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German Pages 233 [236] Year 1996
Rainer Sprengel Kritik der Geopolitik
Rainer Sprengel
Kritik der Geopolitik Ein deutscher Diskurs 1914-1944
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sprengel, Rainer: Kritik der Geopolitik : ein deutscher Diskurs ; 1914-1944 / Rainer Sprengel. - Berlin : Akad. Verl., 1996 Zugl.: Hannover, Univ., Diss., 1994 u. d. T.: Rainer Sprengel: Labyrinth der Erde, der Raum, das Meer und die deutsche Geopolitik ISBN 3-05-003012-7
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Konzepta GmbH, Prenzlau Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden am Forggensee Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
7
Einleitung
9
1. Kapitel Geopolitik: Chronologie eines Begriffs und Korrektur einer sich verirrenden Debatte
15
1. Aneignungsweisen der klassischen Geopolitik in Deutschland 2. Aneignungsweisen der klassischen Geopolitik im Westen 3. Eine notwendige Chronologie
16 24 26
2. Kapitel Zeitorientierte Asymmetrie von Raum und Zeit (Kant, Hegel, Marx) . . .
37
1. Geopolitik als raumorientierte Asymmetrie 2. Zeitorientierte Asymmetrie bei Kant 3. Zeitorientierte Asymmetrie bei Marx
37 38 48
3. Kapitel Nomos, Raumrevolution und ,Geohistoire'
51
1. Eine raumgeschichtliche Pespektive 2. Eine geohistorische Pespektive 3. ,Der Raum ist in der Welt'
51 58 63
4. Kapitel Ontologien des Landes und des Meeres zwischen Wilhelminismus und westlicher Demokratie
70
1. Mahan, Mackinder, Ratzel 2. Die politische Ontologie des Meeres: Aquatologie 3. Die politischen Ontologien des Landes: Terralogie(n) 4. Post-Columbian age
72 73 78 80
6
5. Kapitel Land und Meer im geopolitischen Diskurs
Inhalt
87
1. Universale vs. atlantisch-ozeanische Kultur 2. Pazifische vs. universale Kultur 3. Raumkultur, Zeitkultur
87 96 106
Exkurs zu einer Allegorie: Leviathan und Anakonda
112
1. Begriff, Bild und Diskurs 2. Kommentierung des Leviathan
112 115
7. Kapitel Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
133
1. Das Besondere der geopolitischen Organismusvorstellung 2. Vom geographischen Organismus zum Raumorganismus 3. Entgrenzung des .Staates als Organismus' 4. Mechanismus, Organismus
133 137 141 151
8. Kapitel Das ,Wesen der Geopolitik'
169
1. .Allerlei Verwirrung'statt Raumdeterminismus 2. Zur Dialektik von Geopolitik und Ethnopolitik
169 186
Anhang
195
1. Abkürzungsverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 3. Personenregister
195 195 230
Vorwort
Die vorliegende Abhandlung ist die aktualisierte und umgearbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 1994 unter dem Titel „Labyrinth der Erde, Der Raum, das Meer und die Deutsche Geopolitik" von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover angenommen wurde. Die Einleitung und die ersten beiden Kapitel wurden für die Publikation neu geschrieben, die übrigen Kapitel gekürzt. Ich hoffe so alles, was allein den Zwängen eines Promotionsverfahrens geschuldet war, aus dem Text beseitigt zu haben. Eines aber brauchte und sollte nicht geändert werden, nämlich der konkrete Ort und die Zeit, die den Entstehungskontext der Arbeit ausmachen. Konzeption und Argumentationsweise der Arbeit sowie die Umgangsweise mit dem Gegenstand sind nicht zu trennen von den Bildungsprozessen an den sozialwissenschaftlichen Seminaren in Hannover, an denen das schwierige Verhältnis von Parteilichkeit und Wahrheitsanspruch' (Peter Brückner) stets eine offene Wunde blieb. Zweierlei habe ich von diesem Ort mitgenommen: erstens eine Skepsis, die sich nicht so leicht überreden lassen will, daß wir jetzt strukturell in der besten aller möglichen Welten angekommen sein sollen; zweitens die Idee einer Kritik, die nicht möglichst schnell mit ihrem Gegenstand .fertig' werden will, um sich selbstzufrieden zurückzulehnen, sondern gerade das offen gebliebene am Gegenstand darstellen will, die ungelösten Fragen, das Nicht-Abgeschlossene. Jede Kritik wird so, partiell, immer auch eine Rechtfertigung des Kritisierten. Das erst macht sie wirklich beunruhigend und schmerzlich. Zeitlich gesehen ist diese Abhandlung eine Arbeit Post-1989. Die Grundthese über die Dialektik des Raum-Rasse-Diskurses, wie sie hier entwickelt wird, wurde Ende 1990 formuliert. Seitdem hatte ich, leider, keine Veranlassung, sie beiseite zu setzen, eher das Gegenteil. Obgleich selten explizit, ist diese Abhandlung, bewußt und unbewußt, eine permanente Auseinandersetzung mit den Folgen des Endes der Eisernen Landkarte in Europa, in der Konfrontation mit einem historischen Diskurs, der das Zusammenbrechen mehrerer Landkarten in Europa nicht nur begleitet, sondern teilweise auch forciert hat. Intellektuelle Tätigkeit ist eine wesentlich gesellschaftliche Arbeit, wenn sich auch manche ihrer Phasen schwer in Gesellschaft ausführen lassen. Willentliche und unwillentliche Anregungen, Hinweise und Kritiken, aber auch der materielle Kontext gehen in sie ein. Glücklicherweise geht das nicht so anonym vor sich, wie es sich anhört, was mir die angenehme Möglichkeit gibt, wenigstens einigen Menschen persönlich zu danken. Meinem Doktorvater, Prof. Oskar Negt, bin ich dafür verpflichtet, daß er mir ermöglichte, ein nicht unproblematisches Thema in Ruhe abzuhandeln. Prof. Reinhold R. Grimm danke
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Vorwort
ich für die Mühen, die er für eine Arbeit auf sich nahm, deren Zusammenhang zu seinem romanistischen Fachgebiet zunehmend lockerer wurde. Besonders verpflichtet fühle ich mich Prof. Irmgard Wilharm. Ohne ihre detaillierte Kritik und ohne ihren Zuspruch und ihr Engagement auch nach Ende der Promotion wäre dieses Buch weder in dieser Form, noch überhaupt erschienen. Für Ermutigung, aber auch für neue Hinweise, Einblicke und Anregungen nach Abschluß der Promotion danke ich besonders Prof. Peter Brokmeier (Hannover), Prof. Michel Korinman (Paris), PD Raimund Krämer (Potsdam), Prof. Yves Lacoste (Paris), Dr. Manfred Lauermann (Dresden/Bielefeldt), Thomas Lindemann (Paris), Dr. Peter Scherer (Frankfurt/Main) und Dr. Etienne Sur (Paris). Nicht missen möchte ich die Erfahrung deutlicher und offenherziger, immer in einem Fundus von Solidarität und Freundschaft gegründeter Kritik, die mir Carmen Gransee und Wolfram Stender gegeben haben. Eine angenehme Pflicht ist es für mich, der Konrad-Adenauer-Stiftung zu danken, die mir durch ein Stipendium erst die Abfassung der Abhandlung ermöglichte. In dankbarer Erinnerung werde ich immer die kontroversen Diskussionen in den begleitenden Seminaren der Stiftung bei Konrad K.S. Krieger behalten, dem damaligen Leiter der Graduiertenförderung. Aus diesen Diskussionen ist manches in die Arbeit eingeflossen. Gerne bedanke ich mich schließlich bei meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Niedersächsischen Landesbibliothek, besonders aus der Fachbereichsbibliothek Literatur- und Sprachwissenschaften, deren Duldsamkeit ich mehr als einmal strapaziert habe. Jeder Gedanke, jedes Argument, jeder Satz, ja jedes einzelne Wort dieses Buches mußte erst die Diskussion mit meiner Frau überstehen, um nicht als für zu leicht befunden im Papierkorb zu landen oder in irgendwelchen abgelegten Dateien auf das Ende der Festplatte und der Sicherungsdisketten zu warten. Viele Ideen, Argumente und Begriffe sind erst in diesen Diskussionen entstanden oder stammen schlicht und ergreifend von Dir, Anke. Es war nicht immer einfach mit mir zu diskutieren, zusätzlich zu Deiner wissenschaftlichen Arbeit und zu den Alltäglichkeiten und Widrigkeiten, die wir ja auch noch bewältigen mußten. Dennoch ist es Dir gelungen, daß wir viel mehr gute als schlechte Zeiten miteinander geteilt haben und hoffentlich noch so lange teilen werden, wie es , mittleren Wesen auf einem mittleren Planeten', wie es unser Kant sagt, vergönnt ist. Paris, im Mai 1996
Einleitung1
„In meiner Studienzeit las ich über der Tür eines Übungssaales in einem geographischen Universitätsinstitut statt eines schlichten Willkommensgrußes die seltsame Devise „Wissen ist Macht - geographisches Wissen ist Weltmacht". Es tut nicht viel zur Sache, wo dieser aufmunternde Gruß geschrieben stand, denn der Geist von dem er zeugt, war sehr weit verbreitet." A. Portmann, cit n. Mitscherlich 1947 2
Die .Deutsche Geopolitik' war eine der Erscheinungsformen, in denen sich der von Portmann evozierte Geist geäußert, und das hieß ja konkret: Europa verwüstet hatte. Zugleich war die .Deutsche Geopolitik' der erste geopolitische Diskurs überhaupt, der in einem strengen Sinne genommen existierte, d. h. der erste Diskurs, der sich explizit um den Begriff .Geopolitik' als einem gemeinsamen Referenzpunkt unterschiedlicher, widersprüchlicher Auffassungen und Analysen gruppierte. In diesem Sinne kann sie als die .klassische' Form der Geopolitik gelten - was natürlich nicht heißt: als die einzig mögliche oder gar nachahmenswerte. Folgt aus der ersten Festeilung ein prinzipielles historisches Interesse an der .Deutschen Geopolitik', insofern man den Weg vom Wilhelminischen Kaiserreich in die Hölle auf deutschem Boden begreifen will, so aus der zweiten eine besonders seit 1989 potentielle Aktualität, denn eine der unübersehbaren .geistigen' Begleiterscheinungen des Zerfalls des ehemaligen Ostblocks ist die massive Rückkehr des Wortes Geopolitik in die rhetorische Beschreibung der Welt durch Politiker und Journalisten, aber ebenso in die analysierende Aneignung des Politischen durch Wissenschaftler. Die Betonung liegt hier auf den Worten .unübersehbar' und .massiv', denn auch während des Kalten Krieges war dieses Wort nie verschwunden und hatte, insbesondere seit den 70er Jahren im Westen, eine in der Bundesrepublik lange ignorierte »Renaissance' (Yves Lacoste) erfahren. 1 Bei den Literaturhinweisen in den Fußnoten des laufenden Textes sind Unter- und Reihentitel nur dann angegeben, wenn sie im Hinblick auf die Thematik , Geopolitik' informativ sind, also z. B. erst im Untertitel der Begriff Geopolitik erscheint oder es sich um Reihen wie die BZfGp handelt. Die Angaben in der Literaturliste sind dann vollständig. Ein Kürzelverzeichnis findet sich vor der Literaturliste. 2 Cit. n., Alexander Mitscherlich, Mitscherlich antwortet, in: Göttinger Universitätszeitung, 2. Jg., 1947, Nr. 17/18, S. 6 - 7 .
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Einleitung
War vielleicht die Gründungserklärung der GUS-Staaten ein Menetekel für die jetzt angebrochene neue-alte Zeit, als dort festgestellt wurde, „(...) daß die UdSSR als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität zu existieren aufhört." 3 Ist nicht der Geist zurückgekehrt, von dem Portmann sprach, wenn Franjo Tudjman offenherzig seine gewünschte politische Landkarte preisgibt, indem er behauptet: „Man muß nicht Historiker sein, um zu erkennen, daß Bosnien eine geopolitische Einheit mit Kroatien bildet. Sie gehören zusammen." 4 ,Geopolitisches Tamtam' (Habermas) als Begleitmusik für gewaltsame Grenzrevisionen... Doch paßt in eine solche Überlegung wirklich auch eine Einlassung wie die von Jacques Delors, als er auf die Frage nach den Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik antwortet: „Ich bin bescheidener. Unsere Länder bringen unterschiedliche diplomatische Traditionen und andere geopolitische Positionen aus der Vergangenheit mit. Wir sollten deshalb dann auf gemeinsame außenpolitische Aktionen zielen, wenn wir das Gefühl haben, gleiche Interessen zu verfolgen." 5 Läßt sich das Arbeitsprogramm des 1991 an der Russischen Akademie der Wissenschaften gegründeten „Centre for Geopolitical Studies", wie es auf dem 49. Deutschen Geographentag vorgestellt wurde, allein auf die Rückkehr dieses Geistes reduzieren? 6 Wie passen hierzu die Ansätze, die expressis verbis beanspruchen, eine kritische Geopolitik zu verfolgen, also z. B. der Kreis um die Zeitschrift „Hérodote" in Frankreich (Lacoste u. a.) oder derjenige um die „Limes" in Italien/Frankreich (Caracciolo, Korinman u. a.)? Was ist von dem Votum aus dem Kreis um die „Geographische Zeitschrift" für eine .politische Geographie als kritische Geopolitik' (Sandner, Oßenbrügge 7 ) zu halten, der sich an angelsächsischen Arbeiten über .geopolitische Codes' und ,geopolitische Weltordnungen' (Dalby, O'Loughlin, van der Wuusten, P.J. Taylor8) orientiert oder auch von den verstreuten, sozialwissenschaftlichen Stimmen mit analogen Überlegungen in Deutschland (z. B. Leggewie, Scherer, der Autor9)? ,Diskursstrategischer Mißgriff', wie es in einer Analyse zur Geopolitik10 heißt, Ausdruck orientierungslos gewordener (Ex-)Linker", wie es ein anderer Autor formuliert, national-
3 dpa-Meldung, cit. nach, die tageszeitung, 10.12.1991, S.3. Wie bei Kjellén meint hier die Geopolitik einen anderen Staatsbegriff als den juristischen: dem Völkerrechtssubjekt UdSSR ist die .geopolitische Realität' beigeordnet. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Aufsatz von Olga Alexandrova, Geostrategische Neuordnung in der früheren UdSSR, in: Aussenpolitik, 43. Jg., 1992, S. 324-333. 4 Cit. nach, Martin Klingst, Der Fürst mit den großen Gesten, in: DIE ZEIT, 29.1.1993, S. 3. 5 ZEIT-Gespräch mit Jacques Delors, DIE ZEIT, 2.2.1996, S. 3. 6 Vgl., Olga Grittsai, Vladimir Kolossow, Die Renaissance geopolitischen Denkens in Rußland, in: GZ, 81. Jg., 1993, S. 256-265. 7 Vgl., z. B., Jürgen Oßenbrügge, Gerhard Sandner, Zum Status der Politischen Geographie in einer unübersichtlichen Welt, in: Geographische Rundschau, 46. Jg., 1994, S. 676-684. 8 Vgl. z. B., Peter J. Taylor, Geopolitische Weltordnungen, in: WeltTrends, Nr. 4, 1994, S. 25-37; The New Political Geography of Eastern Europe, hrsg. von John O'Loughlin, Herman van der Wüsten, London, New York 1993. 9 Vgl. z. B., Claus Leggewie, Space - not time?, Raumkämpfe und Souveränität, Skizzen zu einer „Geopolitik" multikultureller Gesellschaften, in: Transit, H. 7,1994, S. 27-2; Peter Scherer, Warum Geopolitik?, in: Berliner Debatte INITIAL, H. 3, 1995, S. 3-9; Rainer Sprengel, Geopolitik und Marxismus, in: Berliner Debatte INITIAL, H. 3,1995, S. 11-24. 10 Vgl., Alfred Schobert, Ronald Papke, Ab durch die Mitte, Der Mitteleuropa-Gedanke in der .Jungen Freiheit', in: Das Plagiat, hrsg. von Helmut Kellershon, Duisburg 1994, S. 297-322. 11 Rudolf Walther, Man braucht mehr Platz, in: DIE ZEIT, Nr. 30, 21.7.1995, S. 28.
Einleitung
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chauvinistisch, wie es Raffestin et al. nahelegen12? Muß nicht, wie ein weiterer Autor fordert, die politische Wissenschaft hier kämpferisch-wissenschaftlich Position gegen alle Geopolitik beziehen' 3 ? Kurz: ist eine kritische Geopolitik überhaupt möglich oder gibt es nur die Alternative zwischen einer Geopolitik als funktionaler Machtideologie und einer fundamentalen Zurückweisung der Geopolitik? Eine Beantwortung dieser Frage ist nicht das vordringliche Ziel der folgenden Anhandlung, auch wenn sie in folgenden Punkten als Beitrag zu solchen aktuellen Diskussionen gelesen werden kann: - viele akuelle Diskussionen leiden unter einer systematisch verengten Rekonstruktion des historischen, geopolitischen Diskurses in Deutschland zwischen 1915 und 1944, unter Stereotypen, deren politische Interessiertheiten unreflektiert bleiben und vor allem unter einer Art ,Haushoferitis', aus der Gespensterdiskussionen um das Für und Wider geopolitischer Ansätze resultieren. Diese Verengungen, Stereotype und Gespenster sollten nach Lektüre dieser Arbeit obsolet geworden sein, d. h. das Für und Wider sollte sich dann auf einem anderen argumentativen Niveau abspielen müssen; - in der Analyse der Widersprüche der klassischen Geopolitik, in der Analyse der widersprüchlichen Bilder und Begriffe, die die klassische deutsche Geopolitik prägten, wird gleichwohl eine fundierende Kohärenz erkennbar, eine Grammatik der Widersprüche, die als eine Grammatik derjenigen modernen Gewaltform interpretiert werden kann, die sich als ethno-räumliche Politik charakterisiert läßt. Hieran muß sich m.E. jede heutige Geopolitik messen lassen, d. h. an der Frage, ob sie bewußt oder unbewußt im Bann solcher Grammatik verbleibt oder diese zu destruieren sucht; - diese Grammatik des geopolitischen Diskurses wird in der folgenden Abhandlung in einen erweiterten Kontext resituiert, der dem Doppelcharakter der klassischen Geopolitik entspricht, sowohl ein moderner wie ein besonderer deutscher Diskurs gewesen zu sein - ,ce mot allemand', wie es der Zeitgenosse Braudel formulierte, um für sich selbst als Alternative den Begriff,géohistoire' zu prägen. In der Resituierung wird die klassische Geopolitik als fehlgeschlagene Aufklärung der Aufklärung bestimmt, zumindest in ihrer deutschen Tradition, an der Widersprüche dieser Tradition selbst erkennbar werden. Damit aber wird der spezielle geopolitische Diskurs zu einem Problem der Tradition politischer Philosophie, Theorie und Empirie überhaupt, wie ihrer besonderen deutschen Formen - wie die heutigen Diskussionen um ein Für und Wider geopolitischer Ansätze auch erst im Kontext der Grundlagen politischer Philosophie, Theorie und Empirie heutiger moderner Gesellschaften ihre angemessene Reflexionsebene finden. Für das zuletzt angesprochene allgemeine Problem steht das Begriffspaar Raum/Zeit, einem, so jüngst Pfetsch, der vier Grundprobleme politischer Theorie und Philosophie14. Ohne auf die Widersprüche zu rekurrieren, die diesem Begriffspaar zu eigen sind, kann die klassische deutsche Geopolitik mit ihrer Fülle an Wendungen wie .Gesetz der wachsenden Räume', ,Raumbewußtsein',,Lebensraum' usf. nicht adäquat thematisiert werden. Der rote Faden der 12 Claude Raffestin, Dario Lopreno,, Yvan Pasteur, Géopolitique et Histoire, Lausanne 1995. 13 Michael Buckmiller, Geopolitik, Eine Weltmachttheorie für „Jebildete", in: Berliner Debatte INITIAL, H. 4/5,1995, S. 209-217. 14 Vgl., Frank R. Pfetsch, Erkenntnis und Politik, Darmstadt 1995.
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Einleitung
folgenden Arbeit ist dieses Begriffspaar und dessen widerspüchliche politische Bedeutung in der (deutschen) Moderne, z. B. in Form der ,Zeit als Raum für die menschliche Entwicklung' im Marxismus. Tatsächlich ist in diesen scheinbar allgemeinen Begriffen eine partikular deutsche Besonderheit zugegen, die eindringlich im „Wörterbuch des Unmenschen" festgehalten wurde. Verfaßt mit dem Ziel, die deutsche Sprache von ihren unpräzisen, der totalitären Gewaltherrschaft zuarbeitenden Worten zu befreien, etwa dem Wort .Betreuung', wird auch ,Geopolitik' zum Thema - nicht aber als eigener Paragraph, sondern als Teil des Versuches, das Wort ,Raum' zu stigmatisieren15. Das Paar Raum/Zeit hat eine andere Einbettung in die Sprache als espace/temps im Französischen oder space/time im Englischen, d. h. aber, es gibt ein différentes sprachlich-epistemologisches Profil, welches zwar in exakten Wissenschaften durch kunstsprachliche Konventionen rückgängig gemacht werden kann, in allen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen aber und erst recht an den Schnittstellen von Wissenschaft und Gesellschaft bzw. Wissenschaft und Politik stets zirkulär in dieses sprachliche Vorverständnis eingebettet bleibt. Tradierungen durch das Erlernen einer besonderen ,Muttersprache' und Tradierungen durch Belehrungen in dieser, durchdringen sich hier. Bemerkbar werden sie z. B. dann, wenn auf einer Tagung Yves Lacoste deutschen Diskussionsbeiträgen vorwirft, daß er nicht begreife, warum in Deutschland ständig das Verhältnis von ,Raum' und .Politik' thematisiert werde und stattdessen auf einem Begriff wie .territoire' besteht; auffällig ist auch, daß viele angelsächsische Beiträge den Begriff .place' in den Mittelpunkt stellen. Was ist hier sprachlichen Strukturen und was besonderen historischen Traditionen geschuldet, etwa der nachhaltigen Bedeutung des Territorialen im politischen Frankreich (z. B. im Staatsbürgerschaftsrecht)? Diese Fragen werden in der folgenden Abhandlung keine explizite Antwort finden, da eine angemessene Behandlung eine vergleichende Analyse erfordert hätte, die bei weitem schon den materiellen Rahmen, der zur Verfügung stand, Überstiegen hätte. Die deutsche Geopolitik wird explizit als moderner Diskurs über Raum und Zeit analysiert, hier liegt der Hauptakzent. Man kann darin eine Reaktion auf einen Diskussionsstand sehen, der von vornherein die deutsche Geopolitik, besonders in Deutschland, nur noch als eine deutsche Besonderheit interpretieren kann und so das mögliche Allgemeine im partikular Nationalen nicht mehr in den Blick bekommt. Dennoch blieb in der konkreten Ausführung das Partikulare im Allgemeinen präsent, da die deutsche Geopolitik und ihr Umfeld in ein Verhältnis zu deutschsprachigen Aufklärungstraditionen gesetzt werden, zu Kant, Marx, Freud u. a. Die Destruktion einer verengten Rekonstruktion der klassischen deutschen Geopolitik, indem sie als ein vielfältiger und widersprüchlicher Diskurs analysiert wird; der Aufweis einer Grammatik in diesen Widersprüchen; die Resituierung in einen erweiterten, mit dem Begriffspaar Raum/Zeit charakterisierten Problemhorizont: das sind die Orientierungspunkte der folgenden Ausführungen. Diese Orientierungspunkte bedeuten in der Umsetzung die Analyse von Argumentationsweisen und von den Begriffen und Bilderwelten, die ihr Substrat bilden. Das bedeutet zugleich, daß Biographisches und Institutionenkunde im weiteren nur eine marginale Rolle spielen werden. Das 1. Kapitel stellt einen notwendigen Vorspann dar, in dem grobe Verirrungen, falsche Vorannahmen und groteske Verengungen, die in gängigen Rekonstruktionen der klassischen 15 Vgl. die entsprechenden Artikel in: Die Wandlung, Hrsg. Dolf Sternberger, unter Mitwirkung von Karl Jasper, Werner Krauss und Alfred Weber, 1. Jg., 1945/46 und ff.
Einleitung
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deutschen Geopolitik begegnen, beiseite gesetzt werden. Dazu wird eine Chronologie des Begriffs Geopolitik und seiner Rezeption besonders in Deutschland gegeben, sowie die auffälligsten Argumentationstopoi kritisiert, die eine rationale Debatte behindern. Im 2. Kapitel wird dann der allgemeine Problemhorizont aufgespannt, das Verhältnis von Raum und Zeit, von der aus die deutsche Geopolitik zu behandeln ist. Es wird dort die These entfaltet, daß es eine politisch wirksame, moderne Metaphysik gibt, die sich als .Asymmetrie von Raum und Zeit' beschreiben läßt. Asymmetrisch ist sie in einem konkreten hierarchischen Sinne, nämlich daß die Zeit das eigentlich wichtige sei, hier der Ort der persönlichen Entfaltung, der gesellschaftlichen Entwicklung, des Fortschritts zur Freiheit sei, kurz: all dessen, was den modernen homo sapiens sapiens vom Tier trenne und seine Würde ausmache während der Raum bloße Bedingung, äußere Natur wäre, aus dem für das besondere Menschliche am Menschen nichts abzuleiten sei. Das Räumliche repräsentiert das Tote, das Starre, die Zeit das eigentliche Lebendige, die Dynamik, so hatte Foucault dieses Phänomen beschrieben. Wer in der Moderne als Aufklärer erscheinen will, braucht lediglich diese Asymmetrie mit ihrer hierarchischen Höherwertung der Zeit zu mobilisieren - wie ein Gegner dieser Aufklärungstradition lediglich die Vorzeichen austauschen muß. Die klassische deutsche Geopolitik wird so von vornherein als eine der Formen erkennbar werden, die diese Asymmetrie bestreitet, indem sie den Raum zum Angelpunkt ihrer Analysen nimmt - und im weiteren Verlaufe der Arbeit wird sich zeigen, wie sehr sie doch in ihrem Bann blieb. Im 3. und 4.Kapitel geht es vergleichend um Ansätze, die mit der deutschen Geopolitik verwandt sind, sich aber selbst nicht explizit als geopolitisch begriffen oder bezeichneten. Gemeinsam ist ihnen, daß dem ,(Geo)Räumlichen' eine besondere erklärende Funktion für historische und politische Vorgänge gegeben wurde, insbesondere wird es um Carl Schmitt, Fernand Braudel, Halford J. Mackinder, A. T. Mahan und Friedrich Ratzel gehen. Dabei handelt es sich um Ansätze, die in heutigen Diskussionen um Geopolitik, Geostrategie, Politik und Raum, Raum und Geschichte typischerweise als Referenzpunkte begegnen. Als Referenzpunkte sind sie zumeist Teil von Legitimierungs- wie Kritikstrategien mit einem gewissen Hang zu Stereotypisierungen. Solche Strategien lassen sich formelhaft beschreiben: lieber ,géohistoire' statt Geopolitik (ironische Empfehlung von Wehler im ,Historikerstreit'); Idee der Geopolitik plus géohistoire gleich géopolitique (eine gängige Argumentation bei Lacoste); Rehabilitation klassischer Geopolitik plus Carl Schmitt gleich ,Neue demokratische Rechte', bzw., als kritische Wendung dieser Gleichung, gleich extremistische Rechte; Mackinder/Mahan statt deutsche Geopolitik gleich gute, demokratische Geopolitiktradition (so besonders im angelsächsischen Raum). Vor diesem Hintergrund werden im 3. und 4. Kapitel die Grundargumentationen rekonstruiert, die sich bei Schmitt, Braudel usf. auf den hier infrage stehenden Kontext beziehen. Dieser Kontext stellt sich in Form von drei zentralen Themen dar, die in den weiteren Kapiteln zur klassischen deutschen Geopolitik in den Mittelpunkt rücken: die Analyse der politischen Welt in der Metaphorik des Gegensatzes von Land und Meer; die Auffassung vom Staat bzw. von der politischen Welt als organischer Totalität; das begriffliche Verhältnis von Raum und Politik. Dadurch wird einerseits erkennbar, um welche Aspekte es in einer Akzentuierung des .Räumlichen' gehen kann, andererseits einer isolierenden Analyse der klassischen Geopolitik vorgebeugt. Die klassische deutsche Geopolitik wird in den Kapiteln 5-7 auf drei Ebenen bei der Entfaltung ihres Diskurses verfolgt. Im 5. Kapitel wird die Bilderwelt des Land-Meer-Gegensatzes als geopolitische Interpretationsmatrix analysiert, wobei hier insbesondere die Ergebnisse des 4. Kapitels Eingang
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Einleitung
finden. Ergänzt wird dieses Kapitel durch einen Exkurs zum ,Leviathan' Carl Schmitts, in welchem sowohl die hegelianischen Traditionslinien dieser Bilderwelt aufgezeigt, als auch das Spiel mit dieser Land-Meer-Bilderwelt in Traditionen kritischer Theorie berücksichtigt werden. Dieser Exkurs bildet, zusammen mit den Kapiteln 4 und 5 einen thematischen Schwerpunkt der ganzen Abhandlung. Zugleich bereitet der Exkurs die Analysen zum klassisch-geopolitischen Staatsverständnis und zu den materialen Implikationen eines scheinbar abstrakten politischen Raumbegriffs vor - bei ersterem geht es um die Emanzipation der politischen Welt vom (National)Staat (Stichwort,Großraumordnung' bei Schmitt), bei letzterem um das Verhältnis von Geo- und Ethnopolitik, wobei sich hier an Schmitt zeigen läßt, wie der Begriff des Raumes selbst eine politische Theorie des Antisemitismus sein kann. Im 6. Kapitel wird die widersprüchliche Fassung des klassisch-geopolitischen Staatsdiskurses untersucht. Dieser Widerspruch läßt sich durch zwei Pole charakterisieren: einerseits ein scheinbar strikt (biologisch)organischer Staatsbegriff, andererseits ein faktischer Diskurs, in dem der Staat als zentrale Bezugsgröße des Politischen verschwindet. Im 7. Kapitel schließlich geht es, anhand der Selbstverständnisdiskussionen der klassischen Geopolitik (Streit um den wissenschaftlichen Status der Geopolitik, um Grundbegriffe usf.), um das Verhältnis von Raum- und Rassediskurs, von Geo- und Ethnopolitik. Mithilfe der These von einer modernmetaphysischen , Asymmetrie von Raum und Zeit' läßt sich die Widersprüchlichkeit der Selbstverständnisdiskussionen auf Widersprüche zurückführen, die entstehen, wenn diese Asymmetrie lediglich umgekehrt wird zugunsten eines raumakzentuierten Diskurses, anstatt diese Asymmetrie als Asymmetrie zu überwinden. Aus dieser Perspektive läßt sich das Verhältnis von Raum- und Rassediskurs als doppeldeutig erkennen, denn einerseits gibt es eine Ebene der wechselseitigen Ergänzung und Verstärkung (im Sinne einer ihnen gemeinsamen metaphysischen Naturalisierung des Politischen), andererseits aber eine darunter liegende Ebene des wechselseitigen Ausschlusses, da die ,Rasse' den hierarchischen Ort der ,Zeit' besetzt und so die Asymmetrie von ,Raum und Zeit' (zugunsten der Zeit) wiederkehrt als Asymmetrie von Raum und Rasse (zugunsten der ,Rasse'). Dadurch wird erkennbar, daß es bei der Diskussion, ob die klassische deutsche Geopolitik systematisch vor allem dem Nationalsozialismus zugearbeitet, oder aber ,von ihrem Ansatz her eigentlich' in Dissens zu den nationalsozialistischen Aspirationen gestanden habe, nicht um einander ausschließende Thesen geht, denn jenseits aller Intentionen einzelner damaliger Autoren, jenseits aller biographischen Selbsttäuschungen und Motive, bestimmen beide Thesen etwas richtiges. Da aber beide Thesen richtiges formulieren, folgt daraus, daß eine Reproduktion dieser Art von Diskurs, mit den Bestimmungen, wie sie im Verlaufe der Arbeit und dann zugespitzt im letzten Kapitel eingesammelt werden, die massive Rückkehr eines .Geistes' befördert, der vernünftigerweise nicht gewollt werden kann. Auch hier liegt die Betonung auf,massiv', denn abwesend war er seit 1945 nie, lediglich leidlich verdeckt unter dem ideologischen Gerümpel des Kalten Krieges. Muß man heute noch wirklich betonen, wie sehr, auch in Europa, dieser Prozeß imgange ist? Dennoch kann es hier nicht um ein voluntaristisches ,Wehret-den-Anfängen' gehen, denn das wirklich Beunruhigende, was mir aus der folgenden Abhandlung zu folgen scheint, ist, daß dieser ,Geist' nicht getrennt werden kann von den Widersprüchen einer die Moderne nach wie vor durchziehenden und fundierenden Metaphysik, dessen Korrelat er bleibt. Wehret den Anfängen hieße also konsequent: destruiert diesen .Ursprung'.
1. KAPITEL
Geopolitik: Chronologie eines Begriffs und Korrektur einer sich verirrenden Debatte
Bevor ich eine kurze, problemorientierte Chronologie des knapp hundert Jahre alten Begriffs Geopolitik (1899-1996) gebe, sollen die Wege und Irrwege der Debatte über die Geschichte der deutschen Geopolitik rekonstruiert werden, denn erst dann wird die mitunter erstaunlich weitreichende Bedeutung mancher Datierung präsent sein. Drei Ebenen lassen sich bei den Debatten über die klassische deutsche Geopolitik unterscheiden. Erstens gibt es eine funktionale, zweitens eine sachliche, drittens eine nationale Ebene. Die funktionale Ebene besteht darin, daß die Art der Fragestellung, mit der an die Geschichte der klassischen Geopolitik herangetreten und das Bild, das von ihr gezeichnet wird, nachhaltig von dem Ziel her determiniert wird, für das ein Eingehen auf diese Geschichte als Argument dienen soll. Manchmal sind solche Ziele komplex strukturiert, z. B. in Form einer disziplingeschichtlichen Fragestellung, um die Grundlagen und Begriffe des eigenen Faches in Auseinandersetzung mit der klassischen Geopolitik zu reflektieren. Häufig aber handelt es sich um interessegeleitete Argumentationsziele, mit der Konsequenz einer entsprechend reduktiven, eindimensionalen Rekonstruktion. Die sachliche Ebene hat besondere Charakteristika. Auffällig ist zunächst, wie leicht es fällt, schlicht Fehler zu publizieren (Ausdruck eines nach wie vor noch nicht konsolidierten Forschungsstandes). Gravierender ist jedoch eine eingeschliffene Strukturierung der Sachebene, die von ihrer Struktur her hyperreduktiv ist und die Grundprobleme und die vielfältigen Dimensionen der Geschichte der deutschen Geopolitik durch Stereotype ersetzt, deren interessegeleiteter Ursprung unreflektiert bleibt. Die funktional-sachlichen Ebenen werden zudem überlagert durch eine besondere Form unterschiedlicher nationalgeschichtlicher Betroffenheit. Ich meine hier ein Problem, das über den Normalzustand der Geistes- und Sozialwissenschaften hinausgeht, im Spannungsfeld von universalen Ansprüchen und empirisch-nationalen Besonderheiten auch im Wissenschaftsbereich zu arbeiten, wobei bei letzterem Aspekte der Fremdsprachkompetenz, der differenten Organisationsweisen und der Reproduktion des Wissenschaftsbetriebes, unterschiedlicher Vorfragen, wie sie aus gesellschaftlichen Beonderheiten folgen usw. eine Rolle spielen - was in Frankreich oder den USA als wissenschaftlich seriöser und akzeptierter Ansatz etwa in der Geschichtswissenschaft gilt, kann in Deutschland mit dem Hinweis kommentiert werden, daß es in der deutschen scientific Community ins intellektuelle und berufliche Aus führt, über dieses generelle Ist-Phänomen kommt der Geschichte der deutschen Geopolitik eine zusätzlich
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Geopolitik
.nationale' Bedeutung zu, weil sie, wie eingangs schon entwickelt, nicht von dem dunkelsten' Kapitel deutscher Geschichte getrennt werden kann, ja gerade in diesem Kontext teilweise als genuin .deutscher' Begriff wahrgenommen wurde. Dieser nicht zuletzt politische und ethische Kontext hat in Deutschland eine besondere Form und Intensität, weil hier die ,eigene' Geschichte den Referenzrahmen abgibt. Dieser Kontext erzeugt besondere Argumentationsweisen zur Geopolitik und ihre Funktionalisierung für ,Tabubrüche', die so außerhalb Deutschlands keinen Sinn machen. Über diese drei Ebenen der Aneignungsweisen der klassischen Geopolitik: die funktionale, die sachliche und die nationale, sowie ihre wechselseitige Verschränkung möchte ich im folgendem orientieren. Natürlich kann es dabei nur um Grundmuster und Argumentationsstrukturen gehen, nicht um alle möglichen Details. Ausgehen werde ich vom nationalen Kontext und dabei von den Diskussionen in Deutschland, sofern die Geschichte der klassischen Geopolitik dabei eine Rolle spielt.
1. Aneignungsweisen der klassischen Geopolitik in Deutschland Aktuell lassen sich in Deutschland zwei Grundmuster feststellen, die im Ergebnis darauf hinauslaufen, geopolitische Ansätze nicht prinzipiell zurückzuweisen. Unterscheiden kann man sie nach ihrer Orientierung auf différente Diskursgemeinschaften, d. h. es läßt sich eine präferentiell angelsächsisch-romanische und eine pseudowestlich-teutonische Orientierung konstatieren.1 Die pseudowestlich-teutonische Richtung, wie sie sich in der „Jungen Freiheit", in Sammelbänden wie , Westbindung' oder in Monographien bei Heinz Brill und Frank Ebeling ausspricht2, weist mehrere Spezifika auf. Zunächst einmal begegnet der Hinweis auf die heutige Existenz geopolitischer Schulen gerade im westlichen Ausland, wobei Yves Lacoste eine besondere Chance hat, gleichsam als französischer Fachgeopolitiker namhaft gemacht zu werden, ein Phänomen, das sich vor allem dem Umstand verdanken dürfte, daß von ihm eine Aufsatzsammlung in deutscher Übersetzung und in einem kritischen Verlagsprogramm vorliegt3. Tatsächlich nämlich haben solche Verweise keine inhaltliche Konsequenz, d. h. es werden in keiner Weise irgendwelche Begriffstrategien oder Grundthesen darüber, was und wie Geopolitik aussehen kann und wie nicht, übernommen 4 . Wegen dieser inhaltlichen Folgenlosigkeit nenne ich diese Richtung pseudowestlich. 1 Vgl. zum folg. auch: Etienne Sur, La référencé à la .Geopolitik', ou la tentation du déterminisme spatial, in: Matériaux pour l'histoire de notre temps (BDIC), Nr. 37-38,1995, S. 31-37. 2 Vgl., Westbindung, hrsg. von Rainer Zitelmann, Karlheinz Weißmann, Michael Großheim, Frankfurt am Main, Berlin 1993; Heinz Brill, Geopolitik heute, Deutschlands Chance?, Frankfurt am Main, Berlin 1994; Frank Ebeling, Geopolitik, Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919-1945, Berlin 1994. 3 Vgl., Yves Lacoste, Geographie und politisches Handeln, Perspektiven einer neuen Geopolitik, mit einem Vorwort von Mechthild Rössler, dt. Üb., Berlin 1990. 4 Heinz Brill, Geopolitik heute, a. a. O. z. B. behauptet, sich an Lacostes Definition der Geopolitik als „Rivalität um Macht und Territorium" (ebd., S. 21) zu orientieren (gemeint soll wohl Lacostes Definition der Geopolitik als Analyse der „rivalités des pouvoirs sur des territoires" sein). Gleichzeitig und vor allem orientiert sich Brill an der im .deutschsprachigen Raum gängigen Definition' der Geopolitik „als die Lehre vom Einfluß des geographischen Raumes auf die Politik eines Staates"
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Die Feststellung, daß dort im Westen irgendwie Geopolitik betrieben wird, hat rein argumentationstaktische Gründe. Sie stellt ein Echo auf den sogenannten Historikerstreit Mitte der 80er Jahre dar, in dem Habermas und Wehler,Geopolitik' und , Westbindung' als Gegensatz setzten, wobei für sie inhaltlich ,Geopolitik' vor allem ein anderes Wort für ,Mittellagenpalaver' war5. Wehlers damaliges Ansinnen an Historikerkollegen, sich ausdrücklich von der ,alten Geopolitik' zu .distanzieren' 6 - das Ansinnen, sich zu distanzieren, war ja kaum 10 Jahre zuvor in der Hochphase des RAF-Terrorismus an alle ,linken' Intellektuellen gerichtet worden - dokumentiert die Überzeugung, daß die Identifizierung eines Ansatzes als ,geopolitisch' stigmatisierend ist. Noch auf dem Historikertag 1992 in Hannover konnte man einer Sektion zur ,Europapolitik im 3. Reich' beiwohnen, in der gleich zu Beginn jede Thematisierung der Geopolitik ausgeschlossen wurde.7 Das pseudowestlich-teutonische Echo hat als erste taktische Ebene die einfache Überlegung: wenn im Westen Geopolitik betrieben wird, kann doch die Habermas-Gleichung ,Geopolitik' gleich ,antiwestlich' nicht richtig sein - wobei nebenbei ein weiteres Dokument für die linke Hegemonie gefunden scheint, die in der BRD bis 1989 geherrscht haben soll. Durchgestrichen wird dabei allerdings die Differenz zwischen heutigen geopolitischen Ansätzen und,alter Geopolitik'. Das ist kein Zufall, denn der Hauptaufwand in solchen Texten besteht darin, insbesondere Karl Haushofer, der als Inkarnation der deutschen Geopolitik begriffen wird, zu rehabilitieren, d. h. darzustellen, wo seine .Voraussagen' und Einschätzungen richtig gewesen seien, und wie groß doch der Abstand zwischen ihm und dem 3. Reich gewesen sein soll 8 . Das geht einher mit entsprechenden Wiederaufnahmen von Carl Schmitt. Auch hier können .westliche' Interpretationen als Legitimation dienen. Walsh schrieb zum Beispiel 1946: „Unglücklicherweise wurde der rein geographische Gehalt dieser falschen Geopolitik ergänzt durch die gleichgerichtete Rationalisierung auf dem Gebiet des Rechts und
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(ebd., S. 21), wobei er die Geopolitik im weiteren noch völlig auf die Außenpolitik einschränkt - beides zusammen ist das völlige Gegenteil von Lacoste. Tatsächlich taucht auch nirgends mehr ein Bezug auf Lacoste auf. Vgl. ausführlicher meine Rezension in: WeltTrends, Nr. 6, 1995, S. 171-174. Für das analoge Verfahren in der Jungen Freiheit' siehe: Alfred Schobert, Ronald Papke, Ab durch die Mitte, a. a. O..S. 313ff. Vgl., Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, in: „Historikerstreit", Texte von Rudolf Augstein u. a., München, Zürich 61988, S. 62-76, ebd., S. 75, das .geopolitische Tamtam; HansUlrich Wehler, Sonderweg aus der „Sonderlage"?, Die Wiederentdeckung der „deutschen Mittellage" in Wissenschaft und Publizistik, in: Streitfall deutsche Geschichte, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Essen 1988, S. 87-99. Ebd., S. 89, schreibt Wehler: „Nicht verständlich ist es dagegen, daß keiner der Autoren es für nötig hält, sich von dieser älteren Geopolitik mit allem Nachdruck explizit zu distanzieren, bevor der Inhalt der wiederaufgenommenen Begriffe vielleicht neu definiert, die eigene Begriffsbestimmung gerechtfertigt wird." Es handelte sich um die Sektion 25/07, „Das moderne Europa des Nationalsozialismus, archaische und moderne Tendenzen in der nationalsozialistischen Europapolitik." Die Funktionalisierung westlicher Autoren führt dann auch zu typisch interessegeleiteten, selektiven Wahrnehmungen. Ebeling behauptet z. B., daß die Einschätzung der Geopolitik als nationalsozialistische Legitimationswissenschaft, „von den Amerikanern bereits 1945 revidiert worden" sei und verweist dann darauf, daß Karl Haushofer, ,nach eingehender Untersuchung' nicht als Hauptkriegsverbrecher angeklagt worden sei. Als Beleg für seine Interpretation fuhrt er Edmund A. Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland, Frankfurt am Main 1946, an. Gerade Walsh aber, der die Untersuchung gegen Haushofer führte, weist ausdrücklich darauf hin, daß die Einstellung
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der Rechtswissenschaft. (...) Rechtmäßigkeit wurde zum geographischen Begriff und schlimmer noch, wir erlebten, wie das Zerrbild der Rechtswissenschaft durch Karl Schmitt von der Universität Berlin volkstümlich gemacht wurde."9 Ziel in der teutonischen Richtung ist die Wiederaufnahme bestimmter deutscher Traditionen in der Analyse der politischen Welt. Lacostes Wendung von der .Renaissance der Geopolitik' wird in den Versuch zur Fortsetzung der alten deutschen Geopolitik uminterpretiert. Auf diesem Wege soll garantiert werden, jetzt wieder die deutschen Interessen erkennen zu können, indem auf genuin-deutsche Ansätze zurückgegangen wird. Deshalb nenne ich diese Richtung .teutonisch'. 10 Diese teutonische Haupttendenz schließt zwei Funktionalisierungen der klassischen deutschen Geopolitik mit ein. Das positive Insistieren auf der alten deutschen Geopolitik kann sich als provokatives Durchbrechen von Tabus gerieren, das sich deshalb schon als ,neuer', jugendlicher, zeitgemäßer Geist versteht - auch darum kann der Bezug auf westliche Geopolitiken nicht mehr als substanzlose Hülle sein. Gleichzeitig wird ein revidiertes Geschichtsbild praktiziert, das in actu so tut, als ob der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung die Rückkehr Deutschlands zu einer Normalität bedeute, deren Referenzrahmen ein Anschluß an die deutsche Geschichte bis 1945 als entsprechend .normal' und ein Ausschluß der Geschichten der beiden deutschen Staaten bis 1989 als ,Sonderweg' ist. Anders gesagt lautet die Botschaft dieser Art des Rückgriffs auf die klassische Geopolitik: das politische Denken in Deutschland bis 1945 ist heute aktueller und zeitgemäßer als dasjenige in der Zeit von 1945-1989." Von der pseudowestlich-teutonischen Richtung der Geopolitik kann die romanisch-angelsächsische Richtung in Deutschland unterschieden werden. Ich nenne sie so, weil ihre Orientierung an westlichen Ansätzen der Geopolitik eine inhaltlich zentrale Bedeutung hat des Verfahrens kein Freispruch sei, sondern in Rücksicht auf das hohe Alter K. Haushofers und darauf geschehen sei, daß nicht der leiseste Eindruck einer Siegerjustiz entstehen soll, die juristisch beurteilt, was allein Sache wissenschaftlicher Be- bzw. Verurteilung sein kann. Amerikanische Verfassungs- und Rechtsprinzipien wurden hier angewandt, nicht mehr, nicht weniger. Vgl., Frank Ebeling, Geopolitik, a. a. O., S. 19. 9 Edmund A. Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland, a. a. O., S. 12-13. Walsh ist hier sehr genau in seiner Formulierung, denn tatsächlich liefen der geopolitische Diskurs und derjenige von Schmitt parallel nebeneinander her, mit ganz seltenen Berührungspunkten, wenn nicht heftiger Kritik wie bei Grabowsky. Erst in der ZfGp der 50er Jahre wird Schmitt zu einem häufigen Bezugspunkt. Schmitt und Karl Jaspers aufgreifend, versuchte z. B. Ernst van Loen die Begründung einer „Neuen Geopolitik", über die er schrieb: „Damit steht Geopolitik (...) in definitivem Gegensatz zu allen hegemonialen und imperialen Theorien der Macht. Geopolitik ist existentieller Antimaterialismus, im Atomzeitalter konstruktiver Antinihilismus und revolutionärer Humanismus." Ders., Geopolitik oder Imperialismus?, Vom planetarischen Machtdenken zum raumgesetzlichen Ordnungsdenken, in: ZfGp, 27. Jg., 1956, H. 2, S. 19-24, ebd., S. 24. 10 Karlheinz Weissmann schreibt z. B. über das , Verdammungsurteil' gegen .politisches Raumdenken' (Geopolitik, Carl Schmitt): „Die Folge des Verdammungsurteils war eine Unterbrechung der Denktradition, die mit der .politischen Geographie' Ratzels Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland ihren Anfang genommen hatte: die Darstellung der Zusammenhänge von historischen, politischen und geographischen Faktoren." Ders., Vom Raum und seiner Bedeutung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1991. Es wurde unterbrochen', was .gerade' in Deutschland begann: schöner kann man nicht ausdrücken, daß es gerade um eine Revision dieser Unterbrechung geht. 11 Vgl., Westbindung, a. a. O.
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und sie zugleich eine nachhaltige Distanz zur klassischen deutschen Geopolitik herstellt, die sich nicht zuletzt auf eingehenden Studien zu dieser gründet. Charakteristisch ist des weiteren, daß sie eher auf eine .kritische Geopolitik' als auf eine Geopolitik an und für sich abzielt. Auch hier ist ohne Zweifel ein Echo auf den Historikerstreit zugegen, wenn auch in einem anderen Sinn, nämlich demjenigen, daß die dortige Schärfe der Polemiken durchaus in sachlichen Problemen gründete, die alles andere als leichtfertig abgetan werden können. Texte aus der angelsächsischen-romanischen Richtung hinterlassen deshalb auch nicht den Eindruck jener teutonischen Begeisterung, jetzt wieder von Geopolitik reden zu können. Es herrscht eher die Auffassung vor, daß es in den internationalen geopolitischen Diskussionen anschlußfähige Ansätze gibt, mit denen Desiderate in der Thematisierung des Verhältnisses von politischen Machtstrategien und Territorialität rational thematisiert werden können - und daß diese durchaus seit 1989 eine neue Virulenz, zumindest aber Offensichtlichkeit gewonnen haben. In der romanisch-angelsächsischen Richtung lassen sich allerdings noch Binnendifferenzierungen erkennen, die insbesondere mit dem wissenschaftlich-disziplinären Zusammenhang zu tun haben, aus dem die Autoren kommen. Das ist kein Zufall, sondern selbst Resultat der Geschichte der klassischen deutschen Geopolitik und der Kritik nach 1945. Eine besondere Argumentationsform haben die Beiträge von Geographen. Diese ist Ausdruck eines spezifischen Legitimationsproblems im Rahmen der deutschsprachigen Geographie, das auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurückführt. Carl Troll hatte 1947 in der von ihm neugegründeten Zeitschrift „Erdkunde" einen großen Aufsatz publiziert, der die deutschsprachige Geographie vom Vorwurf einer Kooperation mit dem NS-Regime freisprechen sollte, gerade auch in den Augen der internationalen scientific community 12 . Trolls Aufsatz, dessen Argumentation später von Peter Schöller in der ,Erdkunde' fortgeführt und ergänzt wurde, ist von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die Perzeption der klassischen deutschen Geopolitik13. Die Troll-Schöller-Linie hat, weit über die deutschsprachige Geographie hinaus, eine Reihe von Schlagworten kanonisiert (wenn auch nicht immer selbst erfunden), die standardmäßig in Diskussionen über die klassische Geopolitik begegnen:,Geopolitik als Tragödie der Familie Haushofer' .pseudowissenschaftliche Geopolitik' oder .Geopolitik als Irrweg'. Trolls Hauptstrategie beruhte auf der These, daß Wissenschaftlichkeit und Nationalsozialismus einen Gegensatz darstellten, d. h. je wissenschaftlicher desto weniger nationalsozialistisch. Von der Richtigkeit dieser These ausgehend, verfolgte er als Argumentationsstrategie die Unterscheidung zwischen der deutschen Geographie, die bis 1945 stets wissenschaftlich geblieben sei, und der .pseudowissenschaftlichen Geopolitik', deren Wirken im Ausland fälschlich mit der deutschen Fachgeographie identifiziert werde. Eine zweifelhafte Behauptung, bedenkt man etwa die 1933 entwickelte Kritik von Adolf Grabowsky, dem damaligen Repräsentanten einer politikwissenschaftlichen Geopolitik, daß es gerade der großen Teilnahme von Geographen am geopolitischen Diskurs geschuldet sei, wenn die 12 Vgl., Carl Troll, Die geographische Wissenschaft in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945, in: Erdkunde, 1. Jg., 1947, S. 3-18. 13 Vgl. z. B., Peter Schöller, Wege und Irrwege der politischen Geographie und Geopolitik, in: Erdkunde, 11. Bd., 1957, S. 1-20; Ders., Das Ende einer politischen Geographie ohne sozialgeographische Bindung, in: ebd., 12. Bd., 1958, S. 313-316; Ders., Die Geopolitik im Weltbild des Historischen Materialismus, in: ebd., 13. Bd., 1959, S. 88-98.
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Vorsilbe ,Geo' viel zu groß geschrieben und das Politische so dilettantisch abgehandelt werde, daß das Abdriften ins nationalsozialistische Fahrwasser keine Überraschung sei.14 Tatsächlich handelt es sich bei Trolls Argumentation vor allem um eine erprobte Standardlegitimation, die wenig mit den Besonderheiten des Nationalsozialismus zu tun hat und deren Wirksamkeit Yves Lacoste aufgezeigt hat: seit der Etablierung einer akademischen Geographie folgt immer dann, wenn die Verwicklung von (akademischen) Geographen in machtpolitische Konflikte, wie beim Zeichnen der Landkarten des Versailler Vertrages, eine besondere Intensität erreicht hatte, der Rückzug auf einen möglichst weit davon entfernten Begriff der Wissenschaftlichkeit - was in der Geographie am besten in einer Favorisierung der physischen Geographie als Maßstab ginge15. Symbolisch kann hier Ed. de Martonne stehen, der als politischer Geograph am Versailler Vertrag mitarbeitet, danach zur politischen Abstinenz der akademischen Geographie aufruft und sich als physischer Geograph zum Vorsitzenden internationaler geographischer Verbände wählen ließ16. Daraus folgt bei Lacoste und anderen Geopolitikern in Frankreich ein großes Mißtrauen gegen jeden Versuch, jetzt , Geopolitik' selbst als eine akademische Wissenschaft zu begründen: sie soll eher gerade dieses Spiel von politischer Wirksamkeit und anschließendem Rückzug ins Private, auch die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem eigenen Tun, das darin liegt, durchbrechen und sich bewußt-reflexiv an der Schnittstelle von wissenschaftlichem Diskurs und politischen Konflikten im öffentlichen Raum aufhalten17. Etienne Sur macht den Unterschied zwischen der .neuen geopolitischen Analyse in Frankreich' und einer bloßen Wiederaufnahme der deutschen Geopolitik geradezu daran fest, ob die politische Funktion auch des eigenen Diskurses anerkannt oder ob dies im Namen der (vorgeblichen) Wissenschaftlichkeit der eigenen Argumentation geleugnet wird.18 Vor dem Hintergrund des Trollschen Verdikts scheinen mir zwei besondere Phänomene bei den deutschen, geographischen Beiträgen zur Geopolitik erklärlich. Die historischen Studien zur Geopolitik stehen in einem besonderen disziplingeschichtlichen Kontext der Geographie als Wissenschaft, insbesondere der politischen Geographie. Schon bei Klaus Kosts Studie zur klassischen deutschen Geopolitik, die im Ergebnis jede Art von Geopolitik ablehnt, zielt das Erkenntnisinteresse auf die Grundlagen einer zeitgemäßen politischen Geographie 19 . Er macht Trolls Trennung rückgängig, um die Kritik an der pseudowissenschaftlichen' Geopolitik in eine allgemeine Kritik an der damaligen nationalistischen politischen Geographie in Deutschland und Österreich zu wenden, als dessen äußerste Konsequenz die Geopolitik erscheint. Daraus leitet Kost ein Votum für eine politische Geographie ab, die 14 Vgl., Adolf Grabowsky, Das Problem der Geopolitik, in: ZP, 22. Bd., 1933, S. 765-802; Ders., Raum als Schicksal, Das Problem der Geopolitik, Berlin 1933; Ders., Raum, Staat und Geschichte, Grundlegung der Geopolitik, Köln, Berlin 1960. 15 Vgl. z. B., Yves Lacoste, La géographie, ça sert, d'abord, à faire la guerre, (1976), Paris 3 1985. 16 Vgl., Yves Lacoste, Geographie und politisches Handeln, a. a. O., S. 26. 17 Für eine resümierende Zusammenfassung der heutigen ,Hérodote'-Position und der Einschätzung der klassischen Geopolitik siehe: Yves Lacoste, Préambule, in: Dictionnaire de Géopolitique, sous la direction de Yves Lacoste, Paris 1993, S. 1-35. 18 „La différence profonde, dans cette perspective, est celle qui oppose ceux qui reconnaissent la fonction politique du discours et de leur discours, quel qu'en soit le contenu, et ceux qui refusent ce recul par rapport à la .Geopolitik', Etienne Sur, la référence à la ,Geopolitik', a. a. O., S. 37. 19 Vgl., Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, Bonn 1988.
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sich an universalen Werten orientieren und als Friedens- und Konfliktforschung fungieren soll. Ausdruck dieses disziplingeschichtlichen Kontextes ist dann auch die Formulierung von Sandner/Oßenbrügge von der .politischen Geographie als kritischer Geopolitik': „Ihr geht es um den geopolitischen Diskurs der politischen Akteure, aus dem ,geopolitische Codes', d. h. räum- und maßstabsbezogene Wertungsmuster praxisbezogener politischer Argumentation entstehen (...) In den Mittelpunkt rückt die Art und Weise, wie handlungsrelevante Territorien bestimmt werden, Untersuchungsgegenstand sind damit die Artikulationsformen territorialer Interessen ... ihre Transformation zu sogenannten .nationalen Interessen' und die damit einhergehende gesellschaftliche Verbindlichkeit." 20 Verbunden damit ist bei ihnen ein intensives Ausweisen der Wissenschaftlichkeit. So konzedieren sie Yves Lacoste interessante Anregungen, legen aber Wert darauf, daß sie sich bei ihrer Verwendung des Begriffs Geopolitik an bestimmte amerikanische Analysen von ,geopolitical codes' halten, weil diese den erreichten Wissenschaftsstandards der Fachgeographie entsprächen - im Unterschied zu Lacoste 21 . Ob dies fachgeographisch gesehen so ist, braucht hier nicht diskutiert werden. Auf jeden Fall bedeutet das oben angedeutete Mißtrauen bei Lacoste u. a. gegen eine Version der, Geopolitik als akademische Wissenschaft' für jeden deutschen Geographen ein Legitimationsproblem im Angesicht der von Troll praktizierten Reinigungsstrategie und perspektivischen Handlungsanweisung. Für diejenigen aus der romanisch-angelsächsischen Richtung, die aus den Bereichen Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialphilosophie kommen, hat dieser speziell die Geschichte der deutschen Fachgeographie betreffende Legitimierungszusammenhang keine praktische Bedeutung 22 . Dementsprechend unproblematischer werden hier auch romanische Ansätze rezipiert, zumal in den genannten Wissenschaften in der B R D der 70er und 80er Jahre generell französische Beiträge aufmerksam registriert wurden. Erinnert sei an Foucault oder die Annales-Schule, auf die im übrigen in romanischen Geopolitiken, aber auch in den USA, gängig referiert wird. Dementsprechend spielt hier bei Studien zur Geschichte der deutschen Geopolitik, wie in der vorliegenden Arbeit, eine disziplingeschichtlich-geographische Perspektive keine konstitutive Rolle. Wie steht es nun um die Aneignungsweisen der Geschichte der deutschen Geopolitik in Deutschland, die im Kontext einer Distanznahme oder einer Zurückweisung heutiger Geopolitiken stehen? Beginnen möchte ich mit einer Sonderform, deren Argumentationsstruktur nur in Deutschland eine Plausibilität hat. Imanuel Geiss hatte im ,Historikerstreit' gegen Wehler und Habermas darauf bestanden, daß ohne Berücksichtigung .geographischer Faktoren' eine Erklärung historischer Phänomene nicht möglich sei und insbesondere auch den Begriff der Mittellage gerechtfertigt 23 . Das aber habe mit Geopolitik nichts zu tun, denn: „Das ist noch lange keine ,Geopolitik'. Geographie als historische Erklärung wird erst zur ,Geopolitik', wenn aus ihr Argumente für eine offensive, expansive Machtpolitik herausspringen." 2 4 20 Jürgen Oßenbriigge, Gerhard Sandner, Zum Status der Politischen Geographie in einer unübersichtlichen Welt, in: Geographische Rundschau, 46. Jg., 1994, S. 676-684, ebd., S. 683. 21 Vgl. auch, Heiner Dürr, Gerhard Sandner, Anmerkungen zu Lacostes „Perspektiven einer neuen Geopolitik", in: GZ, 79. Jg., 1991, S. 246-252. 22 Vgl. die oben erwähnten Beiträge von Leggewie, Scherer und mir. 23 Vgl., Imanuel Geiss, Zum Historiker-Streit, in: „Historikerstreit", a. a. O., S. 373-380. 24 Ebd., S. 377.
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Paradox mag es dann scheinen, wenn er selber 1994 auf einer, vom Lacoste-Kreis in Bonn organisierten, Geopolitiktagung einen Vortrag hält, ohne daß es ihm um eine prinzipielle Zurückweisung ihres Ansatzes zu tun war25. Tatsächlich geht seine Auffassung dahin, daß es in Deutschland viel zu gefährlich sei, diesen Begriff wiederaufzunehmen, daß hier in Deutschland im Unterschied zu geopolitischen Diskussionen in anderen Ländern, nichts anderes als die Rückkehr einer aggressiv-expansiven Ideologie dabei herauskommen könne: „Natürlich müssen wir Deutschen mit dem Begriff „Geopolitik" besonders behutsam umgehen, ihn am besten vermeiden."26 Geiss setzt damit, wenn auch auf eine andere Ebene verschoben, ein von Schöller Anfang der 60er Jahre vorgebrachtes Argument fort. Schöller diskutierte in der .Erdkunde' eine stalinistische Schrift, in der die amerikanische Geopolitik der 50er Jahre als Fortsetzung und Erbe der .faschistischen, deutschen Geopolitik' dargestellt wurde, um so den US-Imperialismus als Fortsetzung des NS-Imperialismus zu .entlarven' 27 . Schöller erkennt zwar den rein ideologischen Kampfcharakter der Abhandlung, zieht aber gerade daraus den Schluß, in Deutschland keinesfalls mehr von .Geopolitik' zu reden, weil dies bei der Gegenseite nur Ängste vor Grenzrevisionen erzeugen und die ideologische Propaganda verschärfen könne, der sie zugleich unnötig Argumente liefere. Bei generellen Ablehnungen heutiger Geopolitiken gibt es ansonsten drei Argumentationsstrategien, sofern sie mit der Geschichte der deutschen Geopolitik zu tun haben: erstens die allgemeine Zuordnung zu Kategorien wie Imperialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, als deren politische Legitimierung die (deutsche) Geopolitik gesehen wird; zweitens eine kategoriale Charakterisierung der klassischen Geopolitik als ,Pseudowissenschaft' und .geographischer Determinismus'; drittens eine exemplarische Ebene, die sich in der Regel auf die Geopolitik Karl Haushofers reduziert und anhand seiner Person die ganze Unsinnigkeit aller Geopolitik glaubt entscheiden zu können. Geprägt sind diese drei Ebenen von einem überschaubaren Kanon weniger kritischer Texte, die darin Eingang finden: Wittfogels Kritik der Geopolitik von 192928, die erwähnten TrollSchöller-Texte und schließlich, für die exemplarische Ebene, Jacobsens Arbeit über Karl Haushofer 29 . Solch ein Kanon hat einen argumentations- und arbeitsökonomischen Vorteil, gerade wenn die prinzipielle Widerlegung geopolitischer Ansätze das Ziel ist, wo dann ja jede weitere Auseinandersetzung damit nur verschwendete Zeit ist. Problematisch an dem evozierten Kanon und seiner Anwendung ist aber zweierlei. Erstens werden Begriffsstrategien und Zuordnungen übernommen, ohne deren politischhistorischen Kontext zu reflektieren. An Wittfogels Text kann man schließlich schlecht das leninistische Geschichtsbild ignorieren, das die Struktur seiner Argumentation erzeugt. Wenn 25 Die Tagung fand am 5-/6. Mai 1994 unter dem Titel,,Pour une nouvelle analyse géopolitique, Nation et Territoire/Für eine neue geopolitische Analyse: Nation und Territorium" in Bonn statt. 26 Imanuel Geiss, Geographie und Mitte als historische Kategorien, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 39. Jg., 1991, S. 979-994, ebd., S. 982. 27 Vgl., Peter Schöller, Die Geopolitik im Weltbild des Historischen Materialismus, a. a. O.; J.N. Semjonow, Die faschistische Geopolitik im Dienste des amerikanischen Imperialismus, (russ. 1952), dt. Üb., Berlin 1955. 28 Vgl., Karl August Wittfogel, Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus, in: Unter dem Banner des Marxismus, 3. Jg., 1929, S. 17-51,485-522, 698-735. 29 Vgl., Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer, Leben und Werk, Bd. 1, Lebensweg 1869-1946 und ausgewählte Texte zur Geopolitik, Boppard am Rhein 1979.
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er die deutsche Geopolitik als schlechte Wiederkehr des geographischen Materialismus des 18. Jahrhunderts darstellt, so deshalb, um die deutsche Geopolitik als Verfallsform des bürgerlichen Denkens im Spätkapitalismus darzustellen, wie der geographische Materialismus das Bewußtsein des aufsteigenden Bürgertums gewesen sei - verbunden mit dem politischen Ziel, im gleichen Atemzug sozialdemokratische Richtungen anzugreifen, die als Teil dieser Verfallsform erscheinen sollen. Auf Trolls Argumentationsinteresse der Entschuldung der deutschen Geographie hatte ich schon hingewiesen, sie wird dann von Schöller fortgesetzt und verbunden mit der Überlegung, wie ein adäquater Sprachgebrauch unter den Bedingungen des Kalten Krieges auszusehen habe. Bei Jacobsens Arbeit sollte man schließlich nicht aus den Augen verlieren, daß sie sich einer Eliteforschung mit stark biographischem Einschlag verdankt. Zweitens ist die exemplarische Reduktion auf Karl Haushofer ein gravierendes Problem, das auf fatale Weise der pseudowestlich-teutonischen Richtung korrespondiert, nur mit gegenläufigem Interesse. Tatsächlich liegt hier eine strukturelle Sackgasse der Diskussion vor, in der sich auf paradoxe Weise Troll und Jacobsen ergänzen. Troll hatte sich nämlich nicht mit einer allgemeinen Abgrenzung zwischen, wissenschaftlicher Geographie' und ,Geopolitik' begnügt, sondern zugleich die .Geopolitik' zur „Tragödie einer Familie" gemacht, d. h. einen breitgefächerten Diskurs auf eine Kleinfamilie reduziert. Er konnte dabei insbesondere auf amerikanische Stilisierungen der (vermeintlich) zentralen Rolle Karl Haushofers für die nationalsozialistische Außenpolitik, als vermeintlicher ,Mann hinter Hitler', zurückgreifen, bei denen auch auf die militärische Vergangenheit des .generalgeographer' Karl Haushofers rekurriert wurde. Troll wendete dies in biographische Erwägungen, daß gerade Karl Haushofer schon von seiner .andersartigen Veranlagung' und seiner .militärischen Vergangenheit' zu wissenschaftlicher Tätigkeit ungeeignet und deshalb unter seiner Regie die Geopolitik dilettantisch geworden sei. Troll benutzte dann die Ermordung Albrecht Haushofers durch die GESTAPO und die Selbstmorde von Karl und Martha Haushofer, um seine Entschuldungsstrategie der deutschen Geographie mit ihrer komplementären Reduktion der Geopolitik auf die Psychopathologie einer Familie in der Formulierung von der .Geopolitik als Tragödie einer Familie' zu verpacken. Man kann Troll ein gutes Gespür für eine effiziente Ablenkungsargumentation nicht absprechen, kommt doch seine Stilisierung jeder Form historistischen Bewußtseins entgegen, indem er begrifflichsachliche Probleme in das Reich individuell-biographischer Verstrickungen einer gerade in dieser Hinsicht schillernden Familie verschiebt. Die hochgradig affektive Freundschaft zwischen Karl Haushofer und Rudolf Heß, die lange Loyalität zu einem Regime, durch das erst die halbjüdische Abstammung von Martha Haushofer zu einer permanenten Gefahr wurde, die traditionelle Freundschaft der Familie Haushofer zu der Familie von Weizsäcker, die Verfolgung und Ermordung Albrecht Haushofers nach dem Fehlschlag des 20. Juli 1944, das tragische Ende im Selbstmord sind einige Elemente, die genügend Material bieten, um immer wieder individualisierend-biographische Erwägungen an die Stelle einer Analyse der klassischen deutschen Geopolitik zu setzen. Ob in kritischer oder affirmativer Absicht vorgetragen, lastet die ,Tragödie einer Familie' wie eine barocke Allegorie auf den Diskussionen über die klassische Geopolitik und über heutige Geopolitiken, nur daß sie nicht als Allegorie begriffen, sondern für wirklich so gewesen gehalten wird - das macht den ideologischen Charakter aus, der allzu viele Beiträge durchzieht. Gerade an dieser Stelle mußte das monumentale Werk von Hans-Adolf Jacobsen über Karl Haushofer, in dem im Detail etliche Mythen widerlegt wurden, nicht nur wirkungslos bleiben,
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sondern gerade noch diesen Charakter der Diskussion potentieren, indem er ihr Massen an Material zuführte (Briefe, Tagebuchaufzeichnungen usf.). Weil Jacobsens Hauptinteresse darauf abzielte, die Kooperation zwischen alten Eliten und NS-Bewegung zu verstehen, d. h. auch die bewußten und unbewußten Motive, die Lebenslügen und biographischen Zufälligkeiten, aus denen Förderung, Loyalität und irgendwann Dissens zur NS-Bewegung hervorgingen, konnte seine Studie in keinster Weise die evozierte Allegorie abtragen, sondern nur noch hartnäckiger machen. Ohne diese Allegorisierung einer Diskussion ist kaum zu begreifen, daß neueste Arbeiten zur Geschichte der klassischen Geopolitik auf der völlig unhaltbaren These beruhen können, daß mit Karl Haushofer die deutsche Geopolitik ihren Anfang genomen und ihr Ende gefunden habe: „Vor Karl Haushofer gab es keine Geopolitik in Deutschland, und mit seinem Freitod 1946 verschwand sie von der politischen Bildfläche und aus dem Bewußtsein der Deutschen." 30 Weder datierungstechnisch, noch inhaltlich ist dies begründbar, wohl aber als Reflex einer verirrten Debatte verstehbar. Bei Kritikern der Geopolitik findet sich dann als entsprechendes Echo die Überzeugung, daß mit dem Hinweis auf ein Dokument in USArchiven, aus dem sich die faktische Zugehörigkeit Karl Haushofers zur NS-Bewegung ableiten lasse, eigentlich schon alles über vergangene wie heutige Geopolitiken gesagt sei.31
2. Aneignungsweisen der klassischen Geopolitik im Westen Die Haushofer-Allegorie ist auch in westlichen Diskussionen über Geopolitik, sofern die Geschichte der deutschen Geopolitik eine Rolle spielt, nachhaltig präsent und ähnlich wie in vielen deutschen Diskussionen erscheint Carl Schmitt als ein logisches alter ego32. Natürlich gibt es funktionale Differenzen, so entfällt die Möglichkeit, hier genuin eigene nationale Traditionen rehabilitieren zu wollen oder in dieser Rehabilitierung eine spezifische Gefährdung des Lernens aus der eigenen Nationalgeschichte zu sehen, wie dies mit der These ,Geopolitik versus Westbindung Deutschlands' oben erinnert wurde. Im Gegenzug wirkt gerade der enge Zusammenhang zwischen deutscher Geopolitik als erstem explizit geopolitischen Diskurs und fataler deutscher Geschichte als Frage nach, warum eigentlich dieses ,mot allemand' im Westen übernommen werden werden soll, waren doch die ersten Ableger außerhalb Deutschlands allesamt in nicht-demokratischen Staaten 30 Frank Ebeling, Geopolitik, a. a. O., S. 24. Die folgenden Sätze sind dann Troll von hinten nach vorn gelesen: „Die besondere Zeitbezogenheit und die besondere Energieleistung eines Mannes, dessen Handeln vor dem spezifischen Hintergrund seiner persönlichen Lebenssituation und seines subjektiven Erfahrungsschatzes betrachtet werden muß, stellen die beiden zentralen Faktoren da, die das Schicksal der Geopolitik maßgeblich bestimmten. Die Tragik seines Lebens war zugleich die Tragik der politischen Raumlehre in Deutschland." Für Ebeling ist dann die Geopolitik Haushofers die .originäre Lehre', der gegenüber andere Auffassungen in der klassischen Geopolitik .abweichende Positionen' gewesen seien. Das jahrzehntelange Gerede von K. Haushofer als Inkarnation der Geopolitik schlägt um in einen normativen Begriff. 31 Vgl., Michael Buckmiller, Geopolitik, Eine Weltmachttheorie für „Jebildete", a.a.O. 32 Zugespitzt bei Alain de Benoist, der die These aufstellt, daß sich Carl Schmitt in dem Maße vom Nationalsozialismus abgewandt habe, wie er sich der Geopolitik zuwandte. Vgl., Ders., Préface, in: Carl Schmitt, Du Politique, „Légalité et légitimité" et autres essais, frz. Üb., Textes choisis et présentés par Alain de Benoist, Puisseaux 1990, S. VII—XXXIII, ebd., S. XXVIIff.
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angesiedelt 33 . Die Formulierung ,wahre statt falsche Geopolitik' des amerikanischen Geopolitikers Edmund A. Walsh aus dem Jahre 1946 ist nicht nur eine Kritik der deutschen Geopolitik als falsch, sondern markiert ebenso das spezifische Legitimationsproblem, im Westen überhaupt von Geopolitik zu reden. Eine gängige Lösungsstrategie bei dieser Legitimierung ist der Rückgriff auf eigene nationale bzw. allgemeiner westliche Traditionen. Im angelsächsischen Raum wird dann besonders auf H J . Mackinder und auf A.T. Mahan zurückgegangen. Gray34, Sloan35, Parker36 et. al. sprechen umstandslos von den .geopolitical theories' und .geopolitical ideas' Mackinders, obwohl dieser selbst nie diesen Begriff gebrauchte, trotz oder weil er Zeitgenosse der deutschen Geopolitik war. Der Sinn dieses Rückgriffs liegt unmittelbar darin, mit Autoren wie Mackinder und Mahan eine gleichzeitig demokratische und angelsächsische Tradition reklamieren zu können. Bei Sloan führt das schließlich zu der Zuspitzung, daß diese angelsächsisch-demokratische Tradition die eigentlich klassische Geopolitik sei, der gegenüber die deutsche Form von Beginn an eine Abweichung darstellte: „The main differences between German geopolitics and classical geopolitics was that German geopolitics subordinated all factors of political knowledge to the primacy of geography, which resulted in geographical determinism."37 Besonders in Frankreich kommt hier dann die Tradition, die von der ,geographie humaine' zur,géohistoire' Braudels führte, mit dem besonderen Vorteil hinzu, daß in ihr eine explizite, kritische Auseinandersetzung mit der Traditionslinie Friedrich Ratzel-Karl Haushofer präsent ist.38 Die in solchen Traditionsbildungen liegende Relativierung der deutschen Geopolitik hat ohne Zweifel den Vorteil, einen Kanon historischer Texte bereitzustellen, an denen das Für und Wider geopolitischer Ansätze auch ohne Kenntnis der deutschen Sprache mit historischen Argumenten diskutiert werden kann. Das sprachökonomische Problem spielt auch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der vorherrschenden Übernahme der Haushofer-Allegorie, wenn denn auf die deutsche Geopolitik Bezug genommen wird. Einerseits kann man dann mit einem Minimum an Übersetzungen auskommen und doch der Überzeugung sein, die entscheidenden Texte zu kennen oder aber sich mit einem geringen Kanon an Texten in einer fremden Sprache rumplagen. Dennoch gibt es im romanisch-angelsächsischen Bereich über Haushofer hinausgehende Arbeiten zur Geschichte der deutschen Geopolitik, die, im Unterschied zur deutschen Diskussion, von vornherein von dem Interesse geleitet sind, dortige, heute aktuelle Geopolitiken sei es zu begründen, sei es zurückzuweisen. Dabei hat sich namentlich im französischsprachigen Raum ein Diskussionshorizont hergestellt, der der Strategie einer einfachen alternativen Traditionsbildung zuwider läuft. Michel Korinmans Studie über die klassische Geopolitik stellt die deutsche Geopolitik als Reaktionsform auf die Erfahrung des Krieges und auf den Versailler Vertrag dar, ohne sie von vornherein als reine Revisionspropaganda abzutun oder daraus ein zwangsläufiges 33 Vgl. zur Geschichte der italienischen und spanischen Geopolitik, Claude Raffestin et. al., Géopolitique et Histoire, a. a. O. 34 Vgl., Colin S. Gray, The Geopolitics of Super Power, Lexington, Kentucky 1988. 35 G.R. Sloan, Geopolitics in United States Strategie Policy, 1890-1987, Brighton 1988. 36 Geoffrey Parker, The Geopolitics of Domination, London, New York 1988. 37 G.R. Sloan, Geopolitics in United States Strategic Policy, a. a. O., S. 58. 38 Vgl. u.
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Einmünden in die späteren Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus zu folgern39. Aus dieser Perspektive erscheint an ihr zunächst zentral, daß die Zusammenhänge von politischen Machtstrategien und Territorien als ihr Gegenstand und Mittel in einen öffentlichen Diskurs gewendet wird, der sich an den politischen Bürger richtet. Dies legitimiert die im ,Hérodote'wie im ,Limes-Kreis' vertretene These, daß sich schon an der klassischen deutschen Geopolitik selbst begründen lasse, daß Geopolitik und Demokratie zusammengehören. Umso größer ist dann natürlich auch das Interesse daran, im einzelnen zu bestimmen, was im konkreten deutschen Fall diesen elementaren Zusammenhang zunehmend in sein Gegenteil verkehrte. Ganz von selbst rückt dadurch eine Thematisierung all der widersprüchlichen Positionen innerhalb der deutschen Geopolitik wie auch der spezifisch deutschen Traditionslinien aus dem 19. Jahrhundert bei Korinmans Studie in den Mittelpunkt und verdrängt die Haushofer-Allegorie. Raffestin et. al. haben hierauf mit der entgegengesetzten Absicht der Zurückweisung aller Geopolitik, insbesondere auch derjenigen des ,Hérodote'- und ,Limes'-Kreises, reagiert und einen ebenso elementaren Zusammenhang zwischen Geopolitik und imperialistischer, ja faschistoider Politik zu begründen versucht40. Auch wenn ihre Arbeit darin methodisch interessant ist, daß sie zentral die italienische und spanische Geopolitik ab den 30er Jahren miteinbezieht, fallen die Autoren für die Diskussion der deutschen Geopolitik wieder auf den Standpunkt der Haushofer-Allegorie zurück. Trotz oder vielleicht gerade deshalb läßt sich an ihrer Version der deutschen Geopolitik der Sinn auch von Datierungsfragen in aktuellen Polemiken nachhaltig bewußt machen. Sie behaupten als Beginn der deutschen Geopolitik die deutsche Übersetzung von Kjellens , Staat als Lebensform' aus dem Jahre 1917. Der polemische Sinn ist offensichtlich, denn dann kann der Zusammenhang mit Versailles nicht so eng sein. Auffallig bei ihrer Argumentation ist aber nicht nur die Halbherzigkeit, mit der sie diese Vorverlegung versuchen und die sich auch an einer völligen Unkenntnis der Begriffsgeschichte vor 1918 zeigt. Augenscheinlich hat es sie nicht sonderlich interessiert, diesen Weg allzu weit zu verfolgen, enthält er doch die ganz andere Gefahr, daß dadurch die andere Seite ihrer Argumentation, nämlich einen möglichst engen Zusammenhang zu Faschismus und Nationalsozialismus zu etablieren, rein zeittechnisch gesehen problematisch wird. Dieser zeittechnischen Beschreibung der Geschichte des geopolitischen Diskurses in Deutschland möchte ich mich nunmehr zuwenden.
3. Eine notwendige Chronologie Das Wort Geopolitik wurde von dem schwedischen Staatsrechtswissenschaftler Rudolf Kjellén (1864-1922), Mitglied des schwedischen Reichstages, erfunden und 1899 zum ersten Mal in einem Aufsatz gebraucht41. Formuliert als ein Teilbereich einer allgemeineren .empirischen Staatswissenschaft', wurde der Begriff .Geopolitik' bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges kaum in Deutschland rezipiert. 39 Vgl., Michel Korinman, Quand l'Allemagne pensait le monde, Grandeur et décadence d'une géopolitique, Préface par Yves Lacoste, Paris 1990. 40 Vgl., Claude Raffestin et al., Géopolitique et Histoire, a. a. O. 41 Rudolf Kjellén, Studier öfver Sveriges politiska gränser, in: Ymer, 1899, S. 283-331. Vgl. zu Kjelléns Werk und dessen Rezeption in Deutschland: Walther Vogel, Rudolf Kjellén und seine
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Der Geograph Robert Sieger hat zwar zwischen 1903 und 1906 in mehreren Rezensionen in der „Geographischen Zeitschrift" 42 und in „Petermann's Mitteilungen" 43 auf Kjellen aufmerksam gemacht, doch hat er seine Bemerkungen dabei mit deutlicher Kritik verbunden. Den Begriff Geopolitik beurteilt Sieger 1903 so: „...ein Ausdruck, der mir ebenso unglücklich scheint, wie die Auffassung des Autors über ihre Stellung im System der Wissenschaften." 44 Neben diesen frühen Rezensionen Siegers von schwedischsprachigen Arbeiten Kjellens, veröffentlicht KjellSn 1905 selbst einen deutschsprachigen Beitrag über „Geopolitische Betrachtungen über Skandinavien" in der „Geographischen Zeitschrift" 45 . In einer Fußnote äußert sich Kjellen dort zur Kritik Siegers am Begriff Geopolitik: „Ich bedaure, daß dieser Terminus nicht den Beifall Siegers (G.Z.IX, 481) gefunden hat. Vielleicht ergibt er sich natürlicher, wenn man, wie ich, zur Geographie vom staatswissenschaftlichen Gebiete aus gekommen ist." 46 Hier deutet sich eine Zwiespältigkeit an, die den verschiedenen Versionen der Geopolitik bis heute zu eigen ist: die Wortkoppelung ,Geo' + .Politik' ermöglicht es gleichermaßen, vom Bereich der Politikanalyse wie von dem der Geoanalyse ,zu kommen', wenn auch mit dem Unterschied, daß Geographen der Auffassung sein können, mit der Tradition der Politischen Geographie schon über eine besondere Nähe zur Geopolitik zu verfügen - was in den 20er und 30er Jahren seinen Ausdruck in den permanenten Diskussionen fand, den Begriff Geopolitik vor allem in ein präzises Verhältnis zur Politischen Geographie zu setzen (vgl. dazu unten das letzte Kapitel der Arbeit). Die evozierte Zwiespältigkeit zeigt sich exemplarisch an der Geschichte des geopolitischen Diskurses in Deutschland. Die ersten, die den Begriff Geopolitik positiv würdigten und auch in eigene Analysen übernahmen, waren renommierte Vertreter der Geschichtswissenschaft sowie der zaghaft beginnenden Politikwissenschaft, und bei renommierten Vertretern dieser Fächer wird diese Übernahme bis in die 60er Jahre ungebrochen fortdauern. Vertreter der deutschsprachigen Geographie hingegen machten sich den Begriff Geopolitik positiv besetzt erst später zu eigen, dafür mit umso mehr Nachdruck und nahmen, bis auf einzelne Ausnahmen, nach 1945 besonders schnell von ihm Abstand.
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Bedeutung für die deutsche Staatslehre, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 81. Bd., 1926, S. 193-241; Robert Sieger, Rudolf Kjell6n, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 339-346; Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, a. a. O., S. 42ff und 344ff. Dort auch weitere Angaben zu schwedischer und holländischer Literatur. Robert Sieger, Rez.: Kjellen, Rudolf, Inledning tili Sveriges geografi, Göteborg 1900, in: GZ, 9. Jg., 1903, S. 481^1-82; Ders., Rez.: Kjellen, Rud., Stormakterna, Konturer kring samtidens storpolitik, I. Delen, Rent europeiska stormakter, Stockholm 1905, in: GZ, 11. Jg., 1905, S. 647-649;; Ders., Rez.: Kjellen, Rud., Stormakterna, Konturer kring samtidens storpolitik, II., England, Förenta staterna, Ryssland, Japan, Stockholm 1905, in: GZ, 12. Jg., 1906, S. 591-593. Robert Sieger, Rez.: Kjellen, R., Bidrag tili Sveriges endogena geografi (Geol. Foren, i. Stockh. Förh. Bd. XXIV, H. 4, Nr. 214, April 1902, S. 193-220), in: PM, 50. Bd., 1904, S. 103-104. Robert Sieger, Rez.: Kjellen, Rudolf, Inledning tili Sveriges geografi, a. a. O., S. 481. Rudolf Kjellen, Geopolitische Betrachtungen über Skandinavien, in: GZ, 11. Jg., 1905, S. 657-671. Es geht um die Frage, ob Norwegen und Schweden geographisch, politisch und historisch eine Einheit bilden. Ebd., S. 658, Fußnote 1.
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Die Geschichte der klassischen deutschen Geopolitik, sie beginnt im Ersten Weltkrieg. Walther Vogel erinnerte 1926 diesen Sachverhalt: „Rudolf Kjell6ns politische Schriften, insbesondere sein System der empirischen und biologischen Staatslehre, haben in Deutschland während des Weltkrieges und nach ihm eine lebhafte Anerkennung und Beachtung gefunden, wie sie den Werken eines bis dahin kaum bekannten ausländischen Gelehrten sonst nicht leicht zuteil wird."47 Diese .lebhafte Anerkennung und Beachtung' läßt sich am publizistischen Erfolg Kjellens während des Ersten Weltkrieges ablesen. Kjellens, am Vorabend des Krieges in Deutschland publiziertes Buch „Die Großmächte der Gegenwart", erscheint 1918 in der 19. Auflage als 35.-37. Tausend48. Seine Abhandlung über „Die Ideen von 1914" von 1915 wird ebenso 1918 als 10.-12. Tausend wiederaufgelegt49. Desweiteren veröffentlichte er Monographien über die .politischen Probleme des Weltkrieges', über ,Schweden' und ,Studien zur Weltkrise' 50 . Schließlich wird 1917 auch seine theoretische Abhandlung über den .Staat als Lebensform' in einer ersten, nach dem Krieg überarbeiteten Übersetzung publiziert51. In der Tat ein Erfolg für einen bis dahin kaum bekannten ausländischen Gelehrten'. Nicht zuletzt seine „deutschfreundliche Haltung"52, ein rares Gut zu jener Zeit, in Verbindung mit der Tatsache, daß er als Schwede Bürger eines neutralen Staates war, verhalfen ihm zu dieser Breitenwirkung, weil gerade diese Neutralität als Gewähr für ein unparteiisches, objektives Urteil interpretiert werden konnte, schreibe doch, so etwa Friedrich Meinecke 1916, Kjellen „...von der ruhigeren Warte des neutralen Ausländers mit tiefem Verständnis für unsere Lage und warmer Sympathie für unsere Art, aber von dem Wunsche nach reiner Erkenntnis geleitet."53. Dieses im und durch den Krieg nachhaltige Interesse an Kjellen in Deutschland bedeutete an sich nicht notwendig eine Übernahme oder besondere Akzeptanz seines Begriffes Geopolitik, denn seine Argumentationen sind weder auf diesen reduzierbar, noch sind sie vor allem um diesen zentriert54. Kjellens Hauptanliegen bestand in theoretischer Hinsicht in der 47 Walther Vogel, Rudolf Kjellen und seine Bedeutung für die deutsche Staatslehre, a. a. O., S. 193. 48 Rudolf Kjellen, Die Großmächte der Gegenwart, dt. Üb. von C. Koch, (1914) 37.-39. Tsd., Leipzig, Berlin l91918. 49 Ders., Die Ideen von 1914, (1915), 10.-12.Tsd., Leipzig 1918. 50 Ders., Die politischen Probleme des Weltkrieges, Leipzig, Berlin 1916; Ders., Schweden, München 1917; Ders., Studien zur Weltkrise, dt. Üb. von Friedrich Stieve, München 21917. 51 Ders., Der Staat als Lebensform, (schwedisch 1916), in neuer berechtigter Übertragung von J. Sandmeier, mit e. Anhang. Ders., Die Politik als Wissenschaft (aus „Göteborgs Aftonblad", 22. u. 26. März 1901), (Leipzig 1917, Üb. von M. Langfeldt) Berlin-Grunewald "1924 (= 1. Aufl. der Neuübersetzung). 52 Robert Sieger, Rudolf Kjellen, a. a. O., S. 344. 53 Friedrich Meinecke, Probleme des Weltkriegs, in: Neue Rundschau, 27. Jg. der freien Bühne, 1916, Bd. 1, S. 721-733, ebd., S. 723. Vgl. ebenso, P(eter) R(assow), Rez.: Kjellen, Rudolf, Die Großmächte der Gegenwart, Leipzig, Berlin 71915, in: Preußische Jahrbücher, 161. Bd., 1915, S. 534—538; Ders., Rez.: Kjellen, Rudolf, Die politischen Probleme des Weltkrieges, Leipzig, Berlin 1916, in: Preußische Jahrbücher, 165. Bd., 1916, S. 293-303. 54 Da Kjellen seine Staatslehre in fünf Bereiche gliederte, mußte diesem Ansinnen zuzustimmen nicht notwendig heißen, sich Kjellens Begriff Geopolitik zu eigen zu machen. Die fünf Bereiche sollten sein: 1. Geopolitik, 2. Ethno- oder Demopolitik, 3. Wirtschafts- oder Ökopolitik, 4. Soziopolitik, 5. Herrschafts- oder Kratopolitik. Doch gerade der Begriff Geopolitik zog die besondere Aufmerksamkeit auf sich.
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Emanzipation der Staatswissenschaft von der Reduktion auf ein juristisches Staatsverständnis in Wissenschaft und Ausbildung: der Staat sollte in seiner vollständigen Wirklichkeit zum Gegenstand einer Wissenschaft der Politik werden55. Diese Wirklichkeit subsumierte er unter eine Vorstellung vom Staat als Organismus, wogegen schon Ernst Radnitzky 1918 im „Archiv des öffentlichen Rechts" polemisierte56 - wie später eine Reihe anderer Kritiker. Ich werde später zeigen, wie die ,Ideen von 1914' bei Kjellen in eine organologische Staatstheorie übersetzt wurden. Vorab kann hier aber der Kontext festgehalten werden, in den Kjellen selbst seine organologische Auffassung stellte: in den einer Begründung einer selbständigen Wissenschaft von der Politik, also analog der Begründung einer selbständigen Soziologie bei Emile Dürkheim durch einen organologischen Gesellschaftsbegriff 57 . In seiner Erwiderung auf Radnitzkys Polemik schreibt Kjellen: „Die Politik in meinem Sinne ist eine eigene, selbständige und von der Jurisprudenz ganz emanzipierte Wissenschaft...".58 Wenn Friedrich Meinecke 1946 in „Die deutsche Katastrophe" feststellt: „Weltmacht werden zu wollen hat sich als falsches Idol für uns herausgestellt. Schon unsere geopolitische und geophysische Lage verbietet es, Weltmacht zu sein (...)" 59 , so führt dies zurück auf seine Unterstützung Kjellens an der Kritik des juristischen Staatsbegriffs dreißig Jahre zuvor: „Wir Historiker aus der Rankeschen Schule begrüßen freudig den Siegeszug dieser uns längst vertrauten Auffassungsweise auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und erkennen neidlos an, daß Kjellen sie kräftiger und durchgreifender übt wie viele von uns." 60 In den folgenden Ausführungen machte Meinecke dann einige Vorbehalte und Kritiken geltend, die aber nicht den Begriff Geopolitik betreffen, den er umstandslos übernimmt und verwendet 61 . Im gleichen Jahr notierte Peter Rassow in den „Preußischen Jahrbüchern": „Befreiend ist schon die Einsicht, daß die Frage des Anlasses zum Kriege unerheblich ist für die Frage nach dem Wesen und Sinn des Krieges und - diese Konsequenz wird nur stillschweigend gezogen - für die Kriegsziele. (...) Daß Kjellen die tiefsten, unausgleichbaren 55 Vgl. seine theoretischen Grundlegungen der Politikwissenschaft: Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O.; Ders., Grundriß zu einem System der Politik, Leipzig 1920. 56 Ernst Radnitzky, Rez.: Kjellen, Rudolf, Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 38. Bd., 1918, S. 43S-443. 57 Vgl. unten im Text die Ausführungen und Angaben zur Ratzel-Durkheim-Debatte und die Ausführungen zum Staat als Organismus. 58 Rudolf Kjellen, „Der Staat als Lebensform", Antwort an Herrn Dr. Radnitzky, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 39. Bd., 1920, S . l - 1 0 , ebd., S. 8. 59 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, (1946), Wiesbaden 2 1946, S. 160. 60 Friedrich Meinecke, Probleme des Weltkriegs, a. a. O., S. 724. Theodor Schieder opponierte demgegenüber entschieden Ranke und Kjellen in seinem Nachwort zu: Leopold von Ranke, Die grossen Mächte, mit einem Nachwort von Theodor Schieder, 6.-10. Tsd., Göttingen 1958, S. 83-91: „Schon in Max Lenz' den Lehrer und Meister fortführender Schrift am Ende des Jahrhunderts, die auch den Namen der Rankeschen Abhandlung trägt, fühlt man das Schwinden der geistigen Patina, die sich über Rankes Mächtelehre gelegt hatte, ganz unverhüllt aber erst in Rudolf Kjellens „organischer" Staats- und Machtlehre, wie sie in den „Großmächten der Gegenwart" von 1914 hervortritt." Ebd., S. 86. Aus der Sicht späterer, deutscher Geopolitiker liegt aber auch auf Kjellen und Ratzel jene geistige Patina, von der Schieder spricht: sie wird zunehmend als überholter Geist des 19. Jahrhunderts kritisiert. 61 Allerdings im Rahmen einer an Kjellin orientierten Abhandlung. Die Begriffsverwendung hat noch nicht den produktiv-kreativen Charakter, den sie im gleichen Jahr bei Jäckh gewann.
