen: Das Bild eines sozialen Gegensatzes in Deutschland, das aus dieser Verbindung erwuchs, wurde zum Ausdruck des Mitleids der SFIO mit den deutschen Arbeitern. Das Engagement, mit dem Grumbach für das Bild eines „guten Deutschlands“ eintrat und dem auch der wachsende Nationalsozialismus und die schwindende Macht der bürgerlichen Parteien und der Position Brünings nichts anhaben konnten, zeigen, welch überzeugter Anhänger er dieser Wahrnehmung Deutschlands war. So unterschied er zwischen einem guten Deutschland der Sozialdemokratie und des „kleineren Übels“ der Regierung Brüning und einem nationalsozialistischen und gefährlichen Deutschland. Der spätere neo-sozialistische Flügel entfernte sich allerdings Schritt für Schritt von diesem Deutschlandbild. Es existierten also – sowohl im linken als auch im rechter politischen Diskurs – instrumentalisierte und verinnerlichte Deutschlandbilder. So konnte ein Politiker gleichzeitig einen Aspekt der stabilen Strukturen von langer Dauer verinnerlicht haben und einen anderen Aspekt der gleichen Kategorie der kollektiven öffentlichen Meinung instrumentalisieren. Das galt auch für Politiker, die die historische Vorstellungswelt ihrer Gegner kritisierten, ohne den Einfluss der globalen öffentlichen Meinung auf ihr eigens Denken zu berücksichtigen. Häufig wurde dem politischen Gegner ein falsches Deutschlandbild vorgeworfen, nur um dies durch das eigene, nicht weniger irreführende Deutschlandbild zu ersetzen. Bei den extremen Rechten wie bei den extremen Linken war man sogar so sehr von der Unfehlbarkeit der eigenen Urteile über Deutschland überzeugt, dass man sie nicht einmal im Ansatz in Frage zu stellen bereit war. Hin und wieder tauchten Modifikationen der kollektiven Vorstellungswelt auf, wenn beispielsweise Beobachter anderer nationaler Herkunft nicht die Gesamtheit der französischen Deutschlandwahrnehmung verinnerlicht hatten. Das war zum Beispiel der Fall der Journalis-

22 Vgl. Ilić: Frankreich und Deutschland, S. 186ff.

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ten Angelo Rossi und Henry de Korab, die die Vorstellungswelt ihres Herkunftslandes mit in ihre Urteile einfließen ließen, ohne dass diese mehr oder weniger objektiv gewesen wären als die französische Vorstellungswelt. Ihre Kommentare fielen nur – und keinesfalls automatisch, wie das Beispiel Grumbachs zeigt – anders aus, als die Urteile ihrer französischen Kollegen. Nur in der politischen Mitte war ansatzweise ein Nachdenken über den außenpolitischen Entscheidungsprozess zu finden, wie das Beispiel Aristide Briands zeigt. Wirklich in Frage gestellt wurde dieser Entscheidungsprozess und der Einfluss der kollektiven Vorstellungswelt aber zu keinem Zeitpunkt.