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Gegensätze in der geopolitischen und ethnopolitischen Sphäre aufgezeigt hat, darin sehe ich die wissenschaftliche Leistung seines Buches."62 Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang zwei prominente Vertreter der ersten Generation von Politikwissenschaftlern in Deutschland: Emst Jäckh und Adolf Grabowsky. 1916 verwandelte Ernst Jäckh, später der Begründer der „Deutschen Hochschule für Politik" in Berlin63, die passive Wahrnehmung des Begriffs Geopolitik in ein Mittel für eine aktive und eigenständige Analyse64. In einem Beitrag über „Mitteleuropa als Organismus" 65 benutzte Jäckh den Begriff Geopolitik, um eine Kritik an der ,kleinmitteleuropäischen' Vorstellung des von ihm bewunderten Friedrich Naumann zugunsten einer , großmitteleuropäischen' Vorstellung 66 zu entwickeln, d. h. zugunsten eines Mitteleuropas, das nach Jäckh eine von Helgoland nach Bagdad reichende Synthese von Orient und Okzident werden soll: „Unser Mitteleuropa weitet und sichert die Nordländer maritim, und sichert und weitet die Südlander kontinental, und fügt beide Teile, „Orient und Okzident", zu einem lebensvollen, vielgestaltigen, einheitlichen Organismus zusammen - dank der Gesetzmäßigkeit der Geopolitik."67 Dieser Beitrag Jäckhs ist von exemplarischem Interesse. In ihm ist jene Synopse von Geopolitik und Mitteleuropa (Mittellage usw.) präsent, die auch in heutigen Diskussionen seit den 80er Jahren in Deutschland wie selbstverständlich hergestellt wird. Während aber, wie im „Historikerstreit", Geopolitik als Sammelbegriff für Mitteleuropa- und Mittellagendiskurse erscheinen kann, läßt sich an Jäckh erkennen, daß der Neologismus Geopolitik im Rahmen der Weltkriegsdiskussionen lediglich eine sehr spezielle Teilmenge davon darstellte68. Bezeichnenderweise folgte kurz darauf ein weiterer Beitrag Jäckhs über den ,geopolitischen Zwang': „Die Darstellung (in Nr. 25 der „Deutsche Politik") unseres „größeren Mitteleuropas" (...) hat uns aus den Schützengräben des Westens und des Ostens vielerlei freudige Zustimmung gebracht, zugleich auch mancherlei Fragen und Bitten, besonders diejenige, den Begriff der „Geopolitik" noch weiter zu veranschaulichen."69 62 Peter Rassow, Rez.: Kjellen, Rudolf, Die politischen Probleme des Weltkrieges, a. a. O., S. 294, 299. Gegen solche .unausgleichbaren Gegensätze' wandte sich allerdings Meinecke, dessen Aufsatz in der „Neuen Rundschau" auch eine Kritik Rassows ist. 63 Vgl., Politik als Wissenschaft, zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, hrsg. von Ernst Jäckh, Berlin 1931; Ernst Jäckh, Der goldene Pflug, Stuttgart 1954; Ders.; Otto Suhr, Geschichte der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin 1953. 64 Das ist der wesentliche Unterschied zu den Rezensionen oder auch zum Aufsatz Meineckes, die eng an Kjellen orientiert blieben. 65 Ernst Jäckh, „Mitteleuropa" als Organismus, in: Deutsche Politik, 1. Jg., 1916, S. 1065-1071. 66 Einleitend sagt Jäckh: „Nicht vom kleineren Mitteleuropa im Sinn Friedrich Naumanns soll diesmal die Rede sein (also von der Gemeinschaft zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn); sondern vom größeren „Mitteleuropa": der Bundeseinheit der vier Völker von Deutschland, ÖsterreichUngarn, Bulgarien und Türkei." Ebd., S. 1065. 67 Ebd., S. 1068. 68 Bezeichnend auch, daß Jäckh seinen Begriff des größeren Mitteleuropa gleich eingangs in Anführungszeichen setzt. Vgl., Ders., „Mitteleuropa" als Organismus, a. a. O., S. 1065. Er hat den Eindruck, als ob sein Diskurs über Mitteleuropa eigentlich dort nicht mehr reinpaßt - was angesichts einer Ausdehnung bis in den Orient auch nicht verwundert. Jäckh erachtete später seine Konzeption als einen Vorgriff auf die Integration der Türkei in ein westliches Bündnis. Vgl., Ernst Jäckh, Der goldene Pflug, a. a. O., S., 7ff, S. 120ff. 69 Vgl., Ernst Jäckh, Der geopolitische Zwang, in: Deutsche Politik, 1. Jg., 1916, S. 1225-1230.
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Deutlich wird hier gleichermaßen, wie ungewohnt, ja frappierend der Begriff ,Geopolitik' gewirkt haben muß, aber auch, daß es die Zeit des Ersten Weltkriegs war, in dem dieser Begriff anfing in Deutschland zu wirken. Entscheidend an dem Wirkungszusammenhang scheint mir aber weniger die Synopse mit einem Begriff wie Mitteleuropa zu sein, als vielmehr ein anderes Moment, das sich wie ein roter Faden durch die bisherigen positiven Aufnahmen Kjellens zieht, nämlich eine objektivierende Sicht auf Ursachen und Perspektiven dieses Krieges, die Fragen diplomatischer Ränkespiele und individuellen Versagens als völlig zweitrangig erscheinen läßt. Meineckes Unterstreichen der Unparteilichkeit und Objektivität Kjellens; Rassows Rede von der ,befreienden Einsicht' durch Kjell6n, daß der Krieg letztlich in .tiefsten, unausgleichbaren Gegensätzen in der geopolitischen und ethnopolitischen Sphäre' wurzele; Jäckhs Formel vom , geopolitischen Zwang': auf je unterschiedliche Weise wird der Krieg so in die Perspektive eines objektiven Geistes gerückt, dem besten Garanten gegen mögliche Zweifel, daß dieser Krieg von Beginn an völlig sinnlos gewesen sein könnte. Klar erkennbar ist dies auch bei Adolf Grabowsky, Mitgründer und jahrzehntelanger spiritus rector der „Zeitschrift für Politik", der nach dem 1. Weltkrieg an der „Deutschen Hochschule für Politik" das „Geopolitische Seminar" einrichtete und bis zu seiner Emigration 1933 leitete. In der von ihm ebenfalls begründeten Zeitschrift „Das neue Deutschland, Wochenschrift für konservativen Fortschritt" (1912-1923 erschienen) greift er gleich 1914 die gerade auf deutsch erschienene Großmachtstudie Kjellens auf - „(...) das Buch eines Gothenburger Hochschulprofessors namens Rudolf Kjeilen (...)" 70 , so Grabowsky, das er für „(...) die glänzendste Leistung der neueren politischen Darstellung" 71 halte. Mit Kj eilen verwirft er alle Mutmaßungen über diplomatische Ränkespiele, individuelle Schuld usf. als unwesentliche Nebendinge, die nur die Tragik des Krieges banalisieren können, denn: „Unwesentlich sind alle diese Finessen. Wesentlich ist allein die Tatsache, daß Deutschland aus einer kontinentalen Großmacht zur Weltmachtstellung verlangt, seiner Entwicklung nach verlangen muß, und daß ihm dieser Weg von den drei anderen europäischen Mächten verlegt wird." 72 Ich hatte oben darauf hingewiesen, daß die mit Kjellen zu gewinnende Perspektive, den Krieg als Ausdruck eines objektiven Geistes zu fassen, eher eine Rolle bei seiner Rezeption spielte, als der auch begegnende Bezug zu Mitteleuropadiskussionen. An Grabowsky läßt sich prägnant verdeutlichen, daß mit diesem »objektiven Geist' die Vorstellung von einem Epochenwandel verbunden war, auf dessen Wunde Kjelldn sozusagen den Finger legte. Es geht dabei um Kjellens These, daß die Epoche des alten europäischen Großmachtsystems an ihr Ende gekommen sei und durch ein planetarisches Zeitalter abgelöst werde. Im genannten Beitrag Grabowskys heißt es: „Dann aber kommt Kjellen auf den Begriff der Weltmacht. Über dem alten Großmachtbegriff hat sich ein neuer Begriff erhoben wie über dem Dreadnought der Superdreadnought: der Begriff der planetarischen Macht oder der Weltmacht." 73 Von hier aus kommt Grabowsky mehrmals während des Krieges auf Kjellen zurück und übernimmt schließlich auch den Begriff Geopolitik, dessen erneute .Grundlegung' als Teil der Politikwissenschaft er noch 1960 versuchen wird74.
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Adolf Grabowsky, Die Weltmacht, in: Das neue Deutschland, 3. Jg., 1914, S. 1-6, ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Vgl. Adolf Grabowsky, Raum, Staat und Geschichte, Grundlegung der Geopolitik, Köln, Berlin 1960.
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Der Grund, warum ich hier so eindringlich auf dem 1. Weltkrieg als dem Ort bestehe, an dem die Rezeption Kjellens in Deutschland im Allgemeinen und seines Begriffs Geopolitik im Besonderen begann, ist aus den vorherigen Ausführungen über heutige Aneignungsweisen der Geschichte der klassischen deutschen Geopolitik unmittelbar einsichtig75: alle Thesen, die diese Geschichte unter der Perspektive eines Post-Versailles wahrnehmen, werden ebenso problematisch wie alle Versuche, einen möglichst eindeutig-unverbrüchlichen Zusammenhang zu Faschismus und Nationalsozialismus zu etablieren. Trotzdem würde es zu weit gehen, diese Thesen damit als rundweg falsch abzulehnen: richtig bleibt nämlich, daß ab den 20er Jahren ein quantitativer und qualitativer Sprung festzustellen ist. Unübersehbar ist ja, daß die Aneignung während des Krieges in einem explizitengen Zusammenhang mit Schriften Kjellens steht, besonders in Form von Rezensionen oder rezensionsähnlichen Ausführungen. Eine kreativ-selbständige Benutzung des Begriffs Geopolitik durch einen deutschen Autor wie bei Jäckh bleibt bis 1918 ein vereinzeltes Phänomen. Es entstehen auch keine spezifischen Orte, etwa besondere Zeitschriften, in deren Rahmen ,geopolitische' Diskussionen systematisch über einen längeren Zeitraum geführt werden. Kurz: es bleibt der Eindruck eines weitgehend unverbunden bleibenden, noch nicht aufeinander bezogenen Diskurses. Das ändert sich ab den 20er Jahren. Das ,Geopolitische Seminar' an der .Deutschen Hochschule für Politik' entsteht 1924, etliche Monographien tragen in ihrem Titel das Wort Geopolitik, Arbeitsgemeinschaften für Geopolitik werden gebildet, Aufsatzsammlungen und Lehrbücher für den Schulgebrauch werden geschrieben und es erscheint eine Zeitschrift, die die Geopolitik expressis verbis für sich reklamiert: die „Zeitschrift für Geopolitik" (ZfGp), gegründet im Jahre 1924 durch Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautensach und Fritz Termer (für diesen ab 1925 Otto Maull). Ab 1932 wird Karl Haushofer als alleiniger Herausgeber auftreten, nicht zuletzt nach Auseinandersetzungen über den politischen Kurs und die Einmischungen des nationalsozialistisch orientierten Verlegers Kurt Vowinckel. Die ZfGp markiert in gewisser Weise das Gravitationszentrum des klassischen geopolitischen Diskurses, nicht nur, weil schon mit dem Titel der Anspruch erhoben wird, quasi das Zentralorgan geopolitischer Analyse und Diskussion zu sein. Ergänzt wurde die ZfGp durch Schriftenreihen zur Geopolitik (1925-1944 die „Beihefte zur ZfGp", 1932-1943 die „Schriften zur Geopolitik", 1936-1943 „Macht und Erde, Hefte zum Weltgeschehen") und durch Sammelwerke, wobei die sogenannte .Neubearbeitung' von Kjellens Werk über die Großmächte aus dem Jahre 1930 dokumentiert, wie sehr gerade der um die ZfGp gruppierte Kreis den Anspruch erhob, der kritisch-authentische Fortsetzer von Rudolf Kjeilen zu sein.76 Da ich im Text immer wieder auf Beiträge und Diskussionen zurückkomme, wie sie in der ZfGp geführt wurden, sollen an dieser Stelle einige Charakteristika dieses Gravitationszentrums hervorgehoben werden, insofern sie Charakteristika der klassischen deutschen Geopolitik darstellen.
75 Auch Karl Haushofer scheint sich erst ab 1916 intensiver mit Kjelldns Geopolitik, zunächst rezeptiv, befaßt zu haben. Vgl. dazu, wie überhaupt zu Karl Haushofer, Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer, a. a. O., insbesondere Bd. 1, Lebensweg 1869-1946 und ausgewählte Texte zur Geopolitik, S. 124ff und 483ff. 76 Vgl., Die Großmächte vor und nach dem Weltkriege, Neubearbeitung, hrsg. von Karl Haushofer in Verbindung mit Hugo Hassinger, Otto Maull, Erich Obst, (1930), Leipzig, Berlin 3 1933 (= 24. Aufl. der Großmächte Rudolf Kjelldns = Macht und Erde, Bd. 1 ).
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Der Begriff Geopolitik, wie er von dieser Zeitschrift reklamiert wurde, akzentuierte besonders die Vorsilbe ,Geo\ d. h. Geopolitik wurde hier als eine besondere Angelegenheit von Geographen begriffen und konzipiert. Erkennbar wird dieses geographisierende Verständnis in den Thesen, die die Herausgeber der ZfGp 1928 publizierten. Dort definierten sie: „Die Geopolitik ist die Lehre von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge." 77 Ähnlich später bei Karl Haushofer: „Geopolitik: Lehre von der geographischen Bedingtheit der Politik."78 Daraus folgerten die Herausgeber als Aufgabe der Geopolitik: „Die Geopolitik will und muß zum geographischen Gewissen des Staates werden." 79 Vom politikwissenschaftlichen Geopolitiker Grabowsky wurde diese geographische Auffassung frühzeitig kritisiert und schließlich 1960 so resümiert, „(...) daß das Falscheste, was über die Geopolitik geäußert worden ist, gerade von Geographen stammt."80 Besonders auf zwei Ebenen machte sich die geographische Auffassung geltend. Zunächst in der Grundkonzeption der Zeitschrift, die in drei Bereiche zerfiel: einen Berichtsteil über geopolitisch relevante Entwicklungen in der Welt, zweitens einen Aufsatz- und Diskussionsteil und drittens schließlich einen bibliographischen Serviceteil. Dem Berichtsteil lag eine Dreigliederung der Erdräume zugrunde, wobei der hannoversche Wirtschafts- und Kolonialgeograph Erich Obst den eurafrikanischen Raum, der grazer politische Geograph Otto Maull den amerikanischen Raum und Karl Haushofer den ostasiatisch-pazifischen Raum betreute. Mit dem Ausscheiden von Erich Obst und Otto Maull Anfang der 30er Jahre wurde dieser Berichtsteil allerdings ausgezehrt und mehr recht als schlecht entweder durch Karl Haushofer allein oder in Zusammenarbeit mit Albrecht Haushofer besorgt. Die politische Zäsur 1931/32 bedeutete auf dieser Ebene deutlich einen Verlust an geographischer Kompetenz, damit auch an einer deutlichen Präsenz geographischer Lektüre der politischen Vorgänge in der Welt. Die zweite Ebene, an der sich die geographische Konzeption der Geopolitik zeigt, für die die ZfGp mindestens bis Anfang der 30er Jahre stand, läßt sich am Aufsatzteil ablesen. Die dortigen Diskussionen, sofern sie um den Begriff Geopolitik kreisten, versuchten in der Regel Differenz und Zusammenhang von politischer Geographie und Geopolitik zu bestimmen während eine analoge Bemühung um Abgrenzung und Zusammenhang von Politologie und Geopolitik praktisch randständig war. Dieses Mißverhältnis ist Ausdruck einer geographisch konzipierten Geopolitik, die, weil sie vornehmlich von einem geographischen Horizont her entworfen wurde, der Überzeugung war, daß das entscheidende Abgrenzungsproblem gerade im Hinblick auf schon bestehende Ansätze in der Geographie zu sehen sei. Am Aufsatz- und Diskussionsteil der ZfGp läßt sich nicht zuletzt auch bewußt machen, wie wenig die klassische deutsche Geopolitik auf die Tragödie einer Familie reduziert werden kann. Zwischen 1924-1944 erschienen 1269 Aufsätze/Diskussionsbeiträge in der ZfGp, die von insgesamt 619 Personen verfaßt wurden81. Nun macht ein einzelner Beitrag einen Autor 77 Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, von Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautensach, Otto Maull, in: Bausteine zur Geopolitik, von Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautensach, Otto Maull, Berlin-Grunewald 1928, S. 3-28, ebd., S. 27. Auf S. 27 sind die .Thesen' formuliert. 78 Karl Haushofer, Weltpolitik von heute, (1934), 75.-79. Tsd., Berlin o.J. (1940), S. 22, Fußnote 1. 79 Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27. 80 Adolf Grabowsky, Raum, Staat und Geschichte, a. a. O., S. 10. Vgl., ders., Raum als Schicksal, a. a. O. 81 Diese beruhen auf einer von mir durchgeführten Zählung einschließlich Titelaufnahme und stehen
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noch zu keinem Geopolitiker, zumal immer wieder renommierte Persönlichkeiten zu Diskussionsbeiträgen eingeladen wurden82. Beachtet man jedoch nur diejenigen, die fünf und mehr Aufsätze verfaßt haben, bleiben nicht weniger als 42 Personen mit 322 Beiträgen übrig83 (ohne die Haushofers mit zusammen 92 Beiträgen84). Bei diesen 42 Personen fehlen dann noch Namen wie Richard Hennig, Adolf Grabowsky, Georg E. Graf, die geopolitische Monographien und Aufsätze an anderen Stellen veröffentlichten, aber nur vereinzelt oder gar nicht in der ZfGp publizierten. 427 Autoren veröffentlichten lediglich einen einzigen Beitrag, der Rest entfällt auf Autoren mit 2 bis 4 Beiträgen bzw. auf Anonyma. Ergänzt man diese Zahlen um diejenigen der Evolution der Auflagenhöhe und des Seitenumfangs, so läßt sich eine allgemeine Charakterisierung der Verlaufsform des klassischen geopolitischen Diskurses geben.85 DerZeitraum 1924—1928 markiert einen rasanten Aufschwung, die Auflagenhöhe verfünffacht sich auf annähernd 4000 Exemplare, zugleich steigt der Umfang von ca. 800 auf ca. 1200 Seiten pro Jahr: Phase der Verbreitung und Konsolidierung eines Diskurses. Es folgt bis ca. 1932 eine Phase der Krise, Auflagenhöhe und Umfang sind 1932 fast halbiert. Dabei spielt nicht nur die Weltwirtschaftskrise in ihrer unmittelbaren finanziellen Auswirkung eine Rolle, sondern es handelt sich hier um eine Krise auch im Sinne der politischen Kontroversen, die ausgetragen werden. Innerhalb der ZfGp wie insgesamt im geopolitischen Diskurs geht es dabei hauptsächlich um einen Streit zwischen (national)konservativen und nationalsozialistischen Richtungen. Zugleich wird die Geopolitik wie bei Wittfogel Gegenstand grundsätzlicher politischer Kritik. Protegiert durch den Verleger Kurt Vowinckel und durch Karl Haushofer setzen sich in der ZfGp nationalsozialistische Auffassungen durch, was durch die Machtergreifung 1933 verstetigt wird. Bis 1938 steigen Auflage und Umfang der ZfGp permanent an, schon 1934 ist die Auflage von 1928 überschritten. Die Konsolidierung der Zeitschrift folgt der Konsolidierung des NS-Systems bis zum Münchener Abkommen. Dennoch ist das Umkippen der ZfGp, wie des geopolitischen Diskurses insgesamt, nicht so eindeutig und widerspruchsfrei, wie es auf
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unter dem Fehlervorbehalt, daß sie weder von jemand anderem, noch von mir zur Kontrolle wiederholt werden konnte. Das gilt für alle Angaben, die ich in diesem Zusammenhang mache. Angesichts der großen Anzahl von Autoren und Aufsätzen dürften mögliche Fehler aber unbedeutend für die Aussagekraft der Zahlen sein. Z. B. Aristide Briand. Vgl., Ders., Weltfrieden und Abrüstung, in: ZfGp, 5. Jg., 1928, S. 527-529. Die Namen sind (in Klammern die Anzahl der Beiträge): Gustav Amann(14), Hans von Becker(5), O.H.E. Becker(5), F.W. Borgmann(5), Franz von Caucig(5), Adolf Dresler(9), Alois Fischer(5), Gustav Fester(lO), G. Fochler-Hauke(lO), Paul Freye(ll), Reinhold Gadow(5), Gerhard Herrmann(5), Fritz Hesse(5), A.E. Johann(8), Manfred Langhans-Ratzeburg(5), Herrmann Lautensach(9), Gilbert Layton(5), Wolfgang Lengercke(7), Josef März(15), Fritz Markmann(5), Otto Maull(7), Otto Mossdorf(6), Otto Muck(7), Robert Nowak(6), Erich Obst(l 1), Hans Offe(5), Nis Petersen(5), Karl Pintschovius(5), Colin Ross(22), R.S.(8), Ernst Samhaber(7), Karl Sapper(6), Otto Schäfer(7), Hansjulius Schepers(5), Frank Schmolck(lO), Rupert v. Schumacher(8), Jiriy Semjonow(6), Wulf Siewert(lO), Arpad Török(7), Kurt Vowinckel(l 1), Siegfried Warneck(5), Hans F. Zeck(10). Zu bedenken ist auch, daß sich die Mitarbeit teilweise nur auf bestimmte Zeiträume beschränkte, also für die jeweiligen Autoren nicht den gesamten Zeitraum 1924-1944 umschließt. Schumachers acht Beiträge entfallen z. B. sämtlich auf den Zeitraum 1934—1937. Albrecht Haushofer(l 1), Heinz Konrad Haushofer(ö), Karl Haushofer(75). Bei K. Haushofer handelt es sich dabei um 17 Kurzkommentare und Laudatios. Vgl., Karl-Heinz Harbeck, Die Zeitschrift für Geopolitik 1924-1944, Phil. Diss. Univ. Kiel 1963.
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den ersten Blick aussieht. In der Tat bestimmen ab 1932 nationalsozialistische Geopolitiker wie Johann Ulrich Folkers, Walther Jantzen, Rupert von Schumacher, Max Baumann, Hansjulius Schepers und Michael Hesch das Bild der Zeitschrift. Wie ein Höhepunkt dieser Entwicklung scheint es, wenn dann nach der Machtergreifung in der ZfGp die „Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik" mit einer Denkschrift für die Etablierung der Geopolitik als Nationaler Staatswissenschaft des nationalsozialistischen Staates86 plädierte und dies mit der Forderung nach einem nachhaltigen institutionellen Ausbau verband: Geopolitik sollte gleichsam der Marxismus-Leninismus des 3. Reiches werden. Aber schon diese Denkschrift markiert auch das Widersprüchliche. Die weitgespannten Erwartungen wurden nicht Realität, die Geopolitik sieht sich immer wieder der Kritik ausgesetzt, das Primat der Rasse und des Führers zugunsten eines geographischen Determinismus' zu relativieren87. Gleichzeitig bleiben die konservativen Richtungen präsent, sowohl in der ZfGp, wie in den begleitenden Reihen. Richard Hennig kritisiert in der ZfGp 1936 das ihm modischer Konjunktur geschuldet scheinende Rassengerede, und Otto Maull ist es, der die Reihe „Macht und Erde, Hefte zum Weltgeschehen" 1936 mit dem Einleitungsband über „Das Wesen der Geopolitik" beginnt. Anders gesagt: weder die Phase der Krise noch die Zeit während der Konsolidierung des 3. Reiches führen zu einer eindeutigen Dissozierung. Die Erscheinungsform des klassischen geopolitischen Diskurses in den 20er und 30er Jahren läßt sich insofern am besten politisch so beschreiben, daß er zunächst ein stark konservativ geprägter Diskurs mit Öffnungen zum Nationalsozialismus hin war, der dann in einen nationalsozialistisch geprägten Diskurs mit konservativem Beiwerk, auch Widerständen überging. Gerade diese Mischung von Identität und Differenz konstituiert die Möglichkeit und Notwendigkeit, anhand der Geopolitik nach den Bedingungen des Nationalsozialismus zu fragen und nach dem diskursiven und institutionellen Umfeld, in dem er entstehen und sich durchsetzen konnte. Diese Frage wird in der vorliegenden Arbeit von der Ebene der Diskurse und Begriffe aus gestellt. Der Zeitraum 1939-1944 steht ganz im Zeichen des Krieges und zeitigt für die ZfGp ein merkwürdiges Paradox: während die Auflagenzahl noch einmal sprunghaft ansteigt, hat die Zeitschrift im buchstäblichen Sinne immer weniger zu sagen, d. h. der Umfang fällt in einer steilen Linie ab. Für den Zeitraum nach 1945 wird gängig eine relativ abrupte und tiefgreifende Tabuisierung der Geopolitik in Deutschland behauptet. Auch wenn eine konkrete Untersuchung für diesen Zeitraum noch aussteht, verschwindet der Begriff Geopolitik weder international, noch umstandslos in Deutschland. Für die internationale Diskussion ist eine generelle Erweiterung festzustellen, mit besonderen Schüben in den 70er Jahren für die westlichen Länder und seit der Erosion des Ostblocks für die Länder dort. 86 Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik, Denkschrift, Geopolitik als nationale Staatswissenschaft, gez. von Wegener (= Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik, M.d.R., Fachberater für Geopolitik bei der Reichsleitung der NSDAP), in: ZfGp, 10. Jg., 1933, S. 301-304. 87 Auch J. N. Semjonoff, Die faschistische Geopolitik im Dienste des amerikanischen Imperialismus, a. a. O., machte den .geographischen Determinismus' zum Hauptvorwurf an die Geopolitik: „Die sophistische theoretische' Grundlage der Geopolitik ist in erster Linie der bis zum äußersten bloßgestellte geographische Determinismus - die These von dem bestimmenden Einfluß der geographischen Bedingungen auf das gesellschaftliche Leben." Ebd., S. 73.
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In Deutschland hingegen ist der Verlauf anders, besonders in der alten Bundesrepublik während in der ehemaligen DDR der Verlauf Parallelen aufweist zu den Erscheinungen in den übrigen Ländern des ehemaligen Ostblocks: in der Zeit des Stalinismus und im Anschluß an ihn als Kampfbegriff des Klassen- und Systemfeindes verfemt, ist er dann nach 1989 wieder zum Gegenstand in akademischen bzw. politischen Zeitschriften geworden, die in den Neuen Bundesländern gemacht werden - wenn auch nicht mit der plakativen Übernahme, wie etwa in Rußland. In der alten Bundesrepublik ist dagegen das Schicksal des Begriffs Geopolitik mehr als seltsam: er versickert in den 60er Jahren. In den 50er Jahren schien es zunächst zu einer Wiederbelebung des geopolitischen Diskurses in Deutschland zu kommen. Die ZfGp wurde 1951 wieder gegründet, der aus dem schweizer Exil zurückgekehrte Adolf Grabowsky schrieb und lehrte in der BRD, bei Historikern wie Gerhard Ritter kann man z. B. über Friedrich II. 1954 lesen: „Mit erstaunlicher Klarheit sieht er den geopolitischen Zwang, unter dem alle Außenpolitik BrandenburgPreußens steht: ein Land der Mitte, quer durch Mitteleuropa hingestreckt, dabei in viele Fetzen zerstückelt ,.." 88 Meineckes Diktum von 1916, daß die ,Historiker der Rankeschen Schule freudig den Siegeszug' der kjellenschen Auffassungsweise in den Staatswissenschaften begrüßen, hat auch nach 1945 Bestand, umso mehr als Meinecke selbst in ,Die deutsche Katastrophe' über die ausgebrannten Großmächte Schweden, Holland und Schweiz' schrieb: „Jedes der drei Völker hat uns in den letzten Menschenaltern schönste und eigenartig-unersetzliche Früchte der Dichtung, Kunst und Wissenschaft geschenkt. Ich nenne aus dem Gebiete meiner eigenen Wissenschaft etwa nur die drei Namen Jakob Burckhardt, Huizinga undKjellen." 89 Im Unterschied zum geopolitischen Diskurs in den 20er und 30er Jahren ist aber die Abwesenheit der Geographen auffällig, Erich Obsts Schrift „Geopolitik" für die Beamtenhochschule stellte eine seltene Ausnahme dar90. Bezeichnenderweise wird dann ab 1953 die ZfGp vom „Institut für Geosoziologie und Politik", Bad Godesberg herausgegeben. In gewisser Weise kehrt der geopolitische Diskurs in Deutschland so in den Bereich der Wissenschaften zurück, die den Begriff im 1. Weltkrieg zuerst mit positiven Wertungen registrierten. Dort hat dann aber keine irgendwie geartete bewußte Tradierung stattgefunden und spätestens mit der Einstellung der ZfGp 1969 verschwindet der Begriff bis Anfang der 80er Jahre aus der Diskussion, ohne daß daran die entgegengesetzte Entwicklung in anderen westlichen Ländern etwas geändert hätte. Wenn ich dennoch lediglich von .versickern' spreche, so deshalb, weil der polemische Gebrauch, wie er sich im ,Historikerstreit' 1986 einstellte, darauf hindeutet, daß, etwa im Rekurs auf .geographischen Lagen', mindestens Versatzstücke auch der klassischen deutschen Geopolitik die gesamte Geschichte der Bundesrepublik überstanden haben.
88 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, München 1954, Bd. 1, Die altpreußische Tradition (1749-1890), S. 32. 89 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, a. a. O., S. 160. 90 Vgl., Erich Obst, Geopolitik, Braunschweig 1951 (= Die Verwaltung, Schriftenfolge zur staatswissenschaftlichen Fortbildung der Beamten und Behördenangestellten, hrsg. von Friedrich Giese, Bd. 1, A. Allgemeinbildung, III, H. 7).
2 . KAPITEL
Zeitorientierte Asymmetrie von Raum und Zeit (Kant, Hegel, Marx)
„(...) the new materialism of the geopoliticains is just as critical, activistic and, in the traditional sense, idealistic as was, in a earlier period, the socalled historical materialism of Marx. ... Just as Marxism aimed at a conscious control of the economic life of society, so Haushoferism today can be described as an attempt at the political control of space." Karl Korsch, 19431
1. Geopolitik als raumorientierte Asymmetrie Bei allen Differenzen unter den deutschen Geopolitikern gab es zwischen ihnen eine Gemeinsamkeit, die allerdings recht abstrakt anmutet: sie fragten nach der Verflechtung von Raum und Politik. Der Name .Geopolitik' sollte dieses abstrakte Verhältnis konkreter fassen. Nicht vordringlich der ,Raum an sich' sollte gemeint sein, sondern der sinnlich wahrnehmbare, endliche und deskriptiv faßbare Raum des Planeten Erde, auf und von dem die Menschen leben. Es ging um die ,Erdgebundenheit' des Politischen oder auch um das .Sakrale des Bodens', aber ebenso um die Umgestaltung der Erde durch die Menschen. Der Art nach konnte dieser Zusammenhang von einer Determinierung des Politischen durch die Natur bis hin zur willkürlichen,,raumüberwindenden' Umgestaltung der Erscheinungen der Erde reichen. Dennoch wurde im geopolitisehen Diskurs immer wieder der Raumbegriff im Allgemeinen zum Gegenstand. Insbesondere den Gesellschafts- und Staatswissenschaften wurde dabei eine mangelnde Berücksichtigung des Räumlichen vorgerechnet. In speziellerer Weise wurde der Raum in Form der Existenz und politischen Relevanz eines ,Raumbewußtseins' zum Thema, wobei es bei diesem gerade auch um eine rein quantitative Größe gehen konnte, um enges vs. weites Raumbewußtsein. Insofern kann der Begriff des Raumes an und für sich als der allgemeinste Horizont bestimmt werden, aus dem die klassische Geopolitik eine aufklärerische Erneuerung politischen Denkens versuchte. Vom Begriff oder der Idee des Raumes nehmen daher auch die folgenden Ausführungen ihren Ausgang2. 1 Karl Korsch, A historical view of Geopolitics, in: New Essays, Bd. 6,1943, S. 8-17, ebd., S. 13. 2 Entsprechend dem .Wesen' der Geopolitik, wie es z. B. Hansjulius Schepers formulierte: „Es liegt im
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Zeitorientierte Asymmetrie von Raum und Zeit
Indem die klassische deutsche Geopolitik emphatisch die politische Welt vom (Geo)Räumlichen aus neu konzipieren wollte, richtete sie sich gegen eine universalistische Aufklärungstradition, die eben diese Welt von einer Zeit-Metaphysik des menschlichen Subjekts aus entwarf. Über den Status von Raum und Zeit in dieser Aufklärungstradition, für die im deutschsprachigen Raum Namen wie Immanuel Kant und Karl Marx stehen, werde ich in diesem Kapitel eine These entfalten, die im weiteren als Folie der Analyse des klassischen geopolitischen Diskurses dienen wird. Die Validität der These wird sich gerade daran erweisen, was mit ihr am geopolitischen Diskurs aufgezeigt werden kann. Die These lautet: charakteristisch für diese Tradition der Aufklärung ist eine Sicht auf die Ordnung der Dinge, die von einer zeitprivilegierenden Asymmetrie im Verhältnis von Raum und Zeit regiert wird. Diese zeitprivilegierende Asymmetrie begreife ich als einen wesentlichen Bestandteil eines modern-aufgeklärten Weltverständnisses, das gleichwohl metaphysisch begründet ist. Ein besonderer Blick auf die Ordnung der Dinge ist diese zeitprivilegierende Asymmetrie gerade auch darin, daß sie Konsequenzen bis in die politischen Grundbegriffe heutiger, demokratischer Gesellschaften hinein hat, wie den der Freiheit. Von der kritischen Philosophie Kants her werde ich diese These und ihre Implikationen im entfalten.
2. Zeitorientierte Asymmetrie bei Kant Die Analyse von Raum und Zeit bei Kant wird zeigen, wie die Zeit bei ihm privilegiert wird und wie sich entgegen seinen Bemühungen um eine symmetrische Fassung von Raum und Zeit, eine asymmetrische Fassung durchsetzt, in der die Zeit im Medium der Erkenntniskritik moralisch, politisch und anthropologisch zum Höherwertigen gegenüber dem Raum wird. Im Fortgang seiner Argumentation wird aus der Asymmetrie von Raum und Zeit die Asymmetrie von Natur und Freiheit. Aus dem Raum als Anschauungsform des äußeren Sinns wird die Natur als Äußerlichkeit, die gerade nicht die differentia specifica der menschlichen Gattung ausmacht, während sich die Zeit als Anschauungsform des inneren Sinns in die unabweisbare Idee der Freiheit verwandelt. Kant weist dem Raum und der Zeit in der „Kritik der reinen Vernunft" 3 eine im vollgültigen Sinne grundlegende Bedeutung zu: sie sind Formen der reinen Sinnlichkeit a priori und werden unter dem Titel der transzendentalen Ästhetik' thematisiert 4 . Kant präsentiert sie damit als die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß dem Menschen in der Anschauung Gegenstände gegeben sein können: ohne Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit a priori blieben alle menschlichen Begriffe auf immer und überall leer. Der Mensch als ein Sinnenwesen kommt nur durch diese Beschaffenheit seiner Sinnlichkeit in-die-Welt hinaus und die Welt kommt nur so in ihn hinein. Der äußere Sinn bringt alle Gegenstände unter die Anschauungsform Raum, der innere Sinn unter die Anschauungsform Zeit. Was in der äußeren Welt die Dinge an sich sind, bevor sie den äußeren Sinn affizieren, ist dem Menschen gerade dadurch genauso verschlossen, wie das Ich-denke, welches das Analogon des Ding-an-sich in der inneren Welt ist. Wesen der Geopolitik, daß sie dem Räume vor der Zeit Rechnung trägt, ..." Ders., Geopolitische Geschichtsschreibung, Leipzig, Berlin 1937, S. 3. 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, (1781, 1787) in: KW, Bd. 3-4, (1974), l0 1988. 4 Vgl., ebd., S. 69-96 .
Zeitorientierte Asymmetrie bei Kant
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Obgleich das Ding-an-sich und das reine Ich-denke in analoger Weise unaufschließbar sind, besteht in der konkreten Bestimmung dieser Unaufschließbarkeit bei Kant eine problematische Differenz, eine Asymmetrie, die von der transzendentalen Ästhetik an seine Argumentation durchzieht. Sie hebt mit einer Asymmetrie von Raum und Zeit an und hört bei der Differenz von Natur und Freiheit auf. In den Paragraphen 7 und 8 der transzendentalen Ästhetik betont Kant prinzipiell die Symmetrie. Er richtet sich damit gegen einen .einstimmigen Einwurf' 5 , der auch von denjenigen erhoben werde, die ansonsten mit seiner Auffassung übereinstimmten, daß der Raum nichts Absolutes sei. Dies, so der Einwurf, gelte aber nicht von der Zeit. Von dieser wisse man absolut und gewiß, daß sie wirklich ist und nicht bloß eine Anschauungsform. Und zwar, so expliziert Kant den Grund dieses Einwurfes, wisse man um die Wirklichkeit der Zeit durch die Tatsache, daß sich die eigenen Bewußtseinszustände veränderten, und dieses Wissen sei ein unmittelbares. Kant verwirft den Einwurf als transzendentalen Schein. Die Täuschung entstehe daraus, daß in dem Augenblick, wo Veränderungen des Bewußtseinszustandes wahrgenommen werden, der innere Sinn affiziert worden sein muß, damit aber diese Zustände schon unter die Anschauungsform Zeit gebracht worden sind. Der Einwand wird also vom Standpunkt eines empirischen Bewußtseins gemacht, d. h. eines Bewußtseins, wie es sich erscheint. Die behauptete Unmittelbarkeit des Wissens ist demgemäß Schein. Von dem, was die vorgängige Beschaffenheit des Bewußtseins angeht, bevor es den inneren Sinn affiziert, wisse man so wenig wie vom Ding an sich. Kant treibt die Symmetrie bis zu paradoxen Formulierungen: „Im Raum, an sich selbst betrachtet, ist aber nichts Bewegliches (...) die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist."6 Die Zeit ist eine an sich selbst unveränderliche Form, nämlich der Anschauung, die die Eigenschaft hat, Veränderung als ihren Inhalt zur Erscheinung zu bringen. Damit kommt die symmetrische Konstruktion an ihr Ende. Hinter dem transzendentalen Titel ,Ding an sich' verbirgt sich eine Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstände, denen lediglich gemeinsam ist, vermittelt über eine Affektion des äußeren Sinns, für den Menschen als Erscheinungen existieren zu können. So verschieden sie untereinander sein mögen, ist ihnen die Differenz von ,für den Menschen seiend' und ,an sich seiend' gemeinsam. Das transzendentale Bewußtsein hingegen, welches nur den inneren Sinn affizieren kann, hat die besondere Eigenschaft, ein einziges zu sein, welches sich erst im für sich selbst sein, als Erscheinung, zu einer Mannigfaltigkeit gliedert. Dieses Bewußtsein ist rein und ursprünglich und garantiert in dieser transzendentalen Form die Einheit der Apperzeption. Kant faßt es unter dem Titel des reinen Ich-denke zusammen7. Dieses reine Bewußtsein und die Zeit (jedoch nicht der Raum) ste-
5 Vgl., ebd., S. 83ff . 6 Ebd., S. 86 . 7 Vgl., ebd., S. 140 . Für die folgenden Ausführungen zum Ich-denke, der Einbildungskraft usf. orientiere ich mich an der zweiten Fassung der ,Kritik der reinen Vernunft'. An den Unterschieden in der Behandlung des Ich-denke und der Einbildungskraft zwischen der ersten und der zweiten Fassung der .Kritik der reinen Vernunft' setzte Martin Heidegger an, um hinter das Ichdenke zurückzugehen. Die zweite Fassung erschien ihm als ein Rückschritt, bei dem Kant zugunsten einer rationalistischeren Version die zuvor angebahnte ontologische Problematik verstellt habe. Vgl., Ders., Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929.
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Zeitorientierte Asymmetrie von Raum und Zeit
hen in einem besonderen, bevorzugten Verhältnis zueinander, wie sich im Schematismuskapitel 8 zeigt. Die transzendentale Apperzeptionseinheit stiftet die Einheit der Vorstellungen: die Vorstellungen sind alle solche eines identischen, wenn auch völlig unbestimmten Ich 9 . Dieses Ich ist ein reines Bewußtsein, vor aller Erfahrung, denn es ist eben das ursprüngliche Bewußtsein, welches Erfahrung überhaupt erst ermöglicht. Kant opponiert Bewußtsein und Erkenntnis. Erkenntnis ist nur solche von Erfahrung und setzt damit die Gegebenheit von Erscheinungen in den Sinnen voraus. Das reine Bewußtsein ermöglicht dagegen Erkenntnis, ist ihr selbst nicht erfahrbares Fundament. Dennoch ist damit nicht alle Beziehung von Erkenntnis und reinem Bewußtsein abgebrochen. Erkenntnis selbst ist eine Erscheinungsform des empirischen Bewußtseins. Das empirische Bewußtsein ist aber Erscheinung von etwas. Das, was so erscheint, ist ein Denken, weshalb Kant das reine Bewußtsein als ein Ich-denke qualifiziert und nicht als reines Sein. Das Denken ist zunächst eines in reinen Verstandesbegriffen, d. i. den Kategorien. Diese allerdings sind nur Gedankenformen, Funktionen des Verstandes, und stellen selbst noch keine Erkenntnis dar. Hierzu müssen sie auf das in den Sinnen gegebene gehen und das dort Gegebene bestimmen. Wie aber kommen die Gedankenformen zu den sinnlichen Data? Seine Antwort führt Kant im Schematismuskapitel aus. Erscheinung und Kategorie, so heißt es dort, bedürfen eines Dritten, welches beide zu vermitteln weiß. Vermitteln kann nur, was intellektuell, sinnlich und rein zugleich ist. Kant nennt das so Vermittelnde das transzendentale Schema. Kern dieses Schemas ist die transzendentale Zeitbestimmung: sie ist mit der Erscheinung insofern gleichartig, als sie in jeder empirischen Vorstellung vorkommt, ohne deshalb selbst empirisch zu sein (sie ist Form, nicht Inhalt der Anschauung), und sie ist mit der Kategorie insofern gleichartig, als sie ebenso allgemein und auf einer Regel a priori wie diese beruht (sie ist Form a priori): „Daher wird eine Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt." 10 Warum aber ist für das transzendentale Schema nur die transzendentale Zeitbestimmung, also der innere Sinn, und nicht die transzendentale Raumbestimmung, also der äußere Sinn tragend? Kant hatte eine wesentliche Differenz von Raum und Zeit schon in der transzendentalen Ästhetik eingeführt. Die Zeit hatte er als formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt bestimmt, während er den Raum auf äußere Erscheinungen beschränkte. Für alle Erscheinungen überhaupt, so hatte er dort behauptet, sei die Zeit bestimmend, da auch die Zustände des äußeren Sinns zum inneren Zustande (!) gehörten, weil auch sie Bestimmungen des Gemütes (!) seien. Indem der äußere Sinn auf eine bestimmte Gattung möglicher Gegenstände (nämlich,äußere' - aus der Form wird unter der Hand Inhalt) reduziert wird, enthält die transzendentale Raumbestimmung nicht mehr die Allgemeinheit in Bezug auf Gegenstände möglicher Erfahrung, um eine Vermittlung mit den Kategorien im Schema zu gewährleisten. Verstärkt hat Kant die These von der Allgemeinheit des inneren Sinns und der Begrenztheit des äußeren Sinns durch seinen Begriff der Einbildungskraft. Bestimmt als das Vermögen, 8 Vgl., Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Bd. 3, insbesondere „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe", S. 183ff . 9 Vgl., ebd., S. 136ff. 10 Ebd., S. 188 .
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sich einen Gegenstand ohne dessen Anwesenheit vorzustellen, hat er diese de facto auf die Seite des inneren Sinns gestellt, denn der äußere Sinn erscheint bedrängt durch die Gegenwart äußerer Gegenstände, die ihn affizieren, ohne sein Zutun: er kann sie nicht abwesend machen. Das Schema aber ist nach Kant „an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft" d. h. der Anwendung der Gedankenformen des Verstandes auf den inneren Sinn. Der Möglichkeit solcher A n w e n d u n g liegt wiederum die Spontaneität der transzendentalen Apperzeptionseinheit zugrunde, der Actus des reinen Bewußtseins. Zu diesem zugrunde liegenden, reinen Bewußtseins gerät die transzendentale Zeitbestimmung, vermittelt über das Schema und im Unterschied zur Anschauungsform Raum, in ein bevorzugtes und ausgezeichnetes Verhältnis. Dies deutet sich schon in den Begriffen an, die Kant dem reinen Bewußtsein beilegt, welches ohne bestimmten Inhalt ist, außer der Bewußtheit darüber, daß ich bin 12 . Er charakterisiert diese Bewußtheit mit den Begriffen Spontaneität und Actus 13 , ohne daß damit allerdings irgendeine Erkenntnis, die immer sinnliche Anschauung impliziert, gegeben wäre. Eine Bestimmung des Wie-Seins dieses Daseins, daß ich bin, erfordert also eine sinnliche Anschauung, die jedoch, so Kant wörtlich, „kann nur der Form des inneren Sinns gemäß (...) geschehen" 1 4 . Warum aber sollte das so sein? Grundsätzlich hatte Kant die Sinnlichkeit insgesamt dem Denken entgegengestellt und die Frage aufgeworfen, wie das eine zum anderen kommen könne. Der Schematismus stellte für ihn die Lösung dar und fundiert innerhalb seiner Argumentation, indem die transzendentale Zeitbestimmung ihr Kern ist, den intimen Bezug zwischem innerem Sinn und dem Ich-denke. W o h e r hat er aber die Charakterisierung des Ich-denke durch Actus und Spontaneität, Worte, an denen sofort die Frage anhebt, ob sie nicht anzeigen, daß die Anschauungsform Zeit nur eine unmittelbare Form des reinen Bewußtseins ist, anstatt zur Sinnlichkeit zu gehören? Auf diese Vermutung deutet eine ganz merkwürdige Parallele zwischen der Anschauu n g s f o r m Zeit und der transzendentalen Apperzeptionseinheit. In der transzendentalen Deduktion (A) hatte Kant die transzendentale Apperzeption als das „reine ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein" 1 5 bestimmt. Von der Zeit wird in der transzendentalen Ästhetik ausgesagt, daß sie selbst sich nicht verändert, sondern nur etwas in ihr. Genauso wie die Zeit als Form nicht identisch ist mit dem Inhalt, der sich in ihr darstellt, zeichnet sich das ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein durch eine Spontaneität aus, durch die es z. B. fähig ist, unmittelbar den Willen zu bestimmen und so das Sittengesetz als Form hervorzubringen, bzw. insgesamt den inneren Sinn zu affizieren und so in die Zeit zu treten, ohne selbst zeitlich zu sein. Als entscheidende Differenz scheint übrig zu bleiben, daß die Zeit als Form des inneren Sinns affiziert werden muß, mithin passiv ist, während das reine Bewußtsein, obgleich unwandelbar, ursprünglich aktiv ist. Den Gegensatz aktiv-passiv als zu einem Unwandelbaren gehörig zu denken, dürfte allerdings nur einer intellektualen Anschauung möglich sein, worauf wir als Sinnenwesen durchaus nicht hoffen können.
11 Ebd., S. 189 . 12 Vgl., ebd., S. 152 . 13 Vgl., ebd., S. 152, 2. Anmerkung . Spontaneität und Actus stehen dort in einem besonderen Zusammenhang zur Zeit. 14 Ebd., S. 152f . 15 Ebd., S. 168 .
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Zeitorientierte Asymmetrie von Raum und Zeit
Tatsächlich ergibt sich die Asymmetrie der Anschauungsformen Raum und Zeit gar nicht aus dem kritischen Ansatz Kants, sondern aus einer untergründigen, metaphysischen Vorannahme eines Gegensatzes von ausgedehnter, körperlicher und nicht ausgedehnter, denkender Substanz. Daß diese Vorannahme seinem Ansatz einer transzendentalen Kritik widerspricht, kann man Kants eigener Kritik an der historischen Form dieser Metaphysik entnehmen16. Dennoch ist diese Metaphysik bei ihm zentral vorhanden. Der äußere Sinn erscheint als eine, am selbst äußerlichen, menschlichen Körper haftende Sinnlichkeit, die der Berührung durch äußere Körper ausgesetzt ist, während dem der innere Sinn als ein im Körper körperlos hausender gegenübersteht. Deutlich wird dieser Sachverhalt daran, daß Kant den inneren Sinn in Analogie zum äußeren Sinn erläutert - er ist nur metaphorisch ein Sinn wie der äußere (der vornehmste Gebrauch der Metapher ist in der aristotelischen Tradition die Darstellung eines Nicht-Sinnlichen durch ein Sinnliches). So schreibt er, um das Paradox der Affektion des inneren Sinns durch das Ich-denke verständlich zu machen, „daß wir die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, die wir ziehen"17. Daß der äußere Sinn für ihn zugleich die Form der Körpersinne ist, erhellt aus den unmittelbar vorhergehenden Zeilen, wo er „den Raum für eine bloße reine Form der Erscheinungen äußerer Sinne gelten läßt." 18 Daß ihm der äußere Sinn gleichsam der sinnlichere Sinn war, dokumentiert auch die im Angesichte seiner Allgemeinheitsthese des inneren Sinns unlogische Unterscheidung der beiden Anschauungsformen durch das räumliche Gegensatzpaar innen-außen. Der Widerspruch zwischen dem reinen Bewußtsein und dem äußeren Sinn und der Zusammenhang dieses Bewußtseins mit dem inneren Sinn läßt sich jetzt aufschlüsseln. Nur weil das reine Bewußtsein für Kant selbstverständlicherweise ein Denken ist, als dessen Eigenschaft er unterstellt, daß Denken unkörperlich ist, kann er zu der These kommen, daß dem äußeren Sinn nicht die Allgemeinheit zukommt, die er als erforderlich ansieht, um zu einem transzendentalen Schema zu taugen. Das Ich-denke kann nur dann den äußeren Sinn nicht affizieren, wenn unterstellt werden muß, daß dieser lediglich von ausgedehnten Körpern berührt werden kann und zugleich Denken nicht ausgedehnt ist. Allein aufgrund beider miteinander verbundenen Aussagen scheint die Reichweite möglicher Gegenstände des äußeren Sinns reduzierter als die des inneren Sinns zu sein. Das reine Bewußtsein haust nach dieser Vorstellung also in einem Körper, der von diesem wesensmäßig verschieden ist: diese Vorstellung enthält eine Aussage über die Verfaßtheit des transzendentalen Subjekts, was, nach Kant, unmöglich ist, und doch ist sie in seinen Kritiken enthalten. Eine untergründige substantialistische Metaphysik konterkariert den kritischen Ansatz Kants und macht sich in dem Maße bemerkbar, wie die Anschauungsformen Raum und Zeit in ein asymmetrisches Verhältnis zueinander geraten19. 16 Vgl., Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Bd. 4, „Von den Paralogismen der reinen Vernunft", S. 341ff . 17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Bd. 3, S. 151 . 18 Ebd., S. 151 . 19 Um diesen impliziten Substantialismus zu vermeiden, lassen sich prinzipiell verschiedene Wege einschlagen. Man kann versuchen, die Symmetrie stark zu machen, indem Raum und Zeit strikt parallel formuliert werden. In kantschen Begriffen würde das bedeuten, entweder zwei grundsätzlich gleichrangige Schemata zu bestimmen (eine von der transzendentalen Raum-, eine von der transzendentalen Zeitbestimmung her), oder aber ein einziges raum-zeitliches Schema zu entwickeln. Ein anderer Weg bestünde darin, die Asymmetrie als ein Phänomen zu rechtfertigen, welches sich not-
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Die symmetrisch-asymmetrische Fassung von Raum und Zeit ist von weitreichender Bedeutung und alles andere als eine sophistische Frage. Sie bestimmt vielmehr bei Kant die Form, in der er die Idee der Freiheit als Bedingung des moralischen Gesetzes formuliert20. In der „Kritik der praktischen Vernunft" ebenso wie in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten" scheint eine symmetrische Auffassung zu regieren. Er opponiert dort die Sinnlichkeit insgesamt der Sittlichkeit des Menschen. Das Gesetz der Sittlichkeit, ihre Begriffe der Pflicht, des Guten, der Achtung können nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden, sondern müssen auf die den Willen unmittelbar bestimmende Freiheit zurückgeführt werden. In der Erfahrung kommen nur Erscheinungen vor, d. h., daß sie immer unter dem Diktat der Sinnlichkeit stehen, sei es der Anschauungsformen, sei es der zufälligen Empfindungen, sei es der pathologischen Bedürfnisse. Der Ursprung der Sittlichkeit liegt für Kant nicht im Sinnlichen, sondern in der intelligiblen Welt. Insofern und weil der Mensch ein Sinnenwesen ist, ist er an die Welt der Erscheinungen gebunden. Insofern und weil er Verstand (als Vermögen der Begriffe) und Vernunft (als Vermögen der Prinzipien) hat, hat er an einer höheren Ordnung teil, d. i. an einer übersinnlichen Welt. Das Problem ist allerdings, daß er von dieser unmittelbar nur weiß, daß sie ist, er aber mangels intellektualer Anschauung nicht weiß, wie sie ist. Von ihr weiß er nur, insoweit sie in Erscheinung, damit aber in den Bezirk der Sinnlichkeit tritt und unter die Anschauungsformen Raum und Zeit gerät. An dieser Stelle läßt sich die grundlegende Funktion der transzendentalen Ästhetik bestimmen. Weil er Raum und Zeit als Anschauungsformen der Sinnlichkeit zurechnet (und sie so den Verstandesbegriffen entzieht), wird es ihm möglich, ohne in Skeptizismus zu verfallen, zwischen den Dingen, wie sie an sich sind, und wie sie uns erscheinen, zu unterscheiden. Ist aber diese Unterscheidung erst einmal gemacht, kann man sie auch beim Bewußtsein einführen: das Bewußtsein, wie es erscheint (empirisches Bewußtsein), ist nicht gleichzusetzen mit dem Bewußtsein, wie es an sich ist (reines Bewußtsein). Kant sagt in der dritten Antinomie: „Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist die Freiheit nicht zu retten. (...) Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind."21 Doch die Fassung der Idee der Freiheit hat bei Kant eine problematische Grundlage. In der These, daß die Nicht-Identität von Erscheinung und Ding-an-sich Voraussetzung der Möglichkeit ist, die Idee der Freiheit zu verteidigen (auch wenn man sie, wie es in der Auflösung der Dritten Antinomie heißt, weder beweisen, noch ihre Möglichkeit einsehen kann), macht sich die Asymmetrie von Raum und Zeit geltend. Freiheit bestimmt Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" als Gegensatz zur Natur. Für beide ist der Begriff der Kausalität tragend. Das Begriffspaar Freiheit-Kausalität bedeutet für wendig einstellen muß, weil sich hierin eine Verfaßtheit der menschlichen Subjektivität ausdrückt. Schließlich läßt sich eine Verabschiedung von Raum und Zeit als überhaupt irgendwie taugliche philosophische und wissenschaftliche .Begriffe' anvisieren. 20 Vgl. zu den folgenden Ausführungen, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Bd. 4, „Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen", S. 488ff ; Ders., Grundlegung der Metaphysik der Sitten, (1785, 1786), in: KW, Bd. 7,1974, S. 9-102; Ders., Kritik der praktischen Vernunft, (1788), in: KW, Bd. 7, 1974, S. 105-302. 21 Ders., Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Bd. 4, S. 491 .
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ihn das Vermögen, ein Geschehen von selbst anzufangen. Demgegenüber meint KausalitätNatur, daß jedes Geschehen, als notwendig in der Zeit stehend, durch einen vorherigen Zustand als bedingt erscheint, wobei die Bedingung wieder bedingt ist. Freiheit schließt Unbedingtheit ein, während Natur ein Zusammenhang von Bedingungen ist. Nun stehen alle Erscheinungen notwendig in der Zeit, da sie ohne diese sinnliche Anschauungsform nicht erscheinen würden. In der Zeit erscheinen sie aber immer schon als Teil eines Zusammenhanges von sukzessiven Vorstellungen. Als in der Zeit stehende Vorstellungen läßt sich an ihnen nie ein absoluter Anfang ausmachen. Wird nun unter Rückgriff auf das transzendentale Schema der Kausalität eine Ordnung in die Reihe der Vorstellungen gebracht, läßt sich gegen jeden gesetzten Beginn einer erscheinenden Kausalreihe geltend machen, daß dieser Beginn wieder durch vorher Erschienenes bedingt wurde, und sei es auch nur durch die Vermutung, daß die Gesamtheit alles vorher Erschienenen als Bedingung der Möglichkeit dieser Kausalreihe angesehen wird. Jede Kausalitätsreihe in der Welt der Erscheinungen scheint selbst jederzeit (eben weil sie in der Zeit steht) bedingt zu sein. Freiheit als Vermögen, eine Kausalreihe von selbst anzufangen, impliziert aber einen unbedingten Anfang: wäre sie bedingt, hätte das ,von selbst' keine Bedeutung (es wäre von etwas anderem verursacht). Spontaneität und Actus sind Worte, um die Idee dieses unbedingten Anfangs, gleichsam den Urknall der Freiheit, zu beschreiben. Das Unbedingte kann aber nicht erscheinen; wird eine von selbst begonnene Kausalität Gegenstand der sinnlichen Anschauung, mithin zur Erscheinung, gerät sie notwendig in einen Zusammenhang von Bedingungen und erscheint als selbst Bedingtes. Kausalität in den Erscheinungen ist immer ein Zusammenhang von Bedingungen und Bedingtheiten, ohne absoluten Anfang: dieser Kausalzusammenhang ist die Kausalität nach der Natur. Sinnlich angeschaute Kausalität ist synonym mit der Aussage: Kausalität nach der Natur. Kausalität aus Freiheit kann umgekehrt nie sinnlich angeschaut werden: zur Erscheinung geworden, scheint sie Natur zu sein. Als Begriff ist Freiheit leer (Begriffe ohne Anschauungen sind leer, und der Mensch hat nur das Vermögen sinnlicher Anschauung), sie kann nur als Idee verteidigt werden. Diese Verteidigung ist aber nur möglich, weil Erscheinung und Ding an sich nicht identisch sind, denn wären sie identisch, ließe sich gar nicht begründen, warum hinter den Phänomenen noch etwas anders sein sollte, was nicht durch diese gegeben und in ihnen angeschaut werden könnte. Es gäbe nur Natur, keine Freiheit22. Die ganze „Kritik der praktischen Vernunft" entfaltet das Motiv, warum Kant Freiheit überhaupt auf Kausalität bezieht. Würde man sie einander entgegensetzen, indem Freiheit z. B. als Zufall oder Abweichung von der Regel bestimmt würde, könnte Freiheit noch nicht einmal gedacht werden, denn Denken heißt für Kant immer, etwas auf Regeln, Gesetze und Grundsätze zu bringen. Ein Sittengeseiz überhaupt ins Auge fassen zu wollen, wäre dann grober Unfug. Freiheit könnte so gar nicht auf die Vermögen des Verstandes und der Vernunft bezogen werden; was immer sie dann auch sei, sie wäre un-vernünftig und un-verständig. In letzter Instanz würde dies nichts anderes bedeuten, als daß Aufklärung und Freiheit einen 22 Auf den Zusammenhang von Zeit, Freiheit, Idee und Ding an sich wirft der .antikantianische Kantinanismus' in Kautskys .Ethik' ein bezeichnendes Licht. Kautskys Verständnis von Materialismus läßt ihn die Vorstellung einer ,Welt hinter den Erscheinungen' ablehnen. Ganz kantisch sind jedoch die Folgerungen, die er daraus zieht: in der Welt der Erscheinungen gibt es keine Freiheit. Ohne Freiheit aber gibt es keine Ethik, d. h. für ein Verhältnis zur Welt der Erscheinungen ist jede Ethik bedeutungslos. Dennoch begründet er eine Ethik. Das wird ihm möglich, indem er
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Gegensatz bildeten, kann sich doch die Aufklärung als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit nur an Verstand und Vernunft als ihr Medium wenden. Von dem Motiv her läßt sich auch verstehen, warum Kant in verschiedensten Zusammensetzungen von der Spontaneität und vom Actus redet (der transzendentalen Apperzeptionseinheit, der Begriffe a priori usw.), zugleich aber darauf hinweist, daß sie als Bestimmungen des reinen Bewußtseins jenseits der Zeit liegen. Das Jenseits ist das der intelligiblen Welt, aus der allein, als Idee, Freiheit zu verteidigen ist. Ist die Freiheit aber erstmal als Idee verteidigt, verwandelt sich alles, wovon ursprüngliche Spontaneität ausgesagt werden kann, in ebensoviele Anfänge von Kausalketten, also in Freiheit, die gleichwohl, in Erscheinung getreten, als Naturgesetze begriffen werden. Nun gilt die ursprüngliche Spontaneität auch vom ,Ich-denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können', dem reinen Bewußtsein, das gar nicht die Möglichkeit hat, nicht zu sein. Auf die Freiheit bezogen heißt das: der Mensch hat, als denkend Ich, gar nicht die Möglichkeit, nicht frei zu sein. Noch die selbstverschuldete Unmündigkeit ist nur möglich, weil der Mensch, indem er denkt, ursprünglich frei ist, und gerade deshalb kann seine Unmündigkeit auch nur eine selbst verschuldete sein. Das ist die kantische Dialektik der Freiheit. Indem Kant die Freiheit in das bescheidene Gewand einer Idee verwandelt, die man nicht beweisen, noch deren Möglichkeit man einsehen kann, sondern die sich nur verteidigen läßt, macht er die Freiheit zur Wesensbestimmung des Menschen als einem denkendem Tier schlechthin: der Mensch kann nicht nicht frei sein. Das heißt auch: schon das Daß-sein, das er weiß (als reines Bewußtsein) impliziert seine Schuld an seinem Wie-Sein - der christliche Zusammenhang von Schuld und Freiheit in philosophischer Gestalt. Die in der christlichen Heilsgeschichte enthaltene Dominanz des Zeitlichen, wandelt sich bei Kant in die Vorherrschaft der transzendentalen Zeitbestimmung, die, vermittelt über das Kausalitätsschema, die Freiheit von der Erscheinung trennt, um die Freiheit dann, vermittelt über die Kategorie der Kausalität, umso wirkungsvoller zur grundlegenden Bestimmung des Menschen zu machen. Kant versuchte mit seiner Architektonik, das von Descartes der neueren Philosophie aufgegebene Gewißheitsproblem in einem subjektphilosophischen Rahmen zu lösen, ohne noch, wie Descartes, auf Gott zurückgreifen zu müssen. Das zweifelnde cogito verbürgte bei Descartes lediglich die Gewißheit des Subjekts (nicht sein Körper, seine Sinne, die bloßer Trug sein konnten), nicht aber direkt die Gewißheit der Welt: hierzu bedurfte er der Hilfe Gottes. Diese gottverbürgte Welt des Descartes steht allerdings im Gegensatz zur denkenden Substanz. Sie ist ausgedehnte Substanz, Räumlichkeit schlechthin. Descartes bestimmte damit, wie es Heidegger als Teil seiner Destruktion der Philosophie in „Sein und Zeit" 23 darstellt, den künftigen Gegensatz von Natur und Geist: „DESCARTES unterscheidet das „ego
unmittelbar auf die ,Zeit' rekurriert: die Welt der Erscheinungen ist die Welt der Vergangenheit, so seine Überlegung, denn Erscheinung ist nur ein Etwas, das erschienen, wirklich geworden ist. Auf das, was sich schon ereignet hat, könne der Mensch nicht mehr einwirken, das, was war, kann er nicht mehr ändern. Anders die Zukunft. Diese bietet immerhin die Illusion einer Möglichkeit der Wahl. Der mögliche Gegenstand einer Ethik sei allein die Zukunft, das Noch-nicht-Gewordene. Vgl., Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung, (1906), 15.-17. Tsd., Berlin, Stuttgart 1922. 23 Vgl., Martin Heidegger, Sein und Zeit, (1927), Tübingen 161986.
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cogito" als res cogitans von der „res corporea". Diese Unterscheidung bestimmt künftig ontologisch die von „Natur und Geist". [...] Welches ist die Eigenschaft bezüglich der res corporea? [gemeint ist das Attribut der in Frage stehenden Substanz; Anm. d. V.] Nempe extensio in longum, latum et profundum, substantia corporeae naturam constituit. Die Ausdehnung nämlich nach Länge, Breite und Tiefe macht das eigentliche Sein der körperlichen Substanzen aus, die wir „Welt" nennen."24 Mit der .Transzendentalen Ästhetik' verändert Kant die Antwort. Zwar setzt auch er als erste und unbezweifelbare Gewißheit das Ich-denke. Doch dieses Subjekt konstituiert als sinnlich-geistiges Wesen alle Gewißheit - den verschiedenen Vermögen des Menschen entspringt ebensoviel Unbezweifelbares. Der äußere Sinn konstituiert als Raum a priori die Gewißheit der äußeren Welt, wie der innere Sinn als Zeit diejenige der inneren Welt garantiert. Obgleich Gott dergestalt philosophisch arbeitslos wird, verbleibt Kant dennoch stärker in der abendländisch-christlichen Sinnenfeindschaft, als es seine Betonung der Sinnlichkeit vermuten läßt. Zunächst einmal ist es gerade die Beschaffenheit der Sinnlichkeit, die den Menschen auf immer von einer vollständigen Einsicht in das trennt,, was die Welt im Innersten zusammenhält'. Es bleiben das nie erkennbare Ding-an-sich und die transzendentale Apperzeptionseinheit undurchsichtig. Die Sinne bannen den Menschen ins irdische Reich, getrennt von allen Anmaßungen auf gottgleiche Erkenntnis. Vor allem aber: die philosophische Aufwertung der Sinne ist ihm nur möglich, weil er zwei aristotelische Kategorien zu Eigenschaften der Sinne macht, während er ansonsten die Kategorien als reine Verstandesbegriffe a priori faßt. Tatsächlich trennt Kant genau zwischen Anschauung und Empfindung, wobei letztere, wie Färb-, Ton- und Geschmacksempfindung, bloß subjektiv-zufällige Zutaten sind, die das Subjekt den Gegenständen der Anschauung hinzufügt, ohne daß dadurch Anschauung konstituiert wird. Kant wertet die Sinnlichkeit nur soweit auf, wie sie verständig ist. Indem er als Eigenschaft der Sinnlichkeit Raum und Zeit hervorhebt, die er, verbliebe er in der aristotelischen Kategorientafel, in seinem eigenen System als reine Verstandesbegriffe fassen müßte, kreiert er eine vernünftelnde Sinnlichkeit. Diese Zweideutigkeit macht Kant zum vorzüglichen Symbol der Moderne als einer Epoche, in der die Zurichtung von menschlicher Sinnlichkeit im Prozeß der Arbeitsdisziplinierung und die Emanzipation von seit Jahrtausenden unterdrückter Sinnlichkeit gleichzeitig sich vollziehen. Der Fortdauer der Asymmetrie von Körper und Geist entspricht bei Kant die Asymmetrie von Raum und Zeit. Im Zentrum der kantischen Philosophie steht das die Welt und alle Erkenntnis konstituierende Subjekt. Die Selbstaffektion dieses Subjekts vermittelt sich über den inneren Sinn, d. h. die Zeit. Das die Welt, sei es erkennend, sei es handelnd, ergreifende Subjekt eignet die Räumlichkeit der Welt seiner Zeitlichkeit zu. Das narzißtische Programm der Beherrschung der Natur, ob von Bacon, Descartes oder dem Alten Testament aufgegeben, wird so lesbar als die Unterwerfung der äußeren Welt als Raum unter die Ansprüche des sich zeitigenden Subjekts. Hegel hat diesen Aspekt der kantischen Philosophie sehr genau in sein System des objektiven Geistes übersetzt. Bei ihm, wie bei anderen der unmittelbaren Kant-Erben, entzündete sich die Kritik an der Grenze des Ding-an-sich. Dabei wurde aus der vernünftelnden Sinnlichkeit Kants ein vernünftelndes Universum.
24 Ebd., S. 89f.
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Wieso sollte denn, so die am Ding-an-sich ansetzende Skepsis, die verstandesgemäße Sinnlichkeit dem Menschen die äußere und die innere Welt so zuarbeiten können, daß seine Erkenntnisse und Handlungen dieser häufig angemessen erscheinen? Wieso sollten die Konstitutionsleistungen des Subjekts die Vernünftigkeit einer Welt garantieren können, die ihm an sich verschlossen blieb und die zudem überhaupt nicht auf die Existenz eines menschlichen Subjekts angewiesen war? Hegel kehrte, eingedenk solcher Skepsis, die kantische Fragerichtung um: es soll nicht mehr darum gehen, wie das Subjekt zu Objekten und zur Objektivität kommt, sondern umgekehrt - wie entsteht im Bezirk der Objektivität und aus der Objektivität Subjektivität und warum? In Hegels Naturphilosophie25 begegnet der gleiche Umschlag von symmetrischer RaumZeit-Bestimmung in eine Asymmetrie von Raum und Zeit, nur diesmal nicht wie bei Kant in Termini der subjektiven Erkenntnisleistungen, sondern in denen eines objektiven Prozesses26. Zuerst bestimmt er Raum und Zeit symmetrisch: beide seien das ganz abstrakte Auseinander; beide seien reine Quantität; beide seien in dieser Form ein unaufgelöster Widerspruch27, d.i., im Zustande der Ungeschiedenheit noch vertauschbar. Und dennoch sagt Hegel: „Die Wahrheit des Raumes ist die Zeit, so wird der Raum zur Zeit; wir gehen nicht so subjektiv zur Zeit über, sondern der Raum selbst geht über. In der Vorstellung ist Raum und Zeit weit auseinander, da haben wir Raum und dann auch Zeit; dieses „Auch" bekämpft die Philosophie.".28 Als Begründung führt Hegel an, daß der Raum das Kontinuum als Positivität sei, dem ,ideell' der Punkt als Gegensatz gegenüber stehe. Dieser ideelle Punkt werde aber erst zu einem , wirklichen Punkt' durch die Zeit als Negativität. Von hinten nach vorn gelesen würde dieses Argument eine Erkenntniskritik bedeuten, nach der alles das, was den Status der ,Positivität' im Sinne von Anwesenheit, Gegenständlichkeit und Vorhandenheit zugerechnet bekommt, in typischer Weise zur Vorstellung ,Raum' werde, während alles das, was das je Positive negiert, das Anwesende abwesend macht, zur Vorstellung ,Zeit' gehöre. Hegel betont jedoch, daß es gerade nicht darum geht, wie ,wir' von Raum zu Zeit übergehen, sondern daß der Raum selbst übergehe in Zeit. Das ist nicht zufällig. Der Prozeß der Selbstbewußtwerdung des Geistes führt bei Hegel von außen nach innen. Angefangen von dem ganz abstrakten Auseinander wiederholt sich in den Stufungen seiner Philosophie die gleiche Bewegung des Auseinandertretens und Übergehens in eine höhere Form des Ineinander auf der Grundlage des je Vorhergehenden. In 25 Vgl., G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, (1830), Zweiter Teil, a. a. O. 26 Vgl. für die folgenden Ausführungen desweiteren, G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, (1812-1816, 1831), in: HW, Bd. 5-6, 1969; Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, (1830), Erster Teil, Die Wissenschaft der Logik, mit den mündlichen Zusätzen, in: HW, Bd. 8,1970; Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, (1830), Dritter Teil, Die Philosophie des Geistes, mit den mündlichen Zusätzen, in: HW, Bd. 10,1970. 27 Aus dem Zusammenfallen von Raum und Zeit als in sich unaufgelöstem Widerspruch läßt Hegel den Ort hervorgehen. Aus der Unaufgelöstheit erneuert sich aber der Zerfall. Dieses Hin und Her der Örter ergibt die Bewegung, das Werden als Vergehen und Sichwiedererzeugen von Raum in Zeit und Zeit in Raum. Es entspringt die Materie: „Das Werden ist aber selbst ebensosehr das in sich Zusammenfallen seines Widerspruchs, die unmittelbar identisch daseiende Einheit beider, die Materie." G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, a. a. O., Bd. 9, S. 56, (§ 261). 28 Ebd., S. 48, (§257, Zusatz).
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seiner Geschichtsphilosophie nimmt dies die spezielle Form eines Gegensatzes von Geographie und Geschichte an: die verschiedenen Stadien der Selbstbewußtwerdung des Weltgeistes fallen geographisch auseinander, bilden aber geschichtlich ein Ineinander, eine Einheit 29 . Kehren wir jedoch zu Raum und Zeit als Naturbestimmungen zurück. Die paradoxe gleichzeitige A u f - und Abwertung der Sinnlichkeit bei Kant und die Asymmetrie von Raum und Zeit sind bei Hegel wiederzuerkennen, allerdings erweitert zum Gegensatz Natur und Geist, bzw. Geographie und Geschichte. Die Natur ist das Andere, das Fremde, das Auseinanderfallen der Idee in die Unterschiede des Begriffs zu Raum und Zeit die Natur ist bloßes Durchgangsstadium, Etappe, d. h. weder Heimat noch Front, u m im militärischen Bild zu bleiben. Z w a r nimmt der Geist in seiner Rückkehr zu sich diese Unterschiede mit, aber nur, insofern er sie integriert, zusammenfügt, überwindet. Er muß sich von der Stufe der Natur absetzen, sie hinter sich lassen, darf ihr nicht verfallen bleiben. Allerdings - und darin liegt auch eine Aufwertung der Natur - muß der Geist sich notwendig als Natur entäußern, um so Gegenstand seiner selbst werden zu können. Insofern wird die Natur wesentlicher Teil der objektiven Vernunft, und erhält, analog der vernünftelnden Sinnlichkeit Kants, als vernünftelnde Natur Rang und Würde - aber eben auch nur als solche. Dadurch, daß Raum und Zeit den kantischen Ort der Sinnlichkeit verlassen, stellt sich bei Hegel ihre Asymmetrie innerhalb des Begriffs der Natur dar: die Wahrheit des Raumes ist die Zeit. Entsprechend gilt auf der Ebene der Bewußtwerdung des Geistes: die Wahrheit der Geographie ist die Geschichte.
3. Zeitorientierte Asymmetrie bei Marx Bei Karl Marx verklammerten sich beide Stränge. Ganz kantisch erschließt sich das spezifische oder eigentlich Menschliche durch und in der Zeit, oder wie es Marx schrieb: „Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung." 3 0 Die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit erscheint bei Marx wesentlich als eine Frage der Vermehrung der „freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums" 3 1 . Diese Frage nach der Vermehrung der freien Zeit, d. h. der frei verfügbaren Zeit, mündet bei Marx in eine Kritik der objektiven Verhältnisse ein: ,Zeit' ist nicht einfach eine Konstitutionsleistung des menschlichen Subjekts, sondern hat eine objektive, gesellschaftliche Seite: „ Ö k o n o m i e der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf." 3 2 Alle Ökonomie hat damit einen konstitutiv politischen und ethischen Gehalt, entscheidet sich doch an der Organisation des ökonomischen Gesamtprozesses, wem und wie die ersparte Zeit für 29 Vgl., G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: HW, Bd. 12,1970; Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, (1820),mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, (1833), in: HW, Bd. 7, 1970. Auf beide Schriften wird im Verlauf der Arbeit noch verschiedentlich Bezug genommen. 30 Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, (1898), in: MEW, Bd. 16, 1973, S. 103-152, ebd., S. 144. 31 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, 1983, S. 47-768, ebd., S. 607. Freie Zeit im Sinne von emanzipierter Zeit erscheint bei Marx sowohl als Mußezeit, als auch als Zeit für höhre Tätigkeit. Indem diese den Subjekten zur Verfügung steht und nicht mehr geraubt wird, verändern diese sich in ein andres Subjekt, „und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß." Ebd., S. 607. 32 Ebd., S. 105.
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die volle Entwicklung des Individuums zugute kommt. Die Analytik und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise wird dann auch bei Marx wesentlich in Form von Zeittermini ausgeführt. Dabei erscheint der Kapitalismus einerseits als Fortsetzung aller bisherigen Geschichte: „Die Schöpfung von viel disposable time außer der notwendigen Arbeitszeit für die Gesellschaft überhaupt und jedes Glied derselben (d. h. Raum für die Entwicklung der vollen Produktivkräfte der einzelnen, daher auch der Gesellschaft), diese Schöpfung von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller frühren Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige." 33 Andererseits ist der Kapitalismus die radikale Zuspitzung einer Geschichte, in der die Erwirtschaftung freier Zeit nicht umschlägt in eine gesellschaftliche Verteilung dieser Zeit für alle Individuen, sondern ganz im Gegenteil bleiben sie hier in ihrer Existenzweise an diejenige Zeit gekettet, die als notwendige Arbeitszeit jede Gesellschaftsform zu verausgaben genötigt ist: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch , daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt."34 Bei Marx greifen so die zeitprivilegierende Metaphysik der kantischen Konstitutionsleistungen des Subjekts und die objektive Metaphysik des Geistes bei Hegel ineinander. Von der einen Seite erhält die politisch-ethische Kritik an der ,miserablen Grundlage' der gegenwärtigen Produktionsweise ihr Motiv und ihre Schärfe, erscheint sie doch so als Verrat am potentiell Menschlichen im Menschen. Von der anderen Seite her wird die Zeitprivilegierung begriffen als Ausdruck eines objektiv-historischen Prozesses, demgegenüber eine politischpraktische Kritik möglich wird. Marx, wie die verschiedenen Formen an vulgarisierenden wie kritischen Marxismen, lassen sich insofern als ein zeitprivilegiernder Rationalitätstypus beschreiben, aber auch kritisieren35. Bezeichnenderweise blieben im Rahmen marxistischer Diskussionen diejenigen Positionen, die expressis verbis ,Räumliches' akzentuierten, wie Rosa Luxemburg, Karl August Wittfogel oder der späte Henri Lefèbvre stets minoritär, wenn sie nicht heftig bekämpft wurden. Am entschiedensten hat Lefèbvre diese Kritik ausgeführt 36 . Ihm geht es um eine Verabschiedung der marxistischen Analyse im Horizont des 19. Jahrhunderts. In diesem Horizont erscheint der Kapitalismus als gigantischer Produktionsapparat und als Warenagglomerat, der seine Weise der Produktion nachhaltig durchsetzt und überhaupt erst den Raum seines Produktionsverhältnisses etabliert. Mit der Analytik dieser Seite des Kapitalismus, in seiner noch wildwüchsigen Phase, mußten Zeitkategorien in den Vordergrund treten, eben jenes ,alle Ökonomie ist Ersparnis an Zeit'. Seitdem jedoch verschob sich die Problematik von der unmittelbaren Produktionsthematik hin zur erweiterten Reproduktion des Kapitalismus, damit aber zur nachhaltigen Organisation des zunächst wildwüchsig etablierten Raumes, in dem die kapitalistische Produktionsweise Geltung besitzt. Als Organisationsform dieser Reproduktion entsteht der moderne Staat des 20. Jahrhunderts, der seiner Tendenz nach, so Lefèbvre, totalitär alle Lebensbereiche erfaßt, einschließlich des Bereichs der Produktion selbst. Er beschränkt sich nicht auf die passive 33 34 35 36
Ebd., S. 603. Ebd., S. 601. Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Geopolitik und Marxismus, a. a. O. Vgl., Henri Lefèbvre, La production de l'espace, Paris 1974; Ders., De l'État, 4 Bände, Paris 1976-1978.
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Verallgemeinerung der ökonomischen Verluste und auf klassische Polizeiaufgaben, sondern konstituiert den eigenen Raum seiner Gewalt in Form von sozialer Gesetzgebung, Bevölkerungspolitik, Migrationspolitik, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, Raum- und Landesplanung, Wohnungsbau u. ä. Diese Verlagerung von der Produktions- zur Reproduktionsproblematik interpretiert Leftbvre als eine Verlagerung von dem Thema einer Beherschung der Zeit hin zu einer Herrschaft über den Raum, damit aber zugleich vom Primat der Ökonomie hin zum Primat des Staates und der Politik. Auf diesem hier kurz angedeuteten Wege versucht Leffebvre als Marxist einen Paradigmenwechsel innerhalb des Marxismus einzuleiten, der in seiner Analyse nicht mehr von dem Paar Produktion/Zeit, sondern Staat/Raum ausgehen müsse. Das Begriffspaar Zeit/Produktion habe marxistische Analysen realitätsblind gegen Strukturwandlungen werden lassen, wie sie sich in diesem Jahrhundert vollzogen haben. Was von Leffebvres Analyse zu halten ist, ist hier nicht Gegenstand. Bezeichnend an ihr bleibt, daß in ihr noch einmal in expliziter und weitreichender Weise im Bilde von Zeit und Raum die Grundlagen des gegenwärtigen Zeitalters kritisiert werden. In anderer Weise als bei Lefebvre wurde im klassischen geopolitischen Diskurs, bei politischen Geographen der Jahrhundertwende, bei Raumgeschichtsphilosophen wie Carl Schmitt oder Historikern wie Fernand Braudel die zeitprivilegierende Sicht auf die Ordnung der Dinge bestritten. Um diese Formen des Widerspruchs und um die dabei feststellbaren Widersprüche wird es im weiteren gehen. Dabei wird sich schließlich am geopolitischen Diskurs zeigen, wie sehr dieser selbst bestimmt bleibt von der zeitprivilegierenden Sicht, die infrage gestellt wird - und welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem Sachverhalt und der Konstitution jenes fatalen Raum-Rasse-Diskurses, der auch heute wieder um sich greift.
3 . KAPITEL
Nomos, Raumrevolution und ,Géohistoire'
Ich hatte darauf hingewiesen, daß in heutigen geopolitischen Diskussionen Carl Schmitt einerseits, Fernand Braudel andererseits reaktualisiert werden1. Ohne zum Diskurs der klassischen deutschen Geopolitik gehört zu haben, repräsentieren die beiden Autoren in der Tat die Pole, zwischen denen sich die damalige Geopolitik bewegte, nämlich einerseits das Räumliche an und für sich zu exponieren, andererseits darunter die konkrete, gleichsam mit Händen greifbare Erdräumlichkeit zu verstehen: Schmitt argumentierte als politischer Raumgeschichtsphilosoph, Braudel hingegen als fachwissenschaftlicher Geohistoriker2. An ihnen sollen in diesem Kapitel diese beiden Pole thematisiert werden, zumal ihre raumakzentuierte Analytik auf ein Verständnis der Gegenwart abzielte, in dem diese als eine des Bruches und der Krisenhaftigkeit erkennbar wird, gerade was den Status des Raumes betrifft, ob als Raum an und für sich oder als konkreten und begrenzten Raum der Erde.
1. Eine raumgeschichtliche Perspektive In Schmitts ,Land und Meer' 3 begegnet Heideggers Raumanalyse ironisch gewendet wieder. Er verortet dort die Fundamentalontologie historisch als Ausdruck einer tiefgreifenden Raumrevolution: „Erst heute wird uns ein Gedanke möglich, der in jeder anderen Epoche unmöglich gewesen wäre und den ein deutscher Philosoph der Gegenwart ausgesprochen hat: Die Welt ist nicht im Raum, sondern der Raum ist in der Welt." 4 1 Yves Lacoste sieht z. B. in Braudels Werk über den Mittelmeerraum wichtige und anschlußfähige geopolitische Gehalte. Vgl., Yves Lacoste, Braudel géographe, in: Lire Braudel, von Maurice Aymard u. a., Paris 1988, S. 171-218. 2 Nicht zuletzt der Begriff der,géohistoire', mit seiner Nähe zum Begriff .Geopolitik', dürfte zur verspäteten und reservierten Rezeption der Annales-Schule in Deutschland beigetragen haben, angesichts der in der Einleitung aufgezeigten Art und Weise der Verarbeitung der deutschen Geopolitik nach 1945 in Deutschland. Bezeichnend hierfür ist etwa der Habilitationsvortrag von Dieter Groh, für den die .géohistoire' „Ansätze zu einer kritisch-emanzipatorischen Geschichte unmöglich macht". Dieter Groh, Strukturgeschichte als „totale" Geschichte?, in: Vierteljahreszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 58. Bd., 1971, S. 289-322, ebd., S. 314. 3 Carl Schmitt, Land und Meer, Eine weltgeschichtliche Betrachtung, (1942), Köln-Lövenich 1981. 4 Ebd., S. 106.
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In einer Nachbemerkung5 zu „Land und Meer" bestimmt Schmitt seine Schrift als Versuch, den § 247 der,Grundlinien der Philosophie des Rechts' von Hegel in ähnlicher Weise zu entfalten, wie der Marxismus die § 243-246 entfaltet habe. Eine grobe Irreführung. Die suggerierte Parallelität zum Marxismus enthält de facto die Behauptung der Überlegenheit der eigenen Analyse. In den § 243-246 hatte Hegel die der bürgerlichen Gesellschaft immanenten sozialen Widersprüche festgestellt: den Gegensatz zwischen der progressiven Vergesellschaftung des Menschen und seiner faktischen Vereinzelung und Beschränktheit im Arbeitsprozeß, sowie den Gegensatz zwischen der zunehmenden Anhäufung von Reichtümern und gleichzeitiger, notwendiger Verelendung großer Bevölkerungsteile6. Als Resultat der Analyse hielt Hegel im § 246 fest, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht in sich verharren kann, sondern zu Handel und Verkehr mit anderen Völkern gezwungen ist, um Konsumenten und Subsistenzmittel zu finden. Durch die Verallgemeinerung des Handels und des Verkehrs wird eine Verallgemeinerung des Zusammenhanges der Menschen miteinander, damit des Weltgeistes, befördert. Hierbei aber, und darüber informiert der von Schmitt herangezogene § 247, komme dem Meer eine besond e r e Rolle zu. Das Meer, so Hegel,
ist das der entwickelten
bürgerlichen
Gesellschaft
ent-
sprechende, natürliche Element: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürliche Element das Meer."7 Die egoistische Erwerbssucht der industriellen bürgerlichen Gesellschaft verbindet die Völker der Welt miteinander, indem sie das Meer dem Verkehr und Handel erschließt. Damit wird die Wahrheit des Meeres entdeckt, welches, weit davon entfernt die Völker zu trennen, sie recht eigentlich erst verbindet 8 . Zugleich erweist sich das dem Verkehr und Handel erschlossene Meer als das größte Bildungsmittel für die dieses nutzenden Völker, denn es trägt in die Festigkeit der Erdscholle und in die Begrenztheit des bürgerlichen Lebens die Elemente „der Flüssigkeit, der Gefahr und des Unterganges" 9 . Hegel versäumt im weiteren nicht, den seefahrenden Nationen als Gegensatz die ,verdumpften' und in schmählichsten Aberglauben' versunkenen Inder und Ägypter gegenüberzustellen10. Als belebendes Element wird das dem Handel und Verkehr erschlossene Meer zum Mittel der Kolonisation, welche zugleich zur Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft wird, um sich ihres Bevölkerungsüberschusses zu entledigen und ihre Subsistenzmittel zu finden (§ 248). Die Kolonisation ist somit die zweite Form, in der die bestimmte bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgeht. Der Gegensatz von Land und Meer, von festem Boden und Industrie, von Familienprinzip und bürgerlicher Gesellschaft wird schließlich bei Hegel in und vom Staat aufgehoben, d. h. aber in der Idee des Staates. So sehr auch der Boden verfestigend und das Meer verflüssigend 5 6 7 8
Vgl, Carl Schmitt, Land und Meer, a. a. O., S. 109. Vgl., G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 389, (§ 243). Ebd., S. 391, (§247). Was auch die durchgängige Auffassung von Mahan, Ratzel, Mackinder bis hin zur klassischen deutschen Geopolitik war. 9 Ebd., S. 391, (§ 247). Vergleicht man diese Ausführungen mit Hegels späteren zum Krieg, kann man feststellen, daß der Krieg auf der Ebene der Staaten das gleiche belebende Element darstellt, wie das Meer auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft. 10 Vgl., ebd., S. 392, (§ 247).
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wirken mögen, bleiben diese natürlichen Elemente' für Hegel nicht mehr als die Mittel, durch die der Geist seinen eigenen Zweck erfüllt. Ähnlich argumentiert Hegel in der Geschichtsphilosophie, in der nicht mehr abstrakt von dem Meer die Rede ist, sondern ein ganz bestimmtes in den Blick gerät, nämlich das Mittelmeer, als dem „Schauplatze der Weltgeschichte" 11 :, JDas Mittelmeer ist so das Herz der Alten Welt, denn es ist das Bedingende und Belebende derselben. Ohne dasselbe ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen, sie wäre wie das alte Rom oder Athen ohne das Forum, wo alles zusammenkam."12 Ernst Kapp, den Schmitt in ,Land und Meer' neben anderen aufgriff, erachtete 1845 solche Formulierungen nicht für ausreichend, um philosophisch angemessen das .Verhältnis des Planeten zum Geist als ein wesentliches' 13 darzustellen. Der Geschichtsphilosophie von Vico bis Hegel warf er vor: „Anstatt die geographische Betrachtung durch und durch mit der historischen verwachsen zu lassen, hat man theils geographische Intermezzo's nach subjectiven Gutdünken und ohne Frage nach der Berechtigung ihres Vorkommens eingestreut, theils auch sich mit einer dem Ganzen vorausgeschickten geographischen Grundlage ein für allemal begnügt." 14 Ungeachtet dieser Kritik blieb Kapp genügend Hegelianer, um den Staat als Grund und Wahrheit auch der philosophischen Erdkunde anzuerkennen. Die politische Geographie' macht den Hauptteil seiner .Philosophischen Erdkunde' aus, und deren Begriffe sind es, die auch im 20. Jahrhundert aufgegriffen wurden15. Politik leitete sich für Kapp vom Staat her: „Politik ist Lebensweisheit der Staaten, ist das Wissen von dem Leben des Staates als eines nach den Gesetzen der Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit sich erfüllenden Ganzen." 16 Schmitt bestritt schon im ,Begriff des Politischen' die Richtigkeit eines staatsfixierten Politikbegriffs, ohne dort das Räumliche der Erde zu einem expliziten Angelpunkt seiner Argumentation zu machen. Anders hingegen in seiner .Völkerrechtlichen Großraumordnung' in ,Land und Meer' und im ,Nomos der Erde' 18 . In letzterer historisiert er Hegel, indem er dessen Staatsbegriff als Ausdruck einer mittlerweile untergegangenen Raumordnung interpretiert: „Was die angeblich metaphysisch verstiegenen Formulierungen Hegels besagen, ist nämlich im Grunde und in der Sache nichts anderes, als daß es die raumhaft konkrete, geschichtliche Organisationsform dieser Epoche, der Staat, gewesen ist, der wenigstens auf europäischem Boden als der Träger des Fortschritts im Sinne der steigenden Rationalisierung und Hegung des Krieges gewirkt hat." 19 Hegels Staatsbegriff war für Schmitt der philosophische Ausdruck einer europazentrischen Raumordnung, die sich zeitlich vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erstreckte. Am Beginn dieser Raumordnung stand der Untergang des mittelalter11 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 115. 12 Ebd., S. 115. 13 Vgl., Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, in zwei Bänden, Braunschweig 1845. Auf Kapp komme ich noch mehrfach zurück. 14 Ebd., Bd. 1, S. VII. 15 Die politische Geographie umfaßt bei Kapp im 1. Band die S. 85-331 und im 2. Band die S. 1-361. 16 Ebd., Bd. 1,S. IX. 17 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, (1939), Berlin, Leipzig, Wien 31941. 18 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950. 19 Ebd., S. 121.
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liehen, von der katholischen Kirche garantierten Nomos in Religions- und Bürgerkriegen. Als deren Überwinder sei der Staat entstanden (nicht der moderne Staat, sondern Staat überhaupt, denn dieser ist eine spezifisch europäische Erfindung). Ihm fiel es ab da zu, das Grundproblem des Nomos zu lösen. Nomos enthält das Grundthema Schmitts, die Nähme als Land- und Seenahme. Geschichte ist für ihn zuallererst Landnahme und impliziert das Problem der Teilung und der Bearbeitung des genommenen Landes. Die Nähme des Raumes der Erde ist die Matrix aller menschlichen Geschichte, das Sich-Einräumen auf der Erde ist der Ursprung des Politischen einschließlich dessen, was unter dem Titel der Politischen Ökonomie thematisiert wird 2 0 ., Nehmen, Teilen, Weiden', wie er ,Nemein' übersetzt, sei Grundlage und Thema jeder inneren und äußeren Rechtsordnung. Nomos ist demgemäß die Ordnung und Ortung, d. h. der Nomos stellt einen geordneten Rahmen dar, in dem die Landnahme der Erde sich vollziehen kann und worin sie gesichert wird. Der Nomos enthält Regeln und Prinzipien, nach denen Konflikte (vor allem der Krieg), die aus dem,Nahmeproblem' entstehen, bewältigt werden können. Das ,Nahmeproblem' führt zurück auf den räumlichen Inhalt von Schmitts existentiellem Feindbegriff als dem Kern des Begriffs des Politischen 21 . Die Existentialität der Behauptung des eigenen Seins und des dem eigenen Sein Gemäßen als Volk oder Staat gründet gerade darin, daß das Eigene an diesem Sein nicht zu trennen ist von einem ursprünglichen Akt der Nähme und der Aufteilung des genommenen Landes: die Konstitution eines von anderen Gemeinschaften unterschiedenem Selbst, verstanden als ein Wir, ist materiell betrachtet nichts anderes als die Landnahme und Landteilung. Mit der Landnahme, d. h. dem Ausschluß anderer möglicher Nehmer dieses Landes von der Nähme, wird der Unterschied in den abstrakten Begriff der Menschheit gesetzt. Die Landnahme ist die Konstitution eines von anderen Selbst unterschiedenem Selbst. Das Teilen gibt diesem Selbst eine Form, das Weiden reproduziert es materiell. Die Behauptung des eigenen Selbst als Volk oder Staat meint stets notwendig die Behauptung des genommenen und geteilten Landes. Der politische Feind zielt auf die Wegnahme des Landes, indem er das eigene Selbst angreift, jeder Krieg enthält so bei Schmitt der Idee nach das Ziel einer veränderten Landkarte. Krieg ist immer Krieg um Raum oder sinnlos 22 . Als ultima ratio des Politischen erscheint so bei Schmitt der Kampf um den endli20 Vgl. hierzu auch, Carl Schmitt, Nehmen/Teilen/Weiden, (1953), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954 Berlin 1958, S. 489-504. 21 Die Freund-Feindbestimmung ist nicht identisch mit dem Politischen: „ ... die Unterscheidung von Freund und Feind... gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe." Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, (1932), Berlin 1963, S. 26. Sie kann gerade deshalb nicht identisch damit sein, weil sie die „eigene Art Existenz" und „die eigene, seinsmäßige Art des Lebens" als zu Bewahrendes gegen Anderes voraussetzt. Ebd., S. 27. Die Feinderklärung ist die öffentliche Feststellung ,seinsmäßiger Verschiedenheit'. Ebd., S. 49, und: „Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten existentiellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole ... „. Ebd., S. 28 u. ö. 22 Das macht auch das Zweideutige an Schmitts Kritik .zynischer Kriegsgriinde' aus: ein aus rein religiösen, moralischen, juristischen oder ökonomischen Motiven geführter Krieg war für ihn „sinnwidrig". Ebd., S. 36, und: „Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten." Ebd., S. 49-50. Was zunächst als
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chen Raum der Erde. Deshalb können Kriege im Namen der Menschheit, des Friedens oder des Sozialismus für ihn nur ideologische Worthülsen sein, die den räumlichen Zweck verbergen sollen 23 . Ebenso kann er allein aufgrund dieser Raumhaftigkeit seines Feindbegriffes darauf beharren, die innerstaatliche Feinderklärung als ein abgeleitetes Phänomen anzusehen innere Feinde setzen der Möglichkeit nach äußere Feinde voraus, weshalb die Idealfigur des inneren Feindes die fünfte Kolonne ist 24 . Das Drohende, das von der existentiell fremden politischen Gemeinschaft ausgeht, besteht darin, daß es keinen angebbaren Grund gibt, w a r u m diese Gemeinschaft nur den von ihr momentan beschlagnahmten Erdraum beansprucht und dort ist wo sie ist - warum ist sie nicht hier oder gar auch hier, indem sie sich in das Hier erweitert? Es ist die Erinnerung an die Willkür in der ursprünglichen und jeder späteren Landnahme, von der dieses Drohende ausgeht 25 . Die ursprüngliche Willkür ist nicht zu beseitigen, aber sie wird im Feindbegriff aufgehoben, indem sie dort zu einem bewußten Wollen wird. Im N o m o s ist die Unsicherheit der ursprünglichen Willkür getilgt, Rechtsansprüche sind gesetzt und wechselseitig anerkannt von denjenigen kollektiven Willen, die an dem Nomos teilhaben. Das bedeutet nicht, daß die existentielle Möglichkeit des Krieges und der Landnahme wie Landwegnahme abgeschafft wäre: sie wird bloß gehegt, in Form gebracht. Es entsteht ein Zwang der Rechtfertigung und der Formwahrung gegenüber anderen Mächten, die nicht unmittelbar in die Auseinandersetzung um Land involviert sind, aber durchaus betroffen von Verstößen gegen die Regeln des Nomos, in dessen Geltungsbereich sie selbst sich verorten. Diese Hegung hatte, so Schmitt, der staatlich mediatisierte und europazentrische Nomos der Erde, allerdings nur für Europa, garantiert. Seine formelle Grundlage war der souveräne Flächenstaat, der sich mit wohldefinierten Grenzen gegen andere Individuen gleicher Art abgrenzte. Sein reelles und welthistorisch neues Fundament bestand aber in einem spezifischen Gleichgewicht von Land und Meer, genauer, von festem Land und freiem Meer: „Die entschiedene Kritik des Krieges aussieht, schlägt sofort in seine Rechtfertigung im ,Seinsmäßigen' um: „Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen." Ebd., S. 50. 23 „Wer Menschheit sagt, will betrügen." Ebd., S. 55. 24 „Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum. (...) Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein. (...) Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten." Ebd., S. 54. Ohne den räumlichen Sinn des Begriff des Politischen bliebe auch unverständlich, warum es keinen Weltstaat geben könne, selbst dann, wenn man seine Behauptung akzeptiert, daß ,die Natur' kein möglicher, politischer Feind sein kann und deshalb die Menschheit auf diesem Planeten auch keinen solchen fände. Denn warum sollte solch ein (unmöglicher) Weltstaat nicht innerstaatliche Feinde erklären, wenn es schon keine äußeren mehr gibt? Eben weil zur Möglichkeit des Feindes die sich von anderen politischen Gemeinschaften abgrenzende Verkörperung im Räume, oder zumindest die Idee dazu, gehört. 25 Ohne Zweifel wäre es beruhigend, die notwendige Einheit einer Lebensweise und einer bestimmten Region, eines Klimas, eines Gebirges usw. feststellen zu können, denn dann wäre das Willkürliche der Verteilung der Menschen auf der Erde in der Einsicht in die Notwendigkeit dieser ihrer Verteilung aufgehoben. Das macht den politischen Sinn des Setzens auf Natur als Entpolitisierungsstrategie aus, wodurch Entpolitisierung als spezifische Form des Politischen erkennbar wird.
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große völkerrechtliche Gesamtentscheidung des 16. und 17. Jahrhunderts gipfelte also in einem Gleichgewicht von Land und Meer, in dem Gegenüber zweier Ordnungen, die erst in ihrem spannungsvollen Miteinander den Nomos der Erde bestimmten." 26 Worin bestand das Gegenüber dieser zwei Ordnungen? Zum einen existierte das kontinentale Europa, das ein Gleichgewicht souveräner, territorial scharf getrennter Nationalstaaten ausbildete, die sich wechselseitig gleichsam als satisfaktionsfähig anerkannten. Hier etablierte sich ein Völkerrecht, dessen Leistung in der Hegung des Krieges bestand. Zentralbegriff war darin die Idee des hostis justis, d. h. der Gedanke des nicht diskriminierenden Krieges. Der innereuropäische Krieg zwischen Staaten war kein heiliger mehr, keiner gegen einen .ungerechten Feind' und erst recht kein Bürgerkrieg. Das Ziel des Krieges lag nicht in der Vernichtung des anderen (darin bestand die Hegung), sondern in einem Kräftemessen zwischen Gleichen unter den Augen der anderen europäischen Individuen. Jenseits des umhegten Raumes herrschen nicht die innereuropäischen Regeln. Die Anderen wurden als Wilde, Barbaren, ,abgedumpfte' Inder und Ägypter oder Indianer, die „an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen" 27 (Hegel) sind, definiert und ihr Land als nehmbar aufgefaßt. Der kontinentalen Ordnung stand .ergänzend' und balancierend' die Ordnung des Meeres gegenüber. Das Meer ist, prinzipiell gesehen, frei und steht allen offen, ob Fischer, Händler oder Pirat. Alle vom Land her gedachten Seenahmen wie die Drei-Meilen-Zone sind von daher abstrakte, unwesentliche Konstruktionen, die an der Freiheit der Meere nichts ändern. Gegenüber den Weltmeeren ereignete sich nun, so Schmitt, ein einmaliger Vorgang: eine wirkliche Seenahme im Namen der Freiheit des Meeres. Vollzogen wurde sie von England, das sich, wie Schmitt in .Land und Meer' sagt, von einer Insel der Ritter und Schafzüchter in eine der .Meeresschäumer' verwandelte. Die englische Insel lichtete den Anker und wurde selbst ein Schiff, das das ganze Weltmeer befuhr und es beherrschte. Ja noch mehr, England wurde ein Fisch, wurde zum Leviathan-. „Der große Fisch, der Leviathan, konnte sich in Bewegung setzen und andere Ozeane aufsuchen." 28 Von der Mehrdeutigkeit des Englandbildes als Leviathan wird noch zu reden sein. Der englische Leviathan stellte aber den kontinentalen Nomos nicht in Frage, sondern ergänzte und garantierte ihn vom Meer her: „Das Bindeglied zwischen den beiden verschiedenen Ordnungen des Landes und des Meeres wurde die Insel England. Daraus erklärt sich Englands einzigartige Stellung in und gegenüber diesem europäischen Völkerrecht. England allein ist der Schritt gelungen, aus einer mittelalterlich feudalen und terranen Existenz in eine rein maritime, die ganze terrane Welt balancierende Meeres-Existenz überzugehen." 29 Der geschichtsphilosophische Inhalt dieser These tritt deutlich vor Augen, wenn man sie mit Hegels Einschätzung des Mittelmeeres vergleicht. Die verschiedenen Seenahmen im Mittelmeer waren letztlich immer terran bezogen, sei es mit oder ohne Hinterland, Rom oder Venedig. Das Mittelmeer blieb immer ,La Mediterrannee', der Zwischenraum einander gegenüberliegender Küsten. Das belebende Element des Meeres, von dem Hegel sprach, wurde im Mittelmeer, also dem Schauplatze der hegelschen Weltgeschichte, gar nicht erschlossen. Erst England entdeckte es, indem es eine rein maritime Existenz begann.
26 27 28 29
Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, a. a. O., S. 144. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 108. Carl Schmitt, Land und Meer, a. a. O., S. 95. Ders., Der Nomos der Erde, a. a. 0., S. 144.
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Damit verändert sich aber auch, im Vergleich zu Hegel, die Einschätzung des Verhältnisses zwischen Meer und Industrie. Die Weltmeernahme Englands stellt für Schmitt eine Raumrevolution dar. Die ganze Erde, nicht nur ihr Land, soll beherrscht werden. Auf die historische Frage, wie dies zu leisten sei, stelle die Industrialisierung eine Antwort dar30. Die Dialektik der Industrialisierung bestand jedoch darin, daß sie zwar zunächst die Macht des vom Fisch zur Maschine gewordenen Leviathans ins Unermeßliche zu steigern schien, tatsächlich aber den Untergang des europazentrischen Nomos der Erde mit seinem Dualismus von England und Kontinent herbeiführte. Die Industrialisierung als Antwort auf eine Raumrevolution leitete eine neue, zweite Raumrevolution ein. Die Industrialisierung veränderte, so Schmitt, das Verhältnis zum Element Meer. Zwischen Mensch und Meer trat die Maschine oder, in der Elementenlehre Schmitts ausgedrückt: das Feuer. Die Meeresschäumer wurden zu Maschinenbedienern. Die Beherrschung des Elementes Feuer war aber nicht mehr an den privilegierten Zugang zum Meer gebunden, wie die Flottenpolitik Deutschlands vor dem 1. Weltkrieg oder auch die Entwicklung einer erhöhten Mobilität zu Lande durch die Eisenbahn dokumentierte. Vor allem jedoch blieb die Industrialisierung nicht bei der Mechanisierung des Verhältnisses zu Land und Meer stehen. Sie erschloß das Element der Luft durch Flugzeuge und Radiowellen. Mit dem Erschließen des Luft-Raumes wurden die Kategorien des alten, am Gegensatz von Land und Meer gewonnenen Nomos unhaltbar. Die Unbrauchbarkeit der Kategorien des alten Nomos zeigt sich für Schmitt am Luftkrieg, auf den weder das Prisen- und Beuterecht der See, noch der gehegte Krieg zwischen Landarmeen anwendbar sind. Der Luftkrieg zielt auf Vernichtung des Feindes und um diese zu legitimieren, muß der Feind kriminalisiert werden, d. h. als ungerechter Feind identifiziert werden. Damit zerfällt die Idee des hostis justis, ohne daß ein neuer, von den neuen Weltmächten getragener Nomos etabliert worden wäre: ,police bombing' ersetzt den,gehegten Krieg'. Als Folge des Nomosverlustes sah Schmitt eine polyzentrische Welt verschiedener Großräume entstehen. Diese Großräume, nicht mehr der klassische, europäische Staat, schienen ihm, perspektivisch, die geeignete Grundlage für einen neuen Nomos abzugeben. ,Raum' ist also bei Schmitt nicht äußerer Schauplatz der Geschichte, sondern ihr eigentliches Thema und ihr eigentlicher Urgrund. Die Nähme des ganzen Planeten Erde ist die Weltgeschichte, aber es ist eben nicht so, daß die Menschen nähmen, ohne vom Genommenen unberührt zu bleiben: das Meer belebt(e) und bildet(e) eine eigene Spezies Mensch. Insofern ist bei Schmitt die Erde und ihre Gliederung mehr als ,das Forum, auf dem Alles zusammenkommt' (Hegel), die Erde ist in ein .wesentliches Verhältnis zum Geist' (Kapp) gebracht. Auffällig bleibt dabei aber das Grobe der Begriffe, auch wenn sie die lyrische Form einer traditionsreichen Elementenlehre annehmen. Trotz seines Rückgriffs auf die politischen 30 Diese Überlegung Schmitts, an Toynbee orientiert, ist alles andere als geheimnisvoll. Der hier evozierte Zusammenhang von Machtpolitik und Technologieentwicklung wurde z. B. konkret in der systematischen, von Holland und England betriebenen, Forcierung von Erfindungen, um die Zeitmessung zu präsieren. Von der Zeitmessung hing die Genauigkeit der Meerschiffahrt ab (Ortsbestimmung). Die Technologien zur Zeitmessung waren in der frühen Neuzeit sozusagen eine Schlüsseltechnologie. Jacques Attali weist z. B. auf den Zusammenhang zwischen diesem Technologiesektor und der Entwicklung der Werkzeugmaschine hin, mit der nach Marx überhaupt erst die industrielle Revolution anfing. Vgl., Jacques Attali, Histoires du temps, Paris 1982. So sehr die Präzision der Uhr für die Schiffahrt ein reelles Bedürfnis war, so wenig bedurfte ihrer die Landwirtschaft.
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Geographien von Kapp bis Mackinder kann kaum behauptet werden, daß die sehr allgemeine Entgegensetzung von Land und Meer, von ,Landtretern' und .Seeschäumern', tatsächlich eine .zunehmend geographischere Auffassung der Menschheit' biete.
2. Eine geohistorische Pespektive Anders sein französischer Zeitgenosse, der Geohistoriker Braudel. Er postulierte explizit den geographischen Blick als verbindliche Aufgabe für alle Sozialwissenschaften: „II faut que toutes les sciences sociales de leur côté fassent place à une „conception [de plus en] plus géographique de l'humanité", comme Vidal de la Blache le demandait déjà en 1903."31 Der geographische Blick auf die Geschichte der Menschen ist bei Braudel am ausgeprägtesten in seinem Werk über ,La Méditerranée' 32 , das eine Hauptthese entfaltet: der Mittelmeerraum sei eine historische Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, die sich nicht auf den Status eines Schauplatzes reduzieren lasse, auf dem die Menschen ihre Haupt- und Staatsaktionen aufgeführt haben. Als historische Persönlichkeit garantiere überhaupt erst der Mittelmeerraum eine spezifische Einheit der Geschichte, von der aus das, was sich als chronologische Abfolge beschreiben läßt, als ein besonderer geschichtlicher Zusammenhang begreifbar wird. Damit stellt sich aber, analog der Abgrenzung von Epochen, die Frage danach, inwiefern der Mittelmeerraum als eine Einheit anzusehen ist. Die Frage impliziert die nach der Ausdehnung, also den Grenzen dieses Raumes. Braudel schlägt eine Zweiteilung des Mittelmeerraumes in einen engen und in einen erweiterten Raum vor, letzteren nennt er „La Plus Grande Méditerranée"33. Beim Mittelmeerraum im engen Sinne handelt es sich für Braudel durchaus um eine physische Einheit, für die die Rolle des Klimas in diesem konkreten Fall zentral ist, indem es eine Vereinheitlichung der Landschaften und Lebensweisen hervorbringt, eine Einheit, die es berechtigt, diesen Kernraum als einen,Organismus' anzusehen: „Toutefois il est décisif qu'au coeur de cette unité humaine, sur un espace plus étroit qu'elle-même, joue une puissante unité physique, un climat unificateur des paysages et des genres de vie. (...) il reste décisif que l'organisme méditerranéen soit rythmé, en son centre, par une nappe uniforme de vie et de climat, si particulière que c'est elle seule que désigne couramment le qualicatif de „méditerranéen"." 34 Die klimatische Einheit35 realisiert sich in einem jahreszeitlichen Gegensatz eines wechselnd vom Atlantik und von der Sahara dominierten Wetters mit fast verschwindenden kurzen Zwischenperioden. Mit ermüdender Monotonie wiederholte sich für Braudel in der mediterra31 Fernand Braudel, Histoire et Sciences sociales, la longue durée, in: Annales, Économies, Sociétés, Civilisations, 13. Jg., 1958, S. 725-753, ebd., S. 753. Vgl., Pierre Vidal de la Blache, Principes de géographie humaine, publiés d'après les manuscrits par Emmanuel de Martonne, Paris 1922. 32 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II, (1949, 2 1966, 4 1979), Édition intégrale, 2 Bände, Paris 1986; vgl., La Méditerranée, l'espace et l'histoire, sous la direction de Fernand Braudel, Paris 1985; La Méditerranée, les hommes et l'héritage, sous la direction de Fernand Braudel, Paris 1986. 33 Vgl., Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II, a. a. O., Bd. 1, Teil 1, Abschnitt 3 und 4, S. 153-252. 34 Ebd., Bd. 1, S. 211. 35 Vgl., ebd., Bd. 1, Teil 1, Abschnitt 4, S. 211-252.
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nen Geschichte das Schauspiel, wie im Winter ausgreifende Kriegspläne und Friedensdiplomatie dominierten, während im Sommer die Zeit des Krieges anbrach, besonders wenn Operationen zur See mit eingeschlossen waren. Entscheidender ist für ihn aber die grundsätzliche und allgemeine Prekarität der Subsistenzbedingungen, die aus der Gesamtheit der physischen Bedingungen dieses Raumes folgt, angefangen von der ungünstigen Zeit der Niederschläge bis hin zu der geringen Ergiebigkeit der Fischgründe (mit wenigen Ausnahmen, wie dem Thunfisch) im Vergleich zum Nordatlantik. Die Einheit des Mittelmeerraumes ist aber zunächst bloß abstrakt, ein reines Nebeneinander. Erst die Menschen haben durch ihre fortgesetzte Bearbeitung eine wirkliche Einheit dieses Raumes geschaffen: diese Verwirklichung konstituiert den Horizont der .geographischen Zeit' 36 . Straßen und Städte, Handel und Verkehr verwirklichten historisch die Einheit dieses Raumes37. Solange der Handel innerhalb des Kernraumes blieb, ging er eigentlich aufgrund der Einheitlichkeit nie in die Fremde38 - dafür begegnete überall die gleiche Prekarität der Lebensbedingungen. Durch diese Prekarität gezwungen, griffen Handel und Verkehr schon früh über den Herzraum hinaus und brachten hervor, was Braudel ,La Plus Grande Méditerranée' nennt, ein geographisch vorbereiteter, von Menschen realisierter und vielfältig gegliederter,Großraum'. Die zugrundeliegende geographische Einheit verwirklichte sich für Braudel in der Herausbildung einer mediterranen Weltwirtschaft, wobei sich dieser Gesamtraum selbst in mehrere kleinere Großräume gliederte. Diese Gliederung ging erstens aus dem Wüstenhandel und -verkehr, zweitens aus dem starken See- und Landhandel nach Nordmittel- und Westeuropa und drittens aus dem Handel und Verkehr vom Balkan und der griechischen Halbinsel zum russischen Isthmus hervor. Dabei entstanden, auf einer gemeinsamen Grundlage, drei Zivilisationsrichtungen, denen seit dem 1. Jahrtausend grosso modo drei große Weltreligionen entsprechen. Nicht aber diese Religionen sind die Verursacher dieser Regionen, sondern sie gingen selbst aus diesen hervor. Für Braudel sind Zivilisationen der Inbegriff einer spezifischen Kunst der Lebensführung mit tausenden von Handlungen und Haltungen, die sich als Lebensweisen in Auseinandersetzung mit dem konkreten, regionalen Milieu ausbildeten und im Wechselspiel damit einschleiften. Über den Charakter von Zivilisationen sagt er: „Premier trait donc: les civilisations sont des réalités de très, très longue durée. Second trait: elles sont solidement accrochées à leur espace géographique."39 Allgemeines, wesentliches Ferment von Zivilisationen ist aber für ihn nicht allein eine positive Integration der regionalen Umwelt in eine spezifische Art der Lebensführung, sondern zugleich die hassende Abgrenzung gegen andere Zivilisationen. Die zivilisatorisch Anderen, die Raumfremden, von denen Schmitt 40 ausgrenzend spricht, sind die Feinde schlechthin: „Les civilisations, c'est donc la guerre, la haine, un immense pan d'ombre les mange presque à moitié. La haine, elles la fabriquent, s'en nourrissent, en vivent."41 36 Deshalb handelt Braudel die Städte und Straßen schon im Abschnitt 5 des 1. Teiles ab, der der geographischen Zeit gewidmet ist. Vgl., ebd., Bd. 1, Teil 1, Abschnitt 5, S. 253-322. 37 Vgl., ebd. 38 Dem Abschnitt über „L'unité physique: le climat et l'histoire" ist als Motto vorangestelt: „... les errements d'Ulysse sans sortir d'un seul climat." Ebd., Bd., 1, S. 211. 39 Fernand Braudel, L'histoire, in: La Méditerranée, L'espace et l'histoire, a. a. O., S. S. 157-188, ebd., S. 167. 40 Vgl., Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, a. a. O. 41 Fernand Braudel, L'histoire, a. a. O., S. 172.
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Wie Schmitts Feindbegriff räumliche Implikationen hat, so auch Braudels Begriff des Zivilisationshasses. Bei Braudel kann nach den Ursprüngen des Hasses von seinem Begriff der ,économie-monde' her gefragt werden, wobei Schmitts These, daß die Welt nicht mehr im Raum, sondern der Raum in der Welt sei, ökonomisch interpretiert werden kann. ,Économie-monde' ist ein doppelsinniges Konzept Braudels, das er sowohl im Singular, als auch im Plural gebraucht 42 . Es bedeutet ganz allgemein .Weltwirtschaft' im Sinne der Bewirtschaftung einer Welt, wobei .Welt' nicht identisch mit dem Planeten Erde sein muß43. In diesem Sinne ist .Weltwirtschaft' ein nur relativ zu verstehender Begriff und nicht zu verwechseln mit einer, den ganzen Planeten umspannenden Wirtschaftsstruktur. Allerdings läßt sich von einer planetarischen Wirtschaft aus das Maß gewinnen, wenn von dem realen RaumZeit-Verhältnis ausgegangen wird, mit dem heute Waren, Menschen und Informationen um den Planeten Erde kreisen - mit diesem Maß erscheint das Mittelmeer des 15. und 16. Jahrhundert einer planetarischen Weltwirtschaft analog: „A elle seule, elle était jadis un univers, une planète".44 Die mediterrane ,économie-monde' war aber nicht die einzige ihrer Art auf der Erde. Gleichzeitig mit dieser mittelmeerischen Weltwirtschaft existierten auf der damaligen Erde noch andere Weltwirtschaften, z. B. die indische45. Ihre Verbindungen untereinander blieben jedoch marginal und berührten nicht ihre Substanz. Indem Braudel für die mediterrane Weltwirtschaft aufzuzeigen versucht, daß die dort bewirtschaftete Welt zurückführt auf eine .geographische Individualität', die selbst wiederum ein Glied der Erde als Ganzer sei, behauptet er damit, daß auf dieser Stufe die Welt im Raum ist. Von den Besonderheiten dieses Raumes erhielt diese Welt ihr individuelles Gepräge, darin nachhaltig unterschieden von einer Welt, in der z. B. der Monsun regierte. Die immanenten, regulierenden Wirtschaftsmechanismen hingegen, wie sie ihren Niederschlag in langfristigen Trends und Zyklen finden, hielt Braudel bei den historischen Weltwirtschaften für weitgehend homogen - mit der Ausnahme der mediterranen Weltwirtschaft, in der es im 16. Jahrhundert zu einem paradigmatischen Bruch kam, der in der Folge alle anderen Weltwirtschaften miteinbezog, indem diese in einem längeren Prozeß destruiert wurden. Ergebnis dieses Prozesses ist die kapitalistische Weltwirtschaft der Gegenwart. Bis zu dem paradigmatischen Bruch konstatiert Braudel kapitalistische Momente in allen Wirtschaften, in denen sich als Organisationsform von Güterzirkulation irgendeine Form der Zirkulation von Tauschmitteln ausgebildet hatte. Diese Momente blieben jedoch stets sekundär. Der primäre Wirtschaftsprozeß hingegen folgte, sofern er über Märkte vermittelt wurde, den Prinzipien der Transparenz, Regularität und Öffentlichkeit 46 . Dieser Wirtschaftsprozeß blieb dabei eingeordnet in ein, so Braudel, ,integratives Ganzes', in dem das Wirtschaftliche neben Religion und Zivilisation, Politik und Gesellschaft alles andere als die Hauptsache war. Das ändert sich mit dem paradigmatischen Bruch in der mediterranen Weltwirtschaft. Die bis dahin sekundäre, kapitalistische ,Ratio' wurde primär für den Wirtschaftsprozeß. Braudel 42 Vgl., Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, Aufbruch zur Weltwirtschaft, (frz. 1979), dt. Üb., München 1986. 43 Vgl., ebd., Kapitel 1, S. 17-92. 44 Fernand Braudel, La mer, in: La Méditerranée, L'Espace et l'Histoire, a. a. O., S. 47-80, S. 48. 45 Vgl. zu den anderen Weltwirtschaften, Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, a. a. O., Kapitel 5, S. 429-598. 46 Vgl., ebd., Kapitel 4, S. 305^*28, sowie Kapitel 6, S. 599-708.
Eine geohistorische Perspektive
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bestimmt diese Ratio des Kapitals als das Abschaffen des Prinzips der Wechselseitigkeit: an die Stelle von Transparenz, Regularität und Öffentlichkeit des Marktgeschehens treten Deregulierung, Undurchsichtigkeit und NichtÖffentlichkeit 47 . Das Prinzip kapitalistischer Profitbildung buchstabiert Braudel mit dem Ausnutzen und Verstärken von Asymmetrien. Das gelingt umso besser, je mehr die Kontrolle über Raum und Zeit, das Wissen um Preisdifferenzen zwischen auseinanderliegenden Märkten, allein auf der Seite dessen liegt, der das Kapital innehat, während den übrigen, am Marktvorgang Beteiligkeiten, dieser Überblick unzugänglich wird. In welcher Form sich der Umschlag in eine kapitalitische Weltwirtschaft nach Braudel vollzog, wirft ein bezeichnendes Licht auf Schmitts Nomosthese. Braudel setzt den paradigmatischen Bruch in Zusammenhang mit der Konstitution dessen, was für Schmitt der,raumhaft konkrete Träger des europäischen Nomos der Erde' darstellte: den (europäisch-modernen) Staat. Mit der Konstitution zunächst des spanischen Staates wurden im Mittelmeerraum die kapitalistischen, italienischen Städte überwunden. Diese Überwindung war aber eine von den kapitalistischen Schichten der Städte selbst gewünschte, da sie der inneren wie äußeren Bedrohungen nicht mehr Herr wurden: „L'oeuvre des Rois Catholiques (...) a été voulue, exigée par les bourgeoisies des villes, lasse des guerres civiles, désireuses de paix intérieures, de négoce tranquille, de sécurité."48 In dem spanischen Territorialstaat gingen die Städte aber nicht unter, sondern dieser europäische Typ Staat wurde ein im Dienste kapitalistischer Wirtschaft stehender und ein selbst wirtschaftender. Bestimmte wirtschaftende Klassen behaupten in diesem modernen Staat eine reale Autonomie, im Unterschied zu China, Indien, Moskowien, die als ,command economy' 49 beschrieben, oder, wie Braudel hinzufügt, „in Anlehnung an die veraltete Marxsche Erklärung"50 als asiatische Produktionsweise" bestimmt werden können. Diese Koppelung politischer Macht und eines spezifischen, auf Dauer deregulierenden, wirtschaftlichen Prinzips brachte eine besonders intensive, expansive Tendenz hervor, in der alle anderen bestehenden (Welt)Wirtschaften zum Gegenstand entsprechender politischer und wirtschaftlicher Einwirkung wurden, bis sie schließlich alle in eine zunächst europazentrierte, kapitalistische Weltwirtschaft hineingezogen wurden und ihre Autonomie verloren. Historisch bemerkbar ist die Zäsur erst im 19. Jahrhundert. Während sich bis dahin die verschiedenen Weltwirtschaften auf gleichem Niveau befanden und es etwa zwischen dem Durchschnittseinkommen in Europa, Indien oder anderen Gegenden keine wesentlichen Differenzen gab, geht ab da die Schere auseinander. Daß diese Schere auseinandergeht, ist selbst Ausdruck des Verlustes der Autonomie. Die Erde hat so aufgehört, Ort mehrerer paralleler Weltwirtschaften zu sein. Von der absoluten Raumausdehnung her ist diese kapitalistische, planetarische Weltwirtschaft zwar größer als die vorhergehenden, historischen .économies-mondes', doch in relativen, an der Geschwin47 Vgl., ebd., Kapitel 4, S. 3 0 5 ^ 2 8 ; ebenso, Ders., Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, Der Handel, (frz. 1979), dt. Üb., München 1986. 48 Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II, a. a. O., Bd. 2, S. 19. 49 Vgl., Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, a. a. O., S. 55. 50 Ebd., S. 55. 51 Vgl. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, a. a. O., Kapitel 5, S. 505-666.
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digkeit von Waren, Menschen und Informationen orientierten Maßen gemessen, ist dies nicht der Fall. Die wesentliche Differenz zu früheren Formen ist vielmehr qualitativer Natur, die in dem Prinzip fortdauernder Verstärkung, Schaffung und Ausnutzung von Asymmetrien gründet. Aus dieser qualitativen Differenz läßt sich eine veränderte Perspektive auf die Problematik des,Zivilisationshasses' und dessen ,Hegung' gewinnen, in der es um die Folgen des Zusammentretens von Politik und Wirtschaft mit Beginn des europäischen Staates geht. Durch das Zusammentreten, so Braudel, „fällt seit Beginn der Neuzeit der Vorrang der Wirtschaft immer stärker ins Gewicht".52 Der sich verstärkende Vorrang der Wirtschaft läßt die übrigen genannten Bereiche des ,integrativen Ganzen' nicht unberührt (Religion, Zivilisation, Gesellschaft): die neuzeitliche Wirtschaft „lenkt, stört und beeinflußt die anderen Ordnungen, verschärft die Ungleichheit, hält die an der Weltwirtschaft Beteiligten in Armut und Reichtum gefangen und weist ihnen, wie es scheint, auf sehr lange Sicht ihre Rolle zu." 53 Das kapitalistische Prinzip der Deregulation und Asymmetrie erfaßt die nicht-wirtschaftlichen Ordnungen, deren Ordnungskraft genau damit destruiert wird, ohne daß das dafür verantwortliche Wirtschaftsprinzip selbst eine Ordnung organisieren könnte. Welche Folgen für den ,Zivilisationshaß' könnte das haben? Wenn Braudel davon spricht, daß dieser Haß gleichsam ein Lebensmittel ist, scheint mir das so zu verstehen zu sein, daß der Haß als Teil einer Zivilisation durch diese gebunden und seine Energien in positive Kräfte sublimiert werden, wobei diese Sublimierung, etwa in religiöser Form, durchaus zwiespältig bleibt. Indem aber die Zivilisationen mit ihren religiösen Kernen und vielfältigen alltäglichen Handlungen selbst,gestört' werden, verlieren sie mindestens partiell ihre bindende Kraft, wodurch die Haßpotentiale freigesetzt und mobil werden. Das muß nicht unbedingt negativ sein, denn was Braudel hier unter die eindringliche Kategorie ,Haß' zusammenfaßt, dürfte sehr heterogen in seinen konkreten Quellen sein. In der gebundenen Form als integraler Teil einer Zivilisation sind sie gerade deshalb nicht bearbeitbar, weil jeder Versuch des Abtrags einzelner Bestandteile den Zusammenhang der Zivilisation als Ganze in Frage stellt. Allerdings wird diese prinzipielle Möglichkeit überschattet von den räumlichen Konsequenzen, die die kapitalistische Weltwirtschaft im Unterschied zu den vorherigen Wirtschaften hat. Braudel weist auf die Tendenz der historischen Weltwirtschaften hin, den gesamten Raum einer gemeinsamen Zivilisation zu umfassen - eine Tendenz, keine vollständige, empirische Realität. Von dieser These aus wird eine wesentliche Differenz zwischen der Hierarchisierung innerhalb einer historischen Weltwirtschaft und der den ganzen Planeten umspannenden, kapitalistischen Form erkennbar. Im ersten Fall steht das dominierende Zentrum in einem zivilisatorischen Zusammenhang mit seiner (Semi)Peripherie. Der Haß nach außen kann die Binnenverhältnisse innerhalb des jeweiligen zivilisatorischen Zusammenhanges entlasten, indem die sozialen Hierarchien durch ähnliche religiöse Bezugssysteme und Lebensweisen mit dieser Abgrenzung abgemildert werden. Der Haß nach außen bindet im Inneren Herr und Knecht aneinander, wobei, folgt man der Logik der braudelschen Argumentation, die besondere Geographie des Raumes, in dem die Zivilisation besteht, eine grundlegende, nicht unerhebliche Stütze abgibt: das ,Herz des Islam', so Braudel, ist der Raum des Nahen Ostens54 und dieses Herz schlägt beim islamischen Ausbeuter genauso wie beim islamischen Knecht. 52 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, a. a. O., S. 47. 53 Ebd., S. 47. 54 „Le coeur de l'Islam, c'est l'espace étroit de La Mecque au Caire, à Damas et à Bagdad. On dit trop
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Im zweiten Fall hingegen koppeln sich soziale und wirtschaftliche Herrschaft mit der zivilisatorischen Fremdheit. Von der dominierenden Zivilisation aus betrachtet, sind die Unterworfenen ebenso diejenigen, die als Objekte des Hasses für den Binnenkitt der dominierenden Zivilisation zu sorgen haben. Als Knechte in ein wirtschaftliches Verhältnis zur herrschenden Zivilisation gezogen, müssen sie doch zugleich als Fremde außerhalb des zivilisatorisch vermittelten Sozialverhältnisses existieren, um den inneren Zusammenhalt der herrschenden Zivilisation zu garantieren. Nicht nur materiell, sondern auch emotionell ,ernährt' sich so die dominierende Zivilisation von den dominierten Zivilisationen. Der gewöhnliche und allgemeine Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist ein rationalisierter, ins Denken übersetzter Ausdruck dieses Sachverhaltes, und gerade darin liegt die .Überzeugungskraft' und ,Plausibilität' rassistischer Diskurse, eine Plausibilität, an der noch der Topos von den .fortgeschrittenen Gesellschaften' partizipiert. Die (Selbst)Interpretation der herrschenden Zivilisation als einer Zivilisation der ,Herrenmenschen' legitimiert (und .erklärt') die Beherrschung anderer Zivilisationen, die, als ,Untermenschen', Fremde bleiben und als Fremde ihren Dienst tun. Für die dominierten Zivilisationen ist die Situation dramatisch. Der Haß auf Fremde als Mittel, den eigenen inneren Zusammenhalt zu erhalten, wird durch die Herrschaft eben von Fremden gebrochen - was nicht heißt, außer Kraft gesetzt oder überwunden. Der innere Zusammenhalt erodiert, denn der Ausweg der rassistischen Deutung der Situation enthält auf der Seite der beherrschten Zivilisation eine ganz andere Dynamik: als Explikation der eigenen wirtschaftlichen Unterlegenheit bedeutet sie eine narzißtische Kränkung, der Versuch aber, sie umzukehren, indem die wirtschaftlich dominierende Zivilisation .eigentlich' die Unterlegene sei, behält immer die Nicht-Plausibilität und den erhöhten Begründungsbedarf des eigentlich', bleibt also eine problematische Deutung. Zugleich geht die Stützung durch die geographischen Besonderheiten der jeweiligen , Großräume' verloren, in denen sich nach der braudel'sehen Argumentation die verschiedenen Zivilisationen eingeräumt haben. Übrig bleibt allein das Besondere, das den Planeten Erde von anderen Planeten im Weltall unterscheidet: dieses Besondere jedoch ist für die Gattung Mensch konkret so lange ein Allgemeines, bis nicht andere Planeten besiedelt werden können. Keine besondere Zivilisation auf der Erde kann in diesem Allgemeinen eine Stütze für ihre Besonderheiten im Unterschied zu anderen Zivilisationen finden - umso mehr mögen ihre Mitglieder Veranlassung haben, die abhanden gekommende, .räumliche' Rechtfertigung ihrer Besonderheit und ihrer Abneigung gegen Andere, durch .zeitliche', d. h. auf Historie und Tradition zurückgehende .Gründe' zu kompensieren, oder gar durch .rassische'.
3. , D e r R a u m ist i n d e r W e l t ' Wie weit ist es möglich, diese, von Braudel aus gewinnbaren Perspektiven, mit Schmitts Thesen über Raumrevolutionen, den europäischen Nomos der Erde und dessen Verlust zu verbinden? Beide geben dem Erd-Räumlichen einen besonderen Status, setzen aber konträr an: Schmitt geht vom .Nehmen' und .Teilen' der Erde aus. an das als durchaus abhängige
souvent: l'Islam, c'est le désert, et la formule est belle. Il faudrait dire aussi: l'Islam, c'est le ProcheOrient." Fernand Braudel, L'histoire, a. a. O., S. 162.
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Funktion erst das ,Weiden' anschließt 55 , während Braudel gerade an letzterem ansetzt. Dennoch kommen sie zu bestimmten konvergierenden Auffassungen. Für beide hat die Konstitution der europäischen Form des Staates im 16. Jahrhundert eine besondere Qualität mit auf Dauer einschneidenden räumlichen Konsequenzen. Schmitt sieht in dem Staat die besondere Qualität, der,raumhaft konkrete Träger des europäischen Nomos der Erde' zu sein, während Braudel in ihm die besondere Qualität einer Verabschiedung der Suprematie des Politischen gegenüber dem (kapitalistisch) Wirtschaftlichen sieht. Davon ausgehend erachten beide das 19. Jahrhundert als Umschlagpunkt. Schmitt spricht von der Raumrevolution durch die Weltmeernahme Englands, Braudel von der Schere, die ab da auseinandergeht, wobei für den einen, wie für den anderen dieser Umschlagpunkt auf die Veränderungen im Europa des 16. Jahrhunderts zurückführt. Wie aber steht es um Schmitts These vom Nomosverlust im 20. Jahrhundert im Zuge einer zweiten Raumrevolution? Insofern damit gemeint ist, daß Europa seine Zentralität verliert, sieht Braudel die Sache nicht anders: das Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft verlagerte sich von London nach New York. Aber während Schmitt dies in den paradigmatischen Bruch wendet, daß ab da ,der Raum in der Welt sei', betont Braudel demgegenüber das Moment der Kontinuität. Die Verlagerung bewegte sich innerhalb der seit dem 19. Jahrhundert fest etablierten kapitalistischen Weltwirtschaft mit der weiteren Entwicklungstendenz, daß von New York aus dieses Zentrum ins pazifische Tokio zu wandern scheint56. Dennoch scheint mir bei Braudel, wenn auch mit anderer Datierung, der Sache nach ebenso die Aussage präsent zu sein, daß die Welt nicht mehr im Raum, sondern der Raum in der Welt sei, d. h., daß mit der ausgebildeten kapitalistischen Weltwirtschaft eine Umkehrung des Verhältnisses von ,Raum' und, Welt' eingetreten sei. Diese Aussage läßt sich, wenn auch nur indirekt, erschließen, wenn bestimmte Modifizierungen methodologischer Grundbegriffe im Kontext der Gegenstände interpretiert werden, zu denen sie vorrangig den Zugang ermöglichen sollten. Dabei kommt der Status des Geographischen in Braudels Mittelmeerwerk einerseits, in seiner Sozial- und Wirtschaftsgeschichte andererseits in Betracht. 1946 unterschied Braudel drei Zeitebenen in der Geschichte, die er geographische, soziale und individuale Zeit nannte. Ihr Unterschied war material, nicht formal bestimmt. ,Der' Mensch ist in ihnen auf allen drei Ebenen vertreten, auf den ersten beiden als Gattungswesen und als Generationenfolge, auf der dritten in seiner Endlichkeit als Individuum. Die geographische und soziale Zeit sind rein material differenziert: geographisch steht für das Verhältnis der Menschen zu ihrer natürlichen Umwelt, sozial für das Verhältnis der Menschen zueinander. Braudels Verständnis der .Geographie' schließt an die von Vidal de la Blache57 begründete, französische Traditionslinie der Anthropogeographie an, deren Bedeutsamkeit für eine 55 ,Weiden' repräsentiert bei Schmitt den Bereich der .politischen Ökonomie'. Der Sinn seiner Argumentation zielt darauf, die politische Ökonomie als abhängig von der sie erst ermöglichenden, politischen Ökographie, der Nähme und Verteilung des Landes, zu erweisen. 56 Durch solch eine Verlagerung verschärft sich für Braudel lediglich die Schere, ohne daß etwas substantiell neues sich ereignet. Solche Verlagerungen waren für ihn stets Resultat großer, endogener Krisen des Kapitalismus, die seine prinzipielle Existenz allerdings nicht in Frage stellen. 57 Vgl., Pierre Vidal de la Blache, Principes de géographie humaine, a. a. O., sowie seine Aufsätze in der von ihm herausgegebenen und begründeten Zeitschrift Annales de Géographie, vor allem: Ders., La géographie politique, à propos des écrits de M. Frédéric Ratzel, in: Ebd., 7. Bd., 1898, S. 97-111 ;
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Erneuerung des Geschichtsbegriffs von Lucien Febvre, Doktorvater und Mentor Braudels, in „La Terre et l'évolution humaine"58, dargelegt wurde. An dieser Stelle genügt es, einige zentrale Thesen Febvres herauszustellen. Erstens, so Febvre: eine Analyse der menschlichen Geschichte und Gegenwart muß der natürlichen Umwelt einen systematischen und eigenständigen Status59 geben (dies ist explizit gegen den Morphologiebegriff Dürkheims60 gerichtet). Zweitens: irrig wäre es dabei aber, nach Bezügen zwischen ,der' Natur und ,dem' Menschen zu suchen. Dies führe immer zu deterministischen Verkürzungen (dies ist explizit gegen Friedrich Ratzel gerichtet 61 ). Stattdessen müsse man menschliche Gesellschaften in ein Verhältnis zu Pflanzen- und Tiergesellschaften62 als ihrer Existenzgrundlage setzen, um über diese vermittelt auch anorganische Naturseiten63 (Boden, Klima) miteinzubeziehen 64 . Dieses Verhältnis gelte es als eines der permanenten Wechselwirkung, nicht als einseitige Determinierung zu begreifen: „Actions et réactions perpétuel-
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Ders., Les conditions géographiques des faits sociaux, in: Ebd., 11. Bd., 1902, S. 13-23; Ders., Les genres de vie dans la géographie humaine, in: Ebd., 20. Bd., 1911, S. 193-213 u. 289-304. Vgl. desweiteren seinen Aufsatz in der Revue de Synthèse historique: Ders., La géographie humaine - ses rapports avec la géographie de la vie, in: Ebd., 7. Bd., 1903, S. 219-240. Vgl., Lucien Febvre, avec le concours de Lionel Bataillon, La Terre et l'évolution humaine, a. a. O. Diesen Status zu bestimmen und zu begrenzen ist Grundthema des febvreschen Buches. Febvres Ausgangspunkt in La Terre et l'évolution humaine ist eine Debatte zwischen Emile Dürkheim und Friedrich Ratzel, die in der Année Sociologique geführt wurde. Dürkheim führte als ausdrückliche Antwort auf Ratzels anthropogeographischen Ansatz den Begriff der sozialen Morphologie ein, um dessen Ansatz überflüssig zu machen. Der erste Beitrag zur dementsprechend neu eröffneten Sparte soziale Morphologie in der Année Sociologique war eine Kritik an Ratzel. Febvre kritisiert beide Positionen, um den französischen Ansatz der Anthropogeographie stark zu machen, der im Unterschied zu Ratzels Determinismus possibilistisch verfahre, wobei er allerdings auch diesem gegenüber einige Kritiken anmeldet. Die Beiträge Dürkheims zu der Debatte sind: Note sur la Morphologie sociale, F. Ratzel, Anthropogéographie (Rezension), F. Ratzel, Politische Geographie (Rezension). Sie sind nachgedruckt in: Emile Dürkheim, Journal Sociologique, Paris 1969. Vgl. zu seinem Morphologiebegriff ebenso: Emile Dürkheim, Les règles de la méthode sociologique, (1937), Paris 221986. Friedrich Ratzel antwortete mit dem Beitrag: Le Sol, la Société et l'État, in: Année Sociologique, 2. Bd., 1898-1899, S. 1-14. Zu Febvres Rekonstruktion der Diskussion vgl., Ders., avec le concours de Lionel Bataillon, La Terre et l'évolution humaine, a. a. O., Introduction und Première Partie, S. 11-101. Vgl., Friedrich Ratzel, Anthropogeographie, Erster Teil, Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte, (1882), Stuttgart 21899; Ders., Anthropogeographie, Zweiter Teil, Die geographische Verbreitung des Menschen, Stuttgart 1891. Ders., Politische Geographie, a. a. O. Febvre drückt das so aus: „Pas l'homme, encore une fois - jamais l'homme: les sociétés humaines, les groupes organisés. Et pareillement: impossible d'analyser arbitrairement „l'animal" ou „la plante". Ici encore, à la notion d'individu, il faut substituer celle de société. Ce sont des sociétés que rencontrent, en face d'elles, les sociétés humaines: des sociétés animales, des sociétés végétales." Ders., avec le concours de Lionel Bataillon, La Terre et l'évolution humaine, a. a. O., S. 184. Dabei ist die Pflanze, so Febvre, die wirkliche Vermittlerin zwischen anorganischer und organischer Welt: „La plante: c'est elle, l'intermédiaire véritable entre le monde inorganique et l'autre. C'est elle qui, puisant dans le premier - dans le sol par ses racines, dans l'atmosphère par son système respiratoire - des éléments chimiques qu'elle décompose pour se les assimiler, constitue, comme l'a dit quelque part M. Vidal de la Blache, „une manufacture vivante d'aliments"." Ebd., S. 132. Die paradigmatische Umstellung vom abstrakten Singular ,der Mensch' und ,die Natur' auf die
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les" 65 . Die menschlichen Gesellschaften und die verschiedenen Naturseiten erfahren dabei eine wechselseitige Prägung und Umformung, die sich auf menschlicher Seite als eine bestimmte Lebensführung und Lebensweise, als ein ,genre de vie' 66 , einen Lebensstil darstellt, auf der Seite der natürlichen Umwelt als Landschaft, als paysage61. Indem die Menschen die Potentialitäten ihrer natürlichen Umwelt ergreifen, ausgestalten und verwandeln, werden sie durch diese zugleich ergriffen, ausgestaltet und verwandelt68. Auf menschlicher Seite bilden sich Gewohnheiten (habitudes69) aus, die von Generation zu Generation tradiert werden und einem Flußbett gleich die Richtung der Bemühungen der folgenden Generationen bestimmen70. Die Langsamkeit der Veränderungen resultiert zum einen aus der gewohnheitsmäßigen Gerichtetheit, zum anderen aus der Beharrungskraft des Materials, an dem sich diese bildet und die sie modifiziert: der natürlichen Umwelt. Im Sinne dieser Thesen Febvres ist Braudels .geographische Zeit' zu verstehen. In der sozialen Zeit hingegen sind die Menschen selbst ihr Material, wechselseitig aufeinander bezogen. Die geographische und die soziale Zeit stellen häufig lediglich verschiedene Perspektiven auf historische Phänomene dar, denn auch in der geographischen Zeit steht das Handeln der Menschen nicht in seiner Einzelheit, sondern in seiner wechselseitigen Koordiniertheit vor Augen. Im Mittelmeerwerk Braudels wird daher ein Phänomen wie die Schiffahrt sowohl im ersten Teil unter dem Aspekt des Geographischen, als auch im zweiten Teil unter dem sozialen Aspekt abgehandelt. Das Spezifische der individualen Zeit bestimmt sich dagegen durch die Endlichkeit des menschlichen Individuums. Die soziale und geographische Zeit wird zwar auch durch das Zusammenwirken der menschlichen Individuen hervorgebracht, aber die Rhythmen, die diese beiden Zeiten repräsentieren, transzendieren die unmittelbare Erfahrung und die endliche Lebensperspektive der Individuen, obgleich sie zugleich als Untergrund in den Individuen präsent sind. Diese Endlichkeit ist jedoch bei Braudels .individualer Zeit' nicht von ihrer formalen, sondern von ihrer materialen Seite her erfaßt: „(...) c'est la plus passionante, la plus
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Plurale Menschen-, Tier- und Pflanzengesellschaften begründet Febvre ebd., im 2. Teil (Cadres naturels et sociétés humaines), insbesondere S. 163-185. Ebd., S. 391 u. ö. Allerdings ist bei der Herausbildung der .genres de vie' der Mensch der entscheidende Handelnde, die erste Aktion geht von ihm aus, bevor das Spiel der Wechselwirkungen beginnt: „L'homme existe d'abord, doit dire le géographe utilisant et interprétant la théorie des Genres de vie de Vidal de la Blache. Ses habitudes, ses caractères particuliers, son genre de vie ne sont pas la conséquence nécessaire du fait qu'il est placé dans tel ou tel milieu (...) Ce sont les conséquences de sa nature propre." Ebd., S. 398. Zu diesen Begriffen vgl., ebd., den 3. Abschnitt (Possibilités et genre de vie), S. 189-317. Ebenso zu den folgenden Ausführungen. Bei Febvre heißt es z. B.: „Pour agir sur le milieu, l'homme ne se place en dehors de ce milieu. Il n'échappe pas à son prise au moment précis où il cherche à exercer la sienne sur lui. (...) Actions et réactions perpétuelles." Ebd., S. 391. Ebd., S. 262, heißt es z. B.: „En fait, les habitudes d'existence contractées en certains milieux acquièrent vite assez de constance et de fixité pour devenir des formes de civilisation; et ces formes de civilisation constituent des types qu'on peut géographiquement répartir, qu'il est possible de grouper, de classer, de subdiviser." Febvre schreibt: „L'homme (...) agit à la longue sur la nature, y creuse pour ainsi dire un sillon, toujours le même, toujours dans le même sens (...)." Ebd., S. 261.
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riche en humanité, la plus dangereuse aussi." 71 Indem er das Bewegende und Leidenschaftliche der individualen Zeit herausstellt, bestimmt er real die individuale Ebene als eine des stetig erneuerten Aufbegehrens gegen die Zufälligkeit und Willkür der Situation, in die die Einzelnen geworfen sind, als den Versuch, den endlichen Willen und die endliche Willkür dagegen geltend zu machen. Allerdings bricht sich die individuale Willensseite an den Trägheitsmomenten der sozialen und geographischen Zeit. Die individuale Leidenschaftlichkeit sei „une agitation de surface, les vagues que les marées soulèvent sur leur puissant mouvement." 72 Von der sozialen und geographischen Zeit aus ergeben sich die Probleme, vor die die Individuen je gestellt sind, und an ihnen entscheidet sich die Wirksamkeit und Vergeblichkeit der individualen Handlungen. 1958 formulierte Braudel eine veränderte Konzeption der historischen Zeiten, in der diese formalisiert werden. Er gibt dort die Doppelsinnigkeit des Wortes ,temps' zugunsten der ,durée' auf. Die Länge der Zeit-Dauer wird zum entscheidenden Maßstab: (sehr) lange, mittlere und kurze Dauerhaftigkeit ( longue, moyenne und courte durée) werden ausgezeichnet73. Die 1946 tragende, materiale Seite gerinnt zu paradigmatischen Symbolen, unter denen die formalen Trennungen sinnlich-exemplarisch vorgestellt werden, wobei das (Anthropo)Geographische zum Symbol der (très) longue durée wird. Die Formalisierung der Zeitebenen ist bei ihm gekoppelt mit einer Ausdehnung der Relevanz des Sozialen und Ökonomischen, d. h. im formalisierten ,durée'-Begriff begegnet Soziales und Ökonomisches auf allen voneinander unterschiedenen Ebenen. Diese Ausdehnung ist nicht zufällig, sondern steht in einem allgemeineren, über die unmittelbaren Anlässe einer Kritik an Claude Lévi-Strauss und Jean-Paul Sartre hinausgehenden Kontext. Der für Braudels Begriff der geographischen Zeit tragende Referenzansatz der französischen .géographie humaine' war in eine konzeptionelle und institutionelle Krise geraten. Konzeptionell setzte sie sich von dem sinnlich-allzusinnlich gefaßten Begriff der .paysage' und der,genre de vie' zugunsten von Raummodellen ab, auch wenn sich Braudel mit eigensinnigem Pathos dagegen wehrte: „J'ai souvent pensé qu'une des supériorités françaises dans les sciences sociales était cette école géographique de Vidal de la Blache dont nous ne nous consolerions pas de voir trahis l'esprit et les leçons."74 Als Braudel 1958 seinen Aufsatz schrieb, befand sich die internationale Ordnung in einer Phase, in der ideologisch die soziopolitischen Strukturen und Gegensätze den Vorrang behaupteten: der sogenannte Eiserne Vorhang, eigentlich ja aus heutiger Sicht: die Eiserne Landkarte und der kalte Krieg hatten soziale Fragen zum zentralen politischen und gesellschaftlichen Thema gemacht, gegenüber denen zwei prinzipielle Lösungsstrategien in Form differenter politisch-ökonomischer Systeme geltend gemacht wurden.
71 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II, a. a. 0., Bd. 1,S. 13. 72 Ebd., S. 13. 73 Vgl., Fernand Braudel, Histoire et Sciences sociales, a. a. O. 74 Fernand Braudel, Histoire et Sciences sociales, a. a. O., S. 753. Kurz zuvor schreibt Braudel auf S. 752: „La géographie se pense trop souvent comme un monde en soi, et c'est dommage. Elle aurait besoin d'un Vidal de La Blache qui, cette fois, au lieu de penser temps et espace, penserait espace et réalité sociale."
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Die Wissenschaften, die sich des sozialen Binnengefüges annehmen und darin die Trennungen, aber auch die Mechanismen der Verbindung und der Bindung der Menschen aneinander aufzuzeigen suchen, bekamen Konjunktur: Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse und Kommunikationswissenschaften. Solche Konjunkturen sagen an sich nichts über reale Wissensfort- oder Rückschritte aus. Allerdings haben sie zur Folge, daß die Plausibilität und Überzeugungskraft derjenigen Argumente in interdisziplinären Theorieformulierungen und im Verhältnis zum außerwissenschaftlichen Bereich realitätsgerechter erscheinen und dadurch stärker sind, die der Konjunktur entsprechen. Konjunkturen sind insofern Ausdruck einer besonderen Aktualität bestimmter Wissensformen und von Strategien, diese zu erzeugen. 1958 wäre eine Argumentation, die von einer besonderen, anthropogeographischen Position aus geführt worden wäre, ein entschieden antikonjunkturelles Verhalten gewesen. Braudel hätte sich zwar so den Ruhm eines eigensinnigen Fachhistorikers erworben, aber um den Preis, in interdisziplinären Diskussionen Argumente mit geringer Überzeugungskraft anzuführen. Die Formalisierung ist in dieser Hinsicht teilweise durch Prozesse außerhalb des wissenschaftsimmanenten Diskurses bedingt. Die formalisierende Transformation der material orientierten Zeitbestimmungen macht sich in der Sozialgeschichte Braudels als Unterschied in der Anlage des Werkes gegenüber seiner Arbeit über das Mittelmeer nachhaltig bemerkbar. Die dem Mittelmeerwerk eigene sinnlich-materiale Dimension des Geographischen, das Weißbrot-Wein-Öl-Schema des Mittelmeeres, weicht in der Sozialgeschichte Zeit-und Raummodelten. Bemerkungen über die grundsätzliche Bedeutung des Geographischen erscheinen isoliert und ohne systematischen Zusammenhang im Text, sie sind Deklarationen, nicht Explikationen. Aber liegt der Grund dieser Differenz nicht vielleicht in der Differenz der Gegenstände, um die es geht? Das Mittelmeerwerk behandelte einen abgegrenzten Raumteil der Erde, wobei die zeitliche Zuspitzung im 16. Jahrhundert lag. Dabei konnte Braudel ein integratives Ganzes herausarbeiten, welches sich der Zusammenarbeit der Menschen und der außermenschlichen Natur verdankte und das Mittelmeer als eine historische Persönlichkeit hervorbrachte. Die Gegenwart, aus der Braudel heraus schrieb, hat darin einen doppelten Status. Zum einen bot sie ihm einen Deutungshorizont, aus dem er vor allem durchgängige Lebensweisen und Probleme rekonstruierte. Andererseits drehte Braudel das so Erkannte zur Erläuterung gegenwärtiger Probleme um. Jedoch blieb dieser Aspekt aphoristisch, er vollzieht ihn in der Regel mit den drei Gedankenpunkten (...), die dem Leser den naheliegenden Analogieschluß auf das Hier und Heute anzeigen. In der ,Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhundert' ist es hingegen die Geschichte der Menschen auf der ganzen Erde, die, zumindest in exemplarischer Form, vorgeführt wird. Die Genesis der gegenwärtigen Welt, ihrer Strukturen und Widersprüche ist das Grundtthema dieses Werkes. Im Mittelmeerbuch stellte die Gegenwart einen wesentlich unthematisch bleibenden Hintergrund dar, in der ,Sozialgeschichte' aber ist sie der thematische Vordergrund. Dabei stößt er in der Sozialgeschichte auf das Phänomen, daß die gleichrangige, parallele Existenz verschiedener Weltwirtschaften einer einzigen, die ganze Erde ergreifenden Weltwirtschaft gewichen sind, die eine Vielfalt von Zivilisationen und Regionen zusammenzwingt. Um diese, seit dem 19. Jahrhundert offensichtliche Situation, noch als ein integratives Ganzes überhaupt beschreiben zu können, muß Braudel an den verschiedenen früheren Weltwirtschaften
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das jenseits der besonderen, regionalen Bedingungen liegende Allgemeine herausarbeiten das ist der Zweck seiner vergleichenden Weltgeschichte und der Sinn seiner Modelle. Ob Celle, New York oder Djakarta, die Modelle bleiben auf sie gleichermaßen anwendbar, eintragbar in Verhältnisse von Zentrum-Peripherie, gegründet in langfristigen ökonomischen Trends und Zyklen. Ob indische oder christliche Zivilisation, die unterschiedlichen Formen und Inhalte treten hinter gemeinsamen Momenten wie den des Hasses zurück. Das Besondere an diesen Modellen ist, sofern es um .Räumliches' geht, daß in ihnen ihre Rückführung auf sinnlich wahrnehmbare Besonderheiten der Erdoberfläche zurücktritt hinter die räumlichen Konsequenzen, die etwa eine den ganzen Planeten erfassende, kapitalistisch geprägte Zentrum-Peripherie-Struktur hat. Diese Art der Räumlichkeit sähe auf der Venus oder dem Mars nicht anders aus als auf der Erde. Für die Räumlichkeit der planetarischen, kapitalistischen Weltwirtschaft' sind die Planeten gleichsam austauschbar, während die historischen ,économies-mondes' eingebunden blieben in ein übergeordnetes, ,integratives Ganzes', von dem die je besondere Geographie nicht abzuziehen war. In dieses ,integrative Ganze' blieben Räumlichkeiten der ökonomischen oder sozialen ,Welt' eingefaßt in Geographisches, in dem sie sich bewegten: die Welt war im Raum. Mit der zunehmenden Vorherrschaft des Wirtschaftlichen in der Neuzeit hingegen beansprucht die aus dieser Welt entstehende Räumlichkeit den Vorrang, in die der Raum der Erde als untergeordneter Teil hineingezogen wird: der Raum (der Erde) ist in der Welt und richtet sich nach deren Gesetzmäßigkeiten, wie sie mithilfe von Modellen und Zyklentheorien darstellbar werden. Mit dem Zurücktreten des stofflich Erdräumlichen wird auch das Weißwein-Öl-OlivenSchema, wie es dem Begriff der .geographischen Zeit' zu eigen ist, obsolet, der materiale Begriff weicht einem formalisierten Begriff der ,durée', analog zum Übergang von einem konkreten Raumbegriff, der auf die Besonderheiten der Orte auf der Erde gemünzt war, zu Raummodellen. In diesem Sinne ist auch bei Braudel die These präsent, daß in der Gegenwart der Gedanke möglich sei, daß die Welt nicht mehr im Raum, sondern der Raum in der Welt sei.
4 . KAPITEL
Ontologien des Landes und des Meeres zwischen westlicher Demokratie und Wilhelminismus
„Die Weltgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte." Carl Schmitt „Es ist eines der folgenreichsten Ereignisse des neunzehnten Jahrhunderts, daß der alte Gegensatz von See-
mächten und Landmächten hinfällig geworden ist."
Friedrich Ratzel
Schmitts ,Land und M e e r ' und ,Der Nomos der E r d e ' sind Bücher des Abschieds. Die Weltgeschichte hört auf, wie bisher eine Geschichte des Kampfes der Landmächte gegen die Seemächte und der Seemächte gegen die Landmächte zu sein, denn das zugrunde liegende Koordinatensystem, der Gegensatz von Land und Meer, ist vergangen und selbst Geschichte geworden 1 . Mit der traditionellen Weltgeschichte ist zugleich ein ganzes System politischer Ordnungsvorstellungen, Begriffe und Gegensätze hinfällig geworden. Der Abschied trägt eigentümliche Züge der Melancholie. Der B l i c k auf eine verlorene Vergangenheit koppelt sich bei Schmitt mit den allegorischen Figuren der ,Landtreter' und ,Meeresschäumer'. Die allegorischen Figuren erinnern einen Diskurs, wie er im wilhelminischen Deutschland über Grundlagen und Notwendigkeiten einer ,Weltpolitik', über den Zusammenhang von politischer Macht und Seegeltung, über die Freiheit der Meere und England oder über den aggressiven Drang Rußlands zu schiffbaren Küsten geführt wurde. Seine zugespitzte Form erfuhr dieser Diskurs über Land und Meer in Sinnstiftungen während des 1. Weltkrieges, wie sie in den Kriegsschriften eines Friedrich Naumann, Wilhelm Wundt oder Werner Sombart versucht wurden2.
1 Schmitt schreibt: „Es entfällt die Grundlage der britischen Seenahme und damit der bisherige Nomos der Erde. Statt dessen wächst unaufhaltsam der neue Nomos unseres Planeten. (...). Viele werden darin nur Tod und Zerstörung erblicken. Manche glauben, das Ende der Welt zu erleben. In Wirklichkeit erleben wir nur das Ende des bisherigen Verhältnisses von Land und Meer."Ders., Land und Meer, a. a. 0 . , S. 106f. 2 Um nur einige der renommiertesten Autoren zu nennen. Vgl., Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915; Wilhelm Wundt, Die Nationen und ihre Philosophie, Ein Kapitel zum Weltkrieg, Leipzig
Mahan, Mackinder, Ratzel
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Indem Schmitt die zweite Raumrevolution auf das Ende des 19. Jahrhunderts datierte, denunzierte er rückblickend diesen Diskurs als objektiv falsches Bewußtsein. Dieses falsche Bewußtsein war ihm aber nichts spezifisch Wilhelminisches. Dem amerikanischen Admiral und Seemachttheoretiker A. T. Mahan warf er vor, aus einem „konservativen Bedürfnis nach geopolitischer Sicherheit"3 heraus, „den elementaren Kern einer neuen Raumordnung"4 verfehlt zu haben: „Der Admiral fühlte den Wandel der Zeit, er sah die gewaltigen Veränderungen der Maße und Maßstäbe, die mit der industriellen Entwicklung unweigerlich eintraten. Aber er sah nicht, daß die industrielle Umwälzung gerade den wesentlichen Punkt, das elementare Verhältnis zum Meer betraf." 5 Die Kritik, auf die Schmitt hier abzielt, ist eine an einer spezifischen politischen Ontotogie des Meeres. Die Rationalität des Systems politischer Vorstellungen und Strategien, wie sie aus dieser politischen Ontologie des Meeres im Rahmen der alten Raumordnung entsprangen, war für ihn mit der zweiten Raumrevolution objektiv zerstört, auch wenn die Ideen und Begriffe subjektiv weiterwirkten. Schmitt orientiert sich bei der Rekonstruktion dieser Ontologie, neben den schon erwähnten Kapp und Mahan 6 , an den politischen Geographen Friedrich Ratzel und Haiford J. Mackinder7. Diese Spur wird im folgenden aufgegriffen. Die Wirkungsmächtigkeit dieser drei Autoren erstreckte sich auch auf die klassische deutsche Geopolitik. Sie stellen darüber hinaus ein Bindeglied zu heutigen Geopolitiken und geopolitischen Diskussionen dar, worauf ich schon hingewiesen habe. In sachlicher Hinsicht geht es in diesen aktuellen Diskussionen nicht zuletzt um die politische Geschichtsmächtigkeit des Meeres. Gegen einen vordringlich ökonomisch bestimmten Hegemoniebegriff bei Wallerstein machen George Modelski und William R. Thompson in der Form einer ,long-cycle theory' die selbständige Rolle eines miltärisch-politischen Komplexes geltend 8 . In dieser ,long-cycle theory' wird ein politisch-militärischer
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1915; Werner Sombart, Händler und Helden, Patriotische Besinnungen, München, Leipzig 1915. Vgl. hierzu unten im 7. Kapitel die Ausführungen zum Zusammenhang zwischen den „Ideen von 1914" und der Geopolitik. Carl Schmitt, Land und Meer, a. a. O., S. 102. Ebd., S. 102. Und zwar gerade auch deshalb, weil Mahan versuche, „die Ursituation der britischen Seenahme auch im Zeitalter der Maschine weiterzuführen". Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Mahans Wirksamkeit in den U S A ist, neben seiner Tätigkeit am ,Naval War College' vor allem mit dem Präsidenten Theodor R. Roosevelt (1901-1909) verbunden. International wurde er durch seine Geschichte und Analyse der ,sea-power' relevant. Vgl. zu Mahans Begriffen und zu seiner Rolle für Marinepolitik und -Strategie: Michael Hanke, Das Werk Alfred T. Mahans, Osnabrück 1974; Elmar E. Potter, Chester W. Nimitz, Seemacht, eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, (1960), Deutsche Fassung hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises für Wehrforschung von Jürgen Rohwer, München 1974; Walter Lafeber, Der .merkantilistische' Imperialismus Alfred T. Mahans, in: Imperialismus, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, ( 3 1976), ND, Düsseldorf 1979, S. 389-399; George Modelski, William R. Thompson, Seapower in Global Politics, 1494-1993, Seattle 1988. Mackinder war von 1 9 1 0 - 1 9 2 2 Parlamentsabgeordneter, fungierte 1919/20 als alliierter Hochkommissar in Südrußland und war von 1925-1931 Vorsitzender des Reichswirtschaftsrates in Großbritannien. Akademisch lehrte er von 1 8 8 7 - 1 9 0 5 an der Universität Oxford und leitete von 1903-1908 die ,London Scool of Economics and Political Science', für deren Gründung er sich engagiert hatte. Vgl., George Modelski, William R. Thompson, Seapower in Global Politics, a. a. O. Zu der Diskussion
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Ontologien des Landes und des Meeres zwischen Wilhelminismus und westlicher Demokratie
Hegemoniebegriff zu untermauern gesucht, für den die Stärke der Seemacht den Indikator abgibt 9 : ein unbestrittenes, hegemoniales Weltzentrum existierte bzw. existiere dann und nur dann, wenn es mehr als 50% der Machtmittel zur See auf sich allein vereinige 10 . Anhand dieses Indikators versuchen Modelski und Thompson die großen Kriege und Konflikte der letzten Jahrhunderte in einen zyklischen Zusammenhang zu bringen, der nach wie vor andauere". Ob in diesen heutigen Diskussionen eine politische Ontologie des Meeres gegenwärtig ist, wird hier nicht thematisiert. Präsent war eine solche Ontologie allerdings bei Mahan, Mackinder und Ratzel.
1. Mahan, Mackinder, Ratzel Mahan, Ratzel und Mackinder eint, daß sie die Erscheinungen des Lebens, und gerade auch des politischen Lebens, von einem Begriff der Erde als einer gegliederten Totalität aus entwickelten. Mahan wollte das amerikanische Publikum davon überzeugen, daß die naheliegenden, ökonomischen Interessen der U S A in Asien implizierten, sich weltumspannnend zu orientieren und zu verhalten, also aus der Tradition der ,isolation' herauszutreten12. Ratzel sprach davon, alle Lebensvorgänge auf der Erde von ihrer, tellurischen' Seite her betrachten und sich einer ,hologäischen Erdansicht' befleißigen zu müssen: die Erde stelle einen signifikant gegliederten Organismus dar13. Mackinder nannte diesen ,world-organism' l4 .
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vgl. auch, Christopher Chase-Dunn, Interstate System and Capitalist World-Economy, One Logic or Two, in: World System Structure, hrsg. von W. Ladd Hollist und James N. Rosenau, Beverly Hills, London 1981, S. 30-53; Foreign Policy and the Modern World-System, hrsg. von Pat McGowan und Charles W. Kegley, Jr., Beverly Hills, London, New Delhi 1983. Die indikatorische Funktion beruht aber auf einer weitreichenden Hypothese, die ihre Studie zu untermauern versucht. Diese Hypothese lautet: „In the modern world system, world powers have been sea (or ocean) powers, exercising command of the sea." George Modelski, William R. Thompson, Seapowerin Global Politics, a. a. O., S. 16. Modelski und Thompson unterscheiden ,world-power' und ,global-power'. ,Global-power' ist der allgemeinere Begriff. Als eine solche Macht definieren sie alle Staaten, die über mindestens 5 % aller Schiffskapazitäten oder über 10 % der militärischen Schiffskapazitäten verfügen. Ab 50 % wird aus einer ,global-power' eine ,world-power'. Anders gesagt: es kann viele Großmächte, aber immer nur eine Weltmacht geben. Vgl., ebd., S. 41ff. Vgl., ebd., S. 16, die Zusammenstellung von Zyklen und .Weltkriegen' seit 1494. Daß dieser Zusammenhang andauere, behauptet schon die zeitliche Eingrenzung der Untersuchung im Titel: 1988 veröffentlicht, erstreckt sich der Zeitraum bis 1993, ist also ein Blick in die Zukunft. Alfred T. Mahan, The Problem of Asia and Its Effect upon International Policies, London 1900. Vgl., Friedrich Ratzel, Die Erde und das Leben, 2 Bde, Leipzig, Wien 1902; Ebd., Bd. 2, S. 4, vertritt Ratzel eine „organische Erdauffassung", in der „das Feste, Flüssige und Luftförmige, sowie alles Leben, das aus ihnen und in ihnen erblüht, als ein durch Geschichte und ununterbrochene Wechselwirkung zusammengehöriges Ganze betrachtet" wird. Vgl. auch, Ders., Anthropogeographie, Erster Teil, a. a. O. Ebd., S. 9, heißt es: „Wer hätte nicht nach dem Studium ... in Griesebachs „Vegetation der Erde" schmerzlich das zusammenfassende Wort über die naturgegebene Einheit dieser Teile vermißt? (...) Sollten die tellurischen Merkmale der Pflanzenwelt weniger kenntlich sein als die afrikanischen oder australischen? Oder werden sie nur übersehen, weil wir nicht imstande sind, ihnen die Merkmale entgegenzustellen, die ein anderer Planet seiner Lebewelt aufprägt?" In seinem Vortrag von 1904 sagte Haiford J. Mackinder z. B.: „My aim will not be to discuss the
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Als Totalität betrachtet scheint die Erde weniger ,Erde', als vielmehr Wasser und vor allem Meer zu sein, weshalb Ratzel den Begriff der ,ErdwasserkugeP für angemessener hielt15. Dabei ist das Besondere des Meeres, eine einzige, zusammenhängende Realität zu sein, im Unterschied zu den, durch das Meer getrennten, großen Kontinenten und kleinen Inseln16. Ratzel und Mackinder zogen aus dieser Perspektive die Konsequenz, sämtliches feste Land unter den Begriff der,Insel' zu subsumieren, wobei zwischen den kleinen Inseln der indopazifischen Welt und den großen kontinentalen Landmassen zunächst wesentlich ein quantitativer Unterschied besteht17. Doch schon aus dieser quantitativen Differenz leiteten die genannten Autoren qualitative Differenzen zwischen der Ontologie des Meeres und den Ontologien des Landes ab. Tatsächlich korrespondiert ihrer Auffassung vom prinzipiell zusammenhängenden, einheitlichen und weltumspannenden Charakter des Meeres eine grundsätzliche, einheitliche Ontologie des Meeres an und für sich: „Die einfache und einförmige Größe ist die Grandeigenschaft des Meeres, die uns schon bei jedem Blick vom Ufer überwältigend entgegentritt" 18. Demgegenüber ergaben sich für sie aus den unterschiedlichen Massekonzentrationen des festen Landes unterschiedliche Land-Ontologien, in der der jeweilige räumliche Abstand zum Meer eine wesentliche Rolle inne hatte. Das Gegeneinander beider Seinsordnungen überführten sie in generelle Begriffe der Politik, Ökonomie und Kultur. Obgleich hierbei Mahan und Ratzel zu einer Anzahl allgemeiner, wenn nicht gesetzesmäßiger Aussagen gelangten, blieb es allein Mackinder vorbehalten, sie in eine Gesamttheorie der Geschichte und Gegenwart zu bündeln.
2. Die politische Ontologie des Meeres: Aquatologie Das Wesen des Meeres faßte Mahan in einen Grundbegriff zusammen: communication. Aus diesem Wesen erschloß sich ihm die Geschichtsmächtigkeit und die zivilisatorische Funktion
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influence of this or that kind of feature, or yet to make a study in regional geography, but rather to exhibit human history as part of the life of the world organism." Ders., The Geographical Pivot of History, in: Geographical Journal, Bd. 23, 1904, S. 4 2 1 ^ 4 4 , ebd., S. 422. Die Seiten 437-444 enthalten die Diskussionsbeiträge anläßlich seines Vortrages bei der .Royal Geographical Society'. Bei Friedrich Ratzel, Die Erde und das Leben, a. a. O., Bd. 2, S. 3f., heißt es: „Es ist zu bedauern, daß wir im Deutschen keinen kurzen Ausdruck für Erd-, Wasser und Luftkugel haben, etwa Erdwasserkugel, entsprechend dem Worte Globus terraqueus, das Buache anwenden möchte. Das Wort Erdkugel läßt das Feste zu stark hervortreten." Wobei die in Frage stehenden Autoren ihre Aufmerksamkeit darauf richten, daß das Meer an sich immer eine Einheit war, aber für den Menschen erst in neuester Zeit dazu wurde. Bezeichnend hierfür Mackinder: „The ocean was one ocean all the time, but the practical meaning of that great reality was not wholly understood until a few years ago - perhaps it is only now being grasped in its entirety." Ders., Democratic Ideals and Reality, (1919), with additional papers, hrsg. und mit einer Einleitung von Anthony J. Pearce, RP (1962), Westport Connecticut 1981, S. 28. Vgl. z. B., Friedrich Ratzel, Anthropogeographie, Erster Teil, a. a. O., S. 317, wo er den Menschen einen „Insulaner (denn alles Land ist Insel)" nennt. In, Ders., Das Meer als Quelle der Völkergröße, München, Leipzig 1900, S. 3, heißt es: „Das Meer ist das größte Ganze an unserer Erde, die größten Erdteile sind darin nur Inseln;" Friedrich Ratzel, Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 8.
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des Meeres. Das Meer verbindet und vervielfältigt die Kontakte und Beziehungen zwischen den Menschen, wie es Ratzel analog, darin den Grundfaktor kulturellen Fortschritts erblickend, formulierte. Das verständigungsorientierte Telos des Meeres leitete Mahan aus dessen ökonomischer Potenz ab, die zu entdecken heißt, Handel zu treiben. .Commerce' und Meer schienen ihm idealtypisch zusammenzugehören: „The sea, therefore, is the great medium of communications - of commerce. The very sound, „commerce", brings with it a suggestion of the sea, for it is maritime commerce that has in all ages been most fruitful of wealth; and wealth is but the concrete expression of a nation's energy of life, material and mental." 19 Diese Steigerang nationaler, materieller und geistiger Lebens-Energien im Medium des Seehandels erfaßte für Mahan alle daran Beteiligten, auch wenn sie lediglich produzierten oder konsumierten, ohne selbst den Handel in ihrer Hand zu haben. Der,maritime commerce' stimuliere die Energien aller davon berührten Nationen und fördere ihren politischen und kulturellen Fortschritt. Ebenso gilt das Umgekehrte, daß der zwangsweise oder selbstgewählte Ausschluß vom Meer kulturellen Rückschritt und politische Horizontverengung bedeutet. Ähnlich dem hegelschen Topos von den ,verdumpften Ägyptern' schrieb Mahan: „Nationen wie einzelne Menschen, mögen sie zu Anfang noch so stark sein und widerstandsfähig erscheinen, siechen dahin, wenn sie allein auf sich angewiesen sind und ohne Möglichkeit des Austausches mit anderen, durch den die inneren Kräfte lebendig und gesund erhalten werden. Für die Völker ist der wirksamste Weg dazu die See." 20 Die Wirksamkeit des Meeres sah Mahan allerdings nicht auf das intime Verhältnis von Handel und Meer beschränkt. Eine spezifische Naturseite des Meeres, nämlich wie es auf der Erde verteilt ist, bewirke eine prinzipielle Humanisierung des Menschen. Mahan hebt hervor, daß das Meer nicht sehr weit ins feste Land hineinragt und daß dieser Umstand auch nicht wesentlich durch die Flüsse verändert wird, deren Schiffbarkeit gegenüber den Möglichkeiten des Meeres abfällt21. Der Handel über See ist daher auf den Zugang zu den Küsten angewiesen und auf diese Küsten sind die unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten einer Seemacht zugleich beschränkt. Die direkten Machtmittel einer Seemacht reichen also nicht weit ins feste Land hinein22. Der territorialen Expansion einer Seemacht sind somit enge Grenzen gesetzt, sie ist dauerhaft nur in Küstenregionen und auf kleinen Inseln - im Unterschied zu einer Kontinentalmacht wie Rußland, die sich Stück für Stück ausdehnen kann. Je mehr festes Land hinter den Küsten liegt, desto weniger können Seemächte der Versuchung erliegen, fremden Völkern mit direk19 Alfred T. Mahan: The Problem of Asia, a. a. O., S. 125f. 20 Alfred T. Mahan, Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte, 1660-1812, (engl. 1890 und 1892), überarbeitet und hrsg. von Gustav-Adolf Wolter, Herford 1967, S. 78. 21 Nur bei wenigen Flüssen wie dem Yank Tse Kiang, der deshalb für die Seemächte eine besondere Bedeutung gewinnt, sei dies anders. Vgl., A. T. Mahan, The Problem of Asia, a. a. O., S. 65ff. Den Flüssen fehlt vor allem auch der flächige Charakter des Meeres. 22 In seiner Analyse ,politischer Simulationen' führt Bernd Guggenberger ein Beispiel an, das die von Mahan anvisierte Eigenschaft der Seemacht illustriert: „Als die Bolivianer des vorigen Jahrhunderts den englischen Gesandten mit Schimpf und Schande auf dem Rücken eines Esels aus dem Land jagten, befahl Englands erzürnte Königin Victoria in der ersten Gemütswallung die Entsendung eines Kriegsschiffes. Von ihrem Disraeli belehrt, dies habe seine Tücken: Bolivien sei nun einmal ein ,land-locked country' und durch maritime Muskelspielereien nicht zu beeindrucken, zeigte sich ihre Majestät als Potentatin von wahrhaft politischem Geblüt. Sie löste das Dilemma streng simulationspolitisch: Bolivien durfte auf amtlichen britischen Landkarten nur noch als weißer Fleck erschei-
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ter Gewalt den eigenen Willen aufzuzwingen. Sie sind daher genötigt, von vornherein auf Ausgleich bedacht zu sein und beim Verfolgen ihrer eigenen Ziele die Interessen der anderen Seite zu wahren, kurz: eine .intelligente' Politik zu treiben. „It is this limited capacity of navies to extend coercive force inland that has commended them to the highest political intelligence, as a military instrument mighty for defence, but presenting no menace to the liberties of a people.". 23 Seemächte sind ihrem Wesen nach, das aus der Einheit von Meer und .communication' resultiert, defensiv, Frieden und Ausgleich suchend, und, da der Handel die Produktion stimuliert, nicht nur im Interesse ihrer eigenen Bevölkerung, sondern auch der mit ihnen in Kontakt tretenden, anderen .sozialen Organismen' tätig24. Ganz pragmatisch kann Mahan daraus das gemeinsame objektive Interesse aller Seemächte und der .Asiaten' deduzieren, Asien durch eine Politik der .open door' zu öffnen, werden doch dadurch die Asiaten aus ihrer kulturellen und politischen Erstarrung emanzipiert. An den Seemächten kann und soll die Welt genesen. Ratzel und Mackinder teilten grundsätzlich Mahans Einschätzung der zivilisatorischen Bedeutung des Meeres: das Hinaustreten und Aneignen des Meeres bedeute prinzipiell einen zivilisatorischen Sprung nach vorn. Dieser nehme die seefahrenden Nationen geradezu in die Pflicht, ihre höhere Kultur anderen Nationen zukommen zu lassen und alle Gefahren abzuwehren, die durch kulturell rückständigere Menschengruppen drohen. Im Unterschied zu Mahan und Mackinder zentrierte Friedrich Ratzel seine Wertschätzung des Meeres deutlicher um die machtpolitische Potenz des Meeres 25 . ,Das Meer als Quelle der Völkergröße' meinte bei ihm sowohl die Größe der Kultur, als auch der Bevölkerung und der politischen Macht und galt ihm als die Schule der Weltmächte: „Nur das Meer kann wahre Weltmächte erziehen." 26 Damit ging einher, daß er das, was Mahan als Zwang zu einer .intel-
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nen." Bernd Guggenberger, Die politische Aktualität des Ästhetischen, in: Leviathan, 1993, H. 1, S. 146-161, ebd., S. 150. A. T. Mahan, The Problem of Asia, a. a. O., S. 41f. Alfred T. Mahan schreibt: „(...) as commerce thrives by peace and suffers by war, it follows that peace is the superior interest of those countries which approach by sea. It is, indeed, a reiterated commonplace that the interest of a commercial state is peace." Ebd., S. 41. Andererseits ist es gerade der fehlende Wohlstand einer reinen Landmacht wie Rußland, die diese besonders aggressiv mache: , f r o m these conditions it results that, if the comparative advantages and results of land and water traffic are as has been stated above, Russia is in a disadvantageous position for the accumulation of wealth; which is but another way of saying that she is deficient in means for advancing the welfare of her people, of which wealth is at once the instrument and the exponent. This being so, it is natural and proper that she should be dissatisfied, and dissatification readily takes the form of aggression ... " Ebd., S. 44. Damit ging einher, daß er die Flüsse in politischer Hinsicht im Unterschied zu Mahan „mehr als Verlängerungen des Meeres in das Innere der Länder" auffaßte. Friedrich Ratzel, Politische Geographie, a. a. O., S. 586. Dadurch erhält Ratzels Argumentation diejenige Form von Herübergleiten von Wasser zu Meer und umgekehrt, wie sie auch bei Schmitt begegnet. Ebd., S. 586, schreibt Ratzel: „Indem das Wasser mit seiner Allverbreitung eine Beweglichkeit verbindet, die jede geschichtliche Bewegung zu fordern bereit ist, wirkt es raumerweitemd und beschleunigend tief ins Land hinein. Auf dem Meere geschehen die großen Schritte, die den Boden der Geschichte erweitern." Friedrich Ratzel, Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 40. Ratzel leitet aus verschiedenen Naturseiten des Meeres, wie der Einfachheit, Einförmigkeit der Erscheinungsweise, der Weite des Horizontes und der Ähnlichkeit der Küstenarten in allen Zonen der Welt ab, „daß in Seevölkern
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ligenten und ausgleichenden' Politik aus der begrenzten Reichweite der ,sea-power' ins feste Land ableitete, vom anderen Ende her auffaßte, d. h. nicht von der negativen Schranke, die das Meer am festen Land findet, sondern von der Weite und dem scheinbar ins Unendliche gehenden Horizont, den das Meer positiv darbietet27. D i e s e Weite des Meeres teile sich den seefahrenden Nationen als ein weites ,Raumbewußtsein' mit, das sich bis zu der Höhe erheben könne, den Raum jenseits aller sinnlichen Qualitäten nur noch als Raum an und für sich aufzufassen. D i e s e s raumweite Bewußtsein, wie es aus dem Meer sozusagen in die Psyche der Einzelnen und Kollektive springen soll 2 8 , konstituierte für Ratzel eine politische Überlegenheit gegenüber allen Menschengruppen, die im Banne enger Raumverhältnisse mit einem engen Raumbewußtsein an die Dinge herangehen 29 . Als Grundkategorie menschlichen Bewußtseins zeige sich die raumweite Form in weit ausgreifenden politischen und ökonomischen Plänen, Idealen, Strategien und Vorstellungen. Ratzel behält hier eine skeptische Reserviertheit gegenüber der zivilisatorischen Überlegenheit der seefahrenden Nationen, denn die Weite des Bewußtseins trage schnell den Zug des Oberflächlichen, und auch ihre kooperative Friedlichkeit unterschreibt er nicht so bedenkenlos wie Mahan 30 . Trotz dieses Vorbehaltes blieb auch für ihn die Eroberung des Meeres und die zwangsläufige Rückwirkung, die das Meer damit auf die Ordnung der menschliche Dinge gewann, der entscheidende Motor für den Fortschritt von
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ein Gefühl der Weltbeheimatung sich entwickelt, das für Träger des Weltverkehrs und Anstreber einer Weltherrschaft mindestens höchst nützlich, wenn nicht notwendig ist". Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 591. Ebd., S. 603, heißt es: „Das Meer erzieht Weltmächte." „Diese Weite und Einfachheit des Horizontes kommt dem Lande nirgends zu." Ebd., S. 590. Auch Ratzel sieht eine Schulung der Intelligenz durch das Meer. Diese resultiere aus dem demokratischen Charakter des Meeres, zu dessen Beherrschung nicht die Kräfte eines Einzelnen genügen: „Zahlreiche Kühne, Unternehmende, Weltkundige, Verschlagene helfen dazu. Sie bringt viel mehr geistige Kräfte ins Spiel als die Beherrschung großer Länder. (...) Der in Thätigkeit gesetzte Geist schweift dann auch auf andere Gebiete über, so wie man von den Eleaten gesagt hat, daß dieselbe Kühnheit, die sie in die inselarme Weltsee führte, auch auf den Ozean des reinen Denkens sie habe hinaussteuern lassen." Ders., Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 41. „Das Meer überträgt auf das Land diesen großen Zug einer einheitlichen Kultur.", heißt es bei, Friedrich Ratzel, Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 8. Für Ratzel waren Völker mit raumweitem Bewußtsein die Staatengründer schlechthin, was für ihn stets einen originären Akt der Überwältigung einschloß. Daß die Seevölker besonders friedliebend seien, behauptet Razel also nicht. Ihr Tun sah er aber durch den Fortschritt, den es in der Kulturentwicklung bewirkte, prinzipiell gerechtfertigt. Vgl. z. B., Ders., Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, in: PM, 42. Bd., 1896, S. 97-107. Ratzel konzediert zwar, daß ,sich Seemächte zu überragender Bedeutung in allen Werken des Friedens entwickeln', doch dies ist für ihn gerade auch im besonderen .Schutz der Lage gegründet', den eine Seemacht gerade dann innehat, wenn sie alle Konkurrenten zur See beseitigt hat: „Jede Seemacht verfällt dem Monopolismus. Schon ihre rasche Ausbreitung führt ganz von selbst zur Ausschließung jeglichen Wettbewerbs. (...) Aber auch der Trieb, die unvermeidlichen Konflikte mit anderen Seemächten im Sinne der Alleinherrschaft zu beenden, ist ein Naturtrieb der Seemacht." Kurz: wenn und weil sie herrscht, ist die Seemacht friedlich. Friedrich Ratzel, Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 62.
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Kultur, Staat und Menschheit: „Das Meer, das trennt und verbindet, wird eben dadurch zum Träger des Fortschritts in der Geschichte." 31 Diese Rückwirkung nahm bei allen dreien auch eine ethnologische Dimension an. In Auseinandersetzung mit dem Element des Meeres bildeten sich ihnen Seefahrerethnien aus, besondere Völker und Kulturgruppen, denen das Meer gleichsam in Fleisch und Blut überging32Obgleich sie dabei den darwinistischen .struggle for existence' in ihre Betrachtungen integrierten, faßten sie diese .ethnologische' Thematik nicht von einem (vermeintlich) biologischen Rassebegriff aus auf 33 . Der mit dem Meer in besonderer Weise verwachsene Typus Mensch, wie er am deutlichsten im angelsächsischen Zweig repräsentiert schien, war ein Ergebnis lang andauernder, wiederholter Erfahrung, die auf diese Wiederholung durchaus angewiesen blieb 34 - das bestritten später allerdings manche Autoren der klassischen, deutschen Geopolitik, die eine rassische Prädisposition der Germanen für das Meer behaupteten. Aber die Gruppe der Seevölker stellt nur einen minoritären Ausschnitt der Gattung Mensch dar. Der Großteil der Menschheit lebte und lebt abgewandt vom Meer. Bei ihnen begegnet für die genannten Autoren eine andere Logik der Existenz, die unter dem Primat des festen Bodens steht. Dieser Primat des festen Bodens ist jedoch nicht so einheitlich verfaßt wie das Meer. Das feste Land bedeutet Differenzierung und Zersplitterung der Lebensbedingungen und Horizonte, schon geologisch ist es mannigfaltig gegliedert durch Gebirge, Talsenken, weite Ebenen oder Hochplateaus, schroffe Steilküsten oder lange Sandstrände. Doch auch das feste Land brachten Mahan, Mackinder und Ratzel auf einige wenige, überschaubare Ontologien, aus deren Entgegensetzung zum Meer ihnen erst die Weltgeschichte hervorging.
31 Ebd., S. 54. Ratzel zielt hier auf eine Dialektik von Isolierung bzw. Auseinandertreten und erneutem Zusammentreffen ab, die für ihn das Grundgesetz des Lebens ist: „Einförmigkeit ist Stillstand, nur im Unterschied liegt Bewegung. Leben ist auf allen Stufen Auflösung von Gegensätzen. Zum Leben gehört ebenso notwendig, daß Unterschiede sich bilden, als daß Unterschiede sich ausgleichen. Sie müssen sich auseinanderlegen können, um sich zu sondern, und sie müssen wieder aufeinandertreffen können, um aufeinanderzuwirken." Ebd., S. 54. Hier verbindet er die Erbschaft der hegelschen Logik mit Moritz Wagners „Migrationsgesetz der Organismen", nach dem die Isolation einen wesentlichen Faktor der Evolution ausmache, den Darwin nicht genügend berücksichtigt habe. Ratzels , Anthropogeographie' ist Moritz Wagner gewidmet und der Begriff der .Migration' ist in ihr der Schlüsselbegriff schlechthin, denn .Migration' als Bewegung der Menschen im Raum ist für Ratzel die Grundform .geschichtlicher Bewegung'. Vgl. auch, Moritz Wagner, Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen, Leipzig 1868; Hanno Beck, Moritz Wagner in der Geschichte der Geographie, Phil. Diss. Univ. Marburg 1951. 32 Besonders ausgeprägte .Landtreter' waren für sie .die Slawen', während die Angelsachsen, ,Teutons' (Mahan) und Romanen Hauptvertreter der Seevölker waren. 33 Bewundernswert ist dabei Mahan, der Evolutionstheorie und amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit dem Naturkampf der Völker und Einzelnen um eine glückliche Existenz zu verbinden weiß: strugglefor happy existence. 34 Ähnlich wie später bei Braudel setzten auch sie diese zweite Natur in ein wechselseitig sich bestärkendes Verhältnis zur Religion: griechisch-orthodoxe Kirche und slawische Kontinentalität gehörten dabei ebenso zusammen, wie die christliche und vor allem protestantische Glaubensrichtung und Ozeanität.