III DIE BEDEUTUNG DER BILDER FÜR DIE FRANZÖSISCHE DEUTSCHLANDPOLITIK 1. Die Ursache für den Einfluss der Vorstellungswelt auf die politische Haltungen Ganz abgesehen von dem fehlenden Nachdenken über den außenpolitischen Entscheidungsprozess muss man sich fragen, warum so viele Elemente der globalen und aktuellen öffentlichen Meinung dazu dienen konnten, die verschiedenen französischen Haltungen gegenüber Heinrich Brüning zu legitimieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Politikern schlichtweg überzeugendere Argumente fehlten. Frankreich befand sich nicht nur in einer Situation internationaler Blockade – die sich seit 1929 noch weiter zuspitzte –1, ihm fehlte es auch an einem durchgehenden politischen Konzept für den Umgang mit Deutschland. Das machte es der französischen Regierung besonders schwer, begründete und überzeugende Argumente für ihre überholte Deutschlandpolitik zu finden. Hinzu kam, dass die französischen Politiker das Ausmaß der Probleme in Deutschland nicht erkannten: Sie waren vielmehr überzeugt, dass es Brüning gelingen werde, Deutschland wieder voranzubringen, sobald er nur wolle, und dass die deutsche Demokratie trotz der Zwangslagen, denen das Nachbarland ausgesetzt war und von denen die extremen Rechten und extremen Linken in Frankreich nicht einmal Notiz nehmen wollten, wieder gesunden könne. Die französischen Politiker waren letztlich Opfer einer Serie von Ereignissen, von denen sie überfordert waren.2 Die Verwendung der verschiedenen Deutschlandbilder im politischen Diskurs – ob sie nun instrumentalisiert wurden oder verinnerlicht waren – war Ausdruck der allgemeinen Ratlosigkeit, mit der die Franzosen den Deutschen und Brüning im besonderen begegneten. Die veraltete Konzeption der französischen Außenpolitik – Schiedsverfahren, Sicherheit, Abrüstung – stammte noch aus dem Jahr 1924 und wurde sowohl auf politischer als auch militärischer Ebene durch die Folgen der Krise in den 1930er Jahren zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen.3 Während die Radicaux und die Gemäßigten für die Verteidigung nationaler Interessen eintraten, forderten die Sozialisten eine großzügigere Deutschlandpolitik, als einzige Garantie für einen dauerhaften Frieden. Der nationalistische Flügel der konservativen Rechten und die linken und rechten Extremisten teilten nicht einmal den in der politischen Mitte herrschenden Konsens über die Notwendigkeit einer realistischeren Außenpolitik. Nach und nach verlor Frankreich jede Kontrolle über das internationale Geschehen und fand sich zwischen 1930 und 1932 in einer Position zunehmender Isolation wieder. 1 2 3

Vgl. Heyde: Ende der Reparationen, S. 473. Vgl. Duroselle: Décadence, S. 11. Vgl. Borne/Dubief: Crise, S. 46f.

III Die Bedeutung der Bilder für die französische Deutschlandpolitik

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Philipp Heyde hat in seiner Studie über das Ende der Reparationen zudem deutlich gemacht, dass die Führung im französischen Außenministerium nur über einen eingeschränkten Handlungsspielraum verfügte. Ihr fehlten die einstige einheitstiftende Kraft und Präsenz Aristide Briands, der von Tag zu Tag müder und schwächer wurde.4 Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die französischen Botschafter zudem irreführende Berichte nach Paris sandten und die diplomatische Korrespondenz insgesamt einseitig ausgerichtet war. Sehr oft formulierte man im Quai d’Orsay keine klare Entscheidung, was wiederum die Kommunikation zwischen den Diplomaten und den Regierungen der Länder erschwerte, in denen sie tätig waren.5 Insgesamt mangelte es der französischen Wahrnehmung des internationalen Geschehens an Realismus – das äußerte sich zum Beispiel im französischen Festhalten am Versailler Vertrag, einer unnachgiebigen Haltung hinsichtlich des Young-Plans und im idealistischen Europa-Projekt Aristide Briands.6 Aus deutscher Sicht verkaufte die französische Regierung ihre nationalen Interessen nur mit ein paar idealistischen Motiven und wirkte damit auf die Deutschen heuchlerisch.7 Die französische Deutschlandpolitik war innenpolitischen Überlegungen unterworfen – wie zum Beispiel innerparteilichen Auseinandersetzungen und Wahlkampfstrategien. Hinzu kamen finanzpolitische, wirtschaftliche und militärische Motive sowie die kollektive Vorstellungswelt als weitere Einflussgrößen. Anfang der 1930er Jahre erfüllte der Rückgriff auf die stabilen Strukturen von sehr langer Dauer der kollektiven Vorstellungswelt eine doppelte Funktion: Sie ermöglichten es den französischen Politikern, ihre Politik nicht in Frage stellen zu müssen, und dienten als Orientierung und Erklärungen für das Geschehen in Deutschland, das von einer Mehrheit der französischen Gesellschaft gar nicht oder missverstanden wurde. Die Ereignisse in Deutschland und die Politik Heinrich Brünings – sowohl auf innen-, als auch auf außenpolitischer Ebene – wurden durch die Brille der französischen Vorstellungswelt interpretiert, die jede „objektive“ Sicht auf Deutschland behinderte. Man sah in der Tat nur, was man sehen wollte, und man lernte nur das, was man bereits über Deutschland wusste. Auf diese Weise formten sich die Urteile der extremen Rechten, die Brüning und Hitler als die logische Folge der politischen und geistigen Entwicklung Deutschlands betrachteten, oder auch die Sympathien der Konservativen für die Brüning’sche Innenpolitik, die gleichzeitig von ihrer Ablehnung seiner Außenpolitik begleitet wurde. Auch zwischen den französischen Sozialisten und den deutschen Sozialdemokraten tauchten solche Analogien auf, um nur einige Beispiele zu nennen. Es handelte sich dabei nicht immer um eine bewusst gewählte Reaktion, sondern vielmehr häufig um einen geradezu automatischen und unüberlegten Prozess, der den Graben zwischen den verschiedenen deutschlandpolitischen Konzeptionen der französischen Parteien noch vertiefte und die gegensätzliche Entwicklung ih4 5 6 7

Heyde: Ende der Reparationen, S. 459. Vgl. ebd., S. 458. Vgl. ebd., S. 459f. Vgl. ebd., S. 461.

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rer Deutschlandpolitik noch beschleunigte. Die ambivalente Berichterstattung über den neuen Reichskanzler in Deutschland nährte zudem die mangelnde Selbstsicherheit der französischen Regierung angesichts der deutschen Nachbarn. Die Franzosen kapitulierten schließlich – wie die Mehrheit ihrer Zeitgenossen Anfang der 1930er Jahre – vor der Komplexität der politischen und wirtschaftlichen Probleme, die Brüning zu lösen hatte.8 Die Deutschlandbilder dienten letztlich als Erklärungshilfen für den Nationalsozialismus, den Haltungswechsel in der deutschen Außenpolitik, die Finanzkrise und andere Phänomene, auf die die politischen und wirtschaftlichen Experten der Zeit keine überzeugende Antwort zu geben wussten. Nicht ohne Grund kann man aus heutiger Sicht beispielsweise die vielen irreführenden Urteile der Franzosen über Heinrich Brüning und Adolf Hitler besser nachvollziehen. Der Rückgriff auf diese Bilder war aber auch Ausdruck der Enttäuschung, die Brüning den Franzosen unter anderem mit der Ankündigung einer deutsch-österreichischen Zollunion bereitet hatte. Der Geist von Locarno wurde durch eine Politik ersetzt, die von der Regierung Brüning für jede wirtschaftliche Unterstützung eine politische Garantie einforderte. Wenn man dabei die einflussreiche und entscheidende Rolle des Wirtschaftsstaatssekretärs André François-Poncet betrachtet, die dieser im Frühjahr 1931 auf der politischen Bühne Frankreichs spielte,9 versteht man die schleichende Verschlechterung des intellektuellen und politischen Klimas zwischen Deutschland und Frankreich besser. Der Fehler der Regierung Brüning mit dem Vorhaben einer deutschösterreichischen Zollunion wäre nicht zu einem solch entscheidenden und irreversiblen Wendepunkt in den deutsch-französischen Beziehungen geworden,10 hätte nicht im Denken der französischen politischen Entscheider eine so enge Verknüpfung zwischen der kollektiven Vorstellungswelt und ihrer Politik bestanden. Das Auftreten Heinrich Brünings auf dem internationalen Parkett hatte die unangenehme Besonderheit, dass es die Franzosen wieder an die für sie unerträglichsten Momente der deutsch-französischen Geschichte erinnerte und die ganze Bandbreite der französischen Vorstellungswelt bediente. Im Gegensatz zu Gustav Stresemann hat Brüning nie auf die sensiblen Punkte der französischen öffentlichen Meinung reagiert. Die Bedienung der kollektiven Vorstellungswelt und der bewusste wie unbewusste Rückgriff auf deren Strukturen haben erheblich zu den deutsch-französischen Missverständnissen und Fehlschlägen während der letzten Jahre der Weimarer Republik beigetragen.

Sie diskutierten beispielsweise nicht über die Wirtschaftstheorien von John Maynard Keynes und brachten auch keine antizyklischen Alternativvorschläge vor. Zu Keynes, vgl. Skidelsky: Keynes; Hömig: Brüning (I), S. 452f. 9 Die im Plan constructif formulierte französische Reaktion auf die Ankündigung der deutsch– österreichischen Zollunion beispielsweise entstand unter der Federführung von André François–Poncet. 10 Vgl. Knipping: Deutschland, S. 223.