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3. Die politischen Ontologien des Landes: Terralogie(n) Allen Ontologien des Landes kommt ein gemeinsamer Aspekt zu, der sich aus der Perspektive des Meeres ergibt: alles feste Land ist Negation des Meeres. Diese negative Ontologie macht bei den drei Autoren allerdings eine lediglich abstrakte Bestimmung des festen Landes aus, in dem gerade das Besondere am Land nicht zur Geltung kommt: die Gegliedertheit und Differenziertheit. Die quantitative Differenz läßt sich auch in Termini räumlicher Distanz zum Meer ausdrücken. Je größer diese räumliche Distanz ist, desto größer ist auch die Eigenmacht des gegliederten Festlandes und seiner besonderen Bedingungen, die es dabei annimmt. Dadurch erst wird es für Mahan, Ratzel und Mackinder notwendig, neben den Gegensatz Land und Meer zumindest für die großen Landzusammenballungen weitere Gegensätze prinzipiell zu unterscheiden: Waldgebiete und Steppe, Flachland und Gebirge35. Insbesondere ein Gegensatz soll auf die Opposition von Land und Meer zurückwirken: derjenige, der aus den Lebensbedingungen in Steppe, Savanne und Wüste einerseits, in Gebieten mit gutem Boden und ausreichend verfügbarem Wasser andererseits folgt. In den letzteren Gegenden können die Menschen an einem Ort verharren, sich geradezu in den Boden eingraben und feste Häuser bauen, ohne über Generationen hinweg ein kleines Areal verlassen zu müssen. Hier können sich die extremen Gegensätze zu Seevölkern ausbilden: eine extreme Verengung des Horizontes, völlige Seßhaftigkeit und Selbstgenügsamkeit36. Anders in den Steppen und Wüsten, wo die Menschen ihre Häuser mitnehmen37. In diesen gehört ein großes Maß an Beweglichkeit zur Überlebensstrategie. Auch wenn sich diese Bewegungen immer wieder durch die gleichen Räume vollziehen, ist damit ein Unterschied gesetzt, durch den diese Räume eine gewisse Analogie zum Meer erhalten und in besonderer Konkurrenz zum Meer stehen38. Wie in der Auseinandersetzung mit dem Meer können hier 35 Daß die europäischen Völkerschaften sich über ein Jahrtausend den immer wieder anstürmenden Steppen Völkern Innerasiens erwehrten, führt z. B. Mackinder auf den Gegensatz von Wald und Steppe zurück, denn die auf der Steppe gegründete Beweglichkeit und Macht „necessarily ceased in the surrounding forests and mountains". Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 427. 36 Ratzel beschrieb diesen Gegensatz zwischen .Scholle' und ,Meer' so: „Dort sagt man: Bleibe im Lande und nähre dich redlich; hier vernehme ich die Botschaft, daß keinem kühnen Mann nur Eine Scholle und keinem hinausstrebenden Volk nur Ein Land angewiesen sei; jedem steht die Welt offen. Aber nur über das Meer führt der Weg dahin." Ders., Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 3. 37 Daraus folgert Ratzel die kulturelle Unterlegenheit des Nomadismus: „Der Mensch ist seinen Herden zulieb höchst beweglich geworden, trotzdem er sich mit mancherlei Kulturbesitz beladen hat; er führt Haus und Geräte bei sich und verweilt nur wenige Wochen an einem Ort, wo er sein kunstreiches Zeltgerüst aufschlägt. Das setzt... einen weiten Raum voraus, auf dem mit allen Hilfsmitteln einer höheren Kultur die Nachtheile einer allzulockern Verbreitung der Bewohner nicht zu vermeiden sein werden. Die höchste Kultur kann also mit dem Nomadismus nicht verbunden sein." Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 61. Geringe Bevölkerungsdichte heißt niedrigere Zahl an Begegnungen, an dauernder Kommunikation und wechselseitiger Anregung, damit aber ein Ausbleiben kultureller Weiterentwicklung. 38 „Mobility upon the ocean ist the natural rival of horse and camel mobility in the heart of the continent. (...) The Tudor Century, which saw the expansión of Western Europe over the sea, also saw
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kühnere Pläne der Raumbeherrschung ,reifen', für die die Machtentfaltung zentralasiatischer Völkerschaften, etwa in Form der,Goldenen Horde', ein signifikantes Beipiel ist39. Dennoch bleibt die Analogie unvollständig. Kein Landweg führt von der Sahara oder aus Zentralasien nach Australien, Japan, England oder in die polynesische Inselwelt. Der universelle, planetarisch-verbindende Charakter des Meeres fehlt. Zudem stellt für sie, bei aller Unwirtlichkeit, weder die Steppe noch die Wüste ein dem Menschen derart fremdes Element dar wie das Meer. In diesen können sich die Menschen ,landtretenderweise', ohne technische Krücke bewegen, während das Durchqueren des Meeres von Beginn an künstlich ersonnener Hilfsmittel bedarf, so primitiv auch ein steinzeitlicher Einbaum anmutet. Die Fremdheit des Meeres stellt eine ungleich höhere Herausforderung an den technischen Verstand dar als jedes feste Land40. Dadurch aber wird es zu einem entscheidenden Motor des technischen Fortschritts. Mackinders Entgegensetzung von ,seamen' und ,horse- bzw. camelmen' drückt das auf besondere Weise aus: die Effektivierung der Bewegung zu Lande nahm den Weg der Zähmung vorgefundener Tiere - demgegenüber bedarf der Schritt aufs Meer eines künstlichen Tieres. Nicht zuletzt darin sahen Mackinder, Ratzel und Mahan den kulturfördernden Charakter des Meeres. Eine weitere Beschränkung der Analogie machten sie in der Beschwerlichkeit aus, Massengüter zu Lande zu transportieren, durch die dieser Weg die Entwicklung von Handel und Wohlstand hemmte41. Dennoch bilden Steppe und Wüste auf dem Land eine dem Meer darin analogen Gegensatz zu den Gebieten der Seßhaftigkeit, daß in ihnen, relativ zu diesen Gebieten, Raumweite und Bewegung vorherrschend bleiben. Die Verdoppelung des Land-Meer-Gegensatzes auf dem Land selbst hat dort aber eine ganz andere Wirkung: er ist geradezu kulturschädlich. Diese Schädlichkeit ergibt sich daraus, daß Steppen und Wüsten vielfältig zu Lande mit den Gebieten der Seßhaftigkeit verzahnt sind. Während die begrenzte Reichweite der ,sea-power' die Seemächte zu einer .intelligenten' Politik anhält, gilt das für die ,horse- und camel-power' gerade nicht. Diese findet zwar ihre Grenze am Meer, aber auf der jeweiligen Landmasse, zu der die jeweiligen Steppen und Wüsten gehören, ist ihre Reichweite praktisch unbeschränkt auch wenn die Chinesen mit der Großen Mauer gleichsam eine künstliche Küste zu ziehen versuchten. Die Steppen- und Wüstenvölker sind in keiner Weise dazu genötigt, .intelligent' Russia power carried from Moscou through Siberia. The eastward swoop of the horsemen across Asia was an event almost as pregnant with political consequences as was the rounding of the Cape, although the two movements long remained apart." Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 432f. Friedrich Ratzel wendet analoge Termini auf Meer und Steppe an: auch für Steppe und Wüste konstatiert er die Einförmigkeit und Einfachheit, die er am Meer betont. Vgl., ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 698f. 39 Ratzel spricht von der politschen Überlegenheit der Steppenvölker gegenüber den seßhaften Völkern, obgleich sie kulturell unterlegen seien. Vgl., Ders., Politische Geographie, S. 53ff. 40 Sehr weitgehend formuliert Ratzel diese Fremdheit: „Der Kampf mit der Natur ist grundverschieden und hat grundverschiedene Ergebnisse auf dem Land und auf dem Wasser. Das Land unterwirft sich der Ackerbauer endlich doch einmal. (...) Das Meer wird niemals gänzlich unterworfen. Der Kampf mit dem Meer ist ein Kampf mit einer weit stärkeren Naturgewalt als der Kampf mit dem Erdboden. Das Meer kann in seinem Verhältnis zum Menschen gar nicht mit dem Lande verglichen werden; es ist überhaupt die reinste Natur, mit der der Mensch in Berührung kommt." Ders., Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O., S. 39f. 41 Vgl. z. B„ Alfred T. Mahan, The Problem of Asia, a. a. O.
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zu verfahren: sie können auf den Einsatz direkter Gewalt setzen, um ihre Interessen zu verfolgen42. Mit den Kategorien von .Geschichte und Eigensinn' ließe sich die bei Mahan, Mackinder und Ratzel präsente Idee so ausdrücken: die Seemächte sind zu einer Kultivierung politischer Feingriffe genötigt, während die Steppen- und Wüstenvölker auf der Ebene politischer Grobgriffe verharren 43 . Objekt dieser Griffe, ob grob oder fein, sind aber die seßhaften Menschengruppen, die ihr Haus und ihr Feld nicht mitnehmen können und deren politischer Horizont allerdings in seiner Enge hoffnungslos unterlegen ist. Ihre Hoffnung reduziert sich darauf, von der belebenden und feinsinnigen Macht des Meeres und nicht von der groben der Wüste und Steppe ergriffen zu werden. Über Ratzel und Mahan hinausgehend hat Mackinder diese gegensätzlichen Ontologien zu einer umfassenden Rekonstruktion der Weltgeschichte auf geographischer Grundlage zusammengebaut und dabei zugleich bestimmt, inwiefern das 20. Jahrhundert in einer qualitativ neuen Situation stehe. Bei der Rekonstruktion der Geschichte und der Analyse der Gegenwart nehmen die abstrakten Ontologien sehr konkrete Namen an, die vom Römischen bis zum Russischen Reich, von Karthago bis zum Britischen Empire reichen. Hier soll allein genügen, wie sich von Mackinder aus die Probleme des 20. Jahrhunderts sortieren.
4. Post-Columbian age Mackinder entwarf zuerst 1904 in einem Vortrag vor der , Royal Geographical Society' eine systematische Theorie über das Verhältnis von Natur, Geschichte und politischer Macht 44 . Ohne die Grundlinien seiner Argumentation zu revidieren, führte er sie 1919 unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges weiter aus, wobei er einige begriffliche Modifizierungen vornahm45. Seine 1904 exponierte Hauptthese ist, daß mit Beginn des 20. Jahrhunderts eine ca. 400 Jahre währende auf der europäischen Inbesitznahme des Weltmeeres begründete Epoche beendet sei: „When historian in the remote future come to look back on the group of centuries which we are now passing, and see them foreshortened, as we today see the Egyptian dynasties, it may well be that they will describe the last 400 years as the Columbian epoch, and will say that it ended soon after the year 1900."46 In der Vor-Kolumbus-Ära waren jeweils nur Teilräume der Erde zu einer politischen und sozialen Einheit integriert. Die Kolumbus-Ära ist demgegenüber diejenige Epoche, in der die ganze Erde, von Europa aus, zu einer Einheit zusammengefaßt wird. Als Grundlage dieser Ära sieht Mackinder die Beherrschung des Weltmeeres, die ,Weltmeernahme' (Schmitt), an. Wie bei Schmitt resultiert für Mackinder das Ende dieser Epoche aus den Folgen technischer 42 Friedrich Ratzel behauptet dabei eine verrohende Wirkung der Wirtschaftsweise: „Mit der Beherrschung der Tiere, dem Schlachten und Blutgenuß hängt eine Gemütsverrohung zusammen, die mit der körperlichen Abhärtung durch das Steppenklima und das Umherziehen auf die Bildung starker, roher Naturen hinwirkt. Das ist dann ein guter Boden für die straffe, durch die Märsche gebotene Ordnung und Disciplin." Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 63. 43 Vgl., Oskar Negt, Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, (1981), Frankfurt am Main 6 1982, S. 20ff. 44 Vgl., Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O. 45 Vgl., Halford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, a. a. O. 46 Halford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 421.
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Revolutionen. Die Epoche nach diesem Ende charakterisiert Mackinder als eine offene Situation des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht 47 Er spricht lapidar von der „post-Columbian age" 48 . Der von ihm 1904 gehaltene Vortrag fällt also selbst in die Post-Kolumbus Arä. Deren politische Strukturen, Probleme, Gefahren und Perspektiven will er bewußt machen, wobei er sich hauptsächlich denjenigen Konstanten widmet, die sich aus der räumlichen Struktur der Erde ergeben sollen 49 . Mackinder will den machtpolitischen Rohstoff aufweisen, die .Natural Seats of Power', der in der Struktur des Weltorganismus liegt und sich, sobald er geborgen wird, organisch, d. h. als natürliches Wachsen derjenigen Macht zeigt, die den Rohstoff birgt. Der Erdorganismus zerfällt bei ihm unter dem Aspekt der Machtquellen in zwei entgegengesetzte Qualitäten: in kontinentale und ozeanische Quellen. Dieser machtpolitische, geographische Rohstoff ist für ihn aber nicht gleichmäßig auf der ganzen Erde verteilt, es gibt rohstoffreiche und -arme Gegenden. In quantitativer Hinsicht macht er eine Zone mit verdichteter Machtpotenz aus, von ihm pivot area genannt. Um diese Zone liegen Ringe mit abnehmender natürlicher Machtpotenz. Nur physiologisch ist die Erde also eine Kugel, machtpolitisch jedoch stellt sie einen Kreis dar. Die pivot area, später (northern) heartland genannt, liegt wesentlich in Rußland und ist rein kontinental: sie grenzt im Norden an unschiffbares Eismeer und bildet eine zusammenhängende, ausgedehnte Trockenzone. Hier verwirklicht sich das Bewegungsprinzip der reinen Kontinentalität, die Benutzung domestizierter Tiere, wie dem Pferd und dem Kamel. Es ist der genuine Raum der,horsemen' und .camelmen' 50 . Um die pivot area liegt ein Saum von Gebieten, die Zugänge zum Weltmeer haben. Hier finden sich die produktivsten Agrarzonen und größten Bevölkerungsverdichtungen der Erde. Die Machtquellen dieses Saumes, des .inner crescent', sind gleichermaßen ozeanisch und kontinental. Um diesen Saum herum lagert die übrige Welt, angefangen von den britischen und japanischen Inseln bis zu Amerika und Australien. Die Machtquellen dieses äußeren Gürtels, des ,outer crescent', sind rein ozeanisch. Letzteres bedeutet nicht, daß es nicht z. B. in inneramerikanischen Angelegenheiten auch um das Verhältnis dortiger Landmächte ginge. Nur: bei der von Mackinder versuchten Beurteilung der natürlichen Machtquellen ist der Bezugsrahmen der Weltorganismus in seiner Totalität. Es handelt sich darum, die Machtquellen zu bestimmen, die für die Beherrschung der gesamten Erde relevant sind, bzw. die relevant sind, um ein 47 Ebenso 1919: „Four centuries ago the whole outlook of mankind was changed in a single generation by the voyages of the great pioneers, Columbus, Da Gama, and Magellan. The idea of the unity of the ocean ... suddenly became a part of the mental equipment of practical men. A similar revolution is in progress in the present generation in the rapid realization of the unity of the Continent owing to modern methodes of communications by land and air." Haiford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, a. a. O., S. 71. Mit .the Continent' ist die .World-island' gemeint, die er auch ,the Great Continent', oder nur ,the Continent' nennt. 48 Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 422. 49 „My aim will not be to discuss the influence of this or that kind of feature, or yet to make a study in regional geography, but rather to exhibit human history as part of the life of the world organism." Ebd., S.422. 50 Deren Ersetzung durch das .Stahlroß', die Eisenbahn, die Strukturen der ,post-Columbian age' erst herbeifuhrt.
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Mächtegleichgewicht weltweit zu erhalten. Da für ihn aber Euro-Asien das Gravitationszentrum der Welt schlechthin ist, um das die anderen Kontinente kreisen, zählen nur die Machtmittel, mit denen dort interveniert werden kann: Interventionen sind aber für den Bereich des äußeren Kranzes nur über das Meer möglich, sonstige Machtmittel zählen im Weltmaßstab nicht. Es mag merkwürdig scheinen, warum gerade die dünnbesiedelte pivot area der machtpolitische Angelpunkt der Welt sein soll. Doch Mackinder argumentiert von der Potenz aus, die in der natürlichen Raumstruktur der Erde liegen soll. Diese räumliche Struktur determiniert allerdings nicht ohne menschliche Initiative die Geschichte der Menschen. Die Initiative ist jedoch keine reine Willenssache, sondern bedarf technischer Mittel zur Beherrschung äußerer Natur und noch mehr einer Organisation der Menschen zu einem gesellschaftlichen Gebilde51. Gerade die technischen Mittel einerseits und die Formen menschlicher Organisation andererseits waren im Verhältnis zu den Schwierigkeiten der Beherrschung der pivot area bisher unterentwickelt52. Mackinders eigentliche, ihn beunruhigende Frage lautet: was bedeutet es für das planetarische Machtgleichgewicht, wenn die pivot area technisch und organisatorisch so beherrscht wird, wie in der Kolumbus-Epoche das Meer beherrscht wurde? Mackinders Begriff der Nach-Kolumbus Ära zeigt schon an, daß diese Frage die unmittelbare Gegenwart und nahe Zukunft betrifft. Die organisatorische Durchdringung der pivot area trägt einen eindeutigen Namen, das Russische Reich: „Russia replaces the Mongol Empire" 53 . Die technische Durchdringung wird durch die industrielle Revolution mit ihren neuen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln (Eisenbahn, Telegraph) möglich und auch praktisch umgesetzt. Die organisatorische und technische Erschließung der pivot area ist für Mackinder immerhin schon so weit fortgeschritten, daß die Kolumbus-Epoche Vergangenheit ist. Die vollkommene Erschließung ist nur noch eine Frage der Zeit: „In the world at large she (Russia, Anm. d. Verf.) occupies the central Strategie position held bei Germany in Europe. She can strike on all sides and be Struck from all sides, save the north. The füll developement of her modern railway mobility is merely a matter of time." 54 51 Gerade auch die soziale Organisation macht er 1919 zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. Unter dem Begriff des .Social Momentum' thematisiert er die die Eigengewalt und -gesetzlichkeit moderner Gesellschaften. Daran schließen als dritter Abschnitt die Betrachtung des ,seaman's point of view' und als vierter des ,landman's point of view' an. Aus dem Komplex dieser drei Abschnitte ergeben sich für ihn die Gefährdungen der Freiheit, die er im 6. Abschnitt unter dem Aspekt der Selbstbestimmung der Völker und im 7. Abschnitt unter dem der Freiheit des Individuums problematisiert. Charakteristisch für die Tendenz moderner Gesellschaften ist ihm die Tendenz der Vorherrschaft des ,Organizer', der alles, ohne Idealismus, in einem rein instrumentellen Sinne unter dem Blickwinkel der Zweckrationalität angeht. Das wilhelminische Deutschland, die ,german Kultur' verkörperte für ihn die reinste Form der Dominanz instrumenteller Vernunft: die westlichen Demokratien hingegen repräsentierten eine, wenn auch stets gefährdete, Koppelung von .idealists' und .Organizers', von Idealismus und Realismus. Vgl., Haiford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, a. a. O., 2. Abschnitt sowie S. 140ff. 52 Der Typus des Technikers und der des .organizer' fiel für Mackinder letztlich im ,Ingenieursblick' zusammen, der beide einte. Seine Auffassung korrespondiert hier derjenigen etwa von Walter Rathenau, Zur Kritik der Zeit, (1911), Berlin 8 1912, oder von Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, (1918,1923), ungek. Sonderausg. in einem Bd., 209.-233. Tsd. des 1. bzw. 188.-202. Tsd. des 2. Bandes, München 1981. 53 Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 436. 54 Ebd., S. 436.
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Seine Einschätzung der technischen Entwicklung ist gleich bei seinem Vortrag kritisiert worden. Der Kritiker Amery wies - ein Jahr nach dem ersten Motorflug durch die Gebrüder Wright! - auf die qualitative Veränderung hin, die die motorisierte Luftfahrt bedeute. Sie nivelliere den Gegensatz Landmacht - Seemacht und ersetze diesen durch die industrielle Leistungsfähigkeit und wissenschaftliche Innovationsfähigkeit 55 . Für Mackinder hingegen wirkt sich die Industrialisierung der Verkehrstechniken zugunsten der Landmacht aus. 1919 hebt er dies auch ausdrücklich für die motorisierte Luftfahrt hervor, die, als Luftwaffe eingesetzt, die Fähigkeit einer Landmacht ohne eigene Seestreitkräfte erhöhe, eine Seemacht von den Küsten fernzuhalten. Obgleich er also das Ende einer Epoche konstatiert, hält er das Koordinatensystem Landmacht—Seemacht auch in seinen späteren Schriften aufrecht. Wie Mahan stellt Mackinder die expansive Tendenz Rußlands in Richtung Meer als die eigentliche Gefahr für das Machtgleichgewicht auf der Erde dar, das heißt, die Perspektive eines in seinem Kern für Seemächte unangreifbaren , pivot-state', der selbst von Land her den Seemächten die für sie existentiellen Küsten streitig macht und droht, sie vom Zugang zum wichtigsten Kontinent der Erde auszuschließen. Verschärft wird für ihn dieses geographisch-strategische Problem dadurch, daß zwischen der,pivot area' und den Russen gar kein notwendiger Zusammenhang besteht. Die pivot area ist ein natürlicher, geographisch lokalisierbarer Raum, dessen Macht denjenigen zufließt, die ihn organisieren, wer immer es auch sei. Er erwägt ausdrücklich die Möglichkeit einer Verdrängung der Russen durch die Chinesen, wie zuvor die Russen die Mongolen verdrängt haben: „Were the Chinese, for instance, organized by the Japanese, to overthrow the Russian Empire and conquer its territory, they might constitute the yellow peril to the world's freedom just because they would add an oceanic frontage to the resources of the great continent, an advantage as yet denied to the Russian tenant of the pivot region." 56 Als alternative Gefahr erwägt Mackinder die freiwillige Assoziation Deutschlands, als Reich im ,inner crescent', mit Rußland. Gegen eine, von japanisierten Chinesen beherrschte pivot area wären die Seemachtmittel des Britischen Empire genauso unterlegen, wie gegenüber einer Assoziation Deutschland-Rußland. Lediglich eine konzertierte und kontinuierliche Zusammenarbeit aller ozeanischen Mächte mit den übrigen Regionen des inneren Saumes des Kontinents Euro-Asia könnte dann noch ein Machtgleichgewicht herstellen. Jeder Staat am Rande des großen Kontinents wäre in diesem Fall ein Brückenkopf für die Seemächte, oder, wie es in späteren Theorien hieß: ein Dominostein: „The oversetting of the balance of power in favour of the pivot state (...) might happen if Germany were to ally herself with Russia. The threat of such an event should, therefore, throw France into alliance with the over-sea powers, and France, Italy, Egypt, India, and Corea would become so many bridge heads where the out-
55 „... that both the sea and the railway are going in the future - it may be near, or it may be somewhat remote - to be supplemented by the air as a means of locomotion, and when we come to that (as we are talking in broad Columbian epochs, I think I may be allowed to look forward a bit) - when we come to that, a great deal of this geographical distribution must lost its importance, and the successful powers will be those who have the greatest industrial basis. It will not matter whether they are in the centre of a continent or on an island; those people who have the industrial power and the power of invention and of science will be able to defeat all others." Mr. Amery, Diskussionsbeitrag, in: Haiford J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, a. a. O., S. 439^41, ebd., S. 441. 56 Ebd., S. 437. Der Ausblick auf diese Möglichkeit beschließt Mackinders Ausführungen 1904.
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side navies would support armies to compil the pivot allies to deploy land forces and prevent them from concentrating their whole strength on fleets." 57 Bestechend ist, wie Mackinder die mahansche Entgegensetzung von defensiver reiner Seemacht und aggressiver reiner Landmacht in ein universelles Bild der Erdoberfläche bringt. Die reinen Seemächte liegen im ,outer crescent', sind also machtpolitische Peripherie. Das ganze Aufgebot verbündeter Seemächte und ihrer Alliierten im,inner crescent' vermag lediglich das Macht-Gleichgewicht zu halten. Anders der in seinem Kern für die Seemächte unzugängliche ,pivot-state', der das (geographische) potentielle Machtzentrum der Erde ist. Hier können Weltbeherrschungspläne reifen und Realität werden, oder, wie Mackinder es 1919 auf die Formel brachte, dabei von ,heartland' und ,world-island', statt von ,pivot-area' und ,Eurasia' sprechend: „Who rules East Europe commands the Heartland: Who rules the Heartland commands the World-Island: Who commands the World-Island commands the World." 58 Rudolf Kjellen, Erich Obst und andere klassische Geopolitiker entwarfen, wie noch zu sehen sein wird, ein durchaus anders gelagertes Bild der Erde: nicht eine ,pivot area', nicht ein ,heartland', sondern die Britische Insel liege im Zentrum der Nordhalbkugel und bilde deren strategische Mitte, was auch aussagen soll: gerade hier, in Mackinders Heimat, können nur Weltbeherrschungspläne,reifen'. Der erste Satz in Mackinders Formel bedarf einer Erläuterung, denn in ihm macht sich die wichtigste Modifizierung seiner Theorie geltend, mit der er die Erfahrung des 1. Weltkrieges einholen wollte. 1904 hatte er noch die,pivot area' in ein gleichwertiges Verhältnis zu Europa und Asien gebracht und einer deutschen Gefahr eine chinesische beigesellt. 1919 behauptet Mackinder etwas sehr anderes: die chinesische Gefahr sieht er nicht mehr, denn der Kern des .heartland' sei nicht nach Ostasien, sondern nach Europa und Arabien ausgerichtet. Daß diese Region von einer europäischen Macht letztlich organisiert werde, nämlich dem Russischen Reich, hält er für keinen historischen Zufall, sondern in der Natur derWeltinsel' vorgeschrieben. Das Herzland dieser Weltinsel sei vor allem mit Kontinental-Europa und Arabien verbunden 59 . Um diese reduzierende Zentrierung auf Europa und Arabien zu untermauern, nimmt Mackinder zwei weitere Änderungen vor. Bei seiner früheren ,pivot-area'-Analyse hatte das Afrika südlich der Sahara keine Funktion. 1919 hingegen spricht er von der Weltinsel und meint damit Eurasien und ganz Afrika. Das zuvor ausgeschlossene mittlere Afrika avanciert sogar zu einem .southern heartland'. Dessen unmittelbare machtpolitische Wichtigkeit bleibt für Mackinder zwar sekundär, da der Großteil des Festlandes auf der Nordhalbkugel konzentriert ist. Mittelbar jedoch führt die Einführung des, südlichen Herzlandes' dazu, den Nahen Osten aufzuweiten, der zu einem Kreuzungspunkt strategischer Linien wird, da er zum einen zu Lande ein Bindeglied zwischen dem Inner crescent in Europa und dem in Asien darstellt, zum anderen eine Landbrücke vom ,Northern' zum,Southern Heartland'.
57 Ebd., S. 436. 58 Haiford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, a. a. O., S. 150. 59 Seine Ausführungen über die geographische Struktur der, Weltinsel' zusammenfassend schreibt Mackinder: „The conclusion to which this discussion leads is that the connection between the Heartland, and especially its more open western regions of Iran, Turkestan, and Siberia, is much more intimate with Europe and Arabia than it is with China and India, or yet with the Southern Heartland of Africa." Ebd., S. 104.
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Mackinders Modifizierung seiner ,pivot-area'-These macht die Regelung kontinentaleuropäischer Fragen zum entscheidenden, strategischen Problem in der Post-Kolumbus-Ära. Dabei zielte er auf zwei besondere Regionen ab, nämlich auf Osteuropa und auf Deutschland, wobei ihm die deutsche Frage in der fehlenden Abtrennung von Osteuropa bestand. Der gemeinsame Nenner beider Regionen ist ihr Schlüsselcharakter für einen freien Zugang zum Weltmeer. Nur solange solch ein Zugang dem ,heartland'-Besitzer verwehrt blieb, konnte für Mackinder eine einseitige Hegemonie dieses .Besitzers' verhindert werden. Die besondere strategische Relevanz Osteuropas sah Mackinder darin, daß von hier aus der Weg nach Westeuropa, dem eigentlichen Ort eines freien Zugangs zum Weltmeer an dieser Seite der Welt-Insel, ebenso offen stand, wie umgekehrt Osteuropa selbst überging ins eigentliche heartland, bzw. teilweise mit diesem zusammenfiel. Die deutsche Frage hing aufs engste damit zusammen, denn für ihn ging die Trennlinie zwischen West- und Osteuropa mitten durch Deutschland. Das weite Hineinreichen Deutschlands nach Osteuropa bedeutete insofern eine dauernde Instabilität, da einerseits das technisch entwickelte, teilweise ozeanische Deutschland auf dem Wege einer Dominierung Osteuropas sich selbst als Herr des,heartland' versuchen könnte, während umgekehrt Rußland gerade in einer siegreichen Auseinandersetzung mit Deutschland alle seine strategischen Probleme auf einen Schlag lösen könnte. Mackinder schlug eine grundsätzliche Lösung vor, bei der noch einmal das Spiel der Entgegensetzung von Land- und Seemacht zum Tragen kommt. Deutschland sollte ozeanischer und westlicher werden, indem Ostpreußen an Polen und Westpolen in Kompensation dazu an Deutschland mit entsprechender Umsiedlung der jeweiligen Bevölkerung gehen sollte. Rußland sollte möglichst überhaupt vom Meer abgesperrt bleiben. Das osteuropäische Gebiet zwischen Deutschland und Rußland sollte wiederum in eine Kette von Staaten zergliedert werden, die der Unterstützung durch die Seemächte sicher sein sollten.60 Mackinders begriffliche Modifizierungen gegenüber 1904 und seine ordnungspolitischen Vorschläge entspringen nicht zuletzt seiner Kritik an den deutschen Mitteleuropakonzeptionen vor und während des Weltkrieges, von denen er exemplarisch Friedrich Naumanns .Mitteleuropa' kritisiert. Die Aufwertung des Nahen Ostens durch die Einführung eines Southern heartland' liest sich wie eine Replik auf Jäckhs,größeres Mitteleuropa' von Deutschland bis zur Türkei, auf das ich oben hingewiesen habe61. Ebenso ist Mackinders scharfe Trennung von West- und Osteuropa eine klare Absage auch an den Begriff .Mitteleuropa' selbst: es gibt nur .West' und ,Ost' in Europa, aber keine Mitte. Diese spezifische Verbindung von Aqua- und Tetralogien, historischer Situation, politisch-strategischem Denken und Demokratiekreislehre62 bei Mackinder, die teilweise heutige Geopolitiker als demokratische Geopolitiktradition reklamieren, wurde in der klassischen, deutschen Geopolitik kritisiert. Mackinders Blick auf die Erde erschien dort als angelsächsisch-maritimer. Wenn auch die klassische Geopolitik dabei partiell an Ratzels skeptischere 60 Vgl., ebd., S. 148ff. 61 Vgl., ebd., die Ausführungen zu, Emst Jäckh, „Mitteleuropa" als Organismus, a. a. O. 62 Mackinder thematisiert in ihr als zentrales Problem einer demokratischen Weltordnung die Zentralisierung politischer und ökonomischer Macht, die eine faktische Entmündigung darstellt. Dagegen versucht er ein Ordnungsmodell zu entwerfen, das sich mit Begriffen wie Subsidiarität und Föderalismus am besten charakterisieren läßt, wobei vor allem der kommunale und regionale Zusammenhang machtpolitisch gestärkt werden soll.
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Haltung gegenüber einer allzu freundlichen Interpretation der Seemächte anschließen konnte, ließ ihre Kritik die gesamten, hier entfalteten Bestimmungen nicht unberührt, so sehr sie zugleich an der Entgegensetzung von Land und Meer festhielten und im Kontext dieser Entgegensetzung Thesen über die gegenwärtige Epoche als einer des Bruches formulierten. Die Strukturen der geopolitischen Kritik werden im nächsten Kapitel zunächst vom Status der Entgegensetzung von Land und Meer im geopolitischen Diskurs aus behandelt.
5 . KAPITEL
Land und Meer im geopolitischen Diskurs
„Mit Recht hat man die Kultur der Neuzeit im Gegensatz zur potamischen und thalassischen als OZEANISCHE KULTUR bezeichnet; es ist die Kultur, für die Spengler das Wort „faustische Kultur" geprägt hat." Alfred Hettner, 1929
1. Universale vs. atlantisch-ozeanische Kultur Der Geopolitiker und politische Geograph Otto Maull sah in der Verwandlung der zusammenhängenden, uniformen Meeresfläche in eine einheitliche, maritime Verkehrsfläche, in der Verwandlung des Meeres an sich in ein Meer für die Menschen „die größte geographische T a t " D a s wesentliche Ergebnis dieser Eroberung des Welt-Meeres war ihm die Erschaffung einer Welt, also die Überführung der durch die Meere voneinander getrennten „Weltinseln"2 in einen einzigen Weltzusammenhang. Jedoch wurde diese Tat, in der aus mehreren Inseln mit mehreren Welten eine Welt wurde, nicht an einem Tage ausgeführt. Sie ließ sich für Maull in verschiedene Perioden gliedern, die mit genügender Trennschärfe aber nur als KulturStadien aufgefaßt werden können. Das Eintreten eines neuen Stadiums in der Zeitreihe bedeutet dabei nicht das plötzliche Verschwinden der vorhergehenden Phasen, sie geraten aber nach und nach unter das Daseinsgesetz des neuen Stadiums, das sich zugleich als höheres behauptet. Konkret unterschied Maull vier solcher Kulturstadien: das potamische, das thalassische, das ozeanische und das universale. Diese Unterscheidungen gehen zurück auf Kapp 3 und wurden vom Kulturgeographen Alfred Hettner aktualisiert4. Über Kapps Einteilung heißt es dann 1925 bei Maull: „KAPP hat in einer heute noch brauchbaren Weise die Eroberung der Welt und damit des Meeres in ver1 Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 247. 2 Ebd., S. 247. Maull verwendet hier das von Mackinder her bekannte Wort. 3 Vgl., Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, a. a. O.; Ders., Grund linien einer Philosophie der Technik, Braunschweig 1877. 4 Vgl., Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, (1923), Leipzig, Berlin 21929. Neben den im folgenden eingehender thematisierten Aufnahmen Kapps, vgl. auch: Heinrich Schmitthenner, Lebensräume im Kampf der Kulturen, Leipzig 1938, S. 18ff.
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schiedene Perioden gegliedert, die aber weniger Zeitabschnitte der Weltgeschichte als Kulturstadien sind. Der Fortschritt wird von einzelnen Völkern getragen und nur im Hinblick auf diese kann man von Perioden sprechen." 5 Obgleich aber die Eroberung des Meeres Sache einzelner Völker war, also gar nicht notwendig alle Völker und Räume der Erde betraf, steht am Ende dieser Geschichte ein Stadium, in dem das Nebeneinander der .Gegenden im R ä u m e ' (Kant) einem Ineinander weicht. Erst an diesem Ende ist überhaupt die räumliche Bedingung hergestellt, um von DER Weltgeschichte, D E M Weltverkehr, D E R Weltwirtschaft sinnvoll reden zu können. Im folgenden wird sich zeigen, daß im geopolitischen Diskurs - wie bei Schmitt - ,DIE Weltgeschichte' nicht von einem Faszinosum zu trennen ist: England und das Britische Weltreich. Der hannoversche Geopolitiker Erich Obst schrieb zugespitzt, dabei Kjellen leicht modifizierend: „England hat die Weltgeschichte im eigentlichen Sinne geschaffen - auch wenn es niemals die ganze Welt besitzen wird." 6 Das Ende dieser Geschichte hielt Kapp, der lediglich drei Stufen unterschied, mit der ozeanischen Periode für erreicht. Hettner und Maull sahen sich achtzig Jahre danach genötigt, ein viertes Stadium hinzuzufügen, das universale 7 oder auch tellurische: „Nach seiner geographischen Ausdehnung ist es das tellurische oder universale Zeitalter" 8 . Dieses vierte Stadium stellt allerdings kein willkürlich neu ausgedachtes dar: Ernst Kapp hatte vielmehr die Identität von ozeanisch und universal behauptet. Hettner und Maull sahen hingegen durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte die Nichtidentität beider Bestimmungen erwiesen. Daß aber die gegenwärtige Epoche im Zeitalter des Universalen stünde, wie der Geopolitiker Maull meinte, wurde innerhalb des geopolitischen Diskurses in einer von Kurt von Boeckmann auf K. Haushofer führenden Modifizierung Kapps bestritten: nicht universal, sondern pazifisch sei sie. Der Inhalt dieser Auseinandersetzung soll im folgenden abgesteckt werden. Potamisch, thalassisch, ozeanisch sind die drei von Kapp auseinandergehaltenen Stufen oder auch , W e l t e n ' , wie er sie nennt. Es handelt sich um philosophisch-geographische Bestimmungen des Politischen, deren Darstellung den Hauptteil seiner ,Erdkunde' von 1845 ausmacht, nämlich die Politische Geographie. Das die Dreiteilung fundierende Unterscheidungskriterium ist bei Kapp das politische Verhältnis zum Element des Wassers. Der Inhalt des Politischen ist bei ihm die Geschichte des Fortschritts des Geistes zur Freiheit, die Selbstbewußtwerdung des Weltgeistes. Der konkrete Ort dieses Fortschritts, damit der Inbegriff des Politischen und folglich Gegenstand der 5 Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 247. Vgl. auch den entsprechenden Abschnitt bei: Carl Schmitt, Land und Meer, a. a. 0., S. 23ff. 6 Vgl., Erich Obst, England, in: Die Großmächte vor und nach dem Weltkriege, a. a. O., S. 70-101; Ders., Das Britische Weltreich, in: Die Großmächte vor und nach dem Weltkriege, a. a. O., S. 231-245. 1918 hieß es an der entsprechenden Stelle in der 19. deutschen Aufl. von R. Kjellen, Die Großmächte der Gegenwart, a. a. O., S. 126: „England hat die Weltgeschichte geschaffen - wenn es auch nie die Welt besitzen wird." Das ,im eigentlichen Sinne' der erneuerten Variante verringert die historische Leistung Englands, die Betonung auf ,die ganze Welt' unterstreicht, wie weit sich England zum Besitzer der Welt gemacht hat - nicht ganz, aber fast. 1 Maull und Hettner sagen mal .universal', mal .universell'. 8 Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, a. a. O., S. 101. Hettner setzt erläuternd hinzu: „Denn während bis dahin in der Hauptsache nur die küstennahen Länder am Weltverkehr teilnahmen, erfaßte dieser jetzt in Europa und über See auch das Binnenland." Ebd., S. 101
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politischen Geographie, ist der Staat. Das Wasser ist als das belebende und konstitutive Element, wie es, so Kapp, Hegel zu Recht begriffen habe 9 , dasjenige natürliche Element, das der Freiheit zuarbeitet, indem es die Geschichte belebt. Das von Kapp gewählte Kriterium ist also kein beliebig austauschbares10. Auf der potamischen Stufen wird das belebende Wasser in seiner eingezwängtesten Form genommen: als Fluß, der in der entwickelten Form durch große Bauten landwirtschaftlich genutzt und dessen Gefahren gebannt werden. Das Meer spielt dabei keine Rolle. Die potamischen Staaten Kapps, für die er synonym von .orientalisch' 12 spricht, sind nichts anderes als die Gesellschaftsformationen, wie sie von Wittfogel unter dem Titel der hydraulischen Gesellschaft in dessen Werk „Die orientalische Despotie" 13 verhandelt werden. Kapp sieht in der potamischen Welt die unterste Stufe in der Emanzipation des Geistes von seiner Naturversenktheit14. Indem das Wasser nur als Mittel und Gefahr für die erdenschwere, bodenverhaftete Landwirtschaft genommen wird, bleiben die Menschen auf dieser Stufe mit der Natur so sehr verwickelt, daß ihr Tun von dieser bestimmt bleibt. Über diese sich zu erheben vermag nur ein Einzelner, der Despot. Über diese Form der Freiheit kommt der Geist auf dieser Stufe nicht hinaus. 9 Die Schrift von Kapp hat einen ganz eigentümlichen Reiz, der in der direkten Art des schon 1845 nicht selbstverständlichen Bezuges auf Hegels Philosophie liegt. 10 Als .belebendes und konstituierendes Element' wird es von Kapp schon in der physischen Geographie unterschieden. Vgl., Ernst Kapp, Philosophische oder Allgemeine vergleichende Erdkunde, Bd. 1, a. a. O., S.45ff. 11 Vgl., ebd., Bd. 1, a. a. O., S. 96-162. 12 Kapp nennt diesen Abschnitt der Politischen Geographie „Die potamische oder orientalische Welt", während die anderen beiden Abschnitte „Die thalassische Welt" und „Die ozeanische Welt" heißen, ohne Synonyma. 13 Karl August Wittfogel, Die Orientalische Despotie, (engl. 1957), Köln, Berlin 1962. Es geht dabei vor allem um große Ströme in trockenen oder halbtrockenen Gebieten. Deren Eigenschaft ist es, sozusagen nachhaltige Staatenbildner zu sein, gerade auch in dem Sinn, daß die aus ihnen erstehenden Staaten eine außerordentliche Festigkeit und Unbeweglichkeit besitzen. In diesem Kontext steht dann z. B. die Studie von Walther Vogel über Rhein und Donau, in der diese als .schwache Staatenbildner' identifiziert werden. Vgl., Ders., Rhein und Donau als Staatenbildner, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 63-73, 135-147. Rhein und Donau waren bisher zu schwach als ein natürliches Rückgrat eines nachhaltigen mitteleuropäischen Staates. Das, so Vogel, könne sich allerdings ändern, wenn Rhein und Donau durch einen Kanal verbunden würden und sie so ihre schwachen Eigenschaften zu einer starken potenzieren... Erich Obst folgert aus der schwachen Kraft der europäischen Flüsse die besondere Unruhe der europäischen Mentalität und Politik. Während die orientalischen Staaten im Bann ihrer Flüsse stehen, seien sie in Europa wesentlich nur Teile von Verkehrsnetzen, durch die die Macht ambitioniert in fremde Nachbarräume hinübergreift: „Im Orient schmiegen sich die Staaten dem Fluß als der Schlagader des politischen Organismus an; in Europa streben die Staaten nach Beherrschung hydrographischer Konvergenzräume (Paris-Orléans, Moskau), um von diesen Kovergenzräumen aus ihre Macht nach allen Richtungen entfalten zu können, die großen Ströme selbst aber sind als Verkehrsträger häufig das Kampfobjekt mehrerer Staaten ...." Ders., Das Problem Europa, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 57-62, ebd., S. 61. 14 Ohne solch eine geschichtsphilosophische Interpretation wird aus der ,untersten Stufe' der .Ursprung' der Staatenbildung. Vgl. z. B., Richard Hennig, Leo Körholz, Einführung in die Geopolitik, (1933), Leipzig, Berlin 41935, S. 7ff. Diese .orientalische' Staatsform wird dort zum Vorbild erhoben, insofern sie wesensmäßig auf dem Prinzip .Gemeinnutz geht vor Eigennutz' beruht hätte. Der Abschnitt wird mit einem Hitlerzitat eingeleitet.
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Anders auf der thalassischen Stufe15. Das Wasser wird in Form des Mittelmeeres Thema und Teil des Politischen. Als Meer tritt das Belebende des Wassers in seine Rechte. Das Belebende des Meeres wirkt über durchaus Handgreifliches: es ist vor allem der Handel (wie der Raub), der ganz neue Möglichkeiten erhält; die vom Meer dabei ausgehenden technischen Herausforderungen bewirken technische Fortschritte auch für andere Bereiche, ebenso wie die zunächst vorhandenen Bedürfnisse durch neue Handelsmöglichkeiten und Techniken angeregt und erweitert werden, was wiederum auf diese zurückwirkt usw. Dennoch: das Mittelmeer stellt bloß eine, von der ganzen Weite des Weltmeeres fast abgeschlossene, Form dar. Es ist ein besonderer, begrenzter Teil des Meeres und über den Standpunkt dieser Besonderheit kommt die Freiheit des Geistes nicht hinaus, ob bei den Griechen, im antiken oder im katholischen Rom16. Sie bestimmen sich als Freie gegenüber den Anderen, den Barbaren oder Heiden. Die ozeanische Stufe17 ist für Kapp diejenige der Gegenwart, die als Periode mit der Entdeckung der Neuen Welt begann. In ihr ist das ganze Weltmeer Gegenstand und Bedingung des Politischen. In ihr wird der Standpunkt des Allgemeinen oder auch des Universalen erreicht - oder besser: erreicht werden, denn die ozeanische Stufe ist für Kapp noch nicht vollständig verwirklicht. Ozeanisch, allgemein, universal fallen bei ihm als Begriffe zusammen. Dennoch zeigt sich dabei eine Merkwürdigkeit, die Anlaß zu den späteren Umformulierungen geben wird. Ozeanisch meint zwar das ganze Weltmeer, doch dieses hat für Kapp eine natürliche Strakturiertheit, die um den Atlantik gravitiert, also dem Teilmeer, an dem sich Europa und das europäisierte Amerika gegenüberliegen. Neue und Alte Welt liegen am Atlantik in wesentlich symmetrischer Weise in gleichen Abständen voneinander, während auf der asiatischen Seite des Alten Kontinentes die beiden Welten durch einen nach Süden immer weiter auseinanderstrebenden Pazifik getrennt sind und der Indische Ozean in den unbewohnten Süden weist. Die Gravitation um den Atlantik ist für Kapp eine ewige, unaufhebbare Tatsache, das Zentrum des ozeanischen, universellen Zeitalters ist und bleibt der Atlantik18. Hier erreicht der Fortschritt des Geistes zur Freiheit sein Ende und universalisiert sich: „Was 15 Vgl., Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, Bd. 1, a. a. O., S. 163-249. 16 Diese Begrenztheit ist der ganzen romanischen Welt zu eigen. Frankreich gelangt bis an den Wendepunkt zur nächsten, ozeanischen Stufe, ohne dessen Träger werden zu können. Wiederholt und heftig verwirft Kapp die katholischen Einmischungen in die Gegenwart. Die römische Kirche hat als Produkt des Mittelmeeres ihre Aufgabe erfüllt, indem sie die Verbindung und Öffnung der Thalassia zur germanischen Welt herstellte. Diese aber hat im Protestantismus den Katholizismus überwunden. Kapp schreibt im Bd. 2, a. a. O., S. 81: „Der Thalassa wurde endlich in dem Ocean, dem römischen Papismus in der Reformation der entwickelnde Gegensatz geschaffen. Die Nationen aber, welche die Reformation annahmen, waren und sind oceanische." Als Begriff des Protestantismus gibt er ebd., S. 361 an: „Der wesentliche Inhalt des Protestantismus ist Selbstarbeit der Hand und des Kopfes." Deshalb auch soll Preußen protestantisch und in Deutschland bestimmend bleiben. 17 Vgl., ebd., Bd. 1, S. 250-331 und Bd. 2, S. 1-361. 18 Ein Nachklang davon bietet z. B. Hermann Lautensachs Vergleich der drei Mittelmeere der Erde, von denen das Europäische Mittelmeer immer eine größere Bedeutung behalten werde. Diese größere Bedeutung hängt an Englands Lage als Mittelpunkt der Landhalbkugel der Erde: „Trotzdem wird das Europäische Mittelmeer mit dem Suezkanal auf die Dauer seine beiden Gefährten an weltpolitischer Bedeutung immer wieder überragen, denn es verbindet den Mittelpunkt der Landhalbku-
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Europa in Bezug auf Culturfähigkeit unter den Kontinenten ist, das ist das atlantische Meer unter den Oceanen. (...) Daß aber der atlantische Ocean dazu bestimmt war, den Fortschritt der Weltgeschichte (...) über die ganze bewohnte Erde weiter zu tragen, daß von den entferntesten Puncten derselben die Rückkehr nach Europa stets über ihn führt, dies sichert ihm für alle Zeiten seine Bedeutsamkeit." 19 Daher ist es Kapp möglich, die Stufen ethnisch-kulturell20 zu interpretieren: die ozeanische Stufe ist germanisch, wie die thalassische greco-romanisch und die potamische orientalisch21. Als germanische Periode betrachtet, hält er sie für noch unabgeschlossen, sie ist erst bis zur angelsächsich-germanischen Vorherrschaft, bis ENGLAND gediehen - der deutsch-germanische Abschluß steht noch aus, mit dem die politische der kulturellen Verwirklichung des Geistes weicht 22 . In seiner Kriegsschrift von 1915 über England interpretierte Hettner genau in diesem Sinne Kapps Stufeneinteilung, allerdings mit der schon erwähnten Differenzierung zwischen .ozeanischer' und .universaler' Periode 23 : „Während der potamischen Periode liegt England im tiefsten Dunkel, ist es ein kulturloses und geschichtsloses Land. Während der thalassischen Periode taucht es aus dem Dunkel auf; aber es bleibt ein entlegenes Randland ... Erst in der ozeanischen Periode, in der der Ozean aus einer Wasserwüste zum Hauptträger des Weltverkehrs und zur Quelle geschichtlicher Größe wird, kann sich England voll entfalten. (...) es ist dasjenige Land, das die Bedingungen ozeanischer Größe am besten erfüllt, und es überflügelt darum die anderen."24 Dabei war England für Hettner seinen Bedingungen nach so sehr bevorzugt, daß es „in fast jeder Beziehung eine auf Seeherrschaft beruhende Weltherrschaft begründen" 25 konnte.
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gel der Erde, der im Ärmelkanal liegt, mit drei Kontinenten." Ders., Die Mittelmeere als geopolitische Kraftfelder, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 36-47, ebd., S. 47. Das .Trotzdem' bezieht sich auf die aktuelle Verlagerung der Konfrontation der Weltmächte England, USA und Japan ins ,austral-asiatische' Mittelmeer. Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, Bd. 2, a. a. O., S. 256f. Kapp sieht im Atlantik das Mittelmeer der ganzen Erde, woraus seine hervorstechende Vermittlungsfähigkeit resultiert: „Der atlantische Ocean besitzt das Moment der Vermittelung in viel höherem Grad als die übrigen Oceane." Ebd., Bd. 2, S. 256. Erich Obst greift später diesen Gedanken auf, als er die Welt-Mittellage Englands ausspricht: „(...) London liegt annähernd in der Mitte der Landhalbkugel (Karl Ritter). Ehe die letztgenannte Mittellage sich geltend machen konnte, mußte jedoch der Atlantische Ozean selbst in ein Mittelmeer umgewandelt werden, was die Einbeziehung Amerikas in die Zivilisation voraussetzte." Ders., England, a. a. O., S. 75. Die ethnische Dimension wird aber erst relevant, wenn die Zeit reif ist. Was die Germanen im Mittelalter getan haben, ist einigermaßen belanglos: „Zu bemerken ist hier ein für allemal, daß die Begriffe OCEANITÄT und GERMANENTHUM nicht als schlechthin identisch aufzufassen sind. Die germanische Welt ist eine andere im Mittelalter, eine andere in der Neuzeit. Die wirkliche Aufdeckung des Oceans ist das Unterscheidende." Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, Bd. 2, a. a. O., S. 80. Drastisch sagt Kapp am Ende des Kapitels über die thalassische Welt: „Wir gehen nunmehr über zu den germanischen Staaten oder zu Europa's oceanischer Seite. Diese ist der Boden der Reformation und das Grab aller Römelei." Ebd., Bd. 2, S. 99. Vgl., ebd., Bd. 2, S. 254ff. Vgl.,, Alfred Hettner, Englands Weltherrschaft und der Krieg, (1915), Leipzig, Berlin 21915, S. 252ff. Ebd., S. 252-253. 25 Ebd., S. 253.
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Unmittelbar danach kommt Hettner auf die universale Periode zu sprechen, die darin ihren politischen Sinn zeigt: „Heute liegt die ozeanische Periode der Weltgeschichte hinter uns, und wir befinden uns inmitten der Periode, die ich als die universale bezeichnet habe." 26 Damit ist Englands Weltherrschaft überholt und der Krieg, den England um diese führt, ist ein Kampf des Alten gegen das Neue, der, so Hettners Hoffnung, mit einem Sieg des Neuen enden möge, was für ihn konkret hieß, den Engländern ,die Weltherrschaft zu entreißen', damit „die ganze Erde frei wird für uns und die anderen Nationen" 27 . Als Hettner und Maull nach dem 1. Weltkrieg auf Kapps philosophische Geographie zurückkamen, konnte der Krieg wohl kaum als Übergang der angelsächsich-germanischen Suprematie in einen deutsch-germanischen Abschluß bzw. Neubeginn begriffen werden. Gewiß mochte die materielle Niederlage 1918 als Zwischenspiel relativiert werden können, doch der Grundtenor im geopolitischen Diskurs war ein anderer. Es wurde von der Einschätzung ausgegangen, daß nicht bloß die Mittelmächte, sondern ebenso ihre europäischen Gegner und scheinbaren Sieger den Krieg verloren haben28. Gegenüber Kapps Begriffen schlug sich dies in einer Kritik an seiner Identifizierung von ozeanisch und universal nieder, 26 Ebd., S. 253. 27 Ebd., S. 269. Der Passus lautet: „Noch müssen alle unsere Gedanken darauf gerichtet sein, den Engländern die Weltherrschaft zu entreißen, um uns unser gleiches Recht an der Erde zu sichern, auf dem die Möglichkeit unseres Lebens beruht. Noch liegt die englische Hand schwer auf dem Erdball; mit starkem Griffe muß unsere Hand sie im Gelenk packen, daß sie ihn losläßt, und daß die ganze Erde frei wird für uns und die anderen Nationen." Damit endete Hettners Buch, nicht aber der Krieg. Deutschland erscheint hier als Avantgarde aller übrigen Nationen und soll die Reste der ozeanischen Periode beseitigen. Was bei Kapp noch innerhalb einer Periode liegen sollte, ist bei Hettner zur Trennung in zwei Perioden geworden. 28 Erich Obst, der Mitbegründer der ZfGp, sah neben der wirtschaftlichen Niederlage Gesamteuropas vornehmlich eine .moralische'. Letzteres bedeutet für ihn, daß die europäische Autorität in den Kolonien vernichtet wurde, indem die Entente Kolonialtruppen auf europäischem Boden kämpfen ließ: „(...) die Entente verriet Deutschland und damit Europa an Asien und selbst an Afrika." Ders., England, Europa und die Welt, eine geopolitisch-weltwirtschaftliche Studie, Berlin-Grunewald 1927, S. 98. Das ,und selbst an Afrika' meint „schwarze Hilfstruppen" (ebd., S. 99), die man „sogar in Massen auf dem kontinentalen Kriegsschauplatz gegen Deutsche kämpfen ließ" (ebd., S. 99). Dadurch, so Obst bedauernd, „vernichtete man endgültig den Abstand, der bislang zwischen Weiß und Schwarz bestanden hatte" (ebd., S. 99). Das ,rächt' sich: „Die Wirren im französischen Kolonialreich (...) sind bloß ein erster Auftakt zu dem, was uns dank der Skrupellosigkeit der Engländer und Franzosen in Bälde bevorsteht: das Erwachen der Orientalen und Afrikaner." Ebd., S. 99. Die Kolonien sind für Obst aber ein Wirtschaftsfaktor erster Ordnung, weshalb er entschieden die Kolonien zurückforderte, da sonst Deutschland untergehe. Vgl., Ders.: Wir fordern unsere Kolonien zurück!, in: ZfGp, 3. Jg., 1926, S. 151-160. Die Hochkulturasiaten mochten ja noch angehen, aber warum ausgerechnet Neger..., ist ein regelmäßig anzutreffender Tenor auch bei anderen deutschen Geopolitikern dieser Zeit. Vgl. z. B., Richard Hennig, Geopolitik, Die Lehre vom Staat als Lebewesen, Leipzig, Berlin 1928, S. 285ff. Hennig fragt dort u. a. ,Wie kann das koloniale Zeitalter verlängert werden?'. Auf S. 285 schreibt Hennig zum Krieg: „Man ahnt es immer deutlicher: der Besiegte des Weltkriegs ist ganz Europa gewesen und der Gewinner Amerika!". Daneben stand bei Obst u. a. die wirtschaftliche Niederlage, die Hermann Lautensach z. B. so ausdrückte: „Im kapitalistischen Sinn hat Frankreich den Weltkrieg zusammen mit ganz Europa an Amerika verloren. Das Kapital ist aber heute mehr denn je die unbedingt notwendige erste Grundlage einer jeden expansiven Machtpolitik." Ders., Deutschland und Frankreich, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 153-160, ebd., S. 159.
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bzw. bei Hettner mit einer modifizierten Interpretation der Differenz von ozeanisch und universal. Die von Kapp behauptete ewige Dominanz des Atlantischen als Charakter des ozeanischen Zeitalters existiere nicht: diese Ewigkeit erweise sich vielmehr als beendetes europäisches Zeitalter, in dem „Europa durchaus im Mittelpunkte der neuen Erdkultur" 29 stand. Wie läßt sich der Unterschied dieser nacheuropäischen Zeit zur ozeanisch-atlantischen bestimmen? Hettner schreibt: „Mit dem Ende des 15. Jahrhunderts setzt die Europäisierung der Erde ein (...) Etwa seit der Jahrhundertwende aber und besonders durch den Weltkrieg hat das Bild angefangen, sich zu verschieben; eine Anzahl überseeische Länder sind als gleichberechtigte Genossen neben Europa getreten. Aber vorläufig handelt es sich nicht um eine Verlegung, sondern um eine Erweiterung des Schauplatzes. Die anderen Erdteile treten nicht an die Stelle Europas, sondern daneben, der stille Ozean nicht an die Stelle des atlantischen, sondern neben ihn." 30 Schauplatzerweiterung, nicht Schauplatzverlegung: das macht einen Unterschied zu den vorherigen Kulturstufen aus, in denen eine neue Stufe mit einer neuen, verlegten Gegend im Räume verbunden war - Ströme, Mittelmeer, Atlantik. Dies sei jetzt, im universellen Zeitalter der Weltkultur, der Weltwirtschaft und des Weltverkehrs nicht der Fall, die ganze Erde wird zum Schauplatz erweitert. Oder besser: kann jetzt der Fall sein, denn mit dem, vorläufig' markiert Hettner eine Unsicherheit: Europa stehe an einer Schicksalswende, in der ein .Untergang des Abendlandes' keine Notwendigkeit darstellt, wie Spengler meint, wohl aber eine Möglichkeit, wenn es seine innere Zerrissenheit nicht zu überwinden weiß31: „Hier liegt die große Frage unserer Zukunft. Wenn die europäische Kultur und mit ihr die Nationen Europas untergehen, so geschieht es nicht durch einen mystischen Prozeß des Alterns, sondern durch ihren Zwiespalt."32 Dieser Zukunftsfrage stehen aber die Schatten der Vergangenheit entgegen, insbesondere auch der lange Schatten der atlantischen Zeit33. Kapp hatte ja durchaus bestimmt, wer in der ozeanischen Periode die konkrete Vormacht war, nämlich die Seemacht England, die erst noch der deutsch-germanischen Prägung der ozeanischen Kultur weichen sollte, was aber 29 Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, a. a. O., S. 137. 30 Ebd., S. 136f. 31 Hettner vergleicht die Situation Europas mit der des antiken Griechenlands, was ihm angemessener erscheint als ein Vergleich mit dem Untergang der Antike in frühchristlicher Zeit: „Eher könnte man einen Vergleich mit dem Untergange Griechenlands ziehen, das ja gleichfalls, bei Blüte der materiellen und geistigen Kultur, durch die ewigen Kämpfe zerfleischt worden und fremden Eroberern, erst Mazedonien, dann Rom, zur Beute geworden ist. Die Länder Europas sind größer als die griechischen Landschaften, aber ihr Zwiespalt ist derselbe, und drohend stehen die großen Kontinentalmächte: die Vereinigten Staaten und Rußland, neben ihnen." Ebd., S. 138. Will Europa nicht Beute werden, muß es gegen das Neue Mazedonien und das Neue Rom zusammenfinden, so Hettners Botschaft. 32 Ebd., S. 138. 33 Für Erich Obst zeigt sich dieser Schatten als Verführung, die imperialistischen Politikprinzipien fortzuführen, die aus England das Zentrum des Britischen Weltreiches gemacht hatten - trotz aller Verfallsanzeichen: „Der Gelehrte, der (...) die Wirklichkeit unter dem weiten Gesichtswinkel der Entwicklung einzusetzen sucht, kann nicht umhin, den Schatten des babylonischen Turmes über diesem leuchtendsten Sieg des Menschengeistes auf dem Gebiete der Staatenbildung auftauchen zu sehen." Ders., England, a. a. O., S. 101.
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ausblieb. Als atlantische Kultur hat das ozeanische Stadium schon mit Englands Weltherrschaft ihren Endpunkt erreicht, lautet der Befund achtzig Jahre nach Kapp. Begleitet von einer suggestiven Karte behauptet E. Obst einen geopolitischen Grund für Kapps Irrtum34, die Weltmittellage Englands: „Das ist im hervorragenden Sinne eine Weltlage. England steht auf einer höheren Ebene besonders im Vergleich mit Deutschland, dessen Mittelstellung sich nur auf einen europäischen Umkreis bezieht; auch ist England durch seine meerumschlossene Lage von dem allseitigen Druck befreit, den die Stellung Deutschlands mit sich bringt."33 Daß England sich gegen die kontinentalen Staaten Europas durchsetzen und behaupten konnte, die zudem einen kolonialen Vorsprung besaßen, beruhte auf einer klugen Politik des ,Divide et impera', wie es Maull als charakteristisch für einen seemachtbestimmten Staatstypus, wie den Englands, ansieht36. Obst, einer der europazentrierten Herausgeber der ZfGp 37 , hat, dabei wesentlich der Seekriegsgeschichte Mahans folgend, im geschichtlichen Teil seines Englandbuches „England, Europa und die Welt" das Ausnutzen und Aufrechterhalten kontinentaleuropäischer Spannungen als Bedingung des englichen Aufstiegs zur Weltmacht dargestellt38: je zerrissener der Kontinent, desto gesicherter Englands Hegemonie, 34 Ebd., S. 74. 35 Ebd., S. 75. Sehr anders lautet der entsprechende Passus in der 19. Aufl. von R. Kjellen, Die Großmächte der Gegenwart, a. a. O., S. 91: „Diese Lage prädisponiert England vor anderen Mächten zu einer planetarischen Stellung. Es steht auf einem höheren Plan als Deutschland, dessen zentrale Stellung sich nur an einem europäisch begrenzten Horizont abzeichnet; außerdem ist England durch die isolierende Schicht des Meeres von dem konzentrischen Druck befreit, den die Stellung für Deutschland mitbringt." Gegen diesen Analogieschluß behauptet Lautensach 1925, daß die europäische Mittellage Deutschlands zu einer planetarischen Mittellage geworden sei: „Während des Weltkrieges ist die europäische Mittellage zu einer planetarischen geworden, und diese Situation hält auch in der Nachkriegszeit an, obwohl Deutschland, das zuvor im Brennpunkt politischen Weltinteresses und Welthasses stand, seither in den Schatten gerückt ist, und obwohl sich auf der Gegenseite des Erdballs eine neue Zone größter politischer Reibungsflächen zu entwicklen beginnt." Ders., Deutschland und Frankreich, a. a. O., S. 154. Als »Gegenseite' hat Lautensach den indopazifischen Raum vor Augen, aus dessen Konflikten Handlungsperspektiven für Deutschland entstünden. Zu dem Hintergrund dieser Argumentation vgl. die weiteren Ausführungen dieses Kapitels. 36 Vgl., Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 330ff. Er bezieht dies dort konkret auf England als einem .transmarinen Typ'. 37 Obst schreibt z. B. 1924: „Der Europäisierung der Erde folgt jetzt die Industrialisierung. In dem damit anhebenden Wirtschaftskampf bedeutet jeder einzelne europäische Staat herzlich wenig. Nur der Zusammenschluß Aller zu einem freiwilligen und jedem Partner gleiches Recht gewährenden Europäischen Staatenbund vermag die drohende Gefahr zu bannen." Ders., Das Problem Europa, a. a. O., S. 62. Das geopolitische Problem Europas ist ihm aber die hochgradige .Kammerung' in separate Teilräume und die damit einhergehenden, differenten historischen Traditionen und Erfahrungen - im Unterschied etwa zur großräumigen Gliederung Nordamerikas. 38 Vgl., Erich Obst, England, Europa und die Welt, a. a. O., S. 3-107 u. S. 303-322. Diese Rekonstruktion betrachtet Obst als die geopolitische Seite des Problems, die er von der wirtschaftlichen trennt. In wirtschaftlicher Hinsicht sieht Obst die gegenwärtige Phase durch einen Desintegrationsprozeß der Weltwirtschaft bestimmt. Die Weltwirtschaft war europazentrisch, ist es aber nicht mehr. Obst nimmt einen Prozeß der Dezentralisierung in mehrere ,Großwirtschaftsräume' an, bei der Europa unter die Räder kommen könne. Entscheidend sei, ob England seine Empire-Gedanken weiterverfolge, d. h. den Weg in die Sackgasse wähle oder nach Europa zurückkehre: „(...) im ureigensten Interesse muß sich England durchringen zu dem Programm: Großbritannien verbunden mit dem festländischen Europa als geschlossener Wirtschaftsblock des Abendlandes - die übrige Welt aufge-
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das ist für die deutschen Geopolitiker die machtpolitische Formel der britischen Weltherrschaft39, die immerhin insoweit auch für das kontinentale Europa nicht ohne Vorteil war, da unter Englands Führung eine ausgreifende Europäisierung der Erde vorangetrieben worden sei 40 . Mit dem Ende der ozeanischen Kultur aber wird dieses Herrschaftsmittel kontraproduktiv, auch für England selbst, und bedroht ganz Europa. Die Gefahr, daß England trotzdem an seinem bisherigen Kurs festhält, folgt, neben der Bewährtheit der bisherigen Methode, aus einem großen, machtpolitischen Traum der britischen Reichspolitik des 19. Jahrhunderts: den Traum, ein zirkummarin geschlossenes India-Meerreich zu errichten, d. h. eine Umschließung des Indischen Ozeans durch Besitz aller angrenzenden Küsten 41 . Durch die kolonialen Gewinne des 1. Weltkrieges schien dieses Ziel fast erreicht42. Das Symbol des India-Meerreiches, die Erhebung der britischen Königin zur Kaiserin von Indien unter dem Premier Disraeli, hatte Carl Schmitt stets fasziniert und ihn veranlaßt, die Britischen Inseln als eine Art Schiff anzusehen, das seine Anker gelichtet und den Atlantik zugunsten des Indischen Ozeans verlassen habe. Eine Reihe Geopolitiker sieht das nicht anders, weshalb Obst z. B. von einer für Europa notwendigen Rückkehr Englands spricht rückkehren kann nur, wer fort ist. Sollte England hingegen die kontinental-europäischen Differenzen aus vermeintlich eigenem Machtinteresse weiterhin forcieren, drohe unweigerlich, was Hettner so formulierte: „Unsere Hegemonie auf der Erde gehört einer vergangenen Zeit an; aber einen völligen Niedergang, einen Untergang des Abendlandes, müssen wir nur
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teilt nicht mehr bloß in machtpolitische Sphären, sondern in eine Reihe naturgegebener Großwirtschaftsräume." Ebd, S. 303. Dazu müsse aber England seinen Imperialismus aufgeben, worüber Obst sehr skeptisch urteilt. Ebd., S. 303ff. Zugleich dürfe auch bei der Rückkehr nie die englische Allein-Schuld für den absehbaren Verlust der europäischen Kolonien vergessen werden. Europa ist ein Diktat der Notwendigkeit. Vgl. hierzu auch die eindrucksvolle Tafel von Otto Maull in seiner Politischen Geographie, a. a. O., S. 338. Ebenso griffen z. B. zuvor Alfred Hettner, Englands Weltherrschaft und der Krieg, a. a. O., sowie später Johann Ulrich Folkers, Das Gesetz der wachsenden Räume, a. a. O., auf Mahan zurück. Es handelt sich dabei um eine verwickelte Argumentation, deren verschiedene Teile bei Mahan, Schmitt usw. schon aufschienen. England profitiert am meisten, aber es entwickelt, so ja z. B. Mahan, einen Kolonialtyp anderer Art als Portugal und Spanien, insbesondere in der Neuen Welt: Siedlungskolonien, nicht Auspressung von Edelmetallen stehen im Vordergrund. In diese wandern aber bald die verschiedensten europäischen Nationalitäten aus. Gerade darin hatte z. B. Kapp auch die Perspektive des deutschen Germanentums gesehen: sie sollten nicht neue Kolonien erobern, sondern gleichsam als Hefe des freien Gedankens als Teilpopulationen wirken, in den neuen Staaten aufgehen und die dortigen Gegensätze vermitteln. Auch für Schmitt war zwar die Waage der englisch-seemächtig garantierten .balance of power' auf Englands Vorteil geeicht, was aber durchaus hinter der geschichtsphilosophischen Würdigung eines dadurch garantierten Nomos zurückzutreten hatte. Bei Rudolf Kjellen heißt es 1918, in, Die Großmächte der Gegenwart, a. a. O., S. 124: „Denn Gleichgewicht auf dem Kontinent bedeutete Englands Übergewicht auf dem Meer und auf der planetarischen Bühne." Erich Obst sagt über den „Gewinn, den England als Ergebnis des Krieges buchen darf.": „Er kann kurz so ausgedrückt werden, daß der Traum von dem Reich um das indische Meer mit einem Schlag verwirklicht worden ist. Das gesamte östliche Afrika ist heute faktisch britisches Gebiet, von der um Deutsch-Südwestafrika vergrößerten Union über Deutsch-Ostafrika (Tanganyika-Territorium) bis hinauf nach Ägypten." Ders., Das Britische Weltreich, a. a. O., S. 237f. Vgl. hierzu auch die Abbildung bei: K. Haushofer, Panpazifische Vorstellungen und Machtkreise, in: Jenseits der Großmächte, a. a. O., S. 440-447, ebd., S. 442.
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befürchten, wenn wir keinen Ausweg aus unserem ewigem Streite finden. Der Friede von Versailles und die jetzige Politik der Siegermächte liegen allerdings auf dem Wege zum Untergange." 43 .Unsere Hegemonie' steht hier für die europäische Vorherrschaft der ozeanischen Periode unter Englands Führung. Die Schauplatzerweiterung, der Übergang zur universellen Kultur, nötigt zu einer neuen Verortung Europas - nach Versailles und unter den Bedingungen des Versailler Vertrages tragen für einen Untergang die (europäischen) Siegermächte die Verantwortung, nicht Deutschland, dessen machtpolitische Möglichkeiten dermaßen beschränkt sind, daß es bestenfalls argumentative Überzeugungsarbeit zu leisten vermag. Im Horizont der These von dem Übergang der ozeanischen in eine universelle Kultur erschien Deutschland (das gilt entsprechend für Österreich und andere europäische Mittelmächte) in eine europäische ,Schicksalsgemeinschaft' mit England, Frankreich und weiteren europäischen Weltkriegssiegern untrennbar verwoben, wobei der Inhalt dieses Schicksalszusammenhanges gewechselt hat: nicht mehr, welche der europäischen Staaten die führende Weltmacht ist (Standpunkt der atlantischen Kultur), stellt ihr Thema dar, sondern welche Rolle in der Welt Europa überhaupt festzuhalten vermag44.
2. Pazifische vs. universale Kultur Diese Einschätzung blieb innerhalb des geopolitischen Diskurses nicht unbestritten. Der Frobeniusschüler Kurt von Boeckmann und mit ihm K. Haushofer sahen das atlantische von einem pazifischen, nicht von einem universellen Kulturstadium abgelöst 45 . Boeckmann 46 43 Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, a. a. O., S. 138. 44 Darin lag auch eine Tröstung über die Versailler Ungerechtigkeiten. Erich Obst schreibt 1926: „Wir müssen kleiner und bescheidener werden, können uns aber damit trösten, daß ganz Europa dieses alles mit uns teilt." Ders., Zentralisation oder Dezentralisation in der Weltwirtschaft. Essen 1926, S. 47. Den veränderten weltwirtschaftlichen Tatsachen gibt Obst einen eschatologischen Charakter: es ist Weltwende\ „So schwer es namentlich der älteren Generation und den in alten Gleisen festgefahrenen Parteigewaltigen ankommen mag, wir müssen uns national und international darauf einstellen, daß der Weltkrieg zugleich Weltwende bedeutet." Ebd., S. 47. Wie wenig das bisher begriffen sei, zeigt folgende Bemerkung aus der ZfGp: „Es sieht düster aus in Europa. Weiter denn je sind wir von einem Europäischen Bund entfernt, der, von wahrhaft sittlichen Idealen ausgehend, unseren Erdteil zu einen imstande wäre. (...) Und doch kann Europa nur gesunden, wenn es die Weltwende begreift und ungeachtet aller Schwierigkeiten den Weg zu einer gesamteuropäichen Politik findet." Erich Obst, Berichterstattung aus der Alten Welt, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 53-58, ebd., S. 58. 45 K. Haushofer sagt z. B. 1925: „Ein Riesenraum der Zukunft breitet sich vor uns, dem Kräfte ungestört zuzuströmen scheinen, der nicht mit Abnahme, mit Abfluten von Kraft rechnet, sondern mit kühler Selbstverständlichkeit dem Heraufdämmern eines pazifischen Zeitalters als Ablöser des alternden atlantischen, des überalterten mittelländischen und kleineuropäischen entgegensieht." Ders., Berichterstattung aus der indopazifischen Welt, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 58-63, ebd., S. 63. 46 Wie sehr Boeckmann ein fester Bezugspunkt im geopolitischen Diskurs war, zeigt, neben den genauer ausgeführten Belegen, die Tatsache, daß z. B. Heinz Zeiss bei seiner Abhandlung über .Geomedizin', also an eher abwegiger Stelle, auf diesen 1932 in seinem Resumé referiert. Vgl., Heinz Zeiss, Die Notwendigkeit einer deutschen Geomedizin.in: ZfGp, 9. Jg., 1932, S. 474-484, ebd., S. 484. Auch auf Leo Frobenius wurde im geopolitischen Diskurs immer wieder positiv Bezug genommen, auch wenn gerade von Nationalsozialisten Frobenius deutlich ablehnende Haltung der
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greift in „Vom Kulturreich des Meeres" 47 Kapps Begriffe auf, aber gibt ihnen eine ironische Wendung. Das entscheidende Moment seiner Wendung der Begriffe ozeanisch,
thalassisch,
potamisch
Ozeanischen
besteht darin, daß das Atlantische
von ihm in einen Gegensatz
zum
gebracht, dafür aber in Zusammenhang mit dem Potamischen gesetzt wird: er unterscheidet ozeanische Kultur, thalassische Kultur und atlantische Flußkultur. Wie ist das möglich? Im Unterschied zu Kapp ist sein Unterscheidungskriterium der Kultureinteilung nicht das Verhältnis zum belebenden Element des Wassers allgemein, sondern speziell das Verhältnis zum Meer. Dieses Verhältnis zum Meer bestimmt er als anthropologische Möglichkeiten: das Meer kann als Nahrungsmittel (1), als Weg (2), als Machtmittel (3) und als Erlebnis (4) genommen werden. Diesen vier Möglichkeiten entsprechen vier Kulturleistungen: Wirtschaft (1), Handel, Merkantilität (2), Politik (3) und Kunst, Wissen, Religion (4) - die Zahlen bezeichnen die jeweiligen Zuordnungen 48 . Diese vier Seiten des Verhältnisses zum Meere und die daraus hervorgehende Meerbestimmtheit einer Kultur, sind nicht gleichrangig. Es sei daran erinnert, daß Mahan als das Wesen des Meeres die ,communication' ausmachte, der im Handel und damit im Verkehr entdeckt wird. Dies wird von Boeckmann ganz entschieden bestritten. Wirtschaft, Handel und Politik bleiben dem Wesen des Meeres gegenüber äußerlich, in diesen herrschen vielmehr festländische Motive vor. Das Meer ist in ihnen nur zweckrationale Funktion. ,Ontologisch' erschlossen wird es allein auf der vierten Stufe: „Hier schwindet alles Materielle und Konkrete, alles Rationale und Bewußte zu untergeordneten Größen zusammen. (...) Das Meer als Erlebnis. Das Meer an sich. Das Meer ohne ein Zweckmotiv. Ganz irrational. Nur noch Weite, Unendlichkeit, Einheit. Und Raum!"49 Nur eine Kultur, in der das Meer als Erlebnis präsent ist und den Inhalt von Kunst, Wissen und Religion ausmacht, versteht Boeckmann als wahre Kultur des Meeres: solch eine Meereskultur nennt Boeckmann ozeanisch50. Ihre geographische Voraussetzung ist das weitestmögliche Zurücktreten jeder Festländigkeit. Diese Voraussetzung sieht er nur an einem Ort der Erde erfüllt: in der polynesischen Inselwelt des Pazifik51. An diesem paradiesischen
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Rassenideologie immer entschieden kritisiert wurde. Vgl. z. B., Johann Ulrich Folkers, Das Gesetz der wachsenden Räume, a. a. O., S. 21 ff. Dort wird die Leistung von Frobenius eingehend gewürdigt, insbesondere seine Analysen zum Raumgefühl. S. 23 folgt dann aber die Einschränkung: „Bis zu den Grundbedingungen von Rasse und Vererbung ist sein Blick niemals vorgedrungen." Folkers führt dazu Sätze von Frobenius an wie „Das Paideuma bedingt die Rasse." Ebd., S. 23. Vgl., zum Paideuma usw., Leo Frobenius, Vom Völkerstudium zur Philosophie, 2. erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1925; Ders., Ausfahrt, Von der Völkerkunde zum Kulturproblem, Frankfurt am Main 1925. Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924. Diese Schrift ist die Ergänzung zu: Leo Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes, München-Nymphenburg 1923. Vgl., ebd., S. 18ff. Ebd., S. 22. Die ersten drei Stufen enthalten stets Zwecke. Das bedeutet nicht, daß die vierte Stufe nur völlig lösgelöst von den zweckbestimmten Verhältnissen zum Meere existieren könne. Diese werden sogar meist mitenthalten sein: entscheidend ist, daß sie auf der vierten Stufe nicht mehr herrschen. Vgl., ebd., S. 22. Sie ist zugleich Raumcultur an und für sich. Aus ihr läßt er die Mythologie als solche entspringen. Diese Inseln sind klein genug, damit sie selbst nicht kontinentalen Charakter für die Bewohner annehmen können; sie sind - im Unterschied zu England - weit genug vom Festland entfernt, um von dortigen, kontinentalen Einflüssen sich trennen zu können; und doch liegen sie als Schwärme nah genug beieinander, um die Menschen stets aufs Meer hinauszulocken. Vgl., ebd., S. 24ff.
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Land und Meer im geopolitischen Diskurs
Ort der Erde wurde der, Anruf' (Heidegger) des Meeres gehört und verstanden - und zwar mit ihrem Höhepunkt schon in der Steinzeit 52 . Boeckmann verlegt die ozeanische Kulturstufe also räumlich in den Pazifik und läßt sie zeitlich den anderen beiden Kulturstufen vorausgehen. Im Unterschied zur Meereskultur im polynesischen Pazifik ist die thalassische Kultur KüstenkulturDiese ist zwar festländisch bestimmt, aber weist eine eigentümliche Struktur auf: in das Mittelmeer mündende Flüsse, wodurch die Küsten in einen engen Zusammenhang mit dem Hinterland geraten würden, haben dort eine ganz untergeordnete Bedeutung 54 . Die Mittelmeerküsten blicken aufs Meer hinaus, nicht ins Land zurück. Zwar verhindert der unleugbare Festlandscharakter dieser Küsten eine selbständige Ausbildung einer Meereskultur, doch die eigentümliche mediterrane Land-Meer-Durchdringung ermöglicht es dieser Küstenkultur, die Äußerungen der Meereskultur, ihr Wissen und ihre Mythologien, zu verstehen und aufzunehmen in ihr eigenes Wissen 55 . Ganz anders aber die atlantische Flußkultur56. In dieser ist das Verhältnis zum Meer landbestimmt, eben weil der Atlantik das Meer ist, dessen Küsten flußbestimmt sind. Die atlantischen Küsten geraten dadurch unter die Kontrolle des Binnenlandes und werden, z. B. von Paris aus mittels der Seine 57 , oder von London aus über die Themse, bestimmt. Der atlantischen Flußkultur wird letztlich das Meer als Erlebnis völlig unzugänglich, damit aber wird ihr das Belebende des Meeres verschlossen, sie verhärtet und kristallisiert zur Zivilisation, genauer: zur westlichen Zivilisation58. Hatte Kapp die Stufenfolge potamisch-thalassisch-ozeanisch als aufsteigenden Fortschritt des Geistes zur Freiheit begriffen, so bedeutet die Umkehrung dieser Reihung bei Boeckmann eine Verfallsgeschichte 59 - die westliche Zivilisation ist Eisenzeit, Zeit der Maschine, während
52 Vgl., ebd., S. 59f. 53 Vgl., ebd., S. 225-299. 54 Vgl., ebd., insbesondere S. 225-231. Boeckmann führt noch weitere Gründe an (Klima, Küstenbildung). Sein argumentatives Ziel ist dabei mit dem Fernand Braudels identisch: 1. Der Mittelmeerraum stellt eine geographisch abgegrenzte Einheit für sich dar. 2. Dabei ist er aber doch so weit zu den Kontinenten hin geöffnet, daß er in diese ausstrahlt - erweiterter Mittelmeerraum. 55 In der Thalassia gelang die Land-Meer-Vermittlung, die auch bis in die Gegenwart nachwirkt: „(...) die große Erscheinung der Humanität. Was wir heute mit dieser Vorstellung und diesem Programm umfassen (...) ist in dem Räume des Mittelmeeres gewachsen (...), in dem Land und Meer natürlich vereinigt waren und ihre Kräfte auch metaphysisch in der Kultur zur Einheit gefügt wurden." Ebd., S. 299. Die griechische Philosophie ist für Boeckmann Ausdruck der metaphysischen Land-MeerDurchdringung im Mittelmeer. Das aus Polynesien in die Thalassa strömende, überbordende Meerwissen findet hier sein Maß. Vgl., ebd., S. 286ff. Auf S. 229 sagt Boeckmann entsprechend: „Das Mittelmeer ist folglich kulturphysiognomisch in erster Linie ein Ausgleichsgebiet polarer metaphysischer Kulturspannungen." 56 Ebd., S. 336-385. 57 Auch Franz Termer sprach in der ZfGp von Frankreich als einem „Staat mit stark potamischem Einschlag". Ders., Die natürlichen Grundlagen amerikanischer Staatsentwicklung, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 28-35, ebd., S. 32. 58 Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, a. a. O., S. 399. 59 Diese Suggestion Boeckmanns wird allerdings konterkariert durch sein Bemühen, seinen Begriffen eine strukturelle Bedeutung zu geben.,Ozeanisch' und ,potamisch-atlantisch' sollen Kulturextreme sein, wobei der völlig irrationalen Meerkultur die rationale Seezivilisation gegenübersteht. Wirkliche Kultur liegt für ihn in der Vermittlung der Extreme, in ihrem Ausgleich.
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die polynesische Kultur Steinzeit, d. h. ohne Eisen war. 60 Indem der westlichen Zivilisation das Meer als Erlebnis unverständlich wird, sie sich vom Belebenden des Meeres abspaltet, hört sie auf im recht eigentlichen Sinne Kultur zu sein61, ihr entschwindet damit die lebendige Geistigkeit, sie erstirbt im Mechanismus (während Kultur stets lebendiger Organismus62 sei). Die angelsächsisch dominierte Zivilisation beherrscht politisch das Weltmeer, den auf dem Meer unerhört ausgedehnten Weltverkehr und den Welthandel - und doch stellt dies bloß eine Verfallenheit an das Meer dar, weil es diesem nicht gerecht wird. Das Meer wird Fluch: „So entartete Westeuropa in seiner Zivilisation. Es verlor seine Seele. Es wurde Maschine. Ein Mechanismus löste den Organismus ab. Und das kulturschaffende Meer wurde zum Fluch."63 Aus dieser düsteren Diagnose ergibt sich für Boeckmann aber eine hoffnungsvolle deutsche Perspektive, denn für ihn liegt das Hauptgewicht der Begriffstrilogie nicht auf einem unvermeidlichen und entwicklungslogischen, zeitlichen Nacheinander. Sie bezeichnen ihm vielmehr differente Kulturchancen und sind als solche Strukturmomente menschlicher Kulturen - deren extreme Pole die ozeanische und die atlantisch-potamische Kultur sind. In der einen tritt das Erlebnis des kontinental-erdhaften vollkommen zurück, in der anderen das meerhafte, während die thalassische Kultur die Mitte darstellt64. Als typische Küstenkultur ist sie auch ein Vorbild und Inbegriff der Vermittlung von Land und Meer 65 . In dieser Vermittlungsperspektive hat Deutschland für Boeckmann eine große Zukunft, wenn es will: Deutschland hat nichts mit dem untergehenden Abendland zu schaffen. Wenn es will/"66 Diese liegt allerdings nicht wie bei Kapp in der Vollendung der angelsächsischatlantischen Entwicklung, sondern sie liegt in asiatisch-indopazifischer Richtung, nicht im 60 Vgl., ebd., S. 59. Boeckmann unterstreicht die Eisenlosigkeit und verbindet sie mit einem Seitenhieb auf England, das er letztlich mit seiner ganzen Argumentation treffen will: „Nur Steine und Muscheln als Schlag-, Schneide- und Bohrwerkzeuge, nur Holz und Pflanzenfasern als Bindemittel. Und damit haben diese Menschen Schiffe gebaut, auf denen sie jahrhundertelang dem Ozean getrotzt haben, genial erfundene, hervorragend seetüchtige Fahrzeuge. Vom völkerkundlichen Standpunkt, d. h. unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel, war dies eine gewaltige Tat, im relativen Sinne ungleich größer als die Erbauung eines modernen Ozeandampfers oder Dreadnoughts." Ebd., S. 59f. 61 Völker, die geographisch in gar keiner Verbindung mit dem Meer stehen, können über eine Halbkultur von sich aus nicht hinauskommen. Die atlantisch-potamische Kultur wiederum hat sich psychisch vom Meer abgespalten und sank dadurch zu einer Halbkultur herab: sie barbarisierte. Diese psychische, wenn auch im Potamischen gegründete Abspaltung wurde für Boeckmann vollendet von - Kant. Eigentlich hätte die Philosophie die Aufgabe einer metaphysischen Synthese gehabt, wie einst die griechische Philosophie, um erinnernd das Meer als Erlebnis festzuhalten. Kant hat mit seiner Vernunftkritik dies vereitelt: „Kant hätte seine Vemunftwissenschaft aufrichten können und müssen ohne die tief abendländisch-arische Unendlichkeitssehnsucht und -forderung der philosophischen Synthese zu vernichten, die auf religiöser Grundlage ruht, innerlich eins ist mit dem Gottsuchen und die alten naiven Formen dieses Suchen abgelöst hatte." Ebd., S. 375. 62 Vgl., ebd., Einleitung sowie S. 358ff. 63 Ebd., S. 379. 64 Als Küstenkultur entgeht ihr das polynesische Erlebnis des Unendlichen, Weiten. Sie ist maßvoller: „Was vor allem fehlen muß, ist das Übermäßigkeitssymptom. Eingeschränkt erscheint auch das Unendlichkeitssymptom." Ebd., S. 228. 65 Aber nicht mehr der zeitgemäße Ort der Kultur, denn der Schauplatz der thalassischen Kultur ist zu klein geworden: „Kultur ist immer zugleich ein Quantitätsbegriff." Ebd., S. 26. 66 Ebd., S. 404. Auf diesen Satz kommt K. Haushofer im 3. Reich zurück, in pointierter Entgegensetzung zu Spengler: „In Spenglers Untergangstheorie ist für den abendländischen und andere Kultur-
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Westen, sondern im Osten 67 . Im indopazifischen Raum ist eine Kulturerneuerung im Entstehen, an die Deutschland über die große eurasiatische Kontinentalmacht Rußland Anschluß hat. Boeckmann redet einer deutsch-russischen Kooperation und kulturellen Synthese das Wort, wie sie Mackinder im Kontext seiner pivot-These gefürchtet hatte: „Dies alles aber heißt, daß Deutschlands große Zeit erst noch kommt. Nicht in der Form einer politisch gesonderten Eigenentwicklung. Dafür ist es zu spät. Wohl aber als feines, westliches Nervenende einer mächtigen, östlichen Großentwicklung." 68 Im gleichen Jahr wie Boeckmanns Kulturreichsschrift veröffentlicht K. Haushofer die „Geopolitik des pazifischen Ozeans" 69 . In ihr ist es Haushofer um den Aufweis einer genuin pazifischen Raumlogik zu tun, die sich substantiell von derjenigen des Atlantik unterscheidet und aus der eine andere Logik des Politischen resultiert - eben eine pazifische Geo-Politik. In einem Aufsatz „Über die Kulturunterbauten indopazifischer Geopolitik" 70 in der ZfGp, den Kurt v. Boeckmann auf Veranlassung K. Haushofers 1925 „mit besonderer Freude" 71 verfaßte, betont er die weitgehenden Übereinstimmungen zwischen seinen eigenen kulturwissenschaftlichen Analysen des Pazifik und den geopolitischen Haushofers. Für Haushofer stand die Kulturkreislehre Boeckmanns gerade dadurch in besonderer Nähe zur Geopolitik, weil ihre Betrachtungsweise räumlich, mehr erd- und länderkundlich vorbestimmt war 72 - im Unterschied zu der zeitlichen,
mehr geschichtlichen Vorbetonung bei
Spengler 73 . Dieser Unterschied bedeutete ihm vor allem einen in der „politischen Auswerkreise rund ein Jahrtausend als durchschnittliches Lebensrecht verkündet worden. Demgegenüber steht für Deutschland das kühne Wort von Kurt v. Boeckmann: „Deutschland hat mit dem Untergang des Abendlandes nichts zu schaffen" - als Fanfare am Ende seines Buches über „Das Kulturreich des Meeres", das aus dem Kreis um Frobenius stammt." Ders., Weltpolitik von heute, a. a. O., S. 187. 67 Das heißt in philosophischer Hinsicht natürlich: nicht beim verwestlichen Ostpreußen Kant. 68 Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, a. a. O., S. 404. Das wird von Johann Ulrich Folkers 1943 aus naheliegenden Gründen anders gesehen. Er konzedierte Kurt v. Boeckmann zwar den besonderen ,Weitenwillen' der malaio-polynesischen ,Meermenschen', doch er erachtete sie als für den Gang der Geschichte irrelevant, abgesehen davon, daß ihre Eigenschaften in die .japanische Rasse' übergegangen seien. Stattdessen macht er, an Spengler anschließend, die , weiße Technik' als Ausdruck der .faustischen Kultur' zur eigentlichen Geschichtsmacht. Vgl., Ders., Das Gesetz der wachsenden Räume, a, a, O., S. 25f. Alfred Rosenbergs Verhältnis zu solchen Gedankengängen war deutlich genug: „Es ist sogar so weit gekommen, daß ein sich nationalistisch nennender Schriftsteller erklärte, Deutschlands Sendung bestehe in der Verbreitung des asiatisch-östlichen Geistes. (...) Zu derartigen Gedanken kommen Menschen, die mit blutlosen Konstruktionen versuchen, an Lebensfragen des Volkes heranzutreten." Ders., Der Mythus des 20. Jahrhunderts, (1930), 11.-15. Tsd., München 21940, S. 701-702. 69 Für die folgenden Ausführungen wird hier Bezug genommen auf K. Haushofer, Geopolitik des pazifischen Ozeans, Studien über die Wechselbeziehungen zwischen Geographie und Geschichte, (1924), Heidelberg u. a. 31938. 70 Kurt von Boeckmann, Über die Kulturunterbauten indopazifischer Geopolitik, in: ZfGp, 2. Jg.,1925, S. 497-507. 71 Ebd., S. 507. 72 Vgl. auch Haushofers Rezension zu K. von Boeckmanns Buch: K. Haushofer, Rez.: Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 299. 73 Vgl., K. Haushofer, Kulturkreise und Kulturkreisüberschneidungen, in: Raumüberwindende Mächte, a.a.O., S. 91-109, ebd., S. 95. Boeckmann ist für Haushofer Repräsentant einer räumlichen orien-
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tungsmöglichkeit" 74 von Kulturkreislehre und -morphologie. Die räumliche Betrachtungsweise ergab, daß Deutschland unabhängig von der (Un)Richtigkeit der These vom Untergang des Abendlandes, mit „der westeuropäischen Kulturmüdigkeitskrise" 75 so oder so nichts zu schaffen habe. Deutschland bzw. überhaupt Mitteleuropa hat auch für Haushofer eine weitere als die nach Westen weisende Option - die Option weist in den Indopazifik, vermittelt über Eurasien, weshalb Haushofer durchaus authentisch den Pakt zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland, der bolschewistischen UdSSR und dem japanischem Gottkaisertum als geopolitische Notwendigkeit würdigen konnte 76 , um sich der anglo-amerikanischen „Einkreisung"77, der „Anakondapolitik"78, wie er sie in der Regel nannte, zu erwehren: „Mehr raumweites und geopolitisches Denken und weniger Ideologie hätten auf der ganzen Achsenlänge Berlin-Moskau-Tokio schon oft manche im Grunde völlig entbehrlichen Opfer und Reibungen sparen können, von 1901-1939." 7 9
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tierten Richtung, wie sie auch von Frobenius, Graebner, Ratzel, Schulz, Obst, Passarge vertreten würde. Vgl., ebd., S. 95. Ebd., S. 95. Gemeint ist damit der morphologisch-gesetzmäßige Pessimismus Spenglers, demgegenüber immer wieder im geopolitischen Diskurs auf der .prinzipiellen Erneuerungsfähigkeit' eines Staates, eines Volkes oder Kultur bestanden wurde. Das war insofern nicht unproblematisch zu begründen, da Einigkeit mit Spengler darüber bestand, daß Staaten, Kulturen usf. Organismen seien, die den Gesetzen des Lebens gehorchen sollten. Ebd., S. 96. Vgl., K. Haushofer, Der Kontinentalblock. Mitteleuropa - Eurasien - Japan. (1940), in Hans-Adolf Jacobsen, K. Haushofer, a. a. O., Bd. 1, S. 606-634. Die ,Einkreisung' Japans wurde 1925 von Erich Obst als Vorgriff auf den nächsten Krieg charakterisiert: „ ... früher oder später ist mit einem neuen Weltkrieg zu rechnen, mit der Auseinandersetzung zwischen Japan auf der einen, den ostasiatischen Kolonialmächten, vor allem den Angelsachsen, auf der andern Seite. Dieser Zukunftskrieg wird auf beiden Seiten emsiglich vorbereitet. Der von den Angelsachsen betriebenen Einkreisung Japans (Ausbau von Singapore!) steht das Bemühen Japans gegenüber, sich Bundesgenossen auf den asiatischen Kontinent zu sichern." Erich Obst, Sowjetrussische Außenpolitik, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 1-9, ebd., S. 7. Daraus resultiere die Orientierung der sowjetrussischen Außenpolitik auf Asien nach dem Scheitern der Ambitionen in Europa, um über diesen Umweg schließlich auch in Europa erfolgreich sein zu können. K. Haushofer, Der Kontinentalblock, a. a. O., S. 616. Dabei kommt er wiederholt auf Mackinder, Mahan und weitere Angelsachsen zurück, und zwar mit bewunderndem Haß. In mehreren seiner Werke hat er eine Karte, die die pivot-These vorstellt und Mackinders Schriften bezeichnet er als lehrreich - nur: sie seien wegen seines Deutschenhasses keinem deutschen Leserkreis zumutbar, weshalb er gegen ihre Übersetzung ist (sie sind bis heute nicht übersetzt). Im Vorwort zu einer, von seiner Frau Martha besorgten Übersetzung des Briten James Fairgrieve sagt er über Fairgrieves Buch: „(...) so sehr es auch den Standpunkt der beati possidentes vertritt (...), kann man es doch einem deutschen Leserkreis vorsetzen, ohne an Selbstachtung einzubüßen. Leider ist das gegenüber vielen anderen bedeutenden Werken der englischen Geopolitik nicht möglich, wie z. B. bei einigen von Mackinder, deren schroff deutschfeindliche, ungerechte Haltung eine deutsche Übersetzung ausschließt (...)." K. Haushofer, Zum Geleit, in: James Fairgrieve, Geographie und Weltmacht, dt. Üb. von Martha Haushofer, mit einem Geleitwort von K. Haushofer, Berlin-Grunewald 1925, S. 1-8, ebd., S. 2. Z. B. in, K. Haushofer, Der Kontinentalblock, a. a. O., S. 616 u.ö. Ebd., S. 626.
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Die westlich-abendländische Kultur/Zivilisation gravitierte für Haushofer um den Atlantik 80 . Die Verlagerung zum indischen und pazifischen Ozean bedeutet ihm vor allem eine veränderte geopolitische Logik des Politischen, die in den besonderen Naturverhältnissen der dortigen Räume gründet, mit solchen Faktoren wie Monsun 81 , eine andere Küstengliederung82 oder Raumweite des Pazifik83. Die Weite des Raumes, die Struktur der anliegenden Festlandsgebiete und die allgemeine Größe und Erhabenheit aller Naturerscheinungen im Vergleich zum Atlantik (z. B. Vulkanismus, Erdbeben) konstituieren ein unbewußtes pazifisches Leben, das insgesamt von Größe, Weite und Erhabenheit der Vorstellungen zeuge, wie es der atlantisch-mediterranen Welt nicht zu eigen sei. Gerade deshalb haben die ausgreifenden Pan-Ideen im pazifischen Raum eine authentische Vitalität und Realisierungschance84. Das polynesische ,Kulturreich des Meeres' wird von Haushofer als ein Symbol autochtoner Züge des pazifischen Raumes genommen. Steht für Boeckmann aber der Pazifik allererst als Ort der ozeanischen Kultur da, während die Küstenkultur in die Thalassia fallt, wird von Haushofer das Küstenhafte zu einem weiteren Zug des pazifischen Raumes im Gegensatz zum atlantischen gemacht: „Während der Atlantische Ozean die Flüsse der halben Festlandoberfläche an sich zieht, verengen die nah herantretenden großen Randkettengebirge der Ufer des Großen Ozeans dessen Einzugsgebiet so sehr, daß es nur ein Siebentel der Festlandoberfläche umfaßt. (...) Umlagert wird der Stille Ozean von der asiatischen (44 Mill. qkm), der amerikanischen (42) und der australischen Landmasse, aber von allen dreien sind ihm nur die durch Wüsten abgetrennten, sehr viel kleineren Randgebiete zugewendet. Mehr als bei anderen Ozeanen beherrscht also sein Gebiet der UFEReindruck der Randräume."85 Das thalassisch-küstenhafte ist also dem Pazifik in unvergleichlich vergrößerter Form zu eigen. Das heraufgedämmerte ,pazifische Zeitalter' 86 enthält in sich nicht bloß ein ozeanisches Weitengefühl, das den Atlantik übersteigt, sondern auch die Dimension der gelingenden Vermittlung von Land und Meer.87 Insofern lassen sich für Haushofer begründete Hoffnungen an eine pazifik-zentrische Organisation der Welt im Allgemeinen, aber auch im Besonderen für Mitteleuropa heften: „Aber das steigende Gewicht, das die Anrainer des Pazifik in die 80 Vgl., K. Haushofer, Geopolitik des Pazifischen Ozeans, a. a. O., Abb. 32, S. 282. Vgl. sie mit der dortigen Abbildung 33, S. 284. 81 Vgl., ebd., S. 44f. 82 Vgl., ebd., S. 51 ff. 83 Vgl., ebd., S. 35ff, S. 96ff, S. 261 ff. 84 Vgl., Karl Haushofer, Geopolitik der Pan-Ideen, Berlin 1931, (= WpB, Grundlegende Reihe, Bd. 21). Haushofer unterscheidet dort zwischen der panasiatischen und der panpazifischen Idee. Erstere gründet mehr im Widerstand gegen atlantische Fremdbestimmung, insofern das pazifische Asien davon betroffen ist, enthält dafür aber die pazifikfremden, kontinentalasiatischen Sowjetbünde; dem panasiatischen steht der panpazifische Ausgleichsgedanke als ein kultur- und geopolitisch gut fundierter gegenüber - dieser leidet aber an einer gewissen Künstlichkeit seiner Initiation durch apazifische Mächte. 85 K. Haushofer, Geopolitik des Pazifischen Ozeans, a. a. O., S. 39. 86 Vgl., K. Haushofer, Weltmeere und Weltmächte. Berlin, 1937, S. 252ff. 87 In der „Geopolitik des pazifischen Ozeans" heißt es auf S. 264: „Deutlich erkennbar ist eine friedlich-schiedliche Tendenz der großen pazifischen Geopolitik. Aus ihr heraus entsteht eine Möglichkeit der Entladung und Entspannung der Kontraste, wie sie der abendländische und atlantische Kulturkreis offenbar nicht besaßen."
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Waagen zukünftiger Menschheitsorganisationen des Gesamtplaneten zu werfen haben, läßt uns hoffen, daß sie mehr unserem Selbstbestimmungsideal entsprechen werden, als dem Vasallenkranz französischer Vergewaltigungsorganisationen."88 Dabei besteht aber als Problem, daß der atlantische Imperialismus im pazifischen, wie im indischen Ozean, eine beherrschende Stellung aufrechterhalten könnte. Für die Einschätzung dieses Problems gilt es zu beachten, daß der indische und der pazifische Ozean nicht wirklich voneinander abzugrenzen sind. Der indische Ozean und die Anrainergebiete sind aber von England beherrscht, also einer ursprünglich atlantischen Macht. Doch ist England überhaupt noch atlantisch? K. Haushofer ist hierüber unsicher, die britische Reichspolitik zeige Anpassungstendenzen an die ganz anderen Verhältnisse im indopazifischen Raum, ganz im Unterschied etwa zu Frankreich, das immer raumfremd geblieben sei und keine längerfristige Perspektive dort habe. Ob aber die Anpassungstendenzen mehr sind als eine oberflächliche Maskierung des atlantischen Imperialismus, ist für Haushofer ebenso unklar, wie die Beharrungskraft dieses Imperialismus überhaupt. Daraus ergibt sich für den indo-pazifischen Raum eine gewisse Undeutlichkeit, eine Unübersichtlichkeit, wie sie exemplarisch an den Überschneidungen von panasiatischer, panpazifischer und panbritischer Ideen deutlich wird89. Nicht, daß es keinen pazifischen Imperialismus für Haushofer gebe - auch und gerade im Pazifik herrschte seit je ein ,Kampf ums Dasein' um sehr knappen Lebensraum. Das ,friedlich-schiedliche' liege in der Möglichkeit evolutionärer Ausgleichsprozesse, statt kriegerischer Lösungen oder solcher durch „einen Frieden, der schlimmer ist als Krieg - nach Art der atlantischen Welt." 90 Es handelt sich in letzter Instanz um differente Lebensformen: „Aber damit wurde auch klar, daß in unseren Tagen eine indo-pazifische-ozeanische Einheit einer atlantischen gegenübersteht, deren Lebensformen sich unterscheiden, die indo-pazifischen als mehr zentripetale, autarkische, die atlantischen als expansive, obstrusive, übergreifende in Kultur, Macht und Wirtschaft." 91 Die Kulturerneuerung und mächtige östliche Großentwicklung, von der Boeckmann spricht, stellt sich für K. Haushofer konkret als Befreiungskampf um Selbstbestimmung dar, dem gegenüber Deutschland seine Option realisieren muß. Europazentriert würde es in eine Interessenallianz mit den atlantischen Mächten, namentlich England geraten (Junior partner' wie Naumann sagte) - wofür es aber wahrscheinlich einen Teil der Kolonien wiedererhielte. Oder es stellt sich antiatlantisch ein, was zu einem eurasiatischen Bündnis führen könnte, bei dem aus einer Position der Stärke der dringend benötigte koloniale Raum zu fordern wäre92. 88 Ebd., S. 268. 89 Carl Hanns Pollog setzt das besondere Problem des Pazifik darin, daß sich dort ,zwei ozeanische Völker' gegenüberstehen. Den Angelsachsen sei es nicht gelungen, das malaio-polynesische Element völlig zu ersetzen, auch wenn das Zentrum dieser Kultur europäisiert wurde. Am Rande dieses Gebietes, in Japan (und teilweise in Neuseeland), sei es in die Konstruktion eines mächtigen Staatswesens eingegangen. Dieser Gegensatz Malaio-Japaner/Angelsachsen trieb für Pollog auf eine Entscheidung zu: „Das größte Meer der Erde zum mindesten gehört den ozeanischen Völkern, Angelsachsen und Malaio-Japanern ... Aber welchem der beiden Seevölker wird denn einmal der Pazifik allein gehören?" Carl Hanns Pollog, Verknüpfung zwischen Klima und Machtbereich im Stillen Ozean, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 18-28, ebd., S. 28. 90 K. Haushofer, Geopolitik des Pazifischen Ozeans, a. a. O., S. 261. 91 K. Haushofer, Weltmeere und Weltmächte, a. a. O., S. 260. 92 Erich Obst brachte 1925 diese Option auf die Formel: „Wir müssen also Farbe bekennen und rechtzeitig uns entscheiden: als Trabant des Angelsachsentums und des von ihm vertretenen Hochkapi-
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Während Boeckmann in seiner Schrift nachhaltig für eine freundschaftliche Ostorientierung nach Asien gegen den atlantisch-potamischen Westen plädiert hatte, bleibt Haushofer zwiespältiger, was das slawische Rußland betraf 93 . Der Hauptgrund dafür besteht im naturalistischen Gegenpol zum Raum, in der .Rasse' (im .Völkischen' oder .Ethnischen'). Wie problemlos wäre doch die Antwort für ihn, wenn in Rußland Germanen lebten... 94 . Raum und Volk als die beiden Naturseiten des Staates passen nicht zusammen, wenn es um die strategischen Optionen Deutschlands geht. Daß K. Haushofer nur ein Jahr, bevor er die Achse BerlinMoskau-Tokio lobt, die Gefahr ,aus der Steppe' (Rußland) als stets viel bedrohlicher ansieht, als die vom Meere (England) 95 , ist nicht bloß Ausdruck politischer Tageskonjunktur und den talismus mit den übrigen europäischen Staaten gegen Rußland und ganz Asien oder im Verein mit der panasiatischen Union gegen Europa und Amerika." Ders., Sowjetrussische Aussenpolitik, in: ZfGp, a. a. O., S. 9. Hier wird das Dilemma des Europäers Obst sehr gut deutlich: Trabant des Angelsachsentums will er durchaus nicht sein, aber seine Analysen der UdSSR zeigen andererseits, daß die russische Kultur mit ihrer orthodoxen Unterlage für Deutschland als Teil Europas ganz fremd sei. So spricht er 1924 von der .Tragödie' der russischen Staatsentwicklung, daß das warägisch-germanische Element frühzeitig einer Kombination von asiatischer und griechisch-orthodoxer Staatsauffassung unterlegen sei und so Rußland seit bald 800 Jahren Europa entfremdet blieb. Vgl., Ders., Die geopolitischen Leitlinien des europäischen Rußland, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 5-19. Mit einer Skizze aus der .Japan Times' stellt Haushofer die momentanen Protagonisten des pazifischen Ozeans vor, zwischen denen Deutschland wählen kann. Vgl., K. Haushofer, Geopolitik des Pazifischen Ozeans, a. a. O., Abb. S. 27. 93 Zumal es zudem bolschewistisch war. Bezeichnend ist eine Bemerkung von Erich Obst:,J3er große eurasiatische Zukunftsblock, von dem Haushofer in Heft 2 dieser Zeitschrift gesprochen hat, ist tatsächlich im Werden. Jedes der Mitglieder dieser großen panasiatischen Gemeinschaft erhofft für sich von diesem gemeinsamen Vorgehen etwas Besonderes; der Sowjetpolitiker lächelt verschmitzt über all diese Hoffnungen und Träume. Für ihn ist auch das alles lediglich Mittel zum Zweck. Auch die Verbrüderung mit dem Osten, und gerade sie, soll ihm das Ziel erreichen helfen, ohne das ein dauernder Bestand der Sowjet-Union unmöglich ist: Die Weltrevolution." Ders., Berichterstattung aus Europa, Afrika, Rußland, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 275-278, ebd., S. 278. 94 Japan als Partner ist für Haushofer unproblematisch. Nach Verlust der deutschen Kolonien im Pazifik gibt es keine Interessenkollisionen mehr. Mehr noch zählt für ihn die soziale und psychische Parallelität von monarchistisch-deutschen und kaiserlich-japanischen Reichstraditionen (Treue, Ehre, militärische Tugenden usw.). Ebenso auch China und Indien. Die Phobie vor einer .gelben Gefahr' eines Spengler teilte er nicht, sondern sah in ihr ein willkommenes Werkzeug angelsächsischer Machtpolitik: „Aus dieser Kette geopolitisch schwer anzufechtender Schlüsse erhellt, welches Interesse wir in Mitteleuropa daran haben, daß ein friedlicher Ausgleich zwischen China, Japan und Rußland zustande komme, daß kleine Reibungen zweiten und dritten Grades ihn nicht stören, daß die Sensationsmeldungen über japanischen Militarismus, Angriffsabsichten und dgl. mehr in Mitteleuropa keinen Resonanzboden finden, daß bei der ganzen Rassenhetze die nächstbeteiligten weißen Raubmächte am Pazifik allein gelassen werden und daß sich nicht die ahnungslose öffentliche Meinung bei uns (wie schon so oft!) vor den Wagen des amerikanischen Wirtschafts- und Flottenimperialismus spannen lasse." Ders., Der ost-eurasiatische Zukunftsblock, in: ZfGp, 2. Jg., 1925, S. 81-87, ebd., S. 84. Aus anderen Aufsätzen, auf die ich hingewiesen habe, erhellt, daß über das Interesse Mitteleuropas hinausgehend Ostasien zudem in kultureller und staatsphilosophischer Hinsicht ein alter ego zu Deutschland bildet: während mit Rußland allein strategische Raumzwänge eine Kooperation erfordern, sind die Ostasiaten, besonders die Japaner, zusätzlich Wahlverwandte. 95 Vgl., K. Haushofer, Deutsche Kulturpolitik im indopazifischen Raum, Hamburg, 1939, S. 222ff. Es heißt dort u. a.: „Der kulturgefährdende Andrang vom Meer her auf das sich bildende deutsche
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Rechtfertigungszwängen unter totalitären Bedingungen geschuldet. Er gewichtet lediglich in beiden Argumentationen ,Raum' und ,Volk' unterschiedlich. 96 Das paradoxe Verhältnis zum Britischen Weltreich, wie es in verschiedener Gestalt bei deutschen Geopolitikern begegnet, verdichtet sich bei K. Haushofer zu einem aufschlußreichen, bildlichen Ausdruck: Anakondapolitik. Haushofers metaphorische Charakterisierung des Britischen Weltreiches als eine Anakonda ist eine Chiffre. Worauf weist sie? Die Anakonda ist eine Riesenschlange der Familie der Boas. Die Anakonda gehört zu denjenigen Boas, die im Wasser leben. Sie ernährt sich aber, wenn sie älter wird, auch von Wirbeltieren des Landes, die sie stets ins Wasser ziehen muß, um sie dort zu erwürgen. Diese rudimentäre, zoologische Seite ist für das Bild nicht unwesentlich, wie sich sofort zeigt, wenn man ihr die, mit ihr verwandte, Boa constrictor entgegenhält. Die Boa constrictor lebt vornehmlich auf Bäumen - nicht im Wasser. Sie wird mit maximal 4m nur halb so groß wie die Anakonda. Die landständige Boa constrictor wäre offensichtlich unpassend gewesen als Bild für das größte und seemachtgestützte Weltreich seiner Zeit, nämlich das Britische. Eher schon ließe sie sich auf die Erben germanischer Waldlandschaften anwenden. Genau das soll Joseph Goebbels in seinem Tagebuch getan haben, in dem er nach dem Anschluß Österreichs notierte: „Wir sind jetzt eine boa constrictor, die verdaut (...) Nun sitzt er stundenlang über der Landkarte und brütet. Ergreifend, wenn er sagt, er möchte das große deutsche Reich der Germanen noch einmal selbst erleben (...)."97 Haushofers Metaphorik stimmt nicht bloß mit der Goebbels überein, sondern auch mit Boeckmanns Einschätzung Englands, daß dieses das Meer nicht erlebt, denn ansonsten wäre wohl ein Wal oder Fisch angemessener als eine in Ufernähe bleibende Schlange. Mythisches und Religiöses scheint hier ebenso auf, die alttestamentalische Genesis, der Leviathan, die Midgardschlange. Die Anakonda ist zwar eine im Wasser wohnende Schlange, aber sie lebt nicht im Meer: ihr ist nicht wirkliche Maritimität zu eigen: das britische Weltreich benutzt das Meer bloß für Wirtschaft, Handel und Politik. Seltsam genug ist dabei, daß in dem Anakondabild noch eine mögliche Zusammenarbeit mit England im Blick bleibt, wenn es mit Schmitt,heidnisch' verstanden wird - dann verweist dieses Bild auf gemeinsame Ursprünge, sowohl auf die Midgardschlange, als auch auf die Schlange als Symbol der Weisheit, .heidnischer Lebenskraft und Fruchtbarkeit' 98 , wie es Schmitt ausdrückt. Die doppelsinnig-heidnische Interpretation Englands im Medium der Reich ist also ungleich später und viel weniger massenhaft und verheerend als der Ansturm der Steppe." Ebd., S. 228. 96 Haushofer hatte sich in seiner „Apologie der deutschen Geopolitik", (1945), abgedruckt in: HansAdolf Jacobsen, K. Haushofer, a. a. O., Bd. 1, S. 639-646, u. a. damit gerechtfertigt, daß er nach 1933 zunehmend weniger die eigene Position veröffentlichen konnte und auch mehr und mehr den .Zugang zur Macht' (Schmitt) verloren habe. Ich will nicht behaupten, daß es nicht auch so war. Dennoch bleibt festzuhalten, daß solche Positionswechsel sozusagen geräuschlos vollzogen werden konnten, ohne daß ein auffälliger Argumentationsbruch entstanden wäre. Eine Analogie findet das in den Balkanbüchern seines engen Mitarbeiters Josef März. Vgl., Josef März, Die Adriafrage, Geleitwort von K. Haushofer, Berlin-Grunewald 1933 ( = BZfGp, H. 11); Ders., Jugoslawien, Probleme aus Raum, Volk und Wirtschaft, mit einem Geleitwort von K. Haushofer, Berlin 1938; Ders., Gestaltwandel des Südostens, Berlin 1942. 97 Der Spiegel, Heft 31,1992, S. 110. Das Bild ist .stimmig', wenn man so will. 98 Lebenskraft und Fruchtbarkeit waren gängige Beurteilungsmaßstäbe im geopolitischen Diskurs,
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Midgardschlange ist auch bei dem anglophilen Alfred Rosenberg zugegen, wenn er auf den 1. Weltkrieg zurückblickt: „Dieser neue und doch alte Blutmythus, dessen zahlreiche Verfälschungen wir erleben, war auch im Rücken der einzelnen Nation bedroht, als dunkle, satanische Kräfte überall hinter den fliegenden Heeren von 1914 wirksam wurden, als wieder eine Zeit begann, da der Fenriswolf seine Ketten zerbrach, die Hei mit dem Geruch der Verwesung über die Welt zog und die Midgardschlange das Weltmeer aufpeitschte; (...)."" Vor diesem Hintergrund erhält Haushofers These vom pazifischen Zeitalter auch eine gewisse Mehrdeutigkeit. Der teilweise politische, auf jeden Fall kulturelle, historische und ethnische Zusammenhang mit den unzweifelhaften Pazifikanrainern USA, Australien und Neuseeland ließen England nicht so eindeutig pazifikfremd wie Frankreich erscheinen, damit auch nicht die Perspektive allbritischer Ideen. Ein antiatlantisches, pazifikorientiertes Mitteleuropa mußte bei entsprechender britischer Politik nicht notwendig antibritisch sein, nämlich dann nicht, wenn dessen Politik indopazifisch und nicht atlantisch bestimmt ist über diesen Umweg minderte sich der Gegensatz zur europazentrischen These, mindert sich der Gegensatz zwischen der These vom Anbruch einer pazifischen (Haushofer, Boeckmann) oder einer universellen Kultur (Maull, Hettner).
3. Raumkultur, Zeitkultur An beiden Thesen hat sich als hervorstechendes Thema der geopolitischen Aufnahme der kappschen Philosophie die Verortung Deutschlands im machtpolitischen System der Gegenwart ergeben, mit dem Ziel, politische Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aufzuzeigen. Bei dieser Verortung trat das Verhältnis zum Britischen Reich in den Vordergrund, ein Sachverhalt, der der philosophischen Geographie Kapps völlig konform geht, da die Überwindung Englands durch Deutschland für ihn das letzte noch ausstehende politisch-historische Ereignis war. Dennoch muß irritieren, daß Kapps, auf den Staat bezogene Begriffe, bei ihrer Aufnahme und Erweiterung auf die Kultur (Hettner, Maull) angewendet werden und daß die ironische Umformulierung Boeckmanns diese Wende zum Kulturbegriff schon unterstellt. Beinhaltet diese Wendung einen veränderten Sinn des Politischen? Welcher Politikbegriff ist hier überhaupt zugegen? In welchem Zusammenhang steht er mit dem der Kultur? Kapp hatte physische Geographie, politische Geographie und Kulturgeographie als aufeinander aufbauende Begriffe unterschieden. Physik, Politik und Kultur kamen dabei unterschiedliche philosophische Wahrheitsgehalte zu: „Ist (...) der Mittelpunct der Betrachtung in der physischen Geographie die ERDE, wie sie als Natur im Menschen zu ihrer Wahrheit kommt, sehen wir ferner in der STAATENGEOGRAPHIE den MENSCHEN im Centrum der Betrachtung, wo die Erde das Wohnhaus des Menschengeschlechts ist, wie der Leib die Wohnung der Seele, so ist das Dritte, daß aus dem Kampfe des Geistes mit seiner Leiblichkeit, aus der Überwindung ihrer als Naturschranke, durch die ARBEIT Leib und Seele zur Einheit nach denen das Verhältnis von Raumbesitz und -ansprach gemessen wurde. Als besonders entkräftet wurde das verstädterte und überzivilisierte Frankreich angesehen, dessen Kolonialbesitz darum ungerechtfertigt sei, wegen der fallenden Geburtenrate wurde er als unmoralisch und gewaltförmig kritisiert. Vgl. z. B., Otto Maull, Frankreich, Länderkunde und Geopolitik, Berlin, Leipzig 1936. 99 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 758.
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des Geistes in der Cultur verklärt werden, auf daß das WOHNHAUS der Menschheit zu ihrem wahrhaften ERZIEHUNGSHAUSE durchdrungen und erhöht werde."100 Der Unterschied zur physischen Geographie ist mit dem Begriff des Menschen gesetzt, als die Spitze der Natur. Seine Differenz zu allen anderen Naturerscheinungen ist das Selbstbewußtsein, d. h. es wird ihm ,sein eignes menschliches Wesen, das Allgemeine, die Gattung, Gegenstand, er bezieht sich auf sich selbst, verhält sich denkend, ist Geist'. An dieser Stelle beginnt die politische Geographie: „Wir treten nunmehr aus dem Bereich der natürlichen Erscheinungen der Erdwelt auf den Schauplatz des Geistes."101 Schauplatz des Geistes102 - genau das ist der Inhalt der politischen Geographie. Und doch war schon die Natur Geist, aber in Form der Unfreiheit. Als Spitze der Natur ist der Mensch schon Selbstbewußtsein, doch noch unfrei. Das Politische als Fortschritt zur Freiheit ist Emanzipation des Geistes von dieser entfremdeten Gestalt. Insofern bleibt die Natur in der politischen Geschichte zugegen, was sich in den Begriffen potamisch, thalassisch und ozeanisch niederschlägt. Doch diese Begriffe bezeichnen zugleich ein fortschreitendes Zurücktreten des natürlichen Elements, denn als Reihe benennen sie eine fortschreitende Befreiung von der Bestimmtheit durch die Natur. Damit läßt sich auch Kapps Begriff der Kultur vom Politischen abgrenzen. Das Physische geht dem Politischen voraus und wird in diesem aufgehoben. Die Entfaltung der Staatsidee aber wird wiederum in der Kultur aufgehoben. Geographie und Geschichte der Staatsidee kommen im ozeanischen Zeitalter an ihr Ende. Es steht nur noch ihre deutsch-germanische Phase aus: das ist das Ende der politischen Geschichte und der politischen Geographie: „Deutschland bildet den Ausgang der politischen Geographie. Wenn diese seine Stellung die richtige ist, so muß es als Schlußstein der bisher abgehandelten Staaten und Länder der Endvereinigungspunct für alle sein. Seiner räumlichen Mittellage im europäischen Continent entsprechend wird es auch die geistigen Richtungen der übrigen Nationen in sich zur Vermittlung bringen."103 So wie der Mensch der Endvereinigungspunkt der Natur ist, ist Deutschland derjenige der Politik. Die politische Geographie und Geschichte hatte den Begriff der Freiheit entwickelt, ohne daß die Freiheit in ihrer Universalität darum schon vollkommen verwirklicht wäre: diese Verwirklichung ist der Inhalt der Kultur, in ihr geht es um eine allgemeine Befreiung des Geistes aus den Schranken von Raum und Zeit. Gemeint ist damit nicht, daß es nicht auch zuvor schon Kulturleistungen gegeben hätte. Tatsächlich ist für Kapp ,die Arbeit die Seele der Cultur' und ,die ewige Brücke zwischen Materie und Geist'. Nur bleibt sie im Rahmen der bisherigen Geschichte eingebunden in eine politische Herr-Knecht-Dialektik, selbst darin unfrei, wenn auch gerade durch diese Dialektik die Freiheit befördert wird. Erst in der ozeanisch-universalen Welt wird die Arbeit selbstbewußte Arbeit: das Universale der ozeanischen Welt ist die Erkenntnis und An-
100 Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, a. a. O., Bd. 1, S. 30. 101 Ebd., S. 84. 102 .Schauplatz' meint für Kapp, daß die physische Erde in ein Wohnhaus des Menschen verwandelt wird. .Nähme' der Erde als ein sich Einrichten. In der politischen Geographie ist die Erde Baustelle. Die Kultur macht darüberhinaus ein Erziehungshaus aus dem Wohnhaus. 103 Ebd., Bd. 2., S. 298. Nicht nur in der Lage, überhaupt zeigt Deutschland eine Geographie der Mitte: Größe der Flüsse, der Gebirge etc. stellen ein Mittleres dar, vermeiden Maßlosigkeiten. Mit der Mitte als Maß ist für Kapp Deutschland das Land der Vermittlung schlechthin.
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erkenntnis der Arbeit als Gattungsprozeß 104 . Damit aber wird erst hier die Kultur und ihre Seele: die Arbeit, zum Zentrum der Welt, damit Kultur erst wirklich. In der Kultur wird die Beschränktheit aller politischen Geschichte überwunden, die darin besteht, daß diejenigen, die Inhaber der Erde sind und diejenigen, die diese tatsächlich aneignend bearbeiten, nicht identisch sind. Anders in einer in wirklicher Kultur angekommenen Welt: „Die Arbeit macht den Menschen wahrhaft zum Herrn der Wirklichkeit. Arbeit allein aber sollte ihm das Recht ihrer Besitzergreifung geben; denn alle Arbeit ist an sich schon Aneignung. Der Besitzer ist dieser nur durch Arbeit; ohne diese thätige Erwerbung der Sache ist er nur ihr Inhaber."105 Deutschlands Aufgabe ist es für Kapp, als Endpunkt der politschen Geschichte und Geographie diesem Zeitalter der Verwirklichung der Kultur den Boden zu bereiten. Abschluß der politischen Geschichte bedeutet die Beseitigung der noch egoistischen Aspekte in der angelsächsischen Herrschaft über die Welt, ohne selbst eine noch maßlosere Form an ihre Stelle zu setzen. Geeignet dazu erscheint es, weil es als Land der Mitte auch eine Geographie des mittleren Maßes hat, d. h. keinerlei grandiosen Erscheinungen, keine gewaltigen Flüsse oder Gebirge. Mit der Mitte als Maß ist Deutschland das Land der Mitte schlechthin und Wegbereiter der Zukunft. Die Perspektive dieser Zukunft und Gegenstand der Kulturgeographie ist bei Kapp die .Verklärung' und .Verschönerung' der Natur im Medium einer selbstbewußten ,Raumcultur' und ,Zeitcultur'106. „Raumcultur" hat die Materie in ihrer Äußerlichkeit zum Gegenstand, und stellt sich dar als Landwirtschaft, Bergbau und Industrie, die diese der Erde abgewinnt und zu ,Producten' für den Menschen formt. Zum anderen wird das Innere der Materie zum Gegenstand, das ist ihre Bewegung: „Bewegung aber ist die der Materie immanente Zeit."107 Die daraus entstehende „Zeitcultur" verwirklicht sich u. a. als Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraph 108 , dessen Blitzartigkeit die höchste Form der ,Zeitcultur' ermöglicht, den unmittelbaren Austausch der Geister, ohne noch auf Raum und Zeit praktisch Rücksicht nehmen zu müssen. Zeitcultur ist für Kapp ,communication' im allgemeinen Sinne, wie bei Mahan, nur nicht auf das Meer bezogen. Der Gegensatz Land-Meer, Eisenbahn-Dampfschiff, wird im Telegraphen aufgehoben - die Überwindung von Raum und Zeit nennt er .universelle Telegraphik'. Selbst als 104 Der ozeanisch-universalen Stufe entspricht für Kapp in religiöser Hinsicht der Protestantismus als Religion der Hand und des Kopfes. 105 Ebd., Bd. 2., S. 365. Der Besitz der Erde beginnt erst mit dem Ackerbau. Vgl., ebd., Bd. 2., S. 368. 106 Das gilt gleichermaßen für den Menschen. .Verklären' heißt schön werden machen. ,Ethische Verklärung' (ebd., Bd. 2. S. 441ff.) soll die Einheit von schönem menschlichem Geist und schönem Körper herstellen. Der kranke Mensch ist minderwertig: „Der kranke Mensch und der böse sind keine wahren Menschen und ermangeln darum der Schönheit; der durch und durch gesunde Mensch ist der gut und darum der schöne." Ebd., Bd. 2. S. 442. Der körperlich-geistige „ganze Mensch" (ebd., S. 444) ist Grundlage der .historischen Verklärung'. Nicht eine soziale Revolution, sondern eine Heilkunde als allgemeine Lebenskunst führt dahin. Man beachte die hohe Bedeutung von Sport und Gesundheitsfürsorge in den entwickelten Staaten. Treffend hat Carl Schmitt 1916 in seiner Däubler-Interpretation über die Verwechslung von gut und nützlich gesagt: „An die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit. Die Verwechslung war schauerlich." Ders., Theodor Däublers Nordlicht, (1916), Berlin 1991, S. 61. 107 Ernst Kapp, Philosophische oder Vergleichende allgemeine Erdkunde, a. a. O., Bd. 2., S. 410. 108 Der Telegraph stellt in gewisser Weise ein Symbol für ,Neue Medien' bei Kapp dar.
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Materiebegriff hält sich die asymmetrische Überlegenheit der Zeit und ihr besonderer Bezug zur Seele und zum Geist. Die geschichtsphilosophische Unterscheidung von Politik und Kultur, die zu Kapps Einteilung einer Geschichte und Geographie der politischen Welten gehört und zugleich Deutschland eine ganz außerordentliche historische Aufgabe zuweist, ist bei Hettner, Maull u. a. offensichtlich verändert, wenn etwa, statt von der potamischen Welt, von der potamischen Kulturstufe die Rede ist. Was besagt es, wenn dermaßen der Begriff der Kultur hervortritt und was wird dabei aus dem des Staates? Es ist durchaus nicht so, daß Hettner, Maull u. a. aus der politisch-geographischen Philosophie Kapps einfach einige völlig sinnentleerte Worthülsen entnommen hätten, die sie dann beliebig neu füllen. Hettner versteht Kapps Gliederung schon als sinnvolle und angemessene Einteilung des wirklichen historisch-geographischen Prozesses, dessen wesentlicher Inhalt auch ihm als Fortschritt zur Freiheit109 erscheint. Doch selbst die explizite Nennung Hegels 110 kann nicht verbergen, daß bei Hettner die Angabe des Geistes als Subjekt dieser Bewegung fehlt. Bei ihm ist der Fortschritt zur Freiheit nichts anderes als die Kultur selbst, die, im großen und ganzen betrachtet, in der Geschichte fortgeschritten sei. Das ,leitende M o t i v ' der Kulturentwicklung „ist die zunehmende Beherrschung der Natur durch den Menschen" Dieses gleichermaßen alttestamentalische wie cartesianische Vermächtnis gibt ebenso das Maß des Fortschrittes ab, nämlich als Vermessen dessen, inwieweit das ,,(...)nous rendre comme maître et possesseurs de la Nature" 1 1 2 gelungen ist. Kultur bezieht bei Hettner seine Bedeutung aus der Natur als ihren zu beherrschenden Gegensatz. Hettner will Kultur in seiner umfassendsten Bedeutung verstanden wissen und nennt ausdrücklich Staat, Technik, Volkstum, Lebensweise als verschiedene Seiten an ihr. Die Kultur ist „die Gesamtheit an materiellen und geistigen Gütern sowie an Fähigkeiten und Organisationsformen" 1 1 3 . Im Vergleich zu Kapp hat Hettner einen neutralisierten Kulturbegriff, und zwar darin neutralisiert, daß das Politische keine, vor anderen Aspekten der Kultur privilegierte Funktion mehr hat. Zwar wurde für Hettner der Kulturprozeß auch v o m ,ewigen W e t t b e w e r b ' und ,dem Kampf der Menschen untereinander' vorangetrieben, doch dieses Verhältnis der Menschheit zu sich selbst verdichtet sich nicht in einem Begriff des Politischen und des Staates. Der Inhalt dieser Neutralisierung ist die Aussage über das gegenwärtige Zeitalter, daß es nicht im Zeichen der Verklärung und Verschönerung der Natur steht, sondern vom Überlebenskampf mit der Natur der Erde geprägt ist: „Die in letzter Linie für die Zukunft der Menschheit bestimmende Frage ist die Frage nach ihrem Nahrungsspielraum."." 4 Die räumliche Endlichkeit der Erde, die äußere Natur in ihrer reellen, beschränkten und nicht erweiterbaren Ausdehnung - das ist es, was in der universalen Periode zu allgemeinem Bewußtsein gelangt. Die Menschheit bleibt naturbestimmt. Der Raum, die Natur, das Außen, deren wechselseitiges Bestimmungsverhältnis oben aufgezeigt wurde, determinieren Hettners
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Vgl., Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, a. a. O., S. 133ff. Vgl., ebd., S. 135. Ebd., S. 135. René Descartes, Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, in: Oeuvres philosophiques, Bd. 1, Paris 1963, S. 567-650, ebd., S. 634. 113 Alfred Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, a. a. O., S. 4. 114 Ebd., S. 145.
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Staatsbegriff als Teil der Kultur, indem er als wichtigsten Staatszweck das Außenverhältnis der Staaten auffaßt: „Die Träger der Politik sind Staaten; denn der eine, im ganzen wichtigste, Zweck dieser Organisationsform der Völker ist ja gerade deren Vertretung nach außen im Frieden und im Kriege. Jede Veränderung in der Ausdehnung und in der Art der Politik wirkt darum auf die Staaten zurück: deren Größe und Form muß der jeweiligen politischen Weltlage angepaßt sein." 115 Das Hervortreten des Räumlichen bei Hettner wird noch abgerundet durch die These, daß dem Kulturfortschritt eine Vergrößerungstendenz der Staaten zu eigen sei. Allerdings folgt diese prononcierten Räumlichkeit nicht aus dem allgemein gefaßten Kulturbegriff, wie sich schlagartig zeigt, wenn der ebenso allgemein gefaßte und zugleich ohne spezifischen Begriff des Politischen auskommende Kulturbegriff von Hettners Zeitgenossem Sigmund Freud danebengehalten wird. In Freuds Kulturbegriff ist der Blick nicht nach Außen, sondern nach Innen gerichtet. Bezeichnend ist schon eine der wenigen Stellen, an denen sich Freud über den Staat äußert, ohne ihn gleich in eine Reihe mit »Familie, Religion usw.' zu stellen. In seiner Kriegsschrift" 6 von 1915 sind ihm die Staaten „ungefähr" die Repräsentanten der sie bildenden Völker, wobei der Staat die Gewalt der einzelnen Individuen zu monopolisieren versucht. Nicht aber die Repräsentanz dieser monopolisierten Gewalt nach außen interesssiert ihn am Staat, sondern dessen Funktion als Gewaltinstanz zur Unterdrückung menschlicher Triebregungen der einzelnen Individuen, um aus diesen Kulturbürger zu machen. Wenn Freud den Staat andernorts im Kontext mit Familie, Religion usw. abhandelt, geht es in der Regel um die Entlastungsfunktion autoritativ und apodiktisch Geltung beanspruchender Institutionen für die Psyche, namentlich um die Entlastung vom Schuldbewußtsein für den Urvatermord und dessen Wiederholung im Ödipuskomplex. Die Innenorientierung Freuds findet sich ebenso bei seinen Erörterungen über den Kulturbegriff, dem er eine Version gibt, die mit Hettner, wie mit Kapp, vereinbar ist117. Kultur
115 Ebd., S. 133. 116 Vgl., Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, hrsg. von A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey, Frankfurt am Main 1974, S. 33-60. Es ist die Verzweiflung über das Ausmaß an „Haß und Abscheu" (ebd., S. 39) zwischen den Kulturvölkern, wie es der Krieg zutage bringt und die dabei offensichtlich gewordene Nicht-Kultiviertheit, die Freud begreifend in den Griff bekommen will. Die Verzweiflung hat aber auch eine patriotisch-engagierte Seite. So bezeichnet er als ein ,kaum begreifliches Phänomen', „daß eine der großen Kulturnationen so allgemein mißliebig ist, daß der Versuch gewagt werden kann, sie als „barbarisch" von der Kulturgemeinschaft auszuschließen, obwohl sie ihre Eignung durch die großartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen hat. Wir leben der Hoffnung, eine unparteiische Geschichtsschreibung werde den Nachweis erbringen, daß gerade die Nation, die, in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg unsere Lieben kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der menschlichen Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher Zeit als Richter auftreten in eigener Sache?" Ebd., S. 39. 117 Geradezu als Sinnbild möchte da erscheinen, wovon die Abhandlung über „Das Unbehagen in der Kultur" ihren Ausgang nimmt: vom ozeanischen Gefühl. Vgl., Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, (1930), in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, a. a. O., S. 191-270, ebd., Abschnitt I, S. 197-205. Dieses Gefühl wird als unabgegoltener Narzißmus kritisiert. Diese Kritik ist auch sachlich weniger weit von Hettners oder Maulls Kritik am Begriff des Ozeanischen bei Kapp entfernt, als es scheinen mag. Ihre Hauptkritik ist die Überschätzung der ozeanischen Periode durch
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bezeichnet ihm die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen, mit denen die Menschen ihren Ausgang aus der Tierheit genommen haben und die einesteils dem Schutz gegen die Natur, anderenteils der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander dienen 118 . Das entscheidende Problem dieser zweiten Seite ist gerade der Schutz vor der menschlichen Natur, ihre Beherrschung. Nicht der irdische Nahrungsspielraum, das innere Triebleben macht die Schicksalsfrage der Menschheit aus: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse." 119 Hettner und Freud operieren gleichermaßen mit einem allgemeinen Kulturbegriff, an dem der eine die RAUM-, der andere die ZEIToption 120 wahrnimmt: der Auswirtschaftung des Nahrungsspielraumes der Erde steht die Bewirtschaftung der Triebökonomie gegenüber, des ewigen Streites von Eros und Destruktions- oder Todestrieb im Menschen, aus dem ihm, nachdem Freud ihn unter dem Eindruck des Krieges und seiner eigenen tödlichen Erkrankung gesetzt hatte, die Zeitlichkeit des Menschen selbst hervorging - „si vis vitam, para mortem" 121. Im ewigen Streite der Menschen untereinander um Nahrungsspielraum, wie im ewigen Streite von Eros und Todestrieb, verliert sich, im Unterschied zu Kapp, eine präzise Bestimmung des Verhältnisses von Politik, Staat und Kultur. Insofern dabei einmal stärker am Räumlichen (Äußeren), das andere Mal stärker am Zeitlichen (Inneren) angesetzt wird, ist, angesichts der oben dargestellten Asymmetrie von Raum und Zeit, zu erwarten, daß hieraus durchaus unterschiedliche Argumentationen, Erkenntnisse und Praktiken entstehen. Diese sollen in den nächsten drei Kapiteln für denjenigen Bereich untersucht werden, in denen das ,Geo-Räumliche' der Erde orientierender Ausgangspunkt und zugleich mit der These eines epochalen Bruches im Verhältnis von menschlicher Welt und Raum gekoppelt ist. Im nächsten Kapitel geht es um das Grundbild des modernen Staates, den Leviathan, auf den das haushofersche Bild der Anakonda hinweist. Dabei wird die raumbestimmte Kritik Schmitts am Leviathan ins Zentrum rücken. Danach wird die räumlich gefaßte, geopolitische Staatsvorstellung und deren Destruktion im geopolitischen Diskurs analysiert. Im letzten Kapitel wird schließlich untersucht, in welcher Weise diese raumbestimmte Art der Kritik des Politischen in einem widersprüchlichen Verhältnis des Gegensatzes und der ergänzenden Verstärkung zu rassistischen Diskursen steht.
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Kapp: obgleich lediglich europäisch-atlantisch wurde sie als universal vorgestellt. Kapp entsprach dabei dem Selbstmißverständnis der europäischen Epoche, die sich mit der Erde selbst verwechselt. Doch sie war mit Schmitts Worten bloß europäischer Nomos der Erde. Die Unfähigkeit sich selbst von der Welt sicher abgrenzen zu können, ist aber ein Charakteristikum des Narzismus. Vgl., ebd., S. 220. Ebd., S. 270. Inwiefern hinter den scheinbar differenten Optionen ein einheitlicher Zusammenhang verborgen ist und welche Dialektik darin herrscht, wurde oben anhand der kantischen Raum-Zeit-Asymmetrie gezeigt. Im Schlußkapitel werde ich darauf für den geopolitischen Diskurs zurückkommen. Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, a. a. O., S. 60.
6 . KAPITEL
Exkurs zu einer Allegorie: Leviathan und Anakonda
1. Begriff, Bild und Diskurs Ebenso wie es einen Kampf um Begriffe gibt, erscheint das Zeitalter der Aufklärung als ein Kampf um Bilder und Symbole, um die Überreste des Entzauberten. Noch im Prozeß der Entzauberung bewahrt das Bewohnen des Bilderreiches seine Macht und behauptet Orte im Denken, stellt in diesem Orientierungen dar, Schnittstellen, die aller Entzauberung zum Trotz eine Kohärenz behalten. Diese Kohärenz ist aber eine Eigentümliche: wird das in den Bildern enthaltene explizit gemacht, nehmen sie die Form eines aus heterogenem Material Zusammengesetzten, ja Zusammengestückelten an, das seinen Quellen nach gar nicht zusammenpassen zu können scheint. Es zeigt sich etwa begriffliches Wissen. So ist in das haushofersche und goebbelsche Boa-Bild auch biologisches Wissen eingegangen. Das Wissen um eine besondere Seite an der Logik des Bios wird auf eine besondere Seite an der Logik der Polis in der Gegenwart angewandt. Gleichzeitig sind aber Anspielungen auf das Alte Testament und auf Mythologien, eine Einschätzung der britisch-imperialen Strategien und Interessen, eine LandMeer-Ontologie und ähnliches präsent. Solche Bilder sind überreich an Bedeutungen. Diesen Reichtum an Bedeutungen haben die Bilder nicht einfach, sie verdichten und verschmelzen sie und behaupten damit eine Identität von den disparaten Bestimmungen, die in sie eingehen: das macht die Bilder zur Chiffre. Indem der Überreichtum an Bedeutungen in ein Bild verschmolzen wird, nimmt dieser Tumult die Form eines einfachen Segmentes in Diskursen an. Die Mannigfaltigkeit an Bedeutungen führt eine Mannigfaltigkeit an Bedeutungshorizonten mit in jedes Bild. Vom gleichen Bild ausgehend können daher sehr verschiedene Implikationen explizit gemacht und die damit eingeschlagenen Richtungen und Horizonte verfolgt werden. Ihr Inhalt ist explizierbar und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal kann gesagt werden, was die heteronomen Elemente unabhängig voneinander bezeichnen; zum anderen ist ergründbar, was sie in ihrer wechselseitigen Verbindung an besonderer Bedeutung neu konstituieren und welche ihrer Bestandteile zurücktreten müssen, damit sie miteinander verbunden sein können - ein einfaches Beispiel für letzteres ist, daß die haushoferschen-goebbelschen Boas amerikanische Schlangen sind, aber auf europäische Staaten angewandt werden. Jeder der explizit gemachten Seiten dieser Schnittstellen kann in Diskursen Ansatzpunkt von Kritik sein. Es wäre z. B. eine explizit 'vaterländische' Kritik denkbar, für die der Vergleich Deutschlands mit einem Tier aus Amerika Ausdruck einer tiefen Verachtung der deutschen Nation und einer Verkennung ihrer Situation
Begriff, Bild und Diskurs
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sei. Eine andersgelagerte Kritik könnte ablehnen, überhaupt eine menschliche Gemeinschaft durch Tiere versinnbildlichen zu wollen. Solche Kritik kann selber wieder in Bildern einmünden, die dann als adäquater, stimmiger, maßvoller, schöner, treffender charakterisiert werden - außer es wird in Generalisierung des alttestamentalischen Bilderverbotes alles Bildliches an sich verworfen. Insofern Bilder dabei wirklich Schnittstellenfunktion haben, verschränken sich Begriff und Bildlichkeit. Sie existieren dann in Diskursen nicht als parallele Ordnungen nebeneinander, ihr Verhältnis zueinander ist weder beliebig noch spiegelbildlich. Allerdings können sie auch nicht zu einer Einheit in einem höheren Sinne werden, denn mit der Differenz von Bild und Begriff ist im Zuge der Entmythologisierung gesetzt, daß sie nicht zusammenpassen können, daß im Bild dem Begriff und umgekehrt widersprochen wird. Yves Lacostes Behauptung, daß der Land-Meer-Gegensatz im geopolitischen Diskurs eine Allegorie sei, weist insofern in die richtige Richtung, als es verkehrt wäre, ihn allein als begriffliche Erklärung von Geschichte und politischer Gegenwart aufzufassen und ihn dann als erschöpfend behandelt zu erachten, wenn das Begriffliche an ihm überprüft und dabei eventuell als Unfug verworfen wurde. Der Gegensatz von Land und Meer läßt sich nicht auf seine begrifflichen Funktionen im geopolitischen Diskurs reduzieren. Falsch wird Lacoste aber dadurch, daß er diesen Gegensatz zum lediglich Allegorischen machen will, denn damit zielt er auf eine Zerreißung des Zusammenhangs von Bild und Begriff - lediglich als Begriff genommen, wird der Gegensatz Land-Meer schnell leer, wie er andererseits als reines Bild in unbestimmt viele Erwägungen und Assoziationen zerfällt. Diese Unbestimmtheit kommt dem Land-Meer-Gegensatz, wie schon gezeigt, eben keineswegs zu. Nur weil die britische Reichspolitik begrifflich als Ausfluß der Maritimität aufgefaßt werden soll, kann Haushofer das Bild der Anakonda wählen. Er behauptet darin historisches Wissen zu bündeln, indem die britische Reichspolitik, analog dem Jagdverfahren der Anakonda, als Abschnüren der,Atemwege' und als Erwürgen des Gegners vorgestellt wird, wie es durch die Blockade z. B. im 1. Weltkrieg geschehen sei. Daß er das Britische Weltreich überhaupt als einen biologischen Organismus imaginiert, ist Ausdruck der methodischen Voraussetzung, Staaten als Erscheinungen der biologischen Welt zu bestimmen. Daß das Britische Weltreich dabei als eine Schlange symbolisiert wird, enthält die Aussage, daß die Maritimität Englands defizitär ist, denn sonst hätte Haushofer von einem großen Fisch oder Wal zu reden. Die Anakonda ist die bildliche Form von Boeckmanns These, daß England als atlantisch-potamische Macht das Meer nicht erlebt, sondern bloß für Handel, Politik und Wirtschaft benutzt. Diesem Englandbild hat Schmitt selbst bildhaft mit seinem Leviathan widersprochen. Wenn Schmitt von dem Gegensatz zwischen dem weiblichen, meerbeherrschenden Ungeheuer Leviathan und dem männlichen, landbeherrschenden Ungeheuer Behemoth in der jüdischen Eschatologie1 spricht, rekurriert er an zentraler Stelle auf eine mittelalterlich-kabbalistische Version der Erzählung, in der Leviathan und Behemoth sich am Ende der Zeiten 1 Franz Neumann weist auf den babylonischen Ursprung hin und setzt hinter die Charakterisierung des Behemoth als Landungeheuer in Klammern ,die Wüste'. Beides zusammengenommen läßt sie im Blickwinkel der Begriffe Kapps als eine typisch potamische Bildung erscheinen. Vgl., Franz Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, (engl. 1941), aus dem Amerikanischen nach der Ausgabe von 1963 (1984), hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gert Schäfer, 7.-8. Tsd., Frankfurt am Main 1988, S. 16.
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gegenseitig töten. „Beide sind Ungeheuer des Chaos" 2 , heißt es bei Neumann, werden aber verehrt. Schmitt faßt sie als irdische Götter auf 3 . Ein typisches Bild des Leviathan ist der große Fisch (Wal4). Schmitt gibt eine Beschreibung des Endkampfes: „Im besonderen kämpft der Leviathan, das sind die Seemächte, gegen die Landmächte, den Behemoth. Dieser sucht den Leviathan mit den Hörnern zu zerreißen, während der Leviathan mit seinen Fischflossen dem Behemoth Mund und Nasenlöcher zuhält und ihn auf diese Weise tötet, was übrigens ein schönes Bild der Bezwingung eines Landes durch eine Blockade ist." 5 Schmitt meint hier mit dem Leviathan die Seemacht England. Englands Weltmeernahme ist ihm jedoch nicht halbherzig, nicht potamisch-atlantisch. Dennoch sind Schmitts Einschätzung Englands als Leviathan und Haushofers Anakonda-Bild nicht unvereinbar. In dem Maße, wie aus den ,Seeschäumern' ,Maschinenbediener' werden, wird es .richtig'. Das biologisierende Bild Haushofers trifft, von Schmitt aus gesehen, auf das industrialisierte England, auf den Maschinen-Leviathan zu. Damit ist allerdings nur eine Seite am Leviathan Schmitts angedeutet. Das Bild ist ebenso Ausdruck eines expliziten, antisemitischen Hasses. Während seine Blut-und-Boden-Schrift des Jahres 1933 eine intellektuelle Legitimation der nationalsozialistischen Machtergreifung war, ist die Leviathanschrift ein Sigel des Jahres der Reichskristallnacht. Zu der Endkampfversion des Leviathan-Behemoth-Mythos am ,Tag der Gerechtigkeit' gehört bei Schmitt das auserwählte Volk der davon profitierenden Juden: „Die Juden aber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erde sich gegenseitig töten; für sie ist dieses gegenseitige „Schächten und Schiächten" gesetzmäßig und „koscher". Daher essen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon." 6 Es ist dieser antisemitische Zug an Schmitts Leviathan, den Franz Neumann bei der Erläuterung des Titels „Behemoth" für seine Analyse des NS-Staates kritisiert, indem er demonstrativ unscheinbar den Endzeitkampfmythos als einen neben anderen bezeichnet, und indem er die religiöse Funktion des Mythos unterstreicht, zur Verherrlichung der Macht und der Überlegenheit Gottes zu dienen. Schmitt hingegen war die Funktion des Mythos politisch. Nicht Gott, sondern den jüdischen bzw. den judenchristlichen Gott sah er mit dem Endzeitleviathan verherrlicht. Der politische Sinn des Mythos ist der Kampf gegen die .heidnischen' Völker und deren .Lebenskraft', wie sie sich in ihren Göttern darstellt. Leviathan und Behemoth repräsentieren für Schmitt „die mit jüdischen Augen gesehenen Bilder heidnischer Lebenskraft und Fruchtbarkeit, der „große Pan", den jüdischer Haß und jüdisches Überlegenheitsgefühl zum Untier entstellt haben" 7 . 2 Ebd. S. 16. 3 Vgl., Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938. 4 So läßt sich z. B. der Wal der Jonasgeschichte in der Bibel als Anklang daran begreifen. Eine andere, damit zusammenhängende Form des Rückverweises ist dasjenige Kapitel in „Land und Meer", in dem Schmitt die heroische Zeit der gefahrvollen Walfängerei mit Segelschiffen heroisiert, denn dort, im Zeitalter Moby Dicks, wird mit dem Leviathan gekämpft. Vgl. dazu, Jules Michelet, Das Meer, (1861), mit einem Vorwort von Michael Krüger, üb., hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Wintermeyer, Frankfurt am Main, New York, Paris 1987, S. 168ff und S. 190ff. Carl Schmitt kommt in Kapitel 5 von „Land und Meer", a. a. O., S. 29ff., auf dieses Buch von Michelet zurück. Michelet ist für Schmitt „der französische Lobredner des Wals". Ebd., S. 31. 5 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 17f. 6 Ebd., S. 18. 7 Ebd., S. 18.
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Wenn Schmitt von jüdischem Überlegenheitsgefühl spricht, ist das zugleich Ausdruck von Bewunderung 8 . Die folgenden Ausführungen zum Leviathan sollen den räumlichen und politischen Sinn der .heidnischen Gegendeutung' des Leviathan geben, den Schmitt versucht.
2. Kommentierung des Leviathan „Ziehst du gar Leviathan an der Angel herauf, hältst mit der Schnur seine Zunge fest? (...) Lege doch einmal an ihn deine Hand, dann denkst du zum zweiten Male sicher nicht an Krieg, Dann wird dein Selbstvertrauen als Lüge erfunden, wirft doch selbst einen Gott sein Anblick nieder." Das Buch Hiob 9 Der Leviathan ist keine einfache Veranschaulichung von Gedanken. Er ist ein „mythisches Symbol von hintergründiger Sinnfülle" 1 0 und in der „überaus reichen Geschichte der politischen Theorien (...) das stärkste und mächtigste Bild" 1 1 ; „Es sprengt den Rahmen jeder nur gedanklichen Theorie" 1 2 ; das „in vielen Jahrhunderten von mythischen, theologischen und kabbalistischen Deutungen umkleidete" 1 3 Bild des Leviathan hat eine „außerordentliche, mythische Kraft" 1 4 ; der „Reichtum theologischer und geschichtlicher Deutungen" 1 5 ist „ganz ungeheuerlich" 16 , was wiederum von der Lebendigkeit des Leviathan als mythisches, säkulares Kampfbild zeuge, denn „vielfältige Deutbarkeit und Wandelbarkeit" 1 7 sind wesentliches Merkmal lebendiger Mythen. Als Symbol findet der Leviathan nicht seinesgleichen auf Erden: „Wenn er tost, fürchten sich die Götter" 1 8 . Schon die Nennung seines Namens beschwört den Geruch des Verrufenen, wie es auch T h o m a s Hobbes erfahren mußte. „Die Zitierung des Leviathan wirkt nämlich nicht als bloße Veranschaulichung eines Gedanken" 1 9 - der Leviathan ist selbst ein Gedanke. Er ist der Gedanke des Politischen. Der Leviathan ist der
8 Vgl., Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, a. a. O. Nicolaus Sombart hat auch auf den Konvergenzpunkt von England und Judentum hingewiesen, wie er von Schmitt gesehen wurde: er lag im Premier Disraeli, der die englische Königin zur Kaiserin von Indien machte - zu einer Zeit als Deutschland sich über seine Wemdeutsche Einheit freute. Was für eine Kränkung männerbündlerischen Stolzes! Ein Bild Disraelis hing nach Sombart über Schmitts Schreibtisch und auf diesen sei auch der Satz gemünzt gewesen: ,Der Feind ist unsere Frage in Gestalt'. 9 Cit. n. der Übersetzung in: Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12, mit Beiträgen von Heinrich Zimmern, (1894), Göttingen 21921, S. 49 u. 55. 10 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 9. 11 Ebd., S. 9. 12 Ebd., S. 9. 13 Ebd., S. 10. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd., S. 13f. 16 Ebd., S. 14. 17 Ebd., S. 13. 18 Altes Testament, Hiob 4117, cit. nach: Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, a. a. O., S. 55. 19 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 9.
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Inbegriff des Politischen selbst: in ihm verklammern sich bei Schmitt Mythos, Symbol und Begriff des Politischen. Wenn er vom politischen Mythos spricht, meint er zugleich Mythos des Politischen. Wenn er den Thomas Hobbes als einen vermeintlichen .Propheten des Leviathan' und als Kämpfer gegen das ,Reich der Finsternis' prüft, kommt es nicht allein darauf an, ob Hobbes den Leviathan als Mittel im politischen Kampf adäquat zur Feindbestimmung eingesetzt hat, es geht gerade auch darum, ob er den Inhalt des Politischen begriffen hat, die nomosmatische Funktion der Freund-Feind-Unterscheidung. Der Leviathan ist nicht bloß Etikett, mit dem in der Judenchristlichen' Tradition der jeweilige seinsmäßige Feind belegt wird - diese Seite am Leviathan, daß er zur Symbolisierung von Babylon, Assyrien, Ägyten taugte, setzt Schmitt als allgemein bekannt voraus. Ihm geht es um die weniger bekannte Seite, wie er sie ausgehend von den kabbalistischen Deutungen entdeckt: bei dieser Seite handelt es sich um den politischen Sinn der Entpolitisierung. Wenn der Leviathan aus Schmitts Sicht „zu einem Schreckbild gefährlicher Kraft und schließlich zum bösen Feind schlechthin" 20 geworden ist, ist das mit der heidnischen Lebenskraft zusammenzulesen: in der judenchristlichen Tradition wird schließlich nicht dieser oder jener zum Feind, sondern zum Feind wird das Prinzip der Freund-Feind-Scheidung erklärt. Gegen diese besondere Form der Feinderklärung, in der alle Unterschiede verschwinden, will Schmitt einen heidnischen Leviathan mobilisieren, um ein säkulares Kampfbild zu gewinnen, das dem 20. Jahrhundert angemessen ist. Dabei ist das Erbe des 19. Jahrhunderts wenig hilfreich. Selbst Nietzsches Charakterisierung des Staates als ,das kälteste Ungeheuer' bleibt für Schmitt „doch mehr impressionistisch-suggestiv im Stil des 19. Jahrhundert, als mythisch im Sinne eines säkularen Kampfbildes" 21 . Der Leviathan ist eine Hiobsbotschaft. Im Buche Hiob steht der Leviathan mit Behemoth zusammen. Beide erscheinen dort als Repräsentanten verschiedener Ordnungen: der des Festen und der des Flüssigen. Bei Henoch 607"9 sind sie dann dem Weiblichen (Leviathan) und dem Männlichen (Behemoth), der Tiefe des Meeres (Leviathan) und der Öde der Wüste (Behemoth) zugeordnet. Doch wenn sie auch gleichermaßen Ungeheuer des Chaos sind, sind sie doch nicht wirklich gleichrangig. In der Bibel nicht, als politischer Mythos nicht und auch bei Schmitt nicht. Der Leviathan ist das wirkungsvollere Bild des Chaos. „Die mythengeschichtliche Herkunft dieser biblischen Schilderungen ist eine Frage für sich". 22 Damit leitet Schmitt eine Sentenz ein, die, von der mythengeschichtlichen Herkunft aus, vom babylonischen Marduk-Tiamat-Mythos handelt, auf die auch Fritz Neumann in seinem „Behemoth" sofort im ersten Satz zu sprechen kommt: „In der jüdischen Eschatologie babylonischen Ursprungs - sind Behemoth und Leviathan die Namen zweier Ungeheuer." 23 Bei Schmitt sind es, in umgekehrter Reihung, Leviathan und Behemoth. Was das Babylonische an ihnen angeht, verweist Schmitt auf „die verschiedenen Meinungen und Kontroversen" 24 . Diese seien aber für den politischen Mythos, an den Hobbes anknüpfe, nicht „unmittelbar von Bedeutung" 2 5 . Wohl aber mittelbar, denn Schmitt verabsäumt nicht zu erwähnen, daß der Ursprung Leviathans in Tiamat als Gottheit der babylonischen Urflutsage
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Franz Neumann, Behemoth, a. a. O., S. 16. Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. 0., S. 11. Ebd., S . l l .
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zu suchen sei, was unscheinbar seine Aussage unterstreichen soll, daß der Leviathan in den „eigentlich mythenkräftigen Vorstellungen immer als ein großes Wassertier" 26 aufgefaßt wurde. Schmitt spitzt nach einigen Ausführungen über frühe Bibelinterpreten das Wassertier zum Meerestier zu: „Wesentlich ist bei aller oft verwirrenden Phantastik solcher Mythen, daß der Leviathan dem Meere zugeordnet bleibt." 27 Nicht die Auseinandersetzung mit der Natur, sondern mit anderen Mythen bilden den Grund von Gen 1 und einer Reihe von Parallelstellen, zu denen auch diejenigen gehören, die von Leviathan, Rahab, Schlangen, Drachen und ähnlichem handeln, sie sind , Kampfmythen großen Stils', wie es Schmitt sagte. Die verschiedenen, mythologischen Ungeheuer des Alten Testaments sind hauptsächlich durch Wasser und Meer miteinander verbunden. Gerade in ihrer Abkunft vom Urmeer als dem Inbegriff des Chaos bezeugen sie nicht bloß ihre Verwandschaft mit Tiamat, sie sind zugleich Repräsentanten des von Jahwe überwundenen Prinzipes der Unordnung, stets bereit, gegen den so gestifteten Nomos sich zu empören und „noch in der Gegenwart zuweilen Attentate auf die Schöpfung Gottes zu unternehmen" 2 8 . Die von Marduk unterdrückte .Empörung' Tiamats gegen die Ordnung ihrer göttlichen Kinder findet sein Pendant in der Empörung des Meeres, im,Getöse', das Jahwe zum Schweigen bringt. Wenn er tost, fürchten sich die Götter, heißt es über den Leviathan, aber Jahwe bringt ihn, wie das Chaos der Urzeit, zum Schweigen: „Leviathan (...) ist das Ungetüm der grossen Wassertiefe, die einst die Erde bedeckt hat; er ist das personificierte Chaos." 29 Meer, Chaos, Urzeit, Leviathan, Schlange, Drachen, Rahab gehören biblisch in einen intensiven Sinnzusammenhang, mit dem der Behemoth nicht mithält. „Nur Behemoth ist Herr des trocknen Landes" 30 kann Gunkel zusammenfassend feststellen. Die eindeutige Relation LandBehemoth widerspricht der Idee der Unordnung und des Durcheinanders des Chaos, das sich viel besser im Gewimmel der mythologischen Figuren, die das Wasser und das Meer bevölkern, wiedererkennen kann. Wie auch sollte eine Ackerbaukultur das feste Land, und sei es in Form der Wüste, mit dem Chaos an sich systematisch verbinden können? Ist dazu nicht überhaupt das feste Land für die menschliche Gattung einfach - zu fest? Der Behemoth ist ein nichtchaotisches Ungeheuer. Insofern ist das Prädikat, das er Hiob 40 19 erhält, allerdings bemerkenswert: „Er ist der Erstling der Wege Gottes, geschaffen, dass er das Trockne beherrsche." 31 Chaotische Ungetüme sind, zumindest im Abendland, viel lieber wässrig, dort fühlen sie sich ,zu Hause', ,in ihrem Element'. Das erfährt im Alten Testament seine Bestätigung in einer Reihe von Stellen, die Gunkel anführt, in denen namentlich vom Meer in einer leviathanischen Weise gesprochen wird. Doch auch das Feste bedarf des Flüssigen. Der Behemoth vermag den Jordan zu trinken und .achtet es kaum'. Darin liegt sein Gegensatz zu den Menschen, die genau darauf achten
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Ebd., S . l l . Ebd., S. 14. Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, a. a. O., S. 61. Ebd., S. 54. Ebd., S. 83. Das erhält auch in der Apokalypse des Johannes eine Entsprechung, in der die Wüste als vorübergehendes Asyl gegen die Nachstellungen seitens des Antichrist erscheint. 31 Altes Testament, Hiob 4019, cit. nach: Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, a. a. O., S. 62.
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müssen. Kann aber unter dem Wasser als Element, z. B. bei Schmitt, berechtigt Süß- und Salzwasser gleichermaßen subsumiert werden? Süßwasser ist unverzichtbar sowohl als Lebensmittel, als auch als Produktionsmittel zur agrarischen Erzeugung von Nahrung. Die Salzflut des Meeres taugt zu beidem nicht und stellt eine ,seinsmäßig' andere Ordnung dar. Bei aller Verschiedenheit der kanaanäischen und der mesopotamischen Kosmogonien, was den Status des Süßwassers angeht, können sich Marduk und Jahwe im gemeinsamen Fluchtpunkt einer Bezwingung des Urmeeres vereinigen. Der Leviathan als wässriges, personifiziertes Chaos muß daher mindestens doppelgesichtig sein. Schmitt legt davon Zeugnis ab. In einem ersten Schritt hält er fest, daß der Leviathan stets mit der Vorstellung eines Wassertieres verbunden sei, um erst in einem zweiten Schritt dieses Ungetüm auf das Meer zuzuspitzen und zu reduzieren. Diese Doppeldeutigkeit von Wasser/Meer hat einen politischen und geschichtsphilosophischen Sinn, der von Hegel aus deutlich wird. Hegel handelt immer wieder in seinen Werken vom Wasser und vom Meer, und zwar erprobt er an ihnen an zentralen Stellen seine Dialektik, etwa wenn er am Wasser darstellt, daß es Sprünge in der Natur32 gibt, oder er die Begriffe des Chemismus33 wie Neutralität, Neutralisierung und Scheidung34 abhandelt. Hegel erweist sich dabei als ein Philosoph des Elementarischen und Stofflichen. Das Wasser ist ihm im Reich des Körperlichen das dem Geist am meisten verwandte. Im chemischen Prozeß stellt er es als das Medium dar, das die Mitte herstellt zwischen den Extremen, und die Extreme in .Mitteilung' und ,äußerliche Gemeinschaft' 35 zueinander bringt. Als Medium der Vergemeinschaftung findet das Wasser im Geistigen sein Analogon im Zeichen und in der Sprache: „(...) im Körperlichen hat das Wasser die Funktion dieses Mediums; im Geistigen, insofern in ihm das Analogon eines solchen Verhältnisses stattfindet, ist das Zeichen überhaupt und näher die Sprache dafür anzusehen."36 Hatte Mahan Verständigung als Telos erst des Meeres ausgezeichnet, so behauptet Hegel das schon für das Wasser. Nur insofern das Meer auch Wasser ist, kommt ihm dieser Aspekt ebenso zu. Doch das Besondere am Meer ist etwas Anderes: es hat eine höhere Lebendigkeit 32 Vgl., G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, (1812-1816, 1830), Bd. 1, in: HW, Bd. 5,435ff, insbesondere S. 440. 33 Der Chemismus hält bei ihm die Mitte zwischen Mechanismus und Organismus und stellt die praktische Vernunft der Natur dar: „Der Chemismus macht im ganzen der Objektivität das Moment des Urteils, der objektiv gewordenen Differenz und des Prozesses aus." Ebd., Bd. 2, S. 428. 34 Vgl. zu diesen Begriffen: G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2, a. a. O., S. 321 ff. 35 Gemeinschaft und Mitteilung sind hier als Vorgriffe auch auf soziale Vergemeinschaftung zu lesen, in denen sich der Chemismus als Moment erhält. Goethes Wahlverwandschaften macht sich hier geltend, wie an anderen Stellen seine Metamorphosenlehre und seine Pflanzenmorphologie. Dieser Vorgriff ergibt sich aus dem Begriff des chemischen Objekts. Das chemische Objekt ist Differenz, das besagt, es ist ein Besonderes gegen Anderes. Zu seiner Bestimmtheit gehört damit ebensowohl seine Besonderheit, als auch sein Verhältnis zu diesem Anderen, für das das gleiche gilt. In dieser Angewiesenheit auf den Anderen liegt Mangel, der sich als Trieb zum anderen hin zeigt, die Differenz zu vernichten. Hegel will den Ausdruck Chemismus nicht auf den elementarischen Prozeß reduziert wissen: „Im Lebendigen steht das Geschlechtsverhältnis unter diesem Schema, so wie es auch für die geistigen Verhältnisse der Liebe, Freundschaft usf. die formale Grundlage ausmacht." G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, a. a. O., S. 429. Dieser Gegensatz erlischt im Medium des Wassers: das ist der Begriff der Neutralisierung. Vgl., ebd., S. 430ff. 36 Ebd., S. 431.
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im Unterschied zum Wasser. Der ,Meerprozeß' schlägt im Unterschied zum chemischen ,Wasserprozeß' permanent in Lebendigkeit um. Der chemische Prozeß ist im Erdorganismus aufgehoben und zum Moment herabgesunken, aus dem , Wasserprozeß' wird der ,Meerprozeß' 37 . Die Differenz zwischen beiden ist der Umschlag ins Lebendige, das dem Meer, mehr noch als dem Land, zu eigen ist 38 . Diese Lebendigkeit bleibt aber unvollständig und wird durch den darin eingehenden Wasserprozeß wieder aufgelöst 39 : „Das Meer selbst ist (...) ein lebendiger Prozeß, der immer auf dem Sprunge steht, in Leben auszubrechen, das aber immer wieder ins Wasser zurückfällt, weil dieses alle Momente jenes Prozesses enthält: den Punkt des Subjekts, die Neutralität und die Auflösung jenes Subjekt in diese." 40 Von diesen Bestimmungen aus bezieht Hegel dann das Belebende am Meer, das aus dessen Lebendigkeit resultiert, nicht auf die individuelle Körperlichkeit, sondern auf die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Freiheit 41 . Nicht bloß das. Das, was die bürgerliche Gesellschaft belebt, bedeutet für das Individuum Todesgefahr, die Auflösung seiner Subjektivität. Vom individuellen Standpunkt aus ist das Meer paradox. Das Individuum, das sein eigenes Leben reproduzieren will, indem es als Fischer, Händler und/oder Pirat zur See fährt, muß dabei genau das Leben riskieren, um dessen Erhaltung es ihm geht, muß zum Mittel machen, was ihm doch recht eigentlich der Zweck ist: die Erhaltung des eigenen Lebens 42 . Doch indem es sich auf die Gefahr des eigenen Todes einläßt, wird die bürgerliche Gesellschaft belebt und über sich selbst hinausgetrieben. Das Individuum, das sein Leben zum Mittel der Lebenserhaltung macht, wird damit zum Mittel des gesellschaftlichen Lebens und dessen Steigerung. Daran muß das bürgerliche Individuum schier irre werden, daß das eigene Erhaltungsprinzip und das Gesellschaftliche gegensätzlich sind. 37 Der Wasserprozeß ist der letzte in einer Reihe von Prozessen, die als ganzes den chemischen Prozeß ausmachen sollen und aus denen die verschiedensten chemischen Verbindungen hervorgehen, Salze usw. Im Unterschied zum Süßwasser sind diese im Meer vollständiger präsent. Daher findet das Süßwasser seine Wahrheit erst im Meer. Vgl, ebd., S. 321-361. 38 , .Land und insbesondere das Meer, so als reale Möglichkeit des Lebens, schlägt unendlich auf jedem Punkte in punktuelle und vorübergehende Lebendigkeit aus; - Flechten, Infusorien, unermeßliche Mengen phoreszierender Lebenspunkte im Meere." Ebd., S. 360. 39 Hegel redet von dem „eigentümlich faulen Geruch, - ein Leben, das gleichsam immer in Verwesung aufgelöst ist." Ebd., S. 364. Das Auflösende macht sich auch als Unentwickeltheit und Unförmigkeit geltend. Hegel kommt in diesem Zusammenhang auf den Wal zu sprechen: „In seiner Flüssigkeit bleibt das Meer daher beim elementarischen Leben, und das subjektive Leben, in dasselbe wieder zurückgeworfen und zurückgezogen, wie bei Walfischen, die doch Säugetiere sind, fühlt auch bei ausgebildeter Organisation diese Erhaltung der unentwickelten Dumpfheit." Ebd., S. 365. 40 Ebd., S. 363. 41 Hegels Bestimmung geographischer Verhältnisse führt ihn dazu, drei Prinzipien zu unterscheiden. Das erste Prinzip gehört zum Hochland, dem er die Viehzucht zuordnet, das zweite zur Talebene mit Ackerbau und Gewerbe, das dritte zum Meer, dem der Handel entspricht. Diese Prinzipien interpretiert er politisch: „Patriarchalische Selbständigkeit ist mit dem ersten Prinzip, Eigentum und Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft mit dem zweiten und bürgerliche Freiheit mit dem dritten Prinzip eng verbunden..." G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O..S. 131. 42 Ebd., S. 118f., sagt Hegel: „Die das Meer befahren, wollen auch gewinnen, erwerben; aber ihr Mittel ist in der Weise verkehrt, daß sie ihr Eigentum und Leben selbst in Gefahr des Verlustes setzen. Das Mittel ist also das Gegenteil dessen, was sie bezwecken. Das ist es eben, was den Erwerb und das Gewerbe über sich erhebt und ihn zu etwas Tapferem und Edlem macht."
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Es kommt hier die Urgeschichte des bürgerlichen Individuums in den Blick, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung" 4 3 der Irrfahrt des Odysseus abgenommen wird 44 . Gegen den Aufklärungsbegriff und dessen Dialektik, wie er anhand der Odyssee von Adorno und Horkheimer ausgeführt wurde, haben Negt und Kluge, dabei auch auf Schmitts Leviathan und Neumanns Behemoth rekurrierend, in „Geschichte und Eigensinn" 45 den Einwand erhoben, daß der so gewonnene Begriff der Aufklärung zu kurz greife: er ist zu leviathanisch orientiert, während die ländlich-agrarische Seite nur in Form archaischer, autochthon ohne Aufklärungspotential seiender Gesellschaften erscheine. Das verstelle den Blick auf „das spezifische Dilemma, das mit der defensiven Herstellung von Sicherheit, Weltvergewisserung, Innen und Außen, d. h. mit dem Grundmotiv deutscher Aufklärung verbunden ist" 46 . Es sei zwar richtig, Odysseus als Verkörperung eines bestimmten Aufklärungsbegriffs zu interpretieren, aber nur, wenn dabei die Spezifizität des Ortes und dessen Logik gewahrt bleibt. Der „Händler, Abenteurer und Betrüger" 47 Odysseus, seine ganze Arbeitsweise und seine einzelnen Arbeitseigenschaften gelte es nicht allein sozial, sondern auch räumlich wie zeitlich präzise zu verorten, um die Unterschiede „zwischen den mittelmeerischen und kontinentalen Mythen" 4 8 bestimmen zu können. Dann zeige sich, daß ein an antik-mediterranen Mythen gewonnener Aufklärungsbegriff nicht umstandslos etwa auf kontinental-deutsche Verhältnisse übertragen werden kann: „Was die antiken Mythen von den deutschen Märchen und zumindest einigen Sagen (Mythen) des Mittelalters unterscheidet (...) sind zwei Faktoren dieses Zusammenhangs: daß Haus, Hof und Acker nicht wie die Schiffe der Gefahr entweichen können; und daß die Dimension der Produktion (oder die Armut davon) das bestimmende Moment ist.'"19 Das bewegliche Schiff und das .nicht absolut zu verrammelnden Haus' lassen sich offenbar als idealisierte Typen material bestimmter Erfahrungshorizonte begreifen, die einer beliebigen Vertauschbarkeit von Mythen, Sagen, Symbolen usw. entgegenstehen. Das Materiale an diesen Horizonten ist nicht allein sozial definiert, es sei denn, Schiff und Mittelmeer versus Haus und deutsches Land würden selbst lediglich als Symbole sozialer Verhältnisse aufgefaßt. Solch eine Sublimierung ins ,Rein-Symbolische' wäre unangemessen. Die Natur- bzw. Raumseite an diesen Erfahrungshorizonten (wie sehr Raum und Natur ungeschiedene Begriffe sind, wurde gezeigt), ist ihnen nicht,äußerlich': sie sind wesentliche Konstituenten von Erfahrung.
43 Vgl. den „Exkurs 1: Odysseus oder Mythos und Aufklärung" bei: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, (1944), Frankfurt am Main 1988. 44 Odysseus ist der .Listige'. Ihm entspricht nach Hegel das Meer, das als Naturelement das Listige ist: „Denn die Tapferkeit gegen das Meer muß zugleich List sein, da sie es mit dem Listigen, dem unsichersten und lügenhaftesten Element, zu tun hat. Diese unendliche Fläche ist absolut weich, denn sie widersteht keinem Drucke, selbst dem Hauche nicht; sie sieht unendlich unschuldig, nachgebend, freundlich und anschmiegend aus, und gerade diese Nachgiebigkeit ist es, die das Meer in das gefahrvollste und gewaltigste Element verkehrt." G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 119. 45 Oskar Negt, Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, a. a. O. 46 Ebd., S. 753. 47 Ebd., S. 741. 48 Ebd., S. 752. 49 Ebd., S. 752.
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Aber in welchem Verhältnis stehen sie zu Mythen und Symbolen? Stellen sie einen geographischen Raumkern der Mythen und Symbole dar, wie ihnen auch ein ,Zeitkern' zu eigen ist? In welches Verhältnis wären dann Raum- und Zeitkern zueinander zu bringen? Diesen Fragen läßt sich eine prägnantere Form geben: in welchem Verhältnis stehen Land und Meer als Substrate von möglicher Erfahrung zu Behemoth und Leviathan als Verkörperungen möglicher Mythen bzw. Bilder oder Symbole? Der Rekurs auf Land und Meer, wie er von Mahan über Mackinder und Ratzel bis hin zu Maull und Haushofer anzutreffen ist, macht sie als Substrate nicht einfach von Erfahrung, sondern von harter Handgreiflichkeit geltend. Sie haben den Charme grober Einsichtigkeit. Bei den deutschen Autoren ist es namentlich derfeste Boden unter den Füßen, der gesucht und z. B. von Ratzel gegen die abgehobenen Staats- und Sozialwissenschaften gesetzt wird, als das, worauf sie erstmal zu stellen wären. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Trennung von oben und unten, von Kopf und Fuß besonders in Deutschland Probleme bereitete, denn das Prinzip massiver Erfahrung ist auch bei Mahan und Mackinder präsent. Wie selbstverständlich ist ihnen, daß das goldene Hieß nicht ohne die Befahrung der Ozeane zu haben ist, und daß das rein Festländische (Rußland) zugleich rückständig ist, aber auch gerade deshalb nach Meeresanschluß aggressiv strebt. Bei näherem Hinsehen zerging aber die handgreifliche Plausibilität des Gegensatzes Land/Meer, wobei systematisch zwei Erfahrungshorizonte thematisch wurden, die sich mit den Stichworten .Potamisch' und ,Vermittlungszone' erinnern lassen. Unter das Stichwort , Vermittlungszone' fallen die verschiedenen Argumentationen, in denen Land und Meer politisch je für sich von einzelnen Staaten repräsentiert werden, denen gegenüber der Großteil der menschlichen Staaten einesteils als Land-Meer-Mestizen erscheint, anderenteils als Objekt der Begehrlichkeiten der reinen Land- und der reinen Seemächte, bzw., bei Kapp, als welthistorische Subjekte der Vermittlung beider Prinzipien. Unter das Stichwort,potamisch' fallen die Argumentationen, in denen die großen Flüsse (Kapp, Hettner, Maull, Wittfogel) bzw. die Flüsse überhaupt (Boeckmann) einen ganz eigenen Erfahrungshorizont konstituieren. Wittfogel hat diese Eigenheit entschieden zu einer These über die Logik des Politischen in strombestimmten Kulturen zugespitzt, während von Boeckmann demgegenüber zu einer polemischen Kulturkritik an der westlichen Zivilisation gelangt. Von Kapp bis Maull hingegen scheint so das Besondere am Potamischen hinter das Allgemeine zurückzutreten, daß es sich bei Flüssen und bei Meeren gleichermaßen um Wasser handele. Daß es sich in gewisser Weise hierbei um eine Erschleichung handelt, wurde verschiedentlich bemerkt. Exemplarisch ließen sich Kapp und Wittfogel opponieren, wenn dieses Allgemeine mit Hegel als das Belebende bestimmt wird: das das Individuum lebendig erhaltende Flußwasser führt auf gesellschaftlicher Ebene zu Stagnation und Unfreiheit, während das individuell nicht konsumierbare Meerwasser gesellschaftlich belebend und als Motor des Fortschritts zur Freiheit wirkt. Wittfogel forderte letztere Gesellschaften auf, gegen die ersteren zum,Schlachtbeile' zu greifen50, auch das sehr handgreiflich gedacht. Ebenso macht sich Schmitts Leviathan dieser Erschleichung schuldig, Meer und Wasser sind nicht deutlich geschieden. Auch unterstreicht er intensiv denjenigen , Kampfmythos großen Stils', in dem der Behemoth deutlich dem festen Land und der Leviathan deutlich dem freien Meer zugeordnet wird. Ist also der Leviathan-Behemoth-Gegensatz bloß das mythisierende Bild des Land-Meer-Gegensatze? 50 Vgl., Karl August Wittfogel, Die Orientalische Despotie, a. a. O.
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Dagegen spricht nicht allein Schmitts Insistieren auf dem Politischen am Mythos, d. i. der Feindschaft zwischen einer ,judenchristlichen' und einer ,heidenchristlichen' Interpretation. Es spricht vor allem dagegen, daß der Diskurs über Land und Meer und derjenige über Behemoth und Leviathan gar nicht in dem Verhältnis der Trennung stehen, das jede Abbildthese voraussetzen muß. Wieso kann Schmitt 1938 den Leviathan ein mythisches Kampfbild nennen, und gerade auch über diesen schreiben, und zwar mit dem Vorsatz „dem Thema in wissenschaftlicher Sachlichkeit gerecht zu werden, ohne Phantastik"51? Und ist im Gegenzug wirklich sachlich die Rede vom Meer, wenn Mahan zu der These kommt: das Telos des Meeres ist Verständigung? Oder auch: das Telos der meerlosen Feste ist Barbarei? Instruktiv für eine Behandlung dieser Fragen ist, sich den Sinn der Aussage zu vergegenwärtigen, daß in Gen 1 und in einer Reihe anderer Stellen des Alten Testamentes babylonische Mythologie rezensiert ist - sie besagt, daß man sich von Mythen erzählt, wenn der Schöpfungsakt Gottes als eine Scheidung der Wasser in ein unter- und oberhalb der Feste geschildert wird. Diese verstreuten und andeutenden Erzählungen können dabei in zwei Formen vorkommen. Einmal in Gestalt mythologischer Ungetüme, das anderemal jedoch in der Rede vom Land und vor allem vom Meer selbst. In der Rede vom Meer, wie in der Rede vom Leviathan, Drachen usw., ist im Alten und im Neuen Testament Mythisches enthalten. Dieses Mythische wird aber in verschiedener Form rezensiert oder auch zensiert. Die Ungetüme erinnern der Form nach Mythologisches. Ihrem Inhalte nach sind sie nicht allein Ausdruck der Mythologien der jeweiligen heidnischen Feinde: sie symbolisieren die Überwindung des Mythos als Mythos. Sie stellen die Überlegenheit des Gottes dar, der spricht und es geschieht - gegen die Überlegenheit des gesprochenen Wortes erweisen sich die zu Ungetümen herabgesetzten Gottheiten der Heiden als nichtig und bedeutungslos, so mächtig sie dem Menschen gegenüber erscheinen mögen. Es ist diese Seite an der judenchristlichen' Tradition, die Schmitt vor Augen hat, wenn er sie in Gegnerschaft zu .heidnischer Lebenskraft und Fruchtbarkeit' bringt. Es ist diejenige .Differenz ums Ganze', die Marduk und Jahwe trennt: im Mardukmythus, so Gunkel, wird „die Wirksamkeit des Wortes Gottes stark hervorgehoben"52, aber er muß sich mit Blitzen bewaffnen, um gegen Tiamat zu bestehen - doch in der Gen 1 entsteht die Schöpfung „durch Gottes allmächtige Wort"53. Mit der Differenz von Wirksamkeit des Wortes und Allmacht des Wortes ist der Mythos gerichtet, vor das Bildhafte, Symbolische, Mythische heftet sich ein entschiedenes NUR - der Leviathan usw. ist nur Bild für, nur Symbol von, nur mythische Ausstaffierung. Dieses Gericht über den Mythos ist als ein historischer Prozeß dargestellt worden, als Entmythologisierung. Die Dialektik der Entmythologisierung oder auch der Aufklärung zeigt sich aber in der Rache des Mythos am Wort: wenn in Gen 1 und an anderen Stellen vom Wasser, Meer u. ä. die Rede ist, bleibt der Gehalt mythologisch, ohne noch der Form nach dem Mythos zu ähneln. Der mythische Gehalt wird zwar nicht unerkennbar, wohl aber in dem Maße undeutlich, wie in klaren Worten prosaisch Sachverhalte geschildert sein sollen. Das was hier im Bilde der Bibel ausgesagt ist, betrifft den geopolitischen Diskurs über Land und Meer: dieser ist nicht ohne seine Stellung im Prozeß der Entmythologisierung zu begreifen. Im geopolitischen Diskurs über Land und Meer wird die Trennung von Begriff und Bild vorausgesetzt. Auf der einen Seite soll eine begriffliche Analytik der Funktion des 51 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 5. 52 Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, a. a. O., S. 115. 53 Ebd., S. 115.
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Meeres, der Küsten, des Gebirges usf. stehen, der unter anderem im 1. Weltkrieg zum traumatischen Erlebnis gewordene Gegensatz zwischen Seemacht und Landmacht soll begriffene Erfahrung werden. Doch die Art und Weise, wie z. B. das Meer in die Begriffe eingeht, widerstreitet offensichtlich begrifflicher Präzision, Bildhaftes stellt sich scheinbar zwanghaft ein. In Haushofers Anakonda ist das unübersehbar - schon eher ist zu übersehen, daß das Bild der Anakonda, zu dessen Verständnis biologisches Wissen gehört, sich von seinen mythologischen Vorbildern, wie der Midgardschlange, durch den darin eingehenden Gehalt an wissenschaftlicher Rationalität abtrennt. Unscheinbarer drängt das Bildliche ins Meer bei Ratzels Formulierung des Meeres als Quelle der Völkergröße, deutlicher bei Mackinders Rede von seaman und horseman. Tatsächlich besagen ja auch die oben unter dem Stichwort ,potamisch' und , Vermittlungszone' erinnerten Argumentationen, die aus dem geopolitischen und politisch-geographischen Diskurs selbst stammen, daß Land und Meer begrifflich zu unscharf sind. Und doch bleibt der Land-Meer-Gegensatz ein wesentlicher Bezugspunkt des geopolitischen Diskurses, der durch alle möglichen Differenzierungen immer wieder durchscheint. Diese Hartnäckigkeit verweist auf den eigentlichen Grund, aus dem der Diskurs über Land und Meer stammt: dieser Diskurs ist eine prosaische Poesie, mit der aus einem späten Stadium der Entmythologisierung Mythologisches rezensiert wird. Die Rede über Land und Meer nimmt den zerfallenden Mythos von der Seite des Begrifflichen auf. Ganz anders Carl Schmitt: er setzt an den mythischen Ungetümen an, also an den Relikten der Form. Sein Leviathan ist poetisierende Prosa. Wenn er eine heidnische oder heidenchristliche Gegendeutung des politischen Kampfmythos in Aussicht stellt, ist dies Ausdruck eines selbstgewissen und selbstbewußten Umspringens mit dem mythischen Material, zu dem die versachlichenden Poesien von Ratzel, Mackinder, Mahan, Maull oder Haushofer gar nicht vorzudringen vermögen, weil ihnen die mythische Erbschaft an ihren Begriffen Land und Meer durch die Form des Begriffs verstellt wird. Wenn Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung" gelegentlich der Odyssee schreiben: „Mühselig und widerruflich löst sich historische Zeit ab aus dem Raum, dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit"54, dann weisen sie mit diesem Satz auf ihre Weise auf die zwei Ordnungen hin, in die der Mythos zertrennt wird und für die der Diskurs über Land und Meer und der über Leviathan und Behemoth stehen. In der einen Ordnung verselbständigt sich das Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt der Welt der Menschen. In der anderen Ordnung ist es um die Welt der Menschen selbst zu tun. Im Mythos waren beide Ordnungen unentwirrbar ineinander gesetzt. Dieses Ineinander geht nicht ersatzlos verloren. Es wird zum Mangel, der als Frage nach dem Zusammenhang beider Ordnungen erscheint. Diese Frage wird umso drängender, je mehr und entschiedener diese Ordnungen getrennt werden. Anhand von Kant wurde die Schärfe der Entgegensetzung beider Ordnungen thematisiert, wie sie bei fortgeschrittener Entmythologisierung zugespitzt werden kann: die eine Ordnung wird unter den Titeln Raum, Natur, Außen und Äußerlichkeit, Notwendigkeit der anderen Ordnung unter den Titeln Zeit, Denken, Innen und Innerlichkeit, Freiheit entgegensetzt - res extensa vs. ego cogito. Von beiden Seiten her kann die Frage nach der Vermittlung beider Ordnungen gestellt werden. Der Leviathan Schmitts gehört in die Ordnung der Welt der Menschen, er ist von vornherein politisch. Es geht um den Willen, um menschliche Setzungen und Satzungen und um historischen Kampf um die Behauptung des eigenen ,artgemäßen' Wesens. Der Leviathan 54 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 55.