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III Die Bedeutung der Bilder für die französische Deutschlandpolitik

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2. Die zeitverschobene Wirkung der Deutschlandbilder Heinrich Brüning hat von der langfristigen Wirkung der Deutschlandbilder auf die französische Politik profitiert, aber auch darunter „gelitten“. Er gewann durch das Bild eines „guten Deutschlands“ die Solidarität der SFIO und die Unterstützung der politischen Mitte, bekam aber auch die Vorbehalte der Radicaux und der Gemäßigten sowie reinen Hass von Seiten der extremen Rechten und der Kommunisten zu spüren, die sich aus dem Repertoire negativer Deutschlandbilder und/oder aus den stabilen Strukturen von mittellanger bis langer Dauer der globalen öffentlichen Meinung bedienten. Brüning profitierte nicht nur von dem politischen Erbe, das ihm Gustav Stresemann hinterließ, sondern auch von dem wohlwollenderen Ton gegenüber den Deutschen, der sich nach Locarno in der kollektiven Vorstellungswelt festgeschrieben hatte. So konnten die Franzosen eine direkte Linie von der deutschen Idylle Madame de Staëls bis zur ersten deutschen Demokratie ziehen, der Gustav Stresemann aus französischen Augen ihre endgültige Daseinsberechtigung verliehen hatte und die auch noch Heinrich Brüning nützte. Auf der anderen Seite erlaubte das ungeschickte Vorgehen Brünings einigen Franzosen auch, die von Stresemann geprägten Jahre als eine Ausnahme von der Regel zu betrachten und eine direkte Verbindung zwischen dem „ewigen“ Deutschland, Bismarck, Wilhelm II., Brüning und Hitler herzustellen, in die schließlich selbst Stresemann dank des Bildes der Doppelgesichtigkeit der Deutschen eingefügt werden konnte. Diese zwei unterschiedlichen Ausprägungen der französischen Deutschlandwahrnehmung, die auch an die unterschiedlichen Ideologien der Parteien oder politischen Bewegungen geknüpft waren, verdeutlichen nicht nur die Langlebigkeit der Deutschlandbilder im französischen Denken, sondern auch ihre „Anpassungsfähigkeit“ an verschiedene Ereignisse und an verschiedene Persönlichkeiten – ganz unabhängig vom veränderten historischen Kontext. Es ist trotz der Kenntnisse über die Funktionsweise und die Langlebigkeit von Vorstellungswelten erstaunlich zu sehen, dass die Jahre rund um Locarno nicht ausgereicht haben, um die französischen Meinungen dauerhaft neu auszurichten. Um das Vertrauen in die Deutschen zu festigen, das 1925/26 aufgekeimt war, hätte man den diplomatischen Stil Stresemanns fortsetzen müssen – was Brüning nicht tat –, um langfristig Nutzen aus der Sehnsucht der Franzosen nach der Idylle Madame de Staëls zu ziehen. Ohne die guten Absichten des Reichskanzlers in Frage stellen zu wollen, muss ihm dennoch seine mangelnde Sensibilität gegenüber dem französischen Sicherheitsbedürfnis vorgeworfen werden. Mit mehr Empathie hätte Brüning die Friedensbereitschaft Deutschlands deutlicher unterstreichen, die Anhänger Briands besser unterstützen und damit seine eigene Position leichter stabilisieren können. Zweifellos haben die vielen Probleme, die er zu lösen hatte, seine Analyse der deutsch-französischen Beziehungen Anfang der 1930er Jahre verzerrt. Für seine außenpolitischen Erfolge – von denen seine Nachfolger profitierten − hat er deshalb den hohen Preis eine irreversiblen Verschlechterung der deutschfranzösischen Beziehungen während seiner Regierungszeit bezahlt.

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Der Einfluss der kollektiven Vorstellungswelt auf die französische Politik