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steht von vornherein auf der Seite der Zeit, die Weltgeschichte bleibt für Schmitt das Weltgericht, nicht die Weltgeographie55. Die Möglichkeit seines prosaischen Leviathans setzt einen fortgeschrittenen Zustand der Entmythologisierung nicht bloß voraus, sondern macht ihn zum Thema und zum eigentlichen Inhalt. Dabei gibt er der Entmythologisierung einen politischen Sinn, dessen Gegenstand die heidnische Lebenskraft ist, die judenchristlich bekämpft würde. Das Heidnische hingegen wäre gekennzeichnet durch die ursprüngliche Einheit von Politik und Religion. Gegen das Prinzip dieser Einheit sei das Judenchristentum gerichtet, und es habe diese Einheit zerstört. In diesem Kampf, so Schmitt, hat Hobbes mit seinem Leviathan Stellung bezogen: „Der Kampf gegen das von der römischen Papstkirche erstrebte ,Reich der Finsternis', die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit, ist, wie Leo Strauß feststellt, der eigentliche Sinn der politischen Theorie von Hobbes. Das trifft zu." 56 Indem Schmitt vom Reich der Finsternis und von einem Kampf um die ursprüngliche Einheit von Politik und Religion spricht, läßt er die Dimension des politischen Kampfes weit über den Bezirk einer wohlabgegrenzten Sphäre rein staatlicher Machtpolitik hinausgreifen. Politik ist Ordnung der Welt oder sie ist nicht. Über diese seine Auffassung kann manchmal die laut Grabowsky .formalisierende' Begriffsbestimmung des Politischen hinwegtäuschen. Tatsächlich steht aber der Begriff des Politischen in einem ausgezeichneten Verhältnis zur .Weltgeschichte'. Nicht allein das. Als Begriff ist er auch ihre Kritik. Konkret wird diese Kritik im Leviathan. Gegenstand der Kritik ist aber nicht die Geschichte als Ganzes, es sind die Modernen Zeiten, die Kolumbus-Epoche und deren Untergang, die Zeit der Neueren Philosophie und des modernen Staates, die im Bild des Leviathan und im Begriff des Politischen kritisiert werden. Dabei wird Schmitt ganz prosaisch: Technik, Neutralisierung, Entpolitisierung, privat und öffentlich, indirekte und direkte Gewalt, innen und außen, Staatsrecht und Völkerrecht, Legitimität und Legalität werden zu einer Kritik der Moderne zusammengebunden. Schmitts Prosa setzt mit der Feststellung an, daß Hobbes Beschwörung vom Mythos des Leviathan merkwürdig undämonisch bleibt: „Daß der Staat als ,Gott' bezeichnet wird, hat im Gedankengang dieser Staatskonstruktion keine eigene und selbständige Bedeutung." 57 Tatsächlich trägt Hobbes selbst zur Tötung des sterblichen Gottes bei, als den er den Leviathan bezeichnet. Das ist es, was selbständige Bedeutung gewinnt: Hobbes ist einer der großen Meilensteine auf dem Weg der Entmythologisierung. Die Überwindung des Naturzustandes im Vertrag verbindet sich bei Hobbes mit dem klassischen Bild des Staates als großer Mensch58. Nicht ein Wal oder ein anderes großes Tier sym55 Diese These ließe sich auch so begründen: Adorno und Horkheimer bestimmen die ,Zeit als die Organisationsform des Individuums'. Ohne die Loslösung der historischen Zeit aus dem räumlichen Schema, gäbe es kein Individuum im bürgerlichen Sinne. Die konkrete Voraussetzung der vertragstheoretischen Seite am Leviathan von Thomas Hobbes ist allerdings dieses bürgerliche Individuum; jedenfalls ist das die These, von der Schmitts Leviathan ausgeht. 56 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 21. Vgl. auch, Leo Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, (engl. Üb. 1936), Mit einem Anhang, Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Neuwied am Rhein, Berlin 1965. 57 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 49. 58 Hobbes bestimmt dabei den Vertragsschluß, mit dem der künstliche Mensch erschaffen wird, als Nachahmung des Schöpferwortes Gottes: „Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint
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bolisiert bei ihm den Leviathan, sondern der große, mit allen Insignien der Macht ausgestattete Mensch, der selbst aus lauter Menschenatomen zusammengesetzt ist, dient ihm zur Versinnbildlichung. Doch in Hobbes Bild ist eine Differenz zu Klassischem wirksam, das seinem großen Menschen eine Modernität gibt, die mit antiken Vorstellungen nichts mehr zu tun hat. Schmitt sieht in dieser Differenz den „Kern seiner Staatskonstruktion" 59 . Dieser Kern ist die Übertragung der cartesianischen Vorstellung vom Menschen als einem beseeltem Mechanismus auf den Staat, „den er zu einer von der souverän-repräsentativen Person beseelten MASCHINE macht" 60 . An dieser Stelle gilt es sehr genau zu sein, denn die seit dem 19. Jahrhundert eingeschliffenen Bedeutungen von Maschine und Mechanismus, die in einen systematischen Gegensatz zu der Neuerfindung des Organismus oder des schönen, autonomen Kunstwerkes gebracht werden, können vorschnell den Blick verengen 61 . Schmitt weiß um den Horizont dieser Problematik. Noch mehr. Er versucht, den historischen Sinn aufzudecken, der den Modifizierungen am Begriff des Mechanismus und der Maschine zugrunde liegt und im 19. Jahrhundert einen Mechanismus-Organismus-Diskurs hervorbringt, der noch Thema im nächsten Kapitel sein wird. Schmitt sucht nach dessen politischem Inhalt. Wenn Hobbes den Menschen als Mechanismus mit dem Staat als Mechanismus analogisiert, sind Seele, Maschine und Lebendigkeit noch nicht unwiderruflich auseinandergetreten, auch hat sich noch kein Organismus und noch keine Kunst aus dem Begriff des Mechanismus abgeschieden: „Erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist die scharfe Unterscheidung von Organismus' und ,Mechanismus' durchgedrungen. Die Philosophie des deutschen Idealismus, zuerst Kant in der „Kritik der Urteilskraft" (1790), hat die Unterscheidung an der Hand von .Innen' und .Außen' formuliert, bis zu dem Gegensatz von lebendigem Wesen und toter Sache, der die Vorstellung des Mechanismus allen mythischen, ja allen lebendigen Charakters beraubt. Mechanismus und Maschine werden jetzt seelenlose Zweckveranstaltungen." 62 Welche Verbindung soll bestehen können zwischen der Vorstellung vom Leviathan als einem beseelten Mechanismus und der Unterscheidung von Innen und Außen, eine Unterscheidung, die ich oben in diejenige von Zeit und Raum, von Geographie und Geschichte oder von Natur und Denken übersetzt habe? Der Maschinenleviathan, ob beseelt oder nicht, bricht radikal mit dem Mittelalter. Das politische Gemeinwesen und die politischen Hierarchien leiten sich nicht mehr von Gott her: sie sind nicht mehr unmittelbar zu Gott. Die politische Macht hört auf, Reflex der Allmacht Gottes zu sein. Der Staat wird reines Menschenwerk, begründet in dem durch das Aufleuchten der Vernunft gestifteten Vertrag als Überwindung des ängstigenden Naturzustandes, ein Vertrag, durch den die schwache Mächtigkeit aller Einzelnen zur Machtkonzentration im Staat verschmilzt. Diese Machtkonzentration macht aus dem Staat den sterblichen Gott, gegen
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wurden, jenem ,Fiat' oder ,Laßt uns Menschen machen', das Gott bei der Schöpfung aussprach." Thomas Hobbes, Leviathan, a. a. O., S. 5. Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 48. Ebd., S. 49. Die Souveränität, so Hobbes, ist die künstliche, d. h. durch die Kunst der Menschen erschaffene Seele. Die Kunst der Menschen ahmt die Kunst Gottes, d. h. die Natur nach und vermag so Automaten zu erschaffen, „(...) Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr (...)". Thomas Hobbes, Leviathan, a. a. O., S. 5. Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. 0 . , S. 61.
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den der Einzelne nicht ein zweites Mal an Krieg denkt. Weil er Menschenwerk ist, ist er sterblich. Und er ist keine Emanation der göttlichen Ordnung mehr: das Göttliche an ihm liegt in seiner (scheinbaren) Allmacht. Die Allmächtigkeit gibt dem Staat das Attribut des .Göttlichen' und nicht mehr Gottes Allmacht dem Staat seine Mächtigkeit. In diesem ihren Werk beten sich die Menschen selbst an, so Schmitt mit Hobbes - aus dem homo homini lupus wird der homo homini deus. Hobbes stellt dieses Menschenwerk als beseelten, komplexen und kunstfertigen Mechanismus vor. Mit dieser Vorstellung vollendet er die cartesianische Anthropologie des Menschen als homme-machine. Als Kunstwerk und menschliche Hand- und Kopfarbeit rechtfertigt sich der Staat von seinem Zweck her, der der des Schutzes vor dem Naturzustand, d. i. vor dem Bürgerkrieg und der Revolution ist. Der Staat wird von diesem Zweck her Gegenstand rationaler Verbesserung seiner Mechanik. Demgegenüber ist die Konzentration der Staatsgewalt in einer von allen Beschränkungen freien Person, die Hobbes als Notwendigkeit behauptet, sekundär: „Die innere Logik des von Menschen hergestellten Kunstproduktes ,Staat' führt nicht zur Person, sondern zur Maschine." 63 Der Staatsmechanismus als gemeinschaftliches Menschenwerk transzendiert jeden personalen Souverän, der seine Autorität nicht mehr unmittelbar von Gott herleiten kann - die unleugbare Tatsache seiner Abstammung aus der geschlechtlichen Vereinigung, also gerade der Natur, zu dessen Überwindung der moderne Staat dient, wird zu einem unhintergehbaren Widerspruch, an dem die Identifizierung von Maschinenleviathan und einer Person scheitern muß. Der moderne Staat, den Hobbes denkt, wird im 17. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent 64 konkrete Realität. Auf dem Kontinent wird die Idee steter Verfeinerung und Verbesserung des Staatsmechanismus verfolgt. Der Staat ist so das „erste Produkt des technischen Zeitalters" 65 , ja noch mehr: „Mit diesem Staat ist nicht nur eine wesentliche geistesgeschichtliche oder soziologische Voraussetzung für das folgende technisch-industrielle Zeitalter geschaffen, er selbst ist bereits ein typisches, sogar ein prototypisches Werk der neuen, technischen Zeit." 66 Wie aber kann der moderne Staat ein prototypisches Werk der neuen technischen Zeit sein, wenn Hobbes und seine Zeitgenossen Mechanismus, Seele, Lebendigkeit und Künstlichkeit noch zusammendenken konnten, was spätestens seit dem 19. Jahrhundert zunehmend unplausibel wird? Schmitt behauptet eine eigentümliche Dialektik, nach der im Staat als Prototyp des technischen Zeitalters die Reduktion auf einen seelenlosen Mechanismus angelegt war. Diese Reduktion resultiert aus den Trennungen, wie sie anhand von Hobbes politisch-naturwissenschaftlicher Theorie aufgezeigt werden können. Das tut Schmitt. Hobbes ist in seiner systematischen Staatslehre der Vollender des Cartesianismus. Gerade seine Staatslehre macht „ihn 63 Ebd., S. 53. 64 Für Schmitt wird das Modell des Leviathan nicht auf der britischen Insel verwirklicht. Dort fällt vielmehr mit dem Sieg der Seepartei über die Agrarier die Entscheidung gegen Hobbes. Schmitt behauptet eine grandiose Ironie der Geschichte: die kontinentalen Mächte realisieren einen Staatsbegriff, der von Hobbes zur Befriedung der britischen Insel gedacht war. Diesen kontinentalen Staat machen sich die Briten allerdings zunutze, um ihr Weltreich aufzubauen, indem sie die Trennungen ausnutzen, die in ihm enthalten sind und die im weiteren analysiert werden. Sie können dies, weil sie sich im Kontext ihrer .Seenahme' diesen Trennungen entzogen haben und entziehen mußten. 65 Ebd., S. 53. 66 Ebd., S. 53.
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zu einem Bahnbrecher moderner Naturwissenschaftlichkeit und des ihr zugehörigen Ideals technischer Neutralisierung"67. Was ist das Bahnende und Vollendende an Hobbes? Er übersetzt die cartesianische Trennung von ego cogito und res extensa, und dessen Programm der Naturbeherrschung in politische Theorie! Es geht dabei nicht um die recht allgemeine Aussage, daß der Staat irgendeinen vorgeblichen Naturzustand überwinde. Allzu deutlich sind seine Schriften „Leviathan" und „Behemoth" parteiliche Stellungnahmen in den Revolutions- und Religionswirren seiner Zeit. Es geht um die Art und Weise, wie Hobbes das Verhältnis von Staat und Religion oder Aberglauben bestimmt, denn mitten in dieses Verhältnis setzt er das Prinzip des Unterganges des nur scheinbar allmächtigen Leviathan. Die Allmacht des Leviathan scheint auf seinem Höhepunkt zu stehen, wenn der Souverän sogar bestimmen kann, an welche Wunder die Bevölkerung zu glauben habe. Doch gerade an diesem Höhepunkt führt Hobbes eine folgenreiche Trennung ein. Diese Allmacht ist auf den öffentlichen Kultus beschränkt, auf dasjenige, was die ,citoyen' nach außen zu vertreten haben - woran sie aber in ihrem Inneren glauben und was sie innerlich für wahr halten, ist ihre Privatangelegenheit. Das Private aber ist eine Form der Beraubung und des Sich-Entziehens. Mit der Abtrennung eines dem Öffentlichen entzogenen Privaten ist die folgerichtige Entwicklung zum liberalen Rechts-und Verfassungsstaat' gesetzt und mit ihr die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, von bourgeois und citoyen. Anstatt mit dem Leviathan einen politischen Kampfmythos gegen die Aufspaltung von Religion und Politik zu setzen, hat Hobbes in den Mythos selbst diese Spaltung gesetzt, indem er die Allmacht des Staates auf die Macht des Außen und des Öffentlichen beschränkt. Diese Unterscheidung tötete aber den Leviathan-Staat, indem er dessen Entseelung einleitet: „Die Unterscheidung von Innen und Außen wurde für den sterblichen Gott die Krankheit zum Tode." 68 Doch der sterbliche Gott überlebte sich selbst als seelenlos gewordene Maschine. Indem das Innere zur Privatangelegenheit wird, wird dem Staat die Seele, d. i. seine Legitimierung durch die emphatische Bejahung der ihm Unterworfenen entzogen und durch das Prinzip der Legalität ersetzt. Der Staat verliert jeden Bezug zu Wahrheitssätzen im existentiellen Sinn und wird zur Form beliebiger Wahrheiten. Das aufklärerische 18. Jahrhundert ist die forcierte Vollendung dieser Entseelung, bis am Ende des 18. Jahrhundert der Staat als eine Maschine dasteht, in dessem Inneren verschiedene Gewalten und Parteiungen darum streiten, diese Maschine für ihre je partikularen Zwecke in Dienst zu nehmen. Als die ,große deutsche Philosophie' ihre Spekulationen über den Staat als Organismus und über das Besondere der schönen Kunst beginnt, ist die konkrete historische Voraussetzung die Logik des modernen europäischen Staates, wie er im 16. Jahrhundert begründet wurde, denn in der Art seiner Begründung war das Auseinandertreten von leblosem Mechanismus, lebendigem Organismus und schöner Kunst gesetzt. Gerade weil der moderne Staat als Mechanismus begriffen wurde, der Menschenwerk ist, wird zum typischen Phänomen der Moderne die Neutralisierung und Entpolitisierung: zentrales Thema des Politischen wird die Verbesserung dieses Mechanismus. Als reiner Mechanismus steht er aber, wenn auch als primus inter pares, nur noch neben beliebigen anderen Mechanismen, die auch verbessert werden sollen: Uhren, Werkzeugmaschinen, Verkehrs67 Ebd., S. 66. 68 Ebd., S. 99.
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mittel, Wirtschaftsprozesse. Diese fallen in das zum Außerpolitischen ausgegrenzte Feld. Die dort gemachten Fortschritte werden vorbildhaft, an ihnen orientiert soll der Staat als Thema des Politischen verbessert werden. Aus dem Leviathan, der seinesgleichen nicht auf Erden findet, wird ein Gegenstand menschlicher Arbeit, und zwar der Arbeit in der Form, wie sie sich in der Bearbeitung äußerer Natur bewährt. Das Politische wird naturalisiert und wird jeweils von dem Bereich her konzipiert, der außerhalb des Politischen die größten Erfolge in der Erkenntnis und Beherrschung von Natur genießt. Im 19. Jahrhundert wird das Politische zur Naturwissenschaft, im 20. Jahrhundert allgemein zu einer wissenschaftlich angeleiteten Technik. Die damit einhergehende veränderte Stellung des Politischen bündelt Schmitt in einer Realsymbolik: der Wal als eine mögliche Form der Verkörperung des Leviathan wird durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technik von einem gewaltigen Gegner zum Objekt industriellen Walfangs, der so leicht gefangen und geschlachtet wird, daß schon Jules Michelet ein Plädoyer für seinen Erhalt formulieren muß69. Die mehrfach behandelte These vom europäischen Nomos der Erde erfährt hier eine überraschende Wendung. Konnte es bisher scheinen, daß Schmitt die Industrialisierung für die Veränderung im Staatsbegriff und den endlichen Untergang des europäischen Nomos der Erde verantwortlich machte, zeigt sich jetzt der eigentliche Sinn seiner These: es ist der veränderte Begriff und die veränderte Realität des Staates, die prototypisch-paradigmatisch das technisch-industrielle Zeitalter erst ermöglichte und einleitete. Das entspricht auch der Struktur des Nomosbegriffes, denn die Nähme und die Teilung des Landes fundieren das ,Weiden'. Der moderne Staat ist eine spezifische Form der Nähme und der Teilung der Erde. Die Logik dieser Form liegt in einer entschiedenen Trennung von privat und öffentlich, innen und außen, Individuum und Staat. Dabei beschwört Schmitt anhand von Hobbes Cartesianismus und seiner Charakterisierung als Bahnbrecher moderner Naturwissenschaftlichkeit einen epochalen Zusammenhang zwischen Politischer Theorie, konkreter Staatsentwicklung und Naturbeherrschung herauf - er beschwört ihn, denn er entfaltet ihn nicht, sondern wendet sich ab. Stattdessen wendet er sich einer ausgreifenden Verschwörungstheorie zu. Es sind ihm die Juden von Spinoza bis Marx, die die in den Begriff des Staates gesetzten Trennungen zu ihrer Emanzipation und die Briten, die sie zum Aufbau ihres Weltreiches ausnutzen 70 . Seine Verschwörungstheorie entspringt der Bestimmung des Politischen als geistigem Kampf um die Behauptung des eigenen Seinsmäßigen. Es ist insbesondere die Trennung von Innen und Außen, die den Kern der Trennung von öffentlichem Kultus und privater Wahrheit ausmacht, die die epochale Verschwörung sich zunutze macht. Die Allmacht des Staates wird auf das Öffentliche, das Äußere beschränkt: das Innere wird dieser Allmacht entzogen, privatisiert. Der wesentliche Inhalt der geistigen Auseinandersetzung der folgenden Jahrhunderte ist dann die Umkehrung des Verhältnisses
69 Vgl., Jules Michelet, Das Meer, a. a. O., S. 241ff. 70 In der Person von Disraeli verbindet sich für Schmitt dann beides und zeitigt die Konstitution eines seemachtgestützten Indiameerreiches. Nicolaus Sombart interpretiert Schmitts Antisemitismus als Phänomen kollektiver, männlich-deutscher Psychopathologie und entdeckt manches Aufschlußreiche. Dann wiederum würdigt er die Großraumthese Schmitts als zukunftsweisend. Mit den folgenden Ausführungen versuche ich zu bestimmen, wie, jenseits aller Pathologisierung, Antisemitismus und Großraumthese zusammenhängen. Vgl., Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, a. a. O.
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von Außen und Innen: aus der zulassenden Gewährung innerer Wahrheit, wie sie Hobbes als Antwort auf die unversöhnlichen Glaubenskriege seiner Zeit als Befriedungsstrategie formulierte, wird der normative Anspruch des Individuums, daß der Staat sich auf den Schutz der äußeren Bedingungen für die Verwirklichung der individuellen Wahrheiten zu beschränken habe. Das Innere wird das Höhere, der Staat wird zum Äußerlichen, Niederen, dem an sich gar keine Wahrheit zukommt 71 . Bei Kant ist dieser Vorgang der Umkehrung idealtypisch abgeschlossen. Dabei markiert er (wie die Französische Revolution) innerhalb der Epoche des europäischen Nomos der Erde, der columbian-age, eine Zeitenwende. Die von Descartes, Hobbes u. a. eingeleitete scharfe Trennung von Innen und Außen hat sich zu einer explizit asymmetrischen Fassung zugunsten des Inneren gegen das Außen ausgebildet. Schmitt weist Kant damit einen historischen Ort und eine an ihm erkennbare Problematik zu, von der auch ich in dieser Arbeit ausgehe. Doch im Unterschied zu meinem Ansatz unterläßt es der Geschichtsphilosoph des Raumes Carl Schmitt, den systematischen Zusammenhang von Raum und Zeit, Außen und Innen, Natur und Freiheit, Geographie und Geschichte aufzuhellen. Daß er das nicht tut, hat selbst einen systematischen Grund: es setzt die Trennungen selbst voraus, die er als politischen Kampfmythos denunzieren will. Das ist am Inhalt und an der politischen Funktion seiner Verschwörungstheorie plausibel zu machen. Es geht um den Sinn der These: die Welt ist nicht mehr im Raum, sondern der Raum ist in der Welt. Wenn Schmitt den Begriff des Nomos in drei Aspekte zergliedert, besagt das nicht, daß diese voneinander isoliert seien: sie stehen in einem hierarchischen Gefüge. Die Nähme der Erde und die Art ihrer Teilung bestimmen die Weise des ,Weidens', d. i., ganz allgemein, des Wirtschaftlichen - die Öko-Logik bestimmt die Öko-Nomik. In der Nähme und Teilung der Erde konstituiert sich ein je spezifisches Sein, das als das je besondere Seinsmäßige Grundlage der Scheidung von Freund und Feind ist und sich vielfaltig als Kultur, Religion, Wirtschaftsweise usw. ausprägt. Eine Entgegensetzung von Nähme und Teilung des Äußerlichen und der inneren Entwicklung von Kultur, Ökonomie usf. ist ihm daher unrichtig. In der Art und Weise der Bemächtigung und Aufteilung des Erdraumes ist das Ökonomische oder Kulturelle strukturell schon entschieden. Die Einheit von Religion und Politik ist eine andere Version der Einheit von Boden und Volk. Genau daran macht Schmitt die „völlig abnorme Lage" 72 der Juden fest: sie sind ihm Volk ohne eigenen Raum. Das besagt aber für Schmitt, daß sie von vornherein einer Seinsordnung angehören, die der Grundlegung jeden Nomos in der Nähme und Teilung des Bodens radikal widerspricht. Mit der Trennung von Außen und Innen in der Begründung des modernen Staates wird für Schmitt der Zusammenhang von Nehmen, Teilen und Weiden zerrissen und in einen Gegensatz zueinander gebracht. Dieser Widerspruch ist es, der die Dynamik des europäischen Nomos der Erde bewirkt bis er daran zerbrechen muß. 71 Diese Dialektik der Verkehrung hat Karl Marx in seiner Kritik an Bruno Bauer als letzte und höchste Form der Entfremdung des Menschen von sich selbst dargestellt, mit der der Horizont politischer Emanzipation erschöpft und der wirkliche Inhalt der Epoche die soziale Emanzipation sei. Die Logik der Trennungen von Staat und Religion oder bourgeois und citoyen sind, wie auch das Verhältnis von Christentum und Judentum, mit in Carl Schmitts Leviathan eingegangen und prägen seine Kritik an Hobbes, die zugleich eine an Marx ist. Vgl., Karl Marx, Zur Judenfrage, (1844), in: MEW, Bd. 1, 1981, S. 347-377. Vgl. dazu auch, Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933-1943, ein Bericht, München, Wien 1984, S. 248ff. 72 Carl Schmitt, Der Leviathan, a. a. O., S. 16.
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Die Konstitution der Ordnung und Ortung wird von der Ökonomie abgetrennt, d. h. die politische Gemeinschaft legt sich in den modernen Staat und in die bürgerliche Gesellschaft auseinander. Der Staat wird auf die Organisierung und Behauptung des Äußeren beschränkt, demgegenüber Gesellschaft und Ökonomie als ein sich emanzipierendes Innen erscheinen. Nicht bloß das: die Umkehrung von Innen und Außen meint in dieser Hinsicht, daß das Wirtschaften nicht mehr als Funktion der Art und Weise der Erdnahme- und teilung erscheint, sondern umgekehrt: der Staat wird zur Funktion der Ökonomie und Gesellschaft, in deren Dienst er gestellt wird. Der Raum ist in der Welt ist das Kennzeichen des Zeitalters der Politischen Ökonomie und ihrer Kritik. Das eigene Sein erscheint nicht mehr im Verhältnis zum zu eigen gemachten Boden gegründet, sondern im Ökonomischen. Das aber ist es, was für Schmitt den Juden entgegen kam. Indem das Verhältnis zum Boden, zur Heimat sekundär wird und stattdessen die politische Gemeinschaft im Ökonomischen gegründet scheint, wird die Situation des heimatlosen Exils der Juden sekundär. Das ist es, was sie für Schmitt begriffen und zu ihrer Emanzipation genutzt hätten, indem sie die Trennungen von Innen und Außen, privat und öffentlich, Gesellschaft und Staat, Religion und Politik forcierten. Doch das Ökonomische kann das Raumhafte am Nomos und am Politischen nicht beseitigen: der Raum ist in der Welt, aber er ist. Immer wenn das Ökonomische erschüttert wird, kehrt das Raumhafte manifest zurück. Die politische Ökologie ist stets bereit, Attentate auf die in der politischen Ökonomie gegründete Ordnung zu verüben, etwa in Form von aggressivem Nationalismus oder Rassismus. Dagegen hilft, von Schmitt aus gesehen, nicht die Kritik der Politischen Ökonomie, die das Setzen auf das Ökonomische nur noch verschärft und damit die Trennungen auf die Spitze treibt, sondern die Rekonstruktion einer Ordnung, die von der Nähme und Teilung der Erde her die Einheit mit dem Weiden erneuert. Schmitt formuliert auf diesem Wege eine These über den notwendigen Zusammenhang von ökonomischer Krise, aggressivem Nationalismus und Rassismus in der Moderne. Dieser Zusammenhang ist nicht auf Klassengegensätze oder auf Psychopathologien zurückzuführen. Es ist die Unmöglichkeit, Ordnung und Ortung durch das Ökonomische zu gewährleisten. Ortung ist prinzipiell nicht zu trennen von der Orientierung im Räume, dem geographischen Horizont, wie es bei Kant heißt. Das ist auch der Sinn von Schmitts Vorschlag einer .Völkerrechtlichen Großraumordnung': die Rekonstruktion einer im und auf den Raum gegründeten Ordnung. Gerade daran aber zeigt sich auch die Grenze seiner Kritik: er verbleibt selbst der Asymmetrie von Raum und Zeit verhaftet. Das wird deutlich, wenn der polemisch-politische Sinn seines Begriff des , Weidens' bewußt gemacht wird - er richtet sich gegen die marxistische Kritik der Politischen Ökonomie und dem darin aufbewahrten Begriff der liberal-kapitalistischen Ökonomie. Was ist aber deren Gemeinsamkeit? Es ist das zentrale Moment der Zeit, wie es idealtypisch von Marx in der, Kritik der Politischen Ökonomie 'formuliert wurde. Dagegen setzt Schmitt den Raum und bestätigt genau die asymmetrische Trennung, die er zum Gegenstand seiner Kritik macht. Wie sehr er die asymmetrische Fassung von Raum und Zeit nicht in Frage stellt, zeigen die Zuordnungen, die er den raumlosen Juden anheftet: die Gesinnung des absolut freien Individuums. Wenn er dann von der Emanzipation der Juden spricht, ist es die Idee der Emanzipation an sich, die er treffen will 73 ; es ist der an Kant kenntlich gemachte Zusammenhang von der 73 Marx hatte die Perspektive einer Überwindung der Trennungen von öffentlich-privat, Staat-Religion,
Kommentierung des Leviathan
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Spontaneität des reinen Ich, dessen ursprünglicher Freiheit und Autonomie, dem inneren Sinn und der Zeit, den Schmitt kritisiert. Die prekäre Organisationsform des bürgerlichen Individuums ist die Zeit, hatten Adorno und Horkheimer notiert 74 , wobei das Prekäre dieser Organisationsform aus dem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse resultiert. Doch anstatt von solch einer These aus, dem Abstrakten der zugrundeliegenden Asymmetrie nachzufragen, macht Schmitt den Raum gegen das Individuum geltend. Anstatt die Abstraktheit eines wesentlich zeitlich definierten Freiheits- und Aufklärungsbegriff in Zusammenhang mit dessen ebenso abstrakten Gegensatz des Raumes zu kritisieren, verfällt er an dieser entscheidenden Stelle zurück in den abstrakten Gegensatz und verschleiert das durch die Personalisierung. Die Prosa Schmitts schlägt um in einen Mythos: die Zeit, das Ich-denke, Freiheit usw., wie sie an Kant in ihrer Vernetzung aufgezeigt wurden, schließen sich bei ihm im Judentum bzw. Judenchristentum als Symbol zusammen. Dennoch bleibt Schmitt gerade auch in seinem Scheitern instruktiv. Es ist von ihm aus präzise bestimmbar, welche Problematik er verstellt. Er setzt auf den Raum. Dieser aber hatte sich als Kern des modernen Naturbegriffes gezeigt, als die von der Seele abgespaltene res extensa - Länge, Breite, Höhe, wie es Heidegger mit Descartes erinnert. Die res extensa wird seelenloses Objekt der Naturbeherrschung. Schmitt übersetzt diese Trennung in seine politische Gestalt: öffentlich vs. privat, Äußerlichkeit vs. Innerlichkeit, Politik vs. Religion. Die damit gegebene Gestalt des modernen Staates bestimmt er als Prototyp technisch-industrieller Naturbeherrschung und als Resultat des cartesianischen Rationalismus. Er bringt damit das Politische in ein massives Verhältnis zur Beherrschung der Natur. Doch zugleich behauptet er das Gegenteil. Das Politische sei ein rein geistiges, zwischenmenschliches Verhältnis. Ein politisches Verhältnis zur Natur kann es für ihn nicht geben. Deshalb kann der moderne Staat auch nur ein Irrweg sein, denn für diesen ist strukturell ein Naturbegriff konstitutiv, der die Natur als Objekt freier Verfügbarkeit für die Zeitigung des menschlichen Subjekts denkt und diesem Denken gemäß auch handelt. Die Übersetzung dieses Naturbegriffs ins Politische legt Schmitt folgerichtig frei, aber er verweigert sich der Konsequenz für seinen Begriff des Politischen. Der Sinn dieser Weigerung liegt bei Schmitt in seiner Auffassung von der prinzipiellen Nicht-Möglichkeit eines ,Weltstaates', denn dieser würde die Beseitigung des Freund-FeindSchemas als zwischenmenschlicher Kategorie voraussetzen. citoyen-bourgeois in eine allgemeine, menschliche Emanzipation gesetzt: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces propres" als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." Karl Marx, Zur Judenfrage, a. a. O., S. 370. Demgegenüber will Schmitt den wirklichen individuellen Menschen in den Staatsbürger zurücknehmen. 74 Gelegentlich der homerischen Dichtung heißt es: „Noch ist die innerliche Organisationsform von Individualität, Zeit, so schwach, daß die Einheit der Abenteuer äußerlich, ihre Folge der räumliche Wechsel von Schauplätzen, den Orten von Lokalgottheiten bleibt, nach welchen der Sturm verschlägt. Wann immer das Selbst geschichtlich solche Schwächung später wiederum erfahren hat, oder die Darstellung solche Schwäche beim Leser voraussetzt, ist die Erzählung des Lebens abermals in die Abfolge von Abenteuern abgeglitten." Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 55.
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Exkurs zu einer Allegorie: Leviathan und Anakonda
Schmitts Aussage enthält die dramatische Situation der Gegenwart. Sein Begriff des Politischen ist realistisch und bezeichnet genau, was dieses ,Realpolitische' von der Wirklichkeit trennt. Das moderne Projekt der Naturbeherrschung hat sich die Form planetarischer Naturzerstörung gegeben. - als Naturzerstörung ist das Politische längst planetarisch oder ,hologäisch' (Ratzel) geworden und hat die Grenzen der Länder und Völker ebenso transzendiert, wie den Gegensatz von Land und Meer. Der Begriff des Politischen, d. h. die bewußte Form des Verhältnisses der Menschen zueinander, genügt dieser Situation jedoch nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob die We/fwirtschaft wirklich diesen Namen verdient, denn zumindest ihre Produkte haben sich in einem konkreten Sinn planetarisiert. DDT ist in Polargebieten, wo nie eine Pflanze wuchs, vorhanden, und während ich diese schreibe, interveniere ich mittels der Ausdünstungen meines Kühlschrankes in die Lebensverhältnisse etwa der Australier und zugleich in das Leben von Generationen noch nicht Geborener. Auch ist zweifelhaft, ob die Weltmächte wirklich der Welt in einem positiv-ordnenden Sinn mächtig waren. Sicher ist jedoch, daß ihre Macht soweit reichte, die Kindheit in einem Land ohne Atombombenversuche durch die ihrigen radioaktiv anzureichern. Damit ist aber dem Gedanken eines Interventionsverbotes raumfremder Mächte als Kern einer Großraumordnung die Grundlage entzogen, noch vor aller Realisierung einer solchen Ordnung. Schmitts Begriff des Politischen ist, obgleich er auf die Überwindung des überholten Nationalstaates zielt, ohne Ort geworden, Utopie - während der Nationalstaat von ihm aus in richtiger Weise als Antitopos begreifbar wird, der an eine Epoche gebunden ist, die längst vergangen ist. Ortung und Ordnung im nomoslosen 20. Jahrhundert lassen sich nicht gewinnen, indem mit oder gegen Schmitt auf je eine Seite in der Asymmetrie von Raum und Zeit als das je eigentlich Wahre gesetzt wird. Das 20. Jahrhundert ist nicht allein ohne Ort, es ist auch ohne Zeit, es ist utopisch und uchronisch zugleich, weshalb in ihm auf Raum und Zeit angewiesene Utopien absurd werden. Damit soll kein universaler Verblendungszusammenhang behauptet, wohl aber ein Realpessimismus nahegelegt werden, aus dem sich die Aufforderung ergibt, die Kritik der Begriffe und Bilder des Politischen, der Natur usw. soweit voranzutreiben, daß tatsächlich die sie strukturierenden Logiken und Verweisungen erkannt und veränderbar werden. Unterhalb einer solchen Ebene ist weder eine Kritik von Naturzerstörung, noch von Rassismus wirksam, denn sie bleibt verhängnisvoll mit dem verbunden, was sie überwinden will und verstärkt das so unerkannt bleibende alter ego. Zu einer solchen, angemessenen Kritik sollen auch die abschließenden beiden Kapitel beitragen.
7 . KAPITEL
Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Der moderne Staat ist der Leviathan. In den bildlichen Darstellungen bei Hobbes erscheint er als großer Mensch, der mit den Menschen, aus denen er sich zusammensetzt, den Charakter der Sterblichkeit und der Lebendigkeit teilt. Sterblichkeit und Lebendigkeit wurden auch im geopolitischen Diskurs zu Wesensbestimmungen des Staates gemacht. Der Staat sei eine „biologische Offenbarung" (Kjellen 1 ), und in den ,Thesen über Geopolitik' von Obst, Maull, Lautensach und K. Haushofer wurde der Staat als ein (biologischer) , R a u m o r g a n i s m u s ' bestimmt 2 . Den Staat als einen (biologischen) Organismus aufzufassen, erachtete der Geopolitiker Albrecht Haushofer rückblickend als einen theoretischen Grundfehler der deutschen Geopolitiker, denn „(...) diese sind dadurch abgelenkt worden in Erörterungen, die der Geschichtsphilosophie zugehören - und belassen werden sollten." 3 Diese Selbstkritik wird jedoch erst konkret, wenn die systematische Funktion und die wesentlichen Inhalte der geopolitischen Organismusvorstellung in ihrer Besonderheit bestimmt und in ein Verhältnis zu d e m weitaus umfassenderen Feld politischer Organismusvorstellungen gesetzt werden. Zunächst soll die Besonderheit der geopolitischen Organismusvorstellung dargestellt werden, um dann, im Rückgang auf die .Ideen von 1914', das Allgemeinere in diesem Besonderen aufzuzeigen.
1. Das Besondere der geopolitischen Organismusvorstellung Kjell6n setzte als Gegenstand der Politikwissenschaft den Staat als Organismus. Der Staat ist ihm eine Form des Lebens auf der Erde und dabei, ,wie der Mensch' 4 , ein sinnlich-geistiges Wesen. Er hat eine Natur- und eine Kulturseite. , V o l k ' und , L a n d ' bilden die sinnliche Naturseite, d. h. ,Ethno'- und ,Geopolitik' betrachten die äußere Körperlichkeit des Staates: „(...) die Gebiete der Geopolitik und der Ethnopolitik. In diesen tritt auch der biologische Charakter des Staates am unmittelbarsten und zwingendsten hervor. Sie zeigen sich vor allen 1 Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 175. 2 Vgl., Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27 3 Albrecht Haushofer, Allgemeine Politische Geographie und Geopolitik, (1944, unveröffentlicht), Bd. 1, Heidelberg 1951, S. 17. 4 Vgl., Rudolf Kjellin, Der Staat als Lebensform,a. a. O., S. 31f.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
anderen als objektive Kategorien, an die das Handeln gebunden ist. Sie können als spezielle Naturseite des Staates bezeichnet werden; im Gegensatz zur Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft, die als seine Kulturseite angesehen werden können, wo sein Wille mehr als schaffender und freier Wille hervortritt." 5 Bei Kjellen handelt es sich nicht um einen Analogieschluß von einzelnen Eigenschaften des Menschen auf den Staat, wie er z. B. in Form eines Schlusses von der Funktion des Magens auf die der Herrschenden in einer langen Tradition politischer Theoriebildung gängig war. Kjellen schließt vielmehr von einer transzendenten Idee aus, die sich aus dem scheinbaren Begriff des Organismus herleitet. Dieser Idee-Begriff tritt vermittelnd zwischen Mensch und Staat und hebt den Analogieschluß auf. Das ,wie beim Menschen' entspringt einer langen Schlußkette: der Staat sei ein lebendiges Wesen, eine ,biologische Offenbarung'; lebendige Wesen seien unter den .Begriff' Organismus zu subsumieren; das Reich der Organismen teile sich in höhere und niedere Formen; der Staat gehöre zu den hochentwickelten Lebewesen wie der Mensch, mit dem er die Geistigkeit gemein hat. Im Unterschied zu anderen Organismen ist der freie Wille und die Kulturseite, ist ,das Geistige', beim Staat damit auch für den Überlebenskampf als Kampf ums Dasein von Bedeutung 6 . Darin kehren beim Staat Trennungen wieder, die schon beim Menschen notwendig erscheinen: der Staat ist Sinnlichkeit und Geist, Natur und Kultur, Kausalität aus Notwendigkeit und Kausalität aus Freiheit. Geo- und Ethnopolitik haben vornehmlich mit der Naturseite des Staates zu tun, sie stellen Naturkausalitäten heraus. 7 Geopolitisch betrachtet sieht Kjellen im Staat einen geographischen Organismus, eine Erscheinung im Raum: „Die Geopolitik ist die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder als Erscheinung im Räume (~.)." 8 In der deutschen Geopolitik wurde prinzipiell an Kjellens .biologisch-empirischer' Staatsauffassung angeschlossen, aber auf sehr unterschiedlichem Niveau und mit diversen Kritiken an ihm verbunden. Trotz solcher Unterschiede lassen sich in dieser Frage durchgängige Gemeinsamkeiten im geopolitischen Diskurs feststellen. Eine Gemeinsamkeit bestand in der Mischung von .begrifflicher' und ,analogischer' Organismusvorstellung. Der radikale Versuch einer konkretistisch-begrifflichen Zuspitzung der Organismusvorstellung begegnet beim Geopolitiker Richard Hennig, der allerdings, wie schon Maull richtig bemerkte, stärker auf die Staatslehre des Biologen Oskar Hertwig zurückgriff 9 , als auf 5 Ebd., S. 43. 6 Kjellen wehrt sich dagegen, daß „man den Persönlichkeitsbegriff auf die Höhe der reinen Vernunft hinaufschraubt oder auf der anderen Seite den Organismusbegriff auf den rein animalen und vielleicht vegetabilen Lebensverlauf herabdrückt". Ebd., S. 37. Er geht stattdessen davon aus, daß „das Wesentliche bei einem Organismus darin besteht, daß er sich im Kampf ums Dasein aus eigener innerer Kraft zu entwickeln mag, und das Wesentliche im Persönlichkeitsbegriff darin, daß diese Entwicklung in der Richtung höherer geistiger Bestimmung verläuft". Ebd., S. 37. 7 Im Angesichte solcher Naturkausalitäten sind aber Recht und Unrecht unbrauchbare Begriffe: „Aus dem Studium der Geopolitik haben wir als wichtigste Lehren übernommen, daß der moderne Staat an seinem Reiche eine Naturseite besitzt, welche die Quelle zahlreicher Interessen und Notwendigkeiten jenseits von Recht und Unrecht ist (...). Gleichzeitig haben wir beim Staat selbst eine gewisse Fähigkeit, sein Reich natürlich zu gestalten, beobachtet: sie stehen zueinander in inniger Wechselwirkung wie der Mensch zu seinem Körper." Ebd., S. 87. 8 Ebd., S. 45. 9 Vgl., Oskar Hertwig, Der Staat als Organismus, Jena 1922; Ders., Die Lehre vom Organismus und
Das Besondere der geopolitischen Organismusvorstellung
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Kjellen. Daß der Leviathan Kinder bekommen könne, sah er mit der Existenz von Kolonien bewiesen 10 , und die Staaten durchliefen ihm einen Lebensprozeß, wie er höheren Organismen zu eigen sei, nämlich Phasen der Kindheit mit,Kinderunarten', der revoltierenden Jugend und Loslösung vom Mutterstaat bis hin zum Vergreisen und Sterben 11 . Im Rahmen solch einer Argumentation formulierte er als These über das gegenwärtige Zeitalter, daß Landstaaten sich nicht mehr ,organisch fortpflanzen' könnten: „Reine oder überwiegende Landstaaten eignen sich in unseren Tagen nicht mehr zur organischen Fortpflanzung. Vielmehr bedarf es zu deren Zustandekommen der Vermählung von Staat und See."12 Hennig war mit seinem entschiedenen Konkretismus durchaus randständig in der klassischen Geopolitik, doch der Konkretismus selbst begegnet durchgängig in ihr. Er ist Resultat der Auffassung vom Staat als einem Organismus in einem ,empirisch-biologischen' Sinn, was bedeutet, im Organismus einen konkreten Begriff zu sehen13. Zugleich wird diese Argumentation, selbst bei Hennig 14 , begleitet von einer analogischen Auffassung 15 . Die Koppelung von einer biologischen' und einer,analogischen' Organismus-
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ihre Beziehung zur Sozialwissenschaft, Jena 1899. Vgl. dazu auch die Kritik an Hertwig bei: Louis von Kohl, Biopolitik und Geopolitik als Grundlagen einer Naturwissenschaft vom Staate, in: ZfGp, 10. Jg., 1933, S. 304-310. Vgl., Richard Hennig, Geopolitik, a. a. O., das Kapitel „VII. Der staatliche Fortpflanzungstrieb (Kolonialpolitik)", S. 215-301. Ebd., S. 215, heißt es: „Kolonien pflegt man gern als Tochterstaaten eines Mutterlandes zu bezeichnen. Hierin äußert sich unbewußt mit richtigem Instinkt die geopolitische Erkenntnis, daß der Staat als Lebewesen auch dem Gesetz des Fortpflanzungstriebes unterliegt." Vgl., Richard Hennig, Geopolitik, a. a. O., S. 10; vgl. auch die Auflistung der .Neugeborenen', Verstorbenen' usf. in: Richard Hennig, Leo Körholz, Einführung in die Geopolitik, a. a. O., S. 90f. Richard Hennig, Geopolitik, a. a. O., S. 215. Mit Beginn des Nationalsozialismus erhielt die Frage nach der .richtigen' organischen Auffassung eine zugespitzte Schärfe. So greift Max Baumann Adolf Grabowskys .mechanistisch-rationalistische' Geopolitikverständnis an, auch wenn dieser „den Staat als einen Organismus bezeichnet": „Im Gegensatz zu der Meinung Grabowskys versucht die Geopolitik wirklich Ernst zu machen mit der organischen Staatsauffassung und zu erkennen, inwiefern die Lebensvorgänge des Staates den biologischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Nur diese organische Auffassung vom Staat gibt eine wirklich tragfähige Grundlage für das geopolitische Denken ab." Max Baumann, Raum und Staat, Eine Entgegnung, in: ZfGp, 10. Jg., 1933, S. 554-559, ebd., S. 555. So spricht Hennig von dem ,Phönixhaften' der Staaten, sich veijüngen oder wiederauferstehen zu können. Der Phönix ist aber kein .biologisches', sondern ein mythologisches Tier: „In dem einen Punkt unterscheidet sich nämlich das Lebewesen Staat von den anderen Lebewesen der organischen Welt: es kann unter glücklichen Umständen gelegentlich einen Veijüngungsprozeß durchmachen ... Das 19. Jahrhundert hat ein besonders glänzendes und besonders typisches Beispiel dieser Art gebracht, als aus dem seit 843 bestehenden, greisenhaft gewordenen und 1806 scheinbar aufs Sterbelager gesunkenen alten deutschen Kaiserreich überraschend das Bismarksche Reich von 1871 als junger Phönix emporstieg." Richard Hennig, Geopolitik, a. a. O., S. 10. Ähnlich bei: Ders., Leo Körholz, Einführung in die Geopolitik, a. a. O., S. 90. Ebd., werden dann Alterung, Fortpflanzung usf. wieder als unverkennbare „Ähnlichkeiten zwischen den menschlichen und staatlichen Organismen" bezeichnet: Mischung von Begriff und Analogie. Bezeichnend hierfür auch Grabowsky, wenn er Kjellen von der .veralteten Organismustheorie' lossprechen und vor allem auf den Begriff .Lebewesen' hinaus will. Kjellen habe deutlich gemacht, „daß der Staat etwas sehr viel Umfassenderes ist, nämlich ein Lebewesen, das zwar nicht plump vergleichbar ist den physischen Lebewesen (mit der veralteten Organismustheorie darf man diese
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Vorstellung hat damit zu tun, daß dem Staat besondere Eigenschaften zugerechnet wurden, mit dem er aus dem Reich der Organismen hinaustrete, etwa dem .Phänomen' der ,Verjüngung' oder gar der .Wiedergeburt' eines Staates, wie etwa der Wiedergeburt Polens nach dem 1. Weltkrieg. Dadurch erschien die Anwendung eines .biologischen' Organismusbegriff auf den Staat als zu eng gefaßt, um diese ganz unerhörte Ausnahmeform des Lebens zu erfassen. Sie erhielt so immer wieder den Charakter einer vergleichsweisen Betrachtung, einer bildhaften Versinnlichung. Wegen dieser Mischung von begrifflichem' Anspruch und .bildhafter' Verwendung im geopolitischen Diskurs kann die geopolitische Organismusvorstellung als .Begriffsbild' bezeichnet werden16. Dieses Begriffsbildhafte der deutschen Geopolitik ging durchaus Kjellens biologischempirischer Staatsauffassung konform, da seine Trennung von Natur- und Kulturseiten am Staat bedeutete, diesen bereichsweise einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu entziehen. Kjellen, für den eine ethische Beurteilung der Natur als Reich der Notwendigkeit Unsinn war, hielt sich auf diesem Wege eine, teilweise, ethisch-sittliche Beurteilung der inneren Verfassung und des äußeren Lebens der Staatengemeinschaft offen, da er mit der Kultur ein Reich der Freiheit gesetzt sah17. Kjellens Verständnis der Geopolitik wurde besonders in zwei Hinsichten im deutschen geopolitischen Diskurs zum Problem und zum Gegenstand der Kritik. Erstens stand in Frage, ob das Verhältnis von ,Raum' und ,Staatsorganismus' bei ihm, im Anschluß an Ratzel, adäquat bestimmt worden war. Zweitens wurde problematisch, ob die Orientierung an der Bezugsgröße ,Staat' überhaupt noch zeitgemäß sei. Der klassische geopolitische Diskurs ist sehr weitgehend einer über diese beiden Fragen. An den dabei jeweils verfolgten Begriffstrategien und Theoremen lassen sich in der deutschen Geopolitik, bei allen Differenzen im Detail, zwei Grundzüge konstatieren, deren Kombination den geopolitischen Organismusbegriff in seiner Besonderheit ausmachte. Diese Grundzüge sollen exemplarisch an deutlich formulierten Positionen festgemacht werden: 1. am Übergang vom .geographischen Organismus' zum,Raumorganismus', und 2. an der Entgrenzung des .Staates als Organismus'. Staatsauffassung nicht schlagen), das aber doch ganz wie sie wächst und zugrunde geht und in einer bestimmten Reihe von Funktionen sich darstellt. (...) Der Staat lebt, strebt und handelt." Adolf Grabowsky, Staat und Raum, a. a. O., S. 12. Einerseits ist der Staat ein Lebewesen, andererseits ist er wie physische Lebewesen. 16 Das .Begriffsbildhafte' kommt auch deutlich in Kjellens Antwort an Radnitzky zum Ausdruck, der gegen den .organologischen Staatsbegriff' Kjellens heftig polemisiert hatte. Kjellen spricht dort einerseits davon, daß man statt .organisch' oder .biologisch' auch .realistisch' sagen könne, andererseits aber redet er dabei von Bildern und Analogien: „So frage ich: sind die beobachteten Analogien, jede für sich genommen, falsch? Will man die Realität jener Eigenschaften bestreiten, die ich mit ihnen habe ausdrücken wollen?" Rudolf Kjell6n, „Der Staat als Lebensform", Antwort an Herrn Dr. Radnitzky, a. a. O., S. 3; vgl., Ernst Radnitzky, Rez.: Rudolf Kjell6n, Der Staat als Lebensform, a. a. O. 17 „Macht ist überhaupt nicht das letzte Wort der Geschichte ... Die Mächte, ohne Selbstzweck, sind Werkzeuge, deren sich die Geschichte bei der Kulturarbeit bedient. Aber diese Arbeit wird sicherlich am besten durch vereintes Wirken von großen und kleine Staaten gefördert. (...)... die Kultur würde leiden durch die endgültige Unterdrückung des einen der beiden. So wird die Existenzform des Kleinstaates schließlich von der Idee der Menschheit geschützt. Über dem Kleinstaat steht die Großmacht, aber über der Großmacht steht die Menschheit, die sie beide für ihre Zwecke nötig hat." Rudolf KjellSn, Die Großmächte der Gegenwart, 19. Aufl., a. a. 0 . , S. 207-208.
Vom geographischen Organismus zum Raumorganismus
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2. Vom geographischen Organismus zum Raumorganismus In den ,Thesen über Geopolitik' setzten die Herausgeber der ZfGp als politisch-geographischen Grundbegriff der Geopolitik den des .Raumorganismus': „Die Geopolitik ist die Lehre von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge. Sie fußt auf der breiten Grundlage der Geographie, insbesondere der Politischen Geographie als der Lehre von den politischen Raumorganismen und ihrer Struktur.".18 Der Begriff ,Raumorganismus' war vom Geopolitiker Maull geprägt und in seiner .Politischen Geographie' von 1925 begründet worden19. Dieser Begriff richtete sich explizit gegen die ratzel-kjellensche Vorstellung vom .Staat als geographischem Organismus'. Maull monierte an der Wendung .geographischer Organismus', daß damit der Staat als eine bloße Erscheinung IM Raum und nicht als ein integraler Teil des Raumes, nicht als Erscheinung DES Raumes bestimmt werde, wodurch die Trennung von Staatsbegriff und geographischem Raum aufrecht erhalten werde, um deren Überwindung es gerade auch Ratzel und Kjellen gegangen sei. Als Erscheinung im Raum wäre der Staat kein genuiner Gegenstand geographischer, noch geopolitischer Betrachtung. Lediglich eine Beschreibung der Staaten als Dinge im Raum wäre dann möglich, ohne daß dadurch irgendeine geographische oder geopolitische Erkenntnis des Wesens des Staates an und für sich, noch irgendwelcher konkreter Staaten gegeben wäre. Der Begriff,Raumorganismus' soll demgegenüber festhalten, daß der Raum zum Wesen des Staates selbst gehört, daß also ohne eine Geo-Analyse das Wesen der konkreten Staaten und des Staates an und für sich unbegriffen bliebe: „Der Staat muß in seiner gesamten Raumstruktur und in seinen mannigfachen Gestaltungsformen Gegenstand geographischer Forschung sein nicht nur als Organismus im Raum, sondern in viel tieferem Sinne als ein aus dem Raum erwachsener Raumorganismus."20 Idealtypisch ließe sich der Unterschied, auf den Maull mit dem Begriff,Raumorganismus' abzielt, so bestimmen: England liegt nicht einfach im Atlantik, sondern dieser ist ein Teil der inneren und äußeren politischen Strukturen Englands selbst; Deutschland liegt nicht einfach in der Mitte zwischen Kontinent und Meer im Zentrum Europas, sondern diese Zwischenlage ist Teil der inneren und äußeren Verfassung Deutschlands und seiner Geschichte. Diese stilisierten Beispiele können allerdings dazu verleiten, im Begriff,Raumorganismus' einen zugespitzten Naturdeterminismus zu vermuten. Tatsächlich jedoch orientiert sich Maull am französischen ,Possibilismus' und vor allem an einer allgemeineren Hinwendung zum Begriff der Kulturlandschaft in der zeitgenössischen Geographie21. Sein Begriff,Raumorganismus' richtete sich gerade gegen die schroffe Trennung von Natur- und Kulturlandschaft im Begriff des geographischen Organismus'. Ausgangspunkt und Gegenstand einer Politischen Geographie und einer Geopolitik des Staates kann für Maull nur die Kulturlandschaft sein. Gerade wenn der Staat eine RaumErscheinung sei, könne dort, wo ein Staat begegnet, gar nicht mehr von einer ,Natur'18 Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27. 19 Vgl. zu den folg. Ausführungen den ersten Hauptteil in: Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 65-116. 20 Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. VI. 21 Auf die dabei, eingedenk des engen Zusammenhangs zwischen Raum- und Naturbegriff, sich einstellenden Widersprüche komme ich im letzten Kapitel dieser Arbeit zurück.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Landschaft die Rede sein. Staat impliziert notwendig die Existenz einer Kulturlandschaft: „Mit der werdenden Synthese einer Kulturmenschheitsgruppe und eines Stück Bodens zum Staate hat sich die Bedeutung der Bodengrundlage selbst geändert. Kulturboden ist an die Stelle des Naturbodens getreten, Kulturorgane haben die Organe des physischen Raumes abgelöst, und sie bestimmen von nun an alle weitere Entwicklung." 22 Allein als Geo-Theorie über den welthistorischen Prozeß gelesen, macht die Entgegensetzung von Natur- und Kulturlandschaft für Maull einen Sinn. Die Geschichte läßt sich dann bestimmen als eine Eroberung der Erde durch den Menschen, als progressive Transformation von Naturlandschaft in Kulturlandschaft. Er spricht hierbei von der Verwandlung der Erde als ,Lebensraum an sich' in .Ökumene', d. h. in ,Lebensraum für den Menschen'. Diese Umwandlung des Lebensraums Erde in Ökumene ist für Maull der geographische Sinn der Weltgeschichte23, die Eroberung des Meeres darin deshalb die .größte geographische Tat', weil erst durch sie die Erde in ihrer Totalität zum Gegenstand menschlicher Bearbeitung wurde. Quantitativ gesehen nimmt dieser Prozeß die Form einer zunehmenden Erfüllung der Erde mit Menschen an. Diese Gerichtetheit der Geschichte, in der sich der Mensch als Gattungswesen zeigt, ist aber qualitativ gesehen zugleich ein partikularisierender Prozeß, in dem sich die Menschen voneinander trennen. Die fortschreitende Kultivierung der Erde ist ihrem Wesen nach für Maull ein fortschreitendes Verwachsen mit ihr, was in politischer Hinsicht bedeutet: ein fortschreitendes Durchdringen von Politischem und Räumlichen. An dieser Stelle gewinnt der Begriff .Raumorganismus' einen historisch begründeten, normativen Sinn. Lediglich auf der frühesten Stufe der Geschichte könne ein allgemein auf der Erde verbreiteter Typus menschlicher Vergemeinschaftung unterstellt werden 24 , weil dort die menschliche Vergemeinschaftung praktisch noch in einer unbearbeiteten Naturlandschaft statt fand: die Welt der Menschen war hier eine Erscheinung im Raum der Erde, d. h. die Gliederung der Menschenwelt und die Gliederung des Erdorganismus blieben unverbunden. Die fortschreitende Transformation des Lebensraumes in Ökumene verbindet progressiv beide Gliederungen miteinander. In dem Maße, wie dabei die Erde vermenschlicht, also zur Kulturlandschaft wird, wird umgekehrt die menschliche Welt verräumlicht. Das aber heißt, angesichts eines vielfältig gegliederten und differenzierten Erdraumes, daß die Welten der 22 Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. VI. 23 Vgl., Otto Maull, Die Erde als Lebensraum, in: Raumüberwindende Mächte, a. a. O., S. 7-34. 24 Vgl. z. B., Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., Dritter Hauptteil, 5. Kapitel, Die Entwicklung des politischen Erdbildes, S. 643-724. Maull handelt dort verschiedene ,Formenkreise' des Staates ab, wie sie sich nacheinander ausgebildet haben. Die erste historische Form ist für ihn der,Zellstaat'. Dieses .Urstadium' des Staates kommt später auch noch vor, dann aber als ,Rückbildung', z. B. San Marino, Monaco oder Andorra. In der Gegenwart sieht er ein Übermaß an .Ungleichzeitigkeit': „Das ist das Wesen des uneinheitlichen Formenkreises der Gegenwart... Weil sein Formenkreis Widersprechendes zeigt und unausgeglichen ist - Altes, Uraltes, weiter Vegetierendes oder von neuem Leben Erfülltes steht neben neuen und wiederum nicht einheitlichen Formen - , ist die Entwicklung nicht abgeschlossen und in regster Gärung begriffen." Ebd., S. 703. Ratzel hatte das .Altertümliche' einer kleineren Raumgestalt als Europas Schicksal angesehen, das nie zu solch einer Größe und Geschlossenheit wie etwa die USA werde anwachsen können: „Europas Völker- und Staatenwelt wird immer und unvermeidlich die Spuren einer Geschichtsepoche tragen, die kleinere Räume ins Spiel brachte als die unserer; sie wird ebendarum immer noch mehr den Eindruck des Altertümlichen machen." Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 329.
Vom geographischen Organismus zum Raumorganismus
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Menschen in dem Maße unverwechselbar werden, wie der Raum zum Teil ihrer Welt wird, was sich gerade auch in den politischen Ideen und Prinzipien zeigen soll, denen die jeweilige Menschengruppe folgt. Dieses Welt-Werden des Raumes ist dabei Ausdruck der Kulturarbeit der jeweiligen, menschlichen Gemeinschaft. Solange aber, wie noch nicht die ganze Erde in Ökumene verwandelt ist, haftet allen begegnenden Bildungen etwas Unvollständiges an. Aus der Logik dieser Argumentation konnten normative Kriterien abgeleitet werden. Es wurde kritisierbar, wenn gegen den .quantitativen Sinn' der Geschichte verstoßen wurde, d. h. wenn statt der Erfüllung der Erde mit Menschen aus der konkret an einem Ort verfolgten Bearbeitung der Erde eine Entleerung eintrat, bzw. durch willkürliche Gewalt der Zuzug von Menschen unterbunden wurde, ohne daß der jeweilige Raum seinen Möglichkeiten entsprechend genutzt wurde 25 . Hieraus entsprang auch eine spezifische Form der Kritik von Naturzerstörung, die gerade dadurch als Unkultur erschien, weil sie prinzipiell dem Transformationsprozeß der Erde in Ökumene widersprach. Schließlich aber lag im dem Vorstellungsgehalt des Organismus in seiner Verbindung mit dem Raum selbst schon eine Behauptung darüber, wie idealerweise die Durchdringung von Menschenwelt und Erdraum auszusehen habe, nämlich als eine wohlabgestimmte, harmonische Kombination von Differenzierung und hierarchischer Gliederung, die zugleich Raum- und Menschenwelt und ihr Ineinander betraf 26 . Jede Vereinseitigung, etwa in Form von Verstädterung, von agrarischer oder industrieller ,Monokultur' erschien so verdächtig. .Verdächtig' sage ich deshalb, weil in der deutschen Geopolitik weder Technik, noch Stadt, noch Monokultur prinzipiell abgelehnt wurden 27 . Solche Phänomene konnten als Ausdruck sowohl niedrig stehender 25 Karl Haushofer leitete daraus das ,Naturrecht auf gerechte Verteilung des Lebensraumes' und eine Überwindung der ,schreienden' Ungerechtigkeiten in der ,Raumverteilung der Erde' ab, wodurch konkret Inner- und Mitteleuropa benachteiligt sei. Dazu gelte es, das Gebaren der imperialistischen Raubmächte' zu bekämpfen. Bei diesem Kampf gehe es „ums Recht einer freien Öffnung des Raumes der Erde für den Besten und Tüchtigsten, wo immer er den Kampf ums Dasein aufnehme, dennoch mit freiem Recht, seiner Kultur- und Muttersprache, seiner Volkheit anzugehören; oder mindestens um eine gerechte Neuverteilung des Lebensraumes nach Maßgabe der Leistung eines Volks zur höchsten Erschließung und Tragkraft der Landschaften der enger und enger, aber bei weiser Nutzung noch lange nicht zu eng werdenden Erde!" Ders., Atemweite, Lebensraum und Gleichberechtigung auf Erden!, in: ZfGp, 11. Jg., 1934, S. 1-14, ebd., S. 13. 26 So konnte etwa .hypertrophes Wachstum' kritisiert werden, wie es durch puren Egoismus und Eroberungsdrang, ungeachtet irgendwelcher Notwendigkeiten, zustande komme. Vgl. z. B., Erich Obst, Die Großraum-Idee in der Vergangenheit und als tragender politischer Gedanke unserer Zeit, Breslau 1941. Er sagt dort: „Aber es kommt gelegentlich zu einer Art hypertrophen Wachstums, zur Bildung von Großreichen nach Art der Staaten Alexanders des Großen, Dschingis Khans oder anderer Erobergestalten." Ebd., S. 9. Der Methode nach seien solche Gebilde eine .bedenkenlose Vergewaltigung' anderer Völker, ihren Zielen nach .egozentrisch', ihren Motiven nach ohne jede Notwendigkeit militärischer, bevölkerungspolitischer oder wirtschaftlichen Natur und ihrer Dauer nach entsprechend kurzlebig. Ebd., S. 9. Das sei allerdings nicht der Fall bei dem Großraumgedanken, für den, im Kriegswinter 1940/41, die Achsenmächte eintreten. Ebd., S. 16ff. 27 Vgl. z.B. die Diskussionen um Monokultur und Autarkie in der ZfGp, 10. Jg., 1933,Heft 1. Albrecht Haushofer führt dort aus: „Die Wiese (die Kulturlandschaft der Sense), die Weide (die Kulturlandschaft der vom Menschen umgeformten Tiere), das Ackerfeld, der Forst - sie alle sind auf ihrem Raum Monokulturen. (...) Erkennt man an, daß es reine Monokultur überhaupt nicht gibt, daß aber alle menschliche Kultur im breiteren Sinn Monokultur ist, dann wird zur Bestimmung des Wesens einer Monokultur dreierlei maßgebend: einmal der Grad der Einseitigkeit einer Kultur-
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Kultur und/oder als Erkrankung interpretiert werden. Gerade auch der medizinisch-therapeutische Blick auf den Staat gehörte nicht nur für Maull und die anderen Herausgeber der ZfGp z u m , Wesen der Geopolitik' 28 . Wenn aber die Durchdringung von Erdraum und Menschenwelt zu einer Partikularisierung der Menschengruppen und ihrer Vergemeinschaftung führt, folgt daraus nicht, daß der endgültigen Verwandlung des Lebensraumes Erde in Ökumene in politischer Hinsicht die Ausbildung kleiner, ja kleinster Staatenbildungen entspricht? Entsprechen nicht dem Endzustand der Geschichte, in dem der Raum der Erde vollkommen in der Welt der Menschen, diese prägend, aufgegangen ist, Staaten als vollkommene Raumorganismen in der Größenordnung Andorras? Das war in der klassischen deutschen Geopolitik nicht der Fall, denn in ihr wurde eine Gesetzmäßigkeit behauptet, die vermittelnd zwischen die universelle Tendenz und die partikularisierende Tendenz trat: das Gesetz der wachsenden Räume, das auf Ratzels Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten zurückgeht. Durch diese Gesetzmäßigkeit wurde die Aussage möglich, daß jede Epoche ein in ihr selbst liegendes, ihm eigenes Raummaß besitze, das gegenüber früheren nach absoluten Maßen gemessen stets größer sei, auch wenn es relativ gesehen sich nicht von früheren Maßen unterscheide 29 . Trotz seiner Abkunft von Ratzel stellte das geopolitsche Gesetz der wachsenden Räume in gleicher Weise eine Kritik an der ratzelschen Grundkategorie der Gesetze des räumlichen landschaft; dann die Raumgröße, auf die man Bezug nimmt; endlich das Maß ihrer Veränderlichkeit." Ders., Maßstäbe der Monokultur, in: ZfGp, a. a. O., S. 29-35, ebd., S. 30-31. Albrecht Haushofer gelangt dort, S. 35, zu einem spezifischen Kriterium für Umweltzerstörung, nämlich die Nichtumkehrbarkeit einer Vereinseitigung: „Alle menschliche Kultur ist bis zu einem gewissen Grade Monokultur, wandelbar in der Zeit und im Raum; in der Weitung abhängig von den jeweiligen Raum Vorstellungen. Es gibt nur eine feste Unterscheidungsmöglichkeit: die Grenze, wo das Nichtumkehrbare, der Raubbau, beginnt. Aller Raubbau ist Spezialisierung, aber nicht alle Spezialisierung ist Raubbau, wenigstens nicht im Bereich der vom Menschen gestalteten Landschaft." 28 „Denn der Geopolitiker hat dem Staat gegenüber nicht die Aufgabe des Biologen, sondern die des Arztes, um dessen Organismus für gesund und den raumbezogenen Anforderungen des Lebens gewachsen zu erklären oder im Falle von Krankheitssymptomen Verhaltungsmaßnahmen anzuraten." Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 29. 29 Ratzel schreibt: „Von dem gegebenen Raum jedes Zeitalters hing es ab, wie weit Staaten wachsen mußten, um „Weltmächte" zu sein, d. h. die bekannte Erde politisch zu umspannen und zu beeinflussen." Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 322. Die Raummaße wie in der Antike (Rom) oder wie im indianischen Nordamerika seien jedoch heute nur noch ,ornamental', denn: „Wir können doch in jeder Zeit nur die Macht eine Weltmacht nennen, die in allen Teilen der bekannten Erde und besonders auch an allen entscheidenen Stellen durch eigenen Besitz machtvoll vertreten ist." Ebd., S. 322. Die bekannte Erde fallt heute aber mit der ganzen, wirklichen Erde zusammen. Als einzige aktuelle Weltmacht sieht Ratzel England an. In „Der Staat als Lebensform", a. a. O., S. 75, sagt Kjellön gelegentlich ,des Gesetzes der wachsenden Räume': „Da nun verschiedene Zeiten mit verschiedenem Maß messen, so wirkt dieses Gesetz in ungleicher Stärke." Ähnlich bei Ratzel, Politische Geographie, a. a. O., S. 328: „Da jedes Zeitalter aus seinen Raumgrößen das Maß seines Urteils schöpft und zugleich unter der Herrschaft des Gesetzes der Zunahme der politischen Räume steht, sehen wir in der Gegenwart nicht bloß Reiche von einer Ausdehnung, die dem Altertum fremd war, sondern noch weitergehende Raumtendenzen, die zu den Besonderheiten der neuesten Geschichte gehören."
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Wachstums der Staaten dar, wie der Begriff des Raumorganismus. Der wesentliche Gehalt dieser Kritik liegt in der Destruktion der Zentralität des Staates als Gegenstand und Träger dieses Gesetzes 30 .
3. Entgrenzung des ,Staates als Organismus' „Hier genügt es, zu konstatieren, daß alle Staaten bis in unsere Tage ein stetes Ausdehnungsbedürfnis zeigen... Seine tiefste Wurzel besteht in dem Drang der ausbeutenden Klasse nach Vermehrung des Ertrags ihrer Ausbeutung, die am ehesten zu erreichen ist durch Vermehrung der Zahl der Ausgebeuteten." Karl Kautsky31 Ratzels,Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten' stellen eine seiner Hauptthesen über den Prozeß der geschichtlichen Bewegung' dar32. Seine Überlegungen wurden, modifiziert zum ,Gesetz der wachsenden Räume', im klassischen geopolitischen Diskurs aufgegriffen 33 . In dieser Modifizierung lag eine Kritik am zentralen Paradigma, auf das bei Ratzel die Wachstumsgesetze bezogen waren, nämlich den Staat. Bei Ratzel fungierte als durchgängiges Hauptprädikat dieser Gesetzlichkeit der Staat. Der Staat blieb allerdings an ein Gefüge anderer Wachstums Vorgänge gebunden: es sei bedingt durch ein Anwachsen der Kultur und setze andererseits Wachstumserscheinungen der Völker voraus34. In der Triade von Staat, Kultur und Volk beansprucht dennoch der Staat die zentrale Rolle, weil die anderen Wachstumserscheinungen erst durch den Staat in Form gebracht und auf Dauer gestellt werden. Der Staat war ihm ein zugleich natürliches und sittliches Gebilde, das
30 In der Ersetzung der Zentralität des Staates durch den ,GIeichklang von Staat, Bewegung und Volk' sah Carl Schmitt den wesentlichen Fortschritt und die historische Notwendigkeit des von ihm begrüßten Nationalsozialismus, denn: „Der Staat im Sinn des staatlichen Beamten- und Behördentums verliert das Monopol des Politischen, das er sich im 17. und 18. Jahrhundert geschaffen hatte. (...) Heute kann das Politische nicht mehr vom Staate her, sondern muß der Staat vom Politischen her bestimmt werden." Ders., Staat, Bewegung, Volk, a. a. O., S. 15. 31 Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, a. a. O., S. 146. 32 Vgl., Friedrich Ratzel, Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, a. a. O.; Ders., Politische Geographie, a. a. O., 2. Abschnitt, Die geschichtliche Bewegung und das Wachstum der Staaten, S. 75-190, 3. Abschnitt, Die Grundgesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, S. 191-231; Ders., Anthropogeographie, 1. Teil, a. a. O., Dritter Abschnitt, Lage und Raum, S. 209-256; Ders., Der Staat und sein Boden, geographisch betrachtet, Leipzig 1896; Ders., Raum und Zeit in Geographie und Geologie, hrsg. von Paul Barth, Leipzig 1907,1. Teil, Der Raum, S. 1-32; Ders., Das Meer als Quelle der Völkergröße, a. a. O. 33 ,Dem Gesetz der wachsenden Räume' war gleichsam programmatisch der erste Beitrag im ersten Heft der ZfGp gewidmet. Vgl., Fritz Hesse, Das Gesetz der wachsenden Räume, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 1-4. 34 In seinem Aufsatz in Petermanns Mitteilungen gab er sieben Gesetze an, von denen das 3.-7. Gesetz sich unmittelbar auf den Staat beziehen, während das 1. Gesetz die Kultur als Bedingung und das 2. Gesetz Völkerwachstum als Voraussetzung formulierte. Vgl., Friedrich Ratzel, Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, a. a. O.
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jene auch schon bei Kjellen begegnende Kombination von Naturgesetzlichkeit und Gesetzgebung aus Freiheit vorstellt. Die Naturseite des Staates faßte Ratzel unter der Vorstellung eines Organismus zusammen, der sich aus ,einem Stück Menschheit und einem Stück Boden' zusammensetze 35 . Der Staat lasse sich aber nicht auf diese seine Körperlichkeit' reduzieren, sondern das Wesentliche an ihm sei seine Seele, seine Sittlichkeit, d. h. die selbstgesetzte und verwirklichte Staatsidee 36 . Ratzels Wachstumsbegriff ist hier doppelsinnig, wie der spätere im geopolitischen Diskurs: es gibt ein ursprüngliches und ein historisch gerichtetes Wachstum. Auf der Ebene der Familie bzw. Familienstammesstaates besagt, Wachstum' für Ratzel lediglich die Reproduktion und Vervielfältigung dieses einfachen Körpers, wobei letzteres ein Auseinanderlegen im Raum meint, einen Teilungsvorgang, der immer dann eintreten soll, wenn die Gruppe zu groß zu werden droht, um noch in der Form eines familiären Zusammenhangs fortbestehen zu können 37 : ein Teilungsvorgang auf der Stufe von Einzellern, unfähig, auf die höhere Stufe gegliederter Zellverbände zu gelangen. Von dieser ursprünglichen Form des Wachstums unterscheidet er die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten im Sinne einer linear ausgerichteten geschichtlichen Bewegung. Diese beginnt für Ratzel immer und nur mit Kolonisation und Eroberung von außen: „Die ersten Anregungen zum räumlichen Wachstum der Staaten werden von außen hineingetragen.,"38 Von außen kommen heißt für Ratzel: von der Peripherie her, wobei er unter Peripherie die meerzugewandten Küsten und die Steppengebiete am Rande der seßhaften Ackerbaukulturen verstand. Den wesentlichen Grund für diese Fähigkeit der peripherischen Völker sah Ratzel in ihrem an Naturbedingungen anschließendem weiten Raumbewußtsein. Die Frage nach ,inneren Entwicklungsgesetzen' war für Ratzel demgegenüber nicht wissenschaftlich, sondern lediglich geschichtsphilosophisch, weshalb er ihre Betrachtung aus der wissenschaftlichen Geographie ausschloß 39 . Nur die Gesetze äußerer Entwicklung bzw. geschichtlicher Bewegung, die er in wörtlichem Sinn als Bewegung im Raum, das heißt als 35 Friedrich Ratzel schrieb: „Wenn wir von einem Staate reden, meinen wir ... immer ein Stück Menschheit und ein menschliches Werk und zugleich ein Stück Boden. (...) So wird uns denn der Staat zu einem Organismus, in den ein bestimmter Teil der Erdoberfläche so mit eingeht, daß sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes und des Bodens zusammensetzen. (...) Der Staat ist nicht ein Organismus bloß weil er eine Verbindung des lebendigen Volkes mit dem starren Boden ist, sondern weil diese Verbindung sich durch Wechselwirkung so sehr befestigt, daß beide eins werden und nicht mehr auseinandergelöst werden können, ohne daß das Leben entflieht." Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 4-5. 36 Ähnlich Kjellin: „Wir können vor dem Wesensreichtum des tatsächlichen Staates nicht länger bei einem Entweder-Oder stehen bleiben: wir brauchen ein Sowohl-Als auch. Sowohl die sittliche Organisation des Staates als auch den natürlichen Organismus." Ders., Der Staat als Lebensform, a. a. 0 . , S. 34. 37 Über diese ursprüngliche Form des .Staates' sagt Ratzel: „Indem sie wachsen, entsteht nun auch kein größerer Staat aus dem kleineren, sondern eine Mehrzahl von Staaten von immer derselben Größe. Um eine gewohnte Größe nicht zu überschreiten, wird die Zahl der Menschen durch alle möglichen Mittel, zu denen die grausamsten Sitten gehören, in Schranken gehalten ..." Ders., Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, a. a. O., S. 105. 38 Ebd., S. 104. Ebd., S. 105, erläutert er: „Soweit unsre Kenntnis der Staaten der Naturvölker reicht, ist das Wachstum nie ohne fremden Einfluß fortgeschritten. (...) Alle Staaten Afrikas sind Eroberungs- und Kolonisationsstaaten." 39 Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten haben keine innere Bestimmung, die sie zur
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sinnlich wahrnehmbar und beschreibbar ansah, konnten Gegenstand der wissenschaftlichen Geographie sein40. Die Bedeutung dieser Trennung von .Innen' und .Außen' wird erkennbar an Karl Kautskys Behandlung des Staates, der an Ratzel anschloß41. Bei Kautsky steht die These vom Staat als Erobererstaat im Rahmen seiner Kritik an idealistischer Immanenzdialektik, einschließlich derjenigen von Marx und Engels. Innere Entwicklungsgesetze waren für ihn Unsinn, aus sich heraus geht nirgendwohin irgendetwas über: eine konkrete Dialektik habe von wirklichen Gegensätzen auszugehen, deren allgemeinste Form der Gegensatz von .Ich' und ,Umwelt' sei42. Wie Ratzel führte er den Staat auf solch einen Gegensatz zurück und zwar auf den von seßhaften und nomadisierenden Völkern 43 . Die Begehrlichkeit der letzteren nach dem Reichtum der ersteren, war für Kautsky der reelle Grund, aus dem die ersten Staaten hervorgingen 44 . Sah Ratzel durch den allgemeinen kulturellen Fortschritt das Prinzip der Staatsgründung durch Eroberung und Kolonisierung gerechtfertigt, so waren für Kautsky hingegen die wachsenden Räume der Staaten Ausdruck der Ausbeutung, wie sie von Beginn an das Wesen des Staates ausmache. Die ausbeutende Klasse könne den Ertrag ihrer Ausbeutung am leichtesten durch eine Erweiterung der Zahl der Auszubeutenden vermehren. Solange der Staat diesen Inhalt habe, gelte das Gesetz des räumlichen Wachstums der Staaten: „Wie dem industriellen Kapitalismus der Drang nach Ausdehnung des Großbetriebes, wohnt dem Staat der Drang nach Ausdehnung des Staatsgebietes unabänderlich inne, solange er ein Instrument der Klassenherrschaft einer ausbeutenden Klasse ist."45
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Existenz brächten. Hegel schrieb über .Entwicklung': „Das Prinzip der Entwicklung enthält das Weitere, das eine innere Bestimmung, eine an sich vorhandene Voraussetzung zugrunde liegt, die sich zur Existenz bringe. Diese formelle Bestimmung ist wesentlich der Geist, welcher die Weltgeschichte zu seinem Schauplatze, Eigentum und Felde seiner Verwirklichung hat." G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., Einleitung, S. 75. Vgl., Friedrich Ratzel, Raum und Zeit in Geographie und Geologie, a. a. O., S. 23ff; Ders., Politische Geographie, a. a. O., Zweiter Abschnitt, S. 75-190; Ders., Anthropogeographie, 1. Teil, a. a. O., Zweiter Abschnitt, S. 111-208. Vgl. zu folg., Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, a. a. O. Wie Ratzel kam Kautsky von Darwin her und entfernte sich wie dieser vom Darwinismus. Ebd., Bd. 1, S. 17 schreibt Karl Kautsky: „ ... Marx und Engels ... waren von Hegel ausgegangen, ich ging von Darwin aus. Dieser beschäftigte mich früher als Marx, die Entwicklung der Organismen früher als die der Oekonomie, der Kampf ums Dasein der Arten und Rassen früher als der Klassenkampf." Die beiden nachfolgenden Bände bezeichnen dann die gewonnene Distanz zu diesem Ausgangspunkt. Vgl., ebd., Bd. 1,1. Buch, Fünfter Abschnitt, Dialektik, S. 128-165. Vgl., ebd., Bd. 2, insbesondere Viertes Buch, Zweiter, Dritter und Fünfter Abschnitt, S. 61-146 und S. 262-323. Zu Ratzel heißt es ebd., S. 89: „Viele Hinweise, die mir für die Begründung meiner Auffassung sehr nützlich wurden, habe ich bei Fr. Ratzel gefunden, namentlich in seiner „Völkerkunde"." An anderer Stelle kritisiert er dann die mangelnde Reichweite , anthropogeographischer Erklärung' der Geschichte. Vgl., ebd., Bd. 1, Drittes Buch, Zweiter Abschnitt, S. 570-700. Ebd., Bd. 2, S. 94ff, geht es Kautsky um den Nachweis der ökonomischen Prozesse, aus denen das Bedürfnis nach solch einer Staatsbildung, also dauerhafter Ausbeutung, statt vereinzelter Ausplünderung entstehen konnte, um nicht in den Verdacht zu geraten, eine unhaltbare .Gewalttheorie' zu vertreten. Diese Erklärung führt ihn darauf, von regularisierten Handelsbeziehungen vorstaatlicher Art auszugehen. Ebd., Bd. 2, S. 146. Kjellen hatte, etwas unpräziser gefaßt, einen ähnlichen Vergleich: „Hier sehen
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Im Unterschied zu Kautsky erhielt im geopolitischen Diskurs, außer beim Kautsky-Schüler Georg E. Graf, das Proletariat keine besondere Funktion im Rahmen des Staatenwachstums zugewiesen 46 , schon gar nicht als der Anhalter dieses Prozesses 47 . Stattdessen wurde dort die hierarchische Trias Ratzels, mit ihrem Kulminationspunkt im Staat, bestritten. Aus den Gesetzen des räumlichen Wachstums der Staaten wird im geopolitischen Diskurs das Gesetz der wachsenden Räume, d. h.: nicht mehr im Staatenwachstum resümieren sich die Wachstumserscheinungen von Kultur und Volk, sondern der Staat resümiert sich mit diesen zusammen im Gesetz der wachsenden Räume, das zum eigentlichen Subjekt der Geschichte wird. Schon Ratzels quantitative Einteilung der gegenwärtigen Staaten nach ihrer räumlichen Größe in ,Kontinentale Staaten' (ab 5 Millionen qkm), .Mittlere Staaten' (0,2-5 Mill. qkm) und ,Kleine Staaten' (unter 0,2 Mill. qkm)48 wurde als zu grob und qualitativ als zu reduktionistisch kritisiert, gerade auch angesichts seiner These, daß der Staat eine Zusammensetzung von einem Stück Boden und einem Stück Menschheit sei49. Diese allein auf räumliche Daten gebrachte Einteilung ersetzte Maull durch eine Kombination von sechs Raumklassen (A-F) mit sechs Bevölkerungsklassen (I-VI) 50 . Eine, von Walter Vogel eingeführte und z. B. von Hennig aufgegriffene, alternative Differenzierung, unterschied die Staaten in pagus, territori-
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wir die Neigung des großen Raumes, sich ähnlich dem Großkapital auszudehnen, und zwar auf politischem Wege." Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 76. Gerade daß Graf eine Brücke zwischen .bürgerlicher' Geopolitik und Proletariat herstellen wollte, stellte den Aufhänger und die Veranlassung für Wittfogels Kritik dar: „Der als wirtschaftsgeographischer Schriftsteller und Leiter der Schule des Deutschen Metallarbeiterverbandes zu Dürenberg bekannte „linke" Sozialdemokrat Gg. E. Graf ist seit Jahren darum bemüht, innerhalb der deutschen Arbeiterschaft einer Wissenschaft Geltung zu verschaffen, die ... heute in Deutschland unter dem Namen „Geopolitik" in den Kreisen bürgerlicher Wissenschaft und Politik als die angeblich wissenschaftliche Grundlage einer sich modernisierenden bürgerlichen Staatskunst großes Ansehen genießt." Ders., Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus, a. a. O., S. 17. Bei Erwin Stölzl etwa führt die Kritik am Kapitalismus nicht zum Proletariat, sondern zu den „natürlichen Grundlagen der Integration" eines neuen Staates im Sinne Rudolph Smends, nämlich „Landschaft, Klima, Rasse". Ders., Staat im Werden, in: ZfGp, 9. Jg. 1932, S. 369-378, ebd., S. 372. Als Kritik formuliert er: „Nur unter der Voraussetzung eines wachsenden Raumes, freien, d. h. aneignenbaren Bodens, freigesetzter Arbeitskraft, funktioniert die kapitalistische Wirtschaft, gilt ihre Rationalität. (...) Es ist die ursprüngliche Ausbeutung anderer Wirtschaftsformen, insbesondere der Kolonialvölker ... und die Verwandlung sich selbst genügender Produzenten in auf die kapitalistische Verwertung angewiesene .freie Arbeiter', von der die weißen Industrievölker gelebt haben... Diese Ausdehnung neigt ihrem Ende zu, und das Problem der Wirtschaft im endlichen Raum tritt am schärfsten in Deutschland auf, das als erstes die politische Herrschaft über die Kolonien, über die Ausdehnungsgebiete, verloren hat." Ebd., S. 377-378. Vgl., Friedrich Ratzel, Politische Geographie, a. a. O., S. 326. Friedrich Ratzel hat zwar das Verhältnis von Raum und Bevölkerungszahl behandelt, ohne jedoch dabei zu einer systematischen Kombination zu gelangen, wie sie gleich bei Otto Maull begegnen wird. Vgl., Friedrich Ratzel, Politische Geographie, a. a. O., S. 382ff. Vgl., Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 118ff, besonders Tabelle S. 120-121. Die Bevölkerungsklassen sind: >100 Mill, 100-40 Mill., 40-10 Mill., 10-5 Mill., 5-1 Mill., 5 Mill. qkm, 5-1 Mill. qkm, 1-0,5 Mill. qkm, 0,5-0,2 Mill. qkm, 0,2-0,05 Mill. qkm, 100 Mill. ist, A die Raumklasse >5 Mill. qkm. Nicht alle möglichen Kombinationen beider Klassen sind auch besetzt.
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um, regnum und imperium51. Entscheidend ist, daß solche kategorialen Verfeinerungen einher gingen mit einer Verselbständigung von Bevölkerungswachstum, Nationenwachstum und Anwachsen der Kultur52. So verwandelte Maull Bevölkerungswachstum und Kulturfortschritt, bei Ratzel Bedingung und Voraussetzung für das Staatenwachstum, in den ,Sinn der geschichtlichen Entwicklung'. In seiner Erörterung des Begriffs Lebensraum vindiziert Maull der Geschichte eine Teleologie: der Sinn der Geschichte bestehe in einer wachsenden Lebensdichte der Menschen auf der Erde und in einer Transformation der Erde als Lebensraum in eine Ökumene für den Menschen 53 . Aus dem Naturraum Erde soll, so das Ziel der Geschichte, Kulturraum werden und alle Räume der Erde, in denen der Mensch überhaupt leben kann, soll er ausfüllen54. Ähnlich argumentierte zehn Jahre zuvor Fritz Hesse in der ZfGp 55 . Die allgemeine Geschichtstendenz sei das Wachstum der Menschenzahl und die wachsende Größe der vom Menschen beherrschten Räume 56 . Erst in der konkreten Geschichtsdialektik kommt Hesse dann auf den Staat zu sprechen, nicht aber als Kulminationspunkt, sondern als Funktion57. Auf diese .einfache Definition' des Gesetzes der wachsenden Räume rekurriert 1941 Obst in einem Vortrag über die ,Großraum-Idee' 58 . Eine unvoreingenommene Menschheitsbetrachtung zeige die wachsende Menschenzahl und Zivilisation als Grundtendenz der Geschichte, als deren konkreter Ausdruck das Streben nach Erweiterung des politischen 51 Vgl., Richard Hennig, Geopolitik, a. a. O. S. lOlff. Otto Maull greift teilweise auf diese Einteilung zurück, ergänzt und erweitert sie aber. Vgl., Otto Maull, Politische Geographie, a. a. O., S. 645ff. 52 Zur Unterscheidung von Nationen- und Staatenwachstum vgl. etwa, Robert Sieger, Unterschiede zwischen dem Wachstum der Staaten und dem der Nationen, in: ZfGp, 1. Jg., 1924, S. 101-111. 53 Vgl., Otto Maull, Die Erde als Lebensraum, a. a. O. Es heißt ebd., S. 33: „Der Sinn dieser ganzen Entwicklung ist die Fußfassung des Menschen im Lebensraum, d. h. die Entfaltung des Lebensraumes im weiteren Sinne zur Ökumene oder die Ausbreitung des Lebens in dem dafür überhaupt in Frage kommenden, möglichen Raum. Sie ist nicht abgeschlossen, sondern schreitet - wie der Rückblick lehrt - zum Teil stetig, zum Teil stoßweise, sowohl Verstärkung der Lebensdichte, wie Erweiterung der Ökumene bewirkend, fort." 54 Dazu gehört dann auch die Eroberung des ,Luftozeans' als Bewegungsraum. Maull endigt seine Erörterung ebd., S. 34, mit dem Satz: „In höherem Maße denn je rückt damit gegenwärtig die Entwicklung ihrem Ziel näher: die Ökumene überhaupt gleichzusetzen dem Lebensraum im weitesten Sinne, dem stolzesten, das sich der Mensch stecken kann." 55 Fritz Hesse, Das Gesetz der wachsenden Räume, a. a. O.; F. Hesse war Politologe und anfänglich Schriftleiter der „Zeitschrift für Geopolitik". 56 Ebd., S. 1, sagt Hesse: „Das Werden und Vergehen der Geschichte zeigt bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen eine gleiche Erscheinung: Das Wachstum der Menschen an Zahl und damit zugleich der Größe der von ihnen beherrrschten Räume." 57 Und zwar als Funktion des Gegeneinanderwirkens von ,menschlichem Willen' und den .ewigen Werten der Erde'. Aus diesem Gegeneinander entsteht für Hesse das Politische, denn: „Alle im Räume wirkende Kraft ist politisch." Ebd., S. 4. Dieses Politische verkörpert sich dann in verschiedenen Organisationsformen, in Staaten, Reichen etc. Bei ihm lautet das Telos: „Alle Geschichte der auf Macht und Willen gegründeten Staaten führt so über das Wechselspiel von Erfolgen und Mißerfolgen, über die stetig fortschreitende Erfüllung der Wohngebiete zur Teilung der Welt in die natürlichen Erdteilstaaten der Gegenwart, unter allmählichem Zusammenschluß der Einzelstaaten zu den Weltstaatenverbänden der Zukunft." Ebd., S. 4. Entscheidend ist, wie noch zu sehen sein wird, der Plural, Weltstaaten verbände'. 58 Vgl., Erich Obst, Die Großraum-Idee, a. a. O., S. 5.
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Lebensraumes entstehe 59 . Während aber Ratzel seine Betrachtungen über das Politische immer wieder in den Staat einmünden ließ, ist bei Obst wie bei Hesse das Politische vom Staat .emanzipiert' 60 . Die tragende, politische Großraumidee der Gegenwart und Zukunft besteht für Obst in der Ausbildung von , Großraum-Gebilden' b z w . , Großraum-B locken', in denen die .einzelnen Nationalstaaten' „ ... miteinander gruppenweise zu einer Gemeinschaft zusammengefaßt werden und einen Wirtschaftsblock kontinentaler Dimensionen mit raumeigenen Tropen bilden" 61 sollen: Blockbildung statt Großstaatenbildung62, Gesetz der wachsenden Räume statt Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, markieren den Abstand zwischen der ratzelschen politischen Geographie und der klassischen Geopolitik63. Insofern stellte schon Jäckhs Adaptation des Begriffs Geopolitik in seinen Thesen über ,Mitteleuropa als Organismus' einen exemplarischen Fall für die Grundstruktur der klassi-
59 Ebd., S. 5, sagt Obst: „Das ,Gesetz der wachsenden Räume' ... hat seit der Urzeit der Menschheit Gültigkeit. Es besagt ganz einfach, daß wir in der Menschheitsentwicklung allenthalben mit wachsender Menschenzahl und Zivilisation ein Streben nach Erweiterung des politischen Lebensraumes feststellen können." 60 Albrecht Haushofer wollte als Grundbegriff für die Politische Geographie und die Geopolitik den der .Politischen Lebensform'. Vgl., Ders., Allgemeine Politische Geographie und Geopolitik, a. a. O., S. 22ff, „Begriff der Politischen Lebensform". An Kjellens staatsbezogener Definition der Geopolitik ,als die Lehre vom Staat als geographischen Organismus', kritisierte er zuvor: „Zudem engt sie den Bereich der Betrachtung auf eine politische Lebensform ein: den Staat - ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Staat nur eine unter vielen Lebensformen ist." Ebd., S. 17. 61 Ebd., S. 18. 62 1951 kehrte dann Obst zum Staatsbegriff zurück, wenn er die Geopolitik ,nur als Teil einer umfassenden Staatslehre' definierte. Das stellte ihn vor das Problem, wie er die verschiedenen Größengruppen der Staaten bezeichnen sollte. Er griff zu Unterschieden wie,Riesen-oder Erdteilstaaten' (mehr als 7 Mill. qkm) und ,Großraumstaaten' (1-3 Mill. qkm). Am Ende kommt er aber darauf zurück, was er 1941 als .Großraumidee als tragenden Gedanken der Zukunft' bezeichnet hatte: jetzt heißt sie bloß, ganz alliiert, „Unionsgedanke" und ist gekoppelt mit der schmittschen Idee eines .InterventionsVerbotes raumfremder Mächte': „In einer gewiß nicht utopisch fernen Zeit könnte nach unserem Dafürhalten eine politische Weltkarte eine Großgliederung etwa folgender Art enthüllen: 1. Panamerikanische Union, 2. Eurafrikanische Union, 3. Sowjetrussische Union, 4. Ostasiatische Union, 5. Südasiatische Union (Vorderindien, Hinterindien und Indonesien), 6. Australisch-Neuseeländische Union (einschließlich der pazifischen Inselflur). Jede dieser Unionen richtet sich in ihrem Bereich nach der ihr gemäß erscheinenden Staats- und Gesellschaftsform ein, ohne daß eine der anderen Unionen sich einmischt." Erich Obst, Geopolitik, a. a. O., S. 37. 63 Gewiß läßt sich das Zurücktreten des Staatlichen teilweise darauf zurückfuhren, daß nach und durch Versailles eine Beibehaltung der ratzelschen Thesen paradoxe Konsequenzen gehabt hätte. Ratzel hatte vor dem Hintergrund der Gründung des Deutschen Reiches und einer nachholenden Kolonialpolitik geschrieben. Die Zentralität des Staates hatte auch den konkreten Inhalt, daß die nicht unbeträchtlichen nationalen Minderheiten im Deutschen Reich, erst recht in der Doppelmonarchie, zweitrangig wurden. Durch Versailles kommt es zu einer fast völligen Umkehrung. Während das Deutsche Reich wie Österreich weitgehend zu ,ethnisch' reinen Nationalstaaten werden, blieben nicht unerhebliche deutsche Minderheiten in anderen europäischen Staaten zurück. Den Staat weiterhin als Kulminationspunkt zu behaupten, würde bedeuten, keinen nachhaltigen Grund zu haben, Grenzrevisionen zu fordern. Die deutschen Minderheiten hätten sich in ihr jeweiliges Staatsgebilde einzufügen. Was zuvor legitimieren konnte, andere Nationalitäten zu dominieren, wird unter veränderten Bedingungen zur Fessel einer national gestimmten Kritik an Versailles.