In den 26 Monaten seiner Regierungszeit gab es die drei beschriebenen einschneidenden Ereignisse, die als Schockmomente die etablierten Deutschlandbilder erschütterten. Der letzte „Schock“ war Brünings Sturz, der eine massive Rückkehr wohlwollender Urteile über Brüning über die ganze politische Bandbreite in Frankreich – von links nach rechts – nach sich zog. Punktgenau zu diesem tragischen und präzisen Zeitpunkt justierte eine Mehrheit der Franzosen ihre Wahrnehmung Brünings in positiver Hinsicht neu – ohne dabei Hitler oder den Nationalsozialismus, die weiter durch die Brille der etablierten Vorstellungswelt betrachtet wurden, klarer zu erkennen. Es scheint, als wären sich die Franzosen erst zu diesem Zeitpunkt über den wahren Wert Brünings für Frankreich bewusst geworden – einen Wert, der vorher durch sein ambivalentes Auftreten verdeckt worden war. Mit dieser plötzlich bewusst gewordenen Wertschätzung Brünings ging auch das Bedauern in Frankreich einher, der Verschlechterung der innenpolitischen Lage in Deutschland nichts entgegengesetzt zu haben. Es wäre nun wichtig nachzuprüfen, wie sehr Brünings Nachfolger – vor allem Hitler – von diesem Wahrnehmungswandel profitiert haben. Die Strukturen der französischen Vorstellungswelt und die französische Kriegsmüdigkeit haben ihre Deutschlandwahrnehmung auch noch nach 1933 verzerrt. Die Erkenntnis Ende Mai 1932, in Brüning einen demokratischen und pazifistischen deutschen Partner gehabt zu haben, hat sich erst nach dessen Sturz in der französischen Vorstellungswelt etabliert. Die anschließenden, häufig auch idealisierten Brüningbilder haben vielleicht auch die Überzeugung genährt, dass eine Politik der Konzessionen – zu der man zu Brünings Zeiten nicht bereit war – nun den nationalsozialistischen Diktator Hitler besänftigen könne. Eine Hypothese, die sich lohnen würde nachzuprüfen, weil sie die Hartnäckigkeit der Franzosen erklären könnte, mit der sie noch bis 1938 nach einem Ausgleich mit Hitler suchten.11

11 Vgl. hierzu Krapoth: France–Allemagne, S. 153.

DIE „SICHT DES ANDEREN“ ALS GEGENSTAND DEUTSCHFRANZÖSISCHER FORSCHUNG Wer sich mit Bildern und Vorstellungswelten in internationalen Beziehungen beschäftigt, lernt erst einmal die Besonderheiten des Beobachters kennen. Er erfährt zweitens etwas über die Wirkung, die das beobachtete Land oder die beobachtete Person auf den Betrachter hat, und nähert sich drittens dem beobachteten Land oder der beobachteten Person unter einem neuen Blickwinkel. Wer zudem die Chance hat, eine solches Thema im Rahmen einer grenzüberschreitenden Forschungskooperation zu bearbeiten, profitiert nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch von verschiedenen Wissenschaftskulturen, die es in der Kombination erheblich erleichtern, die „Sicht des Anderen“ zu verstehen und nicht nur mit Blick auf die Geschichte, sondern auch auf die Zukunft allgemein gültige Schlüsse daraus zu ziehen. In dieser Studie wurden zunächst die Strukturen der französischen Vorstellungswelt zu Deutschland Anfang der 1930er Jahre herausgearbeitet. Auf diese Weise konnte man auf der einen Seite feststellen, welches Bild Brüning in Frankreich hinterließ, und auf der anderen Seite die Tragweite seiner politischen Irrtümer einschätzen. Um die Gesamtheit und die Komplexität der Probleme zu verstehen, welche die deutsch-französischen Beziehungen am Ende der Weimarer Republik belastetet haben, ist es unabdingbar, auch die enge Verknüpfung von Politik und kollektiver Vorstellungswelt zur Kenntnis zu nehmen. Die emotionale Wirkung Brünings auf die Franzosen war zweifellos als wichtiger Faktor für die Ausrichtung und die Gestaltung der französischen Deutschlandpolitik zu erkennen. Die Krise der Weimarer Republik und die gleichzeitige Schwächung Frankreichs haben für beide Länder eine belastende Situation geschaffen, die in dieser Form für die Deutschen wie auch für die Franzosen neu war. Diese Studie belegt somit auch den verminderten Spielraum der Politik in Zeiten, in denen seine Grenzen enger gezogen werden. Und sie verdeutlicht, wie tragisch die Folgen politischer Fehler und Fehlurteile für die Zukunft von Staaten sein können. Der Reichskanzler war mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen konfrontiert. Unter ungeheurem Druck von außen war er gezwungen, schnelle Lösungen zu finden, um die Ungeduld der Deutschen zu besänftigen wie auch die Gegner der Demokratie zu entwaffnen, die der Weimarer Republik den Krieg erklärt hatten. Dieser Zeitmangel trieb Brüning zweifellos zu unüberlegten Entscheidungen und zu einer zu provokanten Haltung gegenüber Frankreich. Nie war aber es sein Ziel, Hitler oder einem neuen Krieg den Weg zu bereiten. Die Franzosen, die sich in einem Strudel fortschreitenden Abschwungs befanden, verfingen sich trotzdem immer mehr im Netz der kollektiven Vorstellungswelt und ihrer Deutschlandbilder.

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Die „Sicht des Anderen“ als Gegenstand deutsch-französischer Forschung

Das deutsch-französische Beispiel Anfang der 1930er Jahre zeigt, wie sehr Bilder in Zeiten der Krise und politischer Orientierungslosigkeit an Kraft und an Einfluss auf die Politik gewinnen. Getrieben von der Sorge, Deutschland davon abzuhalten, Europa erneut zu bedrohen, erkannten die Franzosen nicht die wahren Zeichen der Zeit. Die Strukturen und die Funktionsweise der Vorstellungswelt haben maßgeblich zu einer Verzerrung ihrer Realitätswahrnehmung beigetragen. Die Folgen waren in diesem besonderen Fall besonders tragisch. Der Erforschung der französischen Bilder und Vorstellungswelten und ihres Einflusses auf die französische Deutschlandpolitik waren allerdings auch Grenzen gesetzt: So war es – mangels geeigneter Quellen − nicht möglich, den direkten Einfluss von separaten Elementen der kollektiven Vorstellungswelt auf eine konkrete und präzise politische Entscheidung nachzuweisen. Dafür konnte auf breiter Quellengrundlage der Zusammenhang zwischen der allgemeinen Vorstellungswelt und verschiedenen Konzeptionen in der französischen Deutschlandpolitik deutlich gemacht werden. So wurde das intellektuelle und politische Klima nachgezeichnet, in dem bestimmte Entscheidungen gegenüber Deutschland getroffen wurden, was es wiederum erlaubte solide Hypothesen zur Entstehung bestimmter Entscheidungen in der grundsätzlichen Ausrichtung der französischen Deutschlandpolitik aufzustellen. Die französische Deutschlandpolitik gegenüber Brüning kann so – trotz der genannten Grenzen dieser Arbeit – unter Berücksichtigung des mentalen Klimas besser eingeordnet werden. Für die Brüning-Forschung ist dies ein weiterer wichtiger Aspekt, der es erlaubt, dessen politische Handlungsspielräume zu erfassen. Für den Forschungsbereich der Bilder und Vorstellungswelten ist dieses Thema wiederum besonders von Interesse, weil es die Bedeutung von Bildern und Vorstellungswelten in Krisenzeiten internationaler Politik noch einmal deutlich macht. Und schließlich zeigt diese Studie durch die französische Auseinandersetzung mit der Krise der Weimarer Republik, die Krise und internationale Verunsicherung der französischen Gesellschaft Anfang der 1930er Jahre, die Frankreich nachhaltig geprägt hat. Diese Studie hat sich allein der französischen Seite gewidmet – genau so wichtig wäre es aber auch, die Vorstellungswelten Heinrich Brünings und der deutschen Gesellschaft unter die Lupe zu nehmen, um auch die Haltung des Reichskanzlers gegenüber Frankreich besser zu verstehen. Wie das Beispiel der vielen kulturellen Kontakte belegt, bestand ein gewisses Interesse an den Vorstellungen, welche die Nationen voneinander hatten. Allerdings mangelte es an einem tieferen Nachdenken über diese Bilder und die auf ihrer Grundlage betriebenen Politik. Die Vermischung von Politik und Vorstellungswelt war keineswegs eine französische Besonderheit: Sie spielte und spielt noch immer eine wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen. Keine Nation ist frei von den Bildern, die sie sich von den Anderen macht. Darüber hinaus wäre es auch interessant nachzuprüfen, ob sich die französische Wahrnehmung Heinrich Brünings nach 1945 noch einmal geändert hat. Man verstünde so vielleicht die Vergleiche besser, die in Frankreich zwischen der politischen Lage in der Weimarer Republik und den französischen Präsidentschafts-