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sehen, deutschen Geopolitik dar, denn dieses Mitteleuropa sollte ein organisch gegliedertes, darin außerordentlich verbindliches, politisches und kulturelles Großgebilde und doch nicht Staat sein64. Mit dem Nebeneinandertreten von Staat, Kultur, Volk oder Nation gewinnt das Begriffsbild des Organismus an sich den Charakter, zu einem wesentlichen Bindeglied im geopolitischen Diskurs zu werden. Wie und ob die je verwandten Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen seien, wird durchaus heterogen, nicht aber, daß sie unter das Primat des Begriffsbildes ,Organismus' zu bringen sind. Daraus resultiert ein gewisser inflationärer Gebrauch dieser Vorstellung, bis hin zu der Formulierung des nationalsozialistischen Geopolitikers Walther Jantzen, der vom „organischen Kulturorganismus"65 sprach. Mit der Dezentrierung des Staates einher geht die Erweiterung der Prädikate, die bei dem Gesetz der wachsenden Räume als zentrale zu berücksichtigen seien. Michael Hesch ersetzte z. B. in den ,Raumüberwindenden Mächten' den Begriff der Kultur durch den der Rasse66. Hatte Ratzel zwischen ,Bewegungsgebieten' (Steppe, Meer) und .Beharrungsgebieten' (Wald, Ackerland) und den daraus entstehenden Lebensweisen und Bewußtseinsformen unterschieden, so behauptet stattdessen Hesch eine Zweiteilung der Menschengattung in ,raumbezwingende' und in ,raumgebundende' Rassen. Aus diesen Massedifferenzen' gingen für Hesch erst die verschiedenen Lebensweisen hervor. Aber vor allem ergab sich für ihn daraus, da Raumüberwindung und Kulturfortschritt zusammen sich vollzögen, das natürliche Recht der raumüberwindenden, namentlich der .germanischen Rasse', die ,raumverharrenden Rassen' zu unterwerfen und auszubeuten67. Eine ähnliche Argumentation führte J. U. Folkers 1943 in seiner Schrift über „Das Gesetz der wachsenden Räume" 68 . Er weicht dabei insofern von Hesch ab, als er eine Mittlerebene einschiebt, die er gegen die oben behandelten Thesen von Boeckmann richtet69. Folkers geht wie Hesch von besonderen, raumüberwindenden ,Rassen' bzw.,Rasseeigenschaften' aus. Er gesteht Boeckmann zu, daß die malaio-polynesischen ähnlich den germanischen Völkern über diese raumüberwindenden Rasseeigenschaften verfügt hätten. Dennoch seien die MalaioPolynesier historisch irrelevant geblieben, weil sie nicht über die rassische Veranlagung ver64 Vgl., Ernst Jäckh, „Mitteleuropa" als Organismus, a. a. O.. 65 Walther Jantzen, Geopolitik als Unterrichtsgrundsatz in der Schulerdkunde, Heidelberg, Berlin, Magdeburg 1939 (= SzG, H. 15), S. 24. 66 Michael Hesch, Rasse und Raum, in: Raumüberwindende Mächte, a. a. O., S. 35-62. 67 Hesch behauptet allerdings ebd., S. 62 das Gegenteil: „Eine Wertung von Kulturen selbst ist damit nicht ausgesprochen." Instruktiv für seine tatsächliche Aussage ist aber, wie er sich zu den .Südseerassen' äußert. Er trennt zwischen australischer, melanesischer und polynesischer. Die australische sei die urtümlichste und kulturell niedrigste. Die darüber gelagerte melanesische Schicht „ ... zeigt wieder deutlich die Überlegenheit des Küstentypus." Ebd., S. 53. Dieser wiederum überlegen sei die raumbezwingendste Rasse in der Südsee, die Polynesier, deren „große Europäerähnlichkeit" er „rassengeschichtlich" auf einen Ursprung im Iran zurückführt: „Dieser machte die Polynesier zum Herrschervolk der Südsee, dessen Kultur die Europäer mit Bewunderung erfüllte." Ebd., S. 54. Diese drei .Rasseschichten' entsprechen ebd., S. 53, ebensolchen Kulturschichten. Die Polynesier als höchster Kulturschicht aber waren gegenüber der .schöpferischen Überlegenheit' der weißen Rasse selbst machtlos, die sich dort als noch höhere Kultur durchsetzte. Hesch's Behauptung fehlender Wertung ist also bloße Phrase. 68 Vgl., Johann Ulrich Folkers, Das Gesetz der wachsenden Räume, a. a. O. 69 Vgl., ebd., S. 16ff.
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fügen, die Mittel zur technischen Raumbewältigung zu entwickeln, also Verkehr und Handel voranzutreiben. Dazu habe nur die ,weiße Rasse' die Veranlagung gehabt, nur sie habe das erschaffen, was er die , weiße Technik' nennt70. Aus der Kombination beider Veranlagungen: Raumüberwindung und Technikbegabung, folgert er dann die Legitimität der Herrschaft der ,weißen', insbesondere der .germanischen Rasse' 71 . Einher damit geht bei Folkers eine Kritik an der zentralen Bedeutung des Staates für Ratzel, in der sich dessen Befangenheit im staatsfixierten Denken des 19. Jahrhunderts dokumentiere: „Die Überbewertung des .Staates', wie sie das wilhelminische Zeitalter in Anknüpfung an freilich sehr stark vergröberte und veräußerlichte Ideen Hegels pflegte, ist inzwischen überwunden worden." 72 Bei Heinrich Schmitthenner schließlich werden die Räume selbst zum unmittelbaren Verursacher ihres eigenen Gesetzes: das Gesetz der wachsenden Räume führe zurück auf den Unterschied von ,aktiven' und,passiven' Räumen73. Trotz der Disparatheit und der auseinanderstrebenden Argumentationen, die durch die Dezentrierung des Staatsbegriffs, durch das Nebeneinandertreten von Staat, Kultur und Volk und die Erweiterung um Großraumgebilde oder Rasse dem klassischen geopolitischen Diskurs zu eigen sind, bleibt in ihm eine Festigkeit des Zusammenhangs gewahrt. Diese Festigkeit gründet in einem spezifischen Zusammenhang zwischen der geopolitischen Organismusvorstellung, dem Gesetz der wachsenden Räume und dem Gegensatz von Land und Meer. Vermittelt sind diese drei Seiten über die Kategorie des ,Raumbewußtseins', die schon bei Ratzel eine zentrale Funktion bei der Erklärung der Wachstumsgesetze hatte. Kants Begriff des .geographischen Horizonts' aufgreifend, formulierte Ratzel mit der „Erweiterung des geographischen Horizontes" das erste Gesetz des räumlichen Wachstums der Staaten: „1. Der Raum der Staaten wächst mit der Kultur. - Die Erweiterung des geographischen Horizontes, eine Frucht der körperlichen und geistigen Anstrengungen zahlloser Geschlechter, stellte dem räumlichen Wachstum der Völker immer neue Gebiete zur Verfügung. Diese dann politisch zu bewältigen, sie zu verschmelzen und zusammenzuhalten, verlangte von neuem Kräfte, die nur mit der Kultur und durch die Kultur sich langsam entwickeln konnten." 74
70 Ebd., S. 26, heißt es: „Dennoch hat für die Entwicklung der Raumordnung auf der Erde der durch keine Mühsal noch Gefahr zähmbare Weitenwille dieser ,echtesten Meermenschen', wie Boeckmann die Malaien und Polynesie nennt, nicht viel bedeutet neben der raumbezwingenden Leistung der nordischen Rasse ... . (...) Die Überlegenheit dieser weißen Völker in der Raumbewältigung beruht letzten Endes auf einer ganz spezifischen Schöpfung der nordischen Rasse: der, weißen' Technik." 71 Denn die Technik sei selbst nichts anderes als Ausdruck des .unbezähmbaren Willens zur Herrschaft über die Erde' und eine .Funktion der Seelenhaltung des Nordischen Menschen': er muß herrschen, das entspricht seiner Natur: „Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Entwicklung der Technik ihre Impulse nicht aus dem Bestreben nach .Komfort', nach bequemerem Leben und reichlicheren Genüssen, empfangen hat, sondern aus dem faustischen Drange, in das Innere der Natur einzudringen, und dem unbezähmbaren Willen zur Herrschaft über die Erde und alles, was darinnen ist. Daß die moderne Technik eine Funktion der Seelenhaltung des nordischen Menschen ist, zeigt schon ihre Herkunft. Diese Technik ist es, die nunmehr ihre geschichtlich-politische Auswirkung auf die Raumordnung der Erde in der Linie des Gesetzes der wachsenden Räume auch dem blödesten Auge sichtbar gemacht hat." Ebd., S. 26. 72 Ebd., S. 7. Auch Kjellön wirft er dann eine Überschätzung des Staates vor. 73 Vgl., Heinrich Schmitthenner, Lebensräume im Kampf der Kulturen, Leipzig 1938, S. 10-17. 74 Friedrich Ratzel, Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, a. a. O., S. 98.
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Mit den , Anstrengungen zahlloser Geschlechter' meinte Ratzel vor allem Handel und Verkehr, deren Erweiterung ihm die Vorbedingung des Staatenwachstums war75. Handel und Verkehr stehen bei Ratzel andererseits auch im Kontext der Wachstumserscheinugen der Völker, indem ihre Intensivierung eine Verdichtung und Integration der Völker bewirke, eine Häufung der Kontakte und Vermehrung der Bedürfnisse, schließlich eine Bevölkerungsvermehrung, die wiederum stimulierend zurückwirkt. Diese „mit der Kultur zunehmende Volkszahl" 7 6 treibe schließlich „allein schon durch ihr Raumbedürfnis zur Expansion" 77 . Handel, Verkehr und Erweiterung des geographischen Horizontes führen also zurück auf die oben exponierten ,Ontologien des Landes und des Meeres' einerseits, und dem Primat des Anstoßes des Staatenwachstums von Außen andererseits. Handel und Verkehr standen in diesen Ontologien in einem ausgezeichneten Verhältnis zum Meer und, mit Abstrichen, zu Steppe und Wüste. Dorthin verlegte Ratzel auch das , Außen', aus dem die ersten, gewaltsamen Anstöße des Staatenwachstums erstehen sollten. Um zu erklären, wieso sich gerade in der Auseinandersetzung mit Meer und Steppe die Fähigkeit ausbilden können soll, andere Menschengruppen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, rekurrierte Ratzel auf die prinzipielle Überlegenheit eines weiten Raumbewußtseins gegenüber einem engen Raumbewußtseins. Das weiteste Raumbewußtsein war in der Auseinandersetzung mit dem Meer zu gewinnen (zugleich der ideale Weg für Handel und Verkehr), denn nur hier war der größtmögliche, geographische Horizont zu erreichen, nämlich eine geographische Orientierung über die wirkliche Beschaffenheit der ganzen Erde. Wie dieser Diskurs nicht zuletzt einer über das Verhältnis zwischen England und Deutschland war und wie er in der klassischen Geopolitik geführt wurde, hatte ich schon gezeigt. Symptomatisch für diesen prinzipiellen Zusammenhang ist es, wenn K. Haushofer in seinem Beitrag für ein .Handbuch für Beamte im nationalsozialistischen Staat' im Kapitel „Warnungen des Raumbewußtseins" als erstes auf den,Küstenverlust der Deutschen' zu sprechen kommt. 78 In welchem Verhältnis steht aber die Land-Meer/Raumbewußtseins-Argumentation zur Organismus Vorstellung? Erkennbar wird es im Vergleich zu Kants .geographischer Orientierung'. Kant hatte die .geographische Orientierung' als die Grundform der .Orientierung im Denken' eingeführt, ohne die die .mathematische und die logische Orientierung' nicht mög-
75 Ebd., S. 101 heißt es: ,Jiandel und Verkehr eilen der Politik weit voraus, die ihnen auf gemeinsamen Wegen folgt und nie scharf von ihnen zu trennen ist. Der friedliche Verkehr ist die Vorbedingung des Wachstums der Staaten." 76 Ebd., S. 98. 77 Ebd., S. 98. 78 Vgl., Karl Haushofer, Geopolitische Grundlagen, (Quelle: Die Verwaltungs-Akademie, Ein Handbuch für den Beamten im nationalsozialistischen Staat, Bd. 1, Berlin 1934 , ab Nr. 54 maschinenschriftliches Manuskript), in: Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer, a. a. O., S. 558-606, ebd., S. 595ff. Bei Josef März heißt es: „Der Unterschied zwischen Land- und Seemächten liegt in der Verschiedenheit der Raumauffassung und Raumbewältigung begründet." Ders., Landmächte und Seemächte, Berlin 1928 ( = WpB, Grundlegende Reihe, Bd. 10), S. 8. Das kontinentalbestimmte Weltbild ziele auf Zusammenhang, Zentralisierung, Schematisierung und direkte Macht, während die Seemacht sich mit Stützpunkten, Dezentralisierung, Differenzierung und indirekter Machtausübung begnüge. Vgl., ebd., S. 8ff.
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lieh seien79. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, daß die geographische Orientierung nicht von der konkreten Beschaffenheit des menschlichen Körpers getrennt werden kann80. Ein Nachklang davon liegt noch in der Formulierung Ratzels von der Erweiterung des geographischen Horizontes als einer .Frucht der körperlichen und geistigen Anstrengungen zahlloser Geschlechter'. Doch das Wort .zahllos' deutet schon auf die nachhaltige Differenz hin, die sich in der deutschen Geopolitik, in der wesentlich allgemeiner vom Raumbewußtsein die Rede war, als vom geographischen Horizont, noch verstärkte81. Geographischer Horizont und Raumbewußtsein wurden bei Ratzel und im geopolitischen Diskurs vor allem zu Bestimmungen ungreifbarer Kollektiva (Volk, Staat, Kultur, Rasse u.ä.), die der konkreten, ,fleischlichen' Körperlichkeit bei Kant entbehrten. Gerade weil diese Kollektiva aber selbst als Organismen aufgefaßt wurden, brauchte die Frage, wie vom geographischen Horizont einzelner Menschen zu solchen Kollektiva aufzusteigen sei, gar nicht gestellt werden: der Leviathan, als Organismus, hat unmittelbar Bewußtsein, und seine Stärke im Vergleich zu anderen Leviathanen sollte nicht zuletzt aus der Weite seines Raumbewußtseins resultieren. Das Raumbewußtsein des deutschen Leviathans zu schulen, damit er im Vergleich mit anderen besser als 1918 bestehe, haben die Herausgeber der ZfGp als Aufgabe der deutschen Geopolitik angesehen. Während aber noch bei Ratzel dieser Leviathan der Staat war, hörte er in der klassischen Geopolitik auf, mit dem deutschen Staat identisch zu sein, und wurde ersetzbar durch das Volk, die Rasse, die Kultur oder durch Megaleviathane wie Mitteleuropa, Eurafrika und andere Großraumgebilde. Der geopolitische Diskurs wurde so zusammengehalten von einem konkretistischen Organismusbegriff, der gerade, weil diesem Organismus Bewußtsein zugerechnet wurde, offen war für analogische, bildliche Argumentation. Dieses Begriffsbildhafte des Organismus wurde dabei zugleich in besonderer Weise auf Räumliches bezogen, auf Raumbewußtsein und auf Land und Meer. In dieser Kombination besteht das Besondere der deutschen, geopolitschen Organismusvorstellung. Doch durch dieses Besondere stand der geopolitische 79 Vgl., Immanuel Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: KW, Bd. 5,1977, S. 267-283. 80 Nämlich von der rechten und linken Hand: „Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. (...) Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus einer Unterschiedes an meinem eigenen Subjekts, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen. (...) Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund;(...) Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientieren kann ich nun erweitern, und darunter verstehen: sich in einem gegebenen Raum überhaupt, mithin bloß mathematisch, orientieren. (...) Endlich kann ich diesen Begriff noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Räume, d.i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d. i. logisch zu orientieren." Ebd., S. 269-270. 81 Vgl. zum Raumbewußtsein z. B.: Josef März, Seeherrschaft, Leipzig, Berlin 1937 (= MuE, H. 7), S. 50ff; Rupert von Schumacher, Siedlung und Machtpolitik des Auslandes, Leipzig, Berlin 1937, (= MuE, H. 5), S. 5; Ders., Zur Theorie des Raumes, in: ZfGp, 11. Jg., 1934, S. 573-580; Ders., Zur Theorie der Raumdarstellung, in: ZfGp, 11. Jg., 1934, S. 635-652; Ders., Zur Theorie der Raumstrategie, in: ZfGp, 11. Jg., 1934, S. 779-788; Karl Pintschovius, Das Problem des sozialen Raumes, Berlin-Grunewald 1934, (= BZfGp, H. 12), S. 71ff; Karl Haushofer, Staat, Raum und Selbstbestimmung, a. a. O., S. 70ff; Johann Ulrich Folkers, Geopolitische Geschichtslehre und Volkserziehung, a. a. O., S. 50f; Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 30ff; Erich Obst, Das Problem Europa, a. a. O., S.58ff.
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Diskurs in einem Zusammenhang mit einem allgemeineren Diskurs über den Organismus, von dem aus ein spezifischer, politischer Sinn der Organismusvorstellung erkennbar wird, der auch den geopolitischen Diskurs strukturierte.
4. Mechanismus, Organismus Die spezifische Verbindung von Raum und Organismus in Anwendung auf den .Staat' bzw. allgemeiner auf .politische Lebensformen', bezeichnet lediglich ein gemeinsames Moment der Organismusvorstellung im geopolitischen Diskurs. Als gemeinsames, diskursverbindendes Element ist es allerdings dasjenige, wodurch die klassische Geopolitik als ein besonderer Diskurs innerhalb eines allgemeiner geführten Diskurses über den Staat bzw. die politische Gemeinschaft als Organismus unterscheidbar ist. Die geopolitische Organismusvorstellung teilte mit einer Reihe anders begründeter Organismusdiskurse eine F o r m der Oppositionenbildung, in die ein politisch-polemischer Sinn eingeschlossen war. In typischer Weise wurde in der klassischen Geopolitik dem Organischen und dem Organismus, als M a ß und W e s e n s b e s t i m m u n g politischer Vergemeinschaftung, das Mechanische und der Mechanismus als Anti-Maß opponiert. Für Kjellen beruhte „der Standpunkt des Liberalismus ... auf einer rein mechanischen, von der Wissenschaft überwundenen Anschauung" 8 2 . In den Auseinandersetzungen um eine adäquate, geopolitische Organismusvorstellung warfen später nationalsozialistische Geopolitiker Grabowsky vor, einen längst überwundenen ,mechanistisch-liberalistisch-individualistischen' Standpunkt zu vertreten 83 . Schon an diesen Formulierungen wird erkennbar, daß die Entgegensetzung von Mechanismus und Organismus politische Implikationen enthielt. Schmitt allerdings interpretierte sie als einen Ausdruck des Apolitischen der sogenannten politischen Romantik'. Ihm fällt auf, daß diese Opposition eine systematische Reihe mit anderen Gegensatzpaaren bildet, eine Art vorfabriziertes Argumentationsschema, das entfaltet wird, sowie auf eine Erscheinung nur eines der Glieder der Reihe anwendbar scheint: „In der Umschreibung der zustimmenden und ablehnenden Affekte entwickelt sich eine eigenartige romantische Produktivität, eine Quasi-Argumentation, die eine besondere Technik hat. (...) Das Positive ist das Lebendige, das Negative natürlich das Tote. Das Lebendige ist organisch, das Tote mechanisch (oder auch, bei Schlegel, dynamisch) und anorgisch (anorganisch). Das Organische ist natürlich das Echte, das Mechanische Surrogat usw." 8 4
82 Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 73 u.ö. 83 Vgl z. B., Max Baumann, Raum und Staat, a. a. O. Das ging umstandslos in eine Kritik am Marxismus über, der für Baumann 1932 der .größte Gegenspieler der Geopolitik' war: „Wer die geopolitische Fragestellung hat, steht in der Dialektik zwischen Kräften des Raumes und Mächten des naturhaften Seins auf der einen, den Wirkungsmöglichkeiten des Willens auf der anderen Seite. Organisch hat man eine solche auf Grund und Gestalt gehende Betrachtungsweise genannt. Ihr großer Gegenspieler ist der Marxismus, eine im Vorzeichen abweichende Spielart des Liberalismus." Ders., Wittfogel und Battaglia, Konservativismus, Romantik und Marxismus in ihrem Verhältnis zur Geopolitik, in: ZfGp, 9. Jg., 1932, S. 577-581, ebd., S. 577. 84 Carl Schmitt, Politische Romantik, München, (1919), Leipzig 21925, S. 143-144.
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Anhand von Adam Müller und Friedrich Schlegel meinte Schmitt folgende Reihe aufzustellen zu können, wobei er allerdings, im Gegensatz zu seinen vorherigen Ausführungen, ,organisch' und,mechanisch' nicht auf die gleiche Ebene setzt: Positiv
Negativ
Lebendig organisch echt oder wahr dauernd erhaltend historisch fest friedlich legitim christlich ständisch-korporativ
dynamisch-mechanisch-mathematisch, starr anorganisch Surrogat (Schein, Betrug) augenblicklich zerstörend willkürlich chaotisch parteiisch, polemisch revolutionär heidnisch absolutistisch-zentralistisch85
Unter Rückgriff auf solche Reihen schreiben sich Texte gleichsam von selbst. Schmitt beließ es dabei, eine einzelne Reihe, zudem unter Verschmelzung zweier verschiedener Autoren, zu bilden, um im Gewände der Vergangenheit gegen die politische Kultur seiner Gegenwart zu polemisieren. Demgegenüber sollen in der Folge solche Reihen, in denen die Opposition von Organismus und Mechanismus bzw. von organisch und mechanisch eine funktionale Stelle einnimmt, für den Zeitraum, zu dem auch die klassische Geopolitik in Deutschland gehört, aufgezeigt werden, um die deutsche Geopolitik in einer allgemeineren Form sich selbst strukturierender Diskurse, solcher,Quasi-Argumentationen', zu verorten. Der konkreten Geschichte der deutschen Geopolitik gemäß, die in den 1. Weltkrieg zurückführt, werde ich von intellektuellen Sinnstiftungen ausgehen, wie sie als ,Ideen von 1914' formuliert wurden. Kjellen hatte das Schlagwort der ,Ideen von 1914' mit einer kleinen Kriegsschrift popularisiert86, wobei er von Johann Plenge ausging, der die Urheberschaft dieser Formel für sich reklamierte87, und von Werner Sombarts Schrift .Händler und Helden' 88 . Von Letzterer werde ich ausgehen. Sie eignet sich gerade als Ausgangspunkt, weil bei Sombart die beiden Momente abwesend sind, die den geopolitischen Diskurs in seiner Besonderheit charakterisieren: er kommt in seiner Erklärung des welthistorischen Gegensatzes, der den 1. Weltkrieg verursacht habe, ohne einen Rekurs auf den Raum und ohne eine biologisch verstandene Organismusvorstellung aus. Seine Organismusvorstellung 85 Ebd., S. 144. 86 Vgl., Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O. Vgl. z. B. die Beiträge von: Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914, Rede, gehalten in der „Deutschen Gesellschaft 1914", in: Neue Rundschau, 27. Jg. der freien Bühne, 1916, Bd. 1, S. 605-624; Ders., Die deutsche Idee von der Freiheit, in: Ebd., S. 50-75; Friedrich Meinecke, Probleme des Weltkriegs, a. a. O. 87 Vgl., Johann Plenge, 1789 und 1914, Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916. Ebd., S. 4, sagt Plenge: „Wer die kleine Schrift von R. Kjellen kennt, in der der geistesverwandte Schwede „die Ideen von 1914" von mir aufgenommen hat... ." Johann Plenge meint seine Schrift: „Der Krieg und die Volkswirtschaft", Münster 1915. 88 Vgl., Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. O.
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will er ausdrücklich als .geistig' interpretiert wissen 89 . Um das Geistige zu unterstreichen spricht Sombart wiederholt von ,objektiv-organisch'. Was aber soll dieser Begriff mit dem 1. Weltkrieg zu tun haben? Er soll, in seiner Entgegensetzung zum ,Mechanischen', nicht weniger erklären als seinen welthistorischen Sinn. Sombart opponiert zwei idealtypische Sozialfiguren: den Händler und den Helden, mit je eigenen Lebensweisen, Lebensidealen und konträren Auffassungen von Volk, Vaterland und Staat. Repräsentiert werden sie durch das englische und durch das deutsche Volk. Der Krieg ist für Sombart ein Entscheidungskampf zwischen dem englischen Händlertum und dem deutschen Heldentum, zwischen englischer Händlermentalität und deutscher Heldengesinnung. Worin jedoch besteht dieser Gegensatz? Die deutsche, heldische Gesinnung, die deutsche Vaterlandsidee, die deutsche Philosophie und die deutsche Staatsidee seien organisch, bzw. objektiv-organisch 90 , während die englischen Händlerentsprechungen mechanisch sind91. Wesentlich für die heldische Gesinnung ist die freiwillige Einordnung in das organische Ganze, das über den Individuen stehe und als dessen Glied allein sich zu leben lohne, als Einordnung in das organische Ganze des Staates, des Volksgeistes und des Vaterlandes. Das Gefühl der Pflicht und die ,frohe Opferbereitschaft' für dieses organische Ganze, dieses übergeordnete Geistige, ist der konkrete Ausdruck des Heldischen, weshalb auch der , deutsche Militarismus' nichts anderes sei als „der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung."92 Die händlerische Gesinnung hingegen betrachte alles unter dem Aspekt des Kalküls für das eigene, individuelle Glück. Der Staat erscheint als Vertrag zum gegenseitigen, und vor allem zum eigenen Vorteil, nicht als Ausfluß Gottes 93 . Nicht von der Pflicht, sondern von den Rechten aus wird er aufgefaßt, dem Nutzen, den er bringt. Diese vertragstheoretische Auffassung ist für Sombart eine mechanische94. Als Mechanische ist sie dem Tod verbunden, nicht dem Leben, .Verwesung' und ,Modergeruch' begleiten sie. Diese Händlergesinnung ist
89 So sagt Sombart über den .Vergleich' des Staates „mit einem Organismus im biologischen Sinne", daß dieser .lieber unterbleiben' solle und ,leicht irre' führe. Ebd., S. 78. Nichtsdestotrotz ist der Staat ein Lebewesen, aber ein .geistiges': „Allerdings ist der Staat auch ein Lebewesen, aber ein metabiologisches, ein geistiges Lebewesen, an dem die einzelnen mit ihrem geistigen Leben teilnehmen." Ebd., S. 78. 90 .fragen wir nun, worin die Wesenheit der deutschen Staatsidee bestehe, so werden wir die deutsche Auffassung vom Staate als eine objektiv-organische bezeichnen müssen, um auszudrücken, daß sie von dem Grundgedanken ausgeht: der Staat sei weder von Individuen begründet oder gebildet, sei kein Aggregat von Individuen, noch habe er den Zweck irgendwelche Interessen der Individuen zu fördern. Vielmehr sei der Staat die zur Einheit zusammengefaßte Volksgemeinschaft, dem die einzelnen Individuen als Teile zugehören." Ebd., S. 75f. 91 Die deutsche, objektiv-organische Staatsauffassung sei der „mechanischen englischen entgegengesetzt". Ebd., S. 78. 92 Ebd., S. 84f. 93 „Auch den Staat kann sich der Händler nicht anders vorstellen als unter dem Bilde eines riesigen Handelsgeschäfts, das alle mit allen schließen. Die „Vertragstheorie" der Staatslehre ist grundsätzlich aus echtem Händlergeiste erwachsen ...." Ebd., S. 22. 94 Ebd., S. 35: „Der englische Staat hat seinesgleichen nicht in der Geschichte. (...) Alles, was wir bisher an großen Staaten kennen gelernt haben, ist organisch gewachsen aus innerem Lebenstriebe heraus. Das englische Weltreich ist jedoch wie eine Kapitalsumme mechanisch Stück für Stück aneinander gereiht (...)".
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der prinzipielle Feind des Geistes, da dieser die höchste Form von Lebendigkeit und als solcher notwendig organisch sei - insofern gebe es auch keine englische .Philosophie' und das, was dort mit diesem Anspruch auftrete, sei letztlich bloß ökonomische Theorie95. Es ergibt sich so bei Sombart folgendes Oppositionssystem: Positiv
Negativ
Helden organisch deutsch Geist Philosophie Leben Opfermut Kultur Staat als Sittlichkeit Freiheit für das Überindividuelle von und gegen das Ganze Lebendiges Wachstum des Staates Pflicht Ordnung geistige Kultur Sinnhaftigkeit Krieg
Händler mechanisch englisch geistlos Ökonomie Verwesung, Tod persönliches Kalkül Zivilisation Staat als Vertrag, Liberalismus Individualismus als Freiheit kommerzialistische Expansion Recht Chaos materielle Kultur (Komfort, Sport) Sinnlosigkeit Frieden
Seine ganze Feindschaft gegen die englische Händlergesinnung konzentrierte Sombart in einer Verwandlung des Leviathanbildes, die als visualisiertes Bild später auch von K. Haushofer verwendet wurde 96 : „Wenn wir nach dem Vorgange von Hobbes im Bilde eines Organismus uns den englischen Staat vorstellen wollen, so erscheint Großbritannien wie einer jener Riesenpolypen, die nur noch aus Fangarmen und einem enormen Verdauungsapparat bestehen, während alle anderen Organe: Kopf, Herz und was sonst noch in differenzierten Organismen von Bedeutung ist, abgestorben sind." 97 Die analogische Einordnung des englischen Staates in eine niedrige Stufe des Tierreiches, faßt für Sombart auch bildhaft den ihm entsprechenden Menschentyp zusammen: ein Wesen, das nur der eigenen Lust lebt, das seine körperliche Unversertheit als höchsten Zweck setze, nach .Komfort' 9 8 strebe und lieber ,Sport' treibe, als die eigene Existenz im Krieg zu riskieren, kurz: das alles auf seine vergängliche, fleischliche Körperlichkeit reduziere. 95 Vgl., ebd., S. lOff. Ebd., S. 10, heißt es z. B.: „Die Grundlage alles Engländertums ist ja wohl die unermeßliche geistige Beschränktheit dieses Volkes, ist seine Unfähigkeit, sich auch nur um Handbreite über die greifbare und alltägliche „Wirklichkeit" zu erheben. Beweis dessen, was man in England „Philosophie" nennt." 96 Vgl. z. B„ Karl Haushofer, Weltpolitik von heute, a. a. O., S. 120, Abbildung. 97 Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. 0., S. 37. 98 Auf den Topos des .Komfort' kam auch Johann Ulrich Folkers 1943 zurück. Bei ihm ging es um eine Entgegensetzung zwischen dem Sinn der .weißen Technik' und .Komfort'. Vgl., Ders., Das Gesetz der wachsenden Räume, a. a. O., S. 26.
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Kjellen nahm die Entgegensetzung von Händler und Helden zustimmend auf. Allerdings übersetzte er sie in den Gegensatz der Ideen von 1789 und der von 1914, wodurch Frankreich eine wichtigere Rolle erhielt als bei Sombart, der die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kurzerhand als „echte und rechte Händlerideale" 99 abtat. Der Sache nach sah Kjellen den „Gegensatz von 1789 und 1914 in äußerster Zuspitzung" 100 von Sombart treffend benannt, nur daß er die Fixierung auf einen englisch-deutschen Gegensatz nicht teilte101: „Der Weltkrieg ist ein Kampf zwischen 1789 und 1914\ ersteres Jahr vertreten durch FrankreichEngland, letzteres durch Deutschland." 102 Kjellen übersetzte so den Gegensatz in einen zwischen dem „Westen, dem Sonnenuntergang" 103 und der „Morgenröte"104, d. h. Mitteleuropa, das sich im Krieg von den untergehenden Idealen reinigte, von denen es selbst bedroht war: „Niemand leugnet es, daß sich auch Mitteleuropa auf diesem Wege befunden habe; wer sieht z. B. nicht, wie sehr das moderne Deutschland dem Kommerzialismus gehuldigt hat!"105 Kjellen ersetzte also die Opposition deutsch/englisch durch mitteleuropäisch (deutsch)/westlich (englisch-französisch). Gleichzeitig entnationalisierte er diesen Gegensatz, da hier ein Kampf zwischen zwei Prinzipien herrsche, der „in jedem Volke im Gange, ja, in jeder einzelnen Menschenseele" 106 sei. Gerade weil er diese Distanz zu den patriotischen Besinnungen' Sombarts hält, konnte Kjellen im Jahr darauf in seiner theoretischen Schrift „Der Staat als Lebensform" die Ideen von 1914 in eine allgemeine Theorie des Staates umformulieren107. Hieß es bei Sombart über die deutsche Staatsidee, daß ihre organische Auffassung den Staat als einen Zweck in sich begreift, so schrieb Kjellen entsprechend über seine wissenschaftliche Staatsauffassung: „Unsere organische Auffassung beweist ihre höhere Wahrheit auch dadurch, daß sie dem Staat wieder einen eigenen Zweck gibt."108 99 Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. O., S. 113. 100 Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O., S. 40. 101 So sagte Sombart über die Ideen von 1789: „Es sind ja die Grundforderungen auch der Bourgeosie gewesen, und zwar der verkommerzialisierten englischen Bourgeoisie." Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. O., S. 113. Das ,auch' bezieht sich darauf, daß in diesem Kontext Sombart den .sozialistischen Idealismus' kritisiert, in dessen Internationalismus diese Ideen fortlebten, so aber die .heldische' Potenz der Arbeiterbewegung blockierten. An der angegebenen Stelle fährt er fort: „Sind also völlig ungeeignet, einen heldischen Idealismus darauf aufzubauen. Was später noch an spezifisch sozialistischen Idealen zu diesem Grundstock hinzugekommen ist, riecht auch stark nach Händlergeist: so die Forderung, daß jeder Arbeiter seinen „gerechten" Lohn erhalte und was dergleichen mehr ist. Immer werden nur Forderungen aufgestellt, wenigstens in denjenigen sozialistischen Programmen, die zur Herrschaft gelangt sind. Und Forderungen der Individuen, wissen wir, sind immer der Ausfluß händlerischer Gesinnung." 102 Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O., S. 6. 103 Ebd., S. 40-41. 104 Ebd., S. 25ff. 105 Ebd., S. 41. 106 Ebd., S. 41. 107 Unmittelbar kommt z. B. Hans Offe 1937 auf Kjellens ,Ideen von 1914' zurück: „In Kjellens Ideen von 1914" beispielsweise besitzen wir die unumstößlichen Beweise für die leider oft verkannte Tatsache, daß die Betonung des Irdisch-Raumhaften keineswegs blind macht gegen die elementare Bedeutung des rein Geistigen im Menschen in all seiner rassischen Eigenart, aber auch in seiner Einmaligkeit und seiner Verwurzelung im Raum." Ders., Geopolitik und Naturrecht, in: ZfGp, 14. Jg., 1937, S. 239-246, ebd., S. 241. Danach folgt eine Kritik Frankreichs, Englands und der ,Ideen von 1789'. Ähnlich bei Georg Wegener, Erdraum und Schicksal, in: ZfGp, 8. Jg., 1931, S. 542-557. 108 Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 196.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Den Vergleichsmaßstab der .höheren Wahrheit' hatte Kjellen zuvor benannt, nämlich den „Standpunkt des geschichtlichen Liberalismus", wie er von der französischen Revolution, von Bacon, Bentham oder Locke formuliert wurde und dessen mechanische Auffassung „den Staat zum Diener des Individuums macht" 109 : „Er wird zu einer Vereinigung, ohne andere Aufgaben als die einer Förderung der Interessenten. Er ist um ihretwillen da. Er hat keinen Selbstzweck." 110 Aus dem Gegensatz von 1789 und 1914 wird dann ein Gegensatz von .Materialismus und Idealismus''", wobei die idealistische Staatsauffassung dem Begriff der .Harmonie' als regulativer Idee folge - in dem Streben nach Harmonie hatte Sombart das Wesen der deutschen Auffassung vom Staat gesehen.112 Im Kontext der Ideen von 1914 steht auch die Übernahme des Begriffs Geopolitik durch Jäckh, der in seinem .Mitteleuropa als Organismus' den Gegensatz mitteleuropäisch/westlich wieder stärker mit Sombarts Gegensatz von deutsch/englisch verband. Deutschland stand ihm für „das organische Prinzip", dem er „die englische Tendenz der Mechanisierung" 113 opponierte. Diese Mechanisierung war zugleich das Grundprinzip der Feinde schlechthin, gegen die ein organisches Mitteleuropa die einzige Waffe sei: „Darum müssen wir - im Gegensatz zur tödlichen Mechanisierung durch unsere gemeinsamen Feinde - eine lebendige Organisierung der Organe innerhalb des Organismus von Mitteleuropa wollen."114 Dieses , Wir' ist ein spezieller Auftrag an die Deutschen, denn „nur der deutsche Sinn kann einen solchen Organismus wollen - und weiterhin: nicht nur organisieren, sondern auch organisch gestalten."" 5 Jäckh gelangt in seinem kurzen Aufsatz zu folgender Reihe: Positiv
Organismus organisch Mitteleuropa deutsch Leben Gedanke Selbstbestimmung Souveränität
Negativ
Mechanismus, Mechanisierung mechanisch Westen englisch Leblosigkeit Absicht (instrumenteil) Fremdherrschaft Vasallentum
Die militärische Niederlage von 1918 setzte dieser Art des Diskurses kein Ende, wohl aber gab sie ihm, teilweise, eine pessimistische Tonalität. Sombarts ,Faust in den Schützengräben' verwandelte sich in die Biographie der faustischen Seele. Der publizistische Erfolg von Oswald Spenglers .Untergang des Abendlandes'116 beruhte nicht zuletzt auf der pessimistisch gewendeten Fortsetzung einer Argumentationsstruktur, die dem Krieg eine zugespitzte
109 110 111 112 113 114 115 116
Ebd., S. 196. Ebd., S. 196. Vgl., ebd., S. 197ff. Vgl., Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. O., S. 80f. Ernst Jäckh, „Mitteleuropa" als Organismus, a. a. O., S. 1070. Ebd., S. 1071. Ebd., S. 1071. Vgl., Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. O.
Mechanismus, Organismus
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Sinndeutung verliehen hatte. Die spenglersche Untergangsphilosophie konnte aber auch an pessimistische Vorkriegsanalysen anschließen, wie Walther Rathenaus ,Kritik der Zeit', für den der Zug der ,Mechanisierung' der Gegenwart eine unvermeidliche und unabänderliche Eigenart der modernen Gesellschaft war" 7 . Spenglers ultimative Geschichtsphilosophie des Abendlandes steht von ihren Grundprämissen her zwischen Werner Sombart und der deutschen Geopolitik. Mit Sombart eint ihn, daß der Raum der Erde keine wesentliche Funktion erhielt, weshalb er in der klassischen Geopolitik, wie oben bemerkt, als ein zeitlastiger Kulturphilosoph vom räumlichen Kulturphilosophen Boeckmann unterschieden wurde. Andererseits eint Spengler mit der klassischen Geopolitik und trennt ihn von Sombart, daß er Kulturen als Organismen in einem biologischen Sinne verstanden wissen wollte. Aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann zitiert Spengler, hinzusetzend: „Dieser Satz enthält meine ganze Philosophie." 118 : „Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze."119 Die vielfältigen Anschlüsse an Goethe gehen bei Spengler mit einer Abgrenzung zum Cartesianismus und zur newtonschen Mechanik einher. Daß sich Spengler für den Deutschen Goethe und gegen den Franzosen Descartes und den Engländer Newton ausspricht, führt auf seine Dichotomisierung der Weltbildstrukturen, die er in Abhängigkeit vom jeweiligen , Alterszustand' eines Kulturorganismus setzt. Kulturen durchlaufen ihm im günstigsten Falle vier Altersstadien von der Kindheit bis zur Greisenhaftigkeit. Diese vier Altersstadien bringt er auf einen großen Gegensatz in den Weltbildstrukturen, nämlich auf den Gegensatz von Natur und Geschichte, von Raum und Zeit. Auf den ersten drei Altersstufen einer Kultur werde die Welt als Geschichte , erschaut', auf der letzten lediglich als Natur .begriffen'. Das steht nur scheinbar im Widerspruch zu Spenglers Aufgreifen von Goethe als Naturforscher, denn gerade dort werde die ,Natur' als Geschichte verstanden, als .geprägte Form, die lebend sich entwickelt' 120 . Dieser geschichtliche Blick auf die Welt ist für Spengler der .eigentlich natürliche' und der .allgemein menschliche'. Die vierte, greisenhafte Stufe hingegen ist die des Verfalls, der Zivilisation: .Natur' als Grundauffassung dieser Zivilisation besagt, daß in ihr die Welt nur noch inventarisiert und auf ihre Dinghaftigkeit reduziert wird. Diese Art des Blickes auf die Welt ertötet die Wirklichkeit, denn sie betrachtet alles unter dem Aspekt der Gewordenheit, nicht des Werdens. Dieses 117 Vgl., Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit, (1911), Berlin 8 1912 118 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. O., S. 69, Fußnote. 119 Ebd., S. 68f, Fußnote. Spengler schloß vor allem an Goethes Lehren von der Morphologie, der Urpflanze und der Metamorphose an. Vgl. dazu auch: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 2. Abteilung, Goethes naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 6 bis Bd. 13, Weimar 1891-1904. 120 „Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordene, herausbildete... haßte die Mathematik. Hier stand die Welt als Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er als Naturforscher schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt", vor Augen stellen." Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. O., S. 35.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Weltbild ,Natur' ist die entstellte Form des Weltbildes .Geschichte' und die Karikatur der wirklich lebendigen Natur121. Teil der wirklichen Natur in ihrer Lebendigkeit sind auch die Kulturorganismen, die als sich lebend entwickelnde, geprägte Form angemessen bloß auf den ersten drei Stufen sich selbst verstehen. Spengler kommt mit seiner Argumentation auf folgendes Oppositionssystem: Positiv
Negativ
Werden Organismus organisch Geschichte Leben Goethe u. a. Ständestaat, Cäsarismus deutsche Ökonomie Heldentod Blut Schicksal Physiognomik Zeit Richtung Anschauung Bild, Symbol Gestalt Kultur
Geworden Mechanismus mechanisch Natur Tod Descartes, Newton u. a. Vertragstheorie, Liberalismus, Demokratie englische Nationalökonomie Hungertod Geld Gesetz Systematik Raum Ausdehnung Erkennen Zahl, Begriff Gesetz Zivilisation (Endzustand der Kultur)
Spengler schloß mit seiner Entgegensetzung von Goethes Morphologie- und Naturbegriff gegen Cartesianismus und newtonsche Mechanik deutlich an die,Ideen von 1914' an: Weimar und Potsdam verbünden sich, hatte Sombart dekretiert, und Kjellen sprach davon, daß das Volk der Dichter und Denker die Rüstung angelegt habe122. Wie Spengler hat auch Paul Krannhals, für den Reichspressechef der NSDAP Otto Dietrich der erste nationalsozialistische Philosoph123, in seiner Kultur- und Staatsphilosophie das ,Leben' zum zentralen Bezugspunkt einer Begründung eines ,organischen Weltbildes'
121 „Unvermerkt durchdringt das Reich des Räumlich-Begrifflichen ... die Außenwelt des Einzelnen, bewirkt in, mit und unter den schlichten Eindrücken des Sinnenlebens einen mechanischen Zusammenhang kausaler und zahlengesetzlicher Art und unterwirft zu guter Letzt das wache Bewußtsein des großstädtischen Kulturmenschen ... einem so anhaltenden Zwange des naturgesetzlichen Denkens, daß das Vorurteil aller Philosophie und Wissenschaft - und es ist ein Vorurteil - kaum Widerspruch findet, dieser Zustand sei der menschliche Geist und sein Gegenüber, das mechanische Bild der Umwelt, sei die Welt." Ebd., S. 133. 122 „Das Volk der Dichter und Denker" hat die feldgraue Rüstung angelegt und ist zu einem Volk von Helden geworden." Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O., S. 5. 123 Vgl., Otto Dietrich, Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus, Breslau 1935, S. 19ff.
Mechanismus, Organismus
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gemacht 124 , wobei er auf das gleiche Goethezitat als Orientierung zurückgriff, das auch Spenglers ,ganze Philosophie enthält'. Krannhals opponiert Gesellschaft und Gemeinschaft. In der Gesellschaft treten isolierte Individuen in ein äußerliches, mechanisches Verhältnis zueinander, in der Gemeinschaft sind sie als Persönlichkeiten von dem wirklichen Leben des Volkes umfangen, sind sie erst im eigentlichen Leben. Die Konzeption des Miteinanders der Menschen als Gesellschaft ist für ihn Ausdruck der rationalistischen Atomisierung des Lebens, Ausdruck des mechanisch-rationalistischen Natur- und Geschichtsverständnisses in seiner ganzen Leere und Abtötung des wirklichen Lebenssinnes. Ausgangspunkt der Philosophie kann daher nicht das einzelne, isolierte Subjekt sein, sondern nur das Leben, das Volk, die Gemeinschaft: „Denn der Sieg des Lebens ist der Sinn der Welt."125 Krannhals spitzt seinen Ansatz im Gegensatz organisch vs. mechanisch zu. Gegen das mechanistisch-rationalistisch-aufklärerische Erbe muß das deutsche Volk zu seiner Ursprünglichkeit zurückfinden, d. h. zum organischen Weltbild, das aus der Ganzheit des Lebens lebt. Der Entgegensetzung mechanisch-organisch entsprechen bei ihm: zergliedernder Verstand, Zivilisation, Vertragslehre auf der mechanischen Seite, Vernunft als die Ganzheit des Lebens erlebende Wesensschau, Kultur, Gemeinschaftserleben, in dem der Mensch mit all seinen Seelenkräften erfaßt ist, auf der organischen Seite126. Krannhals schematisches Oppositionsschema läßt sich in seinen Grundzügen so darstellen: Positiv
Negativ
Leben Organismus organisch Kultur Ganzheit Gemeinschaft Organischer Staat Persönlichkeit sinnvoll Vernunft Goethe
Tod Mechanismus mechanisch Zivilisation Zergliederung Gesellschaft Vertragslehre, Liberalismus Individuum sinnlos Verstand Rationalismus, Cartesianismus, Aufklärung
124 Vgl., Paul Krannhals, Das organische Weltbild, Geleitwort von Hermann Oncken, 2 Bde, München 1928. 125 Paul Krannhals, Das organische Weltbild, a. a. O., S. 3. 126 Krannhals verbindet die Opposition mit der Idee von Yin und Yang als ewigem Widerstreit. Im Verstand wirkt für ihn das männliche Prinzip als kriegerisches, auflösendes, zerstörendes im Widerstreit mit dem schöpferischen, aufbauenden, weiblichen Prinzip. Alfred Rosenberg geht in „Der Mythus des 20. Jahrhundert" zwar auch von einer entschiedenen Polarität der Geschlechter aus. Für ihn ist das Schöpferische jedoch das Ergebnis der Polarität selbst und nicht die Bestimmung des Weiblichen, welches für ihn gerade durch eine ,gewisse Fähigkeitslosigkeit' gekennzeichnet ist (abgesehen von der Rasseerhaltung). Vor allem ist für Rosenberg der Mann das stetigende Prinzip, dieser habe sich im Zusammenschluß zum Männerbund als Staat gestetigt. Vgl., Ders., Der Mythus des 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 532ff.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Ähnlich schematisiert argumentiert 10 Jahre später Franz Böhm, der kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges die nationalistische Komponente schon im Titel seiner Schrift herstellt: „AntiCartesianismus, Deutsche Philosophie im Widerstand" 127 . Descartes ist dabei der Repräsentant des westlichen Denkens überhaupt, also gallo-anglikanisch im Unterschied zur deutschen Philosophie. Böhms ,deutscher Widerstand' ist fundamental gegen das westliche Denken gerichtet: Sein und Nichtsein des deutschen Volkes, Schicksal und Entscheidung, wirkliche Wirklichkeit statt entwirklichter Wirklichkeit stehen nicht nur für Deutschland, sondern für das Abendland im Ganzen auf dem Spiel. In expliziter Kritik an Hegel 128 ist für Böhm Descartes nicht der Beginn einer neuen Gerichtetheit des Denkens auf das Sein gewesen, sondern der Anfang der vollständigen Entwirklichung des Seins selbst. Insofern handelt es sich bei Descartes und dem Cartesianismus im weitesten Sinne nicht um Philosophie, die auf das Sein geht, sondern um Ideologie, allerdings, und da gibt er Hegel recht: um die Struktur der Ideologie des modernen Europas schlechthin: „Mit anderen Worten: die GESAMTE Ideologie des modernen Europa entstammt dem cartesischen Ansatz. (...) Aber wie dieser Ansatz das Ergebnis aus einem ENDE ist - aus dem Versinken einer substantiellen Vergangenheit - so sind auch die Errungenschaften des modernen Europa aus cartesischem Geist das Ergebnis der GRUNDSÄTZLICHEN ENTWIRKLICHUNGEN, durch die Descartes die Herrschaft des rationalen Bewußtseins aus dem epochalen Ende der „abendländischen" Geschichte rettete." 129 Die Entgegensetzung Europa-Abendland ist bei Böhm nicht zufällig. Abendland gilt ihm als Ausdruck einer sinnbehafteten Einheit, die in eine fraglose Weltbildhaftigkeit eingefaßt war. Indem diese Sinneinheit zerfiel, entstand Europa als eine wesentlich geographische Idee. Mit Descartes beginnt Europa als grundsätzliche Entwirklichung des Abendlandes: es befindet sich .Jenseits der Wirklichkeit" 13°. Während die Abstraktionen des rationalistischen Denkens von der lebendigen Wirklichkeit befreien, befreit echte Philosophie zur Wirklichkeit, indem sie diese von dem Toten, Sedimentierten (wie z. B. dem cartesianischen Erbe) befreit. Durch die falsche Ontologie des cartesianischen Denkens verwandelt sich die lebensvolle Wirklichkeit, die vor aller Rationalität Alles umfasst, in bloße außenweltliche ,Realität'. Wirklichkeit ist auf ihre dinghafte Äußerlichkeit reduziert, in die der rationale Verstand Ordnung und, vergeblich, im Nachhinein Sinn zu bringen sucht. Die unmittelbaren Folgen dieser Verwandlung zeigen sich in einem unangemessenen Naturverhältnis und in einem abwesenden Sinn für Geschichte und für Gott. Im „Lebensgefühl des rationalistischen Menschen" 131 zeigen sich die Folgen als Flucht vor der Wirklichkeit: wissenschaftlich als Flucht in den Positivismus und praktisch als Flucht in den technischen Menschen, der um der Sicherheit willen Naturbeherrschung anstrebt und seinen Sinn in der Gleichförmigkeit der Zukunft als Fortschritt sieht. Aus der so charakterisierten Epoche der Moderne trete, so Böhm, die gegenwärtige Zeit aus.132 127 128 129 130 131 132
Franz Böhm, Anti-Cartesianismus, Deutsche Philosophie im Widerstand, Leipzig 1938. Vgl., ebd., insbesondere das Kapitel „Hegel und wir", S. 24-36. Ebd., S. 93. Vgl., ebd., S. 93-108. Ebd., S. 102. Vgl., ebd., S. 104.
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Mechanismus, Organismus
Analog dem Verfehlen der Natur, der Geschichte und von Gott ist in Descartes' methodischem Ansatz im Subjekt für Böhm von Beginn an jeder Begriff von Gemeinschaft übersprungen: „Echte Gemeinschaft ist ebenso ungegenständlich, wie ein ursprüngliches Naturverhältnis unobjektivierbar ist."133 Erst von der Gemeinschaft aus kann der Mensch die „Mission des Staates zur volkhaften Gestaltung" 134 und den ,Sinn des Opfers' für die Gemeinschaft erkennen. Gemeinschaft, Volk, Opfer, Staatsmission für volkhafte Gestaltung sind in typischer Weise einem Begriff von Gesellschaft entgegengesetzt, der als bloß äußerlicher, mechanischer Verband isolierter Individuen, als nationalistischer Gesellschaftsvertrag', verstanden wird. Für Böhm ergibt sich aus der ,mechanistischen' Natur- und Gemeinschaftslosigkeit zwanglos die Geschichtslosigkeit der cartesischen Epoche als Moderne: „Indem Descartes die umgreifende Natur auflöst, die ungegenständliche Gemeinschaft atomisiert und die wirkliche Zeit als statische Dimension der Räumlichkeit funktionalisiert, hebt er die Geschichte als umfassende Wirklichkeit auf und verflüchtigt sie zur Idealität eines leeren, rationalen Gedankens."135 Natur, Gemeinschaft, Geschichte: das sind für Böhm die den Menschen umgreifenden Bestimmungen, in denen, durch die und aus denen heraus der einzelne Mensch allein lebt, und in deren bejahendem Ergreifen er allein sinnvoll leben kann. In karikaturhafter Abwandlung eines bekannten Satzes von Karl Marx resümiert Böhm: „Die wirkliche Zeit ist der Raum des Schicksals für die naturbedingte Gemeinschaft."136 Angesichts dieses Satzes soll und kann nicht mehr das cartesische Ego Ausgangspunkt von Philosophie sein, sondern es ist von den Bestimmungen der Natur, der Gemeinschaft, des Volkes, des Staates, der Geschichte aus zu denken: genau das zu tun, ist der Grundzug deutscher Philosophie im Widerstand gegen die cartesianische Leere des weltlosen Subjekts. Die philosophische und praktische Überwindung des Cartesianismus ist nichts anderes als der Eintritt in eine nachmoderne Epoche wahren Menschentums. Während das „traurigste Kennzeichen der Moderne"137 die Verflachung des historischen Sinns sei, werde die nachmoderne Epoche die des wirklichen Lebens sein, in der „aus der Wirklichkeit unseres ständig werdenden Daseins"138 gelebt werde. Als Oppositionsschema läßt sich Böhms Argumentation so darstellen: Positiv
Negativ
Organismus Leben Wirklichkeit deutsch Gemeinschaft Philosophie sinnhaft Volk, Staat
Mechanismus Tod Entwirklichung westlich Gesellschaft Ideologie, Rationalismus, Cartesianismus sinnlos Vertragstheorie, Liberalismus
133 134 135 136 137 138
Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 98f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 98.
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Persönlichkeit Zeit, Schicksal
Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Individuum, Ich Raum, leeres Denken
Die bisher gewonnenen Reihen, in der die Entgegensetzung von Organismus und Mechanismus eine wesentliche Funktion für das .deutsche' Selbstverständnis hat, ließen sich mengenmäßig erheblich ausdehnen, ohne mehr oder weniger originelle Variationen und verblüffende Wendungen zu gewinnen. ErnstKrieck139,ErichMühle140, J. von Uexkuell141,E.G. Kolbenheyer142 oder Othmar Spann143 seien wenigstens namhaft gemacht. Von Variationen kann dabei natürlich nur gesprochen werden, wenn sich strukturelle Gemeinsamkeiten formulieren lassen, wenn sozusagen ein Grundschema aufzeigbar ist. Das Grundschema liegt in einer nationalistischen Interpretation von Begriffen, die sich gar nicht dafür zu eignen scheinen: so werden auf der positiven Seite Leben, Organismus und organisch deutsch interpretiert, während Tod, Mechanismus bzw. Mechanisierung und mechanisch französischenglisch (westlich) aufgefaßt werden - gerade insofern die klassische Geopolitik an dieser Interpretationsweise teilnahm, war sie eine deutsche Geopolitik. Diese Zuordnungen stehen dabei unter dem Primat eines Gegensatzes zwischen .wirklicher Wirklichkeit' im Sinne von , Voll Wirklichkeit' oder eigentlicher Wirklichkeit' und defizitärer Wirklichkeit. Je nachdem, was von dem einzelnen Autor persönlich-subjektiv dann als , Wesen' der wirklichen Wirklichkeit eingeschätzt wird, schließen sich daran variierende Ketten an, die aber gerade darin nicht beliebig sind, als daß sie einem politischen Interpretationszusammenhang entstammen, der sich von der Abgrenzung gegen das als negativ Aufgefaßte her bestimmt. Im Prinzip der negativen Abgrenzung gegen westliches Denken hatte Sombart geradezu eine Grundkonstante deutschen Denkens und Empfindens gesehen: „Deutsches Denken und deutsches Empfinden äußert sich zunächst einmal in der einmütigen Ablehnung alles dessen, was auch nur von ferne englischem oder insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt."144 Zur Bestimmung dessen, wovon sich Deutsches abgrenze, dienen in diesem Diskursschema die Begriffe Cartesianismus und Rationalismus als der behaupteten Grundlage des ,geschicht-
139 Vgl., Ernst Krieck, Die deutsche Staatsidee, Jena 1917; Ders., Die deutsche Staatsidee, (1917), Leipzig 2/3 1934. 140 Vgl., Erich Mühle, Der menschliche Staat als Problem der vergleichenden Biologie, Leipzig 1937. Mühle entwickelt als Unterschied zwischen dem Faschismus und dem Nationalsozialismus, daß der Faschismus noch ein Organismus dritter Ordnung sei, während der Nationalsozialismus die vierte, bisher höchste Ordnung erreicht habe. 141 Vgl., J. von Uexkuell, Staatsbiologie, Anatomie, Physiologie, Pathologie des Staates, (1920), Hamburg 2 1930. 142 Vgl., E. G. Kolbenheyer, Die volksbiologischen Grundlagen der Freiheitsbewegung, München 1933; Ders., Unser Befreiungskampf und die deutsche Dichtkunst, (1932), 6.-8. Tsd., München 1934; Ders., Der einzelne und die Gemeinschaft, Goethes Denkprinzipien und der biologische Naturalismus, Zwei Reden, München 1939. 143 Vgl., Othmar Spann, Vorlesungen über den Abbruch und Neubau der Gesellschaft, (1921), Jena 4 1938. In der Kritik an Liberalismus und Demokratie heißt es ebd.: „Wie immer beim Individualismus, so auch bei seiner politischen Theorie: Aus der Atomisierung folgt die Mechanisierung." An späterer Stelle erläutert er dann, daß die organisch-biologische Staatsauffassung als Antwort auf das Mechanistische nicht genüge, sondern eines Begriffs des Überorganismus bedarf, wobei hier Spann das gleiche meint wie Sombart mit seinem .objektiv-organischen'. Vgl., ebd., S. 152f. 144 Werner Sombart, Händler und Helden, a. a. O., S. 55.
Mechanismus, Organismus
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liehen Liberalismus' (Kjellen), bzw. Namen wie Descartes, Hobbes, Newton und andere Engländer und Franzosen. Die Begriffe, auf die diese gebracht werden, wie Zergliederung, Individualismus, Gesellschaft, Zivilisation, abstraktes Denken usf. bilden dann die negative Folie, von der aus das Deutsche als Grundlage einer entgegengesetzten politischen Idee konzipiert wird, indem Gegenbegriffe gesetzt werden: Ganzheit (Gestalt), Persönlichkeit, Gemeinschaft, Kultur, Gedanke u. ä. Diese Gegenbegriffe erlauben einen gewissen Spielraum, zumal sie untereinander verbindbar sind, etwa wenn der primäre Gegensatz .Vollwirklichkeit' und .defizitäre Wirklichkeit' die adjektive Form .sinnvoll' vs. .sinnlos', oder,konkret' vs. .abstrakt' annimmt. Dann genügt es, der abstrakten oder sinnlosen, westlichen Freiheit eine konkrete oder sinnhafte, deutsche Freiheit zu opponieren, dem abstrakten Denken ein wirkliches Denken usf., ohne in die Nötigung zu geraten, Gegenbegriffe zu (er)finden. Tatsächlich geht jeder Autor mit der Ausdehnung dieses Schemas die Gefahr zunehmender Inkohärenzen ein, wie sich bei Spengler zeigte, der zu Verdopplungen der Begriffsinhalte ein und desselben Wortes greifen muß: einerseits opponiert er als Seelenverfassungen .Geschichte' und .Natur', sagt aber andererseits über die Seelenverfassung .Natur', daß sie eigentlich .unnatürlich' sei; ebenso bildet .Kultur' einen umfassenden Oberbegriff und gleichzeitig ist das Stadium der Zivilisation eigentlich nicht mehr Kultur. Die Gefahr solcher Inkohärenzen war aber nicht das einzige Problem dieses Diskursschemas. Die deutsche Interpretation des Lebens, bei der sich Weimar und Potsdam verbünden (Sombart) und Hegel, Fichte u. a. von den Wänden nicken sollten (Naumann), hatte ein ernsthaftes Problem mit einem ,Deutschen', oder mit Sombarts Bild gesprochen, hatten Potsdam und Weimar mit: Königsberg. Es geht hier um ein zwiespältiges Verhältnis dieser Art des Diskurses zur kantischen Philosophie. Ungeachtet seines .harten' Begriffs der Pflicht, konnte Kant doch nicht umstandslos gegen die .Ideen von 1789', gegen französische Aufklärung, .Cartesianismus' oder .Rationalismus' aufgeboten werden. Zu offensichtlich war er ein Sympathisant der Französischen Revolution gewesen. Sombart mußte mehrfach begründen, warum Kants Vertragstheorie doch irgendwie etwas anderes sei, als die der Händler145; Plenges Schrift über die ,Ideen von 1789 und 1914' stellte eine Antwort auf eine Kritik dar, die unter Hinweis auf Kant die .Ideen von 1914' als überflüssiges Gerede ansah146; und Kjellen, der in seinen ,Ideen von 1914' Kants Pflichtbegriff noch als frühe, deutsche Antwort auf die , Ideen von 1789' interpretierte147 und deshalb von Plenge kritisiert wurde148, stellte später Kant auf die Seite des zum Untergang bestimmten Liberalismus149. 145 Ebd., S. 59f, S. 73ff und S. 93. 146 Diese Kritik ist bei Johann Plenge, 1789 und 1914, a. a. O., S. 171-175, abgedruckt. Es handelt sich um den Leitartikel aus der Frankfurter Zeitung vom 24. Dezember 1915. Plenge selbst urteilte über Kant als politischen Denker, daß er im Banne der Ideen von 1789 stehe: „Als politischer Denker aber ist Kant, wie wohl zugegeben wird, sehr unselbständig und keineswegs kritisch, sondern reiner Doktrinär, der auf Rousseau fußt." Ebd., S. 13 147 Vgl., Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O., S. 39. 148 Allerdings hielt es Plenge für ,begreiflich', „daß Kjellen in seiner schon genannten Schrift... zu weit gegangen ist, und in der „tiefen Stimme" des Kantischen Pflichtgebotes einen eigentlichen Vorklang der Ideen von 1914 hat hören wollen." Johann Plenge, 1789 und 1914, a. a. O., S. 11. Weil durchaus die Pflicht ein Wesensmoment der Ideen von 1914 sei, werde allzu leicht übersehen, daß es sich nicht um den .abstrakten',,leeren' und .kalten' Pflicht- und Freiheitsbegriffs Kants dabei handeln kann, sondern um „die erfüllte und konkrete Freiheit der Lehre Hegels." Ebd., S. 44. 149 Vgl., Rudolf Kjellen, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 196. Auch Kant mache „den Staat zum
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Diese Zwiespältigkeit, die es auch so problematisch machte, Kant unmittelbar deutschnational zu verwerten, hatte einen systematischen Grund, der die Grundfigur dieses Diskurses betraf, nämlich die polemische Entgegensetzung von Organismus und Mechanismus. Sie führt auf eine Stelle in der .Kritik der Urteilskraft', in der sich Kant analogisch zur französischen Revolution äußerte: „So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u.s.w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein." 150 Zunächst fällt auf, daß hier nicht von ,Organismus', sondern von Organisation' die Rede ist. Schlägt man aber das Kant-Lexikon von R. Eisler 151 oder die geschichtlichen Grundbegriffe' 152 auf, so wird diese Stelle nicht dem Begriff Organisation, sondern dem des .Organismus' zugeordnet. Diese merkwürdige Interferenz findet eine Entsprechung in den Diskussionen um die ,Ideen von 1914'. Plenge stellte seine Argumentation ganz darauf ab, die Ideen von 1914 auf die .deutsche Idee der Organisation' zu bringen153. Ebenso zentral war der Begriff der Organisation in einer spezifischen Verbindung zum .deutschen' Kapitalismus und zur .deutschen' Wirtschaftskonfession Naumanns „Mitteleuropa" 154 , in dem er aber ebenso von Organismus redete: „Fichte und Hegel nicken von den Wänden: der Deutsche wird erst recht nach dem Krieg staatlicher Wirtschaftsbürger mit Leib und Seele, sein Ideal ist und bleibt der Organismus, nicht die Willkür; die Vernunft und nicht der blinde Kampf ums Dasein. Das ist unsere Freiheit, unsere Selbstentfaltung. Damit werden wir unseren Geschichtstag erleben... wenn der englische Kapitalismus seine Höhe erreicht und überschritten hat, und für diese unsere Periode haben uns Friedrich II., Kant, Scharnhorst, Siemens, Krupp, Bebel, Legien, Kirdorf, Ballin zusammen erzogen." 155
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Diener des Individuums". Bei Spengler nimmt das die deutliche Form an, Kant im wesentlichen Descartes und Newton zuzuordnen. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 323 , Fußnote. Vgl., Kant-Lexikon, bearbeitet von Rudolf Eisler, 2 RP der Ausgabe von 1930, Hildesheim 1969, Stichworte .Organisation' und .Organismus'. Vgl., Stichwort .Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper', in: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978. Dort wird allerdings dann dargestellt, welche nationalen Implikationen die Entgegensetzung Organisation (= französische Revolution) und Organismus im 19. Jahrhundert gewinnen konnten. Vgl. desweiteren, Gerhard Dohrn-van Rossum, Politischer Körper, Organismus, Organisation, Phil. Diss. Univ. Bielefeld 1977. Ein Beispiel aus Plenges Schrift, die über 150 Seiten die .deutsche Idee der Organisation' dreht und wendet, lautet: „Und man darf behaupten, daß die ,Ideen von 1914', die Ideen der deutschen Organisation zu einem so nachhaltigen Siegeszug über die ganze Welt bestimmt sind, wie die .Ideen von 1789'." Johann Plenge, 1789 und 1914, a. a. O., S. 72. Unmittelbar zuvor sagt er, daß, wie 1789 durch Kaiser Napoleon verbreitet wurden, jetzt wieder ,ein Kaiser durch die Welt' ziehe. Vgl., Friedrich Naumann, Mitteleuropa, a. a. O., insbesondere S. 102-134 (Kapitel IV). Ebd., S. 113. Naumann erweist sich allerdings als ein Querdenker in dem Sinne, als er in seiner Schrift den Organismus-Mechanismus-Schematismus immer wieder durchkreuzt, wenn er etwa als Ideal der deutschen Wirtschaftsgesinnung ,die ausdauernde, menschliche Maschinerie' oder die
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Die vereinzelten Bezüge, die Naumann zwischen Organisation, seinem Hauptbegriff, und Organismus herstellte, werden von Jäckh dann auf die Seite des Organismus verlagert156, und auch Kjell6n als Vertreter eines biologischen Organismusverständnisses hatte keine große Mühe, Sombarts .geistigen' Organismus mit Plenges Organisationsbegriff zu verbinden157. Diese Interferenzen sind in der Geschichte beider Begriffe wohlbegründet, denn der originäre Anwendungsbereich beider Begriffe liegt in der Beschreibung .lebendiger Wesen', wobei sie von dort aus auf die Beschreibung politischer Verhältnisse transferiert wurden. Dabei ist der Begriff der ,Organisation' der ältere, auf das 14. Jahrhundert zurückführende Begriff, während die Geschichte des Begriffs .Organismus' im 18. Jahrhundert vereinzelt beginnt und er sich erst im 19. Jahrhundert, zunächst in Deutschland, verallgemeinert. Kant verblieb in seinen Schriften vollkommen in dem gängigen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts und sprach stets von Organisation, organisch und von organisierten und sich selbstorganisierenden Wesen, wenn er über Pflanzen, Tiere oder Menschen schrieb. Bei G. W. F. Hegel158 oder Arthur Schopenhauer159 hingegen begegnet schon ein Spiel einer ineinandergreifenden Verwendung beider Begriffe zugleich. Nicht jedoch die begriffsgeschichtlichen Verwicklungen können hier zum Thema gemacht werden. Wohl aber ist es hier möglich einen Zusammenhang zwischen der eingangs exponierten Asymmetrie von Raum und Zeit und der besonderen Form, die Kant dem Organisationsbegriff gab, aufzuzeigen, ein Zusammenhang, wie er im Organismusbegriff noch verstärkt, darin aber im gleichen Moment verdeckt wird. Dem Inhalte nach entzieht der Begriff .Organisation' bei Kant das Lebendige dem Primat der linearen Zeit. Erkennbar wird das an der Art und Weise, wie Kant die Besonderheit lebendiger Wesen gegen Nicht-Lebendiges abgrenzt: sie seien .organisierte Wesen, die sich selbst organisieren' 160. Unmittelbar wird durch die Formel .selbstorganisierend' eine Trennlinie zu Maschinen gezogen, wie sie eine Uhr repräsentiert: so kunstvoll sie auch sei, sie ist nicht der Urheber ihres eigenen Mechanismus. Lebendige Wesen hingegen organisieren ihre eigene Organisation selbst, sie sind „nicht bloß Maschine" 161 . Deshalb sage man selbst dann von „organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr." 162 Das aber gibt dem Begriff der Organisation in Anwendung auf lebendige Wesen einen besonderen Inhalt im Unterschied zu nicht-lebendigen Maschinen und Mechanismen.
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.lebendige Volksmaschine' ansieht. Ebd., S. 112. Zugleich leitet er aber einen inhumanen Zug aus dieser deutschen Wirtschaftskonfession ab und bestätigt insofern dieses Schema. Vgl., Ernst Jäckh, „Mitteleuropa" als Organismus, a. a. O. Jäckhs oben zitierte Wendung, daß Deutschland Mitteleuropa nicht nur organisieren, sondern allein auch organisch gestalten könne, scheint mir gegen die skeptische Auffassung von Naumann, daß die deutsche Organisationsidee etwas inhuman Maschinenhaftes habe, gerichtet zu sein. Vgl., Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914, a. a. O. Vgl. z. B., G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2, a. a. 0., z. B., §341, §345 und §352, S. 360ff. Vgl. z. B„ Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, (1819, 1844), in: Ders., Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet und hrsg. von W. Frh. v. Löhneysen, Bd. 1-2, Frankfurt am Main 1985, Bd. 2, Kapitel 27, S. 443ff. Vgl., Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., §65, S. 319ff . Ebd., S. 322 . Ebd., S. 322 .
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Eine Maschine findet ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern dieser wird in sie hineingelegt: als solches ist sie Mittel für ein Anderes. Anders lebendige Wesen: sie sind sich selbst Zweck. Dabei sind sie sich aber zugleich Mittel: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts ist in ihm umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben."163 Wie aber soll das zu denken, d. h. auch anschaulich vorzustellen sein? Setzen sie in dem einen Moment einen Zweck in sich, um ihn im nächsten Moment mit sich selbst als Mittel auszuführen? Das in dieser Frage liegende Problem stellt sich für Kant noch von anderen Seiten her, nämlich dem Verhältnis von Ursache und Wirkung oder dem Verhältnis der Teile zueinander. Kann ich wie bei einer Uhr für lebendige Wesen sagen, daß ein bestimmtes Zahnrad nur als Teil des Mechanismus, als Mittel für die Bewegung des Ganzen einen Zweck hat, nicht aber in sich selbst? Genau das soll nicht der Fall sein. Auf allen Ebenen, sozusagen in jeder Faser der Lebendigkeit, ist bei lebendigen Wesen das Selbstorganisierende der Organisation präsent. Dadurch ist diese Art der Organisation etwas ganz anderes als das kunstvolle Räderwerk einer Uhr oder anderer, nicht lebendiger Mechanismen. Seinen Aussagen über die Besonderheit lebendiger Wesen gibt aber Kant einen Status nicht: denjenigen begrifflicher Erkenntnis - es soll sich allein um Maximen in der Beurteilung einer spezifischen Gattung von Gegenständen handeln, die zwar einen regulativen Leitfaden für Naturforschung abgeben, nicht aber deren unmittelbarer Gegenstand sein können. Mit den organisierten Wesen werde „die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines Mechanismus, der uns hier nicht mehr genug tun will" 164 geführt: „Eine Idee soll der Möglichkeit des Naturprodukts zum Grunde liegen."165 Indem Kant den Status begrifflicher Erkenntnis nicht zurechnet, bringt er die organisierten Produkte' in einen Gegensatz zur linearen, unvermeidlichen Art der Zeitlichkeit aller begrifflichen Erkenntnis, und insofern ist es auch nicht zufällig, daß er Lebendiges im Vergleich mit dem kunstvollen Mechanismus einer Uhr diskutiert. Die Anschauungsform Zeit stellte für Kant, vermittelt über das transzendentale Zeitschema, ein striktes Nacheinander als Inhalt aller begrifflichen Erkenntnis her. Begriffe wie Ursache und Wirkung nehmen dabei unvermeidlich einen zeitlichen Sinn an, d. h., das eine muß dem anderen vorhergehen. Dadurch aber erhält jede naturwissenschaftliche Untersuchung lebendiger Wesen immer den Charakter, demjenigen, was Kant mit .organisiert' und ,sich selbstorganisierend', mit der Wechselseitigkeit von Mittel und Zweck usf. umschreibt, stets eine Form zu geben, in der z. B. das Herz in dem einen Moment als Ursache der Bewegung des Blutes erscheint, um in dem nächsten Moment wiederum als Wirkung eben dieser Bewegung angesehen werden zu können. Die Umschreibungen Kants dienen aber gerade dazu, als Urteil zu etablieren, daß in dieser Auffassung eines Nacheinanders eine dem Lebendigen gegenüber unangemessene Auffassung liegt, die gleichwohl, als begrifflich-anschauliche, nicht anders vor sich gehen kann, und auch nicht soll. Die Beurteilung lebendiger Wesen als sich selbst organisierender Organisationen soll das Primat des zeitlich-begrifflichen Denkens beschränken. Lebendige Wesen sollen nicht auf ein lineares, ,sinnloses' Nacheinander des ,Naturmechanismus' reduzierbar sein. Die höhere Würde, die er damit in Lebendiges setzt, erhält er aber dadurch, daß er sie abspaltet von 163 Ebd., S. 324 . 164 Ebd., S. 325 . 165 Ebd.
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begrifflicher Erkenntnis und in eine andere .Ordnung der Dinge', in die Ordnung der Ideen, verweist, eine Zweideutigkeit, die mit dem Verhältnis zwischen diesem Urteil und der Idee der Freiheit zusammenfällt. Einerseits stellt diese Bestimmung lebendiger Wesen einen Teil der Absicherung der Idee der Freiheit dar, indem Kant prinzipiell für lebendige Wesen eine Besonderheit behauptet, die so nicht e r s c h e i n e n ' kann. Andererseits aber bleiben beide Bestimmungen, mit einer Einschränkung, unvermittelt. Diese Einschränkung ist nicht bedeutungslos. Zwar fehlt eine These, wie die von Hans Jonas vor drei Jahrzehnten aufgestellte, daß mit dem Stoffwechsel die Freiheit in der Natur beginne 166 . Doch mit dem Begriff des ,Sich Selbstorganisierenden' gewährleistet Kant eine spezifische Verbindung zur Zeitlichkeit, wie sie der Idee der Freiheit zu eigen ist: deutlich ist die Parallelität zur Formel von der Freiheit als Vermögen, eine Kausalkette von selbst anzufangen. Gerade dadurch hielt Kant fest, daß es nicht genügt, lebendige Wesen als Mechanismen anzusehen, d. h. nicht als Gebilde, in denen die einzelnen Räder des Getriebes aufs Wunderbarste zusammenwirken. Nicht als in sich geschlossene Totalitäten sollten diese Wesen begriffen werden, sondern als prozedural sich gegenüber sich selbst tätige Wesen. Diese Prozeduralität und Tätigkeit sollte gleichwohl nicht der linearen Zeitvorstellung entsprechen, wie sie dem transzentalen Zeitschema zu eigen ist. Kant formuliert hier eine Art qualitativen' Zeitbegriffs. Lebendige, organisierte Wesen sind nicht einfach eine besondere Form der Zweck-Mittel-Relation oder des Teile-Ganze-Verhältnisses, sondern sie müssen sich zu solchen machen, sie müssen sich bilden. Damit ist aber die Möglichkeit des Scheiterns gesetzt und der Gedanke einer prinzipiellen Prekarität und Hinfälligkeit lebendiger Wesen gefaßt 167 . Gegenüber dieser Argumentation lassen sich die ,Ideen von 1914' und die daran anschließenden Diskurse sowohl als Erbschaft, als auch als Bruch begreifen. Das dort präsente Diskursschema erscheint wie eine nationalistische, grobe Lektüre und Uminterpretation kantischer Trennungen. Das, was bei ihm als der Bezirk begrifflich-anschaulicher Erkenntnis von Naturmechanismen beschrieben wird, als Konstitution der Welt der Erscheinungen, wird in den , Ideen von 1914' zu der Welt des Cartesianismus und Rationalismus, als deren Fehler angesehen wird, sich auf diese Welt zu beschränken, auf die Welt der Natur als Mechanismus: sie gelangten nicht wirklich in die andere .Ordnung der Dinge', d. h., in die Ordnung der Ideen. 166 Vgl., Hans Jonas, Organismus und Freiheit, (engl. 1966), dt. Üb., Göttingen 1973. Nicht zuletzt durch den Begriff des Organismus scheint mir allerdings Hans Jonas dort an einigen Stellen allzuschnell zu emphatischen Begriffen der Ganzheit und der Ewigkeit zu gelangen. 167 Trotz seiner ausgedehnten Argumentation über die .innere Naturvollkommenheit' und ähnlichem. Kant verliert nicht den Blick dafür, daß die verschiedenen Spezies der .organisierten Produkte' „zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen" vorkommen. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 322 . Kant behielt die conditio humana als .mittlere Wesen auf einem mittleren Planeten' letztlich allzu sehr im Auge, als das ein dieses mittlere Wesen verachtender Satz wie der folgende von Werner Sombart bei ihm möglich gewesen wäre: „Wie alles Denken des Händlers, so geht auch alle wissenschaftliche Ethik Englands von dem kleinen, bißchen Leben aus, das der Herr X und Y zufallig führen. Oder, um einen FICHTEschen Ausdruck zu gebrauchen: das Objekt ihres normativen Denkens ist ebenso wie das ihres kausalen Denkens nicht das Leben schlechtweg, das überindividuelle als solches, sondern „dieses oder jenes Leben". Also im Grund: das Tote." Ders., Händler und Helden, a. a. O., S. 19.
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Der Staat und die politische Gemeinschaft als Organismus
Dasjenige, was Kant mit viel diskursiver Mühe als Idee der Freiheit oder als Form des Urteils in der Beurteilung lebendiger Wesen gegen die Ansprüche begrifflich-anschaulicher Erkenntnis nicht nur verteidigt, sondern dabei als die eigentliche Würde des Menschen verortet, wird im evozierten Diskursschema zu dem Bereich des besonderen, deutschen Sinns für das eigentlich Wirkliche, für die deutsche Freiheit, für die deutsche Idee der Organisation und die deutsche Idee des Organismus. Daß sich an diese Seite nebulöse Bestimmungen wie Schicksal, Leben oder Held anschließen, ist insofern konsequent, als dieser Bereich gerade nicht dem begrifflich-anschaulichen Denken zugeordnet ist. Die deutsche Idee der Organisation und der deutsche Sinn für den Organismus zeigen im Vergleich zu Kants Argumentation besondere Merkwürdigkeiten. Der bei Kant korrespondierende Begriff des Selbstorganisierenden fehlt. Zwar sind die anderen Bestimmungen präsent, etwa wenn Kjellen davon spricht, daß der Staat jetzt wieder einen Zweck in sich selbst habe168. Doch das auf sich selbst Bezogene, wie es in der Formel von den .organisierten Wesen, die sich selbst organisieren' liegt, ist abhanden gekommen. Während aber gegenüber dem Begriff der Organisation noch stets die Frage möglich bleibt, -wer oder was sich da eigentlich organisiert, wird diese Frage gegenüber dem .Organismus' verstellt: hier reduziert sich die Vorstellung auf eine Ordnung, in der die Teile und das Ganze harmonisch ineinander greifen und alles seinen Platz hat. Läßt sich die kantische Formel von den sich selbst organisierenden Wesen als Idee einer qualitativen Zeitvorstellung interpretieren, so ist gerade diese Idee im Organismus nicht mehr präsent. Da aber die Vorstellung Organismus zugleich den Charakter behält, in eine Ordnung der Dinge außerhalb begrifflich-anschaulichen Erkennens zu führen und damit jenseits der linearen Zeitvorstellung, erhält die Idee .Organismus' den grundsätzlichen Charakter der Entzeitlichung. Zum Organismus geronnen, wird die lineare und die qualitative Zeitlichkeit zugleich stillgestellt und aufgehoben in einer Totalität der wunderbaren Teile-Ganze-Ergänzung und einer wechselseitigen Zweck-Mittel-Relation, die einfach ist. Insofern wird erkennbar, inwiefern sich die Anwendung des Wortes Organismus auf Politisches in systematischer Weise für den geopolitischen Diskurs eignete. Er konnte einem Denken als ein wahlverwandter Begriff erscheinen, das von vornherein auf den Raum, sei es als Raum an sich, oder in Form von Land und Meer, setzte und sich gegen den Primat der Zeit richtete, wie ich es oben als zeitprivilegierende Asymmetrie von Raum und Zeit darstellte. Indem aber der Vorstellung .Organismus' ein problemverstellender Charakter zukommt, d. h. er eine Antwort auf eine Frage ist, die zu stellen er nicht mehr zuläßt, ist mit dieser Verstärkung zugleich eine Ideologisierung gegeben. Diese Ideologisierung war umso nachhaltiger, als sie einherging mit einem Diskursschema, das mit dem Kontext des 1. Weltkrieges eine besondere Schärfe gewann. Insofern heutige Geopolitiker den Anspruch erheben, eine andere Geopolitik als die deutsche zu verfolgen, wäre ein Mindestmaß an sie, daß sie auf solche ideologische Verstärkung verzichten. Ob solch ein Verzicht allerdings genügt, ist eine andere Frage. Diese Frage führt auf den prinzipiellen Ansatzpunkt der Geopolitik, nämlich vom (geographischen) Raum auszugehen, der durch die Vorstellung ,Organismus' verstärkt, aber nicht hervorgebracht wird. Die darin liegende Problematik wird im abschließenden Kapitel behandelt, und zwar anhand der Diskussionen um das Selbstverständnis der Geopolitik, wie sie im Rahmen des Versuchs der dauerhaft problematisch bleibenden Abgrenzung von Geopolitik und Politischer Geographie geführt wurden.
168 Vgl. oben.
8 . KAPITEL
Das ,Wesen der Geopolitik'
1., Allerlei Verwirrung' statt Raumdeterminismus Mit den Diskussionen um das Selbstverständnis der deutschen Geopolitik, die immer wieder anhand der Abgrenzung zur Politischen Geographie geführt wurde, hat es eine eigentümliche Bewandtnis, die sowohl die klassische Geopolitik, als auch die Kritik an ihr betrifft. Der Geopolitiker Maull urteilte 1956 rückblickend über diese Diskussionen, daß man sich „über das , Wesen der Geopolitik' nicht einig und eigentlich auch nie einig geworden sei" 1 . Das habe „natürlich allerlei Verwirrung gestiftet" 2 . Dieser Charakter der Uneinigkeit wird in kritischer Literatur zur deutschen Geopolitik in das Argument gewendet, daß .Geopolitik' ein untauglicher, unwissenschaftlicher Begriff, weil diffus geblieben, sei 3 . Dieses Argument verbindet sich in der Regel mit einer weiteren Kritik, die im Raumdeterminismus die besondere Gefahr der Geopolitik sieht 4 . Merkwürdig ist allerdings dabei, wie diese beiden Seiten zusammen gehen können. Wenn tatsächlich ein Raumdeterminismus der klassischen Geopolitik vorgeworfen werden kann, ist nicht ohne weiteres zu erkennen, woher die .Uneinigkeit' und die .Verwirrung' über das Wesen der Geopolitik gekommen sein soll. Die Geopolitiker mögen dann über konkrete Analysen kon1 Otto Maull, Politische Geographie, Berlin 1956, S. 29. Dieses Buch trägt zwar den gleichen Namen wie das von 1925, hat aber sonst wenig mit ihm gemein. Der Aufbau ist ein völlig anderer: Maull beabsichtigt keine systematische Grundlegung der Politischen Geographie mehr, es wird vor allem eine politisch-geographische Länderkunde geboten, was 1925 völlig fehlte. 2 Ebd., S. 29. 3 Vgl. z. B., Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, a. a. O., S. 398ff. 4 Vgl., ebd. Wie manches andere ist auch die Kritik des ,Geodeterminismus' bei Kost nicht frei von Paradoxien. Auf den S. 385ff thematisiert er die Angriffe seitens von Nationalsozialisten, die der Geopolitik .geographischen Materialismus' vorwarfen. Da er dabei aber nicht zwischen .Bedingtheit' und .Determinierung' unterscheidet, gelangt er schließlich zu einem Urteil, der den .Geodeterminismus' aufs engste mit dem Nationalsozialismus zusammenbringt und gegen Forschung in der .freiheitlichen Demokratie' abgrenzt: „Ganz zu schweigen von Geodeterminismus und nationalsozialistischem Miß- und Gebrauch hat sich die Geopolitik als Begriff wie als Lehre für einen Verwendungszusammenhang innerhalb einer freiheitlichen Demokratie disqualifiziert und als untauglich erwiesen." Ebd., S.403.
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Das .Wesen der Geopolitik'
kreter Erscheinungen zerstritten gewesen sein, doch unter dem Stichwort Raumdeterminismus hätten sie eine solide, gemeinsame Grundlage besessen, die klarer kaum hätte sein können: es wäre ihnen dann um den Nachweis einer Determinierung des Politischen durch den Raum der Erde in dem Sinne gegangen, daß das je durch solches Räumliche determinierte Politische als notwendige, unausweichliche Wirkung erkannt werden sollte. Allerdings hat schon Wittfogel formuliert, daß der (vermeintliche) Determinismus der deutschen Geopolitik, im Vergleich zum geographischen Materialismus des 18. Jahrhunderts nur ein halbherziger war: „Während die Pioniere des geographischen Materialismus mittels ihrer Methode glaubten, die Bewegungsgesetze der Geschichte wirklich bloßlegen zu können, sind die Epigonen sehr viel bescheidener geworden. Mit 25 % der Wahrheit wollen sie sich, nach Haushofers offenherziger Formulierung, gern begnügen." 5 Tatsächlich war ein strikter Determinismus die Sache der deutschen Geopolitik nicht. In den verschiedensten Varianten begegnet dort die Feststellung, daß es der Geopolitik nicht um einen geographischen Materialismus zu tun sei, daß sie nicht unausweichliche Determinierungen menschlichen Handelns durch Geo-Räumliches behaupten wolle und ähnliches 6 . Wenn in den,Thesen über Geopolitik' 1928 davon gesprochen wird, daß es um die Erkenntnis der „Erdgebundenheit politischer Vorgänge" 7 gehe, bzw., an anderen Orten, um die räumliche Bedingtheit' der Politik, so sind diese Worte mit Bedacht gewählt. Das Politische sei an die Erde ,gebunden' und durch die Beschaffenheit der Erde .bedingt', nicht aber durch sie determiniert. Wie anders sollte auch begründbar sein, „daß die Geopolitik Rüstzeug zum politischen Handeln liefern" 8 wolle, wenn hier, weil sowieso determiniert, gar nicht zu handeln ist? Diese Aussagen werden in den gleichen Thesen jedoch begleitet von einer anderen, aus der die Kritik am Raumdeterminismus der Geopolitik sich legitimieren kann: „Die von der Geographie erfaßte Wesenheit der Erdräume gibt für die Geopolitik den Rahmen ab, innerhalb dessen sich der Ablauf der politischen Vorgänge vollziehen muß, wenn ihnen Dauererfolg beschieden sein soll. Gewiß werden die Träger des politischen Lebens gelegentlich über diesen Rahmen hinausgreifen, früher oder später aber wird sich die Erdgebundenheit immer wieder geltend machen." 9 Inhaltlich entspricht dieser Satz der Idee eines verzögerten Determinismus 10 , wie er von 5 Karl August Wittfogel, Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus, a. a. O., S. 500. 6 Im weiteren Text werden eine Reihe von Beispielen gegeben. An dieser Stelle mögen ein paar Äußerungen genügen. Erich Obst sagt 1951: „Es bedarf kaum einer Hervorhebung der Tatsache, daß es eine geographisch-geopolitische Prädestinationslehre nicht gibt. Das Volk oder die vom Volk zur Staatsfiihrung gewählten Persönlichkeiten haben selbstverständlich überall und zu allen Zeiten die Möglichkeit, sich mit ihrem Staatswillen über die Raumgegebenheiten hinwegzusetzen:" Ders., Geopolitik, a. a. O., S. 1. Benoy Kumar Sarkar schreibt 1939: „Geopolitik ist... Wissen vom Mensch, vom menschlichen Willen. (...) Der Ehrgeiz der Menschen, die Umwelt und den Lebensraum umzubauen ... sowie notwendigerweise zu überwinden, ist einer der grundlegenden menschlichen Triebe. Dieser geistige oder spirituelle Trieb der Menschheit, dieser ewig menschliche Versuch, die Natur, die Umwelt und den Lebensraum zu beherrschen, zu erweitern und umzugestalten, ist das eigentliche Thema der Geopolitik." Ders., Grundfragen der Geopolitik, angewandt auf das indische Volk, in: ZfGp, 16. Jg., 1939, S. 631-637, ebd., S. 631. 7 Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27. Ebenso vorher. 8 Ebd., S. 27. 9 Ebd., S. 27. 10 So etwa auch bei Hans Offe: „Ohne sich irgendwie ausschließlich an sie zu klammern, führt die
.Allerlei Verwirrung' statt Raumdeterminismus
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Ratzel als Form ,anthropogeographischer Gesetze' behauptet worden war: danach sei das Eintreten eines Ereignisses von seiner räumlichen Seite her unausweichlich bestimmt, nur das Wann sei, weil der Mensch aufgrund seiner eigenen Freiheit dieses in der Zeitreihe verzögern könne, ungewiß". Ein ähnlicher Widerspruch findet sich schon in der theoretischen Grundlegung der Geopolitik bei Kjellen. Ich hatte ausgeführt, daß ihm die Geopolitik zusammen mit der Demopolitik die Naturseite am Staate aufhelle, wobei Natur im Sinne einer Notwendigkeit gemeint war, der gegenüber normative Beurteilung, die stets ihrem Inhalt nach die Möglichkeit der Freiheit der Wahl voraussetzt, sinnlos sei. Andererseits jedoch gibt er als Abgrenzung von politischer Geographie und Geopolitik an, daß der Gegenstand der Geopolitik „nicht das Land, sondern stets und ausschließlich das von politischer Organisation durchdrungene Land, d. h. das Reich" 12 sei. Damit aber wird wiederum das Politische in seiner Gesamtheit, also auch seine , Kulturseiten', zum Teil des Gegenstandes der Geopolitik13. Tatsächlich ist es dem geopolitischen Streit um einen adäquaten Begriff der Geopolitik insgesamt zu eigen gewesen, daß die Art der Beziehung zwischen Erd-Räumlichem und dem Anthropos, von der die Geopolitik auszugehen habe, irgendwo zwischen einem .deterministischen' und einem ,nicht-deterministischen' Verständnis angesiedelt werden sollte. Je nach Autor kam es dabei zu differenten Akzentuierungen, die aber in der Regel von einem deterministischen Selbstverständnis wegführten. Erst aus diesem Ort des Dazwischen konnte überhaupt das Phänomen der Uneinigkeit über den Begriff Geopolitik in der klassischen Geopolitik entstehen. Angesichts der Widersprüchlichkeit des geopolitischen Diskurses führt eine Kritik ihres vermeintlichen Determinismus in die Irre, weil sie dieses Widersprüchliche vereinseitigt. Sie übersieht zugleich, daß der Sinn der Zurücknahme weitreichender Erklärungsansprüche gerade darin bestand, dem ,Wert der Rasse' und der .heroischen Persönlichkeit' das Primat einzuräumen. Bezeichnend hierfür ist schon die Stelle, in deren Rahmen Haushofers 25%Hypothese steht, dabei deutlich auf die ,Ideen von 1914' anspielend: „Man darf eben überhaupt nicht vergessen, daß die geopolitische Betrachtungsweise notwendig der ErgänGeopolitik das politische Denken auf die Gesamtheit der räumlichen Lebensbedingungen zurück, denen das politische Handeln auf die Dauer notwendig unterliegt, deren Ausfluß es vielfach ist." Ders, Geopolitik und Naturrecht, a. a. O., S. 245. 11 Vgl., Friedrich Ratzel, Anthropogeographie, Erster Teil, a. a. O., S. 90ff. Ebd., S. 102, heißt es: „Es ist also möglich, eine geschichtliche Gleichung mit anthropogeographischen Thatsachen so anzuschreiben, daß nur eine Größe unbekannt bleibt: diese aber gehört jedesmal der Zeit an. Ein Ereignis wird unter gegebenen Größen-, Raum-, Lageverhältnissen eintreten, man weiß nur nicht wann." 12 Vgl., Rudolf Kjellän, Der Staat als Lebensform, a. a. O., S. 42. 13 Rupert von Schumacher leitete 1934 aus der Idee der .Organisierung des Landes' den sozialwissenschaftlichen Charakter der Geopolitik ab. Die Geopolitik betrachte „nicht die Landschaft als solche, sondern die vom Menschen gewertete Landschaft, und bezeichnet das Ergebnis dieses Werturteils als Raum." Dabei habe die Geopolitik „eine vollständige sozialwissenschaftliche Abstraktion aus dem Raumbegriff entwickelt: den Raumbegriff in der Prägung „Gesetz der wachsenden Räume". Zweifelsohne ist damit nicht gemeint, daß die Landschaft größer wird, auch nicht die Tatsache der Gemeinschaft, sondern daß sich eine bereits vorhandene Gemeinschaft - „Volk" - vertieft, verfestigt, eine bessere Organisation erhält, sich ihrer besser bewußt wird... Raum bezeichnet in diesem Fall also einen sozialen Entwicklungsstand bzw. -Vorgang. (...) Mit dieser geopolitischen Begriffsfassung des Raumes werden aber auch die Kritiker widerlegt, die der Geopolitik Milieulehre vorwerfen ..." Ders., Zur Theorie des Raumes, a. a. O., S. 574-575.