Die „Sicht des Anderen“ als Gegenstand deutsch-französischer Forschung

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wahlen von 2002 gezogen wurden, als es dem damaligen Chef der rechtsextremistischen Partei Front National, Jean-Marie Le Pen, gelang, sich gegen den sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin durchzusetzen und im zweiten Wahlgang gegen Amtsinhaber Jacques Chirac anzutreten. Schließlich wäre es auch sinnvoll nachzuprüfen, ob man die in dieser Studie verwendeten theoretischen Modelle auch auf andere Vorstellungswelten und außenpolitische Entscheidungsfindungsprozesse des 20. Jahrhunderts anwenden könnte. Ohne Zweifel müsste die Methodik den Besonderheiten anderer Zeiten angepasst werden. Die grenzüberschreitende Forschungszusammenarbeit ist hier zweifellos von Nutzen. Im Fall der vorliegenden Arbeit konnte die gründliche Quellenarbeit, die in Deutschland zum Grundhandwerkszeug der Historiker zählt, gewinnbringend mit dem intensiven Nachdenken über methodische Ansätze, das die französische Geschichtswissenschaft prägt, zusammengefügt werden. Natürlich soll das nicht heißen, dass die Quellenauswertung in Frankreich oder die Methodik in Deutschland kein Bestandteil der jeweiligen nationalen Geschichtswissenschaft wären; dennoch werden in beiden Ländern die Akzente in der Regel unterschiedlich gesetzt. Für den Forschungsbereich der Bilder und Vorstellungswelten in internationalen Beziehungen ist es ein Vorteil, wenn nicht nur auf thematischer Ebene, sondern auch auf der Ebene des wissenschaftlichen Arbeitens die Bedingtheit nationaler Sichtweisen und Standpunkte stärker in das Bewusstsein der Geschichtswissenschaftler gerückt wird. Das historische Beispiel der französischen Wahrnehmung Heinrich Brünings zeigt auf eindrückliche Weise, wie die Stabilität internationaler Beziehungen durch eine Vielzahl von Einflüssen erschüttert werden konnten und können – auch wenn sich diese Einflüsse schwer erfassen lassen. Auch im heutigen europäischen Einigungsprozess sind es die nationalen Bilder und die „Sicht auf den Anderen“, die im Zweifelsfall den letzten Ausschlag geben, ob ein „in seiner Einheit vielfältiges Europa“ funktionieren wird oder nicht.1

1

Vgl. dazu auch Krapoth: France–Allemagne, S. 197.

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Centre des Archives Diplomatiques de Nantes (CADN) Ambassade de France à Berlin Série B, 1809-1939 120-123: Télégrammes 191,193: Dépêches politiques 249: Télégrammes d’arrivée 336: Correspondance des consulats de France en Allemagne avec l’ambassade 399-405: Questions financières allemandes 417: Situation économique de l’Allemagne 421-423, 425-426: Partis politiques, hommes politiques 458-462: Politique extérieure allemande 463-465: Echanges culturels franco-allemands 475-480: Politique Intérieure Allemande Série C, 1815-1939 149: Elections 176: Désarmement Ambassade de France à Berlin, Série en vrac Institut culturel français à Berlin 10-15: Correspondance diverse Consulat de France à Cologne 4: Les dossiers de correspondance etc. Consulat de France à Karlsruhe 2: Correspondance avec l’ambassade de France à Berlin 3: Correspondance avec le Ministère des Affaires étrangères Légation puis consulat général de France à Munich 56-58: Correspondance générale 78: Politique intérieure allemande 81: Ders. et situation politique en Bavière Fonds d’administration centrale Série des Œuvres françaises à l’étranger 145: Institut français de Cologne, relations culturelles avec l’Allemagne

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Archives de l’Office Universitaire de Recherche Socialiste (OURS), Paris Fonds André Blumel 1923-1939 14 APO: Dossier Léon Blum, 1929-1939. Fonds Roger Dehuz 1929-1954 37 APO 1: Correspondance avec Paul Faure Fonds René Hug 1929-1960 18 APO 1: Correspondance (arrivée et départ) de Paul Faure

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ABKÜRZUNGEN

AD:

Alliance Démocratique

AN:

Archives Nationales, Paris

BDIC:

Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine

BNF:

Bibliothèque Nationale de France (Bibliothèque François Mitterrand)

BRI:

Banque des Règlements Internationaux

BVP:

Bayerische Volkspartei

CADN:

Centre des Archives Diplomatiques de Nantes

CDU:

Christlich-Demokratische Union

CFTC:

Confédération Française des Travailleurs Chrétiens

CGT:

Confédération Générale du Travail

CV:

Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen

DAAD:

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DDP:

Deutsche Demokratische Partei

DNVP:

Deutschnationale Volkspartei

DVP:

Deutsche Volkspartei

FNSP:

Fondation Nationale des Sciences Politiques (Centre d’histoire de l’Europe du XXe siècle)

FR:

Fédération Républicaine

GWU:

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

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Literatur- und Quellenverzeichnis

HZ:

Historische Zeitschrift

IC:

Internationale Communiste

IFOP:

Institut Français de l’Opinion Publique

IfZ:

Institut für Zeitgeschichte

IHTP:

Institut d’Histoire du Temps Présent

LEG:

Ligue d’Etudes Germaniques

PCA/KPD:

Kommunistische Partei Deutschlands

PCF: Parti

Communiste Français

PDP: Parti

Démocrate Populaire

MAE:

Ministère des Affaires Etrangères

NSDAP:

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

OURS:

Office Universitaire de Recherche Socialiste

SA:

Sturmabteilung

SDN:

Société des Nations

SFIO:

Section française de l’Internationale Ouvrière (Parti socialiste)

SHAT:

Service historique de l’Armée de Terre

SIPDIC:

Secrétariat International des partis démocratiques d’inspiration chrétienne

SPD:

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS:

Schutzstaffel

URSS:

Union des républiques socialistes soviétiques

USPD:

Unabhängige Sozialistische Partei Deutschlands

VfZ:

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

B E I T R ÄG E Z U R KO M M U N I K AT I O N S G E S C H I C H T E

Herausgegeben von Bernd Sösemann. Die Bände 1–8 sind im Verlag Walter de Gruyter (Berlin) erschienen.

Franz Steiner Verlag

ISSN 1617–853x

9.

Bernd Sösemann (Hg.) Fritz Eberhard Rückblicke auf Biographie und Werk 2001. 517 S. mit 17 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07881-8 10. Ulrike Oppelt Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm 2002. 408 S. mit 2 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08029-3 11. Paul Irving Anderson Ehrgeiz und Trauer Fontanes offiziöse Agitation 1859 und ihre Wiederkehr in Unwiederbringlich 2002. 239 S., geb. ISBN 978-3-515-08127-6 12. Bernd Sösemann Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert 2002. 474 S., geb. ISBN 978-3-515-08129-0 13. Bernd Sösemann Öffentliche Kommunikation in Brandenburg-Preußen Eine Spezialbibliographie vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts 2002. 366 S., kt. ISBN 978-3-515-08172-6 14. Matthias Lau Pressepolitik als Chance Staatliche Öffentlichkeitsarbeit in den Ländern der Weimarer Republik 2003. 441 S., kt. ISBN 978-3-515-08071-2 15. Karl-Heinz Spieß (Hg.) Medien der Kommunikation im Mittelalter 2003. 323 S. mit 57 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08034-7 16. Sonja Schultheiß-Heinz Politik in der europäischen

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21.

22.

Publizistik Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts 2004. 357 S. mit 15 Graf., kt. ISBN 978-3-515-08028-6 Adelheid von Saldern Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten 2006. 393 S. mit 40 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08918-0 Hainer Michalske Die Gutenberg-Reichsausstellung 1940 Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Kulturpolitik 2007. 382 S. mit 30 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08756-8 Stefania Galassi Pressepolitik im Faschismus Das Verhältnis von Herrschaft und Presseordnung in Italien zwischen 1922 und 1940 562 S. mit 6 Farbgraf., kt. ISBN 978-3-515-08066-8 Christian Taaks Federführung für die Nation ohne Vorbehalt? Deutsche Medien in China während der Zeit des Nationalsozialismus 2009. 664 S., geb. ISBN 978-3-515-08739-1 Katja Roeckner Ausgestellte Arbeit Industriemuseen und ihr Umgang mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel 2009. 183 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09279-1 Margaret Lavinia Anderson Lehrjahre der Demokratie Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich 2009. 562 S. mit 12 Abb. und 4 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09031-5

23. Patrick Merziger Nationalsozialistische Satire und „Deutscher Humor“ Politische Bedeutung und Öffentlichkeit populärer Unterhaltung 1931–1945 2010. 407 S., kt. ISBN 978-3-515-09355-2 24. Bernd Sösemann Propaganda Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur 2011. 2 Bd., I–CLIV, 1638 S. mit 240 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09635-5

25. Simone Richter Joseph Goebbels – der Journalist Darstellung seines publizistischen Werdegangs 1923 bis 1933 2010. 564 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09682-9 26. Daniel Bellingradt Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700 Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches 2011. 548 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09810-6