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Das .Wesen der Geopolitik'
zung nach der heroischen Seite des Menschen, der Heldenverehrung bedarf, und daß sie etwa nur ein Viertel der Fragen menschlicher Entwicklung aus erdbestimmten Ursachen ableiten kann, wenn sie den Menschen aus seiner Umwelt erklärt - ganz ohne Berücksichtigung der anderen drei Viertel, die aus seinem und seiner Rasse Innerem, seinem sittlichen Willen und dem bewußten, zwingenden Gegensatz zu seiner Umwelt erklären müssen." 14 Demgegenüber soll hier die Diskussion um den Begriff Geopolitik in ihrem Gegeneinander als Phänomen analysiert werden. Dabei wird sich zeigen, daß das zugrundeliegende Problem dieser Widersprüchlichkeit nicht in der Art des Verhältnisses, das hergestellt, sondern schon in dem lag, wozwischen ein Verhältnis gesucht wurde, nämlich dem ,Geo-Raum' und dem ,Anthropos'. Ausgehen werde ich dabei von den Versuchen, Geopolitik von politischer Geographie zu unterscheiden, denn gerade dabei stellte sich die Notwendigkeit, einen Begriff der Geopolitik zu geben. Selbstverständnisdiskussionen
in der klassischen Geopolitik und Raum-Rasse-Diskurs
In der Formel von der,Erdgebundenheit politischer Vorgänge' sollte die Wendung .politische Vorgänge' den Anthropos in einer Weise zur Geltung bringen, mit der sich die Geopolitik von Politischer Geographie unterscheiden lasse: die Geographie interessiere sich für dasjenige, was sich vom Menschen in dauerhafter Weise in der Landschaft und als Landschaft fixiert habe, die Geopolitik hingegen betrachte die darin enthaltene Entwicklungsdynamik in ihrer Offenheit zur Zukunft hin, wobei allerdings gerade das herausgearbeitet werden soll, was in dieser Offenheit nicht uneingeschränkt offen, sondern erdgebunden ist. Maull weist 1936 darauf hin, daß diese Formulierung von Lautensach stammt, aber letztlich nicht haltbar scheint. Lautensach wollte mit dem Verweis auf .Vorgänge' eine Differenzierung gemäß der Denkweise ermöglichen: während die Geographie statisch verfahre, nähere sich die Geopolitik den erdgebundenen politischen Erscheinungen dynamisch15. Der Gegensatz statisch-dynamisch taugt für Maull 1936 aber nicht mehr zur Abgrenzung, da jede Politische Geographie, die die Kulturseite in den Mittelpunkt stellt, gleichermaßen statisch und dynamisch denken muß: „Die Beschränkung auf „Vorgänge" im Gegensatz zu den „Zuständen" geht auf Lautensachs Vorschlag zurück, die „Denkweise" der Geopolitik als dynamisch, die der Politischen Geographie als „statisch" anzusehen, was mit den Aufgaben der Politischen Geographie im besonderen, der Anthropogeographie im allgemeinen keineswegs übereinstimmt. Nur aus der Betrachtung der dynamischen Vorgänge wird beiden die Erklärung für die statischen Zustände." 16 Maull bestimmt 1936 die Abgrenzung von Politischer Geographie und Geopolitik als eine zwischen reiner und angewandter Wissenschaft. So wie die Medizin in der Biologie verwurzelt sei, verhalte es sich auch mit der Verankerung der Geopolitik in der Politischen Geographie. Die Geopolitik ist ihm angewandte Wissenschaft, was nicht verwechselt werden
14 Karl Haushofer, Zum Geleit, in: James Fairgrieve, Geographie und Weltmacht, a. a. O., S. 6. 15 So bestimmte z. B. auch Johann Thies 1932 die Differenz: „Die Geopolitik ist eine dynamische Wissenschaft. Sie behandelt nicht Zustände, sondern Vorgänge des staatlichen Lebens." Ders., Geopolitik in der Volksschule, in: ZfGp, 9. Jg., 1932, S. 503-512, 626-637, ebd. S. 511. Der Vorschlag für einen Bildungsplan, den er auf den S. 634-637 bietet, orientiert sich wesentlich an Otto Maull. Zu Thies vgl. auch unten. 16 Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 26.
.Allerlei Verwirrung' statt Raumdeterminismus
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darf mit Anwendung politischer Geographie, wogegen sich die Herausgeber der ZfGp schon 1928 wenden 17 . Diese Argumentation ist gegen ein unkontrolliertes Übergehen reiner geographischer Wissenschaft in Handlungsempfehlungen und zeitpolitische Wertungen gerichtet. Für Maull zeichnet sich eine angewandte Wissenschaft durch ein besonderes Erkenntnisinteresse aus. Während der politische Geograph die staatlichen Raumorganismen in allen Schattierungen, aber ohne wertende Interessiertheit untersucht, nähert sich der Geopolitiker den Phänomenen wertend, als Therapeut und Arzt des Staates. Dadurch steht die Geopolitik auch in einem anderen Verhältnis zur Politik als die politische Geographie. Letztere forscht unabhängig von aller nationalen Interessiertheit, die Geopolitik hingegen kann sich besonderen nationalen Interessen verpflichtet fühlen, indem sie „ihre Erkenntnisse in erster Linie ihrem Vaterland zur Verfügung" 1 8 stellt. Wenn so die Anwendungsseite der Geopolitik national verpflichtet ist, müssen ihre Erkenntnisse an sich jedoch wissenschaftlich gewonnen sein, wobei die Geopolitik, im Unterschied zur politischen Geographie, das Geflecht politischer Ursachen eingehender analysieren muß und kann. Nur als wissenschaftliche Geopolitik kann sie die aufklärerische Aufgabe erfüllen, die ihr von den Herausgebern der ZfGp 1928 zugewiesen wurde: sie soll Wegweiser im politischen Leben und geographisches Gewissen des Staates sein, damit in der praktischen Politik der „Sprung vom Wissen zum Können und nicht vom Nichtwissen aus" 19 erfolgt, „woher er sicher weiter und gefährlicher ist" 20 . Wenn auch Maull Lautensachs Differenzierung nach dynamischer und statischer Denkweise überwinden will, benutzt er doch selbst die Opposition statisch-dynamisch, um einen inhaltlichen Unterschied von Geopolitik und politischer Geographie zu bestimmen: die politisch-geographische Analyse und darauf aufbauend die Synthese des staatlichen Raumorganismus scheine diesen „in einem bestimmten Augenblick gleichsam zu ruhen" 21 zu bringen, sie stellt in diesem Sinne die „Raumgegebenheiten eines Staates" 22 fest. Die Geopolitik erforscht diese Gegebenheiten unter dem Aspekt der „Raumerfordernisse des Staatenlebens" 23 , sie fragt z. B. danach, ob der verfügbare Staatsraum mit dem Bevölkerungswachstum, im Vergleich zu anderen Staaten, den Erfordernissen genügt 24 .
17 Anfangs sah auch Maull in der Geopolitik eine Anwendung politischer Geographie, die dabei auch ausgedrückt werden konnte in der Form .angewandte Politische Geographie', was er nicht von .angewandter Wissenschaft' unterschied. Auf diese Differenz legen dann aber die Herausgeber der ZfGp Wert, um so die Politische Geographie als Teil der Geographie und Geopolitik, als außerhalb der Geographie stehend, voneinander zu trennen. Vgl., Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 20-26. 18 Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 25. 19 Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27. 20 Ebd., S. 27. 21 Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 31. 22 Ebd., S. 31. 23 Ebd., S. 31. 24 Ähnlich auch der amerikanische Geopolitiker Walsh: „Ich spreche nur für mich selbst und für keine andere Stelle, wenn ich bereitwillig zugebe, daß für die Ausdehnungsmöglichkeit der Länder mit schnell wachsender Bevölkerung in verständiger Weise Vorsorge getroffen werden muß. Wenn neuer Raum für eine notwendige Auswanderung tatsächlich gebraucht wird, wenn der Bevölkerungsdruck echt und natürlich und nicht nur ein angeblicher und künstlicher ist, dann sollten Ver-
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Das .Wesen der Geopolitik'
Maulls Beharren auf der Geopolitik als angewandter Wissenschaft soll sie gegen Irrationalismen sichern, die ihr von ihrem prognostischem Charakter her drohen. Dagegen sprach K. Haushofer in Anklang an Siegers Äußerung, daß die Geopolitik da anzufangen scheine, wo die Prognose beginne 25 , stets von der Geopolitik als Kunstlehre 26 . Demgegenüber bestimme die politische Geographie das, was ist, nicht das, was sein kann oder sein soll, noch das, wie ein Sollen möglicherweise in ein Sein überführt werden kann 27 . Die prognostische Seite der Geopolitik soll für Maull aber zumindest nicht nach Art vorwissenschaftlicher Meteorologie realisiert werden, sondern nach derjenigen wissenschaftlicher Meteorologie und der aus dieser entstehenden Wettervorhersagen 28 . Grabowsky hat 1933 diese Auffassung der Geopolitik als selbständiger Wissenschaft entschieden bestritten29. Sie ist ihm eine unverzichtbare Methode, die aber, wie bei Kjell6n, Teil der Politikwissenschaft sein müsse 3 0 . Nur wenn die Geopolitik dem Primat der Politologie
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handlungen vor einem geeigneten Gremium eingeleitet werden, das dem Staate, der Gebiet abtritt, Ausgleich und Schutz gewährt." Edmund A. Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland, a. a. O., S. 14f. Grabowsky sah 1928 ebenfalls in der Prognose einen wesentlichen Aspekt der Geopolitik: „Der dynamische Charakter der Geopolitik weist sie ganz besonders auf die Prognose. Der kürzlich verstorbene Grazer Geograph Robert Sieger hat einmal auf die Frage, was der Unterschied sei zwischen politischer Geographie und Geopolitik, geantwortet: die Prognose." Ders., Staat und Raum, a. a. O., S. 19. So auch Baumann 1932 in der ZfGp: „Gerade auf die Prognose kommt es dem Geopolitiker an. Er will soweit wie möglich die Bindungen und Bedingungen nachweisen, die für das politische Handeln maßgebend sind, damit der Sprung aus dem Reich des Wissens in die Tat soweit wie möglich gesichert ist." Ders., Wittfogel und Battaglia, a. a. O., S. 580. So auch Sieger 1925 über die Grenze von politischer Geographie und Geopolitik: „Wir stoßen noch auf eine andere Grenzzone, in der sich leicht eine annähernde Grenzlinie ziehen und auch praktisch einhalten läßt. Und an diese möchte ich den Namen „Geopolitik" setzen. Das doppelsinnige Wort bezeichnet nicht nur die wissenschaftliche Theorie des Staates, sondern auch die praktische Staatskunst und die Technik der Kunstlehre, die sich diese mit Hilfe der Theorie, aber auch des Ahnungs- und Einfühlungsvermögens des Praktikers herausbildet. Soweit diese auf geographischer Grundlage steht, vom Raum ausgeht und mit dem Raum zu tun hat, kann man sie kaum anders nennen als Geopolitik." Ders., Die Geographie und der Staat, Graz 1925, S. 9. Insofern wäre sie aber als Anwendung politischer Geographie, nicht als angewandte Wissenschaft bestimmt. Auch in den ,Thesen über Geopolitik' wird diese Formel verwandt, die sich darin als Versuch zeigen, disparate Zugriffe miteinander zu vereinen. Rupert von Schumacher definierte bündig die Geopolitik als normative Wissenschaft: „Im weiteren Sinn ist die Geopolitik schon auf Grund ihres Raumbegriffs eine normative und nicht eine beschreibende Wissenschaft." Ders., Zur Theorie des Raumes, a. a. O., S. 576. Daran schloß auch im gleichen Jahr seine Definition des Begriffs .Raumstrategie' an: „Die Raumstrategie ist aber weitgehend auch die Lehre von der Raumbildung durch menschliche Einwirkung, speziell der spekulativen Raumumgestaltung, der Anpassung des Raumes an politische Konzeptionen." Ders., Zur Theorie der Raumstrategie, a. a. O., S. 779-788. Vgl., Otto Maull, Das Wesen der Geopolitik, a. a. O., S. 28ff. Vgl. Adolf Grabowsky, Raum als Schicksal, a. a. O.; Ders., Staatserkenntnis durch räumliches Denken, a. a. O.; Ders., Raum, Staat und Geschichte, a. a. O.; Ders., Das Problem der Geopolitik, in: ZP, 22. Bd., 1933, S. 765-802. Allerdings sah er das 1928 noch etwas anders: „Erhält die Geopolitik dadurch, daß sie eine politische Wissenschaft ist, erst ihre besondere Färbung, so wird umgekehrt die Politik nicht zum wenigsten gerade durch die Geopolitik erst zur Wissenschaft." Ders., Staat und Raum, a. a. O., S. 19.
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unterliegt und sich ihr als Methode einordnet, könne der Gefahr eines irrationalen Ineinssetzen von „Raumschicksal" 31 und „Staatsschicksal" 32 entgangen werden. Tatsächlich habe die Geopolitik bei den Herausgebern der ZfGp, mit ihrer engen Abhängigkeit von der politischen Geographie, eine Entwicklung genommen, in der die Raumseite unter den geschichtsbildenden Mächten eine primäre, vor allem das Ökonomische nicht genügend beachtende Rolle erhält, die der realen Bedeutung des Raumfaktors nicht angemessen ist. Sie werde darin ebenso falsch wie die einseitige Betonung des Ökonomischen im Marxismus, obwohl Raum und Ökonomie an sich wichtige Geschichtsmächte darstellen. Heftig und polemisch kommentiert der Geopolitiker Grabowsky die Thesen der geographischen Geopolitiker: „Kein Wort also von einer Konkurrenz der geschichtlichen Kräfte: die politischen Vorgänge sind erdgebunden und damit fertig. Und die Träger des politischen Lebens haben sich nach den von der Geographie erfaßten Wesenheiten der Erdräume zu richten, und nach keinem anderen Faktor sonst. Gnädig konzediert man ihnen, daß sie gelegentlich über die geographischen Gebundenheiten herausgreifen werden, aber schließlich müssen sie doch immer wieder an die Erdgebundenheit prallen. Dabei eine völlig verschwommene Ausdrucksweise des Verhältnisses von Geopolitik und politischer Geographie. Die Geopolitik fußt auf der politischen Geographie, damit werden wir abgespeist."33 Allerdings sieht Grabowsky, daß er im Gegenzug den Leser kaum mit der Behauptung alleine lassen kann, daß die Geopolitik nur oberflächliche Beziehungen zur politischen Geographie hat und die Geopolitik überhaupt nur gepflegt werden kann, wenn sie ganz scharf von der politischen Geographie abgetrennt wird. Wie ist solch eine Abtrennung zu bestimmen, da auch für Grabowsky Kjellens Differenzierung unhaltbar scheint? Grabowsky greift zu diesem Zweck auf die Begriffe statisch-dynamisch zurück, die er in differente Zeitdimensionen übersetzt: „In der Tat, politische Geographie hat, negativ gesprochen, mit dem dynamischen Raumschicksal eines Staates nichts zu tun, sie betrachtet (...) nicht das labile, sondern das stabile Moment am Staat. Soweit also der Staat und damit auch sein Raum in die politisch-historische Entwicklung hineingestellt ist, kommt nicht politische Geographie, sondern Geopolitik in Frage." 34 Die Phänomene, die zur politischen Geographie gehören, stehen zwar nicht außerhalb der Geschichte, aber sie haben darin eine sehr lange Zeitdauer, während das Politische sich ,in kurzen Wellen' bewegt. Braudels spätere Argumentation liest sich teilweise als Paraphrase Grabowskys. Grabowsky unterscheidet längste, lange und kurze Wellen. Beispiel längster Wellen ist ihm die sehr allmähliche Wandlung des Klimas, die Bearbeitung der Landschaft durch den Menschen ergibt immerhin noch lange Wellen. Das Politische hingegen hat einen kurzen, hektischen Rhythmus, auch dann, wenn es sich des Raumes bemächtigt. Was heißt aber das Politische? Darüber wird Grabowsky undeutlich. Er grenzt sich explizit gegen das Freund-Feind-Schema Schmitts ab, um selbst ,das Leben des dynamischen Staats' als positiven Inhalt der Politik zu setzen: „Die Politik betrifft das Leben des dynamischen Staats, kreist
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Doch auch hier legte er Wert auf die Feststellung, daß die Geopolitik eben ein Teil der Staatswissenschaft, nicht der Geographie sei. Vgl., Adolf Grabowsky, Raum als Schicksal, a. a. O. Vgl., ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 8.
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Das .Wesen der Geopolitik'
um den dynamischen, motorischen Staat (...) womit schon Licht fällt auf den allein richtigen, nämlich den vitalen Staatsbegriff." 35 Als Teil der Politologie betrachtet die Geopolitik das Räumliche genau da, wo das Statische des Raumes durch die Dynamik des Staates von ihm abfällt. Die Zeitdimensionen trennen politische Geographie und Geopolitik ebenso nachhaltig, wie im Gegenzug Geographie und Geschichte durch sie zusammengebunden werden. Im Detail, so Grabowsky, verlaufe die Geschichte zwar mitunter stürmisch, aber „ihr Totalgehalt vollzieht sich in breit ausholenden Schwingungen" 36 . Im gleichen Jahr veröffentlicht Max Baumann in der ZfGp eine Entgegnung auf Grabowsky 37 . Baumanns Kritik ist zugleich die Rechtfertigung einer Denkschrift der Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik (in der Folge mit AfG abgekürzt), die seit 1931 zunehmend das Erscheinungsbild der ZfGp prägte38. Als Gegenstand der Geopolitik wird in der Denkschrift der Staat betrachtet. Den Staat selbst bestimmt sie als den „raumgebundenen Organismus eines Volkes"39. Zu diesem Staat und der Wechselbeziehung Erde-Staat stehe die Geopolitik in einem doppelten Verhältnis: sie ist ihrem Wesen nach sowohl Staatswissenschaft als auch Staatsanschauung: „In ihrem Wesen aber ist Geopolitik nicht Wissenschaft allein, sondern die Gestaltung von Einzelwissen zur organischen Auffassung des Staates und der Welt sowie ihre Anwendung im Dienst des Staates."40 Das von der Geopolitik zu einer ,organischen Auffassung' zusammengeführte Einzelwissen gründet für die Verfasser der Denkschrift nicht nur in der Geographie, sondern genauso in der „Geschichte, Biologie und ihren Nachbarwissenschaften" 41 . Letztere werden im weiteren als Kulturwissenschaften spezifiziert. Die Geopolitik nimmt hier einen Platz ein, wie ihn Auguste Comte einmal der Soziologie zugedacht hatte, in der alles Wissen zusammenfließen soll, bis sie umschlägt in eine staatsintegrative Weltanschauung. Durchaus praktisch orientiert wird für die Schule die Zusammenführung von Geographie- und Geschichtsunterricht in einen Geopolitikunterricht und für die Universität die Abtretung frei werdender Lehrstühle bei den Staatswissenschaften, der Geographie und Geschichte an Geopolitiker gefordert. Aus dem Horizont der Denkschrift ist die Entgegnung Baumanns an Grabowsky geschrieben42. Baumann kritisiert Grabowskys Staatsbegriff als einen pseudoorganischen, der sich bei näherem Hinsehen als „Ausfluß eines mechanistisch-rationalistischen politischen Weltbildes" 43 erweist und damit dem zum Untergang bestimmten „Geist des Liberalismus" 44 angehört. Die Trennlinie Grabowskys von politischer Geographie und Geopolitik hält Baumann für unplausibel. Grabowsky bleibe die Antwort schuldig, ob mittellange Zeitdimen35 36 37 38 39 40 41 42
Adolf Grabowsky, Raum als Schicksal, a. a. O., S. 10. Ebd., S. 10. Vgl., Max Baumann, Raum und Staat, a. a. O., S. 554-559. Vgl., Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik, Denkschrift, a. a. O., S. 301-304. Ebd., S. 301. Ebd., S. 302. Ebd., S. 302. Vgl. auch, Georg Maass, Geopolitik als nationale Staatswissenschaft, in: ZfGp, 10. Jg., 1933, S. 559-564. 43 Max Baumann, Raum und Staat, a. a. O., S. 555. 44 Ebd., S. 558.
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sionen in den Bereich der Geopolitik oder der politischen Geographie fallen. Daß er überhaupt versucht, auf diese Weise politische Geographie und Geopolitik zu trennen, ist für Baumann letztlich Resultat seiner pseudoorganischen Auffassung. Die Geopolitik gründe aber im Begriff des Staates als lebendiger Natur: „Geopolitik wird erst dadurch zu einer besonderen Anschauungsweise und einer besonderen Wissenschaft, daß man sie als die Naturgeschichte des Staates erkennt. Die Naturseite des Staates hat ein doppeltes Gesicht, hat einen räumlichen und einen ethnischen Aspekt, ist angesprochen in der Formulierung „Blut und Boden"." 45 Raum und Volk bzw. Rasse, wie Baumann hinzusetzt, stellen die Naturseiten des lebendigen Organismus Staat dar, die von der Geopolitik, wie von der Rassenlehre, ganzheitlich gedacht werden. Das ganzheitliche Denken verstehe Grabowsky nicht, weshalb er das organisch Lebendige „seinem seltsam aufspaltenden Denken" 46 unterwerfe, mit dem Ergebnis, das Ökonomische als eine eigenständige Geschichtsmacht anzusehen. Das Ökonomische ist jedoch, so Baumann, wie die gesamte Kulturseite des Staates aus seiner Naturseite lediglich abgeleitet. Auch wenn die Kulturseiten eine gewisse Selbständigkeit erreichen können, bleiben sie doch stets sekundäre Kraftquellen, die von den primären Kraftquellen Raum und Volk (Rasse) bestimmt bleiben. Deren Wechselwirkung ist Gegenstand der Geopolitik als Staatswissenschaft und Staatsanschauung. Die Geopolitik wird damit zur „Königin der Wissenschaften" 47 , aus der alle anderen Wissenschaften in der neuen, politischen Universität ihre Ziele und ihr Selbstverständnis gewinnen: „Sie wird dem jungen Wissenschaftler zeigen, aus welchem Mutterboden das gegenwärtige deutsche Leben erwächst, wie es unlösbar verkoppelt ist mit den Kräften von Raum und Rasse, sie wird ihm damit den Rahmen abstecken, in dem sich auch eine wissenschaftliche Tätigkeit bewegen muß." 48 Bei diesem Begriff von Geopolitik wird die Frage nach der Abgrenzung von Geopolitik und politischer Geographie hinfallig. Diese resultierte für Baumann noch aus dem bisherigen Verständnis des Wissenschaftssystems innerhalb des Gefüges der alten, liberalistischen Universität: ,£)ie Geopolitik ist dem bisherigen System der Wissenschaft überhaupt nicht einzuordnen, weil sie auf einer ganz anderen Basis steht als diese,"49 Ein merkwürdig revolutionärer Pathos spricht aus diesen Ambitionen, der mit der leninistisch-stalinistischen Ideologie die Idee eines Umschlags von Wissenschaft in Weltanschauung teilt50. Allerdings hat die Geopolitik, insbesondere in der von der AfG weitreichend projektierten Form, nicht die normative Definitionsmacht erreicht, wie sie Stalin seiner eigenen Version des historischen Materialismus zu geben vermochte. 1939 konstatiert der nationalsozialistische Geopolitiker J.U. Folkers: „Der Einführung geopolitischer Betrachtungsweise in dem Unterrichtsbetrieb der deutschen Schule hat fraglos der Umstand besonders im Wege gestanden, daß die Geopolitik als neues „Fach" erschien. (...) Es würden auch geopolitische FacAstunden nur das Wesen der Geopolitik verfälschen, 45 46 47 48 49 50
Ebd., S. 556. Ebd., S. 557. Ebd., S. 559. Ebd., S. 559. Ebd., S. 558. 1932 hatte er noch eine konservativ-romantische Position für sich reklamiert und in der Geopolitik „eine in nationaler und konservativer Weltanschauung gebundene Wissenschaft" gesehen. Max Baumann, Wittfogel und Battaglia, a. a. O., S. 581.
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Das , Wesen der Geopolitik'
die eben kein Fach, sondern nur eine Betrachtungsweise für die vorhandenen Sachgebiete, insbesondere Geschichte, Erdkunde und Biologie, ist." 51 Aus der Weltanschauung ist ,nur eine Betrachtungsweise' geworden, hinter der für Folkers allerdings eine geopolitische wissenschaftliche Forschung steht, wie sie z. B. von der ZfGp repräsentiert werde 52 . Folkers widmet sich dem Problem, wo und wie die geopolitische Forschung in eine praktische Volks- und Jugenderziehung überführt werden kann, woran es 1939 - nach wie vor mangele. Solch eine Erziehung nach Art popularisierter Wissenschaft betreiben zu wollen, sei jedoch nicht bloß .Aufklärungs-Aberglaube', sondern entspräche gerade nicht dem Charakter der Geopolitik, eine Betrachtungsweise zu sein. Betrachtungsweise heißt dabei für Folkers, daß die Geopolitik gar keinen ihr originären Gegenstand besitzt, sie hat vielmehr gegenüber den verschiedensten Gegenständen einen originären Blick: „Geopolitik ist (...) eine neue Betrachtungsweise, die altbekannte Dinge neu beleuchtet und unter neue Gesichtspunkte bringt, damit allerdings ganz neue erziehungswichtige Perspektiven eröffnet. Sie sieht nicht neue Dinge, sondern sie sieht die Dinge neu." 53 Die erzieherische Perspektive soll jedoch eine andere bei der allgemeinen Grundausbildung der Masse sein, als bei der Erziehung des Führernachwuchses. Bei der breiten Masse möchte Folkers ein hermeneutisches Vermögen entwickeln, geopolitische Aufgaben zu verstehen und die Versuche der Führung, diese zu lösen. Die Lösungen finden zu wollen kann nur Angelegenheit einer geopolitisch geschulten Elite sein und daher frühestens in der Oberstufe Thema werden, weil hier Wissen und Bewußtsein schon so weit entwickelt sind, daß der Gefahr eines „geographischen Materialismus" 54 gewehrt werden kann, eine Gefahr, die der Geopolitik eigentümlich inhärent sei. Im Unterschied zu Wittfogels Kritik der Geopolitik, wird für Folkers damit nicht der Blick auf ökonomische und soziale Widersprüche getrübt, sondern auf den Wert der Rasse und den der Führerpersönlichkeit. Die in den ,Thesen zur Geopolitik' 1928 ausgedrückte doppelsinnige Aufklärungsabsicht, die sich zum einen an die politische Elite wandte (Gewissen des Staates, Politikberatung), zum anderen an die Bevölkerung 55 , nimmt bei Folkers eine bemerkenswerte Wendung. Er will einen blinzelnden, ohne viele Worte auskommenden Konsens zwischen dem Volk und seiner Führung herstellen, eine „Einfühlungsfähigkeit, die uns ohne Alarmierung des Aus-
51 Johann Ulrich Folkers, Geopolitische Geschichtslehre und Volkserziehung, a. a. O., S. 7. Vgl. auch oben die Ausführungen im 6. Kapitel zu seiner Abhandlung über ,Das Gesetz der wachsenden Räume'. 52 So beginnt er seine Abhandlung: „Gegenüber meinem Schreibtisch stehen die 28 Halbjahresbände der Zeitschrift für Geopolitik. Welche Fülle gründlichster wissenschaftlicher Forschungsarbeit und welcher Schatz von Erkenntnissen als Grundlage einer politischen Erziehung des deutschen Volkes!" Ebd., S. 5. 53 Ebd., S. 5. 54 Ebd., S. 6. 55 Vgl., Bausteine zur Geopolitik, a. a. O. Dort heißt es: „Die Geopolitik will und muß zum geographischen Gewissen des Staates werden." Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, a. a. O., S. 27. Zu Karl Haushofer ebd., S. 19: „Für Haushofer ist die Geopolitik damit nicht nur Wissenschaft, sondern zugleich ... eine Kunstlehre, ohne die die Staatsleiter und in einem parlamentarisch regiertem Staat das ganze Volk stets Gefahr laufen, Richtungen politischer Entwicklung einzuschlagen, die durch die natürlichen Verhältnisse der Erdoberfläche so stark gehemmt werden, daß sie über kurz oder lang mit einem Fehlschlag enden müssen."
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landes dazu befähigt, dem leisesten Wink der Führer zu folgen" 56 (er zitiert hier K. Haushofer). Um welche leisen Winke es geht, wird deutlich anhand der geopolitischen Auffassung der Geschichte, die Folkers vermittelt sehen möchte: „Die geopolitische Auffassung der deutschen Geschichte ist ihre Deutung als ein Ringen des deutschen Volkes um den unentbehrlichen Lebensraum."51 Die Grundausbildung des Volkes soll dabei die drei .naturgemäßen Mittel' dieses Ringens um Lebensraum herausstellen, d. h. ,Landnahme', ,Landesausbau' innerhalb gegebener staatlicher Grenzen und ,Intensivierung' der Nutzung. Seine Rekonstruktion der deutschen Geschichte kulminiert in der Feststellung, daß gegenwärtig das Problem bestehe, dem deutschen Volke unentbehrlichen Lebensraum zu verschaffen. Das aber könne „auch der Nationalsozialismus einzig und allein durch Rückgriff auf die drei natürlichen Mittel"58, also auf Intensivierung, Landesausbau und: Landnahme. Die Betonung liegt auf der drei-hier hat man es mit einer Geopolitik zu tun, die NS-Lebensraumpolitik und den Krieg, .blinzelnd', will. Folkers Bemerkungen zum Begriff Geopolitik selbst bleiben hingegen vage. Wie soll sie eine wissenschaftliche Forschung sein, ohne einen ihr eigenen Gegenstand aufweisen zu können? Wie ist ihr Verhältnis zur politischen Geographie? Deutlicher wird der nationalsozialistische Geopolitiker Walther Jantzen, ebenfalls 193959. Ausgehend von der .gewissen' Konfusion über den Gegenstand und die Methode der Geopolitik als Ergebnis heftiger, langjähriger Auseinandersetzungen, wendet er sich vor allem gegen ein raumdeterministisches Mißverständnis der Geopolitik: „Es ist nicht die Natur, die den Menschen zwingt, bestimmte Folgerungen zu ziehen, oder ihn gar anhält, seine politische Betätigung ihrem Befehl zu unterstellen. Vielmehr ist allein entscheidend, was Männer und Völker im Widerspiel mit den Gesetzen des Raumes zu gestalten vermögen." 60 Thema der Geopolitik sei nicht die Suche nach vermeintlichen Raumzwängen, sondern die Frage nach den Kräften, die aus dem Wechselspiel von Raum, Rasse, Führertum und Volk entstünden. Dabei stellt der Raum die Aufgabe dar, deren Bewältigung von dem jeweiligen Volk und dessen Führertum abhingen, wobei diese beiden Seiten von dem Rassewert determiniert seien, die deren wahres Substrat bilde. Die echte, d. h. nicht-deterministische, possibilistische Geopolitik lege den Akzent auf die Arbeit der Menschen als Volk, Führung und Rasse an der räumlichen Natur. Es ist insbesondere der Wert der deutschen Rasse und der ihr gemäßen Führernaturen, der durch eine deterministische Geopolitik in Frage gestellt würde. ,Der Orientale' mag ein typischer Sohn, ein Sklave seiner Landschaft sein, nicht jedoch der Deutsche als Wille und Arbeiter:,,Für ein Volk wie das deutsche, das ein reiches rassisches Erbe besitzt und das Glück hat, unter dem ihm gemäßen Führertum zu stehen, liegt der Gedanke fern, sich von räumlichen Gegebenheiten versklaven zu lassen. Wenn man allenfalls noch sagen kann, daß der Orientale ein typischer Sohn seiner Landschaft sei, so ist der Deutsche offenkundig der Meister und Präger seines Lebensraumes. Die deutsche Landschaft
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Johann Ulrich Folkers, Geopolitische Geschichtslehre und Volkserziehung, a. a. O., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 26. Vgl., Waither Jantzen, Geopolitik als Unterrichtsgrundsatz in der Schulerdkunde, Heidelberg, Berlin, Magdeburg 1939 (= SzG, H. 15). Jantzen wurde 1933 zum Gausachbearbeiter für Geopolitik im NSLB-Schlesien bestellt, ab 1935 war er Sachbearbeiter für Geopolitik im Deutschen Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin. 60 Ebd., S. 10.
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ist ein einziges großes Bild deutscher Arbeit. (...) E s gibt in diesem Land keine Flüsse und Ströme, denen dieses Volk der Arbeit nicht seinen Willen durch Schutz- und Industriebauten aufgezwungen hätte." 61 Nicht jede Verwandlung einer Naturlandschaft durch Menschenhand könne umstandslos als Überführung in eine Kulturlandschaft betrachtet werden, sondern nur solche, die den Naturorganismus in einen Organismus höherer Ordnung verwandelt, einen „organischen Kulturorganismus" 6 2 , in dem das Leben zu seinem Recht komme - ausgenommen sind reine zivilisatorische Zerstörungen: „Zerstörte er nur den naturgegebenen Organismus durch die brutalen Eingriffe der Zivilisation, oder wurde er wahrhaft Meister des Raumes, indem er einen organischen Kulturorganismus zum Leben erweckte? Der Begriff der Kultur hat heute einen vollen Klang bekommen. Keineswegs kann fortan alles Kulturlandschaft geheißen werden, was Spuren menschlichen Eingriffs offenbart." 63 Beispiele solcher zivilisatorischer Zerstörungen sind ihm die Monokulturgebiete Kanadas oder die französische Kolonisationsweise in Afrika, während das Deutsche Reich in den Grenzen vor Versailles ,ein Kulturgebiet höchster Intensität' gewesen sei. Das durch Versailles reduzierte Reichsgebiet wieder in einen Raumorganismus zu verwandeln, sei eines der wesentlichen Ziele des Nationalsozialismus, der insgesamt vollkommen aus einer organischen Volks- und Raumauffassung heraus handele. Dieses Handeln habe sich dafür so verschiedener Instrumente wie Raumordnung und Raumplanung, Neulandgewinnung und Autobahnbau bedient. Die nationalsozialistische ,Raumgesinnung' bzw. das .völkische Raumdenken', zu dem bei Jantzen der Begriff des Raumbewußtseins geronnen ist, sieht er als wahrhaft geopolitisch an, weil in ihr Raum und Volk als eine dynamische Einheit aufgefaßt werden - im Gegensatz zu den , blutleeren, dynastischen, liberalistischen oder rein machtpolitischen' Theorien, die dem Versailler Vertrag zugrunde lägen. Diese Dynamik zu lehren ist für Jantzen die Aufgabe der nationalpolitischen Erziehung und der darin aufgehenden echten Geopolitik, wobei das dynamische Element, das Volk, Jantzens Inbegriff des Anthropos ist: „Nicht der Raum als solcher kann ein Spannungsfeld, eine Wachstumsspitze oder ein strategisches Subjekt sein! Erst die Art seiner Erfülltheit mit Volk bringt ihm politische Bewertungsmöglichkeit. Von einem geopolitischen Raumgefüge kann erst gesprochen werden, wenn Volk aus der gegebenen Materie Raum das Wechselspiel erweckt, das Gegenstand der Betrachtung sein kann." 6 4 Indem die Organismusauffassung vom Staat für Jantzen auf den Lebensraum bezogen ist, schließe die Geopolitik notwendig an die Biologie an, wobei sie, wie auch Maull hervorhob, eine medizinisch-angewandte Seite hat. Die normative Entgegensetzung von organischem Kulturorganismus und zivilisatorischer Zerstörung wird von ihm entsprechend auch als ein Gegensatz von gesundem, geopolitisch richtig gegründetem Staat (=Kultur) und Machtstaat (=Zivilisation) gefaßt. Zum geopolitisch gesunden Staat gehört die Idee, die Schmitt als , Interventions verbot für raumfremde Mächte' völkerrechtlich formuliert wissen will. Jantzen schreibt 1936: „Der gesunde Staat, geopolitisch richtig gegründet, ist derjenige, der ein völkisch einheitliches Gebiet umschließt, das seinen Bewohnern gleichzeitig genügend Lebensraum bietet. Diesem gesunden Staat steht der Machtstaat gegenüber, dessen Grundlage 61 62 63 64
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ungerechtfertigter Hunger nach fremdem Volksboden ist, und der über Völker, Rassen und Sprachen hinweg nur Herrschaft und Unterordnung kennt. Die Geopolitik hat die Aufgabe, den Krankheiten in dem Lebewesen, das wir Staat nennen, bei allen Völkern nachzugehen. Sie müssen erkannt werden, sei es zu heilen, sei es das Übel an der Wurzel auszurotten." 65 Während Folkers und Jantzen einige Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung den weitgesteckten Ambitionen der AfG von 1933, Geopolitik als wissenschaftliche Weltanschauung des nationalsozialistischen Staates zu etablieren, eine Absage erteilen, schien 1934 für Franz Schnaß die Situation noch nicht so klar bereinigt zu sein. Am Ende seiner Schrift „Nationalsozialistische Heimat- und Erdkunde mit Einschluß der Geopolitik und des vaterländischen Gesamtunterrichts" 66 fühlt er sich genötigt, dem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, daß sein Eintreten für einen selbständigen, nicht in Geopolitik aufgehenden Erdkundeunterricht, nicht die Wichtigkeit geopolitischer Erkenntnisse und Tatsachen infrage stellen soll. Vielmehr sei es im Interesse einer soliden Geopolitik, daß das geographische Fundament, aus dem sie hervorgegangen ist und auf das sie angewiesen bleibt, gesichert wird. Für seine Position macht Schnaß auch pädagogische Argumente geltend, wobei er sich, neben Hitler, vor allem auf Ernst Kriecks Erziehungsphilosophie bezieht67. Im Gegensatz zur mechanistischen, liberalistisch-autonomen Auffassung vom Einzelmenschen lehre Krieck Kinder und Erwachsene als soziale Wesen, als Persönlichkeiten zu sehen, die nur als Teile durch das gegliedert-organische Ganze sind: „Bahnbrecher dieser Auffassung wurde Ernst Krieck durch seine Erziehungsphilosophie. Boden und Blut, Vaterland und Volkheit, Rasse und Staat, Sitte und Weltanschauung, geschichtliche und geopolitische Lage sind die übergeordneten Mächte und großen, durchgängigen Bindungen des Personallebens." 68 Schnaß leitet daraus die Notwendigkeit organischer, dem kindlichen Vorstellen faßlicher Bildungseinheiten ab, die die einseitigen Abstraktionen der Vergangenheit überwinden sollen. Schon deshalb sei aber Geopolitik untauglich für den Schulunterricht, da sie schon eine umfassende geographische, historische und politische Bildung voraussetze: „Geopolitik ist im wesentlichen Sache der Erwachsenenbildung." 6 9 Seine Kritik führt Schnaß allerdings nicht direkt an der Denkschrift der AfG aus, er hält sich statt dessen an einen ihrer Mitarbeiter, an Johannes Thies. Dabei wird Schnaß sehr deutlich. Thies' Forderung, Geographie durch Geopolitik als nationaler Staatswissenschaft zu ersetzen, nennt er „verstiegen" 7 0 . Diese Verstiegenheit setze sich negativ von früheren, moderateren und realistischeren Aussagen Thies' ab, in denen er Geopolitik nicht als Fach, sondern (wie später Jantzen und Folkers) als in Geographie und Geschichte zu integrierende Betrachtungsweise gefordert hat. Für die Radikalisierung der Position von Thies macht Schnaß psychologische Gründe, vorzüglich aber grobe Mißverständnisse verantwortlich. Psychologisch führt er sie auf das Miterleben der nationalsozialistischen Umwälzung und der „damit erwachten Freude am Hinwegrevolutionieren des Herkömmlichen und der Suprematie des Politischen" 71 zurück. 65 Walther Jantzen, Die Aufgabenstellung der Geopolitik, in: Geopolitik mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands, zusammengestellt von Walther Jantzen, Frankfurt am Main 5 1936, S. 7. 66 Vgl., Franz Schnaß, Nationalsozialistische Heimat- und Erdkunde mit Einschluß der Geopolitik und des vaterländischen Gesamtunterrichts, Osterwieck am Harz, Berlin 1934. 67 Vgl., Ernst Krieck, Erziehungsphilosophie, München, Berlin 1930; Ders., Nationalpolitische Erziehung, Leipzig 1932; Ders., Nationalsozialistische Erziehung, begründet aus der Philosophie der Erziehung, Osterwieck am Harz 1933. 68 Franz Schnaß, Nationalsozialistische Heimat- und Erdkunde, a. a. O., S. 34. 69 Ebd., S. 98. 70 Ebd., S. 96. 71 Ebd., S. 96.
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Schwerer wiegen ihm jedoch die Mißverständnisse, besonders das Mißverständnis hinsichtlich des Wesens des organischen Staatsgedankens des Nationalsozialismus. Schnaß zielt jetzt auf die Substanz der AfG. Thies verkenne nämlich, „daß die von der nationalsozialistischen Bewegung getragene organische Staatsauffassung ihren wissenschaftlichen Niederschlag weniger in der Geopolitik als vielmehr in der Sozial- und Staatsphilosophie gefunden hat (O. Spann, M. Wundt, Vgl. S. 130)" n . Dort, auf der S. 130, ergänzt Schnaß die Liste solcher Sozial- und Staatsphilosophen u. a. um Paul Krannhals, J. v. Uexküll, H. Freyer sowie als Vorläufer Nietzsche, Schelling, Hans Driesch oder Paul de Lagarde. In Schnaß' Behauptung, daß das nationalsozialistische Gedankengut weniger in der Geopolitik als z. B. in Spanns Geschichtsphilosophie seinen Ausdruck gefunden habe, stellt das Wörtchen .weniger' eine harte Untertreibung dar: die Richtigkeit der Behauptung käme einem Ausschluß der Geopolitik aus der nationalsozialistischen Ideologie gleich. Spann hatte in seiner katholisch inspirierten Geschichtsphilosophie die, von der Anthropogeographie Ratzels bis zur Geopolitik reichende Denkrichtung, unter den Begriff naturalistischer Geschichtsphilosophien subsumiert, die er als vergebliche Bemühungen ansah und denen er den Geist als den, die Geschichte bewegende Macht entgegensetzte73. Es verwundert daher nicht, daß Baumann 1935 in der ZfGp polemisch gegen Spann argumentiert und ihm noch als harmloseste Vorwürfe Unwissenschaftlichkeit des Vorgehens und Unkenntnis der Geopolitik vorhält74. Seine Hauptkritik an Spann ist, daß dieser der Geopolitik, aber genauso der modernen Biologie und Soziologie, einen mechanistischen Naturbegriff unterstelle, den diese längst überwunden haben: „Die geschichtsphilosophische Kernfrage unserer neuen Weltanschauung ist tatsächlich die nach dem Verhältnis von Mensch und Umwelt, von Natur und Geist. Freilich sind wir dabei über die Argumente Spanns längst hinaus. Der reine Idealismus, die Lehre von der uneingeschränkten Wirksamkeit des Geistes befriedigt uns nicht mehr. Wir sehen wieder die Stärke der Natur (...). Nicht mechanische Gesetze fühlen wir in ihr wirksam, soweit es um den Bereich des Lebendigen geht, sondern gewaltige Kraftströme, die auch den Menschen durchströmen. Sicherlich gibt es für ihn die Freiheit der Entscheidung (...). Aber Raum und Rasse setzen ihm dabei unüberschreitbare Grenzen."75 Vor dem Hintergrund solcher Differenzen ist es nur konsequent, daß Schnaß der AfG und Thies schließlich auch ein Mißverständnis des Begriffs Geopolitik nachzuweisen trachtete76. 72 Ebd., S. 96. 73 Vgl., Othmar Spann, Geschichtsphilosophie, Jena 1932; Ders., Kämpfende Wissenschaft, Gesammelte Abhandlungen zur Volkswirtschaftslehre, Gesellschaftslehre und Philosophie, Jena 1934. 74 Vgl., Max Baumann, Geopolitik und Geschichte, Bemerkungen zu Othmar Spanns Geschichtsphilosophie, in: ZfGp, 12. Jg., 1935, S. 585-588. 75 Ebd., S. 587f. 76 Ahnlich auch Paul Hartig, der zwar konzediert: „Die Geopolitik kann in ganz besonderem Maße für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Aufgabenstellung, ihrer Grundauffassung vom geschichtlichen Leben und ihren Arbeitsweisen den Forderungen gerecht zu werden, die der nationalsozialistische Staat an die Wissenschaft erhebt: sie ist seine Staats- und seine Anschauung von der Welt." Ders., Geopolitik und Kulturkunde, in: ZfGp, 11. Jg., 1934, S. 386-394, ebd., S. 386. Dann jedoch stellt er fest, daß der Nationalsozialismus nicht gegen den „System-Staat" gekämpft habe, um an dessen Stelle ein „geopolitisches System" zu setzen, zumal die Geopolitik das Volk, den eigentlichen Träger der Geschichte, nicht genügend berücksichtigte. Ebd., S. 388. Dagegen verwahrt sich dann in einer Fußnote ,die Schriftleitung'.
.Allerlei Verwirrung' statt Raumdeterminismus
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Schnaß rekonstruiert dazu, orientiert an Vogel, Maull und Hettner, die Abkunft der Geopolitik aus der politischen Geographie und die Probleme, beide voneinander abzugrenzen. Mit den Verfassern der ,Thesen über Geopolitik' von 1928 stimmt Schnaß in der generellen Abhängigkeit der Geopolitik von der politischen Geographie überein. Nur auf ihrem breiten Fundament könne die Geopolitik betrieben werden. Mit Maull hält er als mögliche Abgrenzung die Bestimmung der Geopolitik als angewandter politischer Geographie für sinnvoller und haltbarer, als die von Lautensach vorgeschlagene Trennung nach einem Gegensatz von statischer und dynamischer Denkweise. Schnaß fordert daher nicht die Aufhebung von Geographie und Geschichte in einen Geopolitikunterricht, sondern mehr politische Geographie an der Schule, in deren Rahmen gelegentlich an aktuellen Ereignissen geopolitische Betrachtungen ansetzen können. Solche angewandte politische Geographie dürfe jedoch „nie ausarten in willenlähmenden Fatalismus" 77 , da Erdbedingtheit und Raumzwang durch „rassisch bedingtes Volkstum und Tatkraft der Persönlichkeit" 78 immer wieder überwunden werden. Der unlösbare Zusammenhang von Geographie und Geopolitik macht es für Schnaß zu einem unsinnigen Projekt, einen wie auch immer konstruierten geopolitischen Gesamtunterricht einzuführen, denn die darin eingehende Geographie und Geschichte verfolgten unterschiedliche Denkrichtungen. Während die Geographie im Nebeneinander des Raumes denke, tue es die Geschichte im Nacheinander der Zeit: „Schon daraus, daß Geschichte im Nacheinander der Zeit, Erdkunde im Nebeneinander des Raumes denkt, ergibt sich ein verschiedener Rhythmus, der mechanisches Verkoppeln nicht verträgt. Rein stofflich müssen wir bei der deutschen Geschichte länger verweilen als bei Deutschland, bei den außerdeutschen Ländern länger als bei der außerdeutschen Geschichte. Ein Lehrgang, der beide Fächer geopolitisch ineins verschmilzt, ergäbe eine Zwangsjacke mit ständig platzenden Nähten." 79 Schnaß' nationalsozialistische Erdkunde richtet sich also entschieden gegen den Versuch der AfG, ihren Begriff der Geopolitik als nationalsozialistische Staatswissenschaft und Staatsanschauung durchzusetzen. Daß er als einführende Lektüre und Orientierungspunkt die Geopolitik von Hennig empfiehlt, unterstreicht dieses Ansinnen, denn Hennig wurde von der AfG heftigst kritisiert. 1936 wehrt sich Hennig in der ZfGp gegen eine .reichlich wunderliche Besprechung' seiner mit Körholz verfaßten ,Einführung in die Geopolitik', die ein Mitarbeiter der AfG dort veröffentlicht hatte. Hennig benennt den Streitpunkt gleich in seiner Überschrift: „Geopolitik und Rassenkunde (Eine notwendige Klarstellung)" 80 . Gehl hatte ihm eine materialistische, liberalistische und rationalistische Geopolitik vorgeworfen, was Hennig als Hantieren mit Mode-Schlag Worten abtut. In ihrer Erwiderung auf Hennigs .Klarstellung' erneuert die AfG die Hauptkritik an Hennig81: er habe den für den Nationalsozialismus tragenden Begriff der Rasse nicht verstanden, den er mit seinem geographischen Materialismus negiere.
77 78 79 80
Franz Schnaß: Nationalsozialistische Heimat- und Erdkunde, a. a. O., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Vgl., Richard Hennig, Geopolitik und Rassenkunde (Eine notwendige Klarstellung), in: ZfGp, 13. Jg., 1936, S. 58-63. 81 Vgl., Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik, Gruppe Heidelberg, Zur „notwendigen Klarstellung" von Richard Hennig, in: ZfGp, 13. Jg., 1936, S. 63f.
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Das .Wesen der Geopolitik'
Tatsächlich beharrt Hennig auf einer klaren Trennung von Geopolitik und Rasseforschung. Beides dürfe nicht zusammenfallen, noch dürfe gar die Geopolitik von der Rasseforschung abhängig gemacht werden. Für den Geopolitiker stelle sich die grundsätzliche Frage: „Soll man als Geopolitiker bei historischen Betrachtungen über die Geschicke der Völker und Staaten mehr die wirtschaftlichen und geographischen Faktoren in den Vordergrund stellen oder die Charakteranlagen und Rasseeigentümlichkeiten der Völker?"*2 Für Hennig ist der Raum, „das Geographisch-Materielle" 83 , dasjenige Feld, das der Geopolitiker bearbeite. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist die Frage nach der Bedeutung und Wirkung des Räumlichen in der menschlichen Geschichte. Allerdings sei es richtig, daß die Analyse des ,seelenlosen Raumes' nicht ausreicht, um den Geist des historischen Geschehens zu erfassen. Das historische Moment entspringt dem Anthropos, der den Raum gestaltet und ergreift. Diesen Anthropos bestimmt Hennig als Geist, als Seele und als historische Persönlichkeit, die sich einer genaueren wissenschaftlichen Erfassung entziehen. Für die Erkenntnis des Geistig-Seelischen könne die Rasseforschung Geltung beanspruchen, was aber nichts daran ändere, daß das räumliche, geographisch-materielle unabhängig davon determinierend wirkt. Doch auch für die Erkenntnis des Geistigen hat der Rassebegriff nur einen begrenzten Wert. So müsse man nüchtern feststellen, daß Normannen und Hanseaten nicht allein durch ihre Zugehörigkeit zur nordischen Rasse aufs Meer hinausgeführt wurden, sondern ebenso durch das materielle Verlangen nach Raub, Beute oder Handelsgewinn, auch wenn übereifrige Nationalsozialisten wie die AfG das bestreiten mögen. Nicht nur das: die Rassemerkmale selbst sind nichts anderes als Ergebnis der Erziehung durch die Natur, sie sind eine Anpassungsleistung an die „Zufälligkeiten der natürlichen Umgebung" 84 . Viel eher also als die Geopolitik von der Rasseforschung abhängig zu machen, wäre es angezeigter, letztere auf geopolitische Momente zurückzuführen: „Jahrhunderte- und jahrtausende Anpassung an die jeweiligen Zufälligkeiten der natürlichen Umgebung konnte überhaupt erst die rassischen Charakteranlagen entstehen lassen und ausbilden; ja, es hat durchaus den Anschein, als ob in dieser Hinsicht das geopolitische Moment des Raumes von viel größerer Bedeutung ist als die jeweilige Rassezugehörigkeit."85 Die AfG widerspricht entschieden Hennigs Auffassung. Für sie ist die Rasse ein ursprünglicher, „vom göttlichen Schicksal" 86 geleiteter Akt, dessen Einsehen das wissenschaftlichbegriffliche Denken transzendiere - es ist eine Idee, die ,geschaut' und .geglaubt' werden muß: „Was wir bei Hennig bekämpfen, ist das Klammern an das Tatsächlich-Begreifbare, das Unvermögen zur Schau, mit anderen Worten: der Materialismus. Der Begriff der Rasse erschließt sich nicht aus den anthropologischen und biologischen Tatsachen allein, der Begriff der Geopolitik nicht aus den Arbeiten der politischen Geographie, auch wenn sie deren Bereich noch viel weiter als bisher ausdehnen sollte."87 Angesichts von Hennigs Position überrascht es nicht weiter, daß in seiner mit Körholz verfaßten .Einführung' der Rassebegriff nur einen marginalen Platz einnimmt. Getreu seiner 82 83 84 85 86
Richard Hennig, Geopolitik und Rassenkunde, a. a. O., S. 59. Ebd., S. 59. EM., S. 60. Ebd., S. 60. Arbeitsgemeinschaft für Geopolitik, Gruppe Heidelberg, Zur „notwendigen Klarstellung" von Richard Hennig, a. a. O., S. 64. 87 Ebd., S. 64.
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Maxime deutlicher Trennung verweist er auf das Buch eines Rasseforschers und erläutert kurz die Maßnahmen des NS-Staates. Die im übrigen entwickelte Argumentation hält sich an Ratzels und Maulls allgemein gehaltenen Rassebegriff, dem nur die großen Rassegegensätze bedeutsam erscheinen (, Weiße, Asiaten, Neger'). Hennigs Erläuterungen dazu finden sich im Abschnitt über Nation und Volk, die er als Begriffe in expliziter Anlehnung an Maull unabhängig vom Rassebegriff als Sprach- und Kulturgemeinschaft (Volk) bzw. als staatsbejahende Gemeinschaft (Nation) definiert: „Ein Volk ist eine Sprach- und Kulturgemeinschaft, die unabhängig ist von zufälligen staatlichen Grenzen, unter Umständen sogar ohne jeden staatlichen Rückhalt bestehen kann. Die Nation dagegen ist ohne Staat undenkbar. Zu ihrem Wesen gehört die Staatsbejahung, die opferbereite Mitarbeit aller wertvollen Teile seiner Bewohner oder doch ihres größten Teiles an eben diesem Staat."88 Das deutsche Volk wird dementsprechend als auf 18 europäische Staaten verteilte Sprachgemeinschaft bezeichnet, während die deutsche Nation aus allen Völkerschaften bestehe, die das Deutsche Reich bejahen: ,Wenden, Litauer und Masuren, zahlreiche Juden' usw. Ist jedoch das, was Hennig unter dem Titel Geopolitik abhandelt, überhaupt von dem verschieden, was bei Maull politische Geographie heißt? Schnaß etwa verneint eine Differenz. Im Kontext der bisher ausgeführten Diskussionen muß es merkwürdig anmuten, wenn Hennig 1928 schreibt, daß die Abgrenzung von politischer Geographie und Geopolitik als endgültig geklärt angesehen werden muß, zumal er dabei Maulls Definition der Geopolitik als angewandter politischer Geographie nicht zustimmt: „Während Maull noch 1925 die Auffassung vertreten hatte, die ungefähr dem Standpunkt Kjellens entsprach: „Geopolitik ist nichts anderes als angewandte Politische Geographie", darf man nun die Grenzlinie zwischen politischer Geographie und Geopolitik als endgültig festgestellt betrachten, wenn sich auch beide Begriffe in erheblichem Umfang decken." 89 Hennig selbst stimmt als der seiner Ansicht nach bisher besten Definition den Thesen in den .Bausteinen' zu, an denen er drei Elemente besonders unterstützt. Erstens teilt er das Ziel der Geopolitik, zum geographischen Gewissen des Staates werden zu wollen, namentlich des deutschen Staates. Zweitens teilt er die Auffassung des Staates als Raumorganismus und definiert die Geopolitik bündig als „die Wissenschaft vom Staat als Lebewesen" 90 . Er folgert daraus die Möglichkeit, naturgesetzliche Bestimmungen im Staatsleben zu formulieren, die im Räumlichen gründen. Daraus leitet er den dritten Aspekt ab. Die Lebensvorgänge des Staates sind dynamisch, sie haben eine unbewußt-unwillkürliche Seite und sind als solche dem Willen heroischer Persönlichkeiten entzogen. Die dynamische Seite in ihrer Zwangsläufigkeit zu erkennen ist eine wesentliche Aufgabe der Geopolitik, die damit die Frage nach dem Warum der Konflikte und nach dem Warum der jetzigen Form der Staaten und deren Entwicklungstendenz stellt während die politische Geographie sich mit der Feststellung des ,daß' begnügt. Hennig erscheint hier als Vertreter einer deterministischen Geopolitik. Bei ihm kehrt die Idee anthropogeographischer Gesetze Ratzels am klarsten wieder, nämlich daß allein die Zeit des Eintretens eines Ereignisses ungewiß ist, nicht aber die Notwendigkeit des Ereignisses an sich. An geographischen Zwängen findet die menschliche Willensfreiheit ihre Grenzen, wes-
88 Richard Hennig, Leo Körholz, Ginführung in die Geopolitik, a. a. O., S. 110. 89 Richard Hennig, Geopolitik, a. a. 0., S. 9. 90 Ebd., S. 1.
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Das , Wesen der Geopolitik'
halb die Erkenntnis von „geopolitischen Naturgesetzen" 9 ' unverzichtbar bleibt, wenn Politik und Geschichte der Menschen durchschaut werden sollen. Politik entspringt nur partiell dem freien Willen: „Mit vollem Recht sagt Kjellen einmal, daß ein „kategorischer politischer Imperativ" die Geschicke der Völker und der Staaten bestimmt, und dieser politische Imperativ ist zwar nicht ausschließlich, aber doch in sehr beträchtlichem Umfang geopolitischer Art, denn der geographische Naturzwang, der die Geschicke der Staaten und Völker lenkt, wirkt sich eben unentrinnbar aus, und je vielseitiger unser modernes Wirtschaftsleben wird, in um so mannigfacheren Gestalten und Formen macht sich jener Naturzwang im Parallelogramm der treibenden politischen Kräfte bemerkbar." 92 An den geopolitischen Gesetzen liegt es, daß die außenpolitischen Grundsätze der Sowjetunion nicht von denen des zaristischen Rußland zu unterscheiden sind, die des französischen Imperialismus nicht von denen Ludwig XIV., die des englischen Königreichs nicht von denen der Republik Cromwells. Das Geographische verhält sich indifferent zur politischen Form, denn: „Jeder Staat folgt in seinem Handeln dynamischen Kräften, die nur teilweise vom Willen der Staatslenker abhängig und von ihm zu zügeln oder zu überstürzen sind. Auch die Staatsform spielt dabei keine Rolle."93
2. Zur Dialektik von Geopolitik und Ethnopolitik Der mittlerweile gegebene Querschnitt der um den Begriff Geopolitik streitenden Geopolitiker der 20er und 30er Jahre soll genügen, um Maulls These von der Uneinigkeit über Geopolitik zu illustrieren. Es ließen sich eine Reihe weiterer Autoren hinzufügen, ohne daß eine für diese Zeit verbindliche Definition gewonnen wäre. Dennoch ist diese Diskussion und die in ihr sich manifestierende Uneinigkeit nicht strukturlos, sie kreist um bestimmte und bestimmbare Themen und Probleme. So herrscht Einigkeit darüber, daß das Räumliche der Erde, die Frage nach der Bedeutung des Räumlichen in Politik und Geschichte konstituierendes Moment der Geopolitik als GEOpolitik ist. Doch gerade in der Bestimmung dieser Seite bestehen die nachhaltigsten Uneinigkeiten. Kjellens Bezug auf Ratzels politische Geographie erzeugte mehr Probleme, als er löst. Lassen sich Raum und Volk als Naturseite, Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft als Kulturseite einander gegenüberstellen, wie er es getan hat? Maull bestreitet das, wie er ebenso bestreitet, daß Ratzels Begriff der politischen Geographie noch haltbar ist. Thema der (politischen) Geographie ist ihm nicht ein unterstellter Naturraum, vielmehr in der Regel ein schon in Kulturraum überführter. D. h. aber, daß schon die Geographie den Menschen als den Schöpfer von Kulturlandschaften miteinbeziehen muß. Nur darum kann überhaupt auch der Staat Gegenstand geographischer Forschung werden, eben weil er nicht eine Erscheinung im Raum, sondern eine Raumerscheinung ist. Da die Trennung Raum/Mensch nicht eindeutig zu ziehen ist, werden auch Determinierungen problematisch, weshalb Maull eine possibilistische Position im Gegensatz zur stärker deterministischen Auffassung Hennigs einnimmt. Anders wiederum äußern sich verschiedene, explizit nationalsozialistische Geopolitiker. Für sie bleibt die Differenz zwischen der Natur- und der Kulturseite am Staat wesentlich, wobei die 91 Ebd., S. 13. 92 Ebd., S. 13. 93 Ebd., S. 7.
Zur Dialektik von Geopolitik und Ethnopolitik
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Kulturseite als sekundäres, aus Natürlichem abgeleitetes Phänomen begriffen wird, während die von Kjellén herausgestellte Dichotomie Raum/Volk der Frage nach dem Wechselspiel (Jantzen) bzw. der Abhängigkeitsbeziehungen (AfG) von Raum und Rasse, Blut und Boden weicht. Grundsätzlich wird dabei das Problem aufgeworfen, in welcher Relation der Raum der Erde, die natürliche Umwelt auf der einen und der Anthropos auf der anderen Seite stehen, wobei der Anthropos im geopolitischen Diskurs, mit Ausnahme der Vorstellung von der heroischen Persönlichkeit, die Form von Kollektiva als Volk, Nation, Rasse, Staat, Kultur erscheint, denen Geist, Seele, Willen und Bewußtsein zugerechnet wird. Während bei allen Geopolitikern Konsens darüber besteht, daß die Geopolitik den Staat bzw. die politische Gemeinschaft als Organismus ansieht und dem Räumlichen in der menschlichen Politik und Geschichte ihre Aufmerksamkeit widmet, herrscht Dissens darüber, ob es notwendig zum Wesen der Geopolitik gehört, wissenschaftlich und geographisch zu sein. Einige streiten darum, ob die Geopolitik eine angewandte, eine selbstständige oder eine Gesamtwissenschaft ist, die in Weltanschauung umschlägt, andere bestreiten rundweg den Wissenschaftscharakter der Geopolitik, indem sie sie als Betrachtungsweise definieren. Eine Zwischenposition hat sie bei Grabowsky, der sie als Methode der politischen Wissenschaft einordnet. Ein ähnlicher Dissens herrscht über das Verhältnis zur politischen Geographie. Denkt die Geopolitik dynamisch im Gegensatz zur Statik der politischen Geographie, ist sie angewandte statt reine Wissenschaft, hat sie eine Offenheit zur Zukunft im Gegensatz zur Fixierung des Vergangenen als Aufgabe der politischen Geographie? Oder ist die Bestimmung des Verhältnisses zur politischen Geographie eine müßige, überflüssige Frage, wie mit unterschiedlichen Argumenten Grabowsky und die AfG behaupten? Die Diskussionen um den Wissenschaftscharakter der Geopolitik und um ihr Verhältnis zur politischen Geographie scheinen so sehr in verschiedene Diskurse auseinanderzufallen, daß sie nur noch den Namen der Sache, nicht aber die Sache selbst gemeinsam haben. Gerade aber am Punkt des Auseinanderfallens, für die die »überspannte' Geopolitik der AfG das sinnfälligste Beispiel ist, läßt sich eine zugrundeliegende Thematik bestimmen, aus der nicht nur der Inhalt der scheinbar um methodische und wissenschaftssystematische Fragen gehenden Diskussionen hervorgeht, sondern noch mehr die Problematik, in der die Differenzen im Staats- und Raumbegriff gründen. Es geht um die Argumente, mit denen die Geopolitik als Wissenschaft und ihre Differenz zur politischen Geographie begründet werden sollte. Dabei begegnet ein Komplex von Aussagen, die scheinbar schwer aufeinander bezogen werden können. Bestimmte Argumente wechseln zudem ihren Platz. Lautensachs Entgegensetzung von dynamischer und statischer Denkweise, von Maull als Mittel der Trennung von politischer Geographie und Geopolitik für untauglich befunden, verwandelt sich bei Maull selbst in einen Unterschied in der Betrachtung des Staates, nach der die politische Geographie den Staat gleichsam als zur Ruhe gebracht ansehen soll, während die Geopolitik ihn prognostisch als in Bewegung befindlich zu begreifen habe. Bei anderen wird der Staat an sich dynamisch. Ohne Zusammenhang damit scheinen bestimmte Aussagen über das Wesen der Geopolitik zu sein: handelt sie von Naturkausalitäten, die, am Menschen vorbei, diesen determinieren? Oder handelt es sich um bloße Aufgaben, denen nur etwas Zwanghaftes zukommt, wenn der Mensch sie nicht von sich aus bewältigt? Oder betrachtet die Geopolitik bloß das Wechselspiel von Raum, Rasse und Volk?
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Das ,Wesen der Geopolitik'
Das beide Argumentationsreihen einigende Band ist die Frage nach dem Anthropos in seiner Relation zu einem mit ihm Nicht-Identischen, dem Raum als dem konkreten Raum der Erde oder verschiedentlich als Natur, sowie der Modus dieser Relation. Das Problem der Relation und Modalität von Raum und Anthropos im geopolitischen Diskurs und der geopolitische Streit darum verbleiben im Horizont der DYNAMISCHEN Kategorien Kants94. Ein Konflikt geht um die angemessene Relationskategorie. Die überwiegende Mehrheit versteht ihre geopolitische Forschung als eine Suche nach Ursache/Wirkungsmechanismen, wobei für sie allerdings in Frage steht, ob diese dabei dem Raum inhärent sind und die menschliche Geschichte als Subsistenz erscheint oder ob es sich umgekehrt verhält. Mit dem Begriff der Wechselwirkung von Raum, Rasse und Führung versucht demgegenüber ein Autor wie Jantzen, die Kategorie der Gemeinschaft (Wechselwirkung von Handelndem und Leidendem) geltend zu machen. Er argumentiert damit in die gleiche Richtung, wie Lucien Febvre in „La Terre et l'évolution humaine" 95 , der dort von einer,relation mutuelle' und einem Hin und Her der Wirkungen zwischen ,milieu naturel' und .sociétés humaines' spricht 96 . Allerdings bleibt dies insbesonders auch bei Jantzen eine Flucht, da in der Kategorie der Gemeinschaft durchaus angegeben werden müßte, wer je der Handelnde und Leidende (Raum, Anthropos) ist. Innerhalb der Modalitätskategorien handelt es sich hauptsächlich um den Streit, ob die Korrelata Möglichkeit/Unmöglichkeit oder Notwendigkeit/Zufälligkeit vorrangig anzuwenden seien - das famose Gegensatzpaar Possibilismus/Determinismus ist der stilisierte Ausdruck dieser ursprünglichen Wahl. Die meisten Gelegenheiten zu alternativen Begriffsbestimmungen der Geopolitik und ihrer Wissenschaftlichkeit bietet jedoch das Verhältnis von Modalitäts- und Relationskategorien zueinander. Bestritten wird von einigen, vor allem possibilistischen Autoren und von ,Wechselwirkungsrelationisten', daß es der Geopolitik um Ursache/Wirkungsmechanismen ginge, die im Modus der Notwendigkeit stünden. Tatsächlich kommt hier als Problem in den Blick, warum Kant eigentlich die Begriffe der Erscheinung und Erfahrung so bestimmt, daß für ihn ein empirisches Ursache/Wirkungsverhältnis auf der Ebene des begrifflichen Denkens die Modalität der Notwendigkeit und damit den Begründungszwang der Freiheit als Idee der Vernunft nach sich zieht. Daß etwas erscheint, bedeutet immer, daß diese Erscheinung als Erscheinung ein Dasein hat: sie steht somit stets unter der Modalkategorie des Daseins unter Ausschluß des Nichtseins. Diese Erscheinung kann in differenten Relationen zu anderen Erscheinungen stehen, sie kann als Ursache von und Wirkung von identifziert werden, sie kann in einem Moment als Leidendes, im nächsten als Handelndes begriffen werden. In welchem Modus kann aber diese Relation von Erscheinungen stehen? Hier zeigt sich eine Eigentümlichkeit der Modalitätskategorien: indem eine Erscheinung immer schon als Daseiendes begriffen ist, hat sich auch ihre Möglichkeit erwiesen. Angesichts einer Kette von
94 Vgl. zum folgenden, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., insbesondere Bd. 1, S. 97ff , sowie Bd. 2, S. 341 ff . 95 Op. cit. 96 Bei Schumacher heißt es: „ ... die Geopolitik geht nicht von der Materie aus, sondern vom wertenden Menschen, im Mittelpunkt ihres gesellschaftswissenschaftlichen Systems steht der Mensch und nicht die Landschaft, aber sie untersucht die spezifischen Wechselwirkungen zwischen dem Teilfaktor Landschaft und dem Gesamtfaktor Mensch ... „ Ders., Zur Theorie des Raumes, a. a. O., S. 574.
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Erscheinungen ist nur sinnvoll danach zu fragen, ob sie notwendig oder zufällig miteinander verknüpft sind, nicht, ob sie möglich oder unmöglich sind. Dennoch ist auch die Kategorie der Möglichkeit/Unmöglichkeit auf Erscheinungen anwendbar. Hierzu muß bewußt gemacht werden, daß die Kategorien nach Kant über das transzendentale Zeitschema auf Erscheinungen bezogen werden. In den vorstehenden Ausführungen war die Dimension der Zeitlichkeit in Worten wie , Moment, Augenblick, Immer' schon präsent. Der Möglichkeitsmodus läßt dann zwei Erwägungen zu. Erstens einen Bezug auf die Zukunft, also als Frage, ob es möglich ist, daß die Kette von Erscheinungen sich in der Zukunft fortsetzt oder nicht, z. B. die Frage deutscher Geopolitiker, ob die britische Weltherrschaft die Möglichkeit hat, fortzubestehen oder nicht. Für solch eine Überlegung ist natürlich wesentlich, ob die Verkettung des bisher Erschienenen sich als notwendig oder zufällig darstellte. Der Versuch, Geopolitik als prognostische Wissenschaft zu verstehen, schließt an diese Anwendung der Möglichkeitskategorie an. Die zweite Verwendungschance besteht in der Spekulation über das in Erscheinung getretene. Kann es nicht sein, daß einer in Erscheinung getretenen Ursache/Wirkungskette noch ein Etwas inhärent ist, das selbst noch nicht in Erscheinung getreten ist, also eine Möglichkeit im Modus des Nichtseins als Teil der Erscheinung, das dennoch irgendwann notwendig in Erscheinung treten muß? Dies ist, was Ratzel die besondere Form anthropogeographischer Gesetze nennt. Allein, ohne das Dasein einer Erscheinung bleibt dies so lange metaphysische Spekulation, wie das der Erscheinung inhärente Etwas noch nicht sich gezeigt hat. Doch ließe sich nicht eine wissenschaftlich kontrollierte Spekulation denken? Ließe sich nicht anvisieren, verschiedene Erscheinungen anhand einzelner Gemeinsamkeiten unter einen Begriff zu subsumieren (z. B. den der geopolitischen Lage), deren Unterschiede als unterschiedliche Entwicklungsstadien eines zugrundeliegenden Gleichen angesehen werden, welches durch Vergleichung analogisch erschlossen werden kann? Anders gesagt: bietet nicht eine Morphologie einen Weg zwischen willkürlicher Spekulation und begrifflicher Erkenntnis?97 Genau diesen Weg zu gehen ist ein Grundmotiv bei Ratzel und den späteren Geopolitikern, wenn sie die japanische und britische Inselgruppe miteinander ob ihrer analogen Lage vergleichen, um die ihnen innewohnende Potenz zu erkennen. Ebenso tun sie das, wenn sie neben ,dem' Mittelmeer zwei weitere Mittelmeere ausmachen, um aus einem Vergleich die noch ungeborgenen Möglichkeiten zu entdecken. Gegenüber solchen Versuchen entscheiden sich die Mitglieder der AfG lieber für den Glauben, womit sie nichts anderes aussprechen, als daß sie einer Metaphysik der Rasse als dem verborgenen Inhärenten das Wort reden. Bis jetzt ist allerdings nur das Eingangsfoyer gewonnen, um zu den, den geopolitischen Diskurs konstituierenden Grundproblem(en) zu gelangen. Eine der wichtigsten ,artigen Bemerkungen' Kants über die dynamischen Kategorien kommt sehr unscheinbar daher: indem sie im Unterschied zu den mathematischen Kategorien Korrelata aufweisen, verbänden sie Ungleichartiges miteinander - Ursache und Wirkung, Handelndes und Leidendes (oder der plastische Begriff Hegels dafür: Herr und Knecht). Ungleichartig bedeutet, daß eine Differenz ausgesagt wird, in der gleichwohl ein Zusammenhang besteht; oder auch: ein Zusammenhang, der in einer Differenz gründet.
97 Bei Maull wird der „Raumorganismus" als zu analysierender Gegenstand Thema von „Morphographie" und „Morphologie". Vgl., Ders., Politische Geographie, a. a. O., S. 117-599.
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Die Feststellung der Ungleichartigkeit ist für Kant von außerordentlicher Wichtigkeit. Indem Kant auf die Ungleichartigkeit in den dynamischen Kategorien aufmerksam macht, setzt er noch in das scheinbar sicherstes Naturgesetz eine Ungewißheit. Da Ungleichartiges aufeinander bezogen wird, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen, daß in der Kette von Erscheinungen, die als Erscheinungen gleichartig darin sind, Erscheinungen zu sein, überhaupt erscheint, was in diesen Erscheinungen wirkt. Wendet man die dynamischen Kategorien auf das Gesamt aller möglichen Erscheinungen an, die als Gesamt eine homogene Welt der Gleichartigkeit sind (nämlich Erscheinungen), entsteht von selbst die These, daß es dieser Gesamtheit gegenüber ein Ungleichartiges gibt, also etwas, das nicht Erscheinung ist, sondern eine intelligible Welt. Mit der Anwendung der dynamischen Kategorien ist für Kant aber der Bezirk der eigentlichen Naturwissenschaft gemeint. Die Suche nach Naturgesetzen in den Erscheinungen macht nur Sinn, wenn sie nicht schon apodiktisch gewiß sind. Damit kommt aber der naturwissenschaftliche, in den dynamischen Kategorien gründende Standpunkt selbst notwendig zu der Aussage, daß die Welt der Erscheinungen nicht alles und daher eine intelligible Welt unabweisbar möglich ist. Aus dem Charakter der Ungleichartigkeit geht also z. B. die Aussage hervor: die Ursache einer Erscheinung muß selbst nicht erscheinen, ja sie kann als Teil der intelligiblen Welt die Eigenart haben, nie in Erscheinung treten zu können. Mit dieser Argumentation ist bei Kant das Ding-an-sich und die transzendentale Apperzeptionseinheit gewonnen, und insbesondere auch die These, daß Kausalität auf der Verstandesebene immer Kausalität aus Natur meint und doch zugleich Kausalität aus Freiheit als Inbegriff einer intelligiblen Welt unwiderlegbar und plausibel existiert, auch, wenn sie als Erscheinung stets als Natur erscheint. Im zweiten Teil hatte sich gezeigt, wie der so gewonnene, scheinbar reduzierte Standpunkt der Freiheit, vermittelt über das reine Ich und seine Zeitlichkeit, übergeht in eine Definition des menschlichen Subjekts als Freiheit. Daß im geopolitischen Diskurs der Streit um die dynamischen Kategorien einhergeht mit einem adäquaten Begriff des Anthropos zeigt jetzt seine inhärente Bedeutung. Die Frage, ob der Anthropos als Kultur, Rasse, Heros, Volk, politische Gemeinschaft oder Staat zu setzen ist, stellt die Frage nach dem zugrundeliegenden Subjekt der Freiheit. In den Diskussionen der Geopolitiker treten Kollektiva als solch ein Subjekt hervor, sei es der Staat, das Volk oder die Rasse, die hauptsächlich bei nationalsozialistischen Geopolitikern als das eigentliche Subjekt verstanden wird. In diese Kollektiva hat sich das reine Ich sublimiert und als freies allerdings auch verflüchtigt. Daraus ergibt sich als Ergänzung eine andere Seite der geopolitischen Diskussion: die Funktion der heroischen Persönlichkeit, des Führers und der Organismusvorstellung. Der Führer und Held symbolisiert und verschleiert zugleich die Erinnerung daran, daß das freie, nur aus eigener Schuld unmündige reine Bewußtsein nur als Individuum, als konkret Einzelner das Subjekt der Aufklärung sein kann. Der Führer erscheint als Trost über das zur Bedeutungslosigkeit geronnene, eigene reine Bewußtsein. Wenn so der Führer zu einem Zerrbild des freien Subjekts wird, der das Reich des Begrifflichen als endliches und sinnlichgegebenes Ding nicht transzendiert, stellt die Vorstellung vom Staat bzw. politischer Gemeinschaft (Volk, Rasse, Kultur) als Organismus eine Tröstung ganz anderer Ordnung dar. Als sinnlich-vernünftiges Wesen, als biologische Offenbarung usw. repräsentiert es in toto das sinnliche, verständige und vernünftige Subjekt, als welches Kant den Menschen begriffen hatte. Nur ist diese Sinnlichkeit, Verständigkeit und Vernünftigkeit ausgreifender als die der ein-
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zelnen Menschen. Gegen das aus solcher Sinnlichkeit hervorgehende, lebensraumverschlingende Gesetz der wachsenden Räume ist der Führerbunker eine Bagatelle. Als Vernünftigkeit aber werden diese Kollektiva als Organismus zum Inbegriff der intelligiblen Welt, worauf im geopolitischen Diskurs der Hauptakzent liegt. Diese Kollektiva erben auch den Begriff des Bewußtseins: Raumbewußtsein, oder Rassebewußtsein. Jedoch zeigt sich gerade dort bei den Geopolitikern, wo das Bewußtsein bewußt thematisiert wird, die einzige Rückkehr des nur individualisiert zu denkenden, konkreten reinen Ichs, auch wenn, wie in den .Bausteinen', die Notwendigkeit einer an alle Einzelnen gerichteten Aufklärung bedauernd als Folge parlamentarischer Demokratie zur Kenntnis genommen wird und alsbald ,fürsorgerischer' Erziehung weicht. Wenn auch bisher einige Strukturprinzipien des geopolitischen Diskurs über Geopolitik gewonnen werden konnten, steht doch noch das Grundproblem aus, an dem der geopolitische Diskurs ansetzt. In der Analytik der Bestimmung des modernen Subjekts erschien dieses als zeitlich verfaßt. Dabei ließ sich anhand der paradigmatisch für die Moderne interpretierten kantischen Philosophie plausibel machen, daß die zeitliche Definition des Subjekts in einer asymmetrischen Fassung der Begriffe Raum und Zeit gründet. In dieser asymmetrischen Fassung erschien das über den äußeren Sinn vermittelte Sinnliche, welches sich zunehmend als Vorstellung von körperlicher Sinnlichkeit ergab, als defizitär und der Zeitlichkeit untergeordnet. Diese Asymmetrie wurde desweiteren als Grundstruktur der Entgegensetzung von Natur und Geschichte, Sinnlichkeit und Geist, Kausalität aus Natur und Kausalität aus Freiheit dargestellt. An diesem asymmetrischen Gegensatz entspringt der geopolitische Diskurs. Er geht vom Raum aus. Dieser soll zum Ausgangspunkt des Denkens werden, als Raum an sich, als Raum für das Bewußtsein, als Lebensraum, als integraler Teil eines Raumorganismus. Die konkrete Bedeutung des Raumes der Erde für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Geschicke und vor allem des Politischen in der menschlichen Geschichte soll erkannt werden. Darin teilt sich der geopolitischen Diskurs mit den Ansätzen politischer Geographie eines Mackinder oder Ratzel. Der Übergang von politischer Geographie zur Geopolitik bleibt daher fließend, die Abgrenzung will nicht gelingen, denn im Ursprung des Ansatzes fallen sie zusammen. Dieser Ursprung besteht darin, daß die geopolitische Aufklärung mit ihrem emphatischen Insistieren auf der Vorsilbe ,GEO', als Angelpunkt des Politischen, das asymmetrische Primat der Zeitlichkeit im modernen Subjektbegriff bestreitet. Aber verweilt der geopolitische Diskurs bei seinem Ursprung und macht ihn zum Gegenstand seiner Aufklärung? Nein, das ist nicht der Fall. Der Diskurs wendet sich ab, läßt seinen problematischen Ursprung hinter sich, schreitet fort. Ja noch mehr: unbedacht gelassen wird in ihm die asymmetrische Struktur, sein Ursprung zum unlösbaren Thema, das die Unlösbarkeit der begrifflichen Klärung von Inhalt und Sinn der Geopolitik hervortreibt. Ein Teil des Diskurses behauptet die Umkehrung der Asymmetrie. Nicht die Zeitlichkeit, das Räumliche definiert Geschichte, wobei Geschichte, aus dem das Zeitliche schlecht wegzudenken ist, in Schicksal verwandelt wird. In Reinform ist der daraus resultierende harte Determinismus kaum anzutreffen, am ehesten noch bei Hennig. Die Umkehrung der Asymmetrie stellt aber eine Form dar, die bei jedem der Geopolitiker präsent ist, auch wenn sie nicht das Übergewicht erlangt, jene 25% Raumbestimmtheit des Menschlichen ä la Haushofer, die zu erkennen sich durchaus lohne. Schon bei der Begründung der Geopolitik, bei Kjellen, zeigt sich die Umkehrung der
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Das , Wesen der Geopolitik'
Asymmetrie, statt einer Kritik an ihr. Geopolitik und Demopolitik werden als die Naturseiten des Staates gefaßt, denen die Kulturseiten gegenüberstehen. Der Staat erscheint als ein bewußtseinsphilosophisch konzipiertes Subjekt - die Vollendung kjelldnscher Politikwissenschaft wäre eine Kritik des reinen Staates. Das darin noch enthaltene kritische Potential ist es, das Grabowsky mit seinem Beharren auf dem Primat der Politologie für die Geopolitik, statt des Primates der Geographie, erhalten will. Indem die Geopolitik aus der kjelldnschen Systematik herausgelöst wird, tritt die Identifizierung von Raum und Natur als Gegensatz zu Zeit und Freiheit nur noch deutlicher hervor. Die Aufklärung über Ideologien und Außenpolitik, über das Verhältnis der Staaten zueinander und über ihre Binnenseite zielt auf den Aufweis dessen, was gar nicht aus dem freien Willen, aus der Vernünftigkeit der Menschen hervorgeht, sondern wo ihre Vernünftigkeit nur die Funktion hat, den sinnlichen Ursprung ihres Handelns möglichst effektiv zu verdunkeln - das ist der Grundton ihrer Analysen von Pan- und Europaideen, von Versailles und Völkerbund. Hinter den Phrasen verberge sich der Kampf ums Dasein als Kampf um Raum. Diesen Kampf in seiner Existentialität verkannt zu haben, ist für die deutschen Geopolitiker der Hauptfehler der deutschen Politik gewesen, die in den ersten Weltkrieg führte. Kjellens Kritik am juristischen Staastbegriff ist dabei ein aufschlußreiches Symbol, geht es doch in den kantischen Kritiken um das richtige Procedere gegenüber der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, um zu einem gerechten Urteilen über sie zu gelangen. Ließe sich nicht sein Antinomienkapitel in der Kritik der reinen Vernunft als Lehrstück in juristischen Vorlesungen verwenden? Als Symbol steht das Juristische für die Realitätsmächtigkeit des Normativen, für dasjenige, was Kant als den praktischen Gebrauch der Vernunft ansah. Beginnt der Staat mit der Überwindung der Natur durch einen Vertrag und ist demgemäß das Politische ein normatives Verhältnis? Für Kant oder Hobbes bedeuteten Staat und Politik Überwindung der Natur. Ein Rekurs auf die Natur erscheint von daher immer als Auflösung des Staates und des Politischen - die reale Motivation dazu hat Freud als Unbehagen an der Kultur charakterisiert. Der geopolitische Diskurs hingegen hält die Natur nicht nur für nicht überwunden: sie ist für ihn vielmehr integraler Teil des Staates und des Politischen überhaupt, die mit deren Substanz ausmacht. Der Staat hat eine sinnlich-körperliche, eine motorische, unwillkürliche Grundlage, aus der heraus er lebt, ob als vitaler Staatsbegriff Grabowskys oder als Kjellens biologische Offenbarung. Das Sinnliche am Staat muß befriedigt werden. Es bedarf dazu steter Vorsorge, sei es für genügend Ernährungsraum, sei es gegen Krankheiten. Seine körperliche Existenz steht in Frage: diese zu garantieren, ist allen normativen Setzungen vorgängig, es handelt sich um Existentielles, in der Natur Gegründetes, dem gegenüber das Insistieren auf Werten sinnlos ist. Diese Auffassung ist es, in der sich die deutsche Geopolitik und Schmitt begegnen. Doch der geopolitische Diskurs verharrt nicht darin,,räumliche Natur' geltend zu machen. Indem die Asymmetrie von Raum und Zeit anders gewichtet wird, nicht aber als Problem gegenwärtig bleibt, kehren Freiheit und Willen als zeitlich definierte wieder. Es hebt die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Anthropos im geopolitischen Diskurs an. Welcher Ort soll dem freien Willen zugewiesen werden? Im anthropogeographischen Gesetz Ratzels ist er auf eine reine Äußerlichkeit, also auf seinen Gegensatz reduziert. Er hat lediglich aufschiebende Wirkung, wie bei manchen Einsprüchen vor Gericht. Das Urteil aber kommt unerbittlich. Im geopolitischen Diskurs verwickelt sich das Problem. Abgesehen von der heroischen Persönlichkeit erscheint der Anthropos als Kollektiv. Es wird nach dem Verhältnis von Staat,
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Volk, Rasse zueinander gefragt. Dabei kehrt für die Bestimmung des Anthropos selbst noch einmal die Asymmetrie wieder. Er steht zwar als Ganzes der Äußerlichkeit des Raumes gegenüber, stellt ein Inneres dar, dem schon Ratzel die Aufgabe zugewiesen hatte, den Raum in sich hineinzubilden, als Raumbewußtsein. Der Anthropos zerfällt jedoch im geopolitischen Diskurs in die Asymmetrie von Natur und Kultur. Am Anthropos wird noch einmal, neben dem ihm gegenüberstehenden Raum, eine Naturseite abgeschieden. Vornehmlich fassen die Geopolitiker die Kollektivnatur am Anthropos als Volk und als Rasse. Beide Begriffe konkurrieren. Bei Ratzel und Kjellen noch lag der Hauptakzent auf dem , Volk', während ihr Rassebegriff, obgleich anwesend, grob konturiert war. Ähnlich lag es bei Mackinder, Maull oder Hennig. Bei der AfG, bei Jantzen, Schnaß und Folkers gewinnt die Rasse das Übergewicht. Bei ihnen geht das einher mit einer Abwertung des Kulturellen, das als abgeleitet und abhängig erscheint, während gerade Maull den Kulturbegriff ins Zentrum rückt. Dennoch bleiben die verschiedenen Positionen Teile eines Diskurses. Warum? Sie hantieren scheinbar mit zwei Naturen, einmal mit einer nicht-menschlichen, räumlichen, dann mit einer menschlichen Natur. Tatsächlich aber haben beide Naturen einen gemeinsamen Grund. Der gemeinsame Grund wurde wiederholt als Asymmetrie von Raum und Zeit dargestellt. Indem innerhalb des Anthropos das gleiche, unbearbeitet gelassene Problem wiederkehrt, ergeben sich eine Reihe möglicher und doch unentscheidbarer Bestimmungen des Geopolitischen. Es wird nach dem Verhältnis Raum-Anthropos gefragt; dazu wird nach der Bestimmung des Anthropos gesucht; dabei kehrt die Asymmetrie wieder, die erst die Frage nach dem Verhältnis erzwang; die Geopolitiker stellen zwei Spiegel einander gegenüber auf: in diesen spiegelt sich das gleiche Problem ins Unübersehbare. Daher rührt auch noch die merkwürdige Auseinandersetzung nationalsozialistischer Geopolitiker um das richtige Verhältnis von Blut und Boden oder Boden und Blut. An der AfG sei das Phänomen illustriert. Sie geht vom Raum aus. Dieser wird als ein primäres, naturhaftes gesetzt. Aber auch der Anthropos zerfällt in einen Gegensatz von Natur und Kultur. In dieser sublimierten Form erscheinen die ihnen inhärenten Begriffe von Raum und Zeit und ihre Asymmetrie nicht mehr bewußt. Das Problem des Verhältnisses von ,Geo' und , Anthropos' teilt sich jetzt in zwei Fragen: in welchem Verhältnis stehen der Naturraum und der Anthropos als Natur zueinander; in welchem Verhältnis stehen der Naturraum und der Anthropos als Kultur zueinander? Dabei faßt die AfG das Verhältnis von Natur und Kultur im Anthropos mit der gleichen Umkehrung der Asymmetrie von Raum und Zeit: das Natürliche definiere das Kulturelle. Dieses Natürliche wird von ihnen unter dem Titel Rasse gefaßt. Wenn sie jetzt nach dem Verhältnis von Raum und Rasse fragen, wollen sie ein Verhältnis zwischen strukturell Gleichem erkennen. Ein Verhältnis zwischen Ungeschiedenem gibt es aber nicht. Verhältnis ohne Differenz existiert nicht. Die Frage ist unlösbar, weil ihr gar nichts entsprechen kann. Daraus resultiert bei der AfG ein Rückgriff auf den Glauben und auf eine unspezifisch gelassene Organismusidee. Andere Nationalsozialisten entscheiden sich, in der Regel für die Dominanz der Rasse. Diese Entscheidung ist aber lediglich eine für den zu setzenden Titel, von dem auszugehen sei, keine der Wahl, in der ein Inhalt von Differenz bestünde. Rasse als Weltanschauung und Geopolitik als Beobachtungsweise, oder Geopolitik als Weltanschauung und Rasse als Beobachtungsweise sind sachlich zufällige Entscheidungen. Wenn auch der sachliche Grund nicht differiert, so doch die Folgen der Wahl. Als erster Satz der Geopolitik wurde gezeigt, daß die Dominanz der Zeitlichkeit bestritten wird. Damit wird die Definiton moderner Subjektivität bestritten. Indem die Geopolitiker dabei mit ihrem
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Rückgriff auf den Erdraum zunächst aus der Bestimmung des Anthropos heraustreten, konnte das menschliche Subjekt und die Frage nach seiner zeitlichen Verfaßtheit erstmal außen vor bleiben. Es sollte die Realitätsmacht des Raumes erkannt werden. Dieser Macht des Räumlichen gegenüber konnte der Mensch als zeitlich verfaßte Freiheit prinzipiell bestehen bleiben. Dennoch wurde gerade sie mit der Betonung des Räumlichen bestritten. Die zeitlich gedachte Definition der Subjektivität konnte also prinzipiell nicht bestehen bleiben. Dieser Widerspruch wird in den Diskussionen um Geopolitik Gegenstand der Auseinandersetzung. Er erweist sich als unlösbar, hat aber zur Folge, daß in den Anthropos ein Gegensatz von Natur und Kultur gesetzt wird. Wenn so in gewisser Weise das Problem an seinen Ursprung zurückkehrt, ist die Art dieser Rückkehr für die Folgen wichtig. Maull stellt den Begriff der Kultur ins Zentrum der politischen Geographie, somit auch der Geopolitik als angewandter Wissenschaft, insofern sie auf der , breiten Grundlage der politischen Geographie ruht'. Dabei bestätigt er jedoch die Asymmetrie, gegen die die Geopolitik im Ansatz sich wandte. Von dem Kulturbegriff aus faßt er den Staat, der insofern mit dem Normativen verbunden bleibt. Zugleich will Maull aber ebenso den gegen die Dominanz des Zeitlichen gerichteten Impetus bewahren. Er gelangt so zur paradoxen Formulierung des Staates als Raumorganismus: der idealistische Gehalt der Organismusidee soll dem Raum widerstreiten, doch Maull kann sich nicht lösen von der durch biologische Transformationen modifizierten Vorstellung vom Organismus. Bei Jantzen, Schnaß, der AfG mündet die Rückkehr in den Anthropos in der Verhärtung der Umkehrung von Raum und Zeit. Mit der Rede von der Rasse wird diejenige vom Raum logisch überflüssig und kann hinderlich werden. Mit beiden Worten wird eine einzige Idee ausgesprochen: Natur definiert den Menschen, nicht Freiheit. Diese Aussage suspendiert aber den Bezug aufs Normative: Moral und Sittlichkeit werden sekundär, abgeleitet. Es geht um die reine Existenz, während in Ratzels, Mackinders oder Maulls Staatsbegriff das Normative noch im Horizont der Betrachtung und des Handelns bleibt. Das gegen die zeitliche Definition des Subjekts in der Aufklärung gerichtete Setzen auf das Räumliche schlägt, in eine Suspendierung des Subjekts um, theoretisch und praktisch. Wenn trotzdem von Blut und Boden geredet wird, handelt es sich dabei um die suggestive Gewalt des Pleonasmus, aus der heraus auch eine Wendung wie die Jantzens entsteht: organischer Kulturorganismus. Wenn, um sich gegen das zeitlich definierte Subjekt der Aufklärung zu wenden, der Raum in versuchter Umkehrung der Asymmetrie von Raum und Zeit verwendet wird, ist Gefahr im Verzuge: die Gefahr eines jegliche Normativität aushebelnden Raum-Rasse-Diskurses. Diese Gefahr ist real und gegenwärtig. Die Rückkehr der Geopolitik und die Rückkehr ethnischer Konflikte in den Vordergrund des Politischen zeigen sich als zwei Seiten eines Identischen: die Rede von der Mittellage Deutschlands, die Erklärung der GUS, daß die geopolitische Existenz der UdSSR beendet sei und der Rassismus als politischer Ideologie (und nicht bloß als Affekt), ob religiös oder kulturell verbrämt, stellen ein einziges Kontinuum dar. Gegen die Gefahr eines Raum-Rasse-Diskurses nutzt es aber nichts, die zeitigende Definition des Subjekts deklarativ zu verstärken. Es hilft nichts, den Blick darauf zu verstellen, daß die asymmetrische Bevorzugung des Zeitlichen ein irrationales Moment der Aufklärung im Zeitalter der Aufklärung ist. Ein deklaratives Bestehen auf dem Zeitlichen, etwa darauf, daß das Geschichtliche wichtiger als das Natürliche sei, wäre bloß abstrakte Negation des geopolitischen Diskurses: wie dieser in seiner historischen deutschen Form bloß abstrakte Negation des Zeitlichen blieb.
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